Plenarprotokoll 18/63 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 63. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeordneten Klaus Ernst 5785 A Wahl der Abgeordneten Matthias W. Birkwald und Dr. Alexander S. Neu in das Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ 5785 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 5785 B Absetzung des Tagesordnungspunktes 16 5786 A Tagesordnungspunkt 4: a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen: Verbesserter automatischer Informationsaustausch – Einigung auf wirksamere Regeln zur Bekämpfung von Steuerflucht 5786 A b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung Drucksache 18/3018 5786 A Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF 5786 B Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) 5790 A Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) 5792 B Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5793 D Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) 5795 A Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) 5797 C Richard Pitterle (DIE LINKE) 5799 B Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) 5800 A Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5801 A Klaus Ernst (DIE LINKE) 5802 B Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5803 C Andreas Schwarz (SPD) 5805 A Bettina Kudla (CDU/CSU) 5806 C Dr. Carsten Sieling (SPD) 5807 C Uwe Feiler (CDU/CSU) 5808 D Tagesordnungspunkt 5: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des -Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) Drucksachen 18/2575, 18/2626, 18/3088 5810 B – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge Drucksachen 18/2576, 18/2627, 18/3088 5810 C b) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes Drucksachen 18/2577, 18/2629, 18/3082 5810 C – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des -Europäischen Stabilitätsmechanismus Drucksachen 18/2580, 18/2628, 18/3082 5810 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsauschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: Durchführungsbestimmungen zum Instrument der direkten Bankenrekapitalisierung durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 4 Absatz 1 des ESM-Finanzierungsgesetzes Drucksachen 18/2669, 18/3082 5810 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 1: Beschlussempfehlung und Bericht des -Finanzausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Risiko und Haftung zusammenführen – Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstellen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gemeinsam die Haftung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler beenden – Für einen einheitlichen europäischen Restrukturierungsmechanismus – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Manuel Sarrazin, Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwick-lung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Bankenabwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des -Europäischen Parlaments und des Rates – KOM(2013) 520 endg.; Ratsdok. 12315/13 – hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes – Zum Schutz der Allgemeinheit vor Einzelinteressen – Für eine echte Europäische Bankenunion Drucksachen 18/97, 18/98, 18/774, 18/3088 5811 B Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) 5811 B Alexander Ulrich (DIE LINKE) 5813 B Johannes Kahrs (SPD) 5814 A Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5815 C Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF 5817 A Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) 5819 C Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF 5819 D Dr. Axel Troost (DIE LINKE) 5820 A Manfred Zöllmer (SPD) 5821 C Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5823 A Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) 5823 D Norbert Barthle (CDU/CSU) 5824 C Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) 5826 B Alexander Radwan (CDU/CSU) 5828 D Tagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Das Massensterben an den EU-Außengrenzen beenden – Für eine offene, solidarische und humane Flüchtlingspolitik der Europäischen Union Drucksachen 18/288, 18/2946 5832 B Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) 5832 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) 5834 A Christina Kampmann (SPD) 5835 B Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5837 B Nina Warken (CDU/CSU) 5838 C Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5839 D Dr. Karamba Diaby (SPD) 5840 C Andrea Lindholz (CDU/CSU) 5842 A Stefan Liebich (DIE LINKE) 5842 C Max Straubinger (CDU/CSU) 5843 C Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) 5844 C Tagesordnungspunkt 36: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG Drucksache 18/2953 5846 A b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … -Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht Drucksache 18/2954 5846 A c) Antrag der Abgeordneten Ulle Schauws, Katja Keul, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Artikel 36 der Istanbul-Konvention umsetzen – Bestehende Strafbarkeitslücken bei sexueller Gewalt und Vergewaltigung schließen Drucksache 18/1969 5846 B Tagesordnungspunkt 37: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung mautrechtlicher Vorschriften hinsichtlich der Einführung des europäischen elektronischen Mautdienstes Drucksachen 18/2656, 18/2988 5846 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/2991 5846 C b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 15 vom 24. Juni 2013 zur Änderung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Drucksachen 18/2847, 18/3072 5846 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale In-frastruktur zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Änderung der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung – 16. BImSchV) Drucksachen 18/2849, 18/2931, 18/3065 5847 A d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz: Übersicht 3 – über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht Drucksache 18/2921 5847 A e)–i) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 103, 104, 105, 106 und 107 zu Petitionen Drucksachen 18/2889, 18/2890, 18/2891, 18/2892 (neu), 18/2893 5847 B Zusatztagesordnungspunkt 2: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Walter-Rosenheimer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jugend-arbeitslosigkeit in Europa bekämpfen – Stopp des Programms MobiPro-EU sofort aufheben Drucksachen 18/1343, 18/1531 5847 D Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zu den alarmierenden Ergebnissen des Weltklimaberichts und dem Handlungsbedarf für mehr Klimaschutz 5848 A Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5848 A Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU) 5849 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) 5850 B Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin BMUB 5851 B Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) 5853 B Ralph Lenkert (DIE LINKE) 5854 C Dr. Matthias Miersch (SPD) 5855 B Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5856 B Andreas Jung (CDU/CSU) 5857 C Frank Schwabe (SPD) 5858 D Matern von Marschall (CDU/CSU) 5860 A Dr. Nina Scheer (SPD) 5861 A Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) 5862 A Tagesordnungspunkt 7: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften Drucksachen 18/2581, 18/3004, 18/3077 5863 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/3083 5863 B Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär BMI 5863 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) 5865 A Dr. Lars Castellucci (SPD) 5866 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5867 D Andrea Lindholz (CDU/CSU) 5869 D Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5869 D Josip Juratovic (SPD) 5871 B Tagesordnungspunkt 8: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes Drucksachen 18/2592, 18/3000, 18/3073 5872 C – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/3084 