Besuch

Kunstkonzept

Blauer Ring von Maurizio Nannucci in der Bibliotheksrotunde des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses

(DBT/Jörg Seiler)

Wie das Paul-Löbe-Haus ist das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus von dem Architekten Stephan Braunfels aus München gestaltet. Mit diesem Bau und seinen Kunstwerken wird das anspruchsvolle Programm architekturbezogener Kunst für die Parlamentsbauten im Spreebogen abgeschlossen.

Kunstbeirat beschloss Konzept

Das Konzept für das Paul-Löbe- und Marie-Elisabeth-Lüders-Haus entwickelten Prof. Dr. Klaus Werner, Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, sowie Prof. Dr. Armin Zweite, Direktor der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Es wurde seinerzeit vom Kunstbeirat der 13. Wahlperiode unter Vorsitz von Rita Süssmuth sowie ab der 14. Wahlperiode unter Vorsitz von Wolfgang Thierse verabschiedet.

Synthese von Kunst und Architektur

Hinsichtlich der zu integrierenden Kunstwerke galten für den Kunstbeirat folgende Überlegungen: Die klaren Strukturen des Baus - sowohl des Paul-Löbe- wie des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses - legten die Einladung von Künstlern mit einer minimalistischen oder konzeptuellen Arbeitsweise nahe. Die Entwicklung des Kunstkonzeptes und die Ausschreibung der Wettbewerbe geschahen so frühzeitig, dass noch in der Entwurfsphase Künstler und Architekt ihre Ideen abstimmen konnten. So stellen die Kunstwerke Reflexionen über die vorgegebene Architektur, die Funktion und Bedeutung des Hauses dar. Umgekehrt bot die Architektur den Künstlern den Raum, um - selbstbewusst und den Dialog suchend - eine Synthese von Kunst und Architektur lebendig werden zu lassen.

Blaues Neonschriftband im Lesesaal

Schon von außen ist durch die Glasfassade der Bibliotheksrotunde hindurch die blau leuchtende Neon-Installation mit dem Titel „Blauer Ring“ des italienischen Künstlers Maurizio Nannucci sichtbar. Das blaue Neonschriftband im Lesesaal der Bibliothek läuft kreisförmig über eine Länge von achtzig Metern im Rund unterhalb der Decke. Inspiriert durch einen Text von Hannah Arendt weist Nannucci durch die Aneinanderreihung zweier Sätze auf das Spannungsverhältnis zwischen den Grundrechten Freiheit und Gleichheit hin: „Freiheit ist denkbar als Möglichkeit des Handelns unter Gleichen/Gleichheit ist denkbar als Möglichkeit des Handelns für die Freiheit.“

Ausgewogenheit von Freiheit und Gleichheit

Mit diesen Sätzen beschreibt der Künstler zwei Möglichkeiten des Handelns in einer freiheitlichen Staatsform und die sich daraus ergebende Spannung in einer Demokratie, nämlich die Frage nach der angemessenen Ausgewogenheit von Freiheit und Gleichheit. Für eine solche Fragestellung ist die Bibliothek der geeignete Ort, denn sie ist der Ort, an dem das Wissen um unsere Kultur zusammengetragen ist und als Verpflichtung zu ihrer Wahrung und Mehrung erfahren wird. Die nicht endende Möglichkeit und unablässige Herausforderung des Denkens, die nicht abschließend zu findende Antwort einer solchen Reflexion über Freiheit und Gleichheit wird bildhaft deutlich durch die umlaufende Kreisform der Sätze, bei der sich jeweils die Worte „Freiheit/Freiheit“ und „Gleichen/Gleichheit“ berühren.

Appell zur Nachdenklichkeit

Nannucci hat einen Text entworfen, der anregt, die Gestaltungsmöglichkeiten politischen Handelns zu überdenken. Dieser Text schlägt mithin einen Bogen zu den Zitaten von Thomas Mann und Ricarda Huch, die der amerikanische Künstler Joseph Kosuth im Hallenboden des Paul-Löbe-Hauses eingelassen hat, zu der Leuchtstelen-Installation von Jenny Holzer im Nordeingang des Reichstagsgebäudes mit den Reden der Abgeordneten und zu dem Text des Grundgesetzes auf den Glasstelen von Dani Karavan - unmittelbar gegenüber an der Uferpromenade des Jakob-Kaiser-Hauses sichtbar. So fügen sich Grundgesetz, Reden von Abgeordneten, Textzeilen aus der deutschen Literatur und eine politische Reflexion von Nannucci zu einem großen geistigen, alle Parlamentsgebäude diesseits und jenseits der Spree verbindenden Appell zur Nachdenklichkeit.

