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Antony Gormley

Antony Gormley: Steht und Fällt

Antony Gormley: Steht und Fällt (DBT/Erfurt)

„Steht und Fällt“, ein Innenhof im Jakob-Kaiser-Haus

Der Deutsche Bundestag verdankt dem britischen Bildhauer Antony Gormley eines der bemerkenswertesten Kunst-am-Bau-Projekte in den Parlamentsbauten, die Installation „Steht und Fällt“ aus dem Jahre 2001. Im Jakob-Kaiser-Haus, dem Haus mit den Abgeordneten-Büros, hat Gormley einen Innenhof vollständig geflutet. Nur ein Steg führt noch über das Wasser in den Hof hinein. Im Wasser spiegeln sich fünf lebensgroße Skulpturen, die senkrecht zu den Wänden des Hofes angebracht sind. Erst durch diese Installation gewinnt der Innenhof ein ganz eigentümliches Leben: Ohne die Skulpturen und ihre Spiegelbilder im tiefschwarzen Wasserbecken wäre er ein lediglich durch geometrische Architekturelemente umschriebener, geradezu abstrakter Raum. Nun aber verleihen ihm die Skulpturen als Bezugsgrößen menschliches Maß. Ein sonst unbelebter Raum wird für den Betrachter sinnlich und geistig erfahrbar durch die Irritation, die die senkrecht zur Wand in den Hof ragenden Skulpturen auslösen. Schaut ein Abgeordneter aus seinem Büro in den Hof hinunter, scheinen ihm die Skulpturen entgegenzukommen und die Wand geradezu wie in Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ hinaufzulaufen - und es ist sicher mehr als ein Zufall, dass in eben dem Jahre 2001 auch die Installation Gormleys fertig gestellt wurde. Geht der Abgeordnete auf dem Betonsteg in den Hof hinein (der Steg legt - gewissermaßen als Laufsteg - die einzig mögliche Bewegungsrichtung fest), wird er plötzlich für die Betrachter von den Fenstern aus selbst zum Teil der Installation und der eben noch Betrachtende wird zum Objekt des Betrachtens - ein auf der politischen Bühne gewiss nicht seltener Perspektivwechsel. So stellen Blicke und Blickrichtungen in Gormleys Installationen räumliche Bezüge her, machen Raum erfahrbar und lassen Skulptur-Installationen zum Ereignis und zum Abbild sozialer Prozesse werden.

Die Figuren der Installation „Steht und Fällt“ sind Abgüsse vom Körper des Künstlers, in Gusseisen ausgeführt, Körperabgüsse, wie sie im Werk Gormleys als Zeichen der Authentizität seines künstlerischen Anliegens eine bedeutende Rolle spielen. Sie sollen jedoch nicht den Charakter einer konkreten Abbildung annehmen, sie sind nur Statthalter für ein räumlich-gedankliches Konzept, und daher vervielfältigte Gormley immer denselben Abguss und lässt Fertigungsspuren wie Gussnähte, -grate und -kanäle deutlich sichtbar. Die Figuren haben eine rostige Patina angesetzt und beziehen auch auf diese Weise eine gleichsam trotzige Gegenposition zur glatten Perfektion der Architektur. So spiegelt diese Installation das ästhetische und soziale Anliegen des Künstlers, die Menschen durch seine Skulpturen an seinen ästhetischen und philosophischen Überlegungen teilhaben zu lassen, damit sie wieder eine körperlich-räumliche und selbstbewusst-aktive Beziehung zu ihrer Umwelt gewinnen, in der sie sich selbst oft als fremd empfinden.

