Plenarprotokoll 18/34 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 34. Sitzung Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQWG) Drucksache 18/1307 2867 B Hermann Gröhe, Bundesminister BMG 2867 D Harald Weinberg (DIE LINKE) 2869 D Dr. Karl Lauterbach (SPD) 2871 B Harald Weinberg (DIE LINKE) 2872 C Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 2873 A Jens Spahn (CDU/CSU) 2874 B Kathrin Vogler (DIE LINKE) 2876 C Sabine Dittmar (SPD) 2877 C Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 2877 D Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 2879 B Dr. Karl Lauterbach (SPD) 2879 D Erich Irlstorfer (CDU/CSU) 2881 A Kathrin Vogler (DIE LINKE) 2881 D Helga Kühn-Mengel (SPD) 2883 A Dietrich Monstadt (CDU/CSU) 2884 B Hilde Mattheis (SPD) 2885 C Thomas Stritzl (CDU/CSU) 2886 D Tagesordnungspunkt 19: Vereinbarte Debatte: 10 Jahre „EU-Ost-erweiterung“ 2887 D Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA 2888 A Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) 2889 D Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) 2891 B Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 2893 A Maik Beermann (CDU/CSU) 2894 C Andrej Hunko (DIE LINKE) 2896 A Dr. Dorothee Schlegel (SPD) 2897 A Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 2898 A Matern von Marschall (CDU/CSU) 2899 B Dietmar Nietan (SPD) 2900 D Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU) 2902 A Josip Juratovic (SPD) 2904 A Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) 2904 D Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) 2906 A Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) 2906 C Tagesordnungspunkt 20: a) Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäischen Grundrechtsschutz gewährleisten – Nationale Vorratsdatenspeicherung verhindern Drucksache 18/1339 2907 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz – zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Petra Sitte, Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Endgültig auf Vorratsdatenspeicherung verzichten – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Katja Keul, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vorratsdatenspeicherung verhindern Drucksachen 18/302, 18/381, 18/999 2907 A Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 2907 B Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) 2908 D Jan Korte (DIE LINKE) 2909 C Christian Flisek (SPD) 2911 A Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 2912 B Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) 2912 D Lars Klingbeil (SPD) 2914 B Marian Wendt (CDU/CSU) 2915 C Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 2915 D Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto Drucksache 18/1308 2917 A Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekretärin BMAS 2917 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) 2918 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) 2919 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 2920 B Kerstin Griese (SPD) 2921 D Stephan Stracke (CDU/CSU) 2923 A Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr Drucksache 18/1309 2924 B Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV 2924 B Richard Pitterle (DIE LINKE) 2925 C Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) 2926 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 2927 C Dirk Wiese (SPD) 2928 C Dr. Silke Launert (CDU/CSU) 2929 C Nächste Sitzung 2930 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 2931 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede des Abgeordneten Christian Petry (SPD) zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung steuer-licher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (33. Sitzung, Tagesordnungspunkt 17) 2931 D Anlage 3 Amtliche Mitteilungen 2932 C Inhaltsverzeichnis 34. Sitzung Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle zu unserer heutigen Plenarsitzung. Wir werden heute neben anderen Punkten auch über die EU-Osterweiterung debattieren und damit an die größte Erweiterung in der Geschichte der EU erinnern, die vor zehn Jahren, am 1. Mai 2004, vollzogen wurde. Sie hatte damals zum Ergebnis, dass mit zehn weiteren Staaten 74 Millionen Einwohner zu dieser Europäischen Union hinzukamen. Ich sage das deswegen, weil es uns Gelegenheit gibt, in diesen Wochen mit täglichen Krisenmeldungen in und um die Ukraine uns selbst und der Öffentlichkeit in Erinnerung zu rufen und ins Bewusstsein zu heben, welche Veränderungen in Europa möglich gewesen sind und möglich bleiben müssen und dass es für Krisen Lösungen gibt und geben muss. Mit Blick auf die andere große Krise, der auf den Finanzmärkten, sage ich: Wir wissen, dass wir sie sicher nicht ein für alle Mal hinter uns haben. Es lässt sich aber festhalten – darüber debattieren wir heute nicht –, dass mit Portugal ein weiteres Land in diesen Tagen aus dem Rettungsschirm, den wir als Solidarleistung errichtet haben, aussteigen kann und sich selber wieder an den Finanzmärkten finanzieren wird. Dazu möchte ich all denjenigen, die in Portugal dafür über Monate hinweg große Opfer gebracht haben, herzlich gratulieren. Wir sollten dies gemeinsam als Ermutigung für unsere Anstrengungen begreifen. (Beifall im ganzen Hause) Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Unterrichtung der Bundesregierung zum Stadtentwicklungsbericht 2012 auf der Drucksache 17/14450 dem Ausschuss Digitale Agenda zur Mitberatung zu überweisen. Wenn es dazu nicht spontanen Diskussionsbedarf gibt, dann würde ich das gerne als einvernehmlichen Beschluss zu Protokoll geben. – Das gelingt ganz offenkundig. Dann ist das so vereinbart. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQWG) Drucksache 18/1307 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Dazu haben sich die Fraktionen auf eine Aussprache von 96 Minuten verständigt. – Auch dazu stelle ich Einvernehmen fest. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesminister für Gesundheit, Hermann Gröhe. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Hermann Gröhe, Bundesminister für Gesundheit: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen! Meine Herren! Eine solide Finanzierung und hohe Versorgungsqualität sind die tragenden Säulen eines gut funktionierenden solidarischen Gesundheitswesens. Wir können in Deutschland feststellen: Wir haben eine sehr gute medizinische Versorgung, ja, eine Versorgung, um die uns nicht wenige Länder beneiden. Wir wollen, dass dies so bleibt. Mit dem heute vorgelegten „Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung“ legen wir einen Regelungsentwurf vor, der die solidarische Finanzierung unseres Gesundheitswesens zukunftsfest macht und die Qualität der Gesundheitsversorgung nachhaltig sichert. Wir tragen einer nachhaltigen Finanzierung Rechnung, indem wir den allgemeinen Beitragssatz von 15,5 Prozent auf 14,6 Prozent absenken und den Beitragssatz der Arbeitgeber weiterhin bei 7,3 Prozent festschreiben. Damit vermeiden wir zusätzliche Belastungen durch höhere Lohnnebenkosten. Denn wir möchten Wachstum weiter fördern. Wir wollen, dass die Menschen in Lohn und Brot bleiben. Wir wollen, dass sie gute, sichere Arbeitsplätze haben. Denn eine gute wirtschaftliche Entwicklung und sichere, gut bezahlte Arbeitsplätze sind wesentliche Grundlagen eines nachhaltigen, solidarischen Gesundheitswesens. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir stärken mit diesem Gesetz außerdem die Beitragsautonomie der gesetzlichen Krankenkassen und den Wettbewerb untereinander. Künftig haben die Kassen die Möglichkeit, einen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag zu erheben. In ihn fließt künftig der schon 2004 beschlossene und seit 2005 erhobene mitgliederbezogene Beitragsanteil von 0,9 Prozentpunkten mit ein. Die Höhe dieses Zusatzbeitrages kann dann jede Kasse – abhängig von ihrem Finanzbedarf – eigenverantwortlich festlegen. Das zeigt bereits Wirkung: Einige Krankenkassen haben bereits angekündigt, im nächsten Jahr einen Zusatzbeitrag erheben zu wollen, der unter 0,9 Prozent liegt. Ja, wir können davon ausgehen, dass ungefähr 20 Millionen Mitglieder im Jahr 2015 von einem niedrigeren Beitrag profitieren könnten. Wir erwarten, dass die Krankenkassen auch in den kommenden Jahren im Wettbewerb um Qualität und Beiträge – ich unterstreiche: um Qualität und Beiträge – versuchen werden, die kassenspezifischen Beiträge möglichst gering zu halten, möglichst effizient zu wirtschaften und Qualität, die die Mitglieder überzeugt, anzubieten. Deswegen ist es gut, dass unser Gesetz die Finanzstruktur, aber auch die Weiterentwicklung der Qualität in unserem Gesundheitswesen zum Inhalt hat. Bei der Qualitätssicherung geht es um die Schaffung verlässlicher Strukturen, die die hohe Qualität in unserem Gesundheitswesen nachhaltig sichern. Dazu starten wir eine Qualitätsoffensive, die einen wichtigen Ankerpunkt im neuen Qualitätsinstitut haben wird; denn trotz unseres gut entwickelten Systems der Qualitätssicherung brauchen wir – das ist unsere Überzeugung – ein solches neues, unabhängiges Qualitätsinstitut. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Mit Blick auf den demografischen Wandel wissen wir doch bereits heute, dass unsere bestehenden Strukturen der Qualitätssicherung den zukünftigen Anforderungen vermutlich nicht mehr genügen werden. Das neue Institut soll dauerhaft und kontinuierlich mit der Ermittlung und Weiterentwicklung der Versorgungsqualität befasst sein und dem Gemeinsamen Bundesausschuss bei der Qualitätssicherung helfen. Die höhere Zahl älterer Menschen und die damit verbundene höhere Zahl von Mehrfacherkrankungen und Fällen der Pflegebedürftigkeit werden künftig höhere Anforderungen an die Behandlungsqualität nach sich ziehen. So wird beispielsweise die notwendige bessere Verzahnung von ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen auch eine darauf ausgerichtete Qualitätssicherung erforderlich machen. Gerade ältere Menschen, die häufig an mehreren Krankheiten leiden, sind besonders auf eine qualitativ hochwertige, aufeinander abgestimmte Behandlung angewiesen. Manche von ihnen sind nicht mehr in der Lage, selbst Behandlungsabläufe kritisch zu hinterfragen und aufmerksam mitzuverfolgen. Ein funktionierendes Ineinandergreifen der Versorgungsabläufe bedeutet, dass diese Patienten keine unnötigen, aber alle erforderlichen, notwendigen Untersuchungen erhalten. Dazu bedarf es einer angemessenen, die Versorgungsqualität in den Blick nehmenden Qualitätskontrolle. Ein Schwerpunkt der Arbeit des Instituts wird daher die Entwicklung von belastbaren Kriterien und die Zulieferung von Datengrundlagen zur Messung und Bewertung der Versorgungsqualität in unserem Lande sein. Denn nur wenn wir relevante und verlässliche Informationen über den Stand der medizinischen Versorgung erhalten, können Defizite erkannt und die Behandlung der Patientinnen und Patienten gezielt verbessert werden. Neu ist außerdem, dass wir dem Merkmal „Qualität“ im Hinblick auf unsere ambulanten Versorgungsstrukturen, aber auch bei der Steuerung, etwa bei der Krankenhausplanung oder der Vergütung bestimmter Leistungen, mehr Gewicht geben wollen. Gerade bei der Krankenhausplanung müssen wir stärker berücksichtigen, dass viele Behandlungen heute ambulant durchgeführt werden können, die noch vor einigen Jahren ausschließlich stationär durchgeführt wurden. Deshalb wird Qualität nicht nur ein Gestaltungsmaßstab für alle Bereiche der stationären Versorgung sein, sondern auch bei der Sicherstellung der ambulanten Versorgungsstrukturen vor Ort eine maßgebliche Rolle spielen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das Qualitätsinstitut soll Vorschläge für beide Versorgungsbereiche erarbeiten, die dann wiederum dem Gemeinsamen Bundesausschuss als verlässliche Entscheidungsgrundlage für eine sachgerechte und rechtssichere Umsetzung von Qualitätssicherungsmaßnahmen in den Bereichen „ambulant“ und „stationär“ dienen. Zugleich wollen wir auch mit Unterstützung des neuen Qualitätsinstituts bei Krankenhäusern für geeignete Leistungen Vergütungszu- und -abschläge für eine besonders gute oder weniger gute Versorgung einführen. Für Kliniken sollen sich zusätzliche Anstrengungen für eine möglichst hohe Qualität stärker als bisher lohnen. Meine Damen, meine Herren, gute Qualität muss auch sichtbar gemacht werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Transparenz – dies schließt eine Verfügbarkeit von zuverlässigen Informationen ein – ist eine wirksame Methode der Qualitätssicherung, Anreize für ein stärkeres Bemühen um gute, qualitativ hochwertige Versorgung zu setzen. Transparenz ist auch eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich die Menschen selbstbewusst für die geeigneten Leistungserbringer entscheiden, denen sie ihre gute und sichere Gesundheitsversorgung anvertrauen wollen. Menschen interessieren sich für entsprechende Informationen. Die Berichte über die Qualität erbrachter Krankenhausleistungen und die verschiedenen Rankings zeigen das große öffentliche Interesse an dieser Thematik. Dem folgt allerdings regelmäßig ein Streit darüber, ob denn die richtigen Kriterien angewandt werden. Genau das wiederum zeigt, dass es richtig ist, wenn wir uns darauf verständigen, was geeignete Parameter der Qualitätsbewertung in der Gesundheitsversorgung sind. Konkret heißt das übrigens, dass auch die Qualitätsberichte unserer Krankenhäuser präziser und verständlicher werden müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das neue Qualitätsinstitut soll daher auf Basis der Qualitätsberichte für wichtige, vom Gemeinsamen Bundesausschuss auszuwählende Versorgungsbereiche und Behandlungen Übersichten über die Versorgungsqualität im Internet veröffentlichen. Damit erhalten die Patientinnen und Patienten zuverlässige Informationen, die es ihnen ermöglichen, bei der Wahl der Klinik eine sachgerechte, qualitätsorientierte Entscheidung zu treffen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir, dass ich zum Schluss noch ein Thema anspreche, das bislang nicht im Gesetzentwurf enthalten ist. Ich schlage den Regierungsfraktionen vor, dass wir dieses Gesetzgebungsverfahren nutzen, um ein Thema anzupacken, das uns in den letzten Wochen wiederholt, und zwar in allen Fraktionen, beschäftigt hat: die Situation der Hebammen und der Geburtshilfe in unserem Land. Der starke Anstieg der Prämien der Berufshaftpflichtversicherungen in diesem Bereich und der drohende Ausstieg einiger Versicherungsunternehmen hatte zu großer Verunsicherung in dieser in ihrer Leistung unverzichtbaren Berufsgruppe geführt. Letzte Woche habe ich den Abschlussbericht der interministeriellen Arbeitsgruppe „Versorgung mit Hebammenhilfe“, die seinerzeit eingerichtet wurde, veröffentlicht. An ihm haben neben verschiedenen Ressorts der Bundesregierung, Vertreterinnen und Vertreter der Hebammen, die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen sowie der privaten Versicherungswirtschaft mitgewirkt. Unser Ziel war es, die Spirale immer höherer Haftpflichtprämien zu durchbrechen, ohne die Familien im Stich zu lassen, wenn diese infolge eines Behandlungsfehlers bei der Geburt mit dem Schicksal eines schwerbehinderten Kindes klarkommen müssen und dafür selbstverständlich eine angemessene, auch finanzielle Unterstützung verdient haben. Ich habe daher ein Maßnahmenpaket vorgeschlagen, mit dem auf die zu klärenden Fragen sehr kurzfristig greifende Antworten gegeben werden sollen, die wir in das Gesetzgebungsverfahren einbringen wollen, das aber auch mittelfristige Schritte enthält. Im Kern geht es um vier Bereiche: kurzfristige Verbesserungen im Bereich der Vergütung, Qualitätssicherung in der Geburtshilfe, eine Verbesserung der Datenlage sowie tragfähige, dauerhafte Lösungen im Bereich der Haftpflichtversicherungsbeiträge. Gerade in dem letztgenannten Bereich – Sie wissen, ich schlage einen Regressverzicht der Kranken- und Pflegeversicherung vor – bedarf es sicher zügig vorzunehmender weiterer Beratungen. Unter anderem im Gesundheitsausschuss werden wir dazu Gelegenheit haben. Was jetzt schon getan werden kann, werden wir umgehend mithilfe der Selbstverwaltung umsetzen. Ich nenne das Stichwort „Datengrundlage“. Ich habe die Voraussetzungen dafür eingeleitet, dass ab 2015 eine genauere Erfassung der Geburten nach Einrichtungen, in denen entbunden werden soll, erfolgt; denn es hat sich in den Gesprächen gezeigt, dass die Datenlage auf diesem Gebiet unzureichend ist. Wir werden die Qualität stärken. Einen entsprechenden Auftrag werden wir dem IQWiG erteilen. Wir erwarten, dass die Verhandlungen zwischen den Hebammenverbänden und dem GKV-Spitzenverband zur Qualitätssicherung zügig, bis zum Jahresende, abgeschlossen werden. Ich bin dafür, einen solchen Stichtag ausdrücklich ins Gesetz aufzunehmen. Schließlich wollen wir alsbald die Voraussetzungen für einen dauerhaften Sicherstellungszuschlag schaffen, der gewährleistet, dass auch bei Geburtshilfe mit geringen Geburtenzahlen eine ausreichende Vergütung erfolgt. Dies alles ist geeignet, um eine flächendeckende Versorgung in der Geburtshilfe sicherzustellen. Deswegen sollten wir diese Schritte, die in der Arbeitsgruppe weitgehend Konsens waren, zügig umsetzen. Ich glaube, wir leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Sicherstellung der Geburtshilfe in unserem Land. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Harald Weinberg (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich beschränke mich in meiner Rede erst einmal auf den Finanzierungsaspekt. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch richtig so! Der kam zu kurz!) Meine Kollegin Vogler wird sich nachher mit dem Thema Qualitätsinstitut etwas intensiver auseinandersetzen. Zu Anfang meiner Rede muss ich auf die Kürzung des Bundeszuschusses zur gesetzlichen Krankenversicherung eingehen. Wir sind zwar nicht in der Haushaltsdebatte, aber es gibt natürlich einen Zusammenhang zwischen der Kürzung und dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf. Zum Zwecke der Haushaltssanierung soll der Bundeszuschuss in diesem Jahr um 3,5 Milliarden Euro gekürzt werden, im nächsten Jahr um 2,5 Milliarden Euro, insgesamt also um 6 Milliarden Euro. Das müsste sogar in der Welt von Herrn Lauterbach gelten, auch wenn dort immer wieder, sagen wir einmal, unkonventionelle Sichtweisen vorhanden sind. Minister Gröhe formuliert in dieser Frage klarer und nennt Kürzungen auch Kürzungen. Er sagt, diese Kürzungen seien zur Konsolidierung des Haushalts notwendig, und sie seien durch die Rücklagen im Gesundheitsfonds gedeckt. Aus diesem Grund werde es derzeit keine Beitragssteigerungen geben. Das ist richtig, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Das Abschmelzen der Rücklagen im Gesundheitsfonds zum Zwecke der Haushalts-sanierung beschleunigt aufseiten der Kassen die Notwendigkeit, Zusatzbeiträge zu erheben. Das rechnet Ihnen auch der Bundesrechnungshof vor. Er kommt zu dem Schluss – ich zitiere –: Erzielte der Gesundheitsfonds in den Jahren 2014 und 2015 jedoch keine Überschüsse, – was sehr wahrscheinlich ist – würde Ende 2015 bei der vorgesehenen Kürzung des Bundeszuschusses 2014 und 2015 die gesetzlich vorgeschriebene Mindestliquiditätsreserve … unterschritten. Das sagt der Bundesrechnungshof. Ferner sagt er: Der Bundesrechnungshof empfiehlt deshalb, die -Finanzsituation des Gesundheitsfonds spätestens ab Mai 2015 dahingehend noch genauer zu beobachten, um gegebenenfalls frühzeitig gegensteuern zu können. Optionen wären, – sagt er ferner – den für 2016 geplanten Bundeszuschuss weiter -anzuheben oder die Zuweisungen an die Krankenkassen so weit zu reduzieren, dass es zu keiner längerfristigen Unterschreitung der Mindestliquiditätsreserve kommt. Das Erste ist unwahrscheinlich. Der Bundeszuschuss wird 2016 nicht angehoben. Daher tritt das Zweite in Kraft. Das heißt, ab 2015 steht die Gefahr im Raum, dass die Zuweisungen an die Krankenkassen reduziert werden und Zusatzbeiträge schon dann notwendig werden. Jetzt zur paritätischen Finanzierung, der hälftigen Beitragserhebung bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern, einem wesentlichen Merkmal unseres solidarischen Krankenkassensystems, das jetzt weiter geschliffen wird. Mit dem Sonderbeitrag von 0,9 Prozent wurde bereits unter Rot-Grün unter Ulla Schmidt mit dem Ausstieg aus der Parität begonnen. Schwarz-Gelb tastete das nicht an, sondern verschärfte es sogar durch die kleine Kopfpauschale. Nur um die Dimensionen, über die wir hier sprechen, einmal deutlich zu machen: Seit 2005 zahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jährlich 9 bis 10 Milliarden Euro mehr an Beiträgen an die Krankenkassen als die Arbeitgeberseite. Das sind in diesen neun Jahren zwischen 80 und 90 Milliarden Euro. Zuzahlungen, Aufzahlungen usw. sind dabei noch nicht mitgerechnet. Das ist eine gewaltige Summe, und aus unserer Sicht ist dies völlig inakzeptabel. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir wollen zurück zur paritätischen Finanzierung. Das war ja auch einmal sozialdemokratische Position, scheint es aber nicht mehr zu sein. Denn an dieser Stelle wird gar nichts korrigiert. Der Arbeitgeberbeitrag bleibt eingefroren. Alle künftigen Ausgabensteigerungen werden künftig von den Beitragszahlern auf der Arbeitnehmerseite durch Zusatzbeiträge gezahlt. Nur am Rande: Das führt auch in den Selbstverwaltungsorganen zu ganz merkwürdigen Situationen. Wir werden in den paritätisch besetzten Selbstverwaltungsorganen der Krankenkassen erleben, dass die Arbeitgeberseite über die Einführung von Zusatzbeiträgen, die sie selber überhaupt nicht betreffen, mit entscheidet. Auch so kann man Selbstverwaltungsstrukturen delegitimieren und die Krise, die es dort zu einem Teil schon gibt, weiter verschärfen. Jetzt zur Finanzentwicklung und Prognose; gerade wurde schon darauf hingewiesen. Die Bundesregierung hat gesagt, 20 Millionen von – die Gesamtzahl der Beitragszahler wird immer vergessen – rund 50 Millionen Beitragszahlern würden ab 2015 weniger Beitrag als heute zahlen müssen. Diese Prognose ist aus meiner Sicht verhältnismäßig fragwürdig. Nach meiner Kenntnis haben bisher erst sieben Kassen gesagt, dass sie die Beiträge senken werden, und diese sieben Kassen – darunter ist nur eine große Kasse – haben weniger als 9 Millionen Mitglieder und rund 12 Millionen Versicherte, mitversicherte Personen usw. Die Versichertenzahl ist immer etwas größer. Das sind aber lange keine 20 Millionen Mitglieder. Diese Kassen haben also angekündigt, dass sie den Beitragssatz voraussichtlich senken werden. Die einzige große Kasse darunter, die Techniker, wird in dem Zuge auf die Auszahlung von Bonuszahlungen, die sie derzeit vornimmt, verzichten. Im Prinzip ist es am Ende ein Nullsummenspiel. Wie die Bundesregierung auf die 20 Millionen kommt, bleibt ihr Geheimnis, aber selbst diese 20 Millionen sind nur eine Minderheit. Bezeichnenderweise sieht sich die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage, die wir gestellt haben, nur in der Lage, eine Prognose, dazu noch eine fragwürdige, über die Zahl der Begünstigten abzugeben. Wir haben auch gefragt, für welche Gruppen die Beiträge gleich bleiben oder eventuell sogar höher werden. Da sah sich die Bundesregierung in ihrer Antwort außerstande, eine Prognose abzugeben. Im Prinzip gibt man also nur Prognosen ab, um positive Überschriften in den Zeitungen zu generieren. Auf Prognosen, die zu kritischen Überschriften in den Zeitungen führen, verzichtet man. Auf den Bundesrechnungshof habe ich bereits verwiesen. Er sieht ab 2015 Probleme beim Fonds. Aber auch die Antworten auf unsere Kleine Anfrage zeigen, dass es recht schnell für alle Versicherten deutlich teurer werden kann. In den letzten zehn Jahren stiegen die Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahresdurchschnitt um 3,7 Prozent. Die beitragspflichtigen Einkommen, also Löhne und Rente, stiegen im gleichen Zeitraum nur um 2 Prozent. Das bedeutet jedes Jahr ein Loch von 1,7 Prozentpunkten. Das entspricht in etwa 4 Milliarden Euro. Das ist der Grund, warum der Beitragssatz insgesamt auf 15,5 Prozent angehoben werden musste. Sämtliche Experten nehmen an, dass sich diese Entwicklung in den nächsten Jahren fortsetzen wird. In dieser Situation -beschließen Sie, dass künftig weder Arbeitgeber noch Gutverdiener noch privat Krankenversicherte noch Kapitaleinkünfte dazu herangezogen werden, das auszu-finanzieren. Die gesetzlich Krankenversicherten müssen die Zeche allein zahlen. Deshalb werden die Zusatzbeiträge schnell kommen, befürchten wir. Am Ende bleibt, dass die kleine Kopfpauschale, die durch Schwarz-Gelb eingeführt wurde, nun durch einen relativen Zusatzbeitrag ersetzt wird. Das war sozusagen der große Sieg der Sozialdemokratie in den Koalitionsverhandlungen. Dabei wird es aber teurer für die Versicherten. Daher kann dieser große Sieg schnell zu einem Pyrrhussieg für die SPD werden. Wir bleiben bei unserer Alternative. Unsere Alternative ist eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, in die alle einzahlen und in der die Parität völlig wiederhergestellt wird. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Karl Lauterbach das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Karl Lauterbach (SPD): Herr Präsident! Herr Minister! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal muss man feststellen, dass diese Große Koalition im Bereich Gesundheit relativ geräuschlos zuverlässig Arbeit macht, die in allererster Linie den Bürgern, den Patienten und den Versicherten zugutekommt. Dafür und auch für die gute Zusammenarbeit möchte ich bei dieser Gelegenheit Herrn Gröhe meinen ausdrücklichen Dank, auch im Namen unserer Fraktion, aussprechen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du hast es nötig, oder? – Jens Spahn [CDU/CSU]: Was will man denn noch mehr?) Ich verzichte auf Vergleiche mit anderen Ministern und komme sofort zum Inhalt dieses Gesetzes. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Ich kann mit Ehrlichkeit behaupten: Es ist ein gutes Gesetz. Es ist ein Gesetz, das die Solidarität in unserem Gesundheitssystem stärkt. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist für einen Sozialdemokraten wirklich gewagt! Das ist ein Gesetz zulasten der Versicherten!) Es ist richtig, Herr Weinberg, wenn man sagt, dass diese Lösung ausbaufähig ist. Aber haben Sie doch die Größe, zuzugeben, dass einiges erreicht wurde. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Es ist doch damals von uns gemeinsam gefordert worden – ich erinnere die Grünen daran, und ich erinnere Sie von der Linken daran –, dass die kleine Kopfpauschale weg muss, (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Aber stattdessen kommt ein anderer Zusatzbeitrag!) weil sie Rentner, Geringverdiener und Familien belastet. Das haben wir doch gemeinsam gefordert. Erinnern Sie sich nicht daran? Jetzt kommt Ihnen nicht ein einziges Wort der Anerkennung über die Lippen, dass wir diese Kopfpauschale beerdigen konnten. Das finde ich unfair. (Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wurde der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben!) Sie würdigen auch mit keinem Wort, dass wir zum Beispiel bei Arbeitslosengeldempfängern, bei Empfängern von Arbeitslosengeld I und II, diesen von Ihnen gegeißelten einkommensabhängigen Zusatzbeitrag gar nicht erheben. Arbeitslose müssen ihn nicht bezahlen. Sie sind doch normalerweise die Partei, die uns vorwirft, dass wir für die Arbeitslosen zu wenig machen – fast immer zu Unrecht. (Lachen bei der LINKEN) Bringen Sie doch die Größe auf, zu sagen, dass Arbeitslose diesen Zusatzbeitrag nicht zahlen müssen. Sagen Sie: Zumindest das erkennen wir an, weil das im Vergleich zu der Situation, die wir jetzt haben, ein Ausbau der Solidarität ist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sie haben vorgetragen, dass wir den Bundeszuschuss kürzen. Es ist richtig, dass wir den Bundeszuschuss vorübergehend kürzen, und zwar deshalb, weil er derzeit nicht gebraucht wird. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Die 6 Milliarden sind weg!) Überlegen Sie doch selbst: Ein Bundeszuschuss, der derzeit höher ist, als er gebraucht wird, bringt so gut wie keine Zinsen, derweil wir das Geld für Investitionen in Bildung und Infrastruktur und für familiäre Projekte unbedingt benötigen. Ich frage Sie: Welchen Sinn macht es, den Bundeszuschuss jetzt in dieser Höhe zu belassen, wenn er doch höher ist, als wir ihn benötigen, derweil das Geld an anderer Stelle dringend gebraucht wird? Ich kann es Ihnen sagen: Das macht keinen Sinn. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil es das Geld der Versicherten ist!) Sie vergessen auch, zu erwähnen, dass wir den Bundeszuschuss für das Jahr 2017 über die langfristige Planung hinaus sogar um eine halbe Milliarde Euro erhöhen. Sie haben auf der Grundlage von vollkommen unnachvollziehbaren Prognosen darüber spekuliert, was im nächsten Jahr passiert. Gehen Sie doch auf das ein, was sicher ist, nicht auf Spekulationen. Gehen Sie darauf ein, dass sicher ist – das haben wir gesagt –, dass der Bundeszuschuss ab 2017 im Vergleich zur ursprünglichen Planung sogar um eine halbe Milliarde Euro höher sein wird. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Trotzdem sind die 5,5 Milliarden weg!) Das wäre ehrlich gewesen, und das ist eine Leistung, meine Damen und Herren. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Rechnen muss man können! Mengenlehre!) – Nein, das ist keine Mengenlehre. Sie können, wenn Sie wollen, eine Zwischenfrage stellen; dazu ermuntere ich Sie. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich kann auf jeden Fall gut genug rechnen, um zu wissen, dass der Bundeszuschuss für 2017 im Vergleich zur mittelfristigen Finanzplanung von Herrn Schäuble durch die Änderungen, die wir jetzt vorgenommen haben, um eine halbe Milliarde Euro erhöht wird. Das ist fest. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wenn Sie das bestreiten, dann stellen Sie eine Zwischenfrage. Aber das hat nichts mit Rechnen zu tun, sondern das hat mit Ehrlichkeit, mit Redlichkeit zu tun. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie vergessen auch, zu erwähnen: Wir führen beim Risikostrukturausgleich einen vollständigen Einkommensausgleich durch. Das ist doch eine Stärkung all jener Krankenkassen, die einkommensschwache Rentner und Geringverdiener versichern. Sie müssen doch zugeben: Das ist eine Stärkung der Solidarität. Davon profitieren diejenigen, die in Krankenkassen versichert sind, die wenig Beitragseinnahmen haben. Auch das ist eine Stärkung der Solidarität; das können Sie nicht abstreiten. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Lauterbach, der Kollege Weinberg ist Ihrer Ermunterung prompt gefolgt und hat sich nun zu einer überraschenden Zwischenfrage gemeldet. (Heiterkeit) Wollen Sie die zulassen? Dr. Karl Lauterbach (SPD): Das kann ich jetzt nicht ablehnen. Ich nehme die Frage sehr gerne an. Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön. Harald Weinberg (DIE LINKE): Herr Kollege Lauterbach, das haben Sie sich jetzt ein Stück weit selbst zuzuschreiben. Jetzt nur einmal ganz kurz für mich zum Nachvollziehen – vielleicht bin ich ja in der Tat auf die falsche Schule gegangen (Tino Sorge [CDU/CSU]: Das glaube ich auch!) und kann nicht rechnen –: Eine Kürzung um 3,5 Milliarden Euro und danach eine Kürzung um 2,5 Milliarden Euro ergibt erst einmal eine Kürzung um 6 Milliarden Euro. Im Jahr 2015 soll dann eine halbe Milliarde obendrauf kommen. Dann sind immer noch 5,5 Milliarden Euro weg. – Stimmt das, oder stimmt das nicht? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Dr. Karl Lauterbach (SPD): Das stimmt schlicht und ergreifend deshalb nicht, weil nach der ursprünglichen Planung für 2017 im Vergleich zu heute eine Veränderung um 4 Milliarden Euro vorgesehen war. Jetzt sind es 4,5 Milliarden Euro. Das ist eine halbe Milliarde mehr. Ich erkläre es Ihnen noch einmal: Ich vergleiche einfach das, was 2017 absolut geflossen wäre, (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Hütchenspieler!) mit dem, was nach der jetzigen Planung 2017 absolut fließen wird. Das ist eine halbe Milliarde mehr; daran können Sie nichts ändern. So einfach ist das, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange braucht man, bis man 6 Milliarden Euro in 500-Millionen-Euro-Schritten aufgefangen hat? – Gegenruf des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU]: Zwölf Jahre! – Gegenruf der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau: Zwölf Jahre! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben jetzt alle verstanden!) Relevant sind doch nicht die Zwischenschritte, sondern das Gesamtergebnis, und das Gesamtergebnis ist: eine halbe Milliarde mehr – da können Sie so lange rechnen, wie Sie möchten. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ich gebe es auf! Bei dieser höheren Mathematik komme ich nicht mit!) Ich komme zum Qualitätsinstitut. 95 Prozent der Leistungen, die derzeit in unserer gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden, sind weder neu noch steht deren Erstattung infrage; sie werden somit durch die Qualitätsanforderungen des IQWiG, die sich auf die Erstattungsfähigkeit neuer Leistungen beschränken, nicht erfasst. Für diese 95 Prozent der Leistungen gilt: Sie entscheiden über die Qualität unseres Gesundheitssystems. Derweil ist richtig, was Minister Gröhe sagte: Obwohl die Qualität gut ist, haben wir auch große Defizite. Das räumen wir ein. Das Qualitätsinstitut ist ein Quantensprung bei der Verbesserung der Qualität der Versorgung in Deutschland, von dem alle profitieren werden. Wir werden durch dieses Qualitätsinstitut, durch die Zusammenführung der Daten, erstmalig wissen: Wie gut ist welches Krankenhaus? Wie gut ist welche medizinische Leistung? Wie lange hält welcher Eingriff? Gibt es regionale Unterschiede? – Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben: All dies weiß man derzeit in vielen Bereichen nicht. Auf der Grundlage dieser Daten können wir dann auch die Vergütung steuern und durch einen neu gegründeten Innovationsfonds innovative Projekte fördern. Das ist ein echter Schritt nach vorn, das ist ein Quantensprung für die Versorgungsqualität in Deutschland. Ich hoffe, wenigstens Ihre Nachrednerin, Frau Vogler, wird dies würdigen, anders als Sie, der Sie nicht die Größe hatten, die Stärkung der Solidarität hier zu begrüßen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So was ist unglaublich!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Klein-Schmeink ist nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nächste Rednerin. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist selten, dass ein Hauptverhandler eines Koalitionsvertrages im Bereich der Gesundheitspolitik so um Anerkennung gebettelt hat, wie ich das heute Morgen hier gehört habe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Es scheint ja ein großer Bedarf an Bestätigung vorzuliegen. Wir jedenfalls sehen uns nicht in der Lage, genau dieses zu tun; denn wir reden heute über etwas ganz anderes. Es ist überhaupt eine erstaunliche Debatte bisher: Bisher ist nämlich der Kern des Gesetzentwurfs, über den wir heute hier diskutieren, nämlich eine neue -Finanzstruktur für die gesetzliche Krankenversicherung, in keinster Weise so gewürdigt worden, wie es nötig wäre. Es handelt sich um nicht weniger als einen Systemwechsel in die Richtung, dass in Zukunft ausschließlich die Versicherten den Kostenanstieg im Gesundheitswesen tragen sollen. Das ist zutiefst ungerecht, das ist zutiefst unrational gedacht, und das wird Folgen haben, die sich in der Zukunft nachhaltig bemerkbar machen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Der Minister hat in kurzen Worten, aber doch sehr deutlich davon gesprochen, wir hätten es mit einer üppigen Beitragssenkung für viele Versicherte, mit einer paritätischen Aufteilung der Versichertenbeiträge zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und mit einem Quantensprung in Sachen Qualität zu tun. Nichts davon wird so kommen, wie es hier gesagt wird, weil es in der eigentlichen Sache darum geht, den Arbeitgeberbeitrag auf dem jetzigen Stand einzufrieren (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Er ist doch eingefroren!) und sämtliche Kosten im Gesundheitswesen den Versicherten aufzuladen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das ist ein grandioses Scheitern der SPD, die vor der Wahl noch die gleichen Forderungen hatte, die wir als Opposition, als Grüne und als Linke, haben, nämlich für eine gerechte und nachhaltige Finanzierung im Gesundheitswesen zu sorgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Schauen wir uns einmal an, welche Folgen ein Zusatzbeitragssatz hat, der von den Kassen individuell erhoben werden kann: Es wird weiterhin einen starken Preiswettbewerb geben. Dieser Wettbewerb wird nicht dazu führen, dass die Kassen gute Leistungen für die Versicherten anbieten, nein, die Kassen werden auf jeden Cent schauen und die Leistungen für die Versicherten bis an die Grenze dessen, was gesetzlich erlaubt ist, herunterschrauben und eindämmen, so wie sie es schon in der Vergangenheit getan haben. Das haben wir in den nächsten zwei Jahren zu erwarten, weil jede Kasse vermeiden wird, in diesem starken Wettbewerb mit Zusatzbeitragssätzen konkurrieren zu müssen. Das ist nicht nur ein Vergehen an den Versicherten, sondern das hat auch für die Patienten langfristige Folgen, die wir dringend vermeiden müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Dieser Weg wurde bereits von Schwarz-Gelb eingeschlagen; das muss man zugestehen. Insofern hat die Verhandlungskraft der SPD vielleicht nicht ausgereicht, um das zu stoppen. Gleichwohl muss hier benannt werden, dass das ein Fehler und ein Raubbau an der Solidarität im gesetzlichen Gesundheitswesen ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es ist zu Recht auch darauf hingewiesen worden, dass die Arbeitgeber in den Tarifverhandlungen und in den Aufsichts- und Verwaltungsräten der Krankenkassen in Zukunft nicht mehr für einen nur moderaten Anstieg der Beitragssätze sorgen werden. Nein, sie werden entscheiden können, ohne die Kosten zu tragen. Als Arbeitgeber vertreten sie gleichzeitig die Kostentreiber in der Gesundheitswirtschaft. Auch das ist ein Raubbau an der bisher gut bewährten Praxis im solidarischen System der Gesundheitsversorgung hier in Deutschland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es wird in großen Schritten zu Beitragssteigerungen kommen, auch wenn es jetzt bei einigen Kassen – wahrscheinlich werden es sieben sein; andere sprechen vielleicht von mehr – für ein Jahr zu einer Senkung kommt. Bei sehr vielen Kassen werden wir aber schon jetzt eine sehr starke Beitragssteigerung erleben. Diese Steigerungen werden nur von den Versicherten zu zahlen sein und gleichzeitig erneut, wie vor zwei Jahren, zu einer großen Mitgliederwanderung und großen Verwerfungen zwischen den Krankenkassen führen. Diese Krankenkassen werden dann mit sich selber beschäftigt sein, statt damit, die Versorgung zu verbessern und zu einer Versorgerkasse zu werden, die sich insbesondere um die alten Menschen und die Familien vor Ort kümmert, ihnen eine gute Beratung anbietet und gute Versorgungsverträge auf den Weg bringt. All dies wird in den nächsten zwei bis drei Jahren nicht geschehen, sondern die Kassen werden mit sich selber beschäftigt sein. Das ist ein gravierender gesundheitspolitischer Fehler, der an dieser Stelle auch benannt sein muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Während die SPD und die Versicherten die Verlierer in diesem ganzen Spiel sind, ist die Union der einzige Gewinner. Sie wird nämlich mit den Folgen dieses völlig verfehlten Zusatzbeitrags nicht mehr konfrontiert, da sie den Sozialausgleich, dieses Bürokratiemonster, stillschweigend begraben kann. Gleichzeitig kann sie den Arbeitgebern ein großes Versprechen machen: Ihr werdet in Zukunft nicht mehr belastet. Jetzt werden die Versicherten die Kosten zu tragen haben. – Das ist ein falsches Signal. Sie denken zu kurzfristig und überlegen dabei nicht, wie wir es schaffen können, für die Zukunft ein leistungsfähiges, ein patientengerechtes und versichertengerechtes Gesundheitswesen aufzubauen; ein Gesundheitswesen, das solidarisch und stabil finanziert ist und mit dem gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass die Lasten gerecht und solidarisch verteilt sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Jens Spahn (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jenseits der Dinge, die wir in der Sache regeln, ist es schon ein Wert an sich, dass es dieser Koalition aus CDU/CSU und SPD gelungen ist, das Problem, das die Gesundheitspolitik im Grunde in den letzten 10 bis 15 Jahren geprägt hat, nämlich der jahrelange intensive Streit darüber, wie die zukünftige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung aussehen soll, verbindlich und in einem guten Kompromiss miteinander zu lösen. Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf regeln wir diese Finanzfragen gründlich und haben dadurch tatsächlich Zeit, uns drei Jahre lang intensiv mit Fragen der Versorgung zu beschäftigen, also: Wie erleben Patienten den Versorgungsalltag in Deutschland? (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird genau nicht passieren!) Das, was die Menschen eigentlich interessiert, sind nicht unsere abstrakten Debatten über die Finanzierung – auch diese sind wichtig –, sondern die Menschen vor Ort interessieren sich vor allem für Antworten auf folgende Fragen: Habe ich noch einen Hausarzt vor Ort, wenn ich ihn brauche? Wie weit entfernt ist das nächste Krankenhaus? Wie steht es mit der Qualität des Krankenhauses, mit Infektionen und anderen Dingen? Wir wollen die Versorgung der Menschen in dieser Legislatur in den Mittelpunkt stellen. Dafür ist dieser Kompromiss zur Finanzierung eine gute Basis. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kassen werden mit sich selber beschäftigt sein!) Was tun wir? Ja, es stimmt: Wir als CDU/CSU haben uns im Kompromiss von den pauschalen Zusatzbeiträgen verabschieden müssen. Bei einem Kompromiss ist es nun einmal so, dass sich beide Seiten aufeinander zubewegen. Aber eines war uns immer ganz wichtig: dass es einen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen auch in Zukunft gibt und dass die Vielfalt der Kassen erhalten bleibt. Bei diesem Wettbewerb geht es um verschiedene Faktoren. Ein Faktor dabei ist der Service. In Veranstaltungen zu diesem Thema vor Ort hören wir oft die Frage: Warum gibt es so viele Krankenkassen, brauchen wir eigentlich 130 Krankenkassen in Deutschland? – Ich sage dazu: Ja, wir brauchen viele Krankenkassen. Wenn es nur eine einzige Krankenkasse gäbe, warum sollten die Mitarbeiter dieser Krankenkasse überhaupt den Hörer abheben, wenn jemand anruft, um eine Frage zu stellen? Schließlich kann ja niemand wechseln. – Wir brauchen den Wettbewerb, um einen guten Service, ein gutes Angebot sowie Sicherheit in der Versorgung für die Versicherten zu gewährleisten. Deswegen ist es uns ganz wichtig, dass der Wettbewerb zwischen den Kassen und damit auch die Vielfalt im Sinne der Versicherten erhalten bleibt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie die Kassen zwingen, zu sparen, wird genau das nicht passieren!) Dieser Wettbewerb soll sich natürlich auch im Preis widerspiegeln; denn natürlich hat der Preis im Wettbewerb eine wichtige Signalwirkung. Bei dem Preis geht es in diesem Fall um prozentuale Unterschiede. Bei der einen Kasse wird man 0,3 oder 0,5 Prozentpunkte vom Lohn zusätzlich zahlen müssen, bei einer anderen Kasse 0,9 oder 1,1 Prozentpunkte, wie auch immer die Spanne am Ende sein wird. Dann kann ich als Versicherter für mich überlegen: Ist die Kasse, für die ich mich entscheiden möchte, im Preis-Leistungs-Verhältnis, in der Frage der Versorgungsangebote oder der zusätzlichen Satzungsleistungen, auch in der Frage der Geschäftsstellenstruktur – ist jemand erreichbar, oder genügt mir das Internetangebot? –, für mich die richtige? Ich kann für mich als Versicherter überlegen: Ist mir meine Kasse diesen Zusatzbeitrag wert oder nicht? Wenn nicht, dann kann ich zu einer anderen Kasse wechseln. Dieser Wettbewerb im Preis ist jedenfalls uns wichtig, weil er die Versicherten in die Lage versetzt, für sich das Beste auszusuchen. Das ist das Entscheidende. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Sie haben die Festschreibung des Arbeitgeberbeitrages kritisiert, Frau Kollegin Klein-Schmeink, was ich nicht verstehen kann. Ich will darauf hinweisen, dass die Unterscheidung zwischen Arbeitgeberbeitrag und Arbeitnehmerbeitrag – das wurde richtigerweise gemacht, das kritisiere ich nicht – erstmalig unter Rot-Grün eingeführt worden ist. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Fehler!) Sie haben damals gesagt: Die Arbeitnehmer sollen 0,9 Beitragssatzpunkte mehr zahlen. Das sind die 0,9 Punkte, die wir jetzt in den Mittelpunkt des Wettbewerbs um den Preis stellen. Viele werden in diesem ersten Schritt – der Minister hat darauf hingewiesen – weniger zahlen. Sie haben das damals eingeführt, und Ulla Schmidt hat das verteidigt. Wir haben das in der Sache unterstützt, weil damit dafür gesorgt wird, dass die steigenden Gesundheitskosten in einer älter werdenden Gesellschaft von den Arbeitskosten entkoppelt werden. Ja, wir wissen: In einer älter werdenden Gesellschaft mit medizinischem Fortschritt wird Gesundheit teurer werden. Aber Gesundheit darf in Deutschland nicht automatisch Arbeit teurer machen, sonst verlieren wir den Wettbewerb mit anderen Regionen in der Welt. Außerdem können wir dann auch die Gesundheitsdebatten nicht richtig führen. Wenn wir in der Gesundheitsdebatte immer erst danach fragen, was bei den Lohnnebenkosten mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit passiert, dann tritt die Frage, was in der Gesundheitspolitik eigentlich notwendig wäre, dahinter zurück. Deswegen ist die Entkoppelung richtig. Sie haben sie damals vorgenommen. Heute wollen Sie nichts davon wissen. Diesen Reflex kennen wir bei der Opposition. Aber sie bleibt richtig, weil sie die Gesundheitskosten von den Arbeitskosten entkoppelt. (Beifall bei der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das geht besser über den Weg der Bürgerversicherung! Das ist der Weg!) Im Übrigen habe ich ein zweites intellektuelles Problem mit dem, was Sie eben vorgetragen haben, Frau Kollegin Klein-Schmeink. Sie haben eben zum Thema Wettbewerb beim Beitragssatz ausgeführt, was alles Schlimmes passiert, wenn die Kassen miteinander im Preiswettbewerb stehen und es unterschiedliche Beitragssätze gibt. Eines verstehe ich dabei nicht. Wenn ich das Konzept der Grünen einigermaßen richtig kenne, dann sieht auch Ihr Konzept vor, dass es unterschiedliche Beitragssätze der Kassen gibt und dass sie miteinander im Wettbewerb stehen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es soll um Qualitätswettbewerb gehen, nicht um Preiswettbewerb!) Das ist eine gewisse intellektuelle Herausforderung: Wenn Schwarz-Rot den Wettbewerb bei Preisen und Beitragssätzen einführt, dann ist er schlecht. Wenn die Grünen das in ihrem Programm haben, dann ist es gut. Das ist wie damals bei Jürgen Trittin: Ein Castortransport, den andere genehmigen, ist schlimm. Aber wenn Herr Trittin ihn selber genehmigen muss, dann ist er gut. Diese Logik in der Argumentation werden Sie, glaube ich, in der Öffentlichkeit nicht lange durchhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) Ein zweiter wichtiger Bereich jenseits der Finanzierungsdebatte ist die Frage der Qualität. Darauf ist schon hingewiesen worden. Wir wollen in dieser Legislaturperiode – dafür schafft das Finanzierungsgesetz die Basis, weil es die gemeinsamen Vereinbarungen umsetzt – den Fokus auf die Versorgung richten. Voraussetzung dafür ist – jenseits dessen, was heute schon an guter Qualität im deutschen Gesundheitswesen geleistet wird – Transparenz über das, was geleistet wird. Wenn sich zum Beispiel jemand im Krankenhaus einer Knie- oder Hüftoperation unterzogen hatte und nach der Entlassung aus dem Krankenhaus einen Orthopäden zur ambulanten Behandlung aufsuchen muss, weil es zu einer Komplikation gekommen ist, dann wissen wir heute nicht, dass es sich um ein und denselben Patienten handelt. Wie wollen Sie aber die Qualität einer Knieoperation messen, wenn Sie gar nicht nachvollziehen können, was nach der Operation passiert ist? Deswegen ist es richtig, dass wir, natürlich anonymisiert, am Ende alle Daten zusammenführen – die Abrechnungsdaten und die Risikostrukturausgleichsdaten sind schließlich vorhanden –, um zu erkennen, wie gut die Versorgung in Deutschland bzw. das einzelne Haus ist und an welcher Stelle noch Verbesserungen nötig sind. Deswegen ist das, was wir heute auf den Weg bringen, ein großer Schritt zur Transparenz im Gesundheitswesen. Dazu gehört auch die Frage: Wie verknüpfen wir das mit der Vergütung und mit den Strukturen? Transparenz zu schaffen, ist schließlich kein Wert an sich, auch wenn sie wichtig ist. Die Transparenz soll es im Übrigen auch ermöglichen, dass sich der einzelne versicherte Patient bei einer planbaren Operation, ob am Knie, an der Hüfte oder in anderen Bereichen – idealerweise online oder auch durch eine entsprechende Beratung –, informieren kann, welches Haus wie gut ist und wo er sich gut behandeln lassen kann. Es geht also auch um die Stärkung der Position des Patienten bzw. Versicherten. Aber wir wollen das in ersten Schritten auch mit der Vergütung verknüpfen, indem wir prüfen, wo wir auch bei der Bezahlung von Krankenhäusern Anreize setzen können, damit diejenigen, die gut sind, mehr Operationen durchführen als die, die schlecht bewertet sind. Diese sollten im Zweifel in Zukunft weniger oder auch gar keine Operationen mehr durchführen. Es geht also erstens darum, in der Vergütung Anreize zu schaffen, und zweitens sollten wir auch zum Thema Struktur eine Debatte darüber führen, wer welches Angebot vorhalten soll und wer in welchem Bereich wie gut aufgestellt ist. Insofern ist das Qualitätsinstitut, das wir in unseren Gesetzentwurf aufgenommen haben, tatsächlich, wie der Kollege es formuliert hat, ein Quantensprung in der Versorgungsdebatte, weil erstmalig die vorhandenen Daten zusammengeführt und uns ermöglicht wird, Qualität mit System in alle Bereiche des Gesundheitswesens hineinzubringen. Das dient vor allem den Patientinnen und Patienten in Deutschland. Ich glaube, das ist ein großer Schritt in dem, was wir hier tun, den man auch einmal anerkennen kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dass das auch die Basis für Strukturdebatten sein muss, sage ich auch in dem Wissen, dass wir diese Debatte zwar auf einer sehr guten finanziellen Basis der gesetzlichen Krankenversicherung führen. Wir haben im Gesundheitsfonds und bei den einzelnen Kassen Rücklagen in nie geahnter Höhe. Das hat viel mit früheren Reformen und Änderungen auch in der christlich-liberalen Koalition zu tun, vor allem aber auch mit der guten Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Aber wir sollten uns auch bewusst machen, dass diese gute Situation nicht per se dauerhaft so anhält. Wir haben, ohne dass wir ein Gesetz ändern, Kostensteigerungen in Höhe von gut 8 Milliarden Euro pro Jahr in der gesetzlichen Kranken-versicherung zu verzeichnen. Wir haben noch 2000 135 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgegeben. 2014 werden es 200 Milliarden Euro sein. Es gab also enorme Ausgabensteigerungen in den letzten Jahren, und diese setzen sich fort. Wir wollen – dafür brauchen wir eine vernünftige Datengrundlage und eine ehrliche Debatte vor allem zwischen Bund und Ländern, etwa wenn es um die Krankenhäuser geht – von den Spargesetzen alter Art – hier etwas wegschneiden, da etwas herausnehmen und hier etwas prozentual kürzen – wegkommen. Wir wollen Strukturdebatten darüber führen, wie wir das Gesundheitssystem in Deutschland effizienter gestalten können. Wir wollen mit den Ländern darüber reden, wie in Zukunft die Krankenhausfinanzierung und die Krankenhausstrukturen aussehen sollen. Wir müssen die Zusammenarbeit zwischen ambulanter und stationärer Versorgung stärker in den Fokus rücken. Uns müssen letztendlich grundsätzliche Strukturveränderungen gelingen, wie wir es bereits mit dem Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz geschafft haben. Das ist kein Spargesetz alter Art. Vielmehr hat es erstmalig die Grundstruktur verändert, Qualität befördert und Geld gespart. Auf Basis dessen, was wir mit dem Qualitätsinstitut schaffen, wollen wir das in anderen Bereichen fortsetzen. Damit ist dieses Gesetz ein guter Start in diese Legislaturperiode. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Kathrin Vogler für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben heute schon einiges über Qualität gehört. Vor allem beim Minister habe ich mich gefragt, woher er die ganzen geschmeidigen, schönen Worthülsen nimmt. Ich möchte nun etwas konkreter werden und deutlich machen, worum es eigentlich geht. (Christian Hirte [CDU/CSU]: Da bin ich jetzt gespannt!) Herr Kollege, kennen Sie das Buch Keimzelle Krankenhaus? (Christian Hirte [CDU/CSU]: Das kenne ich!) Darin schildert der WAZ-Reporter Klaus Brandt eine umfangreiche Recherche in nordrhein-westfälischen Krankenhäusern. Der Befund ist einigermaßen erschreckend. Immer mehr Menschen infizieren sich im Krankenhaus mit multiresistenten Erregern. Allein in Duisburg starben im Jahr 2012 25 Menschen am gefürchteten MRSA-Keim. Anderswo sieht es nicht wesentlich besser aus, wie wir alle wissen. Immer wieder erhielt der Journalist deutliche Hinweise darauf, welches die Ursachen sind. Die nötigen Hygienemaßnahmen sind sehr wohl bekannt. Aber unter dem Druck der Arbeitsverdichtung hat das Personal immer weniger Zeit und Möglichkeit, diese auch einzuhalten. Überbelegte Stationen, viel zu wenige Pflegekräfte und externe Reinigungsdienste, die unter irrsinnigen Akkordvorgaben arbeiten – wer wundert sich da noch über Hygienemängel? Im letzten Jahr rechnete uns die Gewerkschaft Verdi vor, dass in deutschen Krankenhäusern 162 000 Vollzeitkräfte fehlen. Das ist doch ein Skandal. Das ist der Kern aller Qualitätsprobleme. (Beifall bei der LINKEN) Warum ist das so? Sie alle gemeinsam haben in den letzten Jahrzehnten die Krankenhäuser systematisch zu Unternehmen gemacht, in denen die Wirtschaftlichkeit im Vordergrund steht. Wirtschaftlichkeit ist das oberste Gebot. Gleichzeitig haben CDU/CSU, SPD und auch Grüne in den Ländern, in denen sie regieren, mit Schuldenbremsen und Spardiktaten dafür gesorgt, dass die notwendigen Investitionen in die Krankenhäuser unterblieben sind, zum Beispiel bei uns in Nordrhein-Westfalen. So sparen die Krankenhäuser, wo es geht. Das ist in der Regel beim Personal. Genau das gefährdet die Patientinnen und Patienten. Deswegen fordert die Linke seit Jahren ein Bundesprogramm, das dazu dient, den Ländern zu helfen und diesen gefährlichen bzw. lebensgefährlichen Investitionsstau in den Krankenhäusern endlich zu beheben, leider ohne Unterstützung der anderen Fraktionen in diesem Haus. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben noch nicht mal die eigenen Leute!) Welche Medizin verordnen Sie von der Großen Koalition nun diesem kranken Gesundheitswesen? Sie wollen ein Qualitätsinstitut gründen, das in Zukunft Behandlungsqualität in den Krankenhäusern misst und die Ergebnisse allgemeinverständlich für die Patientinnen und Patienten kommuniziert. Daran ist erst einmal nichts Falsches. Gegen ein solches Institut ist überhaupt nichts einzuwenden. Aber es ist kein Quantensprung – um dem Kollegen Lauterbach zu widersprechen. Bei uns im Münsterland weiß jeder Landwirt: Vom Wiegen allein wird die Sau nicht fett. Das Projekt DSDS, Deutschland sucht das Superkrankenhaus, ist nämlich laut Koalitionsvertrag nur der erste Schritt. In einem zweiten Schritt – das haben Sie, Herr Spahn, Herr Gröhe, gerade gesagt – wollen Sie dann diese Messergebnisse zum Maßstab der Finanzierung der Krankenhäuser machen. Das bedeutet, dass die Häuser, in denen der wirtschaftliche Druck schon am meisten auf die Qualität durchgeschlagen hat, hinterher noch weniger Geld bekommen. Ob das dazu führt, dass diese Krankenhäuser besser werden, muss man, glaube ich, bezweifeln. Nein, das führt zu weiterem Bettenabbau, zu noch mehr Klinikschließungen und am Ende zu einem noch höheren Druck in den verbleibenden Häusern. Es kann sogar ein Anreiz dafür werden – das finde ich besonders gefährlich –, dass sich die Häuser speziell um Patientinnen und Patienten mit unkomplizierten Erkrankungen bemühen, die dann hinterher mehr Qualitätspunkte versprechen. Das wäre wirklich eine Gefahr für die Patientinnen und Patienten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und der SPD, wenn Sie wirklich mehr Qualität im Krankenhaus wollen, dann kommen Sie einfach nicht darum herum, Geld dafür in die Hand zu nehmen, und zwar nicht nur 14 Millionen Euro für ein Qualitätsinstitut. Die Krankenhäuser brauchen mehr Geld für Investitionen, sie brauchen mehr Geld für Personal, für bessere Arbeitsbedingungen, für höhere Löhne, für die Rücknahme von Privatisierung und Outsourcing. Das ist nämlich die Voraussetzung für höhere Qualität. Dafür wird sich auch die Linke einsetzen. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Sabine Dittmar für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sabine Dittmar (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wichtige Regelungen hin zu einer nachhaltigeren Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, aber auch zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA und zur Qualitätssicherung getroffen. Es ist allgemein bekannt, dass wir Sozialdemokraten eine nachhaltige, solidarische Finanzierung der GKV im Sinne einer Bürgerversicherung anstreben. Allerdings sind in einer Koalition nun einmal Kompromisse notwendig, und wir stehen zu den im Koalitionsvertrag getroffenen Vereinbarungen. Somit ist es in der Tat so, dass das jetzt vereinbarte Finanzierungskonstrukt mit einer primären Parität und einem Beibehalten des Einfrierens der Arbeitgeberbeiträge sicherlich nicht die Erfüllung sozialdemokratischer Vorstellungen ist. Aber ich sage hier auch in aller Deutlichkeit: Diese Regelungen sind ein ganzes Stück weit gerechter und ein ganzes Stück weit besser als die Regelungen unter Schwarz-Gelb. (Beifall bei der SPD) Der vorgelegte Entwurf zum GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz schafft nämlich vor allem eines: Eventuell notwendige kassenindividuelle Zusatzbeiträge werden zukünftig prozentual einkommensabhängig erhoben und sind somit ein Stück weit gerechter als diese unsägliche, unsoziale und verwaltungsaufwendige Kopfpauschale. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage zu? Sabine Dittmar (SPD): Ja, gerne. Geht das von meiner Redezeit ab? Präsident Dr. Norbert Lammert: Nein, um Gottes willen, solange sich das in halbwegs überschaubarem Rahmen hält. (Heiterkeit) Bitte sehr. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke schön, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade gesagt, dass der neue Zusatzbeitrag gerechter sei als der alte und Sie damit den Sozialausgleich und das aufwendige Verfahren einsparen. Gleichwohl bleibt ein großes Problem; denn Sie haben es versäumt, im Koalitionsvertrag überhaupt eine Belastungsgrenze einzuziehen. Das heißt, in Zukunft wird der gesamte Kostenanstieg im Gesundheitswesen tatsächlich von den Versicherten zu tragen sein. Eine Regelung für den Fall, dass die Belastungsgrenze von 2 Prozent überschritten wird, die immerhin gerade für die kleinen Einkommen selbst beim schwarz-gelben Zusatzbeitrag mitgedacht war, haben Sie in Ihrem faulen Kompromiss nicht vorgesehen. Wie denken Sie denn die Belastung für die Versicherten in beispielsweise zwei Jahren – dann wird es so weit sein – einschränken zu können, um das Ganze gerecht zu gestalten? Sabine Dittmar (SPD): Frau Kollegin, hätten Sie mich weiterreden lassen, dann hätten Sie schon noch eine Antwort auf Ihre Frage erhalten. Ich kann die Antwort auch im Vorgriff geben. Es ist richtig, was Sie eben dargestellt haben, aber diese Vereinbarung wurde für diese Legislaturperiode getroffen. Ich kann Ihnen sagen: Wir Sozialdemokraten werden einen ganz genauen Blick darauf werfen, wie sich die Beiträge, aber auch die Ausgaben entwickeln; denn es kann in der Tat nicht sein, dass dauerhaft die Mehrbelastungen alleine von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu tragen sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie akzeptieren es!) – Ich habe Ihnen ganz klar gesagt, dass Kompromisse eingegangen worden sind und dass wir zu den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag stehen. Ich räume ein, dass das nicht alles unseren Vorstellungen entspricht. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Dann machen Sie das nächste Mal zwei Protokollnotizen!) – Nein, die gibt es nicht, Herr Kollege. Ist Ihre Frage so weit beantwortet, Frau Klein-Schmeink? (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) – Gut, wunderbar. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja so unbefriedigend, wie es ist! Aber genau so ist es!) Dann kann ich in meiner Rede fortfahren. Wie ich Ihnen gerade gesagt habe, werden wir die Entwicklung der Zusatzbeiträge wirklich genau beobachten; denn diese Problematik ist auch uns bekannt. Ich möchte in meinem heutigen Redebeitrag eigentlich auf einen Aspekt eingehen, der auch ein wesentlicher Bestandteil dieses Gesetzentwurfs ist und ganz massiv auf die Finanzausstattung der einzelnen Krankenkassen einwirkt, aber in der bisherigen Debatte noch überhaupt keinen Widerhall gefunden hat: die Weiterentwicklung des Morbi-RSA. Das ist in der Tat eine sehr trockene Materie. Ich kann verstehen, dass die Öffentlichkeit sie nicht mit Leidenschaft diskutiert. Ich muss sagen: In der Fachwelt wird dieser Aspekt sehr kritisch gesehen. Seit 2009, mit Einführung des Gesundheitsfonds, gibt es, wie wir wissen, auch eine Zuweisung auf Grundlage der Morbidität, und das ist auch gut so. Denn das hat im Ergebnis zu einer wesentlich verbesserten Zielgenauigkeit der Zuweisungen geführt und die Deckungsquoten bei den standardisierten Leistungsausgaben der Krankenkassen wirklich deutlich verbessert. Gleichwohl kommt der Evaluationsbericht des Wissenschaftlichen Beirates zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs zu dem Ergebnis, dass es bei den Ausgaben für im Berichtsjahr Verstorbene, also der Annualisierung, bei den Zuweisungen für Auslandsversicherte und vor allem bei den Zuweisungen für Krankengeld erheblichen Handlungsbedarf gibt. Die Annualisierung hat nun das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen durch ein rechtskräftiges Urteil abgearbeitet. Hier haben wir Rechtssicherheit. Gesetzgeberischen Handlungsbedarf haben wir noch bei den Zuweisungen für Auslandsversicherte und für Krankengeld. Ich sage in aller Deutlichkeit: Ich halte die im Gesetzentwurf geregelte Vorgehensweise wirklich für sachgerecht. Wir schaffen Übergangsregelungen und geben gleichzeitig ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag, das den weiteren Forschungsbedarf abdeckt. Schwierig gestalten sich diese Übergangsregelungen allerdings bei der Gemengelage um die Krankengeldzuweisungen. Denn dieses Krankengeld ist der einzige Leistungsbereich im Risikostrukturausgleich, bei dem es sich nicht um eine einkommensunabhängige Sachleistung handelt, sondern um eine reine Lohnersatzleistung. Die Krankenkassen haben somit zwei Risiken: einmal die Höhe des Einkommens des Versicherten, auf die sie keinen Einfluss nehmen können, und zum anderen die Morbidität und die daraus resultierende Krankengeldbezugsdauer, welche man allerdings schon durch Management steuern kann. Tatsache ist, dass die Deckungsquoten in diesem Bereich erheblich – zwischen 60 und 150 Prozent – variieren. Interessant dabei ist: Diese Unterschiede gibt es nicht nur in einer einzelnen Kassengruppe, sondern sie ziehen sich quer durch die verschiedenen Krankenkassen, den einzelnen AOKs, BKKs und Ersatzkassen. Man hat mittlerweile zig Modelle durchgerechnet, um hier zu genaueren Ergebnissen zu kommen. Keine Berechnung war von Erfolg gekrönt. Deshalb ist uns empfohlen worden, weiterzuforschen und bis dahin die bisherigen Verfahrensweise beizubehalten. Wir halten es für sachgerecht, bereits im vorliegenden Gesetzentwurf eine Übergangsregelung zu verankern, durch die die aktuelle Spreizung reduziert werden kann. Künftig wird die Hälfte der Zuweisungen auf Grundlage der tatsächlichen Aufwendungen für das Krankengeld geleistet. Die restlichen 50 Prozent der Zuwendungen erfolgen nach dem bisherigen standardisierten Verfahren. Das hat zur Konsequenz, dass sowohl die Überdeckungen als auch die Unterdeckungen halbiert werden. Diese Maßnahme führt allerdings in der Fachwelt zu sehr kontroversen Diskussionen; denn gerade Krankenkassen mit hohem durchschnittlichen Grundlohn der Versicherten oder auch Krankenkassen, die durch die Annualisierung benachteiligt sind, fordern hier eine stärkere Berücksichtigung der Grundlohnkomponente. Ich kann dazu nur feststellen, dass der genannte Wissenschaftliche Beirat diverse Modelle unter Berücksichtigung eines sogenannten Grundlohnkorrekturfaktors ausgewertet hat und zu dem Ergebnis kam, dass auch diese in keiner Weise zielgenauer sind. Im Gegenteil, es kommt teilweise zu nicht akzeptablen und auch nicht vermittelbaren Verwerfungen, indem bei manchen Krankenkassen Überdeckungen weiter ausgedehnt werden und sich bei anderen die Unterdeckung verschärft. Ich denke, Kolleginnen und Kollegen, das kann nicht in unserem Sinne sein und das kann auch nicht der Zweck einer Übergangsregelung sein. Insofern muss ich heute klar sagen, dass ich auf Grundlage der aktuell vorliegenden Fakten zum jetzigen Zeitpunkt keinen triftigen Anhaltspunkt sehe, Veränderungen beim Morbi-RSA vorzunehmen. Allerdings sage ich auch: Wenn im Laufe des parlamentarischen Verfahrens Ideen entwickelt werden, die aufzeigen, wie wir Zuweisungen zielgenauer gestalten können, ohne gleichzeitig die unerwünschten Ausschläge nach oben und unten zu haben, sind diese sicherlich diskussionswürdig. Deshalb sehe ich mit sehr großer Spannung und Neugierde der Diskussion auf der Expertenanhörung am 21. Mai entgegen und freue mich auf weitergehende Erkenntnisse. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Harald Terpe ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Jetzt das Lob! Spring über deinen Schatten!) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich bekam mit auf den Weg, dass ich jetzt mit Lob beginnen soll. Lassen Sie mich deswegen meine Ausführungen mit drei Bemerkungen zur Finanzierung beginnen: Ich halte die These von der nachhaltigen Finanzierung für gewagt, wenn man gleichzeitig einräumt, dass es vielleicht für die nächsten vier Jahre eine Lösung sein könnte. Das ist natürlich nicht nachhaltig, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) insbesondere dann nicht, wenn die Finanzierung des Risikos der Kostenentwicklung allein bei den Versicherten bleibt – (Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) und das so lange, wie die das überhaupt tragen können. Deswegen war unser Vorschlag, zu fragen, ob wir die Arbeitskosten nicht auch dadurch entlasten können, dass wir die Finanzierung in der Gesellschaft gerechter verteilen. Erster Punkt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweiter Punkt. Wir müssen mit der Vorstellung aufräumen, die hier suggeriert wird, nämlich dass es eine Beitragssatzsenkung geben wird. Natürlich wird der Beitragssatz geringer, aber man muss gleichzeitig ganz klar sagen: Die Belastung der Versicherten wird mindestens gleich bleiben und in Zukunft natürlich steigen. Der dritte Punkt, den ich noch aufgreifen will, ist: Wenn wir auf die Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen auch nur partiell verzichten, dann ist das noch schwerwiegender und ungerechter als eine Steuererhöhung; das muss man klar so sagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Der Kollege Lauterbach hat ja gesagt: Wir nehmen Leistungen aus dem Gesundheitsfonds, um wichtige Struktur-investitionen in Bildung, Kinderbetreuung usw. zu -finanzieren. – Sie trauen sich nicht, zu sagen: „Wir brauchen Steuern, um das zu machen“, sondern versuchen, das über den Umweg der Beitragszahlungen der Versicherten zu finanzieren. Mit den Versicherten kommt dann aber nur eine kleinere Gruppe der Gesellschaft dafür auf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich hatte mir eigentlich vorgenommen – dafür bietet der Gesetzentwurf auch Ansatzpunkte –, zu dem wichtigen Thema der Qualitätssicherung zu sprechen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Darf vorher der Kollege Lauterbach eine Zwischenfrage stellen? Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gern. Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte sehr. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Nur ganz kurz. – Aber Sie können sich doch noch erinnern, dass ich darum gebeten habe, zu verstehen, dass wir die Zuweisungen zum Gesundheitsfonds kürzen, also Geld, das dort derzeit nicht gebraucht wird, nehmen, damit es für Bildung oder für Infrastruktur – das waren meine Beispiele – eingesetzt werden kann. Ich habe im Gegensatz zu dem, wie Sie mich zitiert haben, nicht über Leistungen gesprochen. Ich bin ja gerade so zitiert worden, als wenn ich gesagt hätte, wir wollten Leistungen kürzen. Sie können doch nicht abstreiten, dass ich genau das Gegenteil gesagt habe. Das wird im Übrigen das in circa einer Stunde vorliegende Protokoll ausweisen. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir können uns jetzt sicherlich darüber unterhalten, ob ich Sie direkt angesprochen habe im Hinblick auf das, was Sie gesagt haben. Ich habe nur auf den Fakt hingewiesen, dass dann, wenn man dem Gesundheitsfonds -anteilig Steuergeld entzieht, durch das sozusagen versicherungsfremde Leistungen finanziert werden, diese Leistungen durch Versichertenbeiträge finanziert werden. Sie können doch nicht verhehlen, dass der Gesundheitsfonds auch deswegen so voll ist, weil man sich mit Versichertenbeiträgen vollgesogen hat. Es wurde ja ein gesetzlicher Einheitsbeitrag erhoben, der plötzlich auf 15,5 Prozent hochgezogen wurde. Deswegen ist der Fonds voll. Das sind natürlich Versichertenbeiträge, und die gehören dahin. Genauso gehören natürlich in den Fonds Steuergelder, mit denen vollständig versicherungsfremde Leistungen finanziert werden müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn man Letzteres nicht macht, dann finanziert man auf einem Umweg versicherungsfremde Leistungen mit Versichertenbeiträgen. Das führt dann zu den Folgen, die ich genannt habe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Nun zurück zur Qualität. Ich möchte am Anfang darauf hinweisen, dass unsere Pflegekräfte, Praxisassistentinnen und -assistenten, Ärztinnen und Ärzte tagtäglich bei ihrer Arbeit eine hohe Leistungsqualität erbringen. Das verdient unsere Achtung; das wird auch von den Patienten hochgeschätzt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das muss man zunächst erst einmal festhalten. Wir alle wissen aber, dass die Qualität eines Ergebnisses nicht nur von der Qualitätsbereitschaft der Beschäftigten abhängt, sondern auch von den Verhältnissen und Strukturen im System, hier im Gesundheitssystem. Arbeitsverdichtung infolge von Personalabbau zum Beispiel oder auch Ermüdung infolge zu langer Arbeitszeiten etwa stellt natürlich die Qualität infrage bzw. ist ein Risiko für die Qualität. Deshalb gab es in der Vergangenheit eine Reihe von freiwilligen und auch von verpflichtenden Qualitätsmaßnahmen. Ich weise darauf hin, dass die Kliniken auf -Tumorkonferenzen bzw. Fallkonferenzen versuchen, Qualität zu sichern. Desweiteren werden Zertifizierungsverfahren angewandt und Qualitätsberichte angefertigt. Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage: Brauchen wir jetzt ein Institut? Und brauchen wir dieses Institut? Unsere Antwort ist klar: Ja, wir brauchen ein Institut, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) weil es damit nämlich zu einer Weiterentwicklung der bisherigen Qualitätsmaßnahmen kommt, indem Informationen gebündelt werden. Ich sage ausdrücklich: Das, was im Gesetzestext vorgeschlagen wird, dass nämlich die Versorgungsqualität möglichst als ein sektorenübergreifendes Qualitätsin-strument entwickelt werden soll, ist vollkommen richtig. Auch die einrichtungsübergreifende Zusammenstellung von Informationen ist richtig. Vor allen Dingen ist richtig, dass sie verständlich dargestellt werden müssen, damit auch die Patienten davon profitieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) Im Nachhinein würde dann auch die Arbeit honoriert werden, die sich die Kliniken mit den Qualitätsberichten gemacht haben. Im Grunde genommen finden diese Qualitätsberichte insgesamt bisher ja kaum Eingang in unsere Qualitätsbemühungen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Es ist aber natürlich nicht nur Lob angebracht, sondern es muss auch gefragt werden, ob wir im parlamentarischen Verfahren noch zusätzliche Bedingungen schaffen können. Die Frage des Zugriffs auf Krankenkassendaten ist geregelt. Auf diese wird auch ausdrücklich im Gesetz Bezug genommen. Es ist aber zu fragen, wo die ambulanten Daten herkommen sollen und ob da die KV-Daten nicht auch eine Rolle spielen müssen, um gerade diese sektorenübergreifende Qualitätssicherung zu organisieren. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ist vorgesehen!) – Das steht aber so nicht im Gesetz. Vielleicht müsste das noch einmal betont werden. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ist aber vorgesehen!) Ich denke, es ist auch sehr wichtig, dass die Patienten bzw. die Patientenverbände beteiligt werden, indem auch sie die Möglichkeit bekommen, Aufträge auszulösen. Wir sind aber auch der Meinung, dass sie im Stiftungsbeirat bzw. in den Gremien eine stärkere Verankerung finden müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Birgit Wöllert [DIE LINKE]) Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Wir werden sicherlich eine Qualitätsentwicklung über Strukturqualität und Prozessqualität hin zu Ergebnisqualität erleben. Wenn wir aber die Ergebnisqualität als Maßstab dieses Qualitätswettbewerbs nehmen, dann liegt angesichts dessen, was da bisher systematisch erfasst wird, noch ein sehr weiter Weg vor uns. Wir sollten die Zwischenzeit nutzen, gerade diesen Prozess voranzutreiben und mögliche Geburtsfehler im parlamentarischen Verfahren noch zu beheben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Wir besprechen heute den Entwurf der Bundes-regierung zum sogenannten GKV-FQWG, also zum GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz. Entgegen den Erwartungen vieler Beobachter konnte in den Koalitionsverhandlungen im Bereich Gesundheit schon recht früh Einigkeit erzielt werden. Ein wesentliches Element des Koalitionsvertrages ist die Antwort auf die Frage, wie die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung in Zukunft ausgestaltet werden soll. Mit dem heute diskutierten Entwurf der Bundesregierung werden die Verhandlungsergebnisse des Koalitionsvertrages konkretisiert. Ich denke, dass sich an der sachlichen Arbeit dieser Koalition in einer so wichtigen Frage zeigt, dass wir in dieser Koalition in der Gesundheitspolitik sehr gut aufgestellt sind und wir mit einer zügigen und sachgerechten Umsetzung des Koalitionsvertrages nicht nur hinsichtlich der Finanzierung der GKV, sondern auch in anderen Bereichen rechnen können. Lassen Sie mich nun auf das GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz zu sprechen kommen. Wie der Name schon sagt, baut das Gesetz auf zwei Säulen auf, die zusammen gedacht werden sollen, ja sogar gedacht werden müssen: erstens der Entwicklung des Finanzierungssystems, zweitens der weiteren Ausrichtung unseres Gesundheitssystems auf die Qualität der Versorgung. Im heute debattierten Gesetzesvorhaben geht es um einen ausgewogenen Preis- und Qualitätswettbewerb -unter den Kassen. Damit wollen wir eine finanzierbare und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung in Deutschland gewährleisten. Wie Sie wissen, ist das Gesundheitswesen, gerade auch im Bereich der Finanzierung, hochkomplex. Ich möchte deshalb die wesentlichen Verbesserungen im Bereich der Finanzierung, die wir mit diesem Gesetz anstreben, unterstreichen. Die bisherige Situation, dass viele Krankenkassen aufgrund ihrer Rücklagen darauf verzichten konnten, Zusatzbeiträge zu erheben, hat in meinen Augen zu einer überzogenen Ausprägung des Preiswettbewerbs geführt. Es ist notwendig, dass die Zusatzbeiträge tatsächlich erhoben werden. Der allgemeine, paritätisch finanzierte Beitragssatz wird bei 14,6 Prozent festgesetzt, und der Arbeitgeberanteil bleibt bei 7,3 Prozent gesetzlich festgeschrieben. Die Entkoppelung der Lohnzusatzkosten von den Gesundheitsausgaben bleibt somit bestehen. Der Preiswettbewerb wird auf der Ebene der Höhe des Zusatzbeitrags geführt, und kommt damit weg von der Frage, ob überhaupt ein Zusatzbeitrag erhoben wird. Die Krankenkassenmitglieder haben dann das Recht, unkompliziert in eine günstigere Krankenkasse zu wechseln. Dafür erhalten sie ein Sonderkündigungsrecht. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) Wir rechnen damit, dass die damit einhergehende Stärkung der Beitragsautonomie der Krankenkassen in 2015 für viele Bürgerinnen und Bürger zu Entlastungen führen wird. Das Bundesministerium für Gesundheit geht davon aus, dass etwa 20 Millionen Mitglieder bei Krankenkassen versichert sind, die in 2015 mit einem Zusatzbeitrag von unter 0,9 Prozent auskommen könnten. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wissen Sie das eigentlich so genau?) Die Einkommensumverteilung bei den Zusatzbeiträgen wird künftig innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung organisiert. Ein Sozialausgleich und damit verbundene Mehrbelastungen des Bundeshaushalts werden nicht mehr erforderlich sein. Ich erwähnte bereits, dass Finanzierungsaufgaben und -fragen im Gesundheitswesen hochkomplex sind. Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass wir die praktischen Entwicklungen im Finanzierungssystem stets beobachten und gegebenenfalls, wenn notwendig, natürlich auch korrigieren. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, darf die Kollegin Vogler Ihnen eine Zwischenfrage stellen? Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Bitte. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Nachdem Sie gerade noch einmal die Zahl von 20 Millionen Versicherten wiederholt haben, die angeblich in Kürze einen geringeren Beitrag zahlen, als sie das jetzt tun, würde ich gerne wissen, woher – abgesehen von der Website des Bundesministeriums – Sie diese Informationen haben und mit welchem Hintergrund Sie diese Informationen hier verbreiten. Wie gesagt: Wir wissen es noch nicht. Wir haben keine erhärteten Zahlen. Nach unserer Information haben erst sieben Kassen angekündigt, einen Zusatzbeitrag unterhalb des jetzigen Satzes von 0,9 Prozent zu erheben. Von daher frage ich mich, wie Sie auf diese optimistische Schätzung kommen, zumal ja dann im Gesundheitsfonds die Mittel, die durch die Haushaltskürzungen von Herrn Schäuble wegfallen, fehlen werden. Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Das ist mit Sicherheit eine optimistische Prognose; da gebe ich Ihnen recht. Ich gehe aber davon aus, dass sich auch andere Kassen noch beteiligen werden. Deshalb, glaube ich, ist diese Prognose mit Sicherheit realistisch. (Beifall bei der CDU/CSU – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Okay, es geht also um religiöse Fragen! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Das war eine kurze Antwort auf eine lange Frage!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetzt aber auf das Thema Qualität zu sprechen kommen, das natürlich oft in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Wirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens steht. Ähnliches gilt natürlich für den vorhin schon erwähnten Morbi-RSA. Mit diesem Gesetzentwurf streben wir eine Verbesserung der Zielgenauigkeit der Zuweisungen in den Bereichen des Krankengelds und der Auslandsversicherungen an. Der Finanzausgleich wies bisher technische Ungenauigkeiten auf, die im Rahmen einer zukunftsorientierten und nachhaltigen Gesundheitspolitik dieser Koalition korrigiert werden. Mit diesem Gesetzentwurf wird eine ausgezeichnete Weiterentwicklung der Finanzierung der GKV angegangen und ermöglicht. Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme nun auf die zweite Säule des GKV-FQWG zu sprechen. Es umfasst als wesentlichen Teil auch den Bereich der Qualitätssicherung. Im Gesetzentwurf ist dementsprechend auch ein Abschnitt vorhanden, nach dem ein Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen etabliert werden soll. Durch den heute diskutierten Gesetzentwurf erhält dieses so wichtige Thema der Qualität nun endlich die Aufmerksamkeit und den Stellenwert, die ihm in meinen Augen schon lange zustehen. Einen der Schwerpunkte des Koalitionsvertrages bildet die Verbesserung der Qualität in der medizinischen Versorgung. Zur Stärkung der Qualitätssicherung der Gesundheitsversorgung soll der Gemeinsame Bundesausschuss verpflichtet werden, ein fachlich unabhängiges wissenschaftliches Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen zu gründen. Die Aufgabe des Instituts soll es sein, sich wissenschaftlich mit der Ermittlung und Weiterentwicklung der Versorgungsqualität zu befassen. Es soll dem Gemeinsamen Bundesausschuss die notwendigen Entscheidungsgrundlagen für die von ihm zu gestaltenden Maßnahmen der Qualitätssicherung liefern. Darüber hinaus sollen die Ergebnisse der Qualitätssicherungsmaßnahmen in geeigneter Weise und in einer für die Allgemeinheit – ich glaube, das ist wichtig – verständlichen Form veröffentlicht werden. Dadurch werden eine wissenschaftliche Grundlage für die Qualitätssicherung und mehr Transparenz im Gesundheitswesen geschaffen. Im Mittelpunkt soll hier vor allem die Qualitätssicherung im ambulanten wie auch im stationären Bereich stehen. Unbestritten leisten die Krankenhäuser mit ihren Beschäftigten einen unverzichtbaren Beitrag zu einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung der Menschen hier in unserem Land. Die Krankenhäuser sind damit eine tragende Säule des deutschen Gesundheitswesens. Die Hilfspakete zu ihrer finanziellen Unterstützung in der letzten Legislaturperiode lassen erkennen, dass seitens der Unionsparteien einer soliden Kranken-hausversorgung schon immer ein hoher Stellenwert beigemessen wurde. Daher ist es aus meiner Sicht nur richtig und wichtig, diesen Weg weiterzugehen und unser Gesundheitssystem auf diesem Gebiet weiterzuentwickeln. (Beifall bei der CDU/CSU) Die DRG-Fallpauschalen, die im Jahr 2003 in Deutschland eingeführt wurden, haben zu mehr Wirtschaftlichkeit im Krankenhaussektor beigetragen. Dies ist grundsätzlich eine Entwicklung, die zu begrüßen ist. Wir müssen uns aber zugleich die Frage stellen, wie wir in einigen Fällen – ich betone hier bewusst „in einigen“ und sage nicht „in allen“ – mit dem Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und Qualität der medizinischen Behandlung umgehen. Daher ist es auch wichtig, Anreize für eine in gleichen Maßen wirtschaftliche sowie qualitätsorientierte Versorgung zu setzen. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits heute Maßnahmen zur Qualitätssicherung existieren, die allerdings weiter ausgebaut werden müssen. Für Krankenhäuser gilt beispielsweise seit 2005 gesetzlich verpflichtend, dass die gesammelten Qualitätsdaten in entsprechenden Berichten veröffentlicht werden müssen, die den Versicherten und Patienten als Orientierungshilfe dienen sollen. Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist die künftige Schaffung des genannten Qualitätsinstituts durch den Gemeinsamen Bundesausschuss. Dieses Institut soll nun dafür sorgen, dass die Qualität im Gesundheitswesen endlich messbar und vergleichbar wird. Das System der Qualitätsmessung muss transparent sein, und seine Umsetzung darf nicht an Interessen verschiedener Akteure sowie an irgendwelchen sonstigen Rahmenbedingungen scheitern. Selbstverständlich muss sich gute Qualität – und diese wollen wir – auch für Krankenhäuser lohnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) So muss in Zukunft aus meiner Sicht ein Anreizsystem geschaffen werden, das qualitativ gute Häuser stärkt. Zugleich müssen wir aber auch sicherstellen, dass die Diagnose- und Therapiefreiheit nicht eingeschränkt wird. Es ist notwendig, dass auch in Zukunft jeder medizinische Vorgang individuell auf den Patienten abgestimmt ist und er nach bestem Wissen und Gewissen des versorgenden Arztes behandelt wird. Eine freie Arzt- und Krankenhauswahl muss auch in Zukunft gewährleistet bleiben. Dieses sind die Grundvoraussetzungen für ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen dem Patienten und seinem behandelnden Arzt. Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass der vorliegende Gesetzentwurf neben den wichtigen Reformen im Bereich der GKV-Finanzierung auch einen wichtigen und richtigen Schritt in die Richtung einer qualitativ besseren Versorgung darstellt. In diesem Sinne: Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun hat die Kollegin Kühn-Mengel für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Helga Kühn-Mengel (SPD): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einiges ausführen zum Institut für Qualitätssicherung und Transparenz. Dadurch wird meiner Meinung nach die Versorgungslandschaft in Deutschland in erheblicher Weise beeinflusst und zumindest langfristig verbessert. Ich danke dem Kollegen Terpe für seine Aussagen hierzu und auch überhaupt für seine ausgewogene Kommentierung des Gesetzentwurfs. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die westfälische Weisheit, Frau Vogler, von der Sau, die vom Wiegen nicht fett wird, hat mich in den zurückliegenden Minuten beschäftigt, und ich kann dieser Weisheit bedingungslos zustimmen. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist schön, dass Sie das meinen!) Ich will zunächst betonen, dass wir sehr viel Geld im System haben. Wir sprechen nicht über ein System, bei dem es an allen Ecken und Enden knapp ist. Wir haben viel Geld im System, aber es kommt nicht immer dazu, dass am Ende auch Qualität gegeben ist. Ich sage: Die Nichtqualität kostet auch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) In vielen Krankenhäusern wurde die Zahl der Ärzte und Ärztinnen aufgestockt und die Zahl der Pflegekräfte abgebaut. (Zurufe von der SPD: So ist es! – Richtig! – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Leider!) Es gibt viele Krankenhäuser – auch das ist eine Wahrheit –, die Überschüsse erwirtschaften, diese aber lieber auszahlen, als in Qualität und Personal zu investieren. Sie finden für alles eine Weisheit und eine Wahrheit. Das ist das Problem. Das geplante Institut wird nicht nur Patienteninformationen und Patientenkompetenz stärken. Es wird auch nicht nur die in § 137 a SGB V bereits vorgegebenen Aufgaben wahrnehmen, nämlich Indikatoren und entsprechende Instrumente für die Messung von Qualität zu suchen und zu entwickeln. Es wird auch neue Aufgaben bekommen: den Krankenhausvergleich im Internet, die Qualitätsmessung und die Qualitätsdarstellung der ambulanten und vor allem der stationären Versorgung auf der Basis von Sozialdaten. Natürlich kann man neben den Daten der Krankenkassen auch die der Kassenärztlichen Vereinigungen nehmen. Das ist auch vorgesehen. Es wird des Weiteren eine öffentliche Bewertung von Zertifizierungen und Qualitätsaussagen geben. Das halte ich für sehr wichtig. Was da zum Teil an den Wänden hängt, ist den Rahmen nicht wert. Sowohl ich als auch die Kolleginnen und Kollegen wissen, welches Krankenhaus in der jeweils eigenen Region gut ist und für welches sich Patienten und Patientinnen bei Operationen entscheiden sollten. Das wissen aber noch längst nicht alle Nutzer und Nutzerinnen des Systems. Deswegen wird das Qualitätsinstitut diese Informationen in verständlicher Sprache – dies ist ein wichtiger Punkt für Patienten und Patientinnen – veröffentlichen. Natürlich, Kollege Terpe, ist es wichtig, Vertreter von Patientenorganisationen, denen wir viel zu verdanken haben, im Vorstand und im Stiftungsbeirat zu verankern. Ich meine, bei der Beauftragung und bei bestimmten Aufträgen sollte dieses Experten- und Expertinnenwissen genutzt werden. (Beifall der Abg. Hilde Mattheis [SPD]) – Ich mache immer zu wenig Pausen für den Applaus, sagt mein Büro. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Danke. Das Ganze hat eine Vorgeschichte. Wir hatten strukturierte Behandlungsprogramme, die zum ersten Mal die Qualität und das Miteinander von ambulanter und stationärer Behandlung gegen enormen Widerstand definiert haben. Wir hatten die BQS, die uns Zahlen zu den Auffälligkeiten in der Endoprothetik, bei Bypassoperationen und bei Krebsoperationen gegeben hat. Wir hatten als dritte Bank – sie ist in Sachen Qualität unentbehrlich – die Unterstützung der Selbsthilfe, des Patientenbeauftragten sowie des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, das deutlich gemacht hat, dass zum Beispiel Seitenverwechslungen selten vorkommen, aber es trotzdem zu ein paar Hundert dieser extremen Fälle kommt. Sie haben Prozeduren für Operationen entwickelt. All das ist ganz wichtig. Wenn das WIdO zum Beispiel deutlich macht, dass es in der Krankenhauslandschaft 1 Prozent Behandlungsfehler gibt, dann sagen manche: 1 Prozent ist wenig. In Zahlen ausgedrückt sind das 190 000 Fälle, und diese Zahl finde ich dann schon beeindruckend. Es gibt Schicksalhaftes, es gibt Vermeidbares, es gibt Unnötiges, das im Krankenhaus passiert. Darüber muss man reden. Man muss sichere Daten gewinnen und nach ihrer Auswertung die Landschaft verändern. Ich sage noch einmal: Das hat nicht nur mit der Menge des Geldes, sondern auch mit der Verteilung des Geldes zu tun. Damit will ich nicht sagen, dass man nicht hier und da aufstocken muss. Die Zahlen von WIdO und anderen Instituten, denen wir viel zu verdanken haben und deren Wissen man nutzen muss, sind schon erschreckend, zum Beispiel die Auffälligkeiten bei der Versorgung mit Herzschrittmachern, aber auch bei den Hüftoperationen, bei denen es bei 7,4 Prozent der Patienten der AOK 2012 zu Komplikationen oder Revisionen kam. In Zahlen heißt das: Es handelte sich um 11 000 Patienten, und 6 000 mussten neu operiert werden. Ich finde, dass das eine beeindruckende Zahl ist. Ich könnte diese Reihe fortsetzen. Warum ist die Zahl der Operationen zwischen 2005 und 2011 überhaupt so sehr gestiegen, nämlich um mehr als ein Viertel, von gut 12 Millionen Operationen im Jahr 2005 auf über 15 Millionen Operationen im Jahr 2011? Im gleichen Zeitraum, 2005 bis 2011, gab es eine Verdoppelung der Zahl der Wirbelsäulenoperationen. Das ist doch nicht nur mit der Demografie zu erklären; da kann man den Eindruck haben, dass nicht in allen Krankenhäusern nur aufgrund medizinischer Erkenntnisse operiert wird. Ich erinnere auch an eine kleine, aber doch sehr nette Studie, die es vor vielen Jahren einmal gab: Sie stellte dar, dass es unter den Frauen von Anwälten und von Ärzten weniger Gallenblasenoperationen gibt. Ich war damals sehr beeindruckt. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Es ist wichtig, dass wir die Daten aus dem ambulanten Bereich – – Präsident Dr. Norbert Lammert: Ein sicher hochinteressanter Aspekt, Frau Kollegin, der aber nicht mehr im Einzelnen entfaltet werden kann. Helga Kühn-Mengel (SPD): Ich komme zum Schluss. – Wir müssen die Patientensouveränität und die Patientenkompetenz stärken, auch bei der UPD. Wir werden dafür sorgen, dass dieses Erfolgsprojekt unterstützt wird. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt fast genau das Ende der vereinbarten Debattenzeit erreicht, aber es gibt noch drei Redner. Deswegen bitte ich um Nachsicht, dass ich keine Zwischenfragen mehr zulassen möchte. Der nächste Redner ist der Kollege Dietrich Monstadt für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn man über das GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz debattiert, muss man sich in Erinnerung rufen, woher wir kommen: Ich sitze seit 2009 im Deutschen Bundestag. Eine der ersten schwierigen Situationen als Abgeordneter im Gesundheitsausschuss war, dass uns für das Jahr 2010 ein Defizit von circa 10 Milliarden Euro in der GKV bevorstand. Aktuell können wir dagegen – Herr Minister Gröhe und einige andere Vorredner haben darauf hingewiesen – auf ein solides, ausfinanziertes und sich auf große Reserven stützendes Gesundheitssystem zurückgreifen. Die aktuellen Zahlen besagen, meine Damen und Herren, dass die Liquiditätsreserven des Gesundheitsfonds auf 13,6 Milliarden Euro angewachsen sind und sich die der Krankenkassen auf circa 18 Milliarden Euro addieren; das sind insgesamt über 30 Milliarden Euro. Das bedeutet im Vergleich zu den Prognosen des Jahres 2009 eine Differenz von mehr als 40 Milliarden Euro. Dies ist allein darauf zurückzuführen, dass die Union mit ihren Partnern richtige Politik gemacht hat, sowohl in Form der strukturellen Änderungen im Gesundheitssystem als auch durch eine hervorragende Wirtschaftspolitik, die zu weniger Arbeitslosen, höheren Steuereinnahmen und einer höheren Beschäftigung geführt hat. (Beifall bei der CDU/CSU) In diesem Jahr werden voraussichtlich 42,1 Millionen Menschen einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Das sind so viele Beschäftigte wie nie zuvor. Die kluge Politik der CDU/CSU-geführten Bundesregierung mit Angela Merkel an der Spitze hat Deutschland auf diese Erfolgsspur gebracht, auf die wir mit Recht stolz sein können. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir verfügen über ein hervorragendes solidarisches Gesundheitssystem, um das uns viele beneiden. Nicht nur heute, sondern vor allem auch in Zukunft muss die Versorgung von qualitativ hochwertigen und an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten ausgerichteten Leistungen sichergestellt werden. Mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf wird die erfolgreiche Politik gerade in diesem Bereich fortgesetzt. Wir wollen – im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition – auch mit diesem Gesetzgebungsverfahren Arbeit und Wachstum weiter fördern und neue Arbeitsplätze schaffen und sichern. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ich dachte, es geht um Gesundheit!) Dazu müssen die Gesundheits- von den Arbeitskosten getrennt werden. Wir können nicht permanent – wie Sie das gerne täten, Herr Kollege Weinberg – grenzenlos an der Beitragsschraube drehen. (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das ist doch Quatsch! – Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Das wollen wir auch gar nicht!) Mit dem GKV-Finanzierungskonzept kann künftig jede Kasse einen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag erheben. Die Versicherten erhalten damit ein klares Preissignal. Die Krankenkassen stehen jetzt in der Pflicht, im Wettbewerb um Versicherte eine qualitativ gute Versorgung anzubieten. Durch effizientes Wirtschaften müssen die Kassen ihre Zusatzbeiträge so gering wie möglich halten, um Versicherte nicht an Mitbewerber zu verlieren. Der vorliegende Gesetzentwurf bringt uns einen großen Schritt weiter in Richtung Bürokratieabbau: durch Abschaffung des Sozialausgleichs, durch Abführung der Zusatzbeiträge im Quellenabzug, durch Wegfall der Prüfung von Jobcentern und Kassen, ob eine Familienversicherung durchzuführen ist, und durch Wegfall der aufwendigen Berechnung des Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrages. Dadurch wird sich der Verwaltungsaufwand für viele Beteiligte erheblich reduzieren. Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz wollen wir auch die Transparenz und Qualität der medizinischen Versorgung weiter in den Mittelpunkt rücken. Patientinnen und Patienten müssen sich darauf verlassen können, dass sowohl ambulant als auch stationär eine hohe Qualität der Behandlung gewährleistet wird. Durch die Verabschiedung des Patientenrechtegesetzes im Februar 2013 haben wir es geschafft, viele Patientinnen und Patienten zu sensibilisieren und zu motivieren, ihre eigenen Rechte besser wahrzunehmen, vor allen Dingen dann, wenn die Behandlung nicht so ausgefallen ist, wie man es selbst erwartet hätte oder nach objektiven Kriterien hätte erwarten dürfen. Wir brauchen aber auch verlässliche Kriterien, an denen sich die Qualität von Therapien und Diagnosen messen lässt. Diese Kriterien sollen künftig durch ein neues Qualitätsinstitut entwickelt werden, um auf dieser Basis vorhandene Defizite erkennen und beseitigen zu können. Von daher ist die Einrichtung dieses Qualitätsinstitutes die logische Weiterentwicklung der besseren und umfassenderen Ausgestaltung der Rechte für Patientinnen und Patienten. Damit wäre es erstmalig möglich, dass alle notwendigen Daten zur Qualitätssicherung zusammengeführt, ausgewertet und veröffentlicht werden können. Wenn wir es dann noch schaffen, die Leistung in guter Qualität auch besser zu bezahlen, können wir einen entscheidenden Schritt weiterkommen. Wir stehen für ein gerechtes, soziales, stabiles, wettbewerbliches und transparentes Gesundheitssystem. Wir setzen auf eine weiterhin qualitativ hochwertige Versorgung und effizientes Wirtschaften der Kassen. Mit dem GKV-Finanzierungsgesetz können wir den Herausforderungen in Form von demografischer Alterung, medizinisch-technischem Fortschritt und wachsenden Kosten begegnen und gleichzeitig allen Versicherten den Zugang zu hochwertigen Leistungen erhalten. Ich werbe deshalb um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Hilde Mattheis für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hilde Mattheis (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen auf die Darstellung des Herrn Minister Gröhe eingehen. Bei diesem Thema stimmen wir ihm sicherlich alle zu, egal wo in diesem Haus wir sitzen. Ich verweise auf die Debatten, die wir darüber in den letzten Monaten in unseren Wahlkreisbüros geführt haben, und die zahlreichen Briefe, die wir dazu auf unseren Schreibtischen vorgefunden haben. Es geht um die Hebammen. Ich glaube, dass viel erreicht ist, wenn wir das hinbekommen, was der Herr Minister in seiner Rede heute ausgeführt hat. In diesem Gesetz wollen wir an drei Punkten festschreiben, dass wir eine Lösung für die Hebammen anstreben, und hinsichtlich des vierten Punktes, der durchaus umstritten ist, nehmen wir uns eine Prüfung vor. Ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt, um einer Berufsgruppe zu helfen, die zwar zahlenmäßig sehr klein ist, die aber sehr stark auftritt und im öffentlichen, gesellschaftlichen Bewusstsein verankert ist. Vor allen Dingen sichern wir damit die Wahlfreiheit der Frauen während der Schwangerschaft und hinsichtlich der Geburtssituation. Dabei hoffen wir sehr auf Ihre Unterstützung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN) Damit meine ich Sie von den Linken und Sie von den Grünen. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ihr müsst das nur rausnehmen aus dem Gesetz! ) Wir nähern uns einer optimalen Lösung an. Keiner von uns in diesem Haus sagt: Ich habe die optimale Lösung. Wir streben diese Lösung an, und in drei Punkten bekommen wir das ja auch hin. Ich verweise dazu auf die Qualitätsstandards und auf die Datensammlung. Das ist meine Überleitung zu dem Gesetzentwurf – GKV-FQWG –, den wir heute in erster Lesung beraten. Ich will die Position der SPD dazu gerne zusammenfassend noch einmal darstellen. Zunächst möchte ich aber feststellen, dass man dieser Koalition Untätigkeit wirklich nicht vorwerfen kann. Innerhalb weniger Monate haben wir einen zweiten Gesetzentwurf vorgelegt, der im Prinzip eine wichtige Grundlage für die weiteren Vorhaben schafft, auf die wir uns in dieser Koalition verständigt haben. Ich glaube, man sollte nichts vermischen, sondern ganz pragmatisch und fachlich argumentieren und den Blick auf das richten, was wir hier vorlegen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Auf die Finanzen zum Beispiel!) Es geht um das Qualitätsinstitut, Frau Klein-Schmeink. In diesem Zusammenhang darf man nicht unterschlagen – damit spreche ich insbesondere Sie, Frau Vogler, an –, dass wir in der Koalition vereinbart haben, dass es im nächsten Schritt auch um die Krankenhausfinanzierung geht. Dafür brauchen wir aber eine ordentliche Grundlage. Wir haben eine Menge Daten – das wissen wir; das hat meine Kollegin Kühn-Mengel ausgeführt –, aber die müssen gebündelt, vernetzt und ausgewertet werden. Dabei wünsche ich mir eine inhaltliche, fachliche, positive Begleitung durch die Opposition. Es wäre schön, wenn die Oppositionsfraktion Die Linke nicht reflexhaft immer alles ablehnen würde; denn es geht darum, die Krankenhausfinanzierung so zu gestalten, dass gute Qualität belohnt und schlechte Qualität nicht belohnt wird. Ich hoffe sehr, dass wir diese Diskussion gemeinsam gestalten können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Qualitätsinstitut ist für uns also eine wichtige Grundlage für weitere Gesetzgebungsvorhaben. Gerne gehe ich auch auf die Wettbewerbsfähigkeit in unserem System ein. Wer Wettbewerbsfähigkeit will, muss für eine ungefähr gleiche Ausgangsposition, für einigermaßen gleiche Augenhöhe sorgen. Durch den finanziellen Ausgleich beim Krankengeld – dazu hat Frau Dittmar ausgeführt – sorgen wir dafür, dass die Ausgangsposition für einen Wettbewerb einigermaßen gleich ist. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das sehen die Kassen aber anders!) Ich hoffe sehr, dass dadurch diejenigen, die jetzt bevorzugt sind, von ihrem Vorteil etwas verlieren und diejenigen, die benachteiligt sind, von dieser Benachteiligung ein Stück weit wegkommen. Ich bitte an diesem Punkt um Ihre Unterstützung. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die können Sie haben!) Ich komme zum Thema Finanzierung. Beim Thema Finanzierung hat man gesagt, die SPD sei diejenige, die sich verstecken müsse bzw. wenig erreicht habe. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Ich will hier jetzt nichts aus Hinter-den-Kulissen-Gesprächen ausplaudern, aber ich habe den Eindruck, dass sich Herr Spahn da immer anders anhört. Ich bitte Sie, sich das genau anzuschauen. Nicht alles gefällt uns, Frau Klein-Schmeink. In manchen Punkten wünschen wir uns mehr, zum Beispiel eine Verstetigung des Steuerzuschusses. Sie wissen: Unsere Idee der Bürgerversicherung ist eine Idee, die uns trägt. (Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon sind Sie weit entfernt!) Davon gehen wir nicht ab. Das können Sie in jeder Debatte standardmäßig von mir hören. Die Idee einer Bürgerversicherung ist die Idee der SPD, und diese Bürgerversicherung wollen wir. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich frage Sie, was gerechter ist: eine Pauschale oder ein einkommensabhängiger Beitrag? Ich hätte ganz gerne Ihre Antwort darauf. Ich glaube, die Antwort fällt unisono aus: der einkommensabhängige Beitrag. (Zuruf der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich glaube, dass wir im Gesetzgebungsverfahren – das soll mein Schlusswort sein – über viele der Punkte, die wir hier jetzt vorgelegt haben, noch einmal heftig debattieren werden. Ich bin sicher, dass unsere Argumente auch Sie überzeugen können, dass wir hier einen wichtigen Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit machen. Ich sage nicht, dass es ein riesiger Schritt ist, aber es ist ein Schritt. Ich gehe davon aus, dass das Gesetzgebungsverfahren nach dem guten alten Struck’schen Gesetz laufen wird: Kein Gesetz kommt so aus dem Parlament, wie es hineingegangen ist. An dem einen oder anderen Punkt – ich nenne da gerne die UPD – möchten wir noch einmal nachlegen. Ich wünsche mir eine breite Unterstützung dafür. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu haben wir ja Vorschläge vorgelegt!) Denn es geht uns um die Sache: um Qualität in einem Versorgungssystem, das allen zugänglich ist. Ich danke fürs Zuhören. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thomas Stritzl für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Thomas Stritzl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit der Vorlage des Gesetzentwurfes hat unser Bundesgesundheitsminister zwei Dinge auf den Weg gebracht: Er macht das GKV-System a) im Bereich der Finanzierung zukunftssicherer und b) im Rahmen der neutral bewerteten Qualität auch für die Versicherten – darauf kommt es ja an – nachvollziehbarer und ein Stück vertrauenswürdiger. Es ist der zweite Gesetzentwurf der Regierung aus diesem Haus. Das will ich dazu sagen; denn ab und zu kann man lesen – teilweise gibt es diese verfehlte Kritik auch aus der Opposition –, in dieser Regierung passiere nichts. Hier passiert, glaube ich, mehr, als andere sich wünschen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es passiert das Falsche!) – Ich bedanke mich für Ihre Zustimmung. – Der gesetzliche Beitrag wird um 0,9 Prozentpunkte auf 14,6 Prozent gesenkt. Das sind immerhin 10,4 Milliarden Euro. Das ist ein erheblicher Gestaltungsspielraum, der sich natürlich in der einen oder anderen Situation durch Zusatzbeiträge wieder anders darstellen wird. Das werden wir im Herbst sehen, wenn der Schätzerkreis den durchschnittlichen Wert für Zusatzbeiträge ermitteln wird. Das ist für mich übrigens kein Momentum – das möchte ich sehr klar sagen –, um die Diskussion über die Bürgerversicherung wieder neu aufzuziehen. Denn allein dadurch, dass Sie versuchen, neue Finanzquellen zu entdecken, werden Sie den Grundlagen der GKV, Qualität und -Finanzierbarkeit, nicht gerecht. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich will darauf hinweisen, dass wir das System nur werden erhalten können, wenn es möglich wird, mit einer florierenden Wirtschaft die Beiträge zu erwirtschaften, die wir später verteilen wollen. Es wird leicht -vergessen, dass dies offensichtlich nicht der Fall ist. Manchen Vorschlägen sollte daher nicht gefolgt werden. Mir ist vorhin auch schon bei den Linken aufgefallen, dass sie nur die Frage der Finanzierung in den Vordergrund gestellt und gesagt haben, es sei nicht hinreichend paritätisch finanziert. Das kann ich nicht erkennen. Immerhin werden die 14,6 Prozent zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt. Die Frage der Zusatzfinanzierung ist eine Frage des Wettbewerbs, in den wir die Kassen bewusst stellen wollen. Auf der einen Seite geht es um die Finanzierung, das heißt die Kostenlast, und auf der anderen Seite um einen Abgleich und eine Bewertung der Qualität, die man einkauft. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unterdeckung von 11 Milliarden Euro!) Das, glaube ich, dürfen wir demjenigen, den wir gut versichern wollen, dem wir gute medizinische Leistungen garantieren wollen, doch nicht nehmen. Er muss sich doch ein Urteil darüber bilden können dürfen, zu welchem Preis er sich wo versichern will. Insofern halte ich auch diese Systematik im Ergebnis für sachgerecht. Sie schützt – darauf hat der Minister hingewiesen – im Übrigen auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Ohne diese Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Bereich wäre vieles in unserem Land, wie Herr Spahn gesagt hat, gar nicht leistbar. Insofern, glaube ich, ist auch hier bei der Kritik Augenmaß angebracht. (Beifall bei der CDU/CSU) Lassen Sie mich etwas zu einem Kritikpunkt sagen, den ich vorhin gehört habe. Es hieß gewissermaßen, an Kliniken werde nicht hinreichend gute Arbeit geleistet. Das wurde dann mit dem Kostendruck in den Kliniken begründet. Seitens der Linken wurde vorhin mit Begriffen wie „Outsourcing“ hantiert. Ich glaube nicht, dass Sie den Menschen, die bei Firmen arbeiten, die ihre Dienstleistungen in Krankenhäusern erbringen, zum Beispiel Reinigungskräften, gerecht werden, wenn Sie sagen: Weil diese Menschen dorthin outgesourct wurden, leisten sie schlechtere Arbeit. – Ich glaube, man sollte dankbar sein, dass die Damen und Herren, die in Krankenhäusern arbeiten, egal in welchem Rechtsverhältnis sie zum Krankenhaus stehen, gute bzw. ihre bestmögliche Leistung erbringen. Ich denke, dass man auch das einmal sagen darf. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Wirtschaftlichkeit schadet insofern nicht grundsätzlich der Qualität. Aber sie muss natürlich immer auch ein Stück an ihr gemessen werden. Insofern sind wir, glaube ich, gefordert – das ist das, was der Minister gesagt hat –, im Rahmen einer neutralen Bewertung die Leistungen bzw. den Output von Krankenhäusern zu bewerten. Die Ergebnisse dieser Bewertung müssen wir dann allerdings auch so kundtun, dass derjenige, auf den wir abzielen – sprich: der Konsument der Krankenhausleistung –, sie verstehen kann, will sagen: Wir müssen sie den Versicherten in verständlichem Deutsch und in allgemein verfügbarer Form zugänglich machen, damit sie im Vorfeld einer teilweise existenziellen Entscheidung für sich entscheiden können, welches Leistungs-angebot sie wo in Anspruch nehmen wollen. Wenn man sich den Gesetzentwurf des Hauses, den uns der Minister heute vorgelegt hat, ansieht, dann kann man, glaube ich, sagen: Er sichert die Zukunftsfähigkeit eines von uns gewünschten Systems, er sichert die -Finanzierbarkeit bzw. stärkt sie, und er gibt einen besseren Einblick in das Werte- bzw. Bewertungssystem, gibt also Auskunft über die Qualität. Das sind zwei wichtige Faktoren, die für die Zukunft dieses Systems von besonderer Bedeutung sind, auch deshalb, weil sie in der Versicherungslandschaft den mündigen Bürger in den Mittelpunkt stellen. Deshalb halte ich den Gesetzentwurf für einen gelungenen Wurf. Dafür möchte ich dem Hause ganz herzlich danken. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und verbinde das mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit. (Beifall) Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksache 18/1307 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Die kann ich nicht erkennen. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf: Vereinbarte Debatte 10 Jahre „EU-Osterweiterung“ Auch hier ist interfraktionell eine Aussprachezeit von 96 Minuten vorgesehen. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch, sodass wir so verfahren können. (Unruhe) – Sobald die unvermeidlichen Fluchtbewegungen zu einem geordneten Ende gekommen sind, eröffne ich die Aussprache. Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Auswärtigen, dem ich an dieser Stelle – unabhängig von dem Tagesordnungspunkt, zu dem er heute Stellung nehmen soll und wird – sicher im Namen des ganzen Hauses für seine Bemühungen auf einer anderen Baustelle herzlich danken und unseren Respekt zum Ausdruck bringen möchte. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Präsident, dafür ganz herzlichen Dank! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist kein Zufall: Heute auf den Tag genau vor 64 Jahren hielt der französische Außenminister Robert Schuman eine wegweisende Rede über das Zusammenwachsen der europäischen Interessen, eine Rede über die Vision eines vereinten Europas. Wahrscheinlich kam das den Menschen zu dieser Zeit sehr weit weg vor. Damals, nur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, steckte die Welt schon wieder in einem neuen Konflikt, im Kalten Krieg, und in der Not der Nachkriegszeit konnten viele am eigenen Leib den Riss erfahren, der durch dieses Europa ging. Die Berlin-Blockade lag gerade erst ein Jahr zurück. Der Westen Deutschlands ächzte unter dem Zustrom von Millionen von Menschen aus den Ostgebieten. Im Osten erlebte man die Ausplünderung der Industrielandschaft. Wer in Europa mag damals, vor 64 Jahren, den Worten Schumans von der Vereinigung der europäischen Nationen wirklich Hoffnung geschenkt haben? Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel oder wenig Hoffnung die Menschen damals hatten: Schumans Hoffnung auf Europa ist uns gut bekommen. Wenn wir heute zurückschauen, dann sehen wir: Nicht nur Schumans Hoffnung ist zum Leben erwacht, sondern auch die Hoffnung ganz vieler Europäer auf ein Leben in Freiheit und Frieden – für die, die damals nicht daran glauben konnten oder nicht daran glauben durften. Nicht einmal 30 Jahre nach Schumans Rede haben wir diese Hoffnung wieder gesehen: in den Augen der friedlichen Revolutionäre auf dem Prager Wenzelsplatz oder den Danziger Werften. Wieder waren es mutige Menschen, die möglich machten, wovon niemand zu träumen gewagt hätte, die in Leipzig, in Berlin, in Rostock oder anderswo stückweise den Eisernen Vorhang niederrissen und damit die Wiedervereinigung unseres Kontinents erst möglich machten. Diese historische Chance hat Europa, haben die Europäer miteinander ergriffen. Heute vor zehn Jahren, am 1. Mai 2004, überwand Europa jene Spaltung, die nicht nur unseren Kontinent, sondern auch Millionen von Familiengeschichten jahrzehntelang geprägt hatte. Hätte man nach zwei Weltkriegen und nach Jahrzehnten von Spaltung und Misstrauen damit eigentlich noch rechnen dürfen? Rational vielleicht nicht; doch die Hoffnung behielt am Ende recht, das Verbindende behielt die Oberhand über das Trennende. Das in Erinnerung zu rufen, gerade in diesen Tagen, ist wichtig. Ich finde, dieser Gedanke kann uns Mut machen. Mit Blick auf die Leistung derjenigen, die die europäische Wiedervereinigung möglich gemacht haben, darf ich gerade sagen: Wir dürfen mit Blick auf den Mut dieser Vorgänger nicht resignieren in der aktuellen Situation. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vor zehn Jahren ist die Europäische Union nicht nur größer geworden, sondern sie hat durch die Osterweiterung auch vieles hinzugewonnen: an Erfahrung, an Geschichte, an politischem Gewicht. Aber vor allem ist -Europa reicher geworden: reicher an Sprache, reicher an Kultur, reicher an Ideen und auch an Lebensperspektiven. Deshalb sage ich: Diese Osterweiterung ist in vielerlei Hinsicht eine Erfolgsgeschichte. Dazu könnte man eine ganze Reihe von Zahlen und Statistiken vortragen. Ich könnte Ihnen berichten, dass zum Beispiel in Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Polen die Kaufkraft seit 2004 stetig gestiegen ist. Sie lag damals – Sie erinnern sich – bei weniger als der Hälfte des EU-Durchschnitts. Ich könnte Ihnen von Lettland berichten, das am Anfang dieses Jahres den Euro gerade erst eingeführt hat und heute mit 4 Prozent Wirtschaftswachstum Spitzenreiter in Europa ist. Ich könnte mit Blick auf unser eigenes Land zu all denjenigen, die vor zehn Jahren Horrorszenarien an die Wand gemalt haben, sagen, dass laut DIHK Hunderttausende von neuen Jobs – manche sprechen sogar von bis zu 1 Million – in Deutschland durch die Osterweiterung entstanden sind. Aber es geht natürlich nicht nur um Zahlen. An einem Tag wie heute sollten wir anerkennen, welche menschlichen Leistungen hinter diesem Erfolg stecken, wie viel Kraft, wie viel Mut, wie viel Umstellung, wie viel Neuausrichtung – politisch-wirtschaftlich wie im Alltagsleben der Familien. Dieser beharrliche gesellschaftliche Umbau in den neuen Mitgliedstaaten von 2004, die politischen Veränderungen und auch die Rückschläge: Ich glaube, das ist für Europa ein ganz unverzichtbarer Erfahrungsschatz, gerade heute, wo es darum geht, Wahlen in der Ukraine zu ermöglichen und das Land mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, auf einen stabilen Weg zurückzuführen. Hier werden wir den Erfahrungsschatz dieser osteuropäischen Länder, die die Umstellungen nach 2004 bewältigt haben, ganz dringend brauchen. Das sage ich, obwohl ich weiß – wir haben erst kürzlich hier im Hohen Hause darüber debattiert –, dass dieser zehnte Jahrestag in Europa in verdammt schwierige Zeiten fällt. Ich glaube zwar, dass wir den Tiefpunkt der europäischen wirtschaftlichen Krise überwunden haben, aber wir spüren ja miteinander, dass die politische Krise im Innersten Europas weiterhin nagt. Das ist das eine. Noch auffälliger ist aber: In der Außenpolitik sind wir mit der schwersten Krise seit dem Ende des Kalten Krieges konfrontiert. Das Vertrauen – ebenso wie die Zustimmung – in Robert Schuman und seine Visionen hat ohne Zweifel einen Dämpfer erlitten – jedenfalls in der Wahrnehmung ganz vieler. In diesem Wahljahr 2014 – gerade im Augenblick – werden die großen Problemstellungen der Europäischen Union wie unter einem Brennglas sichtbar: Wie kann Europas Wirtschaft wieder wachsen? Wie bekämpfen wir die schockierend hohe Jugendarbeitslosigkeit? Wie wird dieses Europa demokratischer und transparenter? Wie sichern wir, dass Europa gerade in einer Phase der außenpolitischen Herausforderungen tatsächlich zusammensteht? Ich glaube, wir können gerade auch mit Blick auf die letzten vier Jahre, die uns in diesem Haus unendlich viele und auch kritische Debatten beschert haben, sagen: Dieses europäische Haus steht fest und auch fester, als viele geglaubt haben. Es hat sogar einigen schweren Unwettern getrotzt, auch wenn ich sage: Dieses europäische Haus wird auf Sicht weiterhin eine Baustelle bleiben. Nur einmal umgekehrt gefragt: Wie stünde dieses Europa heute eigentlich da, wenn wir in der ökonomischen Krise nicht zusammengehalten hätten? (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Richtig!) Wie stünden wir eigentlich da – das müssen wir uns in Deutschland selbstkritisch fragen –, wenn wir dem Rat derjenigen gefolgt wären, die quasi im Wochenabstand vorgeschlagen haben, uns mal eben von dem einen oder anderen südeuropäischen Land zu trennen? Würden wir heute, da der Frieden in Europa bedroht ist, eigentlich mit derselben Geschlossenheit auftreten können, wenn wir damals dem Rat gefolgt wären und falsch gehandelt hätten? Heute, da totgeglaubte Geister im Osten Europas wiederauferstehen, muss Europa im Innersten zusammenstehen. Das gilt auch und gerade für die Beitrittsländer, die von uns erwarten können, dass wir in Solidarität zu ihnen stehen. Sie sind nämlich am 1. Mai 2004 einer Solidargemeinschaft und keiner bloßen Schönwetterunion beigetreten. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gemeinschaft heißt aber auch, dass wir nicht einfach über Herausforderungen hinwegsehen dürfen, wenn es sie gibt, und die gibt es. Wenn etwa in einzelnen Ländern die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit gefährdet sind oder die Korruption nach unserer Wahrnehmung nicht ausreichend bekämpft wird, dann dürfen wir eben nicht einfach wegsehen. Hier müssen wir verlangen dürfen, dass Arbeiten erledigt werden, die noch nicht erledigt wurden. Wir müssen das auch verlangen, selbst wenn wir wissen, dass das gelegentlich schwerfällt. Wir können aber sagen: Unsere Partner in Osteuropa, die solche dringenden Reformen anpacken, können sich unserer Unterstützung sicher sein. 28 Mitgliedstaaten, 24 Sprachen in Europa, 500 Millionen Menschen: Wer einmal einen Ministerrat in Brüssel miterlebt hat, der weiß, wie viel institutionelle Arbeit und auch Erneuerungsarbeit hier noch vor uns liegen. Nur – um auf Schuman zurückzukommen –: Er hat vor 64 Jahren gesagt: Der Friede der Welt – und der in Europa – kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen. Ich glaube, jeder spürt, dass wir jetzt vor enormen Anstrengungen stehen, um den Frieden zu bewahren und die erneute Spaltung Europas zu verhindern. Gerade deshalb sage ich, dass sich in einer solchen Phase des manchmal rastlosen Krisenmanagements auch an einem solchen Tag vielleicht die seltene Gelegenheit ergibt, ein paar Sekunden innezuhalten und nachzudenken. Wenn wir das tun und für einen Augenblick auf diesen Tag von Schumans Rede zurückschauen, dann wissen wir miteinander: Die schöpferischen Anstrengungen, die er verlangt hat, auch von uns heute, sind jeder Mühe wert. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. – Guten Morgen von meiner Seite aus, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Der nächste Redner in der Debatte ist Wolfgang Gehrcke für die Linke. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Ziehen Sie einmal eine positive Bilanz, Herr Gehrcke! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diesmal sind es zehn Jahre, nicht zehn Tage!) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Dann kann ich mir ja Zeit nehmen. – Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich denke, man muss zurückblicken, wenn man bestimmen will, was erreicht worden ist, und wenn man feststellen will, wo die Defizite liegen. Mein Rückblick beginnt nicht nur wegen des heutigen Datums am 8. und 9. Mai 1945. Das war der entscheidende Punkt: dass mit dem Faschismus in Deutschland und mit dem europäischen Faschismus gebrochen worden ist. Das ist der Ausgangspunkt, an dem klar war: Dieses Land muss neues Vertrauen erwerben. Das kann man nur erwerben, indem man kategorisch auch mit der eigenen Geschichte ins Gericht geht. Ich bitte darum, von diesem Ausgangspunkt aus einige Dinge zu überlegen. Die einfache Botschaft, die zu dem gehören müsste, was der Außenminister hier für unser Land und für Europa vorgetragen hat, heißt für mich: Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus! Das möchte ich in der europäischen Entwicklung durchgesetzt sehen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wenn man das will, muss man auch Spaltungen in Europa überwinden, dann muss man eine andere Art und Weise der Zusammenarbeit erreichen. Ich bitte sehr darum – das sage ich mit Blick auf die Kollegen der CDU-Fraktion –: Lassen Sie uns auch dem Ehrenmal der damaligen Sowjetunion und dem heutigen Russland in unserer Nähe, das an den Akt der Befreiung erinnert, diesen Respekt entgegenbringen. Ich bitte Sie sehr: Hände weg von diesem Ehrenmal! Hier geht es auch um die Symbolik. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich sage Ihnen: Die Panzer, die zu diesem Ehrenmal gehören, waren die Panzer, die Deutschland, das deutsche Volk, vom Faschismus befreit haben. Das anzuerkennen, gebietet ein Mindestmaß an Respekt. 27 Millionen Sowjetbürger sind in diesem Krieg umgekommen – auf verschiedene Art und Weise. 6 Millionen Jüdinnen und Juden sind industriell vernichtet worden. Wenn man sich diese Zahlen vergegenwärtigt, kommt man zu einer Beurteilung, die vielleicht etwas quer zu dem liegt, was heute so oft gesagt wird. Ich will Ihnen ein kleines Zitat von Arno Lustiger vorlesen, für mich einer der wichtigsten jüdischen Intellektuellen und Schriftsteller. Er hat in einem Buch – ein großes Werk –, in dem er Stalin kritisiert, am Ende geschrieben: … unerlässlich, der Millionen sowjetischer Soldaten zu gedenken, die im Kampf gegen Hitlerdeutschland gefallen sind oder in der Gefangenschaft ermordet wurden. Ohne ihr Opfer wäre die Welt verloren; sie haben uns vor der Herrschaft des mörderischen Nazismus gerettet. Ich finde, die Panzer dieses Ehrenmals sind Symbole für diese Aussage von Arno Lustiger, von der ich möchte, dass wir sie uns selber aneignen. Wenn das der Ausgangspunkt ist, dann muss man auch dazusagen: Das Ziel war, die Spaltung Europas zu überwinden. Meine Einschätzung ist, dass Europa nach wie vor tief gespalten ist, vielleicht sogar tiefer denn je: in Ost und West, sozial gespalten, militärisch tief gespalten. Im Verbund mit der Europäischen Union – darüber sprachen Sie nicht, Herr Außenminister – kam leider die NATO. Die Friedensdividende, die möglich gewesen wäre, ist nicht eingebracht worden. Die NATO steht heute an den Grenzen Russlands. All das kann die Spaltung nicht überwinden; es ist vielmehr Ausdruck von Spaltung. Spaltungen müssen überwunden werden, in Europa und weltweit. Ich sage das sehr bewusst – auch das fehlte mir in Ihrer Rede –: Wenn man Spaltungen überwinden will, dann darf Europa keine Festung werden wollen, sondern dann muss Europa sich der Welt gegenüber öffnen. Ich finde es nach wie vor völlig unerträglich, dass Europa sich als Festung gegen andere Teile der Welt geriert. Wäre es nicht ein Anlass, Herr Außenminister, einen solchen Appell „Spaltung überwinden, Festung Europa abbauen!“ im deutschen Parlament aufzugreifen? Ich möchte, dass Menschen in Not in dieses Land, nach Europa kommen können, ohne die Gefahr einer Mittelmeer-überquerung auf sich nehmen zu müssen. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte, dass soziale Spaltungen durch Umverteilung überwunden werden, und zwar von oben nach unten statt umgekehrt. Ich möchte Umverteilung zwischen den Regionen, und ich möchte, dass militärische Spaltungen durch Abrüstung überwunden werden. Dazu gehört auch, nach wie vor daran zu arbeiten, Militärbündnisse zu überwinden. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal einen positiven Satz!) Abrüstung kann man erreichen, auch heute in Europa. Ich will Ihnen kurz einen Gedanken von Michael -Gorbatschow vortragen. Sie haben vom gemeinsamen Haus Europa gesprochen, ohne den Namen Gorbatschow zu erwähnen. Gorbatschow hat 1988 in einer Rede zum gemeinsamen Haus Europa gesagt: Wir sehen in der Zukunft ein Europa, in dem West und Ost keine Waffen mehr gegeneinander richten, sondern im Gegenteil einen früher nie dagewesenen Nutzen aus dem Austausch von Waren und Werten, Fachkenntnissen, Menschen und Ideen ziehen, die es gelernt haben, trotz aller Unterschiede einander nicht als Gegner, sondern als Partner zu betrachten. Gilt das nicht auch heute im Verhältnis dieses Teils Europa zum anderen Teil Europas, nämlich zu Russland und anderen Ländern, diese nicht als Gegner zu betrachten? (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal noch etwas zur EU-Erweiterung, Herr Gehrcke! Sie reden die ganze Zeit über Russland!) All das hat die Osterweiterung der Europäischen Union aus meiner Sicht nicht eingebracht. Daran ist zu arbeiten. Im Gegenteil: Neoliberale Zerstörung in Europa hat die soziale Lage schwieriger und teilweise aussichtslos gemacht. Ich möchte auch im Namen der Linken sagen, dass wir daran arbeiten, Europa vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das würde für mich unter anderem bedeuten, wenn man den Gedanken des gemeinsamen Hauses Europa weiterverfolgt, heute die Arbeit an einer europäischen Verfassung wieder aufzunehmen, (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen die Sie gestimmt haben!) die Friedfertigkeit statt Aufrüstung festschreibt, Antifaschismus für ganz Europa verbindlich vorschreibt und sich an Abrüstung und sozialer Gerechtigkeit orientiert. Wäre das nicht eine Aufgabe, die dem angemessen ist, was hier debattiert worden ist, Europa vom Kopf auf die Füße zu stellen? Sie wissen, dass die Verträge von Lissabon und Maastricht nur unter unendlichen Schwierigkeiten geändert werden können. Wir müssen feststellen, dass mit einer gestärkten Europäischen Union zugleich das Gesellschaftsmodell Kapitalismus in ganz Europa durchgesetzt worden ist. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Soziale Marktwirtschaft!) Werfen Sie einen Blick in unser Grundgesetz! Es ist vorbildlich in dieser Frage. Das Grundgesetz hält die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung offen. Um das zur Freude der CDU/CSU ein bisschen zugespitzt zu sagen: Ich bin für eine Revolution mit dem Grundgesetz statt gegen das Grundgesetz, weil das Grundgesetz eine grundlegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung möglich macht. Wäre es nicht ein Impuls für Europa, sich eine solche Verfassung zu geben, dass Europa umgestaltet werden kann? (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Wir haben doch eine Verfassung!) Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ich habe nicht den Eindruck, dass Deutschland europäischer, sondern dass Europa deutscher geworden ist. (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Polen findet sich in Ihrer Rede wieder, Herr Gehrcke! Polen wäre stolz auf diese Rede! Halten Sie diese Rede mal in Polen, im Baltikum! Meine Güte! Peinlich!) – Regen Sie sich doch nicht so auf! – Ich wünsche mir ein Deutschland, das europäischer wird, in einer Vielfalt, die zur Einheit führt. Das ist meine politische Zielrichtung. Das ist meine Wertung, und das ist die Herausforderung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist Dr. Christoph Bergner für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dietmar Nietan [SPD]) Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Gehrcke, ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie angesichts des EU-Bildes, das Sie gezeichnet haben, überhaupt daran gedacht haben, dass Sie über den Friedensnobelpreisträger des Jahres 2012 sprechen. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja und?) Die Europäische Union ist zu Recht Friedensnobelpreisträger des Jahres 2012 geworden, weil es kein vergleichbares Friedens- oder Konsolidierungsprojekt in Europa in den letzten Jahrhunderten gegeben hat. Bei allen Ihren Zerrbildern hätten Sie dies ruhig einmal würdigen dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte die Aussage unseres Bundesaußenministers unterstreichen, dass das, dessen wir nun gedenken und was am 1. Mai gefeiert wurde, mehr war als eine Vergrößerung der Europäischen Union. Bereits der Mauerfall bedeutete das Ende der Spaltung Europas und die friedliche Rückkehr der mittelosteuropäischen Staaten nach Europa, wohin sie kulturell jahrhundertelang gehörten. Die erste deutsche Universität war die Prager Karls-Universität. Geistesgrößen und Künstler wie -Kopernikus, Chopin, Jan Hus, Dvorák, Liszt, Celan und andere sind ebenso Kinder Mitteleuropas wie Luther, Melanchthon, Rousseau und wen auch immer wir hier aufzählen wollen. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Marx zum Beispiel!) Das heißt, für die mittelosteuropäischen Staaten mit jahrhundertelangem Souveränitätsstreben und kurzer zwischenkriegszeitlicher Erfüllung der Träume von Selbstbestimmung bedeutete die Aufnahme in die politische Familie Europas die Überwindung dessen, was Milan Kundera als Die Tragödie Mitteleuropas bezeichnet hat. Diese Tragödie besteht darin, dass man kulturell zu einem bestimmten Raum gehört, während man politisch an einen anderen Raum gekettet ist, dem man sich nicht zugehörig fühlt. Insoweit ist der Begriff „Osterweiterung“ zu technisch, um zu kennzeichnen, worum es eigentlich geht. Es ist das Ende der Teilungsperiode Europas. Es ist – so dürfen wir vielleicht mit etwas Emphase sagen – eine Art kulturelle Familienzusammenführung der europäischen Staaten gewesen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir sollten im 25. Jahr des Mauerfalls durchaus bekennen, dass die Osterweiterung der Europäischen Union nicht nur logische Folge, sondern auch inhaltliche Fortsetzung der friedlichen Revolution im zuvor kommunistischen Teil Europas war; denn es waren die Vordenker dieser friedlichen Revolution, die immer den europäischen Gedanken hochgehalten haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Als Deutscher und ehemaliger DDR-Bürger sage ich: Das, was wir als nationales Ereignis, als deutsche Einheit feiern, können wir mit gutem Recht als die erste Etappe der Osterweiterung der EU klassifizieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Staaten haben ihre zurückgewonnene Souveränität und Freiheit genutzt, um dorthin zurückzukehren, wohin sie sich politisch wie kulturell zugehörig fühlten, und haben mit der zwangsverordneten Brudervolkideologie der staatssozialistischen Ära gebrochen, die im Grunde genommen ein Herrschaftsinstrument der kommunistischen Ideologie und des sowjetischen Weltmachtstrebens gewesen ist. Diese Erweiterung war zuallererst eine Entscheidung der Beitrittsstaaten mit Blick auf ihre politische Identifikation. Nun sollten wir nicht nur abstrakt darüber sprechen. Der Bundesaußenminister hat zu Recht auf die wirtschaftlichen Erfolge, die sich messen lassen, hingewiesen. Diese können, gemessen an den Sorgen und Bedenken, die gerade in dieser Hinsicht vor zehn Jahren bestanden, nicht hoch genug geschätzt werden. In Deutschland fürchteten wir Lohndumping und Billigkonkurrenz sowie eine finanzielle Überforderung der EU in den Agrar- und Strukturfonds, von den Sorgen um einen Anstieg der Kriminalität ganz zu schweigen. In den Beitrittsländern fürchtete man strukturellen Anpassungsdruck, Abwanderung qualifizierter Kräfte und vieles andere mehr. Gemessen an diesen Befürchtungen können wir heute mit gutem Recht von einem Erfolg sprechen. Mit Ausnahme Tschechiens ist die Zustimmungsrate der Bevölkerung zur EU in den Mitgliedstaaten nirgends so hoch wie in den östlichen Beitrittsländern, und das trotz schwerer Transformationslasten, die man dort tragen musste. Neben den Erfolgen hinsichtlich der wirtschaftlichen Konvergenz sind – unterschiedlich in den einzelnen Ländern – unübersehbare Fortschritte bei Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit und anderem festzustellen. Ja, es sind beispielhafte Erfolge erzielt worden, die wir durchaus hervorheben sollten. Dass sich das Handelsvolumen im Zuge des Beitritts erhöht hat, war sicher zu erwarten, aber dass sich in den Beitrittsstaaten in einem Maße, wie es in Südeuropa gar nicht der Fall war, gesamteuropäische Wertschöpfungsketten entwickeln konnten und diese Länder in gesamteuropäische Wertschöpfungsketten eingebunden wurden, verdient ebenso eine würdigende Erwähnung wie die geräuschlose Bewältigung der Finanzkrise, beispielsweise in den baltischen Staaten, obwohl die Probleme dort durchaus nicht geringer waren als andernorts. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Auch wir in den alten Mitgliedstaaten der EU können durchaus eine positive Bilanz ziehen. Wir haben einen Zuwachs an Arbeitsplätzen zu verzeichnen, und die Wirtschaft hat eine Entwicklung genommen, die sie durch die europäische Einbindung krisenfester macht und Fortschritt und Wachstum ermöglicht. Wir haben – das hat der deutsche Historiker Karl Schlögel gesagt – eine Verschiebung des Mittelpunkts Europas in den letzten zehn Jahren erlebt. Der Puls des politischen Europas schlägt nicht nur in Berlin und Paris, sondern auch in Warschau, Prag, Tallinn und Budapest. Ich bin nicht sicher, ob im öffentlichen Bewusstsein und in den Institutionen in Brüssel und Straßburg diese Mittelpunktverschiebung schon hinreichend wahrgenommen wurde. Ich weiß, dass wir gerade wegen ausstehender Transformationsleistungen den Integrationsprozess unterstützend und kritisch begleiten müssen, aber ich wünschte mir manchmal, dass nicht so schnell der schulmeisterliche Zeigefinger erhoben wird, wenn es darum geht, politische Entwicklungen in den Beitrittsstaaten zu bewerten. Ich will ausdrücklich sagen, dass diese Erweiterung auch eine Bereicherung auf unterschiedlichen Gebieten für uns gewesen ist. Minister Steinmeier hat Verschiedenes erwähnt. Ich will aus meiner Perspektive noch die vielfältigere nationalkulturelle Zusammensetzung dieser Beitrittsstaaten nennen, die eine neue Dimension der Minderheitenpolitik in Europa aus meiner Sicht zur Folge hat, die aber auch neue Chancen der Mehrsprachigkeit und der staatenübergreifenden Identitätsbildung mit sich bringt. Wir können nicht an der Tatsache vorbeigehen, dass das Jahr des Beitritts 2004 nicht zufällig auch das Jahr der Orangenen Revolution in der Ukraine war. Wenn damals das Volk gegen die Wahlfälschung Janukowitschs aufstand, so war sicherlich die europäische Inspiration, die auch durch den Beitritt der osteuropäischen Staaten zustande gekommen ist, ein wichtiger Impuls für den Aufstand. Auch wenn die Orangene Revolution aus meiner Sicht rückblickend deprimierende Resultate brachte, so sollten wir uns doch darüber klar werden, dass die Vorbildwirkung der Mitgliedschaft der Beitrittsländer Osteuropas Erwartungen an uns bei Ländern, die weiter im Osten sind, geweckt bzw. verstärkt hat. Leider reicht meine Zeit nicht mehr für weitere Ausführungen über ein weiteres wichtiges Thema. Vizepräsidentin Claudia Roth: Genau, Herr Kollege. Bitte denken Sie an die Zeit. Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Ich meine den Konflikt zwischen dem Wunsch, europäisch zu sein, und dem Konzept Russlands der eurasischen Gemeinschaft. Ich will nur kurz anreißen, wo für mich die Scheidelinie zwischen der eurasischen Union und der EU liegt. (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Die Zeit ist vorbei!) Wenn ich an der Ostgrenze der Europäischen Union Schilder nach bekanntem Vorbild aufstellen dürfte, würde darauf stehen: Sie betreten den hegemoniefreien Sektor. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Das genau ist der Punkt, der die Europäische Union auszeichnet: Keiner der Mitgliedstaaten hat den Anspruch einer hegemonialen Rolle innerhalb der Staatengemeinschaft. (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Irrtum!) Keiner der Mitgliedstaaten weigert sich, schwierige Mechanismen mitzutragen, die sich gegen hegemoniales Denken wenden. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: So ein -Unsinn!) Dies unterscheidet dieses Staatenbündnis von dem, das im Osten konzipiert wird und das von der Geburtsstunde der Idee an einen hegemonialen Gedanken in sich trägt. (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: So ist es!) Wenn uns die Werte der Europäischen Union wichtig sind – auf sie ist unsere Hegemonieverweigerung zurückzuführen –, (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Unsinn!) dann sollten wir den Unterschied zwischen beiden Bündnisstrukturen in den schwierigen Debatten, die wir jetzt mit Russland zu bestehen haben, nicht gering schätzen; vielmehr sollten wir den Freiheitswillen des ukrainischen Volkes ernst nehmen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Herr Kollege. – Nächster Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen Manuel Sarrazin. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Bilanz der Erweiterung der Europäischen Union von 2004 kann man sagen: Nichts wäre besser ohne die Erweiterung, sondern alles wäre schlechter ohne sie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Ich glaube, die Erweiterungsrunde ist einer der größten Schritte der Menschheit im 20. Jahrhundert gewesen, also am Ende dieses Jahrhunderts. Wenn ich auf meine persönlichen Erfahrungen damit, über Grenzen zu ost-europäischen Staaten zu reisen, zurückblicke, dann ist für mich das Schönste, dass es so normal ist. Wie normal es heutzutage ist, dass wir zusammengehören, das ist das Schönste. Dass es so normal ist, ist das Besondere. Dass es so normal ist, wie es immer hätte sein sollen, dass das etwas Besonderes ist, das müssen wir uns vor Augen halten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Wir haben eine gesellschaftliche, eine politische, eine ökonomische und übrigens auch eine ökologische Transformation in diesen Staaten gesehen, die bemerkenswert ist, die Ausdruck einer Erfolgsbilanz ist. Wir haben auch für diejenigen, die Verlierer dieser Transformation sind, durch die Erweiterung der Europäischen Union und durch deren Mittel bessere Effekte, als wir ohne die Europäische Union hätten; schließlich engagiert sich die Europäische Union in den entsprechenden Ländern sehr stark im Bereich Soziales, setzt aber auch Standards. Wenn man die persönlichen Erfahrungen vieler Menschen zusammen betrachtet, dann erkennt man, dass diese Erweiterung eine Antwort auf den August 1939, auf den Mai 1945, auf das ganze Jahr 1945, aber auch auf das Jahr 1914 ist. Wie das Jahr 1914 im Westen mit der Schuman-Erklärung, die der Herr Minister zitiert hat, in gewisser Hinsicht überwunden worden ist, so ist das im Osten mit dem 1. Mai 2004 geschehen. Das sollten wir uns vor Augen halten. Ich war im Sommer 2003 über einen Schulaustausch in einer Schule in Stettin und habe Wahllokale gesehen. Ich weiß noch, wie die Menschen dort hineinströmten. Die Wahlbeteiligung damals hat alles übertroffen, was man für möglich gehalten hatte. Ich bin viele Jahre lang mit dem Nachtzug von Deutschland nach Polen gefahren. Am Anfang war es so, dass ich nachts viermal geweckt wurde. Irgendwann wurde ich nur noch zweimal nachts geweckt, weil sich die Grenzer abgesprochen hatten. Heute geht man in Görlitz über die Brücke nach -Polen, und es ist gar nichts Besonderes, es ist etwas Normales. Ich möchte aber auch sagen: Ich reise auch über die Grenze zwischen Polen und der Ukraine. Da ist es immer noch nichts Besonderes, wenn man stundenlang mit ukrainischen Omas in einem Warteraum steht und warten muss. Es ist nicht so, dass Europa an der neuen Ostgrenze der Europäischen Union aufhört. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auf eine Stadt wie Lemberg oder auf die Ukraine bezieht sich der Wertekanon Europas genauso wie auf die Staaten der EU-Osterweiterung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Wir müssen, wenn wir über die Geschichte reden, auch über die Enttäuschungen reden, die nach dem Mai 1945 in vielen Staaten entstanden sind, über die Enttäuschungen, die von Jalta, Teheran und Potsdam ausgingen, aber auch über das Nichteinhalten der von Stalin damals in Potsdam gegebenen Zusage der Schaffung von Demokratie und von Rechten zur freien Entscheidung in den osteuropäischen Staaten. Wenn wir am 9. Mai darüber reden, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Erweiterung auch eine Antwort auf die Enttäuschungen der Zentraleuropäer nach dem Kriegsende ist. (Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) Wir haben auch Misserfolge; ich möchte sie unbedingt benennen. Das, was wir uns mit der Erweiterung auf Zypern erhofft haben, ist nicht eingetreten. Dass wir jetzt, zehn Jahre später, in einer Situation sind, in der man sich Hoffnung machen kann, dass es doch zu einer Wiedervereinigung der Insel kommt, ist schön, aber eigentlich war die Idee, mit der Kraft der Erweiterung auch Zypern einen dauerhaften Frieden zu bringen. Daran müssen wir weiter arbeiten. Ich glaube, wir müssen uns einer Sache bewusst sein: Die unglaubliche Transformationskraft, die Europa ausstrahlen konnte, konnte nur freigesetzt werden, weil 1993 in Kopenhagen der Mut und der Wille bestand, eine Perspektive zu einem Beitritt zur Europäischen Union auszusprechen. Wir reden heute über die Ukraine und sehen, was für gewaltige Transformationsherausforderungen dort anstehen. Wir wollen die Transformation nicht nur im Wirtschaftsbereich in Form einer Freihandelszone, sondern auch eine politische Transformation, die das Land verändert, demokratisiert und freiheitlicher macht. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir diese Transformationsherausforderung nur mit einem ähnlichen Akt von Mut wie 1993 in Kopenhagen erreichen werden. Deswegen sagen die Grünen in ihrem Europawahlprogramm klar: Die Ukraine braucht eine Beitrittsperspektive zur Europäischen Union. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die symbolische Erklärung, dass man zu einem Zeitpunkt, der später liegt, will, dass jemand dazugehört, wenn er selber möchte, hat Kraft. Das hat Kopenhagen gezeigt. 1993 wirkte sehr fern, was 2004 geschehen würde; das dürfen wir nicht vergessen. Diese Erweiterung hat vieles geschafft. Auch der deutsche Erfolg, auch die deutsche Widerstandsfähigkeit in der Euro-Krise ist meiner Ansicht nach nicht zu verstehen ohne die Erweiterung. Vieles von dem, was heute für uns selbstverständlich ist, hat damit zu tun. Aber auch wenn es so schön normal ist, müssen wir uns dessen bewusst sein, dass es viel zu tun gibt. Wir haben die Aufgabe, die Transformation weiterzutreiben, dort, wo es Rückschritte gibt bei europäischen Werten, bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, darauf hinzuweisen; da hat Herr Steinmeier recht. Wir haben die Aufgabe, die nächsten Schritte in der wirtschaftlichen, in der gesellschaftlichen Entwicklung zu begleiten und zu gehen. Wir haben die Aufgabe, nicht aufzuhören in dem Bemühen, einander immer besser zu verstehen. Und wir haben die Aufgabe, Europa zusammenzuhalten, jetzt in der Debatte um die Ukraine die EU-28 zusammenzuhalten, nicht zu einer Auseinandersetzung zwischen dem alten und neuen Europa zu kommen, wie das vor einigen Jahren der Fall war, und vor dem Hintergrund der Krise und der notwendigen Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in der Euro-Zone am Ende nicht die Erweiterung von 2004 zu riskieren, weil man Staaten, die auf dem Weg Richtung Euro sind, aussperrt und nur den kleinen Zirkel der Staaten der Euro-Zone zum Kern erklärt. Fazit: Die Erweiterung ist das erfolgreiche Transformationsmodell der Europäischen Union. Sie muss dauernd besser gemacht werden. Es muss immer dazugelernt werden, aber nichts kann das schmälern, was erreicht ist. Die Erweiterung von 2004 ist historische Gerechtigkeit und nicht Provokation gewesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich glaube, Europa ist noch nicht fertig. Wenn wir in unserer Nachbarschaft Erfolg haben wollen als Soft -Power – als Soft Power, nicht als Hard Power oder als Militär –, dann werden wir das nur schaffen, wenn wir beachten, dass die Erweiterung eine der ganz wesentlichen Grundlagen für die Attraktivität der Europäischen Union ist. Ich möchte in keiner anderen Europäischen Union leben als in der erweiterten, und ich möchte auch in keiner anderen Europäischen Union leben als in der, die weiterhin Mut hat, über kommende Erweiterungen zu reden und an diesen kraftvoll zu arbeiten. Man kann es nach Goethe, Faust II, vielleicht so formulieren: Europa ist glücklich, solang es strebt. – Also sollten wir uns noch etwas auf dem Zettel behalten und nicht vorschnell aufhören. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Herr Kollege. – Nächster Redner: Maik Beermann für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Maik Beermann (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Kollege Gehrcke von der Fraktion Die Linke, wir wollen in Europa nicht nur keinen Faschismus, wir wollen in Europa auch keinen Kommunismus. Auch das gehört zur Wahrheit. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das musste ja mal gesagt werden!) Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie wurde eine Hoffnung für viele, und sie ist heute eine Notwendigkeit für alle. Diese Notwendigkeit hatte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung 1954 im Plenum des Deutschen Bundestages für die Einheit Europas skizziert. 50 Jahre später – in der Nacht zum 1. Mai 2004 – war Europa in Feierlaune. Um Mitternacht wurden die Feuerwerke gezündet. Der Himmel leuchtete in bunten Farben, und die Menschen reichten sich auf der Oderbrücke zwischen Frankfurt (Oder) und Slubice die Hände – und mit ihnen zwei lang getrennte Hälften unseres Kontinents. Auch in Tschechien, in der Slowakei oder in Ungarn zogen die Menschen in dieser Nacht in das Haus der Europäischen Union ein. Die feierliche Begrüßung der zehn neuen Mitglieder der Europäischen Union besiegelte das Ende der Spaltung Europas in Ost und West. Die Erinnerung daran macht uns auch heute noch Mut. Das war nicht etwa das Verdienst der Politik, es war die Errungenschaft derjenigen Menschen im Osten und im Westen, die sich nicht von ihrem Wunsch abbringen ließen, gemeinsam in Freiheit und in Frieden zu leben. Gerade die Menschen in den zehn Beitrittsländern -haben die Leidenschaft und den Mut aufgebracht, ihr politisches System, die Wirtschaft und das Alltagsleben umzuwälzen. Dabei haben sie schwere Einschnitte hingenommen. Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, verdient unseren Respekt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gab Gewinner, es gab aber auch Verlierer und Rückschläge. Dennoch: Fehler, die gemacht wurden, sind für ganz Europa ein unverzichtbarer Erfahrungsschatz. Er kann für die Bewältigung der noch vor uns liegenden Herausforderungen Ansporn sein. Auch deshalb ist der Beitritt dieser zehn Mitglieder eine Bereicherung für unsere Europäische Union. Bei aller Anerkennung für das Erreichte ist der Gipfel des Erfolges noch lange nicht erreicht. Manchmal denke ich, wir stehen vielleicht sogar noch am Fuße des Berges. Bei Ländern wie Ungarn, wo es Defizite in der Wirtschaft bzw. im Staatshaushalt gibt, oder Litauen, das mit der Abwanderung von vielen jungen und gutausgebildeten Menschen zu kämpfen hat, muss man schon mal etwas genauer hinschauen. Sehe ich mir aber die Tschechische Republik an, sehe ich ein Land, das den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft relativ reibungslos geschafft hat. Sehe ich mir Estland an, dann sehe ich ein Land, das mitten in der Wirtschaftskrise 2011 den Euro als Währung eingeführt hat. Das war ein deutliches Signal. -Estland erfüllte die Beitrittsbedingungen mit einem annähernd ausgeglichenen Staatshaushalt und geringen öffentlichen Schulden. Sehe ich Polen, das größte und wichtigste Beitrittsland von 2004, sehe ich ein Land, das als einziges der zehn Beitrittsländer auch in der Krise ein positives Wachstum hatte und zusätzlich politische Stabilisierung und gesellschaftlichen Aufbruch erreichte. Wenn ich all diese kleinen und auch größeren Erfolge in der EU betrachte, sehe ich, dass wir eben doch nicht erst am Fuße des Berges stehen. Wir sind schon ein ganzes Stück dem Gipfelkreuz entgegengewandert, liebe Kolleginnen und Kollegen. Unsere Europäische Union gilt daher weltweit als einzigartige wirtschaftliche und politische Erfolgsgeschichte eines freiwilligen Zusammenschlusses von nationalen Staaten. Für Beitrittskandidaten wie die Türkei ist es daher eben nicht ausreichend, nur die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Auch die politischen Kriterien – wie demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und der Schutz von Minderheiten – müssen dort garantiert werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Lassen Sie mich bitte noch etwas zur Krise in der Ukraine sagen. Gerade in den letzten Wochen, in denen sich die Ukraine und Russland am Rande von Bürgerkrieg und Krieg bewegten, wurde deutlich, wie existenziell wichtig die Osterweiterung für die Europäische Union war. Wären Polen und Tschechien nicht stabile EU-Mitglieder und verlässliche Partner in der NATO, wären ähnliche Krisen und Konflikte heute auch in diesen Ländern durchaus möglich – direkt an unserer Grenze. Umso mehr Verständnis sollten wir für unsere Partner in Warschau und Prag, Tallinn, Riga und Vilnius zeigen, die angesichts der Ukraine-Krise schlicht Angst vor dem haben, was sich an ihren Grenzen ereignet. Deshalb ist es für mich auch absolut unverständlich, wie Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, sich in der Ukraine-Frage verhalten. Sie unterstützen hier mit Ihrer kruden Argumentation ein außenpolitisches Gebaren Russlands, das definitiv nicht ins 21. Jahrhundert gehört, sondern finsterer Imperialismus von vorgestern ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Ein Spruch des bekannten Dichters Wilhelm Busch, der in meinem Wahlkreis, in Wiedensahl, geboren ist, lautet: Toleranz ist gut, aber nicht gegenüber den Intoleranten. Daher lautet meine Botschaft an Präsident Putin: Wir sind gesprächsbereit. Wir wollen eine friedliche Lösung unter Berücksichtigung aller Interessen. Wir stehen aber auch zu unseren Überzeugungen und den Stärken unseres Europas: Frieden, Freiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und freie Wahlen. Das Referendum zur Abspaltung der Ostukraine am Sonntag zu verschieben, ist schon einmal ein hilfreicher Schritt, dem Herr Putin aber auch Taten folgen lassen muss. Für diese Taten hat er nur noch wenige Tage Zeit. Unsere Bundeskanzlerin hat mein höchstes Vertrauen, wenn für sie das gemeinsame Ziel einer diplomatischen Konfliktlösung in der Ukraine die höchste Priorität hat. Wenn diese beachtliche Herausforderung jemand meistert, dann ist das unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch unserem Bundesaußenminister zolle ich meinen Respekt für die unermüdliche Arbeit. Er hat Recht mit dem, was er am Mittwoch hier in der Aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag gesagt hat. Eine diplomatische Lösung in der Vergangenheit und auch heute sei das erklärte Ziel. Eine Aufgabe dieses Ziels sei definitiv keine Option. Herr Steinmeier, vielen Dank dafür. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir können nur glaubwürdig sein, wenn wir für unsere Werte einstehen und deren Verletzung im Inneren ahnden. Wir können gestärkt – davon bin ich überzeugt – aus der gegenwärtigen Krise herausgehen, wenn Europa zusammenhält. Was heute unverändert als Auftrag an die Europäer und an uns Politiker zu verstehen ist, brachte Adenauer 1967 bei seiner vorletzten Rede, die er in Madrid hielt, kurz und prägnant, wie es seine Art war, auf den Punkt: Europa muss geschaffen werden. – Das ist auch heute noch so. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin nicht nur Deutscher, sondern auch Europäer. Wir alle, die wir hier sitzen, sind Europäer. Das bis heute geschaffene Europa ist doch mittlerweile allgegenwärtig. Es gibt überall Berührungspunkte, von der großen Metropole bis hin zu meinem kleinen 450-Seelen-Heimatort Wendenborstel im Wahlkreis Nienburg-Schaumburg. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bitte?) Das größte Glück und höchste Gut sind nicht an erster Stelle die offenen Grenzen, die Freihandelszone und die gemeinsame Währung, sondern der seit fast 70 Jahren andauernde Frieden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Lieber Herr Kollege, das ganze Haus gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede. (Beifall) Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit hier im Bundestag. Es ist gar nicht so schlecht, wenn Sie Wilhelm Busch als Begleiter dabeihaben. – Sie, Herr Sarrazin, haben gerade gelacht, als Kollege Beermann gesagt hat, wo er herkommt. Da gibt es jetzt wunderbaren Spargel. Wenn die Gratulationscour beendet ist, kann sich schon einmal Andrej Hunko für die Linke bereithalten. (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Da haben wir nichts zu gratulieren!) – Schauen wir einmal. – Herr Hunko für die Linke, bitte. (Beifall bei der LINKEN) Andrej Hunko (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über 10 Jahre EU-Osterweiterung reden, mischt sich – da bin ich Herrn Steinmeier für seine Rede durchaus dankbar – auch Nachdenklichkeit in die Bilanz. Es ist keine Jubelveranstaltung. Ich glaube, der Grund ist ganz einfach, dass an den Ostgrenzen der Europäischen Union, in der Ukraine eine sehr besorgniserregende Entwicklung stattfindet. Diese Nachdenklichkeit ist notwendig. Ich glaube, wir müssen uns auch einmal fragen, was eigentlich das strategische Ziel, das Endziel der EU-Osterweiterung ist. Herr Sarrazin, Sie sagten, die EU sei glücklich, solange sie strebe. Aber wohin strebt sie am Ende? Sollen eigentlich alle europäischen Staaten – die Ukraine, Georgien, Moldawien – bis auf Russland irgendwann Mitglied der Europäischen Union sein? Oder soll Russland auch irgendwann Mitglied werden? Oder soll es einen gemeinsamen Raum geben? All das sind Fragen, die sich in diesen Tagen natürlich sehr eindringlich stellen. Ich will zunächst auf die Bilanz der Entwicklung in den zehn neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union eingehen. Meine eigene Einschätzung dazu ist gemischt. Ich sehe durchaus Erfolge. Zum Beispiel ist das durchschnittliche BIP pro Einwohner in diesen Ländern von 65 auf 76 Prozent des Durchschnitts-BIPs in der Europäischen Union angestiegen. Es hat also durchaus eine Angleichung gegeben. Dies werte ich positiv; denn es kommt schließlich darauf an, die Spaltung in mehrerlei Hinsicht zu überwinden, und zwar sowohl die soziale Spaltung als auch die in Ost und West. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Entwicklungen fallen allerdings durchaus unterschiedlich aus. Ich will zum Beispiel daran erinnern, dass in Litauen die Auswanderungsrate extrem hoch ist. Sie ist dort höher als in jedem anderen europäischen Land. Ich möchte auch an die Umfragezahlen in den Ländern selbst erinnern: Während 2004 noch 32 Prozent gesagt haben, dass sie kein Vertrauen in die Europäische Union haben, ist dieser Wert inzwischen auf 47 Prozent angestiegen. In Zypern ist er sogar von 17 auf 57 Prozent angestiegen. Das ist natürlich keine Erfolgsbilanz. Ich kann die Zyprer allerdings sehr gut verstehen. Wir müssen uns fragen: Wohin will die Europäische Union? Wie ist das Verhältnis zu Russland? Diese Fragen stellen sich angesichts der Entwicklung in der Ukraine natürlich. Folgendes dürfen wir dabei nicht vergessen: Der Ausgangspunkt der jetzigen Krise ist die Nichtunterzeichnung des EU-Ukraine-Assoziierungsabkommens vom November 2013. Ich hatte im Dezember letzten Jahres die Gelegenheit, den Erweiterungskommissar Füle zu fragen: Was haben wir von europäischer Seite eigentlich falsch gemacht? Die Antwort war sehr ausführlich. Er hat zwei Kernpunkte genannt: Wir haben zu viele Bedingungen gestellt, und wir haben zu wenig mit Russland gesprochen. Das ist der Unterschied zu 2004, als zum Beispiel sehr intensiv über die Frage der russischen Minderheiten im Baltikum gesprochen wurde. Es muss also viel mehr Kommunikation stattfinden. Diese hat aber bisher leider nicht stattgefunden. Seitens der EU hat es einen zweifachen Tabubruch im Hinblick auf die Ukraine gegeben. Erstens wurde eine Regierung anerkannt und mit ihr kooperiert, deren Legitimität zumindest umstritten ist. Zweitens sind an dieser Regierung Faschisten beteiligt. Herr Steinmeier sprach von tot geglaubten Geistern. Leider sitzen diese in der Regierung in der Ukraine. Das darf nicht sein. Es darf in Europa keine Kooperation mit Faschisten geben. (Beifall bei der LINKEN) Nach dem Massaker vom 2. Mai 2014 in Odessa ist es wichtig, daran zu erinnern, dass am 2. Mai 1933 hier in Deutschland die Gewerkschaftshäuser von Nazis gestürmt wurden. Auch in Odessa wurde nun ein Gewerkschaftshaus angezündet. Das Ganze wurde von der Regierung in der Ukraine toleriert. Das ist völlig inakzeptabel. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen angesichts der aktuellen Konflikte gerade in diesen Tagen Lösungs- und Deeskalationsstrategien. Diese sind notwendig, um eine grundsätzliche Debatte über eine Neuausrichtung der EU-Ostpolitik zu führen, die auf Kooperation – auch auf Kooperation mit Nicht-EU-Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Russland – und nicht auf Konfrontation setzt. Wir brauchen ein Verständnis von europäischer Integration als Teil einer internationalen Zusammenarbeit und nicht als Blockbildung gegen andere Teile der Welt, seien es Russland, Afrika, Indien oder China. Die europäische Integration muss Teil internationaler Kooperation werden. Als Letztes will ich sagen: Es wird in Europa nur dann Frieden geben – Herr Sarrazin, auch Donezk und Odessa gehören zu Europa –, wenn es eine Kooperation mit Russland gibt. Wenn wir gegen Russland arbeiten, wird es keinen Frieden in Europa geben. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin in der Debatte ist Dr. Dorothee Schlegel für die SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Dorothee Schlegel (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Nacht vor der größten Erweiterung in der Geschichte der EU verbrachte ich in einem Reisebus auf dem Rückweg von Polen nach Deutschland. Ich kam zurück von einer Vortragsreise an der Universität Rzeszów in Ostpolen. Ich wünschte mir, dass unser Bus möglichst gegen Mitternacht an der Grenze sein sollte, um diesen historischen Moment direkt am Grenzübergang zu erleben. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Um Joschka zu treffen!) Kurz vor der Grenze sah ich viele Menschen mit Leuchtraketen in ihren Gärten sitzen. Das Feiern ist vorhin auch schon angesprochen worden. Ich habe diese Situation – auch wenn wir zu meinem Bedauern eine halbe Stunde vor zwölf die Noch-nicht-EU-Grenze passierten – daher in bester persönlicher Erinnerung. Die EU-Osterweiterung von 2004, die wir heute würdigen, kommt in diesem Jahr, in dem sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal und der Beginn des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal jährt, zumindest an Jahren eher bescheiden daher. Aber sie erzählt eine europäische Erfolgsgeschichte. Dieses zehnjährige Jubiläum geht Hand in Hand mit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor 25 Jahren, dem Ende der jahrzehntelangen Spaltung unseres Kontinents. Martin Schulz war es übrigens, der die deutsche Wiedervereinigung als erste Osterweiterung bezeichnet hat. Meine Generation und die Generationen nach mir wurden im europäischen Frieden geboren. Diesen Frieden verdanken wir der Idee und dem System Europa, das seit fast 70 Jahren kriegsverhindernd wirkt. Für viele Menschen heute scheint Europa diesen Impetus verloren zu haben. Die Zahl der Euroskeptiker wächst vor der Europawahl. In einer Umfrage für den jüngsten ARD-DeutschlandTrend gaben 64 Prozent der Befragten an, sich wenig oder gar nicht für die Wahl am 25. Mai zu interessieren. Viele Menschen lehnen das „sanfte Monster Brüssel“, so Hans Magnus Enzensberger, zunehmend ab. Es ist an der Zeit, diese Zweifel in der Bevölkerung ernst zu nehmen und diesen Strömungen ein europäisches Narrativ entgegenzusetzen. Es ist auch an der Zeit, die Identifikation mit der europäischen Idee und vor allem mit ihrer friedenssichernden Bedeutung zurückzugewinnen. Für mich liegt hier der politische Kernauftrag an mich als Europapolitikerin. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Selbstbewusst und im Rückblick auch stolz auf diese Erfolgsstory, die wir heute erzählen können, müssen wir die europäische Diskurshoheit zurückerobern. Wir müssen der Idee von Europa, seiner kulturellen Vielfalt und dem Konzept einer transnationalen Gemeinschaft wieder mehr Substanz verleihen. Um die europäische Einheit zu stärken, können und dürfen wir uns nicht mit Neoliberalismus, Renationalisierung und populistischen Vorurteilen abfinden. Es geht, wie gestern ausführlich erörtert, um ein soziales Europa. Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Wir sollten Europa auch als kulturelles Projekt begreifen. Es geht um nichts weniger als um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Chancengleichheit, Freizügigkeit, Daten- und Minderheitenschutz. Es geht um soziale Sicherung, um Bildung und um gelebte Toleranz. Wir brauchen daher transparente Regularien und eine breite Informationsbasis, damit die Menschen das Gebilde EU verstehen und verinnerlichen können; denn immer mehr grundlegende Entscheidungen werden auf europäischer Ebene getroffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich Goethe zitieren; auch Kollege Sarrazin tat dies. Goethe skizzierte 1828 die Vision, dass Deutschland eins werde, dass das Geld gleichen Wert habe, ebenso die Gewichte und die Maße; der Pass zeichne einen Reisenden, dessen Koffer ungeöffnet die Grenzen passiere, nicht mehr als Ausländer aus. Ein solches Land – hier denke ich 200 Jahre weiter und an Europa – braucht viele Mittelpunkte. Darauf hat Herr Dr. Bergner bereits hingewiesen. Eine solche europäische Einheit lebt von der Souveränität der Länder. Wenn es Goethe damals nicht bange war vor der Einheit Deutschlands, dann sei uns nicht bange vor der Einheit Europas. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin. Liebe Frau Dr. Dorothee Schlegel, das ganze Haus gratuliert Ihnen sehr zu Ihrer ersten Rede hier im Deutschen Bundestag. (Beifall) Viel Erfolg für Sie als Europapolitikerin bei der sehr wichtigen Aufgabe, ein Mehr an Europa auch von Deutschland aus durchzusetzen! Wir warten, bis die Gratulationscour beendet ist. – Heißt das „Cour“? (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Ja, genau, so heißt es!) – Warum eigentlich? (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es heißt „Kür“, nicht „Kur“!) – „Gratulationskür“? Nicht „-kur“! „Kur“ ist etwas anderes. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben Sie ja auch zu unserer Präsidentin erkoren! – Heiterkeit) – Vielen herzlichen Dank. Jetzt werde ich ganz rot. Annalena Baerbock ist die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen. Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Präsidentin! Nach den ganzen Zitaten von Schuman und Goethe werfe ich jetzt auch noch ein Zitat in die Runde. Vaclav Havel hat 1991 bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen gesagt, dass es eine „sehr wichtige Tatsache“ sei, … daß keine zukünftige europäische Ordnung ohne die europäischen Völker der Sowjetunion denkbar ist, die ein unteilbarer Bestandteil Europas sind … Ihr Weg zur Freiheit, Demokratie und einer funktionierenden Wirtschaft ist, wie wir wissen, besonders kompliziert. Das darf aber nicht Grund dafür sein, daß wir der Einfachheit halber aufhören, uns für das Schicksal unserer östlichen Nachbarn zu interessieren. Ganz im Gegenteil: es gibt allen Grund, uns besonders dafür zu interessieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben es dem Mut unserer europäischen Politiker zu verdanken, dass 13 Jahre nach diesen Worten von Havel die mittel- und osteuropäischen Staaten und die baltischen Staaten der Europäischen Union beitraten, dass wir diesen Gänsehautmoment gemeinsam feiern konnten. Auch ich war seinerzeit in Frankfurt/Oder auf der Brücke, auf der damals noch Grenzkontrollen stattfanden und die man heute einfach überquert. In Frankfurt/Oder und in Slubice diskutiert man heute darüber, wann endlich eine gemeinsame Straßenbahn über die Brücke fährt. Das sind die kleinen Wunder dieser Europäischen Union, die wir niemals vergessen sollten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Es ist aber auch die harte Realität unserer gemeinsamen Europäischen Union, dass uns wiederum zehn Jahre später – zehn Jahre nach der Osterweiterung – der Satz von Havel, nach dem wir es uns nicht einfach machen dürfen, angesichts der Auseinandersetzungen in der Ukraine spürbar in Erinnerung gerufen wird. Denn heute gibt es nach wie vor Millionen von Menschen, die nicht nur auf dem europäischen Kontinent, sondern auch unter dem Dach des Hauses Europa gemeinsam in Frieden leben wollen. Die momentane Situation in der Ukraine, aber auch auf dem Balkan – wir haben den Balkan in den letzten Jahren ja leider absolut vergessen – zeigt, dass 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs das Friedensprojekt Europa noch lange nicht abgeschlossen ist. Und hier komme ich auf Ihre Frage zurück, Herr Kollege Hunko: Wem steht denn das Haus Europa offen? Das Haus Europa – da haben wir uns in den Verträgen der Europäischen Union festgelegt – steht allen europäischen Staaten offen. Der Wert Europas ist eben, dass man nicht sagen kann: Nein, das eine Land gefällt uns jetzt nicht mehr; wir wollen es nicht mehr aufnehmen. – Das Haus Europa steht mindestens allen 46 europäischen Staaten des Europarates offen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Bei all den Feierlichkeiten, die wir momentan begehen, sollten wir aus meiner Sicht nicht nur darüber nachdenken, was etwa bei der letzten Osterweiterung auch schiefgelaufen ist, sondern auch darüber, was nach der ersten Osterweiterung hier bei uns in Deutschland schiefgelaufen ist. Wir haben das Thema gestern in der Debatte am Rande angekratzt, aber ich möchte es gerade hier in diesem Moment noch einmal benennen: Wir müssen uns auch damit auseinandersetzen, dass ausgerechnet das wirtschaftlich stärkste und größte Land Europas sieben Jahre gebraucht hat, bis es den Menschen umfassende Freizügigkeit gewährte, also nicht nur Reisefreizügigkeit, sondern auch die Freizügigkeit, in der ganzen Europäischen Union zu arbeiten. Leider hatte gerade die deutsche Politik nach 2004 nicht den Mut – sondern sie hat es sich einfach gemacht und sich vor Populismen weggeduckt – und hat gesagt: Wir sind neben Österreich das einzige Land, das weiterhin die Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt. – Das ist kein Ruhmesblatt, darauf können wir nicht besonders stolz sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mit dieser Wagenburgmentalität haben wir uns selbst ins Knie geschossen. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Leider wahr!) Durch das Ausreizen der Ausnahmeregelungen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit haben wir in Grenzregionen nicht nur den Fachkräftemangel, sondern auch die Schwarzarbeit befördert. Dann hat es eben nichts mehr geholfen, dass 2011, also sieben Jahre nach der Ost-erweiterung, Regionen wie Bayern im Internet darum geworben haben, dass Fachkräfte aus Polen und der Slowakei, aus Tschechien und Ungarn zu uns kommen; denn diese Fachkräfte waren vorher schon nach Manchester oder Uppsala gegangen und eben nicht nach Brandenburg, nach Thüringen oder nach Bayern. Ich sage das heute so eindringlich, weil es schon mehr als zynisch ist, dass ausgerechnet in dem Jahr, in dem wir zehn Jahre Osterweiterung feiern, gewissen politischen Parteien nichts Besseres einfällt, als darüber zu reden, ob denn die Freizügigkeit für die jüngst beigetretenen Länder wie Rumänien und Bulgarien überhaupt noch aufrechterhalten werden kann. Es gehört zu einer solch feierlichen Stunde dazu, das zu sagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Bärbel Bas [SPD]) Wir müssen den Mut haben und dürfen es uns nicht nur einfach machen. Wir sollten akzeptieren, dass wir in Deutschland nicht der Nabel Europas sind, sondern dass wir ganz viel von unseren europäischen Nachbarn lernen können. Schauen wir rüber nach Großbritannien, Schweden, Frankreich und in die Niederlande. Was stellen wir fest? Diese Länder haben kein Problem damit, auch Rumänien und Bulgarien die Arbeitnehmerfreizügigkeit zuzugestehen. Man sagt: Ja, auch ihr könnt von unseren Sozialleistungen profitieren. Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin. Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es gehört Mut dazu, sich dem Populismus mit guten Argumenten entgegenzustellen. Wenn wir diesen Mut haben, wie Schuman, Havel – und Frau Roth, (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Frau Präsidentin! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schuman, Havel, Roth!) ich komme zum Schluss –, dann können wir auch in den nächsten 20, 30 Jahren wieder diese Gänsehautmomente gemeinsam auf den Brücken Europas feiern. Dann können wir Europa in all seiner Unperfektheit – das muss man immer wieder sagen – und mit seinen Stolpersteinen feiern. Zugleich können wir die großartige Idee feiern, Konflikte jenseits gefährlicher Grenzen des Nationalstaats zu lösen. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der Debatte: Matern von Marschall für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Josip Juratovic [SPD]) Matern von Marschall (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Hunko, Sie haben gesagt, das sei heute keine Jubelveranstaltung. Das sehen wir etwas anders. Aber ich denke, wir können uns über den Titel des neuen Buchs von Hans-Gert Pöttering, dem vormaligen Präsidenten und langjährigen Mitglied des Europäischen Parlamentes, einig sein: Wir sind zu unserem Glück vereint. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Skepsis, die im Westen gegenüber der Osterweiterung existiert hat, hat sich Gott sei Dank als unbegründet erwiesen, wenngleich – das ist schon gesagt worden – auch in Zukunft noch viel zu tun ist. Ich will aber eines sagen: Die Menschen dort haben an Recht und Wohlstand gewonnen, und sie sind selbstverständlich auch bei uns in Deutschland wie andere Mitbürger aus der Europäischen Union herzlich willkommen, als Mitbürger und als oft gefragte Arbeitnehmer. Dieser Beitritt, das wissen wir, war nur möglich, weil die Menschen in Bedrängnis und Gefahr damals den Mut zur Freiheit gehabt haben. Eines – Herr Gehrcke, daran haben Sie tatsächlich zu Recht erinnert – war aber auch Voraussetzung, nämlich dass Russland den Freiheitswillen dieser Menschen seinerzeit nicht bekämpft, sondern ihn akzeptiert hat. Ohne diese Voraussetzung wäre die Entwicklung nicht möglich gewesen. Auch daran denken wir heute dankbar und in Bezug auf den letztgenannten Punkt etwas wehmütig zurück. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir schauen auch noch vorne. Ich sage: Wir werden auch weiterhin alle Menschen, die im Herzen die Sehnsucht nach der Herrschaft des Rechts, nach Rechtsstaatlichkeit, nach Teilhabe und Gerechtigkeit haben, unterstützen. Wir werden das auf dem Maidan und im Gezi-Park machen – um das beispielhaft zu sagen –, und das mit aller Deutlichkeit. Die Europäische Union verpflichtet sich zu diesen Prinzipien, und zwar erstens innerhalb ihrer eigenen Grenzen, zweitens bei unseren Nachbarn und drittens auf der ganzen Welt. Für diese Aufgabe müssen wir die Europäische Union stärken. Das ist die Aufgabe vor der Wahl zum Europäischen Parlament am 25. Mai. „Wir sind zu unserem Glück vereint.