Über-Kreuz-Hängung von Neonbändern

Von der Bibliotheksrotunde aus gelangt man in die große zentrale Halle des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses. Der französische Künstler François Morellet hat bereits der Halle des Paul-Löbe-Hauses mit seiner Installation „Haute et Basse Tension“, girlandenartigen Neonbändern in Rot, Gelb, Grün und Blau, einen eigenen, fröhlich-bewegten Rhythmus verliehen. Er setzt im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus diese Installation mit einer eleganten Über-Kreuz-Hängung von Neonbändern in den Farben Schwarz und Weiß fort.

Auf Architektur bezogene geometrische Form

Die Münchener Künstlerin Julia Mangold wiederum verbindet mit ihren schlichten und auf das Elementare konzentrierten Formen den Innen- und Außenbereich des Hauses. Im Innern der Halle findet sich ein großformatiges, schwarz eingefärbtes Rechteck als eine einfache, auf die Proportionen der Architektur bezogene geometrische Form. Sie ist als erhabene Form auf die Außenseite der Bibliotheksrotunde gesetzt, folgt also deren Rundung. Ein solches schwarz gefärbtes Rechteck ist gleichzeitig im Außenbereich des Hauses zu sehen, und zwar als ausgesparte Form, als Vertiefung also in der Fassade, nämlich am oberen Ende der Freitreppe auf einem Tragepfeiler.

Drohende Sturz des Reiters

Dort wird dieses zweite schwarze Rechteck über die Eckkante des Pfeilers geführt. Geschickt entwickelt die Künstlerin aus der geometrisierenden Architektursprache von Stephan Braunfels ein eigenes Spiel von Positiv- und Negativ-, von Rund- und Eckform. Auf dieser Freitreppe, am Ufer der Spree gelegen, bildet eine Pferd-und- Reiter-Skulptur von Marino Marini, „Miracolo - L' idea di un' immagine“, ein weithin sichtbares Symbol. Sie ist eine Schenkung von Irene und Rolf Becker an den Deutschen Bundestag. Der drohende Sturz des Reiters und das sich aufbäumende, wie ein Schrei in den Raum stoßende Pferd verkörpern gleichsam ein letztes Aufbäumen gegen die wachsende Inhumanität des Zeitalters und setzen ein weithin sichtbares Zeichen der Selbstbehauptung des Menschen. Dass weitere Abgüsse der Skulptur in Tokio und Jerusalem stehen, knüpft ein weltumspannendes geistiges Band zwischen diesen Städten und Berlin.

Charakter der Berliner Mauer räumlich erfahrbar

Unmittelbar neben der Freitreppe befindet sich ein für die Öffentlichkeit zugänglicher Rundraum, in dem Teile der Mauer, die einst West und Ost an dieser Stelle teilte, wieder aufgebaut sind. Ben Wargin hat diese Mauerteile gesichert. Der Architekt lässt sie dem ursprünglichen Verlauf der Mauer folgen und wie einen schmerzhaften Fremdkörper in die Architektur einschneiden. So wird der menschenverachtende Charakter der Berliner Mauer auch räumlich erfahrbar, während gleichzeitig die erschütternden Informationen über die Zahl der Toten an der Mauer ins Gedächtnis gerufen werden. Als weitere Beispiele für die künstlerische Ausgestaltung des Hauses sind mit Imi Knoebel, Sophie Calle, Eberhard Göschel, Nikolaus Lang, Paco Knöller, Bertram Kober, Rémy Markowitsch, Wieland Förster, Michael Morgner, Cornelia Schleime, Susan Turcot und Hans Vent bedeutende Künstler vertreten, deren Werke auf dem Wege des Ankaufs erworben wurden.

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