5872 C b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Luise Amtsberg, Kerstin Andreae, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes Drucksachen 18/2736, 18/3073 5872 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: -Sozialrechtliche Diskriminierung beenden – Asylbewerberleistungsgesetz aufheben Drucksachen 18/2871, 18/3073 5872 D Daniela Kolbe (SPD) 5873 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) 5874 A Jutta Eckenbach (CDU/CSU) 5875 A Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 5876 B Kerstin Griese (SPD) 5877 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5878 C Matthäus Strebl (CDU/CSU) 5879 C Josip Juratovic (SPD) 5880 B Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) 5880 D Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Ulle Schauws, Tabea Rößner, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Grundlagen für Gleichstellung im Kulturbetrieb schaffen Drucksache 18/2881 5882 B Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5882 B Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU) 5883 C Sigrid Hupach (DIE LINKE) 5884 D Hiltrud Lotze (SPD) 5885 D Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) 5886 D Burkhard Blienert (SPD) 5888 D Tagesordnungspunkt 10: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen Drucksachen 18/2752, 18/3070 5889 C Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin BMUB 5889 D Heidrun Bluhm (DIE LINKE) 5890 C Kai Wegner (CDU/CSU) 5892 A Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5893 B Jutta Blankau-Rosenfeldt, Senatorin (Hamburg) 5894 C Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU) 5895 D Nina Warken (CDU/CSU) 5897 A Tagesordnungspunkt 11: Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Sabine Leidig, Thomas Lutze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland Drucksachen 18/806, 18/2989 5898 B Herbert Behrens (DIE LINKE) 5898 C Karl Holmeier (CDU/CSU) 5899 C Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5900 D Sebastian Hartmann (SPD) 5902 A Steffen Bilger (CDU/CSU) 5903 C Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5904 A Herbert Behrens (DIE LINKE) 5904 D Kirsten Lühmann (SPD) 5905 D Ulrich Lange (CDU/CSU) 5906 D Roland Claus (DIE LINKE) 5907 C Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Resolution 1996 (2011) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und Folgeresolutionen, zuletzt 2155 (2014) vom 27. Mai 2014 Drucksache 18/3005 5908 D Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg 5909 A Jan van Aken (DIE LINKE) 5910 A Thomas Hitschler (SPD) 5911 B Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5912 D Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) 5913 C Tagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Jürgen Trittin, Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kündigung des bilateralen Atomabkommens mit Brasilien Drucksachen 18/2610, 18/2907 5914 C Dr. Nina Scheer (SPD) 5914 D Hubertus Zdebel (DIE LINKE) 5915 B Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) 5916 A Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5917 B Hiltrud Lotze (SPD) 5918 C Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur (UNAMID) auf Grundlage der Resolution 1769 (2007) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007 und folgender Resolutionen, zuletzt 2173 (2014) vom 27. August 2014 Drucksache 18/3006 5919 D Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg 5920 A Christine Buchholz (DIE LINKE) 5921 A Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) 5921 D Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5923 A Julia Bartz (CDU/CSU) 5924 A Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von den Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes für mehr Kontinuität der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzgesetz 2014) Drucksache 18/3042 5925 A Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings Drucksachen 18/1774, 18/3066 5925 B Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Umsatzsteuerbetrug bekämpfen Drucksache 18/1968 5925 C Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes Drucksachen 18/2707, 18/3064 5925 C Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Dr. André Hahn, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen Drucksache 18/2308 5926 A Tagesordnungspunkt 21: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes Drucksachen 18/2602, 18/3069 5926 A Tagesordnungspunkt 22: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 Drucksachen 18/2655, 18/3071 5926 B Tagesordnungspunkt 23: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen Drucksachen 18/2846, 18/3068 5926 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Sigrid Hupach, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversicherung ermöglichen Drucksachen 18/2786, 18/3067 5926 D Tagesordnungspunkt 24: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Mi-krozensusgesetzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes Drucksachen 18/2141, 18/3078 5927 B Tagesordnungspunkt 25: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäische Schutzanordnung, zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und zur Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Drucksache 18/2955 5927 C Tagesordnungspunkt 26: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen Drucksache 18/2956 5927 D Tagesordnungspunkt 27: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften Drucksache 18/3017 5928 A Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern (revidiert) Drucksache 18/2654 5928 A Nächste Sitzung 5928 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 5929 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Stephan Harbarth, Dr. Heribert Hirte und Dr. Hendrik Hoppenstedt (alle CDU/CSU) zu den Abstimmungen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des -Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfe-instrumente nach Artikel 19 des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) 5929 C Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) zu den Abstimmungen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des -Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfe-instrumente nach Artikel 19 des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) 5930 A Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) zu den Abstimmungen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des -Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge (Tagesordnungspunkt 5 a) 5931 C Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Sabine Dittmar, Markus Paschke und Susann Rüthrich (alle SPD) zur Abstimmung über das Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 8 a) 5932 A Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zum Entwurf eines Gesetzes für mehr Kontinuität der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzgesetz 2014) (Tagesordnungspunkt 15) 5932 C Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) 5932 C Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) 5933 B Michael Gerdes (SPD) 5934 A Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD) 5934 D Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) 5935 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5936 C Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Umsatzsteuerbetrug bekämpfen (Tagesordnungspunkt 17) 5937 B Fritz Güntzler (CDU/CSU) 5937 B Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) 5938 C Frank Junge (SPD) 5939 C Richard Pitterle (DIE LINKE) 5940 D Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5941 D Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings (Tagesordnungspunkt 18) 5942 D Matthias Hauer (CDU/CSU) 5942 D Andreas Schwarz (SPD) 5944 A Dr. Axel Troost (DIE LINKE) 5945 C Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5946 A Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen (Tagesordnungspunkt 19) 5946 D Reinhard Grindel (CDU/CSU) 5946 D