“ Diese Überzeugung, die ich habe, habe ich bereits ausgesprochen. Jetzt nenne ich die gegenteilige Ansicht, die von Präsident Putin, nämlich dass das eine Katastrophe sei. Wir versuchen, diese Perspektive rein historisch zu begreifen. Aber die Schlussfolgerungen, die Putin und Russland daraus ziehen, teilen wir natürlich nicht, und zwar nicht im Geringsten. Wenn Geschichte zur Legitimation eigener Expansionsgelüste eingesetzt wird, wenn man sich also der Mittel bedient, die uns in die Katastrophe der beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts geführt haben, dann führt das erneut in die Katastrophe. Doch diese schrecklichen Katastrophen dürfen sich nicht wiederholen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) In unserem 21. Jahrhundert muss gelten: Die territo-riale Integrität und Souveränität der Staaten ist unverletzlich. Dieses Prinzip muss insbesondere auch für die Ukraine gelten. In vielen Staaten der Erde leben unterschiedliche Völker, und es ist Aufgabe jedes einzelnen Staates, das gleichberechtigte Zusammenleben dieser Völker innerhalb der Grenzen des Staates zu sichern. Ohne Einhaltung dieser Grundvoraussetzung ist ein Frieden nicht möglich. Was sich in Russland im Moment ereignet, hat übrigens ein langes Vorspiel. Herr Außenminister, ich denke, wir haben – leider – lange Jahre ein wenig darüber hinweggesehen. Ich fürchte, wir müssen unsere Hoffnung auf das Pflänzchen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Russland, die wir lange gehegt haben, revidieren. Wir müssen diesen Prozess in der Rückschau einer Neubewertung unterziehen und damit auch in der Vorausschau, was Schlussfolgerungen angeht. Ich zitiere kurz die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels aus dem Jahr 2013, Swetlana -Alexijewitsch, eine weißrussische Schriftstellerin, die diesen Friedenspreis in der Paulskirche in Frankfurt erhalten hat. Sie hat viele Stimmen aus Russland zusammengetragen. Diese Stimmen zeigen zerrissene, widersprüchliche, hoffnungslose, mutlose Menschen, auch fanatisierte und sarkastische Menschen. Eine Stimme möchte ich zitieren: Wir reden dauernd – so heißt es dort – vom Leiden … Das ist unser Weg der Erkenntnis. Die Menschen im Westen leiden nicht so wie wir, sie haben gegen jeden Pickel eine Medizin. Aber wir haben im Lager gesessen, und im Krieg war der Boden mit unseren Leichen übersät, wir haben in Tschernobyl mit bloßen Händen radioaktiven Graphit eingesammelt … Und nun sitzen wir auf den Trümmern des Sozialismus. Und jetzt wird ein Schreckgespenst der Vergangenheit hervorgeholt. Wiederum wird Geschichte dazu missbraucht, diese hoffnungslosen Menschen durch brachiale Propaganda, durch aggressiven Nationalismus zu berauschen. Schauen Sie einmal auf die heutige Truppenparade in Moskau, Herr Gehrcke: 11 000 Soldaten, und Herr Putin ruft diesen Soldaten zu: Wir sind das Siegervolk. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sind sie ja auch! – Gegenruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Säbelrasseln!) Ich frage mich, welche Umdeutung hier stattfindet. Damit werden – das ist gefährlich – die Menschen berauscht, und es wird von den Aufgaben im eigenen Land abgelenkt. Das darf im 21. Jahrhundert doch kein Zukunftsmodell mehr sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir müssen uns der eigenen Geschichte stellen, aber in Verantwortung, und sie im Guten fortschreiben. Wir können uns nicht mehr einer Ideologie des Darwinismus, dem Kampf des Stärkeren gegen den Schwachen widmen. Das sollte doch vorbei sein. Wir sollten uns dem widmen – das ist auch wissenschaftliche Erkenntnis –, dass die Menschen auf Zusammenarbeit und Anerkennung angewiesen sind; denn das entspricht ihrer Natur. Dieser Natur – sie zu Zuneigung und Ermutigung zu unterstützen – wollen wir das Wort reden und nicht dem Kampf des Stärkeren gegen den Schwachen. Niemand hat gesagt, dass die Europäische Union fehlerfrei ist. Ich bin ganz sicher, wir müssen noch viel tun. Aber die Stärke der Europäischen Union ist die Voraussetzung für ihr Wirken in der Welt, für ihr Wirken um Rechtsstaatlichkeit auf der ganzen Erde. Seien wir also vor der Europawahl ruhig mutig, fragen wir die Kritiker: Was können wir denn eigentlich leisten, wenn wir in die enge Nationalstaatlichkeit einzelner Staaten, zunehmend schrumpfender Staaten hier in Westeuropa, zurückfallen? Was können wir alleine leisten? Können wir Umwelt- und Klimaschutzziele alleine durchsetzen? Können wir uns vielleicht gegen Internetgiganten wie Google besser alleine durchsetzen? Können wir Freihandelsabkommen besser alleine verhandeln? Können wir Außen- und Sicherheitspolitik besser alleine betreiben? Können wir die Finanzmärkte ganz alleine in ihre Schranken verweisen? Nein, meine Damen und Herren, das können wir nur gemeinsam, und das schaffen wir nur gemeinsam in einer starken Europäischen Union, auch wenn es dort Rückschläge und Notwendigkeiten zur Verbesserung gibt. Wir brauchen Kraft, Ausdauer und guten Mut für dieses Projekt. Wählen wir also am 25. Mai Europa – zu unserem Glück. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich will Sie informieren. Wir haben herausgefunden, woher das Wort „Cour“ kommt. Es kommt weder von „Kür“ noch von „Kur“, sondern offensichtlich aus dem Französischen. Es gibt zwei Bedeutungen: Einmal ist der Hofstaat damit gemeint. Da wir ja nicht mehr sehr monarchisch sind, gehe ich davon aus, dass das nicht der Bezug ist. Dann gibt es noch die „cour d'admirateurs“, die Anhängerschaft. Also seien Sie, sowohl Herr Beermann als auch Frau Dr. Schlegel, sich sicher: Sie haben eine große Anhängerschaft heute hier im Haus gefunden. (Beifall – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Also doch Cour!) – Gratulationscour, mit c, o, u, r. – Man lernt hier also auch etwas, wie Sie sehen, liebe Besucher des Deutschen Bundestages. Nächster Redner in dieser sehr schönen und wichtigen Europadebatte ist Dietmar Nietan für die SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dietmar Nietan (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gehrcke hat recht: (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das höre ich gern!) Wenn wir über die Wiedervereinigung Europas sprechen, ist es gut, den 8. Mai 1945 als Ausgangspunkt zu nehmen, den Untergang des Faschismus, der letztlich so groß werden konnte, weil sich Staaten, Menschen, Ideologen in einen nicht enden wollenden Nationalismus verstiegen hatten. Deshalb sollte vielleicht die erste Lehre aus 1945 sein, dass wir all denen, die, um von eigenen Fehlern abzulenken, dumpfen Nationalismus schüren, mit aller Klarheit entgegentreten. (Beifall im ganzen Hause) Wenn wir 1945 als Ausgangspunkt nehmen, dann sollten wir uns daran erinnern, dass sich zumindest ein Großteil der Deutschen, diejenigen, die im Westen lebten, nach 1945 auf den Weg in die Demokratie, in eine freie und offene Gesellschaft machen konnten, dass aber ein anderer Teil der Deutschen und mit ihnen viele Völker Mittel- und Osteuropas weitere 44 Jahre, bis 1989, in einer Diktatur leben mussten. Auch das gehört dazu, wenn man an 1945 erinnert. Es ist der Mut dieser Menschen hinter dem Eisernen Vorhang gewesen, der das Unglaubliche geschafft hat, nämlich die friedliche Revolution, die am Ende gezeigt hat, dass ein noch so perfides Unterdrückungssystem den Drang der Menschen nach Freiheit nicht für immer stoppen kann. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!) Manchmal erinnere ich mich zurück und frage mich, ob wir im Westen, also vor dem Eisernen Vorhang, in einer Zeit, in der die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang ihren Mut zusammengenommen haben, ein nicht allzu gutes Beispiel waren, weil bei uns vielleicht eher Kleinmut herrschte, weil viele von uns selbst nicht mehr daran geglaubt haben, dass es eine solche Wiedervereinigung Europas in absehbarer Zeit gibt. Auch das sollte eine Lehre sein: Kleinmut ist nicht der richtige Ansatz, um die Wiedervereinigung Europas voranzutreiben. Frau Kollegin Baerbock hat es schon angesprochen: Kleinmut oder Populismus, das sei dahingestellt, herrschte zum Beispiel auch in der Frage der Öffnung des Arbeitsmarktes. Auch das sollte ein Lehre sein: Es ist nicht die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die in Europa eine Bedrohung darstellt. Es geht vielmehr um die Frage: Was passiert, wenn es die Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber keine fairen Regeln auf dem Arbeitsmarkt wie zum Beispiel einen Mindestlohn gibt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DE GRÜNEN) oder wenn ganz einfache Prinzipien, zum Beispiel dass auf dem Arbeitsmarkt gelten muss: „Wer am gleichen Ort die gleiche Arbeit macht, bekommt den gleichen Lohn“, nicht gelten? (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn es solche Prinzipien überall in Europa gäbe, dann müssten die Menschen vor der Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Angst haben. Das darf an dieser Stelle schon gesagt sein: Bei aller Freude über die Erweiterung – innerhalb der Europäischen Union haben wir noch viele Reformen vor uns, bei denen wir genau diese Dinge beachten müssen und eben nicht dem neoliberalen Zeitgeist frönen dürfen. Bei einem Prozess wie der europäischen Integration bzw. Erweiterung gibt es Gewinner und Verlierer. Ich glaube, an dieser Stelle sollte man bei allem Erfolg auch daran erinnern, dass viele Menschen in den neuen EU-Ländern – und das nicht aus eigener Schuld – zu den Verlierern der Transformation gehört haben, weil es bisher noch nicht gelungen ist, die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern, starke Gewerkschaften zu etablieren und die Regeln auf dem Arbeitsmarkt in allen Mitgliedstaaten so umzusetzen, wie wir uns das wünschen. Wir sollten auch an die Menschen erinnern, für die diese Transformation, jedenfalls ökonomisch und sozial, kein Erfolg war. Dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, zu den eindeutigen ökonomischen Gewinnern zählen, das muss ich, glaube ich, an dieser Stelle nicht betonen. Es ärgert mich deshalb, wenn ich manche Debatten erlebe, in denen so getan wird, als wäre die EU-Osterweiterung für uns eine Belastung gewesen. Wenn es ein Land gibt, das der ökonomische Gewinner des Ganzen ist, dann ist es die Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht sollten wir als Politikerinnen und Politiker lernen, dies den Bürgerinnen und Bürgern etwas öfter zu sagen und zu erklären, statt in Stammtischmanier populistisch mit der Angst vor Integration und Öffnung des Arbeitsmarktes zu spielen, wenn es uns vor Wahlen gerade passt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt noch einen anderen Punkt, den ich an dieser Stelle betonen möchte. Ich habe bei der EU-Osterweiterung manchmal das Gefühl gehabt, dass ich etwas erlebe, was man zumindest in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung auch in Deutschland erleben konnte: Ich hatte den Eindruck, dass die alten politischen Eliten in Westdeutschland und in Westeuropa gar nicht begriffen haben, welch ein Geschenk die Erweiterung ist. Ich habe sehr oft die Attitüde erlebt, als müssten uns die „armen Brüder und Schwestern aus dem Osten“ dankbar sein, dass wir sie in die Europäische Union aufgenommen haben. Ich glaube, eine weitere Lehre aus der Geschichte sollte sein, dass sich Europa grundlegend verändert hat. Wir sollten dankbar sein, dass uns die Menschen, die noch 44 Jahre länger als wir hinter dem Eisernen Vorhang leben mussten, bereichern: mit ihrer Kultur, aber auch mit ihrem unbedingten Willen zur Freiheit, von dem wir uns manchmal auch eine Scheibe abschneiden könnten, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bei vielen dieser Menschen handelte es sich um große Persönlichkeiten – ich nenne Vaclav Havel, Lech Walesa, Tadeusz Mazowiecki oder auch Alexander Dubcek –, die uns stellvertretend für die Menschen in ihren Ländern bereichert haben. Deshalb sollten wir uns deutlich vor Augen führen: Die Erweiterung der Europäischen Union war nicht der Anschluss der Ostgebiete, sondern eine Veränderung. Diese Veränderung sollten wir wirklich verinnerlichen, und zwar als eine große Chance, von den Menschen in Mittel- und Osteuropa etwas zu lernen, und wir sollten sie nicht bevormunden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte zum Schluss meiner Ausführungen sagen: Ich würde mir wünschen, dass uns die positiven Erfahrungen mit der EU-Erweiterung und die Tatsache, dass die Menschen in den Transformationsländern zu uns wollten, weil sie wussten, dass hier die Werte von Demokratie und Freiheit gelebt werden, etwas mehr Mut geben. Sie können uns nämlich deutlich machen, dass es Demokratie und Freiheit nicht umsonst gibt, dass man für sie kämpfen muss und dass man für sie manchmal – daran sollte man in diesen Tagen denken – auch Opfer bringen muss. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Nietan. – Nächster Redner: Dr. Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die EU-Osterweiterung ist zweifelsfrei eine Erfolgsgeschichte. Die unbestreitbar positiven Auswirkungen für die EU, für die Bundesrepublik und für die neuen Mitgliedstaaten wurden bereits hinlänglich ausgeführt. Dem schließe ich mich vorbehaltlos an, ohne alles erneut zu wiederholen. Ausdrücklich, Frau Kollegin Baerbock, schließe ich die Länder der 2007er-Erweiterung, Rumänien und Bulgarien, mit ein. Die Europäische Union wäre heute politisch und strategisch wesentlich schlechter aufgestellt, wenn es diese Erweiterungsrunden nicht gegeben hätte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Klar: Es gibt noch zu lösende Herausforderungen. Für die Länder, die Schwierigkeiten haben, stellt gerade die Europäische Union Instrumente bereit, die ohne eine Mitgliedschaft nicht zur Verfügung stehen würden. Diese Länder befinden sich dank der Europäischen Union auf einem guten Weg. Der Tag der EU-Osterweiterung, der 1. Mai 2004, war ein guter Tag für Europa. Er war ein Tag zum Feiern. Auch der zehnte Jahrestag dieses einmaligen Ereignisses ist es, wenn auch leider nicht so sorgenfrei wie zu Beginn dieses Kapitels neuerer europäischer Geschichte. Zur Erweiterungspolitik gehört schon lange auch die Nachbarschaftspolitik und damit auch der Bereich der Assoziierungsabkommen, die von manchem schon als erster Schritt hin zu einer Vollmitgliedschaft in der EU missverstanden werden. Wir mussten feststellen, dass das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine anscheinend Anlass bietet, handfeste Konflikte in Europa auszulösen, auch wenn die russische Regierung – die hier als Aggressor auftritt – als Grund den Schutz ihrer Landsleute in der Ukraine vorschiebt. Nach einem solchen Bruch kann es kein Weiter-so geben. Die Erweiterungspolitik der Europäischen Union, die Frieden, Sicherheit und Wohlstand bedeutet, darf aus Anlass der Krise in der Ukraine nicht nachträglich umgedeutet werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die falschen Argumente, Herr Kollege Hunko, für eine solche Umdeutung sind zahlreich: Es wird behauptet, man hätte wissen müssen, dass sich Russland von der Erweiterung der EU bzw. der NATO nach Osten „irgendwann bedroht fühlen würde.“ Oder allgemeiner: Man hätte auf die „russischen Befindlichkeiten“ stärker Rücksicht nehmen müssen. Derartige Argumente deuten die friedliche Erweiterung der Europäischen Union in einen aggressiven Akt und in eine Verletzung territorialer Interessen anderer um, und das ist falsch. Sogleich folgt das Argument, man hätte Moskau zumindest besser in den Prozess der Osterweiterung einbinden müssen. Dazu sind zwei Dinge zu sagen: Erstens ist Russland umfangreich einbezogen worden: Es wurde ein NATO-Russland-Rat gegründet; es wurde entsprechend dessen Gründungsdokument von 1997 bis heute verfahren. Es wurden keine Kampftruppen dauerhaft in den neuen Mitgliedstaaten stationiert. Russland wurde in die G 8 integriert. Zweitens – viel wichtiger – darf trotz aller notwendigen Einbeziehung Russlands ein wichtiger Grundsatz nicht übersehen werden: Über die Beziehungen zu ihren Nachbarn verhandelt die EU nicht mit Dritten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich hätte mir noch vor wenigen Monaten nicht vorstellen können, dass es erforderlich wird, solche einfachen Wahrheiten, die schon vor Jahrzehnten abgehandelt schienen, ständig wiederholen zu müssen. Kollege Krichbaum hat vor wenigen Tagen sehr treffend formuliert: Was in Russland passiert, ist ein Rückfall in Breschnews Zeiten. Aber Breschnew ist tot und seine Doktrin sollte es ebenfalls sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Europa und die NATO sehen sich durch diese Aggression ihrerseits gezwungen, auch über verteidigungspolitische Maßnahmen nachzudenken, von denen ich hoffte, dass sie der Vergangenheit angehören. Der NATO-Generalsekretär betont gar, Russland habe seine Verteidigungsausgaben um 30 Prozent erhöht, während einige europäische Verbündete ihre Verteidigungsausgaben um 40 Prozent gekürzt hätten. Meine Damen und Herren, ein neues Wettrüsten darf es nicht geben! (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Na also!) Denn unbestreitbar bleibt: Die EU muss eine politische Antwort ohne militärische Eskalation auf die neue Situation finden und einer Spaltung Europas, auf die Russland offenkundig hinarbeitet – einer Spaltung an den Bruchstellen des Balkans –, entgegenwirken. Wie könnte diese Antwort aussehen? Oder anders: Was für eine Erweiterungspolitik wollen wir? Wir sind mit der europäischen Erweiterungs-, Partnerschafts- und Assoziierungspolitik an einem Punkt angelangt, an dem wir erneut nachdenken müssen. In unserem Europaplan, meine Damen und Herren, stellen wir fest, dass die Europäische Union mit 28 Mitgliedstaaten derzeit an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt ist. Gerade durch die aktuelle Krise müssen wir ebenso feststellen, dass wir selten ein größeres Interesse daran hatten, die Nachbarn der EU an uns zu binden und so für Stabilität zu sorgen. Es muss ein Angebot geben, das eine vertiefte, dauerhafte Koexistenz schafft und gegenseitige Interessen -berücksichtigt, ohne zwingend eine sofortige Beitrittsperspektive zu eröffnen. Die bisherige europäische Nachbarschaftspolitik und die Östliche Partnerschaft werden diesen Anforderungen derzeit nicht umfassend gerecht. Wir müssen sie weiterentwickeln. Die Nachbarschaftspolitik als Teil der Erweiterungspolitik sollte zum Beispiel die Zivilgesellschaft stärker als bisher in den Fokus nehmen. Ich habe in den vergangenen Tagen und Wochen in Deutschland und in der Ukraine mit betroffenen Menschen sprechen können – mit Ukrainern und mit Russen. Eine Aussage in diesen Gesprächen fand ich besonders treffend. Auf den russischen Propagandavorwurf, die Ukraine habe es in 23 Jahren Unabhängigkeit nicht geschafft, rechtsstaatliche Institutionen aufzubauen, lautete die treffende Antwort eines Ukrainers: Wir haben etwas viel Besseres erreicht: Wir haben mitdenkende Bürger bekommen. Mündige Bürger, die gegen korrupte und undemokratische Regierungen auf die Straße gehen, sind ebenfalls ein Garant für Demokratie und eine nachhaltige Stabilität. (Beifall bei der CDU/CSU) Hier hat Russland offenkundig Nachholbedarf. Die Ukraine steht gut da, könnte mit entsprechender Nachbarschaftsunterstützung – auch seitens Russlands – und mit Unterstützung für zivilgesellschaftliche Strukturen und im Kampf gegen Korruption aber noch wesentlich besser dastehen. Wir sollten jedoch nicht den Fehler begehen, Angebote einzuschränken. Dass Nachbarn unserer Nachbarn eigene Interessen möglicherweise verletzt sehen könnten, darf uns weder in der jetzigen Situation noch in Zukunft dazu verleiten, keine oder schlechtere Angebote zu unterbreiten. Im Gegenteil: Wir sollten die großartigen Errungenschaften hervorheben, die dazu führten, dass sich Länder aus eigenem Willen dazu entschieden haben und entscheiden, sich unserer europäischen Bündnisfamilie anzunähern und zum Beispiel Assoziierungsabkommen abzuschließen. Partner der EU zu werden, war 2004 attraktiv und ist es auch zehn Jahre später. Sollte es für die Ukraine oder andere Staaten ein Angebot einer Staatengemeinschaft für multilaterale Abkommen, Freihandelszonen oder Assoziierungsabkommen geben, die diese aus freien Stücken attraktiver als das Angebot der Europäischen Union einschätzen, dann steht es ihnen frei, diese anzunehmen. Das ist wohlverstandene Nachbarschaftspolitik. (Beifall bei der CDU/CSU) Ein Wettbewerb attraktiver Angebote kann und soll bestehen. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Warum nicht beides?) – Selbstverständlich ist beides möglich; das schließen nur Sie aus, nicht wir. Nur zur Vermeidung von Missverständnissen: Eigene nationale Interessen zu verfolgen, ist legitim. Es ist auch legitim, diese Interessen in Nachbarländern zu verfolgen. Nicht legitim ist allerdings, derartige Interessen statt durch Wettbewerb mit militärischer Aggression und medialer Irreführung durchsetzen zu wollen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dabei sind bloße Machtdemonstrationen von Soldaten und Panzern nicht einmal das Schlimmste. Russland führt einen Medien- und Informationskrieg in der Ukraine und verfolgt so das Ziel einer Spaltung der dortigen Zivilgesellschaft, was weitaus gefährlicher ist. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Schauen Sie sich einmal die Bild-Zeitung an, dann wissen Sie, was das ist!) – Ich komme auch auf Sie zurück. – Leider – das habe ich in Donezk beobachten müssen – hat Russland damit Erfolg, anscheinend auch in Deutschland. Was über russische Fernsehsender in der Ostukraine verbreitet wird, kann getrost als psychologische Kriegsführung bezeichnet werden. Es kann nicht sein, dass mittlerweile auf allen Kanälen in der Ostukraine russisches Staatsfernsehen läuft, das täglich frei erfundene Berichte sendet. Es darf auch nicht sein, dass Russland auch bei uns in Deutschland durch bekannte Methoden auf die Medienlandschaft und auf die für eine Meinungsbildung relevanten sozialen Netzwerke Einfluss nimmt und russische Propaganda ins Denken einzuschleusen versucht. Das ist heimtückisch und hinterhältig. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege. Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss. – Das ist nicht der richtige Weg und darf nicht Inhalt europäischer Nachbarschaftsbeziehungen sein. Ich fordere Russland an dieser Stelle auf, in die europäische Wertefamilie zurückzukehren und lieber Teil als Gegner einer abgestimmten Erweiterungspolitik zu werden. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Fabritius. – Nächster Redner in der Debatte: Josip Juratovic für die SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Josip Juratovic (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung und fast 25 Jahre nach Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur haben wir in der Tat allen Grund zu feiern. Vor zehn Jahren war die Skepsis allerdings groß. Warum haben wir dann trotz großer Bedenken in der Bevölkerung und im Parlament mehrheitlich für die EU-Ost-erweiterung gestimmt? Natürlich ging es uns nach 40 Jahren der Teilung Europas in zwei militärisch, alles vernichtende Maschinerien um Sicherheit und Frieden, einen Frieden durch europäische Solidarität, der auf der demokratischen Wertegemeinschaft beruht. Wir waren überzeugt, dass die Staaten Mitteleuropas die Werte der EU – das heißt: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und vor allem auch soziale Gerechtigkeit – teilen und sich mit uns ernsthaft auf diesen Weg machen wollten. Wir glaubten daran, dass diese Werte die Grundlage für eine positive gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sind. Diese Hoffnung hat sich zu unserer Freude bewahrheitet. Es hat sich gezeigt, dass überall dort, wo die Demokratie funktioniert, die wirtschaftliche Entwicklung mit großen Schritten voranschreitet und damit Sicherheit und Wohlstand wachsen. Die EU ist unmissverständlich ein Erfolgsmodell. 70 Jahre Frieden, gesichert durch die drei großen Projekte „gemeinsamer Binnenmarkt“, „gemeinsame innere Sicherheit“ und – trotz einiger Kritiker – „gemeinsame Währung“. Um den Frieden aber dauerhaft zu sichern, brauchen wir das vierte große Projekt, nämlich die soziale Sicherheit der Menschen in Europa. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diese können wir in Europa aber nur gemeinsam durch die europäischen Institutionen verwirklichen. Dazu passt, dass wir in zwei Wochen Europawahlen haben. Das Europäische Parlament ist der höchste Ausdruck der europäischen Demokratie. Leider wird das -Europäische Parlament von Bürgern und – noch schlimmer – von einigen politisch Verantwortlichen nicht ausreichend ernst genommen. Wenn wir uns den Herausforderungen der Zukunft erfolgreich stellen wollen, brauchen wir gerade diese demokratischen europäischen Institutionen anstelle von nationalstaatlichen Egoismen. Wenn wir wollen, dass Demokratie und Parlamentarismus zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung weiterhin die Attraktivität der EU ausmachen, müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen und das Europäische Parlament stärken. Kolleginnen und Kollegen, mir ist die europäische Demokratie auch als Außenpolitiker wichtig. Den Europagedanken und demokratische Werte können wir in der Ukraine oder auf dem Westbalkan nur vertreten und einfordern, wenn wir sie vorleben. Dazu zählt übrigens auch, dass wir unsere Versprechen ehrlich und rechtsstaatlich einhalten. Ich denke dabei an unser Versprechen gegenüber den Westbalkanstaaten, sie gemäß dem Vertrag von Thessaloniki in die EU aufzunehmen und sie auf dem Weg dorthin zu unterstützen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Erlauben Sie mir, aus meiner Erfahrung als ehemaliger Jugoslawe ein paar Worte zu der Krise in der Ukraine zu sagen. Das Wichtigste für mich als Demokrat ist es, nicht zuzulassen, dass demokratische Grundwerte gegen das Völkerrecht auf nationale Selbstbestimmung ausgespielt werden. Die Prämisse ist: Individuelles Grundrecht muss vor nationalem Kollektivrecht geschützt werden, wenn wir Nationalismen verhindern wollen. Außerdem dürfen wir nicht zulassen, dass innenpolitische Schwächen der Akteure als außenpolitisches Ablenkungsmanöver zum Schaden der Ukraine genutzt werden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass die Kriegsdynamik an die Stelle des diplomatischen Dialogs tritt. Dafür möchte ich dem gesamten Haus danken, der Bundesregierung und vor allem unserem Außenminister für seine Besonnenheit und Unnachgiebigkeit im unermüdlichen Einsatz für die friedliche Lösung des Konflikts in der Ukraine. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung und zum Ende meiner Rede möchte ich sagen: Der europäische Gedanke ist mehr als die heutige Europäische Union. Frieden in Europa kann nur gesichert werden, wenn es unser Ziel ist, eines Tages eine gesamteuropäische Union zu schaffen. Die EU-Osterweiterung ist der Beweis, dass diese gesamteuropäische Vision möglich ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege. – Der letzte Redner in dieser Debatte ist Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gehrcke, es ist unstreitig, dass die damalige Sowjetunion einen großen Blutzoll geleistet hat und dass wir natürlich den sowjetischen Soldaten ebenso wie den amerikanischen und allen anderen alliierten Soldaten nach wie vor dankbar sein müssen. Die Rede von Richard von Weizsäcker hat nach wie vor Gültigkeit. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Es war eine große Rede!) – Vielen Dank für diesen Zuspruch zu einem wichtigen CDU-Politiker. – Es ist doch vollkommen klar, dass wir von einem schrecklichen Regime befreit worden sind, das einen schrecklichen Krieg in Europa begonnen hat. Das ist doch völlig unstreitig. Sie sind aber sozusagen in einem sehr großen historischen Sprung über die nachfolgende Zeit hinweggehüpft. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Behände!) – Das war nicht nur behände; es war auch ein bisschen geschichtsvergessen. Es gab danach einen sowjetischen Hegemonieanspruch über eine ganze Region. Es gab danach Stalinismus und eine kommunistische Schreckensherrschaft mit der Unterdrückung von Meinungsäußerungen und der Beherrschung anderer Länder. Herr Gehrcke, ich finde, auch Sie als bekanntlich russophiler Kollege in diesem Hause müssten anerkennen, dass die EU-Osterweiterung vor zehn Jahren der große Schlussstrich gewesen ist. In dem Sinne zitiere ich Johannes Rau, der im polnischen Parlament gesagt hat: Der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten ist aber wahrlich kein europäischer Gnadenakt. Er ist eine historische Notwendigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Johannes Rau hatte recht. Das heißt aber doch nicht, dass wir als Europäer irgendetwas gegen Russland machen wollen. Ich glaube, es ist ein Problem der russischen Perzeption dessen, was in den letzten Jahren geschehen ist, dass das aus Moskauer Sicht sozusagen als ein Akt der Einkreisung verstanden worden ist. Es gibt nicht – das hatten Sie angesprochen, Herr Kollege Hunko – das strategische Ziel der Europäischen Union, einen Hegemonialanspruch durchzusetzen, besonders groß zu sein und besonders viele Staaten aufzunehmen. Die Europäische Union ist vielmehr ein freiheitlicher Zusammenschluss freier Völker. An diesem Zusammenschluss darf kein Freund und kein Staat gehindert werden, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung? Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Nein, die Debatte hat schon lange genug gedauert. Ich weiß auch, dass viele zum Flieger müssen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Sie brauchen das gar nicht zu begründen. Also weiter. Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Es ist, glaube ich, auch ein wichtiger Punkt für die Zukunft, dass wir in der Tat durchaus in der Lage sind, uns mit der Idee anzufreunden und sie auch grundsätzlich zu teilen, dass wir von Wladiwostok bis Lissabon – ganz profan gesagt – auf einer Scholle Erde leben und deswegen auch miteinander in Frieden leben sollten und wollen. Wir können uns auf diesem Fleck Erde, der im Übrigen recht groß ist, auch einen gemeinsamen Wirtschafts- und Rechtsraum vorstellen. Das ist alles machbar. Aber es ist nicht machbar, wenn man wieder mit nationalistischem und nationalem Gedankengut arbeitet. Das musste man – darauf ist in der Debatte hingewiesen worden – bedauerlicherweise bei der letzten großen Rede von Präsident Putin feststellen. Auch in den russischen Medien greift wieder Nationalismus um sich. Das ist die falsche Antwort im 21. Jahrhundert. Dem sollten wir uns alle widersetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich glaube, dass wir von der Euphorie der Erweiterung, die noch in vielen Staaten zu spüren ist – der Außenminister hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass sich immer mehr Staaten dem Euro-Raum anschließen –, auch im alten Europa einiges mitnehmen können. Ich sage als jemand, der aus dem nordeuropäischen Bereich – ich lebe auf Jütland – kommt: Es erfüllt mich schon mit einiger Sorge, dass wir mit einem freundlichen Desinteresse in Europa zur Kenntnis nehmen müssen (Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – die Dänen vielleicht noch nicht so sehr –, dass beispielsweise das Königreich Dänemark zwei oder drei Opt-outs hat – ein Opt-out betrifft die Einführung des Euro; das wird einfach so hingenommen –, dass sich nur Finnland voll und ganz zur EU bekennt, dass Schweden, das kein Opt-out hat, noch nicht einmal daran denkt, den Euro einzuführen, und dass Norwegen noch nicht einmal ernsthaft daran denkt, sein Volk erneut vor die Frage zu stellen, ob es nicht klug wäre, der Europäischen Union beizutreten. Ich sage das nur beispielhaft. Man könnte auch zu Großbritannien einiges sagen. Ich glaube, dass wir uns ein solches Desinteresse nicht weiter leisten können. Es ist aus meiner Sicht bedauerlich, dass sich solche Staaten auf diese Art und Weise zurückhalten und nicht aktiv an Europa beteiligen. Wir müssen sie einladen und den Schwung der Osterweiterung nutzen, um das alte EU-Europa neu zu beleben, sowie dafür sorgen, dass sich diese Staaten zu Europa und zur Europäischen Union bekennen und dort aktiv mittun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Josip Juratovic [SPD]) Was der Kollege Juratovic gesagt hat, sollte nicht in Vergessenheit geraten. Es bereitet mir Sorge, dass der Erweiterungsprozess, der sonst immer vom Gleichschritt von Vertiefung und Erweiterung geprägt war, auf dem Balkan nicht vorankommt. Beispiel Mazedonien. Seit vier Jahren sagt die Europäische Kommission, dass die Beitrittsverhandlungen begonnen werden können. Aber Griechenland sagt, dass es solche Verhandlungen wegen des Namensstreits nicht will. Auch so etwas können wir nicht einfach nicht beachten oder akzeptieren. Wir müssen dem entgegentreten und sagen: Alle, die für Europa sind, müssen eine Chance haben, beizutreten. (Beifall des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/CSU]) Der Westbalkan hat ein entsprechendes Versprechen in Thessaloniki bekommen. Wir müssen es einhalten. Wir sollten den Schwung aus der Osterweiterung nutzen, um das alte Europa wieder zu beleben, und auf dem westlichen Balkan endlich einige Schritte vorankommen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wadephul. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Herr Gehrcke. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Herr Wadephul, zuerst einmal will ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie mich zitiert und sich mit mir aus-einandergesetzt haben. Das ist anständiger parlamentarischer Brauch. Ich will auf Ihre Rede in aller Kürze mit zwei, drei Bemerkungen antworten. Ich ziehe mich nicht darauf zurück, dass ich wahrscheinlich mehr über und gegen den Stalinismus geschrieben habe, als viele andere hier im Hause gelesen haben. Stalinismus ist für mich der Gegensatz zu Sozialismus. Es gibt einen Sozialismus, der nicht mit Gewalt, sondern mit Überzeugung und Umgestaltung arbeitet sowie Kultur hervorbringt. Ich möchte nicht, dass wir mit solch einfachen Zerrbildern – ich bin wahrscheinlich etwas flott in der Geschichte vorangegangen – über bestimmte Auseinandersetzungen hinweggehen. Ich hätte mich gefreut – das wäre auch glaubwürdiger –, wenn Sie nach Ihrer richtigen Einleitung hinzugefügt hätten, dass sich auch Ihre Fraktion für den Erhalt der sowjetischen Gedenkstätten, die an den 8. Mai und 9. Mai 1945 erinnern, einsetzt. Ich finde es ein schlimmes Zeichen, dass ein Kollege Ihrer Fraktion die unangemessene Petition der Bild-Zeitung signiert und sich dabei hat abbilden lassen. Dazu haben Sie nichts gesagt. Es wäre viel glaubwürdiger, wenn Sie beide Seiten ansprechen würden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Es wäre sehr viel glaubwürdiger, wenn wir nicht nur – zu Recht, wie ich finde – den Nationalismus in Russland kritisierten – viele Töne, die ich aus Russland höre, sind kritikwürdig und müssen kritisiert werden, gerade wenn man selber in Russland ist und dort agiert; von mir stammt der Ausdruck „lupenreiner Demokrat“ nicht –, sondern mit der gleichen Elle auch den Nationalismus in anderen Staaten zum Beispiel in der Europäischen Union messen und in gleicher Schärfe zurückweisen würden. Wir zeigen immer nur auf andere, bevorzugt auf Russland. Das macht uns nicht glaubwürdiger, sondern gibt anderen die Chance, unsere Kritik zurückzuweisen. Ich möchte eine entsprechend veränderte Politik. Ich bitte Ihre Fraktion, darüber nachzudenken, ob sie sich nicht einen Ruck geben will. Ich will jetzt niemanden auffordern, zu dem Denkmal hinüberzugehen, an dem heute Kränze niedergelegt werden. Setzen Sie ein Signal, dass Sie an den 8. Mai 1945 erinnern und an dieser großen Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker festhalten! Diese Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker war ein geschichtlicher Sprung, und davon können sich heute viele eine Scheibe abschneiden. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege. – Dr. Wadephul. Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): In aller Kürze: Ich habe ganz klar gesagt, wie ich den 8. Mai 1945 nach wie vor sehe. Das ist doch völlig unstreitig. Ich persönlich setze mich auch nicht dafür ein, dass dieses Denkmal entfernt wird. Ich kann nur für meine Person sprechen. Beschlüsse der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dazu gibt es nicht. Ich kann uns alle nur ermutigen, dass wir uns der historischen Vergangenheit stellen, und Sie beispielsweise einladen, dass auch Sie in den Verein eintreten, der die Erinnerung an Hohenschönhausen aufrechterhält. Sie sind herzlich willkommen, in diesen Verein einzutreten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Ich bin Mitglied in dem Verein und glaube, dass auch diese Erinnerung zur deutschen Geschichte gehört. Wenn wir sehen, welche Missetaten und welche Menschenrechtsverletzungen es in der deutschen Geschichte gegeben hat, dann sollten wir uns gemeinsam dafür einsetzen, all dieser Taten zu gedenken. Das wäre ein gutes Ziel. Die Bundeskanzlerin ist vor einigen Jahren – ich weiß die Jahreszahl nicht mehr ganz genau – bei der Parade in Moskau gewesen. Ich glaube, das ist ein beispielloser Akt gewesen. Dafür ist der Bundeskanzlerin noch heute sehr herzlich zu danken. Wir stehen dazu und sind stolz darauf, dass wir eine solche Bundeskanzlerin haben. Gleichermaßen kann man es, um es mit den Worten der Kanzlerin zu sagen, nur schade finden, dass gerade an solch einem Tag Präsident Putin es offensichtlich für erforderlich hält, sich auf der Krim zu zeigen. Das zeigt, dass er eigentlich doch noch nicht die Geschichte richtig verstanden hat. Darüber sollten vielleicht auch Sie, lieber Herr Kollege Gehrcke, noch einmal nachdenken. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege. – Vielen Dank auch an das ganze Haus. Ich glaube, bei allen Kontroversen, die wir auch in europäischen Fragen haben, müssten wir unseren Gästen vermittelt haben, dass hier im Haus ein europäischer Geist herrscht und dass wir den Wert Europas und der Integration sehr hoch einschätzen. Das sage ich sehr bewusst für das gesamte Haus in Zeiten, in denen draußen Plakate von Leuten hängen, die dieses Europa an die Wand fahren wollen. Vielen Dank dem ganzen Haus für diese wichtige europäische Debatte. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich bitte, jetzt wieder die Plätze einzunehmen, wobei ich alle Redner, die über das Thema Europa gesprochen haben, einladen möchte, sich auch von der Vorratsdatenspeicherung ein Bild zu machen. – Ich bitte, Gespräche, die nichts mit dem nächsten Tagesordnungspunkt zu tun haben, jetzt zu unterbrechen oder draußen weiterzuführen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäischen Grundrechtsschutz gewährleisten – Nationale Vorratsdatenspeicherung verhindern Drucksache 18/1339 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Petra Sitte, Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Endgültig auf Vorratsdatenspeicherung verzichten – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Katja Keul, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorratsdatenspeicherung verhindern Drucksachen 18/302, 18/381, 18/999 Interfraktionell sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in der Debatte ist Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, es geht gleich weiter mit Europa. – Nachdem das Bundesverfassungsgericht bereits 2010 festgestellt hatte, dass die deutsche Umsetzung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gegen Artikel 10 Grundgesetz, also das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, verstieß, hat jetzt auch der EuGH entschieden, dass die Richtlinie selbst einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in Artikel 7 und 8 der Charta der Grundrechte der EU darstellt. Nach Artikel 7 haben die Staaten der EU die Vertraulichkeit der persönlichen Kommunikation zu achten und nach Artikel 8 die Pflicht, personenbezogene Daten zu schützen. Beide Grundrechte sieht der EuGH unter anderem dadurch als verletzt an, dass die Vorratsdatenspeicherung auch für Personen gilt, bei denen keinerlei Anhaltspunkt dafür besteht, dass ihr Verhalten in einem auch nur mittelbaren oder entfernten Zusammenhang mit Straftaten stehen könnte. Das Gericht kritisiert, dass nunmehr alle Verkehrsdaten betreffend Telefonnetz, Mobilfunk, Internetzugang, E-Mail und Internettelefonie auf Vorrat zu speichern seien. Die Vorratsdatenspeicherung gelte somit für alle elektronischen Kommunika-tionsmittel, deren Nutzung stark verbreitet und im täglichen Leben jedes Einzelnen von wachsender Bedeutung ist. Außerdem erfasse sie alle Teilnehmer und registrierten Benutzer. Sie führe daher zu einem Eingriff in die Grundrechte fast der gesamten europäischen Bevölkerung. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!) So die Begründung des EuGH. Damit ist klar: Eine Differenzierung muss nicht erst beim Zugriff des Staates auf die gespeicherten Daten, sondern bereits bei der Speicherung selbst erfolgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Gericht kritisiert ausdrücklich, dass die Vorratsdatenspeicherung weder auf Daten eines bestimmten Zeitraumes oder eines bestimmten geografischen Gebietes oder eines bestimmten Personenkreises beschränkt ist. Was das heißt, dürfte klar sein: das dauerhafte Ende der Vorratsdatenspeicherung, die gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass sie flächendeckend und ohne Anlass erfolgt. Wenn vorab überprüfbar geregelt wird, wer wann wieso und warum ins Visier der Speicherung gerät, ist es eben keine Vorratsdatenspeicherung mehr. Die Richtlinie ist auch nicht nachzubessern. Sie ist schlicht nichtig. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) Nicht erst der fehlende Richtervorbehalt beim staatlichen Zugriff auf die gespeicherten Daten ist ein Rechtsverstoß. Der EuGH macht klar: Die undifferenzierte Speicherung ist eine Grundrechtsverletzung, der staatliche Zugriff auf die Daten ist eine weitere. Er verweist in diesem Zusammenhang interessanterweise auf frühere Richtlinien, wonach die Kommunikationsanbieter verpflichtet wurden, sämtliche Daten zu löschen oder zu anonymisieren, sobald sie für die Übertragung einer Nachricht nicht mehr benötigt werden, ausgenommen die zur Gebührenabrechnung erforderlichen Daten, und das auch nur, solange sie dafür benötigt werden. Die Vorratsdatenspeicherung wäre damit genau das Gegenteil des bisherigen EU-Rechts gewesen. Weil die Richtlinie gegen die Grundrechte verstößt und nichtig ist, hat die EU-Kommission diese Woche ihre Klage wegen der mangelnden Umsetzung gegen die Bundesrepublik Deutschland zurückgezogen. Schon wieder ein paar Millionen Euro, die Schäuble nicht bezahlen muss; das ist doch eigentlich schön. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Super!) Dennoch verabschieden ausgerechnet heute die Innenexperten der Union die sogenannte Erfurter Erklärung, wonach sie nach wie vor auf eine nationale Vorratsdatenspeicherung bestehen, nach dem Motto „Jetzt erst recht“, (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja völlig verrückt!) als ob die nationalen Grundrechte einen geringeren Schutz bieten würden als die europäischen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Europarechtswidrige Beschlüsse kurz vor der Europawahl!) Ich glaube kaum, dass die Verfassungsrichter in Karlsruhe für eine solche Interpretation zur Verfügung stehen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ganz sicher, Frau Kollegin!) Was ist das eigentlich für ein Rechtsstaatsverständnis? Sind wir nicht alle an Recht und Gesetz gebunden? Reicht es nicht, wenn bereits zwei oberste Gerichte das Vorhaben disqualifiziert haben? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU) Regelrecht unanständig finde ich es, wenn von manchen in diesem Zusammenhang der Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch instrumentalisiert wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Warum ist der Schutz von Kindern unanständig?) Auch ich bin der Meinung, dass gegen Kinderpornografie mehr getan werden kann und muss. Deswegen prüfen wir gerade, ob hier noch Strafbarkeitslücken bestehen, die geschlossen werden sollten. Wir haben aber auch feststellen müssen, dass in den Kellern der Ermittlungsbehörden Hunderte Festplatten mit Tausenden von Gigabyte an sichergestelltem Material aus Ermittlungsverfahren wegen Kinderpornografie liegen, die mangels Kapazitäten nicht ausgewertet werden können. (Dr. Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Das eine schließt doch das andere nicht aus!) Vielleicht sollten wir in diesem Zusammenhang wieder einmal über die Stärkung der chronisch unterfinanzierten Justizbehörden reden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich glaube außerdem nicht, dass die anlasslose Speicherung sämtlicher Kommunikationsdaten es einfacher machen würde, die strafrechtlich relevanten Daten in der Flut irrelevanter Daten zu identifizieren. Es ist nämlich ein Irrtum, zu glauben: Mehr bringt mehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Der Größenwahn der NSA hat den Planeten auch nicht sicherer gemacht, im Gegenteil. Es ist ein weiterer Irrtum, zu glauben: Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten. Wir fangen erst ganz langsam an, zu verstehen, welche Macht derjenige über uns hat, der über unsere Daten verfügt. Gerade da wollen Sie die Provider, die nichts anderes sind als wirtschaftlich handelnde Akteure, dazu verpflichten, noch mehr Daten über uns zu speichern? (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir wollen Datenschutz!) Dabei hätte der Staat nicht einmal Einfluss darauf, wo auf der Welt die Provider diese Daten speichern. Sie könnten uns vor dem Missbrauch dieser Daten nicht ansatzweise schützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) Was unser Leben wirklich sicherer machen würde, ist ein funktionierender Rechtsstaat, dem die Bürgerinnen und Bürger vertrauen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Den haben wir!) – Ja, den haben wir, genau. – Nichts gefährdet die Sicherheit mehr als gegenseitiges Misstrauen. Deswegen funktioniert der Rechtsstaat auch genau andersherum: erst der überprüfbare Anlass und dann die staatlichen Ermittlungen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie misstrauen doch!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Und dann das Ende Ihrer Rede! Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss. – Unser Rechtsstaat kennt keine Ermittlung auf Vorrat und braucht deswegen auch keine Speicherung auf Vorrat. Lassen Sie uns dieses Kapitel endgültig abschließen! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, Augsburg. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 8. April hat der Europäische Gerichtshof die Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt. Das ist auch für uns Anlass, über das Thema besonnen und mit dem nötigen Respekt zu diskutieren. Es gilt nach wie vor: Die Speicherung von Verbindungsdaten kann zur Aufklärung schwerster Straftaten sinnvoll sein, und in manchen Punkten ist sie auch notwendig. Das formulieren nicht allein die Innenminister vieler Länder, sowohl von der Union als auch von der SPD, sondern auch besonnene Kriminalbeamte, Vertreter von Sicherheitsbehörden und diejenigen, die sich tagtäglich mit dem Kampf für unsere Freiheit beschäftigen. (Beifall bei der CDU/CSU) Diese Formulierung wird gewählt, nicht weil es darum geht, Daten zu sammeln, als Selbstzweck, oder zu überwachen, sondern um die Freiheit zu verteidigen und dem Rechtsstaat durch den Schutz der Opfer Geltung zu verschaffen. Ich darf in dem Zusammenhang an die jetzige Rechtslage erinnern: Im Augenblick ist es so, dass der Staat nach richterlichem Beschluss sehr wohl die Möglichkeit des Zugriffs auf die Verbindungsdaten hat, es aber vom Zufall abhängig ist, ob die Verbindungsdaten noch vorhanden sind oder schon gelöscht wurden. Ich meine, eine rechtsstaatliche Aufklärung kann nicht allein eine Frage des Glücksspiels sein, ob nämlich die Daten schon gelöscht worden sind, sondern es braucht dazu klare rechtsstaatliche Regelungen. Dennoch gilt es, vor dem Hintergrund des Schutzes der Grundrechte besonnen und sehr überlegt zu handeln. Gesetzgeberisches Handeln im Kernbereich der Grundrechte verlangt kluges Nachdenken, hohe Sensibilität und eine umfassende Abwägung. Wir wollen deswegen vor dem Hintergrund der beiden Urteile kein vorschnelles Handeln, sondern ein klares und kluges Reflektieren über die Frage: Wie können wir die Feinde unserer Freiheit im Internet am besten bekämpfen, ohne dass wir den Datenschutz verletzen und ohne dass wir zu sehr in die Freiheit und die Grundrechte der Bürger eingreifen? (Beifall bei der CDU/CSU) Da mag eine Mindestspeicherdauer der Daten ein richtiger und gesetzgeberisch notwendiger Ansatz sein. Wir müssen uns aber auch überlegen, ob andere Formen, vielleicht sogar modernere Technologien, nicht den gleichen Effekt haben, ohne in gleicher Weise intensiv in die Grundrechte einzugreifen. Auch dieser Überlegung stellen wir uns, weil wir diese Frage besonnen und nicht mit Alarmismus angehen. Es ist nämlich nicht redlich, in der Debatte um die Mindestspeicherfristen immer wieder eine Parallele zur NSA zu ziehen. (Jan Korte [DIE LINKE]: Doch!) Dort handelt es sich um die anlasslose Massenüberwachung durch staatliche Stellen, und bei uns geht es um die Frage, wie staatliche Behörden bei der Bekämpfung schwerster Straftaten innerhalb einer kurzen Frist auf Daten, die ohnehin gespeichert sind, zugreifen können. Wer das vermischt, schürt Angst und arbeitet unredlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD]) Meine Damen und Herren, es ist jetzt klug, die Analyse der beiden Ministerien abzuwarten. Es gibt auch gute Gründe, darauf zu warten, was nach den Europawahlen vonseiten der Europäischen Union geschieht. Das Thema Vorratsdatenspeicherung kann zwar auf nationaler Ebene angegangen werden und muss es vielleicht auch. Es ist aber sinnvoll, diese Angelegenheit auch im europäischen Rahmen zu besprechen, weil wir in Europa eine gemeinsame Verpflichtung haben, Kriminalität schwerster Art zu analysieren und zu bekämpfen. Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute vor dem Hintergrund des Schutzes von Grundrechten und unserer Privatsphäre. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass der Rechtsstaat auch dann verteidigt und unsere Freiheit gestärkt wird, wenn wir Opfer schützen und die Täter schwerster Kriminalität nach rechtsstaatlichen Maßstäben ihrer Strafe zuführen. Das ist unsere Verpflichtung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Herr Kollege Ullrich. – Nächster Redner in der Debatte ist Jan Korte für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jan Korte (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte wird aus folgendem Grund noch interessant werden: Bei Ihrem Redebeitrag, Herr Ullrich, hat von Ihrem Koalitionspartner nur Burkhard Lischka einmal kurz und zaghaft geklatscht. Deswegen sind wir natürlich sehr gespannt darauf, was die heutige Position der Sozialdemokratischen Partei zur Vorratsdatenspeicherung ist. (Dr. Eva Högl [SPD]: Die ist ziemlich klar!) Sie waren sonst immer dafür. Vielleicht sind Sie jetzt dagegen. Dann würden wir Sie unterstützen. Nun aber zum Thema. Ich kann mich noch gut an meine allererste Rede hier im Bundestag im Jahre 2005 erinnern. Auch sie galt der Vorratsdatenspeicherung. Sie war, fand ich, inhaltlich überzeugend und gut. Rhetorisch war sie sehr schlecht. Ich will damit aber sagen: Seit 2005 haben wir Ihnen als Opposition in wechselnder Zusammensetzung mehrfach das gesagt, was Sie nun höchstrichterlich gleich zweimal aufs Butterbrot geschmiert bekommen haben. Das wäre doch in der Tat für die Konservativen heute Anlass, einmal in sich zu gehen und darüber nachzudenken, ob sie ihre Position nicht korrigieren und dem EuGH sowie dem Bundesverfassungsgericht folgen sollten. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU) – Das war ein freundlich gemeinter Hinweis, um in einen kritischen Dialog zu treten. Nach dem Bundesverfassungsgericht hat der Europäische Gerichtshof in der Tat in einer noch viel deutlicheren Art und Weise klar gesagt, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gegen das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten verstößt. Das muss man doch zur Kenntnis nehmen. Was machen Sie? Sie stellen sich hin und sagen: Das ist uns alles völlig schnurzpiepegal, wir machen es jetzt trotzdem. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht! Das ist völlig unsachlich, was Sie da vortragen!) Wir machen das weiter. Mal gucken, was die SPD dazu macht. Erstens. Bei der Vorratsdatenspeicherung – das muss man vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen – werden Kommunikationsanbieter dazu verpflichtet, all diese Verbindungsdaten anlasslos und verdachtsunabhängig – das ist doch der eigentliche Kern; damit wird der Rechtsstaat auf den Kopf und nicht auf die Füße gestellt – zu speichern. Das ist logischerweise nichts anderes als ein Generalverdacht gegen alle in Europa und Deutschland lebenden Menschen. Man kann das doch allen Ernstes nicht zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Ich möchte etwas ansprechen, das in der Debatte ein wenig unterbelichtet gewesen ist. Viele Journalisten und Journalistenverbände haben jetzt darauf aufmerksam gemacht, dass die Vorratsdatenspeicherung ein enormer Anschlag auf die Pressefreiheit ist, weil nämlich Quellenschutz nicht mehr gewährleistet werden kann bzw. weil Kontakte von Journalisten zu Whistleblowern – oder was weiß ich zu wem – nachvollzogen werden können. Auch das gilt es zu beachten. Drittens. Es gilt – das ist, wie ich finde, auch eine wichtige Frage – zu beachten, dass beispielsweise all die anonymen Seelsorge- und Beratungsstellen – diese Institutionen sind für viele Leute in Krisensituationen extrem wichtig –, die logischerweise maßgeblich über das Telefon arbeiten, gefährdet sind. Im Zweifel wird man nicht mehr anrufen, weil man nicht weiß, was wann und wo über einen aufs Tableau kommt. Auch das gilt es, finde ich, zu beachten. Viertens. Wir haben schon bei der ersten Lesung der Anträge der Grünen und der Linken vor einigen Wochen darauf aufmerksam gemacht – auch das wird von Ihnen offenbar nicht zur Kenntnis genommen, was einen ein Stück weit fassungslos macht –, dass die kriminologische Abteilung des Max-Planck-Instituts ohne Interpretationsspielraum nachgewiesen hat, dass es seit dem Wegfall der Vorratsdatenspeicherung in keiner Hinsicht eine Schutzlücke gibt. Die gibt es einfach nicht. Das müssen Sie doch einmal zur Kenntnis nehmen. Abgesehen von der Grundrechtsfrage ist offensichtlich auch wissenschaftlich nachgewiesen worden, dass man die Vorratsdatenspeicherung für eine Ermittlung in diesem Umfang nicht braucht. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ein Gutachten! Da gibt es viele andere!) Es ist doch unfassbar, dass Sie das nicht zur Kenntnis nehmen. Seit 2005 tragen wir Ihnen das vor. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Zur Kenntnis nehmen wir das! Wir ziehen nur andere Schlussfolgerungen!) Sie nehmen das nicht zur Kenntnis und reden so, wie Sie 2005 auch schon geredet haben. Es ist nun wirklich sehr bedauerlich, dass es dort keinerlei Weiterentwicklung im Denken gibt. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!) Fünftens. Die Gerichte sind nun zum zweiten Mal deutlich eingeschritten. Ja, der Hinweis ist natürlich richtig: Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, dass es per se unzulässig ist. (Marian Wendt [CDU/CSU]: Auch der EuGH!) Aber es hat auch nicht gesagt: Liebes Parlament, bitte führt in einer abgespeckten Variante eine Vorratsdatenspeicherung ein. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das wäre ja auch noch schöner! Das ist Ihre Version!) Das hat es dezidiert nicht getan. Wir sind jetzt an einem Punkt – da sind ausnahmsweise Sie einmal gefragt –, an dem man nicht alles, was juristisch erlaubt und technisch möglich ist, auch machen muss. Damit sind wir beim Kern der parlamentarischen Arbeit. Das müssen Sie jetzt entscheiden. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben uns entschieden!) Wir als Linke haben als Opposition eine klare Position dazu. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt haben Sie den Dreh gekriegt! Juristisch ist es erlaubt! Sehr schön!) Die ist von allen möglichen Kreisen – der Justiz, der Wissenschaft und der Bevölkerung – bestätigt worden. Es wäre schön, wenn Sie heute den Anträgen, die von Linken und Grünen vorgelegt wurden, folgen würden; denn dann könnten wir uns diese mittelaufregenden Debatten in Zukunft sparen und müssten nicht noch weitere Gerichtsurteile abwarten. Zusammengefasst: Erstens. Verzichten Sie endlich auf jegliche Form von Vorratsdatenspeicherung, ob auf europäischer oder auf nationaler Ebene. Das untergräbt den Rechtsstaat. Schluss damit! (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Nutzen wir als Parlamentarier – das wäre eine wirkliche Aufgabe für den Bundestag, weil von der Bundesregierung dazu natürlich gar nichts zu erwarten ist – doch das EuGH-Urteil, um einmal in uns zu gehen und alle Sicherheitsgesetze, die seit 9/11 erlassen worden sind, zu überprüfen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Jan Korte (DIE LINKE): Das ist natürlich schade. Ich hatte noch ein paar Hinweise für die Koalition. – Nutzen wir das, um alle Gesetze noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und zu schauen: Sind sie verhältnismäßig gewesen? Inwieweit haben sie den Rechtsstaat beschädigt? Brauchen wir sie überhaupt? Dazu sind wir auf jeden Fall bereit. Es wäre schön, wenn man das in den Reihen des Parlaments gemeinsam machen könnte. Wir sind der Auffassung, dass wir in Europa und Deutschland mit dem EuGH-Urteil eine Zeitenwende hin zu mehr Datenschutz und Bürgerrechten einleiten sollten. Es wäre schön, wenn Sie dabei ausnahmsweise einmal mitmachen würden. Danke. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Christian Flisek das Wort. (Beifall bei der SPD) Christian Flisek (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Heute ist Europatag. Der 9. Mai wird in Europa gefeiert, weil Robert Schuman damals seinen Plan für eine Vergemeinschaftung der Kohle- und Stahlindustrie vorlegte. Das geschah vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die man im Zweiten Weltkrieg gemacht hatte. Das, was damals Kohle und Stahl waren, sind heute, im 21. Jahrhundert, die Daten. Daten sind die Rohstoffe einer digital vernetzten Wirtschaft. Daten sind aber auch Objekte des Zugriffs durch Sicherheitsbehörden und Geheimdienste, die sich dafür interessieren, und das geschieht nicht nur innerhalb nationaler Grenzen, sondern in einem weltweiten Maßstab. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Frage nach der technischen und wirtschaftlichen Zukunft Europas in einer digitalisierten Welt und des damit einhergehenden Grundrechtsschutzes ein zutiefst europäisches Thema ist. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Ich glaube, dass diese Debatte auch ein zutiefst globales Thema ist. Deswegen müssen wir diese Debatte um die Vorratsdatenspeicherung auch in einem solchen Kontext diskutieren. Datenströme in einer globalen Welt kennen keine Grenzen. Diese Erkenntnis mutet vielleicht banal an. Sie hat aber weitreichende Konsequenzen für die Beantwortung der Frage, wie wir uns politisch aufstellen müssen, wenn wir einen effektiven Grundrechtsschutz europäisch und global gewährleisten wollen. Ich persönlich begrüße das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 8. April 2014 zur Vorratsdatenspeicherung ausdrücklich, weil ich es als einen ganz wichtigen Beitrag zur Ausgestaltung eines europäischen Grundrechtsschutzes im digitalen Zeitalter halte. Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch das äußerst besonnene Vorgehen unseres Bundesjustizministers Maas. (Beifall bei der SPD) Es war sehr klug, hier keine Schnellschüsse im nationalen Alleingang zu produzieren. Es war sehr klug, abzuwarten und nicht in politischen Aktionismus zu verfallen. Ich betone ausdrücklich: Es ist auch ein Zeichen von Respekt vor den höchsten Gerichten in Europa, dass wir in anhängige Verfahren nicht mit irgendwelchen Beschlüssen hineinpfuschen, sondern abwarten, was diese Gerichte urteilen und sagen. Dieses kluge politische Handeln gilt es meiner Ansicht nach jetzt fortzusetzen. Wir alle wissen nach dem Lesen des Urteils: Der -Europäische Gerichtshof hat mit diesem Urteil kein Verbot der Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Er hat aber erhebliche Flanken gesetzt. Man muss, glaube ich, kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass aufgrund dieser Tatsache die Debatte nicht vom Tisch ist. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso denn das? – Jan Korte [DIE LINKE]: Wir könnten sie heute beenden!) – Wir könnten sie heute, glaube ich, nicht beenden. – Es war sehr unklug, sich im Vorfeld des EuGH-Urteils in dieser Form zu äußern. Es ist auch sehr unklug, sich im Vorfeld der Europawahlen und einer neuen Europäischen Kommission mit aktionistischen Anträgen und durch nationale Alleingänge zu äußern. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich bin davon überzeugt – das meine ich wirklich ernst –, dass, wenn wir einen wirksamen Beitrag zu einem effektiven Grundrechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger in Europa leisten wollen, wir in dieser Debatte ideologisch ein wenig abrüsten müssen. Wir müssen auf der Grundlage dieses Urteils in einen intensiven Dialog mit unseren europäischen Partnern treten. Folgendes sage ich an die Adresse von Herrn Kollegen Korte, Frau Kollegin Keul und der Opposition: Wir müssen uns ein Stück weit ehrlich machen und nicht immer so tun, als würde die Zukunft der digitalisierten Welt allein hier im deutschen Parlament entschieden werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der NSA-Skandal zeigt doch sehr deutlich die Begrenztheit nationaler Regelungen auf. (Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist trivial, ja!) Wenn wir mit der Forderung, die Grundrechte auf der Basis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes weltweit oder zumindest in Europa effektiv durchzusetzen, wirklich ernst machen wollen, dann müssen wir in diesen Dialog treten, (Jan Korte [DIE LINKE]: Dann müssen wir vor der Haustür anfangen!) dann müssen wir ein wenig aus den Schützengräben herauskommen. Es ist sehr wichtig, dass wir eine Position finden, mit der wir konstruktiv in die Verhandlungen auf europäischer Ebene und gerade mit unseren Partnern in den USA gehen können. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Es geht hier doch um Datenschutz!) Gefragt ist kein holzschnittartiges Schwarz-Weiß, sondern gefragt ist die Fortsetzung einer klugen Positionierung. Ich bin sehr froh, dass unser Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier den Cyberdialog mit den Vereinigten Staaten von Amerika vorgeschlagen hat. Ich halte diesen Dialog (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, der geht ab!) für ein richtiges und ein konstruktives Format, und zwar nicht nur auf Regierungsebene. Ich plädiere ausdrücklich dafür, dass wir diesen Dialog auf der Ebene von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft führen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Flisek, lassen Sie eine Zwischenfrage von Herrn Janecek zu? Christian Flisek (SPD): Ja, sehr gerne. Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Flisek, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auch die ökonomische Perspektive der Vorratsdatenspeicherung geschildert haben. Am Anfang Ihrer Rede haben Sie zu Recht davon gesprochen, dass wir eine breite Debatte führen müssen. Wir beide sind Mitglieder des Wirtschaftsausschusses. Ich stelle Ihnen deshalb die Frage, ob Sie zur Kenntnis nehmen und wie Sie es beurteilen, dass der Verband der Deutschen Internetwirtschaft, der sich ganz klar positioniert hat, und zwar nicht aus Grundrechtssicht, gesagt hat: Das Ganze kostet uns so viel, dass es uns am Ende einfach nicht weiterbringt. – Sehen Sie das auch so? Würden Sie das auch so beurteilen? Können Sie bei Ihren Kollegen von der Union, die ja gern den Mittelstand nach vorn tragen, Überzeugungsarbeit leisten, damit wir diese Position in Zukunft gemeinsam vertreten können? (Jan Korte [DIE LINKE]: Eine gute Frage!) Christian Flisek (SPD): Herr Kollege Janecek, das ist eine sehr gute Frage, um nicht zu sagen: Das ist eine exzellente Frage; (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hoffentlich wird die Antwort auch exzellent!) ich antworte gerne darauf und bin Ihnen dafür sehr dankbar. Ich denke, die Frage, wie wir damit umgehen, sollten wir – darauf habe ich hingewiesen – ein wenig entideologisieren. Wenn wir aufgrund von Abwägungen, von Studien, von Evaluierungen, aber auch aufgrund solcher Aspekte, die Sie zu Recht genannt haben – ich meine die Kosten, die wir im Zweifel zum Beispiel der privaten Internetwirtschaft aufbürden –, zu dem Ergebnis kommen – ich gehe jetzt davon aus, dass wir innerhalb der Flanken, die der EuGH eingezogen hat, einen verbleibenden Möglichkeitsraum haben –, dass innerhalb des Möglichkeitsraumes einer weiteren Vorratsdatenspeicherung auf europäischer Ebene eine solche Regelung gar nicht mehr erforderlich ist, dann ist dies ein Ergebnis, zu dem wir aufgrund rationaler Überlegungen und nicht aufgrund einer ideologisierten Debatte, wie wir sie in diesem Hause seit Jahren führen, gekommen sind. Das würde ich sehr begrüßen. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie den EuGH auch als ideologisch bezeichnen?) Denn ich glaube eines: Wenn wir die Debatte in der Art und Weise fortsetzen, wie sie hier zu Beginn wieder geführt wurde, dann leisten wir keinen Beitrag zu einem wirksamen Grundrechtsschutz. Viele Länder interessieren sich für die Debatte, die wir hier führen, überhaupt nicht. In Zeiten weltweiter globaler Kommunikation und Datenströme müssen wir schauen, dass wir auf europäischer – ich sage sogar: auf völkerrechtlicher – Ebene verbindliche Standards schaffen. Das ist ein konstruktiver Beitrag. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich appelliere, weil meine Redezeit zu Ende geht: Lassen Sie uns ein wenig ideologisch abrüsten! Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir uns innerhalb Europas klug positionieren! Lassen Sie uns Formate finden wie den Cyberdialog, wo wir in der Lage sind, unsere Positionen für einen effektiven Grundrechtsschutz deutlich zu machen und zu übermitteln! Das, meine Damen und Herren, wäre ein Ergebnis dieser jahrelangen Debatten, mit dem wir Parlamentarier uns sehen lassen könnten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Sensburg das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Korte, zu Beginn muss ich auf Ihre Rede eingehen, obwohl ich Ihrer Rede nicht den großen Raum geben möchte. (Jan Korte [DIE LINKE]: Die war gut, oder?) Sie haben anfangs Ihrer Rede Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag zur Vorratsdatenspeicherung beschrieben und haben sie selbst als sachlich brillant bezeichnet (Jan Korte [DIE LINKE]: Nein, das nicht!) – Sie können es noch einmal im Protokoll nachlesen; ich habe es mir mitgeschrieben – (Jan Korte [DIE LINKE]: Ich habe das nicht gesagt!) und rhetorisch nicht so gut. Ich muss ehrlich sagen, rhetorisch haben Sie sich deutlich verbessert, aber sachlich ist Ihre Rede nicht mehr brillant gewesen, sondern genau das Gegenteil. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jan Korte [DIE LINKE]: Immerhin!) Besonders geärgert hat mich, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger verunsichern. Sie vermischen Verkehrsdaten und sagen, es seien Inhalte. So ist es auf jeden Fall bei mir angekommen. (Jan Korte [DIE LINKE]: Habe ich nicht gesagt! „Verbindungsdaten“ habe ich gesagt!) Sie haben das Wort „Inhalte“ nicht benutzt; das ist richtig. Aber Sie haben gesagt, man weiß gar nicht mehr, was über einen gespeichert wird. (Jan Korte [DIE LINKE]: „Verbindungsdaten“ habe ich gesagt!) Es geht um Verkehrsdaten und nicht um die Inhalte. Das ist der entscheidende Punkt. Es werden eben nicht die Inhalte von Telefonaten gespeichert, aber es wird immer wieder der Eindruck erweckt, über die Vorratsdatenspeicherung würden Inhalte, Telefonmitschnitte oder Inhalte aus E-Mails oder SMS aufgezeichnet. Das ist eben nicht der Fall. Es war mir wichtig, dies hier noch einmal zu betonen, damit keine Vermischung stattfindet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Die vorliegenden Anträge halte ich für unglücklich, weil Sie in Ihren Anträgen wollen, dass der Deutsche Bundestag – Sie schreiben zwar „Bundesregierung“, der Gesetzgeber ist aber der Deutsche Bundestag; dies nur als Information – sich auch in Zukunft nicht mit einer bestimmten Materie befasst. Egal welche Materie das ist, ich halte den Antrag für mehr als schräg, dem Bundestag aufzudrängen, sich mit einem Thema nicht mehr zu beschäftigen. Es ist unsere Entscheidung, ob wir uns mit einer Materie beschäftigen. Wir lassen uns nicht von Ihnen oder der gesamten Opposition davon abhalten. Wir beschäftigen uns mit einer Materie, wenn wir glauben, dass sie wichtig ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Lassen Sie mich eine Sache sagen – ich glaube, ich bin nicht im Verdacht, aufgrund meiner letzten Reden zur Vorratsdatenspeicherung, die ich gehalten habe, skeptisch ohne Ende zu sein –: Wir müssen feststellen, dass die Vorratsdatenspeicherung in ihrer bisherigen Form vom Tisch ist. Das sage ich ganz deutlich. (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja!) Sowohl das deutsche Gesetz als auch die EU-Richtlinien sind vom Bundesverfassungsgericht und jetzt vom Europäischen Gerichtshof für nicht verhältnismäßig erklärt worden. In beiden Entscheidungen haben beide Gerichte auf die Verhältnismäßigkeit abgestellt. Sie haben sowohl die EU-Richtlinie als auch – in der vorherigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – das Gesetz für nicht verhältnismäßig und damit im Ergebnis für nichtig erklärt. Das Bundesverfassungsgericht führt aus – beide Sätze sind sehr wichtig –: Zwar ist eine Speicherungspflicht in dem vorgesehenen Umfang nicht von vornherein schlechthin verfassungswidrig. Es fehlt aber an einer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden Ausgestaltung. So wörtlich das Bundesverfassungsgericht. Es sind also massive und tiefgreifende Eingriffe – das ist richtig –, und es erkennt, dass auf der anderen Seite der Schutz der Bürgerinnen und Bürger bei der rechtlichen Ausgestaltung nicht hinreichend berücksichtigt wurde. Wir stellen also fest, dass beide Rechtsgrundlagen – die Richtlinie wie auch das Gesetz – von den Gerichten als die Verhältnismäßigkeit nicht hinreichend berücksichtigend beurteilt worden sind. Wir stellen auf der anderen Seite fest, dass ein wesentliches Ermittlungsin-strument nicht mehr zur Verfügung steht. Wir können Spuren nicht mehr nachvollziehen. Spuren nachzuvollziehen, ist ein wesentliches Ermittlungsmerkmal; auch im Internet. Dieses Merkmal fehlt uns. Herr Korte, Sie haben gesagt, die Bürgerinnen und Bürger würden unter Generalverdacht stehen. Erinnern Sie sich mal 15 Jahre zurück – vielleicht ist es schon 20 Jahre her –, als Sie Ihre Telefonabrechnung von der Post bekommen haben. Da stand eine Auflistung Ihrer Telefonate drauf. Wir standen doch nicht alle unter Generalverdacht. Die Verbindungsdaten wurden aufgezeichnet, damit der Verbindungsnachweis für die Abrechnung aufgestellt werden konnte, und niemand hat sich darüber aufgeregt. Jetzt möchten wir Vergleichbares nutzen, um schwerste Kriminalität aufzuklären. Insofern ist es wichtig, zu lesen, was das Bundesverfassungsgericht und der EuGH in ihren Urteilen ansonsten zu den Instrumenten sagen. Das Bundesverfassungsgericht sagt: Der Gesetzgeber kann mit einer Regelung zur Vorratsdatenspeicherung … legitime Zwecke verfolgen, für deren Erreichung eine solche Speicherung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geeignet und erforderlich ist. (Dr. Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Der Europäische Gerichtshof schreibt: Zu der Frage, ob die Vorratsspeicherung der Daten zur Erreichung des … verfolgten Ziels geeignet ist, ist festzustellen, dass angesichts der wachsenden Bedeutung elektronischer Kommunikationsmittel die nach dieser Richtlinie auf Vorrat zu speichernden Daten den für die Strafverfolgung zuständigen nationalen Behörden zusätzliche Möglichkeiten zur Aufklärung schwerer Straftaten bieten und insoweit daher ein nützliches Mittel für strafrechtliche Ermittlungen darstellen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Beide Gerichte sehen es als Möglichkeit an, eine solche Vorratsdatenspeicherung zu installieren, und erkennen an, dass es unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten möglich ist, dies so auszugestalten. (Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: „Möglich“! „Möglich“! „Möglich“!) Beide Gerichte haben uns in die Entscheidungen hineingeschrieben, unter welchen Voraussetzungen es möglich ist. Das Bundesverfassungsgericht schreibt: Einer solchen Speicherung fehlt es auch in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nicht von vornherein an einer Rechtfertigungsfähigkeit. Dies gilt, wenn – das Bundesverfassungsgericht zählt es auf – das Vier-Augen-Prinzip bei der Datenspeicherung berücksichtigt wird, eine physische Trennung der Daten von öffentlichen Netzwerken erfolgt, Verschlüsselungstechnologien eingesetzt werden und die Speicherung der Daten revisionssicher protokolliert wird. Das Bundesverfassungsgericht schreibt uns in die Entscheidung, wie es geht. Genauso macht es der Europäische Gerichtshof: Er schreibt eine Vielzahl von Voraussetzungen – maximale Speicherungsdauer, Differenzierung zwischen den Kommunikationskanälen, aber auch den Adressaten usw. – in die Entscheidung hinein. Insofern sollten wir versuchen, eine europarechtskonforme, verfassungskonforme, der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragende Regelung, zum Beispiel in den §§ 113 a bis 113 c TKG, zu formulieren, die sowohl den Ermittlungsnotwendigkeiten als auch – da gebe ich Ihnen von der Opposition recht – den berechtigten Interessen der Bürgerinnen und Bürger, was die Angemessenheit des Mittels betrifft, Rechnung trägt. Das können wir hinbekommen, und Sie können daran mitarbeiten. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Klingbeil das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lars Klingbeil (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich bei den Linken und den Grünen bedanken, dass wir heute wieder eine Möglichkeit haben, hier im Parlament über die Frage der Vorratsdatenspeicherung zu diskutieren. Ich halte es für wichtig, dass wir uns als Deutscher Bundestag nach diesem wegweisenden Urteil des Europäischen Gerichtshofes intensiv über die Frage der Datenspeicherung und der Datensicherheit unterhalten und uns auf die Suche nach dem richtigen Weg machen. Ich will sagen, dass viele seit dem 8. April, als der Europäische Gerichtshof das Urteil gesprochen hat, dazugelernt haben. Es war für viele hier im Haus Anlass, die eigene Position zu überdenken. Für viele ist angesichts dessen, was man in den Jahren zuvor nahezu ideologisch vertreten hatte, quasi eine Welt zusammengebrochen. Ich will an dieser Stelle auch sagen, dass es nicht nur das Parlament ist, das in den letzten Jahren hochemotional über das Thema der Vorratsdatenspeicherung diskutiert hat: Wir haben erlebt, dass sich viele in der Zivilgesellschaft immer wieder ehrenamtlich für Datenschutz und gegen die Vorratsdatenspeicherung engagiert haben. Ich finde, heute ist ein Tag, an dem man diesen Ehrenamtlichen danken kann, die sich immer wieder in die Debatte eingebracht haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das, was wir erlebt haben, was wir als Parlament mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes mit auf den Weg bekommen haben, bedeutet eine tektonische Verschiebung in der Debatte; das muss man so festhalten. Ich wundere mich schon, wenn ich dann an so mancher Stelle erlebe, dass die Argumente die gleichen geblieben sind wie vor dem 8. April. Da kann ich jedem nur raten, in sich zu gehen und sich zu fragen, ob die Argumente der Vergangenheit auch die der Zukunft sein können. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich der Bundesregierung und vor allem dem Bundesjustizminister, der auch anwesend ist, danken für die Positionierung. Es war ein wichtiger Schritt, dass Heiko Maas in enger Abstimmung mit Thomas de Maizière damals gesagt hat: Wir setzen das, was im Koalitionsvertrag steht, nicht sofort um, sondern wir warten das Urteil des Europäischen Gerichtshofes ab und schauen erst dann, wie es weitergeht. Es war eine kluge Entscheidung, hier keine Schnellschüsse vorzunehmen und das Urteil des Europäischen Gerichtshofes abzuwarten. Ich will auch sagen, dass es ebenfalls eine richtige Entscheidung des Justizministers war, auch wieder in enger Abstimmung mit dem Innenminister, nach dem Urteil zu überlegen: Wie geht es denn weiter? Die Position, die Heiko Maas in den öffentlichen Raum gestellt hat und der sich immer mehr anschließen, nämlich zu sagen, wir wollen keinen nationalen Alleingang, finde ich richtig. Wir als Parlament sollten diese Position unterstützen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist heute, eigentlich von allen Vorrednern, schon angesprochen worden: Wir müssen uns nach diesem Urteil Zeit für die Diskussion nehmen. Wir müssen auch einige Dinge zur Kenntnis nehmen. Der Koalitionsvertrag hat an dieser Stelle keine Grundlage mehr; denn darin steht: Wir wollen die europäische Richtlinie umsetzen. – Diese Richtlinie ist jetzt für nichtig erklärt worden. Die Frage ist: Wie geht es jetzt weiter? (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) An die Kollegen der Grünen gerichtet, sage ich: Ja, wir brauchen die Debatte auch in Europa. Was ich nicht will, ist ein europäischer Flickenteppich, wo die einen das Urteil so interpretieren und die anderen es anders interpretieren. Deswegen müssen wir jetzt die Wahlen zum Europäischen Parlament abwarten. Wir müssen abwarten, bis sich die neue Kommission konstituiert hat und müssen dann versuchen, innerhalb der Europäischen Union einen gemeinsamen Dialog hinzubekommen. Es kann nicht sein, dass die einen sagen, wir machen keinen nationalen Alleingang, und die anderen halten an einer nationalen Umsetzung fest. Wir müssen eine gemeinsame europäische Position entwickeln, wenn es um die Vorratsdatenspeicherung geht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Punkt ist: Wir haben jetzt Zeit, darüber zu diskutieren, was Strafermittlungsbehörden eigentlich brauchen. Ich möchte diese Diskussion gern unemotional und sachlich führen. Aber wir führen sie unter einer veränderten Voraussetzung. Über Jahre haben die Gegner der Vorratsdatenspeicherung sagen müssen, warum sie gegen die Vorratsdatenspeicherung sind. Ich finde, jetzt müssen diejenigen, die für eine Speicherung von Daten sind, einmal begründen, warum man eigentlich dafür ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) Ich freue mich auf die Diskussion. Auch bei mir, als jemand, der das kritisch sieht, gibt es eine große Lernbereitschaft. Ich lasse mich gerne von guten Argumenten überzeugen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Urteil hat die Debatte insgesamt verändert. Ich sage es noch einmal: Wir sollten uns nun Zeit nehmen für eine intensive und sachliche Diskussion. Der Kollege Flisek hat es angesprochen: Es gibt viele weitere Dinge, die wir im Rahmen dieser Diskussion aufführen sollten. Ich möchte die Opposition gerne einladen, dass wir das als Parlament gemeinsam machen. Ich würde mich freuen, wenn wir die ideologischen Gräben der Vergangenheit überwinden und eine sachliche Debatte im Sinne Europas führen. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben diese Debatte übrigens aufgesetzt!) Herzlichen Dank für Ihre Anträge. Wir lehnen sie heute trotzdem ab, weil wir erst am Anfang der Debatte stehen und nicht am Ende. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist eine gute Entscheidung!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Marian Wendt das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Marian Wendt (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich klarstellen, worüber wir heute überhaupt debattieren. Auch den Anwesenden hier ist die Begrifflichkeit vielleicht nicht ganz klar geworden. Wir reden nicht über Vorratsdatenspeicherung, sondern nur über die Speicherung von Verbindungsdaten. Wir sprechen darüber, ob IP-Adressen oder Telefonnummern – wer wann wo angerufen hat – gespeichert werden, (Jan Korte [DIE LINKE]: Auf Vorrat! Genau! – Dr. Eva Högl [SPD]: Nein, man nennt das auch Vorrat! Sie werden schon auf Vorrat gespeichert!) und das nicht durch staatliche Behörden, wie oft unterstellt wird. Nein, wir haben weder im Bundestag noch im Kanzleramt oder beim BKA Server stehen, auf denen die Telekommunikationsdaten gespeichert und genutzt werden. Das möchte ich ganz klar vorneweg stellen. (Dr. Eva Högl [SPD]: Selbstverständlich werden die gespeichert!) Die Debatte über die Verbindungsdatenspeicherung haben wir in dieser Wahlperiode bereits zweimal geführt, das ist die dritte Debatte dazu. Auch nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts bleibt ganz klar zu sagen: Die Verbindungsdatenspeicherung ist grundsätzlich ein geeignetes und sinnvolles Mittel, um schwere Straftaten zu verhindern und aufzuklären. Sie dient dem Gemeinwohl. – Das steht schwarz auf weiß in beiden Urteilen. Karlsruhe hat klipp und klar gesagt: Grundsätzlich ist die Verbindungsdatenspeicherung mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar. Sie ist nicht per se verfassungswidrig. – Diese Botschaften müssen auch die Oppositionsparteien anerkennen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Notz zu? Marian Wendt (CDU/CSU): Gern. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist nett. Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie verweisen zu Recht auf beide Entscheidungen. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts taucht ein Schlüsselbegriff auf, der Begriff der Überwachungsgesamtrechnung. Diese Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht vor der NSA-Affäre getroffen, im Hinblick auf SWIFT, PNR und andere Dinge. Wie schaut das Bundesverfassungsgericht Ihrer Meinung nach, so vom Bauchgefühl her, jetzt auf die Überwachungsgesamtrechnung, jetzt, wo wir wissen, dass praktisch alle Kommunikationsdaten im Internet komplett gespeichert wurden und weiterhin gespeichert werden? Was denken Sie, wie würde das Bundesverfassungsgericht heute die Frage der Überwachungsgesamtrechnung bewerten? Marian Wendt (CDU/CSU): Ich denke, Herr Kollege, dass das Bundesverfassungsgericht heute genauso urteilen würde wie 2010; denn am Sachverhalt hat sich nichts verändert. Verbindungsdaten, Telefonnummern, Ort und Zeit, wurden bereits vor 10 bzw. 15 Jahren gespeichert. Damit hat man nicht erst vor zwei Jahren angefangen. Der Kollege Sensburg hat das an einem Beispiel eindrücklich erklärt. Wir alle haben sicherlich schon einmal eine Telefonrechnung erhalten, in der am Ende eine Verbindungsübersicht enthalten war. Das sind die Verbindungsdaten, über die wir hier sprechen. Wir sprechen nicht über Inhalte, die möglicherweise beim NSA-Skandal eine Rolle gespielt haben. Nein, wir sprechen nur über die Frage: Wann hat man eventuell jemanden angerufen? Dabei geht es nicht um den Inhalt, sondern nur um die Frage, ob Kommunikation stattgefunden hat. Darum geht es. Deswegen, denke ich, würde das Bundesverfassungsgericht nicht anders urteilen, als es geurteilt hat, auch weil das Grundgesetz diesbezüglich seit dieser Zeit nicht geändert wurde. Auf zwei Punkte möchte ich noch eingehen. Die Ausgangssituation wurde bereits beschrieben. Für mich ist es ganz wichtig, dass wir die Verbindungsdatenspeicherung nicht nur zur Ermittlung bei schweren Straftaten brauchen, sondern wir brauchen sie auch zur Gefahrenabwehr. Die Polizei, das Bundeskriminalamt, der Richterbund und die Innenminister der Bundesländer haben einheitlich entschieden: Wir brauchen dieses wichtige Instrument. Ich möchte ein Beispiel nennen; denn es geht nicht immer nur um Terroranschläge, die vielleicht weit weg zu sein scheinen, sondern auch um ganz praktische Dinge. Nehmen wir folgendes Beispiel: Die Eltern haben am Donnerstagabend mit ihrem pubertierenden Mädchen oder Jungen einen Streit. Am Freitag kommt das Kind nicht nach Hause. Das ist ein Fall, der in Deutschland sehr häufig auftritt. Das muss man ganz eindeutig sagen. Das ist kein an den Haaren herbeigezogenes Beispiel, sondern das passiert. Die Frage ist jetzt: Ist das Kind nicht nach Hause gekommen, weil es den Streit aussitzen möchte und vielleicht zur besten Freundin gegangen ist, oder wurde es vielleicht doch entführt? Um diesen Sachverhalt aufzuklären, ruft die Polizei beim Telekommunikationsunternehmen an und fragt nach: Wer wurde zuletzt angerufen, und wo befindet sich eventuell das Handy? Das alles geschieht im Einvernehmen mit dem zuständigen Ermittlungsrichter. Dann ist es dem guten Willen bzw. dem Zufall überlassen, ob die Polizei eine Auskunft erhält. Die Telekom speichert diese Verbindungsdaten nämlich von sich aus, aber -Vodafone zum Beispiel nicht. Wir können es doch nicht dem Zufall überlassen, ob Straftaten aufgeklärt werden und eine Gefahrenabwehr stattfindet. Das kann doch nicht davon abhängen, ob das jeweilige Telefonunternehmen diese Daten gespeichert hat. Deswegen brauchen wir einen ganz konkreten rechtlichen Rahmen, der verfassungsgemäß ist; das haben wir ganz klar gesagt. Das Bundesverfassungsgericht und der EuGH haben uns dazu entsprechende Aufträge und Auflagen gegeben. Diese werden wir jetzt umsetzen. Damit komme ich zum zweiten Punkt. Es ist richtig, dass wir das Problem in Europa lösen müssen. Gemeinsam mit unseren Partnern müssen wir jetzt schauen, wie wir das machen können. Ich bin Herrn Bundesinnenminister Thomas de Maizière dankbar, dass er Anfang Juni auf der Innenministerkonferenz in Athen dazu die Initiative ergreifen wird. Er wird die Punkte, die uns wichtig sind, dort vorbringen und für eine europäische Lösung werben. Es muss ganz klar sein: Einerseits müssen wir Straftaten effektiv verhindern, und wir müssen andererseits die Bedingungen des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichtes einhalten. Dabei geht es um Datensicherheit, Verhältnismäßigkeit und angemessene Speicherfristen. Dies müssen wir zielgenau umsetzen. Wir werden einen ausgewogenen Kompromiss ermöglichen. Wir müssen uns alle bewusst sein, da wir für die Sicherheit die Verantwortung tragen, dass es hierbei nicht um etwas Banales geht. Es geht hier, wie gesagt, um schwerste Eingriffe. Wir werden uns für eine gute Lösung einsetzen. Ich fasse also zusammen: Wir brauchen Mindestspeicherfristen, die nach wie vor dazu da sind, Straftaten zu verhindern und aufzuklären. Wir brauchen auf europäischer Ebene schnell eine verfassungsmäßige und mehrheitsfähige Regelung zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger. Die uns vorliegenden Anträge der Grünen und Linken werden dem nicht gerecht. Deswegen werden wir sie ablehnen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1339 mit dem Titel „Europäischen Grundrechtsschutz gewährleisten – Nationale Vorratsdatenspeicherung verhindern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sind Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion der Linken. Wer stimmt dagegen? – Das sind die CDU/CSU und die SPD. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist dieser Antrag abgelehnt worden durch die Stimmen der Koalition. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20 b. Abstimmungen über die Beschlussfassung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 18/999. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/302 mit dem Titel „Endgültig auf Vorratsdatenspeicherung verzichten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das ist die gesamte Opposition. Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung angenommen worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/381 mit dem Titel „Vorratsdatenspeicherung verhindern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wiederum die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Wiederum die gesamte Opposition. Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition angenommen worden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme jetzt zum Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto Drucksache 18/1308 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Rednerin der Staatssekretärin Frau Lösekrug-Möller das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Wir alle können uns heute nicht mehr vorstellen, was es hieß, unter unmenschlichen Bedingungen in einem Ghetto der Nationalsozialisten zu arbeiten. Doch es gibt immer noch Zehntausende, die dieses harte Schicksal erleiden mussten und die lange auf eine Rente … im Geiste der Regelung von 2002 warten mussten. So Andrea Nahles, als der Gesetzentwurf, den ich Ihnen heute vorstellen darf, das Kabinett passierte. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, diese Menschen haben unsägliches Leid erlitten und sind heute hochbetagt. Im Koalitionsvertrag haben SPD und Union deshalb in gemeinsamer Verantwortung für die Überlebenden des -Holocaust festgelegt, dass dem berechtigten Interesse der Holocaustüberlebenden an einer angemessenen Entschädigung für die Arbeit, die sie im Ghetto geleistet haben, Rechnung getragen wird. Mit dem vorliegenden Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto, kurz Ghettorentengesetz, sorgen wir dafür, dass diese Menschen einen vollständigen so-zialversicherungsrechtlichen Ausgleich für ihre Arbeit im Ghetto erhalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Die bisherige Regelung wurde von vielen Betroffenen als Unrecht empfunden, (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Zu Recht!) denn viele Ghettorenten wurden nicht vom frühestmöglichen Beginn ab Juli 1997 gezahlt. Wie Sie wissen, liegt der Grund darin, dass viele Ghettorenten erst nachträglich, nach einer Änderung der Rechtsprechung im Jahr 2009, bewilligt wurden. Wegen der im Sozialrecht geltenden Zahlungsausschlussfrist wurden die Ghettorenten nur für vier Jahre rückwirkend gezahlt, also in der Regel ab Januar 2005. Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf ändern wir das. Danach entfällt die bisherige Vierjahresfrist, werden alle Renten auf Antrag der Berechtigten vom Juli 1997 an neu festgestellt und gezahlt und entscheiden die Menschen selbst, ob sie eine Nachzahlung der Rente ohne die bisherigen Zuschläge wünschen oder ob sie stattdessen die bisherige Rente mit Zuschlägen, jedoch ohne weitere Nachzahlung behalten möchten. Momentan gehen aus aller Welt jeden Monat noch rund 300 Anträge auf die sogenannte Ghettorente ein. Auch diese neu eingehenden Anträge können in Zukunft ab Juli 1997 bewilligt werden. Meine Damen und Herren, die meisten Betroffenen ziehen eine tatsächliche Sozialversicherungsrente als Anerkennung für die von ihnen geleistete Arbeit im Ghetto einer einmaligen Entschädigungszahlung vor. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf entsprechen wir diesem Anliegen. Menschen, die im Ghetto gearbeitet haben, taten dies vor allem, um nicht zu verhungern und um der Deportation, also dem sicheren Tod, zu entgehen. Wir können das große Leid, das sie unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erlitten haben, niemals gutmachen; das ist unbestritten. Aber wir können uns dafür einsetzen, dieses Leid nicht zu vergessen und es anzuerkennen. Das vorliegende Gesetz leistet einen kleinen, aber wichtigen Beitrag dazu. (Beifall im ganzen Hause) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie daher seitens der Bundesregierung um zügige und wohlwollende Beratung und schließlich um Ihre Zustimmung, damit alle ehemaligen Ghettobeschäftigten jetzt schnell zu ihrem Recht kommen und ihre Rente ab Juli 1997 erhalten. Vielen Dank. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat die Kollegin Jelpke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wird in der Tat höchste Zeit für diesen Gesetzentwurf, der Ungerechtigkeiten beim Umgang mit früheren Ghettobewohnern und -bewohnerinnen endlich beendet. Die Umsetzung dieses Ghettorentengesetzes ist wahrlich kein Ruhmesblatt gewesen. Erst hatte man den Überlebenden eine Rente zugesagt, dann hat man 90 Prozent aller Anträge abgelehnt. Wie demütigend muss es für die Betroffenen gewesen sein, sich von deutschen Beamtinnen und Beamten und von der Rentenkasse den Vorwurf anhören zu müssen, sie seien gar nicht in einem Ghetto gewesen oder sie hätten dort nicht „freiwillig“ gearbeitet? Erst 2009 hat das Bundessozialgericht eine Neuüberprüfung angeordnet, in deren Folge wenigstens die Hälfte der Anträge doch noch bewilligt wurde. Prompt kam die nächste Ungerechtigkeit: Obwohl versprochen war, dass die Rente ab 1997 auszuzahlen ist, flossen die Gelder erst mit Wirkung ab 2005. Das ist nicht nur eine gefühlte Ungerechtigkeit, wie es in der Gesetzesbegründung heißt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Für viele Überlebende geht es sehr praktisch darum, dass ihnen Tausende von Euro verlorengegangen sind, zum Beispiel einem 90-Jährigen, der Anspruch auf 8 000 Euro Nachzahlung hätte. Dass ihm bisher vorgerechnet wurde, er werde diese Summe durch den höheren Rentenzuschlag bis zu seinem 98. Geburtstag ausgeglichen haben, ist einfach absurd gewesen. Deswegen ist es richtig, diese Nachzahlungen jetzt zu ermöglichen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Richtig ist ebenfalls, jetzt auch solche Ghettos zu berücksichtigen, die nicht direkt von den Nazis kontrolliert worden waren, sondern von ihren Komplizen und Komplizinnen, etwa in der Slowakei und in Rumänien. Auch das Ghetto in Schanghai konnte ja nur eingerichtet werden, weil die Nazis mit ihrer Vernichtungspolitik Juden und Jüdinnen dazu zwangen, zu fliehen. Dieses Unrecht so weit wie möglich wiedergutzumachen, gehört zur deutschen Verantwortung. Ich bin angenehm überrascht davon, dass der Entwurf von Ministerin Nahles dieser Verantwortung in einem so weitreichenden Umfang nachkommt. (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Kai Whittaker [CDU/CSU]) Zur Selbstzufriedenheit, meine Damen und Herren, gibt es trotzdem keinen Grund. Ich möchte daran erinnern, dass die jetzige Lösung für Tausende von Betroffenen zu spät kommt. Rund 7 000 Menschen haben schon die Neuüberprüfung der Anträge 2009 nicht mehr erlebt. Vorstöße der Linken, der SPD und der Grünen, die in eine ähnliche Richtung zielten wie der jetzt vorliegende Gesetzentwurf, wurden vor einem Jahr mit Stimmen der Union und der FDP abgeblockt. Seither sind wieder einige Hundert Betroffene gestorben. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei den Holocaustüberlebenden ausdrücklich für ihre Kraft zu bedanken, beharrlich ihr Recht einzufordern. Das gilt auch für Historiker und mutige Richter, denen es zu verdanken ist, dass das Bundessozialgericht in seinem Beschluss von 2009 die Ablehnungspraxis kritisch beurteilt hat. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte an dieser Stelle namentlich den Sozialrichter Jan-Robert von Renesse nennen, der schon früh erkannt hatte, dass die Formulare der Rentenkassen dem Schicksal der NS-Opfer nicht gerecht wurden, und deswegen persönliche Anhörungen auch in Israel durchführte. Dafür wurde er von seinen Vorgesetzten zusammengestaucht, gemobbt und von diesen Fällen abgezogen. Gedankt wurde ihm nur von den Überlebenden. Wir, die Linke, möchten uns diesem Dank ausdrücklich anschließen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) und das Justizministerium in NRW auffordern, die Schikanen gegen Richter Renesse endlich einzustellen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Zum Schluss möchte ich noch einen Appell an die Bundesregierung richten: Vergessen Sie nicht die Überlebenden der polnischen Ghettos! Es wird gern übersehen, dass in Polen lebende Betroffene bisher keinen Cent an Renten erhalten haben. Das liegt an zugegebenermaßen komplizierten Regelungen des deutsch-polnischen So-zialversicherungsabkommens, was aber kein Grund sein kann, dieses spezielle Unrecht einfach hinzunehmen. (Beifall bei der LINKEN) Ministerin Nahles war dieser Tage in Polen und hat leider wieder keine Lösung mitgebracht, nur die Ankündigung, dass weitere Gespräche geführt werden. Frau Nahles – sie ist heute nicht da; aber die Staatssekretärin kann das sicherlich übermitteln –, das reicht nicht. Wir denken, dieser Punkt darf nicht auf die lange Bank geschoben werden; sonst lebt kein Betroffener mehr. Wenn es darum geht, Gerechtigkeit für NS-Opfer herzustellen, haben wir schon viel zu viel Zeit verloren. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir uns heute, was den hier vorgelegten Gesetzentwurf betrifft, einig sind. Ich hoffe auch, dass er so schnell wie möglich verabschiedet wird, damit die Renten endlich ausgezahlt werden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Weiß das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Katja Mast [SPD]) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat unvorstellbar für uns, für die heute lebende Generation, was das Leben in Ghettos, in die die Nazidiktatur und ihre Helfershelfer Menschen gepfercht haben, wirklich bedeutet hat. Deswegen möchte ich noch einmal daran erinnern, dass vor zwei Jahren, am 27. Januar 2012, Marcel Reich-Ranicki von dieser Stelle aus uns allen mit seiner Rede einen sehr beeindruckenden und tiefen Einblick in die Situation des Warschauer Ghettos damals gegeben hat. Dass wir im Deutschen Bundestag 2002 ein Gesetz beschlossen haben, mit dem wir den Menschen, die im Ghetto einer Arbeit nachgingen, um zu überleben, einen eigenen Rentenanspruch zugesprochen haben, war, wie ich finde, eine richtige, gute und nicht nur symbolträchtige Entscheidung. Ich glaube, wir können gemeinsam ein Stück stolz darauf sein, dass wir das geschafft haben. Ja, die Menschen, die im Ghetto einer Arbeit nachgingen, erhalten einen eigenen Rentenanspruch: Das war die Entscheidung des Bundestages. Sie war richtig, gut und wegweisend. (Beifall im ganzen Hause) Auf das, was anschließend geschehen ist, können wir nicht wahnsinnig stolz sein; das ist richtig. Die Deutsche Rentenversicherung hat die Bestimmungen des Ghettorentengesetzes in der Praxis nämlich so eng ausgelegt, dass rund 90 Prozent der Anträge abgelehnt worden sind. Ich will ganz klar sagen: Es war 2002 nicht die Absicht der deutschen Parlamentarier, ein Gesetz zu verabschieden, bei dem 90 Prozent der Betroffenen anschließend gar keine Leistung bekommen, weil die meisten Anträge durch die Behörden abgelehnt werden. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die damalige rot-grüne-Bundesregierung, die ich als CDU-Abgeordneter nicht unbedingt verteidigen muss – in diesem Fall tue ich das aber gerne –, hat damals übrigens schnell reagiert, indem sie eine eigene Entschädigungsleistung in Höhe von 2 000 Euro eingeführt hat, die jeder, dessen Antrag abgelehnt wurde, beantragen konnte und auch unbürokratisch und schnell erhalten hat. Um das deutlich zu machen: Es gab anschließend also kein Nichtstun, sondern es ist schnell reagiert worden. Dann kam im Jahr 2009 – das ist schon erwähnt worden – die wegweisende Entscheidung des Bundessozialgerichts, mit der die Möglichkeit eröffnet wurde, dieses Gesetz praxisnäher umzusetzen und wesentlich mehr Anträge zu genehmigen. Deswegen richte ich noch einmal einen Dank für diese wegweisende Entscheidung an die damaligen Sozialrechtler, mit der sie unser Gesetz so zur Anwendung gebracht haben, wie es eigentlich gedacht war. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Im deutschen Sozialrecht gibt es aber eine Bestimmung, die für alle Sozialleistungen gilt, nämlich dass man eine Sozialleistung nur vier Jahre rückwirkend genehmigt bekommen kann. Das führt im Fall der Bezieher einer Ghettorente ab 2005 allerdings dazu, dass deren monatliche Rente wesentlich höher ist – um bis zu 45 Prozent höher – als die Rente, die ab dem Jahr 1997 monatlich ausgezahlt wird. Man ging davon aus, dass das, was einem entgangen ist, weil der ursprüngliche Rentenantrag nicht genehmigt wurde, durch diesen höheren monatlichen Zahlbetrag der Rente ungefähr ausgeglichen wird. In vielen Gesprächen mit Betroffenen haben wir allerdings feststellen müssen, dass das subjektive Gerechtigkeitsbefinden trotzdem massiv gestört ist, (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja auch objektiv falsch!) weil sich die Betroffenen fragen: Warum bekommt der eine die Rente rückwirkend ab 1997 ausgezahlt und ich erst ab 2005? Wir haben dann darüber diskutiert, ob man denjenigen, die erst ab 2005 eine Rente erhalten, für den Zeitraum von 1997 bis 2005 nicht einfach einen Einmalbetrag als Entschädigung zahlen könnte. Wir haben das sehr ernsthaft erwogen, aber feststellen müssen, dass die Betroffenen auch mit einer solchen Regelung nicht zufrieden gewesen wären, sondern das nach wie vor als relativ ungerecht empfunden hätten. Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt eine klare Regelung treffen. Mit der Änderung machen wir Folgendes möglich: Derjenige, der damit einverstanden ist, dass er erst ab 2005 diese Rente bekommt – dafür erhält er aber einen höheren monatlichen Zahlbetrag –, kann dabei bleiben. Wer dagegen eine Neuberechnung seiner Rente möchte, die dann rückwirkend ab 1997 ausgezahlt wird – dafür erhält er aber einen niedrigeren monatlichen Zahlbetrag –, der kann diese Lösung wählen. Ich glaube, damit kann jeder Betroffene für sich persönlich eine Entscheidung treffen, und ich hoffe, dass das subjektive Ungerechtigkeitsempfinden, das mit der bisherigen Praxis verbunden ist, damit der Vergangenheit angehört. Das ist ein wichtiger Schritt, um dem Gerechtigkeitsempfinden der Betroffenen nach ihrem schweren Schicksal, das sie erlebt haben, ein Stück weit zu entsprechen. Wir eröffnen die Möglichkeit, Anträge jetzt oder auch erst in Zukunft zu stellen. Diejenigen, die bislang zum Beispiel aufgrund der Befürchtung, bei der bisherigen Genehmigungspraxis ohnehin keine Chance zu haben, keinen Antrag gestellt haben, sollten jetzt den Mut aufbringen – dazu möchte ich sie auch ausdrücklich auffordern –, einen Antrag auf eine Ghettorente zu stellen, wenn die Voraussetzungen bei ihnen vorliegen. Bei selbstkritischer Betrachtung – so müssen wir sagen – hat es viel zu lange gedauert, bis bei der Auslegung dieses Gesetzes die Erkenntnis Platz gegriffen hat, dass eine Ghettobeschäftigung nicht mit den Maßstäben eines allgemeinen versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses klassischer Art gemessen werden kann. Ich glaube, dass wir jetzt insgesamt eine Regelung treffen, die dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen tatsächlich entspricht und mit der dafür gesorgt wird, dass jeder für sich selbst ermessen kann, mit welcher Regelung er gerne seine Ghettorente beantragt und mit welcher finanziellen Regelung er glaubt, besser zu fahren. Logischerweise spielt auch die Frage, wie hoch der Zahlbetrag ist, eine große Rolle, auch wenn es, ehrlich gesagt, mehr um geringe Rentenansprüche geht. Es sind keine Riesensummen, die da monatlich ausbezahlt werden. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Gesamtbetrag ist schon vierstellig! Das ist für die Leute schon was!) Ich finde, dass man bei einer solchen Debatte auch auf Folgendes hinweisen sollte. Der finanzielle Beitrag einer Ghettorente ist nur der eine Aspekt. Der andere Aspekt ist ein eher moralischer. Ich darf seit einigen Jahren Präsident des Maximilian-Kolbe-Werks sein, einer Institution, die aus der katholischen Versöhnungsarbeit heraus entstanden ist. Dieses Werk steht mit den heute noch unter uns lebenden Menschen, die einst von den Nazis in KZs, Ghettos oder in Lager verbracht worden waren, im Dialog und gewährt ihnen Hilfe. Für mich ist beeindruckend: Dass die Frauen und Männer, die sich nach den schrecklichen Erfahrungen in der Nazidiktatur einstmals geschworen hatten, nie mehr deutschen Boden zu betreten, nie mehr die deutsche Sprache zu benutzen, die zusammengezuckt sind, wenn irgendwo Deutsch gesprochen worden ist, weil sie sich dadurch automatisch an die Nazischergen erinnert fühlten, heute – hochbetagt! – bereit sind, nach Deutschland zu kommen, an Universitäten und Schulen als Zeitzeugen für Gespräche zur Verfügung zu stehen und ihre Gastgeber in Deutschland als „unsere Freunde“ bezeichnen, ist für mich das eigentliche Wunder der Aussöhnung. Für dieses Wunder der Aussöhnung können wir Deutsche nur dankbar sein. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Beck das Wort. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst mit einem Dank an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD dafür beginnen, dass sie durchgesetzt haben, dass dieses wirklich ungute Kapitel jetzt hoffentlich ein gutes Ende findet. Wir als Opposition haben in der letzten Wahlperiode wiederholt gemeinsam gefordert, dass der gesetzgeberische Wille, der 2002 zu dem Ghettorentengesetz geführt hat, endlich von Verwaltung, Gerichten und Gesetzgeber umgesetzt wird. Wir hatten von Anfang an gesagt, man solle die Leistungen rückwirkend ab 1997 bekommen. Durch die skandalöse Rechtspraxis sowohl der zuständigen Behörden als auch einiger Sozialgerichte wurde das gemacht, was leider paradigmatisch für die Praxis und Geschichte des deutschen Entschädigungsrechts steht: Man hat mit den Opfern immer gerechtet, hat Opfergruppen heraus-argumentiert, hat Leistungen gekürzt, hat Verfolgungsschicksale nicht in ihrer vollen Dimension wahrhaben wollen und nicht anerkannt. Das ist im Praxisvollzug dieses Gesetzes auch passiert. Wie kann ein Sozialgericht auf die Idee kommen, dass die Arbeit in einem Ghetto quasi die gleichen rechtlichen Strukturen haben soll wie ein Normalarbeitsverhältnis in der Bundesrepublik Deutschland? Natürlich waren das Zwangsverhältnisse. Niemand war freiwillig im Ghetto. Natürlich war es aus der Not geboren, dass die Menschen dort gearbeitet haben: um eine Suppe mehr zu haben, um ein paar Zloty zu bekommen, um sich etwas zu essen kaufen zu können oder um die Masse zu erhöhen, über die der Judenrat verfügen konnte, um für die Menschen zu sorgen. Natürlich war das nicht freiwillig in unserem Sinne, auch wenn es zum Teil freie Entscheidungen waren. Dass man das rückblickend nicht erkannt hat, halte ich für einen Skandal. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Für einen Skandal halte ich auch, dass man oftmals nach Aktenlage entschieden und einfach Formalien zur Grundlage der Entscheidungen gemacht hat. Ich finde, in diesem Zusammenhang gebührt dem Sozialrichter von Renesse, der auch bei den Anhörungen des Parlamentes zugegen war, großer Dank. Er hat gesagt: Nein, ich höre mir das Lebensschicksal der Menschen an, das will ich kennen, statt mich nur auf die Formulare zu stützen, die die Menschen in ihrer Dimension nicht voll durchschaut haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich hoffe, dass ihm für sein Engagement in dieser Hinsicht noch Recht widerfährt. Es ist gut, dass wir heute die Gesetzgebung korrigieren und in Rechnung stellen, dass das Bundessozialgericht eine neue Praxis vorgegeben hat, sodass diejenigen, die Opfer einer falschen Rechtsprechung waren, im Ergebnis nicht weniger Leistungen bekommen als diejenigen, denen der Anspruch von Anfang an gewährt wurde. Ich möchte aber auf ein Problem aufmerksam machen, das der Gesetzentwurf der Bundesregierung noch enthält und eine bestimmte Personengruppe betrifft. In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es zu Recht: Um Ungleichbehandlungen unter den Berechtigten zu vermeiden, können künftig auch diejenigen, die zum Beispiel wegen befürchteter Aussichtslosigkeit angesichts der jahrelangen restriktiven Bewilligungspraxis einen Antrag auf eine Rente nach dem ZRBG nicht innerhalb der bisher geltenden Antragsfrist … gestellt … haben, einen Antrag stellen. – Das ist richtig. Manche dieser Antragsteller, die wussten, dass sie, weil sie kein Gehalt, sondern nur Lebensmittelmarken bekommen haben, nach bisheriger Praxis keinen Anspruch hatten, können den Antrag nicht mehr stellen, weil sie inzwischen verstorben sind bzw. vor 2009 verstorben waren. Die Hinterbliebenen dieser Ghettorentenberechtigten, die oftmals selber auch NS-Verfolgte sind, aber womöglich nicht im Ghetto waren, sondern gleich von ihrem Wohnort in ein KZ verschleppt worden sind, erhalten jetzt nach dem Ghettorentengesetz Leistungen in Form der Hinterbliebenenrente nur ab dem Todestag des Ghettorentenberechtigten. Damit leiden sie mit darunter, dass jemand in dem Wissen, dass er keinen Anspruch hat, auf Antragstellung verzichtet hat, weil er sich von einer deutschen Behörde nicht auch noch diese Ablehnung schriftlich geben lassen wollte. Ich finde – das sage ich auch an meine konservativen Freunde von der CDU gerichtet –, wenn wir den Schutz der Ehe ernst nehmen, dann müssen wir auch daran festhalten, dass die Ehe eine Wirtschaftsgemeinschaft ist. Die Hinterbliebenen stehen heute unter Umständen ökonomisch schlechter da – im Zweifelsfall macht das 7 000 Euro aus –, als wenn ihr verstorbener Ehegatte oder seine verstorbene Ehegattin den Antrag gestellt hätte. Es geht wahrscheinlich um wenige Menschen. Lassen Sie uns diese kleine Ungerechtigkeit im Gesetzgebungsverfahren im Ausschuss noch bereinigen. Ich hoffe, wir kriegen das gemeinsam hin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, ich möchte mich zum Schluss dafür bedanken, dass wir heute so weit gekommen sind. Angesichts dessen, dass heute der 9. Mai ist, dass man in Russland, in der Ukraine und in Weißrussland heute des Waffenstillstandes, der Kapitulation (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Befreiung) und der Befreiung Deutschlands durch die Rote Armee gedenkt, möchte ich aber auch daran erinnern, dass wir, wie ich denke, noch ein offenes Kapitel in der Erinnerungspolitik haben, und zwar in der Frage der Entschädigung bzw. der humanitären Gesten gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen. Sie waren die zweitgrößte Opfergruppe nach den Juden. Millionen von Soldaten sind in den Russenlagern ausgehungert, zu Tode gequält und umgebracht worden. Es gibt keinen Ort, an dem wir dieses Unrechts und der Opfer gedenken, die oftmals, wenn sie überlebt haben, unter Stalin als angebliche Kollaborateure weiter gelitten haben. Demgegenüber hat Deutschland bis heute keine Geste des humanitären Ausgleichs angeboten. Ich finde, wir sollten uns in dieser Legislaturperiode, solange noch betroffene Menschen leben, auch diesem Kapitel widmen. Ich glaube, gerade in der aktuellen Situation wäre es ein gutes Signal an die Völker der ehemaligen Sowjetunion, dass wir ihnen dankbar sind, dass sie uns vom Hitlerfaschismus und von den Nationalsozialisten befreit haben und dass Konflikte, die wir außenpolitisch an anderer Stelle haben, nichts damit zu tun haben, dass wir ihnen diesen Dank auch in Zukunft schulden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kerstin Griese das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kerstin Griese (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich erst einmal sehr herzlich bedanken für die große Ernsthaftigkeit, mit der die Debatte hier geführt wird. Ich denke, das ist der Sache angemessen. Auch die Tatsache, dass wir schon heute Morgen in einem interfraktionellen Berichterstattergespräch mit allen vier Fraktionen über dieses Thema beraten haben, zeigt, dass, wie wir hier heute ja auch erleben, sehr große Einmütigkeit herrscht, und lässt hoffen, dass wir endlich zu einem guten Ergebnis kommen. Vielen Dank dafür an alle Fraktionen. Vielen Dank auch an Ministerin Andrea Nahles und an Sie, liebe Frau Staatssekretärin; denn es war eine der ersten Amtshandlungen unserer Ministerin, dass sie versucht hat, für dieses seit langem schwelende und schwierige Thema eine im Sinne der Betroffenen bessere Lösung zu finden. Das war dringend nötig. Ich bedaure, dass es so spät kommt. Daher ist es wichtig, dass wir das jetzt so schnell wie möglich beschließen. Wir sprechen über die Änderung des Ghettorentengesetzes, ein Gesetz, das wir 2002 mit der Intention beschlossen hatten – das wurde bereits gesagt –, dass den Menschen, die in Ghettos unter schlimmen Umständen arbeiten mussten, ein kleines Stück Gerechtigkeit – wenn man überhaupt davon sprechen kann – widerfährt und dass entsprechende Auszahlungen rückwirkend ab 1997 möglich werden. Wie wir schon gehört haben, wurden in der Praxis zuerst etwa 90 Prozent der Anträge, die oft von Menschen, die sehr alt und krank waren, gestellt wurden, nicht bewilligt. Die Betroffenen haben das als einen Schlag ins Gesicht empfunden. Das hat dazu geführt, dass 2009 das Bundessozialgericht die bisherige strikte Auslegung revidiert hat und danach etwa 50 Prozent der Fälle, die zuvor abgelehnt wurden, anerkannt wurden. Allerdings – das war das Problem dabei, das wir nun gesetzlich lösen wollen – erfolgte die Rentenauszahlung für die nun anerkannten Anträge nur für vier Jahre rückwirkend, also erst ab 2005 und nicht schon ab 1997, wie es der Gesetzgeber wollte. Das bedeutete für viele Menschen, die oft krank sind, in Armut leben und deren Situation schwierig ist, eine echte Enttäuschung. Zwar wurden dann Zuschläge zum Ausgleich geleistet, aber diese auf vier Jahre begrenzte Nachzahlung wurde von den Betroffenen als großes Unrecht empfunden. Das wollen wir nun ändern. Ich will einen Vertreter der Menschen, über die wir hier sprechen, zu Wort kommen lassen. In der letzten Legislaturperiode gab es eine Anhörung im Deutschen Bundestag. Uri Chanoch, Jahrgang 1928, geboren in Litauen, ist dort zu Wort gekommen. Er hat in einem Ghetto bei Kovno leben und arbeiten müssen. Er war danach in einem Außenlager des KZ Dachau inhaftiert. Er hat im Dezember 2012 bei dieser Anhörung im Bundestag Folgendes gesagt – ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Präsidentin –: Was wir und eigentlich alle Überlebenden wollen, ist nicht viel, wirklich nicht viel. Die Ghetto-Insassen waren, die sollen die Rente ab 1997 bekommen, und das ist einfach… Ich bin jetzt 85, ich war 17 bei der Befreiung. Schauen Sie, nicht alle haben Anträge gestellt, bis heute wollen nicht alle mit Deutschland etwas zu tun haben, aber diejenigen, die noch existieren, haben in der Mehrheit Probleme… Wir haben alle Probleme, ein Überlebender ist nie heraus von dort, das ist normal. Jeder Einzelne hat einen Tick, hat schlechte Träume, schluckt Pillen, trotzdem haben sie geholfen und das Land aufgebaut, trotz alledem. Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die jüdischen Frauen und Männer, die in Ghettos unter der Herrschaft der Nationalsozialisten leben mussten, war Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig, überlebensnotwendig. Sie mussten arbeiten, um zu überleben; denn wer arbeitete, bekam etwas zu essen. Wer arbeitete, wurde nicht so schnell in ein KZ weitergeschickt. Während der NS-Herrschaft wurden über 1 000 Ghettos im deutschen Besatzungs- und Herrschaftsgebiet errichtet. Allein in Polen waren es rund 600. Die Ghettos waren Durchgangsstationen auf dem Weg in die Vernichtungslager. Sie waren aber auch Arbeitskräftereservoir und Produktionsstätten für die deutsche Rüstungsindustrie. Dass für die Arbeit der in Ghettos lebenden Juden tatsächlich damals Rentenbeiträge abgeführt wurden, zeigt, wie erschreckend technokratisch und zugleich zutiefst unmenschlich das System des NS-Regimes agierte. Es war ja überhaupt nie vorgesehen, den in Ghettos Beschäftigten für ihre gezahlten Sozialabgaben tatsächlich später Renten zu zahlen. Schließlich war die totale Ermordung aller Juden geplant. Ich habe viel mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gesprochen, die mich sehr beeindruckt haben; ich war oft in Israel. Ich weiß, dass die hohen Ablehnungszahlen der Anträge auf Renten für in Ghettos geleistete Arbeit dort intensiv wahrgenommen wurden. Deshalb ist es gut und wichtig, dass mit der jetzt vorgelegten Änderung die Vierjahresfrist ausgeschlossen wird und alle Antragsteller ihre Rente rückwirkend ab 1997 bekommen. Wir werden eine Optionsmöglichkeit einführen, sodass auch jeder bzw. jede individuell entscheiden kann, welche Möglichkeit für ihn oder sie besser ist. Das Verfahren soll so unbürokratisch und verständlich wie möglich mit einem Anschreiben der Rentenversicherung in der Sprache des Landes, in dem die Betroffenen leben, durchgeführt werden, damit diese sehr alten Menschen eine individuelle Entscheidung treffen können. Auch die generelle Streichung der Antragsfrist, die bisher der 30. Juni 2003 war, ist wichtig; denn es wird weiter möglich sein, Rentenanträge zu stellen. Es gibt heute immer noch Menschen, die sich jetzt erst trauen, einen solchen Antrag zu stellen, bzw. jetzt erst von der Möglichkeit erfahren, einen solchen Antrag zu stellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin optimistisch, dass wir mit diesen Änderungen den berechtigten Anliegen der ehemaligen Ghettoarbeiterinnen und -arbeiter nach einer Rente entsprechen können. Diese Menschen haben es verdient, von uns, vom Parlament, von Deutschland mit Respekt und mit Demut behandelt zu werden. Diese unsere Geschichte, das menschenunwürdige Leben und die abscheulichen Gräueltaten, die Jüdinnen und Juden in den Ghettos und in den KZs unter deutscher Aufsicht erlitten haben, diese Geschichte verpflichtet uns zu besonderer Aufmerksamkeit und Verantwortung den Überlebenden gegenüber. Uri Chanoch, den ich zu Beginn zitierte, ist 1946 nach Israel ausgewandert. Bis heute spricht er vor Schülerinnen und Schülern über seine Erlebnisse, zuletzt noch im Februar dieses Jahres in Dachau. Ich habe tiefen Respekt davor, dass ein Mensch mit dieser Lebensgeschichte nach Deutschland zurückkehrt und mit Jugendlichen diskutiert. (Beifall im ganzen Hause) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzentwurf liegt uns vor, und ich wünsche mir sehr, dass wir ihm nach intensiver, aber rascher Beratung alle zustimmen können. Das wäre ein sehr gutes Zeichen. Für fast 40 000 Menschen, etwa die Hälfte von ihnen in Israel, viele in den USA, in Ungarn, in Kanada und in der ganzen Welt, würde das eine sofortige, ganz konkrete Verbesserung ihres beschwerlichen Alltags bedeuten. Aber wir müssen auch wissen, dass täglich Menschen sterben, die solche Rentenanträge gestellt haben und die nicht mehr erleben, dass wir dieses Gesetz verändern und dass sie Renten aus Deutschland bekommen. Ich bedaure es, dass diese Änderung erst jetzt, 2014, kommt. Aber sie kommt, und das ist wichtig. Vielen Dank. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Stephan Stracke das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Stephan Stracke (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute, fast auf den Tag genau 69 Jahre nach der Kapitulation von Hitlerdeutschland, bringen wir eine zentrale Änderung für Menschen auf den Weg, die von den Nationalsozialisten in Ghettos gesperrt worden sind und dort unter unmenschlichen Lebensbedingungen gearbeitet haben. Bereits 2002 haben wir den politischen Willen erklärt, den Betroffenen einen Anspruch auf eine gesetzliche Rente ab dem 1. Juli 1997 zu öffnen. Wir stehen zu unserer historischen Verantwortung für die Überlebenden des Holocaust, und wir wollen den berechtigten Interessen der betroffenen Menschen nach einer angemessenen Würdigung ihrer unter unmenschlichen Bedingungen in einem Ghetto geleisteten Arbeit Rechnung tragen. Das haben wir, CDU/CSU und SPD, im Koalitionsvertrag verabredet, und das setzen wir nun um. Ich freue mich über den breiten Konsens in dieser Frage. (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir haben bereits 2002 den Anspruch auf eine gesetzliche Rente aus einer Beschäftigung in einem Ghetto einstimmig beschlossen. Auch heute zeichnet sich gleichfalls eine breite Zustimmung in diesem Hohen Hause ab. Das ist sehr erfreulich, und dafür bedanke ich mich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Mit den Änderungen ermöglichen wir es allen Berechtigten, ihre gesetzliche Rente, die auf Beschäftigungszeiten in einem Ghetto beruht, rückwirkend vom 1. Juli 1997 an zu beziehen. Wir setzen das um, was der Gesetzgeber bereits 2002 ursprünglich gewollt hat. Die Hemmnisse und Hindernisse, die sich in der Praxis bei der Umsetzung dieses Gesetzes aufgetan haben, insbesondere auf der Rechtsprechung des BSG beruhend, beseitigen wir. Jeder Berechtigte hat nun die Möglichkeit, sich so zu stellen, als hätte er seit dem 1. Juli 1997 Rente bezogen. Das war unsere ursprüngliche gesetzgeberische Absicht. Wir sorgen nun dafür, dass das Verfahren besser gangbar wird. Wir schaffen ein gesetzliches Wahlrecht. Die Menschen können künftig frei wählen, ob sie eine Nachzahlung ihrer Rente rückwirkend ab 1997 verbunden mit einer niedrigeren laufenden Monatsrente wünschen oder ob sie ihren bisherigen Rentenbeitrag gemäß der Regelung von 2009 behalten möchten. Sie können selbst entscheiden, was in ihrer individuellen Lebenssituation das Bessere ist. Das schafft Gerechtigkeit. Deshalb tun wir es. Wir erweitern im Übrigen auch den Kreis der Berechtigten. Bisher war es so, dass das betreffende Ghetto in einem Gebiet liegen musste, das vom Deutschen Reich besetzt oder eingegliedert war. Jetzt weiten wir die vorhandene Regelung auf den Einflussbereich des nationalsozialistischen Deutschen Reiches aus. Dadurch kommen beispielsweise Betroffene aus der Slowakei oder Rumänien zur Gruppe der Bezugsberechtigten hinzu. Das ist sachgerecht und sinnvoll. Wir reden über besondere Lebenssachverhalte. Besondere Lebenssachverhalte bedürfen auch besonderer Einzelfallentscheidungen. Deshalb stellen wir mit diesem Gesetzentwurf fest: Die im Sozialrecht allgemein geltende vierjährige Rückwirkungsfrist werden wir nicht anwenden. Diese Frist ist es, die uns hier in der Praxis die meisten Probleme gemacht hat; meine Vorredner haben intensiv darauf hingewiesen. Deshalb ändern wir es. In der Praxis gab es ein weiteres Hemmnis, nämlich die Einhaltung der Antragsfrist bis zum 30. Juni 2003. Auch diese Frist fällt nun. Dies führt dazu, dass entsprechende Ungleichbehandlungen beseitigt werden. Das macht deutlich: Die rechtssystematischen Argumente der Vergangenheit sind nicht falsch gewesen. Wir geben bei der Güterabwägung jetzt nur dem Argument der Einzelfallgerechtigkeit den Vorzug. Das bedeutet zweierlei: Zum einen muss jeder Betroffene wissen, dass seine laufende Rente gekürzt wird, wenn er von der Nachzahlungsmöglichkeit Gebrauch macht. Denn eins geht nicht: Nachzahlung und Weiterbezug des durch den Zuschlag erhöhten laufenden Rentenbetrags. Es gäbe ansonsten eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen, die bereits seit Juli 1997 eine Rente beziehen. Gleiche Sachverhalte gleich zu behandeln, das ist sinnvoll, und daran halten wir fest. Ein Zweites. Mit diesem Gesetzentwurf ist keine Präzedenzwirkung für andere Fallgruppen verbunden. Wir machen eine einmalige Ausnahme von der Rechtssystematik im Sozialrecht. Das betrifft insbesondere die vierjährige Rückwirkungsfrist. Bei dieser einmaligen Ausnahme bleibt es auch. Das Unrecht, das den Betroffenen angetan wurde, kann nicht wiedergutgemacht werden. Wir können aber dafür sorgen, dass die tagtäglich weniger werdenden überlebenden Ghettobeschäftigten schnell von den zusätzlichen Möglichkeiten, die dieser Gesetzentwurf bietet, tatsächlich Gebrauch machen können. Nur das wird dem besonderen Verfolgungsschicksal der hochbetagten Berechtigten gerecht. Deshalb streben wir eine zügige Umsetzung der gesetzlichen Änderungen im Deutschen Bundestag an. Der Bundesrat hat hier bereits, wie die Diskussion im Herbst 2013 gezeigt hat, seine Unterstützung signalisiert. Ich gehe davon aus, dass dieses Gesetz im Sommer im Bundesgesetzblatt steht. Eine rasche gesetzgeberische Umsetzung ist das eine. Zugleich werden wir sicherstellen, dass die Rentenver-sicherungsträger die Betroffenen über ihr Wahlrecht und seine Auswirkungen umfassend informieren. Denn was nützt die beste Gesetzgebung in diesem Bereich, wenn sie die Berechtigten nicht erreicht oder sie sie nicht kennen? Deshalb ist es sinnvoll, dass die Rentenversicherung hier in einfacher und verständlicher Weise über die zusätzlichen Möglichkeiten informiert, und zwar in der Landessprache. Ich fände es gut, wenn beispielsweise unsere Botschaften oder unsere Konsulate entsprechend ausgebildetes Fachpersonal vor Ort hätten, sodass Nachfragen nicht auf dem Schriftwege geklärt werden müssten, sondern durch eine persönliche Ansprache vor Ort beantwortet werden können. Uns ist wichtig: Die Renten müssen schnell und unbürokratisch bei den Menschen selbst ankommen. Deswegen finden sich in diesem Gesetzentwurf Regelungen, die klarstellen, dass diese Renten nicht an die Rechtsanwälte fließen, sondern tatsächlich an die Betroffenen. Auch das ist gut. Es geht um knapp 40 000 Berechtigte. Mit der heutigen Einbringung dieses Gesetzentwurfs machen wir einen ersten Schritt dahin, dass diese 40 000 Berechtigten ihre Renten tatsächlich schnell und unbürokratisch erhalten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache und hoffe, dass das eintritt, was alle ausdrücklich unterstrichen haben, nämlich dass wir diesen Gesetzentwurf zügig beraten und das dann auch wirklich zu einem guten Ende führen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr Drucksache 18/1309 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Hier sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne dann auch die Aussprache. Als erster Redner hat Staatssekretär Christian Lange das Wort. Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr wollen wir endlich die im Jahr 2011 neu gefasste Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr umsetzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Zeit drängt; denn die Umsetzungsfrist für die Richtlinie ist bereits seit über einem Jahr abgelaufen, und die EU-Kommission hat bereits ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Ziel unseres Entwurfs ist – im Einklang mit den Anforderungen der Richtlinie – eine bessere Zahlungsdisziplin im Geschäftsverkehr. Wir wollen insbesondere den Mittelstand davor schützen, dass er durch vertragliche Zahlungs- oder Überprüfungsfristen den Zahlungsschuldnern praktisch einen kostenlosen Kredit einräumen muss. Betroffen sind neben vielen anderen auch das Handwerk und das Baugewerbe, wie wir aus der inten-siven Diskussion der vergangenen Wochen wissen. Gerade für diese Unternehmen ist Zeit ein entscheidender Faktor: Können sie wegen langer Zahlungsziele oder verspäteter Zahlungen ihre eigenen Zahlungsverpflichtungen nicht erfüllen, droht ihnen im schlimmsten Falle Insolvenz. Dies gilt es zu verhindern, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Silke Launert [CDU/CSU]) Um dieses Ziel zu erreichen, beschränkt der Entwurf vor allem das Recht, vertraglich Zahlungs-, Abnahme- und Überprüfungsfristen zu vereinbaren. Dabei ist, wie die Diskussion auch in der vergangenen Legislatur-periode ergeben hat, ein stärkerer Schutz dort erforderlich, wo übermäßig lange Zahlungsziele mittels Allgemeiner Geschäftsbedingungen vereinbart werden. Daher ist vorgesehen, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen, in denen sich ein Schuldner vorbehält, erst nach mehr als 30 Tagen zu zahlen, im Zweifel unwirksam sind. Die Richtlinie sieht eine solche 30-Tage-Frist zwar nur für öffentliche Auftraggeber als Zahlungsschuldner vor. Anders als von manchen befürchtet, bedeutet die Erstreckung dieser Regelung auf Unternehmen aber keineswegs eine dramatische Verschärfung der geltenden Rechtslage. Denn schon heute orientiert sich die Rechtsprechung bei der Beurteilung der Wirksamkeit solcher Klauseln an einer 30-Tage-Frist. Auch Überprüfungs- und Abnahmefristen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen werden stärker beschränkt: Solche Fristen sind im Zweifel unangemessen, wenn sie mehr als 15 Tage betragen. Eine größere Vertragsfreiheit verbleibt den Parteien freilich dort, wo sie sich individualvertraglich auf Zahlungs-, Überprüfungs- oder Abnahmefristen einigen. Hier gilt in Übereinstimmung mit der Richtlinie Folgendes: Lässt sich ein Unternehmer eine Zahlungsfrist von mehr als 60 Tagen einräumen, so ist diese Vereinbarung nur wirksam, wenn sie, wie es im Entwurf steht, „ausdrücklich getroffen“ und „nicht grob unbillig“ ist. Dieselben Wirksamkeitsanforderungen gelten, wenn sich Unternehmer oder öffentliche Auftraggeber Überprüfungs- und Abnahmefristen von mehr als 30 Tagen einräumen lassen. Im Hinblick auf vereinbarte Zahlungsfristen gelten, wenn der Zahlungsschuldner ein öffentlicher Auftraggeber ist, wie bereits erwähnt, strengere Anforderungen. Eine Frist von mehr als 30 Tagen ist dann nur wirksam, wenn sie „ausdrücklich getroffen“ und „sachlich gerechtfertigt“ ist. Eine Zahlungsfrist von mehr als 60 Tagen ist in jedem Fall unwirksam. Abgesehen von dieser Höchstfrist bedeutet die Beschränkung der Vertragsfreiheit, wie aufgezeigt, nicht, dass die Vereinbarung längerer Fristen nun generell verboten wäre. Für sie müssen aber künftig besondere Gründe vorliegen. So stellen wir sicher, dass schwächere Vertragspartner nicht so leicht übervorteilt werden. Um zu gewährleisten, dass die neuen Regelungen auch wirklich eingehalten werden, wird Unternehmensverbänden künftig das Recht zugestanden, Ansprüche auf Unterlassung von gesetzwidrigen AGB oder entsprechenden Geschäftspraktiken gerichtlich geltend zu machen. Dies kommt vor allem kleinen und mittleren Unternehmen zugute. Sie werden mit der Durchsetzung ihrer Ansprüche nicht alleingelassen. Der Entwurf sieht schließlich verstärkte Rechtsfolgen für den Zahlungsverzug vor. So wird zum einen der gesetzliche Verzugszins um 1 Prozentpunkt auf 9 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz erhöht. Zum anderen wird bei Verzug des Zahlungsschuldners ein Anspruch auf eine Pauschale von 40 Euro eingeführt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird häufig gefragt, wie es denn dazu kommt, dass schlechte Zahlungsmoral oft bei großen Unternehmen oder öffentlichen Auftraggebern auftritt. Die Gründe für eine schlechte Zahlungsmoral – das wissen wir – sind vielfältig und lassen sich nicht pauschal Unternehmen bestimmter Größe oder dem öffentlichen bzw. privaten Sektor zuordnen. Die Europäische Kommission geht davon aus, dass vor allem die Marktstruktur, insbesondere die Marktmacht des Zahlungsschuldners und die Angst des Gläubigers vor einer Beeinträchtigung der Geschäftsbeziehungen wesentliche Ursachen sind. Man darf aber auch nicht die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen außer Acht lassen, insbesondere nicht eine Konjunkturabschwächung, fehlende Finanzmittel und Haushaltszwänge sowie unzureichende interne Organisation von Gläubigern und Schuldnern; denn auch das hat Einfluss auf die Zahlungsmoral. Deshalb will ich es an dieser Stelle nicht verschweigen. Meine Damen und Herren, weil das so ist, wollen wir diese neuen Regelungen jetzt so schnell wie möglich in Kraft setzen und auch für bestehende Dauerschuldverhältnisse gelten lassen; Letzteres allerdings nur, sofern die Leistung, für die ein Zahlungsziel vereinbart wurde, nach dem Juni 2015 erbracht wurde. Ich gehe davon aus, dass diese Übergangsfrist ausreichen wird, um bestehende Rahmenverträge anzupassen. Ich bin also davon überzeugt, meine Damen und Herren, dass der nun vorliegende Entwurf eine ausgewogene Lösung der verschiedenen Interessen bereithält. Ich hoffe daher, dass auch in Deutschland bald Regeln gelten werden, die im Geschäftsverkehr für einen fairen Ausgleich zwischen Schuldnern und Gläubigern von Entgeltforderungen sorgen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Richard Pitterle von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Richard Pitterle (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher! Mit dem heute vor-liegenden Gesetzentwurf soll der Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen bekämpft werden. Künftig sollen Vereinbarungen über Zahlungstermine eine bestimmte Frist nicht überschreiten dürfen. Das Zahlen von Rechnungen kann dann nicht mehr bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden. Das sollte auch und vor allem kleinen und mittleren Unternehmen helfen. Die Fraktion Die Linke begrüßt dieses Ziel ausdrücklich. In der Regel ist es nämlich so, dass bei den Verhandlungen darüber, wann eine bestimmte Leistung zu bezahlen ist, das kleine Unternehmen der Marktmacht des großen Unternehmens ausgeliefert ist. Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen. Der kleine Handwerker oder der kleine Zulieferer, der mit einem Großabnehmer Geschäfte macht, ist häufig auf Folgeaufträge angewiesen und will es sich daher mit seinem größeren Geschäftspartner nicht verscherzen. Das heißt, dass er bei den Verhandlungen über Zahlungsfristen eher einknicken wird und natürlich der größere Geschäftspartner seine Überlegenheit voll ausspielen kann. Das Schlimme ist, dass gerade kleine und mittlere Unternehmen oft wenig bis gar keine finanziellen Polster haben, um lange auf Zahlungseingänge warten zu können. Der Malermeister von nebenan zum Beispiel kann auf diese Weise im schlimmsten Fall in die Pleite getrieben werden. Hingegen dürfte es den größeren Unternehmen in der Regel nichts ausmachen, auf die Belange der kleineren einzugehen. In der Realität sieht es jedoch oft anders aus. Hier muss den kleinen und mittleren Unternehmen daher der Rücken gestärkt werden. (Beifall bei der LINKEN) Zurück zum Gesetzentwurf. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, der ganz große Wurf ist Ihnen hier leider nicht gelungen. Jetzt mögen Sie zwar sagen, dass Sie hier wenig Spielraum hatten, da dem Entwurf eine EU-Richtlinie zugrunde liegt, die zwingend in nationales Recht umzusetzen ist. Dennoch wäre hier Luft nach oben gewesen. In der dem Entwurf zugrundeliegenden EU-Richtlinie heißt es in Artikel 12 nämlich – ich zitiere –: Die Mitgliedstaaten können Vorschriften beibehalten oder erlassen, die für den Gläubiger günstiger sind als die zur Erfüllung dieser Richtlinie notwendigen Maßnahmen. Das hätten Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, beherzigen sollen. In der nun schon länger andauernden Diskussion um den vorliegenden Entwurf ist bereits mehrfach die Befürchtung geäußert worden, die nunmehr festzulegenden Höchstfristen könnten das bisherige Leitbild im deutschen Zivilrecht verdrängen. Bisher ist nach § 271 BGB nämlich grundsätzlich sofort nach Erhalt der Leistung zu zahlen, auch wenn abweichende Vereinbarungen getroffen werden können. Wenn nun aber, wie durch Ihren Entwurf vorgesehen, auf einmal die Höchstfrist von 60 Tagen ausdrücklich im Gesetz genannt ist, so liegt es durchaus nahe, dass dann diese Höchstfrist auch gern als Richtwert genommen wird und der Gläubiger entsprechend lange auf sein Geld warten muss. Hier hätten Sie sich dazu durchringen müssen, über die EU-Richtlinie hinauszugehen und kürzere Fristen festzulegen. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, auch darüber hinaus schwächelt Ihr Entwurf. Er ist nämlich unübersichtlich und mit Detailregelungen überfrachtet. Zwar will ich Ihnen zugestehen, dass bereits die zugrundeliegende EU-Richtlinie nicht gerade als leichte Bettlektüre bezeichnet werden kann. Aber dennoch: Eine übersichtlichere Umsetzung in das deutsche Zivilrecht wäre angebracht gewesen. Wer sich im Recht der Schuldverhältnisse auskennt, weiß, dass hier eine ohnehin umfangreiche und komplizierte Regelungsmaterie vorliegt. Diese wird durch die im Entwurf vorgesehenen Änderungen nicht gerade übersichtlicher gestaltet. Auslegungsschwierigkeiten und entsprechende Differenzen scheinen jetzt schon vorprogrammiert. Versetzen Sie sich nun bitte wieder in die Lage des kleinen Unternehmers, also zum Beispiel des Malermeisters von nebenan. Dieser wird mit höchster Wahrscheinlichkeit keine eigene Rechtsabteilung haben, die ihm bei den Vertragsverhandlungen mit Rat und Tat zur Seite steht und ihn durch die Niederungen des Bürgerlichen Gesetzbuches führt. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, an anderer Stelle betonen Sie gern die Bedeutung des Mittelstands. Seien Sie konsequent, und zeigen Sie dies auch durch entsprechende Verbesserungen des vorliegenden Entwurfs. Kleine und mittlere Unternehmen dürfen von der Politik nicht im Stich gelassen werden. Setzen Sie sich also für deren Belange ein. Die Linke wird das jedenfalls weiterhin tun. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner hat der Kollege Dr. Harbarth das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befassen uns heute in der ersten Lesung mit dem Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr. Dieses Gesetz hat uns bereits in der 17. Legislaturperiode intensiv beschäftigt. Wir haben das Thema in der letzten Legislaturperiode auch in den parlamentarischen Gremien und in Sachverständigenanhörungen ausführlich diskutiert. Wir haben im parlamentarischen Bereich auch eine Reihe von Ideen entwickelt. Deshalb freuen wir uns sehr, dass in dem Entwurf, der uns jetzt vorliegt, auf viele dieser Ideen, die im parlamentarischen Raum entwickelt wurden, zurückgegriffen wurde. Warum ist der Kampf gegen Zahlungsverzug so wichtig? Er ist deshalb so wichtig, weil eine in die Zukunft hinausgeschobene Handlung dem etwas nimmt, dem das Geld eigentlich zusteht, nämlich dem Gläubiger. Aber der Schutz des Gläubigers ist kein Selbstzweck, sondern der Schutz ist deshalb so wichtig, weil die Folgewirkungen oft dramatisch sind, gerade für mittelständische Unternehmen, für Unternehmen, die eine dünne Liquiditätsdecke haben, für Unternehmen, die angeschlagen sind, für Unternehmen, die sich in schwierigen Zeiten befinden. Wir wollen, dass eine Kultur rechtzeitiger Zahlung in Deutschland und europaweit etabliert wird. Wir haben gesehen, wie gerade mittelständische Unternehmen und Handwerksbetriebe sich viele Sorgen um dieses Thema machen. Das gilt für die Baubranche und auch für viele andere Sparten, wo etwa dann, wenn eine große Rechnung vom Schuldner nicht rechtzeitig bezahlt wird, ein Unternehmen oder ein kleiner Betrieb ins Straucheln kommen kann, was durchaus existenzielle Gefahren bergen kann. Für uns ist es wichtig, dass dieses Thema auf europäischer Ebene angegangen wird. Das ist für uns deshalb wichtig, weil die üblichen Zahlungsrhythmen in Europa weit auseinanderlaufen. Wir haben heute viel grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr. Für viele mittelständische Unternehmen ist es heute genauso normal, in ein benachbartes europäisches Land zu liefern, wie in einen anderen Teil unseres Landes zu liefern. Die Zeitpunkte der Zahlungseingänge sind in Europa aber sehr unterschiedlich. Untersuchungen von Euler Hermes aus dem Jahr 2012 zufolge warten Gläubiger in Deutschland im Schnitt 24 bis 30 Tage auf den Zahlungseingang. In Frankreich und Belgien sind es im Schnitt bereits 61 Tage. Nach Feststellung der Europäischen Kommission muss ein Lieferant EU-weit durchschnittlich 65 Tage warten, bis die öffentliche Hand Rechnungen begleicht. Besondere Probleme gibt es in Südeuropa. In Italien zahlt die öffentliche Hand durchschnittlich erst nach 135 Tagen, in Griechenland erst nach 160 Tagen. Private Unternehmen zahlen demgegenüber durchschnittlich nach 52 Tagen. Wenn man sich ansieht, wie sehr das auseinandergeht, dann ist zweierlei klar: Es ist wichtig, für die öffentliche Hand besonders strikte Vorgaben vorzusehen, und es ist wichtig, einen europaweiten Ansatz zu wählen. Das ist durch die Zahlungsverzugsrichtlinie auf europäischer Ebene geschehen. Wir als Deutscher Bundestag haben uns in der vergangenen Legislaturperiode in einer fraktionsübergreifenden, einstimmig beschlossenen Stellungnahme zum ersten Entwurf dieser Richtlinie sehr klar positioniert. Der erste Entwurf enthielt noch eine Vielzahl von Mängeln. Darin waren einige kuriose Dinge enthalten, die mit unseren Rechtstraditionen, insbesondere aber mit Gerechtigkeit und Billigkeit nicht in Einklang zu bringen gewesen wären. Wir haben uns sehr gefreut, dass die klare und laute Stimme, mit der wir fraktionsübergreifend vorgetragen haben, in Europa gehört wurde. Wir haben es in der letzten Legislaturperiode trotz intensiver Beratungen nicht mehr geschafft, das Gesetz zu verabschieden. Ich freue mich deshalb, dass wir uns gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode dieses wichtigen Themas annehmen. Hinsichtlich des Inhalts darf ich zur Vermeidung von Wiederholungen auf das verweisen, was Herr Staatssekretär Lange zum Entwurf ausgeführt hat. Wichtig ist, dass im Geschäftsverkehr der Spielraum, die Zahlungsziele ganz weit nach hinten zu schieben, eingeengt wird. Grundsätzlich wird es nur noch unter strengen Voraussetzungen möglich sein, in Individualvereinbarungen längere Zahlungsziele als 60 Tage vorzusehen. Bei der öffentlichen Hand wird es nur unter strengen Voraussetzungen möglich sein, längere Zahlungsziele als 30 Tage vorzusehen. In Allgemeinen Geschäftsbedingungen wird die generelle Vorgabe 30 Tage lauten. Davon kann nur abgewichen werden – die Formulierung lautet ja „im Zweifel“ –, wenn aus den Besonderheiten der jeweiligen Geschäftsbeziehung etwas anderes resultiert. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Entschuldigung, Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Frau Präsidentin, ich möchte Sie ungerne korrigieren, aber mir waren zehn Minuten Redezeit zugeteilt. In Ihr Gerät waren nur fünf Minuten einprogrammiert. Ich kann Ihnen aber schon jetzt versichern, die zehn Minuten nicht auszuschöpfen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, auch eine Präsidentin ist durchaus bereit, es anzuerkennen, wenn sie nicht recht hat. Sie haben recht: Es sind zehn Minuten. Die Programmierung habe ich leider nicht kontrolliert. Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Vielen Dank, Frau Präsidentin. Kein Problem. Ein freier Abgeordneter verteidigt seine Rechte. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir freuen uns, dass es im Juni eine Sachverständigenanhörung geben wird. Da werden wir über einzelne Bereiche vielleicht noch einmal diskutieren müssen. Wir werden auch diskutieren müssen, ob vielleicht in bestimmten Geschäftsbeziehungen irgendwelche praktischen Probleme zutage treten, die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens noch nicht gesehen wurden. Wir sind der festen Überzeugung, dass das, was auf dem Tisch liegt, ein sehr guter Entwurf ist. Es ist vor allen Dingen ein mittelstandsfreundlicher Entwurf, der dazu beitragen wird, die Stabilität mittelständischer Unternehmen insgesamt, gerade auch in schlechten Zeiten, sicherzustellen. In dem Bewusstsein, die zehn Minuten nicht ausgeschöpft zu haben, danke ich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kommen wir zur nächsten Rednerin. Das ist Katja Keul von den Grünen. Hier sind fünf Minuten Redezeit einprogrammiert; es steht auch auf meinem Zettel. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Auch Frau Kollegin Keul muss nicht so lange reden!) Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die EU-Richtlinie vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr umgesetzt werden. Kritische Stimmen haben nicht ganz zu Unrecht angemerkt, dass es eigentlich nicht um die Bekämpfung, sondern um die Beschleunigung von Zahlungsverzug geht. Das angestrebte Ziel ist aber so oder so ein berechtigtes. Lange Zahlungsfristen und verzögerte Abnahmen im Baurecht sind gerade für kleinere Unternehmer und Handwerker ein ernstzunehmendes wirtschaftliches Risiko. Da nützt es auch nichts, den Wortlaut des § 271 BGB zu loben und zu preisen, der besagt, dass die Leistung im Zweifelsfall sofort verlangt werden kann. Die Praxis sieht anders aus. Für die Abnahme im Baurecht gibt es bisher überhaupt keine Frist. Dennoch sind die Befürchtungen nachvollziehbar, dass eine ausdrückliche Regelung, die vom Regelfall abweichende Zahlungsfristen auf maximal 60 Tage beschränkt, gerade dazu führen könnte, dass vermehrt solche Vereinbarungen geschlossen werden. Es ist ein Dilemma: Indem man die Vertragsfreiheit einschränken will, bringt man manche Vertragspartner möglicherweise erst darauf, von dieser Vertragsfreiheit maximalen Gebrauch zu machen. Umso wichtiger ist, dass man dann klare Regeln schafft, wie die unterschiedlichen Fristen zusammenwirken: die Zahlungsfrist, die Abnahmefrist und die Verzugsfristen. Das ist meines Erachtens noch nicht gut gelungen. Soll zusätzlich zur Abnahmefrist von 30 Tagen noch eine weitere Frist von 60 Tagen bis zur Fälligkeit möglich sein? Das kann ja wohl nicht gemeint sein. Wer ein Werk abnimmt, hat damit auch die Berechtigung, die Gegenleistung prüfen zu können. Es sollte also klargestellt werden, dass die Abnahmefrist auf die weitere Zahlungsfrist anzurechnen ist. Auch das Verhältnis zum Verzugseintritt ist nicht wirklich eindeutig. In § 286 BGB, der den Verzug regelt, steht nur eine kryptische Verweisung. Besser wäre es, ausdrücklich klarzustellen, dass mit Ablauf einer nach § 271 a BGB vereinbarten Zahlungsfrist auch zeitgleich der Verzug eintritt. Mich irritiert ernsthaft die Tatsache, dass die Vertragspartner einerseits völlig frei bleiben sollen, Ratenzahlungen mit unbegrenzter Laufzeit zu vereinbaren, was zweifellos sinnvoll sein kann, dabei aber andererseits niemals auf Verzugszinsen verzichten dürfen. So jedenfalls liest sich der Entwurf es neuen § 288 Absatz 6 BGB: Eine … Vereinbarung, die den Anspruch des Gläubigers einer Entgeltforderung auf Verzugszinsen ausschließt, ist unwirksam. Wie soll ich als Gläubigerin sonst meinen finanziell angeschlagenen Schuldner zur pünktlichen Ratenzahlung motivieren, vom insolventen Schuldner ganz zu schweigen? Das scheint mir doch etwas über das Ziel hinausgeschossen zu sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch bei den Verbandsklagen bin ich mir nicht sicher, ob im Hinblick auf individuelle Vertragsabsprachen nicht etwas zu weit gegriffen wurde. Nach der deutschen Systematik sind Verbandsklagen bislang nur dort möglich, wo eine Individualklage mangels subjektiver Rechtsverletzung nicht möglich ist oder – wie beim Verbraucherschutz – eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle betroffen ist. Wenn aber nur eine individuelle Vereinbarung zwischen zwei Beteiligten unwirksam ist, die sonst niemanden betrifft, fragt sich, warum dann ein Dritter, also ein Verband, klagen können soll. Hier gibt es offensichtlich auch Zweifel, ob die Richtlinie das in dieser weiten Form überhaupt verlangt. Diesen Zweifeln sollten wir noch einmal nachgehen. Systematisch unschön, wenn auch nicht weltbewegend, ist die Regelung in § 308 BGB zu den Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Diese Norm gilt nach § 310 BGB bislang ausdrücklich nur für Verbraucher und soll jetzt um eine Nummer ergänzt werden, die ausgerechnet den Geschäftsverkehr und damit gerade keine Verbraucher betrifft. Dadurch müssen dann wieder Ausnahmen in den Verweisungen eingeführt werden, was das Gesetz nicht gerade klarer macht. Das müsste doch auch eleganter zu lösen sein. Nachvollziehbar finde ich auch den Wunsch aus der Praxis, nicht immer neue Begrifflichkeiten ins BGB einzuführen. Brauchen wir jetzt wirklich einen „groben Nachteil“, oder tut es nicht auch die altbewährte „grobe Unbilligkeit“? Ich habe registriert, dass auch der Staatssekretär in seiner Rede von „grob unbillig“ gesprochen hat; das würde meinem Anliegen schon entgegenkommen. Soll das Wort „ausdrücklich“ wirklich auch mündliche Vereinbarungen erfassen, oder sollten wir es nicht lieber auf Schriftliches beschränken? Und bevor alle anfangen, zu grübeln, was genau eine „Zahlungsaufstellung“ ist, könnten wir es doch einfach wie immer „Zahlungsaufforderung“ nennen. Jenseits dieser technischen Feinheiten bleibt die entscheidende Frage, ob die deutsche Umsetzung der Richtlinie auch wirklich die angestrebte Wirkung erzielt, nämlich den Zahlungsverkehr zu beschleunigen. Daran habe ich erhebliche Zweifel. Wenn wir schon wieder zusätzliche Normen in das BGB einfügen, dann doch bitte welche, die auch funktionieren. Ich hoffe, dass die Beratungen im Ausschuss dazu etwas beitragen können. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner hat der Kollege Dirk Wiese von der SPD das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dirk Wiese (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Handwerk und der Mittelstand in Deutschland verstehen sich zu Recht als „die Wirtschaftsmacht von nebenan“. Hier arbeiten täglich Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, hier wird ausgebildet, gerade im Handwerk, dem Ausbilder der Nation, wo zudem – das muss man an dieser Stelle anmerken – jedes Jahr eine Meisterfeier stattfindet. Das schafft nicht einmal der FC Bayern München – vom Pokalsieg am 17. Mai an dieser Stelle ganz zu schweigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Handwerk und der Mittelstand sind für die deutsche Wirtschaft von immenser Bedeutung. Sie sind sozusagen das Fundament unserer Volkswirtschaft. Um es anders zu formulieren: Wenn der Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist, dann ist das Handwerk das zentrale Nervensystem. Umso wichtiger ist es für die Politik, für gute wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen in unserem Land zu sorgen. Aktuell ist eines der größten Probleme der Betriebe, dass sie oft viel zu lang finanziell in Vorleistung treten müssen. Rechnungen werden meist erst spät bezahlt. Für Unternehmer und Selbstständige birgt das ein großes Risiko; denn sie laufen Gefahr, ihre eigenen Rechnungen und ihre Angestellten nicht mehr bezahlen zu können. Aufgrund fehlender Liquidität müssen sie dann Insolvenz anmelden, und das, obwohl sie auf dem Papier eigentlich ein deutliches Plus verzeichnen müssten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem die letzte, schwarz-gelbe Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der die parlamentarischen Hürden Gott sei Dank genauso wenig überwunden hat wie die FDP die Fünfprozenthürde, legen wir heute einen wesentlich verbesserten Gesetzentwurf vor, der auf der einen Seite die Interessen von Mittelstand und Handwerk schützt und auf der anderen Seite durchaus auch von der Industrie und dem Handel begrüßt werden könnte. Schließlich möchten auch diese sofort das Geld vom Kunden erhalten und nicht monatelang darauf warten. Um es am Beispiel des Handels deutlich zu machen: Ich kann im Supermarkt an der Kasse, nachdem ich die Ware eingepackt habe, auch nicht einfach sagen: Ich komme in 90 Tagen wieder und bezahle dann. – Ich glaube, das wäre das letzte Mal, dass ich in diesem Supermarkt einkaufen dürfte. An dieser Stelle müssen wir ansetzen. Kurzum: Die Selbstverständlichkeit der unverzüglichen Bezahlung muss auch im allgemeinen Wirtschaftsleben wieder deutlich ins Bewusstsein gerückt werden. Denn es kann aus meiner Sicht nicht sein, dass Konzerne, die mit enormen Summen operieren, mit jedem Tag ihrer Säumigkeit auch noch einen zusätzlichen Zinsgewinn einfahren. Das geht nicht. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE]) Der Zentralverband des Deutschen Handwerks begrüßt diese „mittelstandsfreundliche Gesetzgebung“ und unterstreicht, dass die Bundesregierung „mit ihrem -Gesetzentwurf ein deutliches Zeichen zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr“ setzt und „schlechter Zahlungsmoral und unverhältnismäßig langen Zahlungsfristen … so künftig ein wirksamer Riegel vorgeschoben“ wird. (Beifall bei der SPD) Dieses Lob des Zentralverbands des Deutschen Handwerks freut uns Sozialdemokraten natürlich ganz besonders; schließlich wurde die SPD 1863 von einem Handwerksmeister gegründet. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Lassen Sie mich ergänzend zu Staatssekretär Christian Lange kurz zwei Punkte aufgreifen. Der Entwurf sieht vor, dass im Geschäftsverkehr grundsätzlich Zahlungsfristen von maximal 60 Tagen vereinbart werden können. Eine längere Frist ist nur noch dann zulässig, wenn sie von den Vertragsparteien ausdrücklich vereinbart wird und für den Gläubiger nicht grob nachteilig ist. Denn wer Rechnungen nicht bezahlt, gefährdet mittelbar die Arbeitsplätze in den kleinen und mittleren Unternehmen. Das ist sozial ungerecht, und das geht nicht. Da die öffentliche Hand gerade bei der Zahlungsmoral eine Vorbildfunktion einnehmen muss, haben wir für den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öffentlichen Auftraggebern eine wesentlich strengere Regelung festgesetzt: In diesen Fällen beträgt die Zahlungsfrist künftig grundsätzlich 30 Tage. An dieser Stelle möchte ich einen Mann aus der Praxis, Willy Hesse, Präsident des Westdeutschen Handwerkskammertages, wohnhaft im Sauerland, zitieren, der mit Blick auf öffentliche Auftraggeber sagte: „Vier Monate auf das Geld warten, das ist vor allem in Großstädten keine Seltenheit.“ Das geht aus meiner Sicht nicht. Das müssen und wollen wir ändern. Aus meiner Sicht muss die öffentliche Hand hier eine Vorbildfunktion einnehmen; da gebe ich Ihnen vollkommen recht, Herr Dr. Harbarth. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Der zweite Punkt. Vertragsklauseln, welche Verzugszinsen ausschließen, werden zukünftig als grob nachteilig und deshalb als unwirksam anzusehen sein. Diese Änderung im AGB-Recht ist richtig. Die neue Regelung, die wir in § 308 BGB vornehmen, schützt die jeweils schwächere Vertragspartei; es ist eine richtige Regelung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss kommen. Sie sehen: Die rot-schwarze Bundesregierung legt ein wirksames Instrument vor, um die Zahlungsmoral im Geschäftsverkehr zu verbessern. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) Kurzum: Sozialdemokraten und Wirtschaft – das passt. Davon verstehen wir etwas. Wir stärken das Handwerk und den deutschen Mittelstand. Vielen Dank und allen ein schönes Wochenende. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Launert das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Bekämpfung des Zahlungsverzuges im Geschäftsverkehr wird nun endlich die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates der EU umgesetzt. Es handelt sich beim Thema „Bekämpfung des Zahlungsverzugs“ nicht nur um ein europäisches Anliegen zur Förderung des grenzübergreifenden Handels, wie es so schön in der Richtlinie heißt, sondern es geht um ein nationales Anliegen. Warum? Ganz klar – es wurde mehrfach schon angedeutet –: Wenn der Unternehmer Forderungen hat, diese aber nicht geltend machen kann und deshalb nicht in der Lage ist, innerhalb der nächsten 30 Tage seine eigenen fälligen Verbindlichkeiten aus seinen liquiden Mitteln zu zahlen, dann muss er Insolvenz anmelden. Der Unternehmer kann nichts dafür: Einige seiner Kunden zahlen nicht, und er ist von heute auf morgen ein Kunde des Insolvenzgerichts. Das trifft besonders hart die kleinen und mittelständischen Unternehmen; das wurde schon mehrfach betont. Oft schaffen sie es, sich zu retten, allerdings oft durch teure Kredite. Das bedeutet: zusätzliche Belastungen durch die Kredite, durch die Zinsen, zusätzliche Belastungen durch die Kosten der Eintreibung, durch Mahngebühren, Kosten des Inkassounternehmens oder sogar für einen Anwalt. Das führt zu Wettbewerbsverzerrungen. Das hat das Europäische Parlament zu Recht erkannt und die richtigen Maßnahmen eingeleitet. Ich verstehe deshalb nicht, Frau Keul, wieso Sie das Vorhaben infrage stellen und fragen, ob das überhaupt ein geeignetes Instrumentarium ist. Es ist nicht einzusehen, wieso ein kleiner Handwerksbetrieb bei der Hinausschiebung der Abnahme kostenlose oder billige „Gläubigerkredite“ gewähren muss, also letztlich denen, die die Marktmacht haben, das Geld schenken muss. Ich freue mich, dass wir endlich etwas für den Mittelstand auf den Weg bringen. Die einzelnen Punkte des Reformvorhabens wurden bereits vorgetragen. Die grundsätzliche Höchstfrist beläuft sich auf 60 Tage bei Individualvereinbarungen. Ich sehe nicht das von Herrn Pitterle und Frau Keul angesprochene Problem, dass sich dadurch die Zahlungsmoral verschlechtert. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Arbeiten Sie sich an der Opposition ab!) Ganz im Gegenteil: Wenn ich eine Höchstfrist für Vereinbarungen festlege, dann begrenze ich doch etwas. Am Gesetz selbst ändert sich doch nichts. Es gilt nach wie vor § 271 BGB. Diejenigen, die schon zuvor eine Individualvereinbarung getroffen haben, treffen sie auch jetzt. Diejenigen, die zuvor keine getroffen haben, treffen sie auch jetzt nicht. Es gibt eine erhebliche Begrenzung im Bereich der formularmäßigen Vereinbarung im AGB-Bereich, und zwar zu Recht, weil dort in besonderem Maße das Über- und Unterordnungsverhältnis zum Ausdruck kommt. Aus der Praxis kann ich Ihnen sagen: Kein Mensch liest das. Da hier ein besonderer Schutz erforderlich ist, legen wir eine grundsätzliche Höchstfrist von 30 Tagen fest. Man hat sich Zeit genommen, die Interessen abgewogen und eine praxistaugliche Lösung gefunden, die letztlich allen Seiten gerecht wird. Diese Höchstfristen – es handelt sich nicht um eine Festschreibung von Fristen, sondern um eine Begrenzung bei Vereinbarungen – ermöglichen eine Orientierung für die Rechtsprechung und helfen kleinen Unternehmen, ohne Rechtsbeistand auf Zahlungsverzug bzw. die Situation, dass der Schuldner nicht zahlt, schneller zu reagieren. Man braucht nicht viel Geld für einen Anwalt auszugeben; denn was eine Frist von 30 Tagen bedeutet, versteht eigentlich jeder Unternehmer. Ich freue mich auch über die Begrenzung bei der Überprüfungs- und Abnahmefrist. Im AGB-Bereich liegt sie meistens bei 15 Tagen. Ebenso freue ich mich über die nun geltende Pauschale, auch wenn sie manchem lächerlich erscheinen mag. Aber bislang muss jeder Schaden konkret nachgewiesen werden, um einen Schadenersatzanspruch – dieser Schutz existiert ja schon jetzt – geltend machen zu können. Ich finde eine Pauschale von 40 Euro praxis-tauglich. Wir haben das in vielen anderen Bereichen auch, zum Beispiel bei unserer Aufwandspauschale. Man muss nicht alles im Detail nachweisen, sondern es gibt eine Pauschale von 40 Euro. Das mag manchen ein bisschen disziplinieren und führt zu einer Erleichterung. Ich hoffe, dass sich dadurch auch einige Gerichtsverfahren erübrigen. Es ist wirklich unglaublich, wegen welch kleiner Beträge solche Verfahren oft geführt werden. Der vorletzte Punkt, den ich ansprechen möchte, sind die Verzugszinsen. Ich glaube, es wurde noch nicht erwähnt, dass wir den Verzugszins von 8 auf 9 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz erhöhen. Außerdem wird es in Zukunft nicht mehr möglich sein, den gesetzlich festgeschriebenen Verzugszins auszuschließen. Das ist toll. Das ist etwas Gutes für den Mittelstand. Zum Thema Verbandsklage. Frau Keul, ich weiß gar nicht, warum Sie das schlecht finden, wenn Sie doch für den kleinen Unternehmer sind. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie genauer zuhören!) Für den kleinen Unternehmer ist es doch gut, wenn er selbst keinen Prozess gegen einen großen, starken Konzern führen muss, sondern die Möglichkeit hat, das zu verlagern. Dadurch spart er Geld und Zeit. Außerdem zerstört er so vielleicht nicht seine Geschäftsbeziehung zu dem großen, marktmächtigen Unternehmer. Ich freue mich, dass wir das endlich machen. Ich wünsche mir, dass wir das möglichst schnell durchsetzen, und zwar ohne viel Parteipolemik und ohne die Suche nach nicht so ganz perfekten Formulierungen. Lassen Sie uns das Thema anpacken und die Sache durchziehen. Das ist echte Mittelstandspolitik. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Sehr geehrte Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/1309 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist diese Überweisung so beschlossen. Ich bitte Sie, noch einen Augenblick zu warten. Wir müssen noch eine andere wichtige Handlung vornehmen. Um auch der Form Genüge zu tun, müssen wir die Überweisung des Gesetzentwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto beschließen. Hier wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/1308 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 21. Mai 2014, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. (Schluss: 14.57 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 09.05.2014 Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 09.05.2014 Binder, Karin DIE LINKE 09.05.2014 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 09.05.2014 Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 09.05.2014 Gohlke, Nicole DIE LINKE 09.05.2014 Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 09.05.2014 Groß, Michael SPD 09.05.2014 Heil (Peine), Hubertus SPD 09.05.2014 Held, Marcus SPD 09.05.2014 Dr. Hendricks, Barbara SPD 09.05.2014 Hirte, Christian CDU/CSU 09.05.2014 Hoffmann, Alexander CDU/CSU 09.05.2014 Dr. Hofreiter, Anton BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 09.05.2014 Junge, Frank SPD 09.05.2014 Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 09.05.2014 Dr. Kofler, Bärbel SPD 09.05.2014 Lay, Caren DIE LINKE 09.05.2014 Lotze, Hiltrud SPD 09.05.2014 Meier, Reiner CDU/CSU 09.05.2014 Mindrup, Klaus SPD 09.05.2014 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 09.05.2014 Dr. Rosemann, Martin SPD 09.05.2014 Rützel, Bernd SPD 09.05.2014 Schavan, Annette CDU/CSU 09.05.2014 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 09.05.2014 Spinrath, Norbert SPD 09.05.2014 Strässer, Christoph SPD 09.05.2014 Strothmann, Lena CDU/CSU 09.05.2014 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 09.05.2014 Ulrich, Alexander DIE LINKE 09.05.2014 Dr. Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 09.05.2014 Wagner, Doris BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 09.05.2014 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede des Abgeordneten Christian Petry (SPD) zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur -Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (33. Sitzung, Tagesordnungspunkt 17) Vor ziemlich genau einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht die Ungleichbehandlung von eingetragenen Lebenspartnerschaften und Ehen im Steuerrecht für verfassungswidrig erklärt. Das Gericht stellte klar, dass das sogenannte Ehegattensplitting in seiner damaligen Form gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz verstößt. Damit hat das Gericht nochmals unterstrichen, dass der besondere Schutz der Ehe, der in unserer Verfassung festgeschrieben ist, keine Ungleichbehandlung zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft rechtfertigt. Für mich steht fest: Diese Entscheidung ist richtig und war absolut überfällig. Die SPD setzt sich seit Jahren für eine vollständige Gleichstellung von Ehen und eigetragenen Lebenspartnerschaften ein. Es muss der Grundsatz gelten: Wer gleiche Pflichten übernimmt wie in der Ehe, wer sich verspricht, für den Partner einzustehen, der bekommt auch die gleichen Rechte. Alles andere ist mit meinem Rechtsverständnis nicht vereinbar. Bereits im letzten Jahr hat der Bundestag mit den Stimmen aller Fraktionen das Einkommensteuerrecht angepasst. Hier wurde die Diskriminierung von Schwulen und Lesben beseitigt – ein wichtiger erster Schritt. Allerdings blieben viele damit zusammenhängende diskriminierende Formulierungen im Steuerrecht unangetastet. Die SPD hat im Sommer 2013 dazu bereits einen umfassenden Vorschlag zur Beseitigung dieser Diskri-minierungen vorgelegt. Leider wurde unser Vorschlag damals noch von der schwarz-gelben Mehrheit im Par-lament blockiert. Heute haben wir eine neue Bundesregierung, die diese Ungleichbehandlungen endlich beseitigt. Damit sind wir beim Kern der heutigen Debatte: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesfinanzministeriums werden noch bestehende Ungleichbehandlungen der eingetragenen Lebenspartnerschaft etwa in den Bereichen des Bundeskindergeldgesetzes, des Eigenheimzulagegesetzes, der Abgabenordnung und des Altersvorsorge-Zertifizierungsgesetzes abgeschafft. Die Bundesregierung hat es sich zur Aufgabe gemacht, die vielen, kleinteiligen technischen Änderungen in einem Gesetz zu bündeln. Dieses liegt nun dem Deutschen Bundestag vor und wird heute in den zuständigen Fachausschuss überwiesen. Ich bin mir sicher, dass unsere Änderungsvorschläge auf breite Zustimmung stoßen werden. Die Abschaffung von Diskriminierung von eingetragenen Lebenspartnerschaften im Steuerrecht muss schließlich im Interesse aller im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen liegen. Kurzum: Im Steuerrecht hat die Bundesregierung damit ihre Hausaufgaben gemacht. Ich will an dieser Stelle aber auch auf andere, offen gebliebene Fragen bei der Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft eingehen: Die Unionsfraktion hat lange gesetzliche Änderungen für eingetragene Lebenspartnerschaften blockiert und musste erst vom Bundesverfassungsgericht zu einem Umdenken gezwungen werden. Auch heute sind sich SPD und Union etwa in der Frage nach einem vollen Adoptionsrecht für eingetragene Lebenspartnerschaften uneins. Das bedauere ich sehr. Ich blicke aber dennoch optimistisch in die Zukunft, wenn ich in unseren Koalitionsvertrag schaue, in dem wir verabredet haben, dass „bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden“. Wir als SPD fordern bereits seit Jahren die vollständige Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaften. Ich nehme unseren Koalitionspartner daher beim Wort. Unser Justizminister Heiko Maas hat mit -seinem Gesetzentwurf zur Sukzessivadoption hier die Marschrute vorgegeben. Ich bin mir sicher, dass wir in den kommenden Jahren weitere Schritte hin zur vollständigen Gleichstellung gehen werden. Regenbogenfamilien sind Teil unseres Alltags. Das gilt nicht nur für Großstädte wie Berlin oder Hamburg, sondern auch für die vielen ländlichen Gegenden in Deutschland. Überall dort leben Kinder glücklich in Regenbogenfamilien zusammen und meistern ihren Alltag. Diese Vielfalt ist eine Bereicherung für unsere Gesellschaft, die es auch mit unserem politischen Wirken zu unterstützen gilt. In den kommenden Beratungen im Finanzausschuss werden wir dieses Thema noch mal ausführlich diskutieren. Ich bin überzeugt, dass der vorliegende Gesetzentwurf dabei im großen Konsens verabschiedet wird. Es ist wichtig, dass fraktionsübergreifend ein Signal hin zur Abschaffung von Diskriminierungen von eingetragenen Lebenspartnerschaften gesendet wird. Der Deutsche Bundestag übernimmt damit auch eine Vorbildfunktion: für eine offene, für eine tolerante und für eine bunte Gesellschaft, in der wir leben wollen. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 921. Sitzung am 11. April 2014 beschlossen, dem nachstehenden Gesetz zuzustimmen: Gesetz zu dem Abkommen vom 8. April 2013 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Östlich des Uruguay über Soziale Sicherheit Darüber hinaus hat der Bundesrat in seiner 921. Sitzung am 11. April 2014 gemäß § 3 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 bis 3, Satz 3 bis 5 des Standortauswahlgesetzes folgende Mitglieder der „Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ gewählt: Vorsitz der Kommission im Wechsel je Sitzung: Ursula Heinen-Esser Michael Müller Vertreter der Wissenschaft: Dr. Detlef Appel (Geologe) Hartmut Gaßner (Jurist) Prof. Dr. Armin Grunwald (Physik und Biologie) Dr. Ulrich Kleemann (Geologe) Prof. Dr.-Ing. Wolfram Kudla (Bauingenieur; Boden- und Felsenmechanik) Michael Sailer (Chemiker) Hubert Steinkemper (Jurist) Prof. Dr. Bruno Thomauske (Physiker) Vertreter der gesellschaftlichen Gruppen: Edeltraud Glänzer (Deutscher Gewerkschaftsbund) Dr. Ralf Güldner (Bundesverband der Deutschen Industrie) Prof. Dr. Gerd Jäger (Bundesverband der Deutschen Industrie) Ralf Meister (Evangelische Kirche in Deutschland) Prof. Dr. Georg Milbradt (Kommissariat der Deutschen Bischöfe) Erhard Ott (Deutscher Gewerkschaftsbund) N.N. (Umweltverbände) N.N. (Umweltverbände) Mitglieder der Landesregierungen: Minister Franz Untersteller (Baden-Württemberg) Staatsminister Dr. Marcel Huber (Bayern) Minister Christian Pegel (Mecklenburg-Vorpommern) Minister Stefan Wenzel (Niedersachsen) Minister Garrelt Duin (Nordrhein-Westfalen) Ministerpräsident Stanislaw Tillich (Sachsen) Ministerpräsident Dr. Reiner Haselhoff (Sachsen-Anhalt) Minister Dr. Robert Habeck (Schleswig-Holstein) Stellvertretende Mitglieder der Landesregierungen: Senator Michael Müller (Berlin) Ministerin Anita Tack (Brandenburg) Senator Dr. Joachim Lohse (Bremen) Staatsministerin Priska Hinz (Hessen) Senatorin Jutta Blankau-Rosenfeldt (Hamburg) Staatsministerin Eveline Lemke (Rheinland-Pfalz) Minister Reinhold Jost (Saarland) Minister Jürgen Reinholz (Thüringen) Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mitgeteilt, dass sie den Antrag Erneute Überprüfung der Deutschen Energieagentur (dena) durch den Bundesrechnungshof auf Drucksache 18/181 zurückzieht. Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der NATO Frühjahrstagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO vom 25. bis 28. Mai 2012 in Tallinn, Estland Drucksachen 18/231, 81/817 Nr. 1 – Unterrichtung durch die Delegation der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 23. bis 27. April 2012 in Straßburg Drucksachen 18/625, 18/817 Nr. 3 Ausschuss für Wirtschaft und Energie – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ein Konzept zur Förderung, Entwicklung und Markteinführung von geothermischer Stromerzeugung und Wärmenutzung Drucksachen 16/13128, 18/770 Nr. 13 Bericht gem. § 56a GO-BT des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Technikfolgenabschätzung (TA) Gesetzliche Regelungen für den Zugang zur Informa-tionsgesellschaft Drucksachen 17/11959, 18/641 Nr. 7 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesnetzagentur nach § 112a Absatz 3 des Energiewirtschaftsgesetzes zu den Erfahrungen mit der Anreizregulierung Drucksachen 18/536, 18/817 Nr. 2 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über Verkehrsverlagerungen auf das nachgeordnete Straßennetz infolge der Einführung der Lkw-Maut auf vier- und mehrstreifigen Bundesstraßen Drucksachen 18/689, 18/817 Nr. 7 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Verkehrsinvestitionsbericht für das Berichtsjahr 2012 Drucksachen 18/580, 18/891 Nr. 1 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Unterrichtung durch die Bundesregierung 15. Bericht des Ausschusses für die Hochschulstatistik für den Zeitraum 1. Juni 2008 bis 31. Mai 2012 Drucksachen 17/13668, 18/641 Nr. 11 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/1048 Nr. A.1 EuB-BReg 23/2014 Drucksache 18/1048 Nr. A.2 EuB-BReg 25/2014 Drucksache 18/1048 Nr. A.3 Ratsdokument 7505/14 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/1048 Nr. A.13 Ratsdokument 7635/14 Ausschuss für Gesundheit Drucksache 18/642 Nr. C.10 Ratsdokument 12751/12 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Drucksache 18/419 Nr. A.128 EP P7_TA-PROV(2013)0443 Drucksache 18/419 Nr. A.129 Ratsdokument 11064/13 Drucksache 18/419 Nr. A.130 Ratsdokument 11851/13 Drucksache 18/419 Nr. A.131 Ratsdokument 11917/13 Drucksache 18/419 Nr. A.132 Ratsdokument 12242/13 Drucksache 18/419 Nr. A.133 Ratsdokument 12633/13 Drucksache 18/419 Nr. A.134 Ratsdokument 13068/13 Drucksache 18/419 Nr. A.135 Ratsdokument 13457/13 Drucksache 18/419 Nr. A.136 Ratsdokument 14637/13 Drucksache 18/419 Nr. A.137 Ratsdokument 14912/13 Drucksache 18/419 Nr. A.138 Ratsdokument 15030/13 Drucksache 18/419 Nr. A.139 Ratsdokument 15051/13 Drucksache 18/419 Nr. A.140 Ratsdokument 15468/13 Drucksache 18/419 Nr. A.141 Ratsdokument 15845/13 Drucksache 18/419 Nr. A.142 Ratsdokument 15878/13 Drucksache 18/419 Nr. A.143 Ratsdokument 15889/13 Drucksache 18/544 Nr. A.44 Ratsdokument 5190/14 Anlagen