Der britische Bildhauer gehört zu den bedeutendsten Bildhauern der Gegenwart. Bekannt wurde der documenta-Teilnehmer Gormley im Jahre 1994, als er den Turner-Preis der Tate Gallery für eine Serie von Installationen mit dem Titel „Field“ erhielt: Weltweit hatte er mit zahlreichen Mitarbeitern, die er vor Ort engagierte, kleine Tonfiguren fertigen lassen, die raumfüllend die jeweiligen Ausstellungsflächen belegten. Der Betrachter konnte den Ausstellungsraum nicht betreten, sah sich von hunderten oder tausenden Augenpaaren der Skulpturen fixiert, von Figuren, die einander ähnlich und doch individuell waren und die das Ergebnis eines kollektiven Schaffensprozesses bildeten. Ähnlich aufsehenerregend war die Gestaltung der 20 Meter hohen Skulptur „Angel of the North“ (1998) mit einer Flügelspannweite von 54 Metern, die weithin sichtbar die Landschaft bei Gateshead im Nordosten Englands zu umfassen scheint oder die ein Jahr später fertiggestellte 30 Meter hohe Skulptur „Quantum Cloud“ in der Nähe des Millennium Domes am Ufer der Themse. Von geradezu betörender Schönheit war die Installation „Another Place“ für Cuxhaven aus dem Jahre 1997: 100 gusseiserne Skulpturen waren über einen Quadratkilometer im Wattenmeer so verteilt, dass einige mit steigender Flut im Wasser versanken und bei Ebbe wieder auftauchten, andere am Strand zwischen den Strandbesuchern standen und diese damit selbst zum Teil der Installation wurden. So ermöglichte Gormley den Besuchern seiner Installation auch in der Natur räumliche und emotionale Erfahrungen mit Hilfe seiner Skulpturen - und führte die Verlorenheit des Menschen vor der Unendlichkeit der Natur mit einer an Caspar David Friedrich gemahnenden Suggestivkraft vor Augen. In diesem Sinne lässt sich auch seine aktuelle Installation „Horizon Field“ in den Schweizer Alpen verstehen, wo noch bis zum Jahre 2012 mitten in der Alpenlandschaft 100 gusseiserne Abgüsse seines Körpers zu sehen sind, alle präzise auf 2039 Meter Höhe platziert und über ein Gebiet von 150 Quadratkilometern verteilt. Melancholisch-nachdenklich und verloren, den Unbilden des Wetters ausgesetzt und doch zugleich trotzig-selbstbewusst wirken sie in der großartigen Naturlandschaft.

Gormley arbeitet konzeptionell, und diesem Ansatz entspricht die an wenigen Beispielen beschriebene Entwicklung immer wieder neuer Bilder für sein künstlerisches Anliegen, in dessen Mittelpunkt als Medium für Raum- und Welterfahrung der menschliche Körper steht, der in ein Koordinatensystem sozialer und ästhetischer Beziehungen eingebunden wird. Diese Grundidee des Künstlers ließen auch die im Jahr 2007 entstandenen Skulpturen in fragiler Schönheit auf neue Weise Bild werden. Gormley zeigte drei von ihnen  („Feeling Material XXIX“, „Drift“ sowie „Flare“) im selben Jahr in einer Ausstellung im Kunst-Raum des Deutschen Bundestages (zeitgleich erhielt er im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus den Bernhard-Heiliger-Preis für Skulptur 2007 verliehen). Der Körper des Künstlers war nur noch als Leerform in der Mitte der Skulptur zu erahnen, gleichsam eine entmaterialisierte Gloriole, deren Strahlen aus dünnen Metallstäben sich wie eine zweite Haut in den Raum hinein entwickeln und wie eine fein ziselierte Zeichnung im Raum wirken, ein Paradoxon schlechthin: Sowohl Zeichnung als auch Skulptur, leeren Raum umschließend und doch wieder Raum greifend, zerbrechlich und zugleich voller Energie, scheinbar fest und doch geradezu kinetisch, Skulptur zwar, aus Metall gefertigt, und doch wie ein organisches oder kristallines Gebilde wuchernd.

So bot die Ausstellung im Kunst-Raum des Deutschen Bundestages - ergänzend und kontrastierend zur Installation im Jakob-Kaiser-Haus - einen erhellenden Blick auf den derzeit bedeutendsten britischen Bildhauer und den Entwicklungsgang seiner Arbeit. Die Ausstellung verdeutlichte, dass Antony Gormley in seinen Skulpturen das Phänomen des menschlichen Körpers als Objekt der Betrachtung nicht lediglich einmal mehr variiert, sondern mit seinen Gestaltungen einen gänzlich neuen Blick auf Raum und Körper eröffnet und ein neues Empfinden für die Beziehungen des Menschen zu Umwelt, Raum und Zeit vermittelt - und nicht zuletzt der Menschen untereinander. Indem er Raum- und Zeitbezüge sichtbar und vor allem nacherlebbar macht, stiftet er Sinnbezüge. Erst der Sinn erschafft aber - nach Martin Heidegger (1889-1976) - das In-der-Welt-Seiende. So wird der Künstler zum Schöpfer im ursprünglichen Sinne des Wortes als Schöpfer einer neuen Welt. Der von Antony Gormley bewunderte Joseph Beuys hätte einer solch tiefgreifenden Auffassung vom Künstlertum sicher nicht widersprochen.

Steht und Fällt, 2001, Gußeisen, schwarzes Wasserbecken, Betonsteg

Antony Gormley

geboren 1950

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