Johannes Steiniger (CDU/CSU) 5948 B Michaela Engelmeier (SPD) 5949 B Dr. André Hahn (DIE LINKE) 5950 A Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5951 C Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes (Tagesordnungspunkt 20) 5952 A Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU) 5952 B Marlene Mortler (CDU/CSU) 5953 C Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) 5954 B Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) 5955 B Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5956 A Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 21) 5956 C Ansgar Heveling (CDU/CSU) 5956 D Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) 5957 C Christian Flisek (SPD) 5958 C Saskia Esken (SPD) 5959 A Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) 5959 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5960 B Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (Tagesordnungspunkt 22) 5961 A Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) 5961 A Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) 5962 C Dirk Wiese (SPD) 5963 C Halina Wawzyniak (DIE LINKE) 5964 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5965 A Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen – Beschlussempfehlung und Bericht: Kurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversicherung ermöglichen (Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b) 5965 D Sebastian Steineke (CDU/CSU) 5965 D Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) 5966 D Dr. Matthias Bartke (SPD) 5967 C Dirk Wiese (SPD) 5968 B Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) 5968 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5969 C Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes (Tagesordnungspunkt 24) 5970 C Andrea Lindholz (CDU/CSU) 5970 C Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) 5972 A Jan Korte (DIE LINKE) 5972 D Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5974 C Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäische Schutzanordnung, zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und zur Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Tagesordnungspunkt 25) 5975 D Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU) 5975 D Dennis Rohde (SPD) 5977 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE) 5978 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5978 D Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV 5979 B Anlage 16 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen (Tagesordnungspunkt 26) 5980 A Anja Karliczek (CDU/CSU) 5980 B Manfred Zöllmer (SPD) 5981 D Susanna Karawanskij (DIE LINKE) 5982 C Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5983 D Anlage 17 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Tagesordnungspunkt 27) 5984 D Olav Gutting (CDU/CSU) 5984 D Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) 5985 D Dr. Jens Zimmermann (SPD) 5986 C Richard Pitterle (DIE LINKE) 5988 B Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5989 B Anlage 18 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurf eines Gesetzes von der Bundesregierung zu dem Europäischen Überein-kommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern (revidiert) (Tagesordnungspunkt 28) 5990 C Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU) 5990 D Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) 5991 D Jörn Wunderlich (DIE LINKE) 5992 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 5992 D Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV 5993 C 63. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 Beginn: 9.02 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich zur 63. Sitzung des Deutschen Bundestages. Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich dem Kollegen Klaus Ernst gratulieren, der in den zurückliegenden Tagen seinen 60. Geburtstag gefeiert hat. (Beifall) Alle guten Wünsche für die nächsten Jahre. Wir müssen dann noch eine Wahl durchführen. Die Fraktion Die Linke schlägt vor, dass in das Kuratorium der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland der Kollege Matthias Birkwald als Nachfolger für den Kollegen Dr. Alexander Neu als ordentliches Mitglied berufen wird und der Kollege Neu dem Kollegen Birkwald als stellvertretendes Mitglied nachfolgt, mit anderen Worten, dass sie ihre jeweiligen Positionen tauschen. Hat dagegen jemand schwerwiegende Bedenken? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Risiko und Haftung zusammenführen – Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstellen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gemeinsam die Haftung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler beenden – Für einen einheitlichen europäischen Restrukturierungsmechanismus – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Manuel Sarrazin, Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Bankenabwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates KOM(2013) 520 endg.; Ratsdok. 12315/13 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Zum Schutz der Allgemeinheit vor Einzelinteressen – Für eine echte Europäische Bankenunion Drucksachen 18/97, 18/98, 18/774, 18/3088 ZP 2 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Walter-Rosenheimer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämpfen – Stopp des Programms MobiPro-EU sofort aufheben Drucksachen 18/1343, 18/1531 ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haltung der Bundesregierung zu den alarmierenden Ergebnissen des Weltklimaberichts und dem Handlungsbedarf für mehr Klimaschutz Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 16 soll abgesetzt werden. Die Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken entsprechend vor. Darf ich auch zu diesen Vereinbarungen Ihr Einverständnis feststellen? – Das ist der Fall. Dann können wir so verfahren. Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen Verbesserter automatischer Informationsaustausch – Einigung auf wirksamere Regeln zur Bekämpfung von Steuerflucht b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung Drucksache 18/3018 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. – Auch das ist offenkundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erhält nun der Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in der letzten Woche hier in Berlin zusammen mit den Vertretern von 51 weiteren Staaten und Gebieten eine multilaterale Vereinbarung über den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten unterzeichnet. Danach werden ab 2017 die Steuerbehörden in Deutschland und in den anderen Unterzeichnerstaaten in einem automatisierten Verfahren Kontoinformationen von den in ihrem Staat oder Gebiet ansässigen Banken und Finanzdienstleistern erhalten, und sie werden diese Daten untereinander austauschen. Das ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen internationale Steuerhinterziehung. Wer sich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daran erinnert, wie langwierig und wie mühsam die Verhandlungen allein zur EU-Zinsrichtlinie in den letzten 15 Jahren gewesen sind, der wird um die Tragweite des jetzt beschlossenen automatischen Informationsaustausches wissen. Wenn man außerdem bedenkt, dass wir vor mehr als zwei Wochen in demselben Finanzministerrat, in dem wir 15 Jahre mit der EU-Zinsrichtlinie nicht so richtig vorangekommen sind, einstimmig beschlossen haben, dass wir den automatischen Informationsaustausch ab 2017 über die sogenannte Amtshilferichtlinie in europäisches Recht umsetzen, erkennt man, was hier in kurzer Zeit an Veränderungen doch möglich geworden ist. Mit dem Inkrafttreten dieses Informationsaustausches stehen die Länder, die sich daran beteiligen, als Fluchtort für Kapitalvermögen nicht mehr zur Verfügung. Somit wird es schwieriger – unmöglich wird es nie, aber hoffentlich schwieriger –, Kapitaleinkünfte vor der rechtmäßigen Besteuerung zu verbergen. Steuerhinterziehung wird unattraktiver. Dieser internationale Informationsaustausch geht auf eine gemeinsame Initiative von Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und Deutschland zurück. Wir haben uns früh für diese umfassende internationale Kooperation eingesetzt. In der immer unübersichtlicher werdenden Welt des 21. Jahrhunderts können ja kleine, vor allem aber große Vermögen per Knopfdruck im Internet auf der ganzen Welt hin- und hergeschoben werden. In einer solchen Welt reichen die bisherigen bilateralen Doppelbesteuerungs- und Informationsaus-tauschabkommen nicht mehr aus. Wir brauchen einen internationalen Ordnungsrahmen, in dem einheitliche Standards gelten. Diesen multilateralen Ansatz treiben wir jetzt voran. Wir haben jetzt 52 Unterzeichnerstaaten. Es werden sich aber weitere Staaten dem Abkommen anschließen. Insgesamt bekennen sich bereits rund 100 Staaten und Gebiete zu diesem Abkommen, darunter auch so wichtige Finanzzentren wie die Schweiz und Singapur. Ich bin sicher, dass in kurzer Zeit weitere Staaten folgen werden. (Richard Pitterle [DIE LINKE]: Und Luxemburg?) – Luxemburg hat unterzeichnet. Luxemburg ist schon bei den Unterzeichnerstaaten der vergangenen Woche. Auch in Luxemburg haben sich die Dinge geändert. Da bleibt zwar noch viel zu tun, wie wir in den Zeitungen lesen können. Das ist wahr. Wobei es da, wenn ich es in den Zeitungen richtig lese – zu dem Thema komme ich auch noch –, nicht nur illegale Steuerhinterziehung gibt, sondern eben auch die Ausnutzung von legalen Gestaltungsmöglichkeiten. (Zuruf von der LINKEN: Das ist wohl wahr!) Dagegen etwas zu unternehmen, ist der nächste Schritt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Neben der Verringerung legaler Gestaltungsmöglichkeiten ist natürlich zunächst vor allem wichtig, dass wir dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden. Die Bekämpfung der illegalen Steuerhinterziehung ist deswegen also nicht weniger wichtig. Aber wir haben jetzt eine neue Phase internationaler Steuerkooperation, weil alle eingesehen haben, dass es so nicht weitergehen kann. Das hat auch Konsequenzen für das Bankgeheimnis. Das drückt in vielen Ländern ja ein wichtiges Grundverständnis zwischen Staat und Bürgern aus. Das hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass die Menschen nicht gegenüber jedermann alles offenlegen wollen. Das Recht auf Privatheit verstehen wir ja auch vor dem Hintergrund des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im Datenschutz in seiner Bedeutung immer besser. Es geht also auch um das Bankgeheimnis. Das Bankgeheimnis besteht mit diesem automatischen Informationsaustausch jedenfalls gegenüber den Steuerverwaltungen – das muss man sagen – nicht mehr fort. Aber es bleibt ja Aufgabe des Datenschutzes, dafür zu sorgen, dass die Bürger nicht gegenüber jedermann ihre privaten Verhältnisse offenlegen müssen. Wir legen jedenfalls auch bei dieser Steuerkooperation hohen Wert auf den Datenschutz. Es müssen auch beim automatischen Informationsaustausch die höchsten Standards gelten. Wir haben dafür eine eigene Datenschutzklausel bei der OECD hinterlegt. Diese Form von Steuerpolitik ist im Übrigen ein zentraler Baustein einer stabilitätsorientierten Finanzpolitik. Wir brauchen in Deutschland nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum, und das erreichen wir nur, wenn wir Vertrauen bei Investoren und Verbrauchern schaffen bzw. erhalten. Investoren brauchen Planungssicherheit und gute Rahmenbedingungen, um weiter am Wirtschaftsstandort Deutschland zu investieren, um Forschung zu betreiben, um Innovationen zu entwickeln, um gute Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei spielen zuverlässige steuerpolitische Rahmenbedingungen eben eine große, wichtige Rolle. Dazu gehört auch die Zusage, dass wir in dieser Legislaturperiode keine Steuern erhöhen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU) Im Übrigen will ich in dem Zusammenhang die Bemerkung machen: Unser finanzpolitischer Spielraum ist bei der Fortsetzung dieser richtigen Finanzpolitik begrenzt. Umgekehrt ist die Bereitschaft des Bundesrats, einnahmemindernden Gesetzesvorschlägen zuzustimmen – die Zustimmung des Bundesrats zu solchen Gesetzen ist notwendig, wie wir spätestens seit dem gescheiterten Gesetz zum Abbau der kalten Progression wissen –, nicht vorhanden. Deswegen rate ich dazu, nicht allzu viel Kreativität bei Steuersenkungsvorschlägen zu entwickeln. Denn da sie kurzfristig nicht zu realisieren sein werden, können sie im Zweifel nur Verunsicherung schüren. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja einmal eine interessante Ansage!) Das können wir wirtschaftlich überhaupt nicht gebrauchen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Kerstin Andreae: Das ist interessant: Wir machen nichts, weil der Bundesrat blockiert! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir können euch auch bitten, mitzumachen, wie beim Asyl!) Es wäre wünschenswert, die Auswirkungen der kalten Progression endlich zu beseitigen. (Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Herr Präsident, ich bekomme hier ein Zeichen, dass Sie mir etwas sagen wollen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Nein, das war versehentlich. Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Dann bitte ich um Nachsicht. Präsident Dr. Norbert Lammert: Weil wir bei Regierungserklärungen, Herr Kollege Gambke, üblicherweise keine Zwischenfragen zulassen, bitte ich, das gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt zu tun. Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Also erinnere ich nur noch einmal daran – wahrscheinlich wäre das auch die Zwischenfrage gewesen –: Wir haben 2012 ein Gesetz zum Abbau der kalten Progression verabschiedet. Es ist aber leider vom Bundesrat blockiert worden, und bis heute hat sich daran nichts geändert. Aber wir versuchen, in den laufenden Verhandlungen mit den Ländern darüber eine Einigung zu erzielen, damit wir das endlich schaffen können. Jetzt haben wir im Zusammenhang mit dem automatischen Informationsaustausch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, eine Diskussion über die Abgeltungsteuer. Ich erinnere wieder und wieder daran: Die Abgeltungsteuer ist mit dem Argument eingeführt worden – es war in seiner kommunikativen Wirkung schwer zu übertreffen –: 25 Prozent von X ist mehr als 45 Prozent von nix. – Solange man die Informationen nicht hat, ist eine Abgeltungsteuer in der Abwägung der Argumente – pro und kontra – zumindest eine mit guten Argumenten versehene Lösung. Wenn der automatische Informationsaustausch eingeführt ist, kann man noch einmal überprüfen, ob die Argumente dann noch so gelten. Aber ich rate dazu, dass wir jetzt zunächst einmal warten, bis der automatische Informationsaustausch eingeführt ist. Wir haben jetzt seine Einführung vereinbart. Ab 2017 soll er funktionieren, und dann können wir es tun. Es ist immer so: Wenn man den zweiten Schritt vor dem ersten geht, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Fällt man auf die Schnauze!) gerät man leicht ins Stolpern. Deswegen gehen wir Schritt für Schritt voran. Das ist sehr viel besser. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Im Übrigen will ich angesichts öffentlicher Debatten, die einen manchmal schon amüsieren können, sagen: Unser Steuersystem ist im Hinblick auf unseren modernen Industriestandort international wettbewerbsfähig. Wir haben keine höhere Unternehmensbesteuerung als vergleichbare Industriestaaten. Die Unternehmensbesteuerung in Deutschland ist etwa im Vergleich zu den Vereinigten Staaten von Amerika spürbar niedriger. Wir bieten attraktive Rahmenbedingungen für Investitionen und Innovationen. Wir sollten das weder leichtfertig gefährden noch leichtfertig zerreden. Aber natürlich ist entscheidend, dass die bestehenden Steueransprüche auch konsequent durchgesetzt werden. Dazu ist der automatische Informationsaustausch ein wichtiger Schritt, indem er illegale Steuerflucht für die Zukunft erschwert und im Ausland lagernde Kapitalvermögen einer korrekten Besteuerung im Inland zuführt. Damit bekämpfen wir das Problem, dass den öffentlichen Haushalten durch Steuerflucht Steuereinnahmen in Milliardenhöhe fehlen. Indem wir bestehende Steueransprüche durchsetzen – auch daran muss man erinnern –, sichern wir die Grundlagen unseres Gemeinwesens. Unser Bildungswesen, unsere Verkehrsinfrastruktur, unsere innere Sicherheit, unsere hohe soziale Absicherung – all das und noch viel mehr hängt davon ab, dass die öffentlichen Haushalte zuverlässig und auskömmlich finanziert sind. In diesem Land ist Konsens, dass dabei die Besteuerung an der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen auszurichten ist. Deswegen dürfen die Bezieher höherer Einkommen und die Besitzer größerer Vermögen nicht größere Möglichkeiten haben, sich der legalen Besteuerung zu entziehen. Niemand soll sich auf Kosten der Allgemeinheit seiner Steuerpflicht entziehen können. Dieses Prinzip wird durch illegale Steuerflucht infrage gestellt. Da natürlich die Menschen nicht ganz ohne Grund den Eindruck haben, dass Steuerflucht überwiegend bei größeren Vermögen stattfindet, handelt es sich um ein Problem, das mit Fairness und Gerechtigkeit zu tun hat. So verbessern wir mit dem automatischen Informationsaustausch Fairness und Gerechtigkeit in unserem Lande. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Nun müssen wir auch – damit komme ich zum zweiten Thema – im Bereich der Unternehmensbesteuerung auf die Sicherung der Einnahmebasis und auf höhere Steuergerechtigkeit achten. International tätige Konzerne haben mehr Möglichkeiten – dazu nutzen sie unterschiedliche Steuerregelungen im In- und Ausland aus –, um ihre Steuerbelastung zu minimieren. Das ist legal, aber im Übermaß betrieben ist das ein Problem für die Steuergesetzgebung und für die internationale Zusammenarbeit. In der globalisierten Welt werden Waren- und Kapitalströme immer mobiler; und damit auch die maßgeblichen Einkunftsquellen. Das ist das objektive Problem. Einkünfte stammen zunehmend aus immateriellen Werten, die steueroptimiert ins Ausland verlagert werden können. So transferieren international tätige Konzerne ihre Einkunftsquellen wie Patente und Lizenzen auf Tochterunternehmen im Ausland, um von niedrigeren Steuersätzen zu profitieren. Das führt dann zu Wettbewerbsverzerrungen im Verhältnis zu Unternehmen, die überwiegend im Inland operieren. Anders als bei multinationalen Konzernen sind die Strukturen und Geschäftsmodelle kleiner und mittlerer Unternehmen wenig dafür geeignet, die Möglichkeiten der international unterschiedlichen steuerlichen Regulierung auszunutzen. Deswegen müssen unsere steuerlichen Regelungen an die höhere Internationalität, Komplexität und auch an die neue Wirtschaftswelt der digitalen Dienstleistungen angepasst werden. Leider steigen übrigens dabei zwangsläufig auch die Anforderungen an Umsetzung und Vollzug der Regulierung. Einfacher wird es dadurch nicht. Wir haben in den letzten Jahren auch bei der Gestaltung der internationalen steuerlichen Bedingungen für Unternehmen eine Menge erreicht. Wir haben – das geschah wiederum maßgeblich auf unser Betreiben hin – im Rahmen der G 20 und im Rahmen der OECD Projekte gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung initiiert. Das ist die sogenannte BEPS-Initiative. BEPS steht für Base Erosion and Profit Shifting, also für die Erosion der steuerlichen Bemessungsgrundlage und die Verlagerung der Profite. Ziel dieses BEPS-Projekts ist es, international abgestimmte Standards zu vereinbaren, um die Möglichkeiten multinational tätiger Unternehmen zur kreativen Steuergestaltung zu begrenzen. Wir wollen den internationalen Steuerwettbewerb nicht abschaffen, aber wir wollen einen fairen Steuerwettbewerb für alle. Gewinne sollen dort besteuert werden, wo die zugrundeliegende unternehmerische Aktivität und die tatsächliche Wertschöpfung stattfinden. Wir wollen Doppelbesteuerung – das war schon immer so – verhindern, aber wir wollen auch zunehmend verhindern, dass es doppelte Nichtbesteuerung gibt. Beides führt nämlich zu Wettbewerbsverzerrungen und damit zu Behinderungen von marktwirtschaftlichen Prozessen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Im Übrigen sollen sich international tätige Konzerne genau wie andere Unternehmen auch angemessen an der Finanzierung der öffentlichen Haushalte beteiligen. Es kann nicht sein, dass sich wenige auf Kosten vieler bereichern. Das gilt übrigens für Staaten wie für Unternehmen, und es gilt in beiden Fällen für kleine wie für große. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Im Rahmen dieses Projekts hat die OECD in einer bemerkenswert kurzen Zeit – mein britischer Kollege und ich haben die Initiative vor drei Jahren in Mexiko gestartet – wirklich enorme Fortschritte auf diesem Gebiet zustande gebracht. Das muss man mit großem Respekt und voller Dankbarkeit sagen. Wir haben jetzt im September in Australien im Kreise der G-20-Finanzminister die ersten 7 von insgesamt 15 Aktionspunkten in Vorbereitung auf den G-20-Gipfel gebilligt. Die sollen in der kommenden Woche in Brisbane begrüßt werden. Im kommenden Jahr erwarten wir internationale Verständigung zu weiteren Punkten. Mit diesen konkreten und umsetzbaren Empfehlungen können die beteiligten Staaten dann den Gesetzgebungsprozess beginnen. Ich will das wichtigste Beispiel kurz erläutern. Im Bereich der Patent- und Lizenzboxen können international agierende Unternehmen ihre Patent- und Lizenzeinnahmen an konzerninterne Tochterunternehmen, die ihren Sitz in Ländern mit einem niedrigeren Steuersatz haben, verschieben und damit die Besteuerung minimieren. Deswegen ist der Inhalt der, dass die steuerliche Begünstigung solcher Aktivitäten in Mitgliedsländern nur insoweit noch erlaubt ist, als sie auf eigenen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten gründen. So können wir den Missbrauch durch Briefkastenfirmen in Zukunft verhindern. Darauf haben wir uns mit Großbritannien geeinigt. Wir besprechen im Moment die technischen Fragen für eine Übergangslösung, und die Vereinbarung soll dann auf der G-20-Ebene eingebracht werden. Danach werden wir sie in europäisches Recht überführen. Im Zuge dessen können wir in Deutschland ohne Verstoß gegen europäisches Recht eine Gesetzgebung auf den Weg bringen, gemäß der die Abzugsfähigkeit in Deutschland nur noch zugelassen ist, wenn die Regelungen in dem jeweils anderen Staat dieser Vereinbarung entsprechen. Im Übrigen hat die irische Regierung, wie Sie mitverfolgen konnten, angekündigt – auch dazu haben wir sehr viel beigetragen –, dass sie das als „Double Irish“ bekannte Schlupfloch für Unternehmen – es besteht im Wesentlichen darin, dass man rechtlich in Irland ansässig sein kann, ohne dort und damit auch in der Europäischen Union steuerpflichtig zu sein – abschaffen will. Das ist ebenfalls ein wichtiger Schritt. Schließlich wollen wir auch in der nationalen Steuerpolitik für mehr Gerechtigkeit und Fairness sorgen. Deswegen bringen wir den Gesetzentwurf zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung ein, mit dem die Regelungen zur strafbefreienden Selbstanzeige weiterentwickelt werden sollen. Wir haben uns intensiv mit den Ländern abgestimmt – Steuerverwaltung ist ja Sache der Länderverwaltungen – und sind uns einig, dass wir das Rechtsinstitut der strafbefreienden Selbstanzeige grundsätzlich beibehalten, aber die Bedingungen ab kommendem Jahr deutlich verschärfen wollen. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Richtig!) Im Wesentlichen soll die Grenze für die strafbefreiende Selbstanzeige von jetzt noch 50 000 Euro auf 25 000 Euro abgesenkt werden. Bis zu diesem Betrag bleibt sie straffrei, und es wird auch kein Strafzuschlag erhoben. Ab 25 000 Euro werden in Zukunft bei einer Selbstanzeige nach dem jeweiligen Hinterziehungsbetrag gestaffelte Strafzuschläge erhoben. Bei einem Hinterziehungsbetrag von 25 000 Euro bis 100 000 Euro soll ein Zuschlag von 10 Prozent gezahlt werden, ab 100 000 Euro bis zu 1 Million Euro 15 Prozent und über 1 Million Euro 20 Prozent. Des Weiteren soll der Berichtigungszeitraum von bisher fünf auf zehn Jahre ausgedehnt werden. Das heißt, Steuerhinterzieher, die von der Selbstanzeige Gebrauch machen wollen, müssen zu allen Steuerstraftaten einer Steuerart die Angaben in vollem Umfang berichtigen, ergänzen oder nachholen, und zwar für den Zeitraum der letzten zehn Jahre. Wir haben zugleich Wünsche aus der Praxis nach mehr Rechtssicherheit im Bereich der Umsatzsteuervoranmeldung und der Lohnsteueranmeldung aufgegriffen und setzen sie mit dem Gesetzentwurf um. Wir stellen den Rechtszustand, wie er vor dem Schwarzgeldbekämpfungsgesetz galt, wieder her, sodass künftig erneut mehrfache Korrekturen bei den Voranmeldungen im Laufe eines Jahres möglich sein werden. Das ist sicherlich richtig. Diesbezüglich sind wir damals bei der Schwarzgeldbekämpfung ein Stück zu weit gegangen. Die Abgabe einer Selbstanzeige in Form der Umsatzsteuerjahreserklärung für ein abgelaufenes Jahr soll wieder unabhängig davon erfolgen können, ob die Umsatzsteuervoranmeldungen für das laufende Jahr fehlerhaft waren. Mit diesen Neuregelungen haben wir einen ausgewogenen Kompromiss von Verschärfung der Folgen einer Steuerhinterziehung und notwendigen Korrekturmöglichkeiten bei komplexen Voranmeldungen erarbeitet. Die strafbefreiende Selbstanzeige bietet Steuerhinterziehern weiterhin einen Weg zurück in die Steuerehrlichkeit. Zugleich tragen wir mit der Verschärfung der Bedingungen dem Gerechtigkeitsempfinden Rechnung. Mit dem automatischen Informationsaustausch, den internationalen Standards gegen Steuergestaltung und Steuervermeidung und mit der Neuregelung der strafbefreienden Selbstanzeige unternehmen wir wichtige Schritte in Richtung von mehr Steuergerechtigkeit. Wir erhöhen die Steuergerechtigkeit im In- wie im Ausland, tragen zur Sicherung der Finanzierungsbasis der öffentlichen Haushalte bei und stärken damit das Vertrauen der Menschen ebenso wie die Rahmenbedingungen für Unternehmer und Investoren. Wir handeln im Sinne des Gedankens der Generalprävention, demzufolge Gesetze und Regelungen dem Schutz der Allgemeinheit dienen und das Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtsordnung, in diesem Fall die Steuerordnung, stärken, sei es durch mehr Transparenz, durch einheitliche Standards oder durch strengere Regeln. Wir haben nun die Chance, einen internationalen Ordnungsrahmen in Steuerfragen zu schaffen, der unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft nachhaltigen Nutzen und damit Wohlstand sichern kann, in Deutschland und weit darüber hinaus. Diese Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir nutzen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das, was Sie hier vorgetragen haben, Herr Schäuble, hört sich natürlich alles sehr eindrucksvoll an. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist es auch! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ist auch so! Sie kapieren es nur nicht!) Das Problem ist nur, dass die Geschichte des Kampfes gegen die Steuerhinterziehung von Millionären und Konzernen leider eine Geschichte eindrucksvoller Ankündigungen ist, denen in der Regel nichts als heiße Luft gefolgt ist. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: -Sehen Sie das nicht?) Herr Schäuble, Sie haben vorhin selbst kurz auf Luxemburg verwiesen. Es geht heute durch alle Medien, wie Luxemburg – das ist nicht ganz neu und nicht ganz unbekannt – den Konzernen in großem Stil durch das Bereitstellen von Konstruktionen geholfen hat, ihre Steuerquote legal auf etwa 1 Prozent ihrer Gewinne – teilweise vielleicht sogar 0 Prozent – herunterzudrücken. Das ist passiert unter Federführung Ihres Kommissionspräsidentenkandidaten, der inzwischen Präsident der Europäischen Kommission ist, des Herrn Juncker. Ich muss sagen: Ich finde es schon bemerkenswert, dass Beihilfe zur Steuerhinterziehung, dass Beihilfe daran, dass große Konzerne die Allgemeinheit in Europa in Milliarden- und Billionenhöhe schädigen können, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist eine -Sauerei!) in diesem Europa offensichtlich für höchste Funktionen prädestiniert. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dieses Geschäftsmodell ist jetzt vorbei!) Allein das ist ein riesiger Skandal. (Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Umso wichtiger ist, dass wir etwas tun!) Herr Schäuble, Wenn Sie sagen, es handele sich um legale Möglichkeiten, erwidere ich Ihnen: Es gibt natürlich genauso legale Möglichkeiten, hier in Deutschland diese Art der Steuerhinterziehung von Konzernen zu verhindern. Sie brauchen nur dafür zu sorgen, dass Lizenzgebühren, Patentgebühren und Zinsen, die in Länder fließen, die bekanntermaßen solche Modelle anbieten und genau diese Gebühren und Zinsen eben nicht besteuern, hier nicht mehr abzugsfähig sind. Natürlich wäre das möglich. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich kann es nicht mehr hören, dass man sich hinstellt und sagt: Wir können da nichts tun. Schauen Sie sich Europa an: Was wurde den Krisenländern alles diktiert? Die Löhne mussten sinken, die öffentliche Beschäftigung musste abgebaut werden. Aber wer hat auch nur einmal Irland darauf hingewiesen, dass dieser unsäglich niedrige Unternehmensteuersatz ein Problem ist? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wir! Das haben wir jedes Mal! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Die SPD hat darauf hingewiesen! Ganz klar!) Sie berufen sich jetzt darauf, dass das Double-Irish-Modell abgeschafft sei. Der irische Finanzminister hat aber gleich hinzugefügt, dass er großzügige Patentboxen einführen wird. Das heißt, das, was Sie hier machen, ist nichts anderes, als die Öffentlichkeit für dumm zu verkaufen. Natürlich kann die Politik das verhindern. Der Wille fehlt. Das ist das zentrale Problem. (Beifall bei der LINKEN) „Die Ära des Bankgeheimnisses ist vorüber.“ Genau dieser Satz stand übrigens schon einmal im Abschlusskommuniqué eines Weltfinanzgipfels, und das war im April 2009. Seitdem sind die Auslandsvermögen in der Schweiz um über 14 Prozent gewachsen, die in anderen Steueroasen sogar noch mehr. Wir erinnern uns auch gut, Herr Schäuble, dass Sie noch 2012 ein Abkommen mit der Schweiz abschließen wollten, das genau dieses Bankgeheimnis für alle Ewigkeit garantiert und allen Steuerhinterziehern mit Schweizer Konten eine Weißwäsche garantiert hätte. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dann hätte man aber nicht die vielen, vielen Verjährungen gehabt!) Da war bei Uli Hoeneß & Co. wahrscheinlich schon der Champagner kalt gestellt. (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) Ich erinnere mich auch noch sehr gut, dass Sie sich damals heftig beschwert haben, als dieses Abkommen im Bundesrat gescheitert ist. Wäre es nicht gescheitert, gäbe es das jetzige, das Sie gerade so sehr feiern, überhaupt nicht. (Beifall bei der LINKEN) Sie reden gerne vom Rechtsstaat. Aber in Wahrheit gibt es doch längst zweierlei Recht in diesem Land. Ein Schwarzfahrer kann im Knast landen, wenn er ein paarmal ohne Ticket in der S-Bahn erwischt wird. Ein Kleinbetrieb, der mit der Zahlung seiner Mehrwertsteuer im Rückstand ist, wird unter massiven Druck gesetzt und nicht selten in den Konkurs getrieben. Großen Konzernen dagegen werden Scheunentore an Möglichkeiten eröffnet, Steuern ganz legal nach unten zu drücken. Gleichzeitig: Wer als Privatperson die Allgemeinheit um Millionen prellt, soll auch in Zukunft die Chance haben, sich bei Witterung von Gefahr durch Selbstanzeige Straffreiheit zu erkaufen. Das ist doch ein einziger Skandal! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn ein reuiger Bankräuber seine Beute irgendwann zurückgibt, kann auch er nicht als unbescholtener Bürger das Haus verlassen. Bankraub bleibt auch dann strafbar, wenn man ihn aus Angst vor Aufdeckung selbst zur Anzeige bringt. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Tätige Reue gibt es aber auch!) Da muss man Sie von CDU und CSU, aber auch Sie von der SPD natürlich fragen: Finden Sie das Ausrauben der Allgemeinheit wirklich so viel harmloser als das Ausrauben einer Bank? (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Lesen Sie im Strafrecht noch mal nach! Keine Ahnung vom Strafrecht!) Wir als Linke sehen das nicht so, zumal es sich beim Raub an der Allgemeinheit um weit größere Summen handelt: Allein in Deutschland schätzt man die Ausfälle durch Steuerbetrug und Steuertricks auf etwa 100 Milliarden Euro jährlich. 100 Milliarden Euro sind fast ein Drittel des Bundeshaushaltes. Und da behaupten Sie, ohne rot zu werden, es sei kein Geld da für menschenwürdige Pflege, für ordentliche Bildung, für eine ausreichende Zahl von Kitaplätzen, für armutsfeste Rente? Was ist denn das für eine Heuchelei? Natürlich ist das Geld da. Es wird nur mithilfe von Banken und Finanzkriminellen in den Steueroasen dieser Welt versteckt. Das Problem ist doch, wo das Geld bleibt. (Beifall bei der LINKEN) Insofern finde ich es schon bemerkenswert, dass Politiker, die so gern über Schuldenbremsen und schwarze Nullen philosophieren, erkennbar so wenig Ehrgeiz zeigen, wenn es darum geht, dieses riesige schwarze Loch in den öffentlichen Finanzen irgendwann einmal zu stopfen. Nun weiß man zwar, dass die CDU selbst einschlägige Erfahrungen mit Schwarzgeldkonten und Schattenfinanzen hat, (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Na, na, na!) Umstände, die nicht zuletzt aufgrund des Schweizer Bankgeheimnisses nie restlos aufgeklärt werden konnten. Aber man muss natürlich sagen: Auch den SPD--Finanzministern Eichel und Steinbrück fiel zum Thema Steuerhinterziehung nicht viel mehr ein als großzügige Amnestien und die Einführung dieser unsäglichen Abgeltungsteuer, die dazu führt, dass Menschen, die hart arbeiten, per se höhere Steuersätze haben als Menschen, die von ihren Vermögenseinkommen leben. Auch das gehört schleunigst abgeschafft. (Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Nein, so ist das falsch!) Wenn Sie von der SPD das wollen, dann bringen Sie doch einen Antrag ein. Wir werden dafür stimmen. Sie haben doch eine Mehrheit dafür. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Noch mal: So ist das falsch! Eine einfache Rechnung zeigt das!) Keine Bundesregierung hat auch nur das Mindeste an der skandalösen Situation geändert, dass heute, wie in alten feudalen Zeiten, die Reichsten der Reichen kaum noch Steuern zahlen, während der Fiskus bei denjenigen, die hart arbeiten und oft viel zu wenig dafür bekommen, gnadenlos zugreift. Das wird auch das neue Abkommen nicht ändern. „Offshore-Leaks“ hat vor einiger Zeit aufgedeckt, wer so alles Briefkastenfirmen im Steuerparadies Panama unterhält. Die Liste las sich wie das „Who is who?“ der deutschen Wirtschaft. Da finden wir all Ihre Freunde und Geldgeber, also die Familien Quandt, -Porsche, Piëch, die Kaffeedynastie Jacobs und viel alten Adel wie Finck, Habsburg und Wittgenstein. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und wo ist das SED-Vermögen?) Panama dürfte sich in Zukunft eines weiter wachsenden Zuspruchs erfreuen; denn es gehört zu den Ländern, die dieses Abkommen nicht unterschrieben haben. Auch die Schweiz lässt sich Zeit. Da sagen Sie aber nicht: Da können wir nichts machen. – Wo gutes Zureden nicht hilft, muss man eben ein bisschen ruppiger werden. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Oh, linke Taktik! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Aha! Und wie? – Sollen wir aufrüsten?) Ich garantiere Ihnen: Würden Sie alle Zinsen und Dividenden, die aus Deutschland oder vielleicht sogar aus der gesamten EU in solche Steueroasen fließen, mit einer Quellensteuer von, sagen wir, 50 Prozent belegen, würde die Gesprächsbereitschaft dieser Steueroasen rasant zunehmen. (Beifall bei der LINKEN) Man muss sich natürlich schon fragen, warum Sie die eigentlichen Organisatoren dieser Steuerflucht, nämlich die Banken, nach wie vor unbehelligt lassen. Warum schaffen Sie kein Gesetz, dass die Banklizenz in Deutschland daran geknüpft ist, dass keine Tochterfirmen in Steueroasen unterhalten werden? Finden Sie es wirklich normal, dass allein die Deutsche Bank 970 Tochterfirmen in Ländern unterhält, die das Netzwerk Steuergerechtigkeit als Schattenfinanzplätze bezeichnet? Was meinen Sie, was die da machen? Die Südseesonne genießen? (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das machen Sie am liebsten!) Es waren übrigens genau diese Hebel, nämlich Quellensteuern und Druck auf die Banken, mit denen die USA weltweit Abkommen erzwungen haben, die ihnen jetzt gewährleisten, dass die Kontodaten amerikanischer Staatsbürger an sie gemeldet werden. Das Pikante an diesem Fall ist aber, dass sich die USA am Abkommen über gegenseitigen Informationsaustausch, das Sie hier beschrieben haben, nicht beteiligen wollen. Das heißt, die US-Steueroase Delaware ist nach wie vor ein super-attraktiver Standort für ausländische Steuerflüchtlinge weltweit. Ich stelle fest, dass die Bundesregierung auch das anscheinend demütig hinnehmen wird. Insoweit muss man schon sagen: Dieses Abkommen hat erstens zu wenig Unterzeichner. Zweitens beinhaltet es Regeln, die große Scheunentore an Umgehungsmöglichkeiten öffnen. So werden beispielsweise alte Konten gar nicht gemeldet. Gemeldet wird auch nicht, wer Anteile eines Unternehmens von weniger als 25 Prozent hält usw. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin! Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Ich komme zum Schluss. – Das heißt, das Ganze ist eher ein Konjunkturprogramm für die Nadelstreifenmafia der auf Steuerflucht- und Steuerhinterziehungsberatung spezialisierten Firmen und Banken. Die müssen sich jetzt ein paar zusätzliche Kniffe ausdenken, um ihrer vermögenden Klientel weiterhin das begehrte Produkt „steuerfreie Millionen“ anbieten zu können. Präsident Dr. Norbert Lammert: Und Sie, Frau Wagenknecht, müssen nun zum Schluss kommen. Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Was wir wirklich brauchen in Deutschland, ist endlich (Das Mikrofon wird abgeschaltet – Zuruf von der CDU: Jetzt ist es vorbei!) eine Politik, die nicht mehr vor der geballten Macht des Geldadels kapituliert. Dafür steht die Linke, und dafür werden wir weiter kämpfen. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Wagenknecht, bei aller Liebe: Bei einem 20-prozentigen Redezeitzuschlag des Präsidenten ist irgendwann dann auch der Toleranzrahmen erschöpft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Nächster Redner ist der Kollege Carsten Schneider für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über zwei Aspekte der Gesetzgebungsmaßnahmen, die markant sind im Hinblick auf die Frage, wer diesen Staat eigentlich finanziert. Der erste Aspekt ist, dass wir, wie von Minister Schäuble schon angesprochen wurde, die legale Steuergestaltung von Großkonzernen einschränken wollen. In dem Land, in dem die Umsätze erwirtschaftet werden, müssen die Gewinne auch versteuert werden. Ich werde darauf noch zu sprechen kommen. Der zweite Aspekt ist die Abschaffung des Bankgeheimnisses innerhalb der Europäischen Union, wobei sich viele weitere Staaten und internationale Finanzplätze daran beteiligen. Dass das gelingt, hätte ich mir vor wenigen Jahren nicht vorstellen können. Deswegen ist das heute ein großer Schritt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir machen Gesetze, die sichern sollen, dass unser Staat von den Bürgerinnen und Bürgern und von den Unternehmen finanziert wird. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen ihre Steuer, die Lohnsteuer wird direkt abgeführt. Der Rentner zahlt seine Steuern. Alle zahlen Mehrwertsteuer an der Kasse. Unternehmen haben ein wenig mehr Gestaltungsmöglichkeiten, aber im Prinzip zahlen auch sie Steuern, zumindest die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Ein Problem ist dann gegeben, wenn Kapital flexibel ist und sich verstecken kann. Das betrifft diejenigen, die über sehr viel Geldvermögen verfügen und es in den vergangenen Jahrzehnten quasi als Sport betrieben haben, es in die Schweiz, nach Luxemburg, Liechtenstein und in andere Steueroasen zu schaffen und dort anzulegen. Das Ganze geschah unter dem Deckmantel des Datenschutzes und der Autonomie des jeweiligen Ziellandes. Jemand, der arbeitet, muss seine Steuern hier in Deutschland zahlen. Im Gegensatz dazu haben manche, die über sehr viel Geld verfügen, keinen einzigen Cent Steuern auf ihre Kapitalerträge gezahlt. Das war ein asoziales Verhalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich glaube, von Günter Grass stammt der Spruch „Der Fortschritt ist eine Schnecke“. Das trifft hierauf zu: Die Vorarbeiten für dieses Abkommen laufen seit 2002. Hans Eichel hat damals die EU-Zinsrichtlinie auf den Weg gebracht. Es hat sehr lange gedauert, bis sie beschlossen wurde. Österreich, Luxemburg haben sich dagegen gewehrt. Hier haben wir jetzt insbesondere durch das Entdeckungsrisiko und auch – da gebe ich Ihnen recht, Frau Wagenknecht – durch die Drohung der amerikanischen Regierung, den europäischen Banken die Lizenz zu entziehen, wenn sie die Kontodaten amerikanischer Staatsbürger nicht herausrücken – das sogenannte FATCA-Abkommen –, Fortschritte erzielt. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass die Schweiz – mit ein bisschen Verzögerung, aber sie werden es tun – die Daten von bisher anonymen Kontoinhabern herausrückt. Das ist ein großer und wichtiger Schritt. Was hat der Deutsche Bundestag dazu getan? Ich glaube, schon einiges. Wir Sozialdemokraten haben immer in den Mittelpunkt gestellt, dass die Finanzierung dieses Staates fair sein muss. Aus diesem Grund haben wir das Abkommen, das Sie, Herr Minister Schäuble, zur Zeit der vorigen Koalition mit der Schweiz schließen wollten und welches die Anonymität derjenigen, die ihr Geld dort haben, sichern sollte, im Bundesrat abgelehnt, und nur weil wir es abgelehnt haben, sind Fälle von berühmten Fußballmanagern öffentlich geworden, die sich schon gefreut hatten, in der Anonymität bleiben zu können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Deswegen werden wir die Bedingungen für eine strafbefreiende Selbstanzeige deutlich verschärfen. Der automatische Informationsaustausch – dafür haben Sie die volle Unterstützung der Großen Koalition – ist der richtige Schritt. Ich wünschte mir, die Amerikaner machten da auch noch mit, überhaupt keine Frage. Ich hoffe, dass ein solcher Informationsaustausch weltweit eingeführt wird. Aber es ist überhaupt schon einmal ein großer Schritt – und dafür will ich mich auch bedanken –, dass Sie 51 Staaten davon überzeugt haben – Singapur, die Schweiz etc. –, dieses Abkommen hier in Berlin zu unterzeichnen und sich gläsern zu machen. Das ist ein großer Fortschritt, und dafür sage ich auch: Herzlichen Dank! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit der Abgeltungsteuer werden wir uns – die Vorarbeiten müssen vorher laufen – spätestens dann, wenn der automatische Informationsaustausch funktioniert, wieder beschäftigen. Unser Ziel als Sozialdemokraten ist, dass Einkommen aus Vermögen genauso besteuert werden muss wie Einkommen aus Arbeit. (Beifall bei der SPD) Der zweite Aspekt, den Sie angesprochen haben, ist die scheinbar legale Steuergestaltung von Großkonzernen. Legal ist, was im jeweiligen Staat vom Parlament beschlossen wurde. Was „legal“ ist, ist aber noch lange nicht moralisch korrekt. Ich habe heute die Süddeutsche Zeitung gelesen; darin ging es auch um die Datengrundlage des Tax Justice Network. Dieses Tax Justice Network hat für die Aufklärung von Steuerbetrug viel mehr getan als viele Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten. Dafür muss man einmal Danke sagen: dass eine zivilgesellschaftliche Organisation und auch der Journalismus hier vorangehen und etwas aufdecken, was uns hilft, gegen Steuerbetrug vorzugehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In dieser Hinsicht wünschte ich mir von der Steuerverwaltung und auch von den politischen Akteuren in den jeweiligen Ländern viel mehr Initiative. Damit komme ich zu Luxemburg. Man muss sich schon wundern, warum seit den 80er-Jahren Finanzkonzerne ihre Zentralen in Luxemburg haben. Luxemburg ist ein schönes Land; aber so groß und mächtig ist es eigentlich nicht, und so viele produzierende Unternehmen sind da eigentlich nicht ansässig, um den Staat zu finanzieren. Man muss sich schon fragen, warum Amazon dort seinen Europasitz hat. Man muss sich ebenfalls fragen, warum Länder wie die Niederlande und Irland sehr hart an der Grenze dessen, was moralisch vertretbar ist – ich meine, diese Grenze wurde bereits überschritten –, durch Steuerdumpinggesetze dafür gesorgt haben, dass Gewinne aus Deutschland, aus dem Vereinigten Königreich, aus anderen Ländern der EU in ihre Länder transferiert wurden, wo sie marginal besteuert werden. Das ist nicht akzeptabel. Dem müssen wir einen großen Riegel vorschieben. Gewinne müssen dort besteuert werden, wo sie entstehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich erwarte, dass der aktuelle Kommissionspräsident, Herr Juncker, der 20 Jahre lang Finanzminister und Premierminister von Luxemburg war, über die Handlungsweisen der Luxemburger Steuerbehörden Auskunft gibt. Denn jetzt hat er in seiner Funktion als Präsident der -Europäischen Kommission eine andere Aufgabe. Es kann nicht sein, dass wir Deutsche immerzu in Brüssel Kompromisse suchen und Geld geben. Stichworte sind hier ESM und Bankenrekapitalisierung, über die wir hier später noch sprechen. Bei all diesen Dingen wird von Deutschland Solidarität erwartet. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite geht es um die Staatseinnahmen, um eine ordentliche und gerechte Besteuerung, was in der Autonomie der Nationalstaaten liegt. Ich sage hier für die SPD: Wir erwarten innerhalb der Europäischen Union deutliche Fortschritte in Richtung einer Fiskalunion, einer gemeinsamen Steuer- und -Finanzpolitik. Nur dann sind wir bereit, uns auf der Ausgabenseite stärker zu engagieren. Beides gehört zusammen. (Beifall bei der SPD) Es wird spannend werden, zu sehen, ob dies die Europäische Kommission mit Herrn Juncker an der Spitze wirklich vorantreibt. Unsere Erwartungshaltung ist klar. Wenn hier nichts passiert, ist das nicht nur ungerecht, sondern es führt zu extremen Wettbewerbsverzerrungen. Ein Unternehmen mit 20 Mitarbeitern in meinem Wahlkreis Erfurt wird normal besteuert. Es hat überhaupt keine Chance, seinen Steuersatz von knapp 30 Prozent auf unter 1 Prozent zu drücken. Dieses Unternehmen steht natürlich im Wettbewerb mit anderen Unternehmen, die keine oder wenig Steuern zahlen. Das ist ungerecht, das ist unfair. Wir sollten diejenigen schützen, die sich an die Gesetze in Deutschland halten. Dafür, Herr Finanzminister, haben Sie unsere volle Unterstützung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Kerstin Andreae ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 2. April 2009 haben die Mitglieder der G 20, also auch Bundeskanzlerin Merkel, die Ära des Bankgeheimnisses für beendet erklärt. Das hat aber den Finanzminister anscheinend nicht beeindruckt; denn als wäre nichts gewesen, hat er mit der Schweiz darüber verhandelt, Steuerbetrügern weiterhin Anonymität zu gewähren. Nichts anderes hätte das deutsch-schweizerische Steuerabkommen bedeutet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was wäre das für ein verheerendes Signal gewesen: Der Ehrliche zahlt Steuern, dem Unehrlichen wird Anonymität gewährt. Fragen Sie doch einmal die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land: Steuerhinterziehung untergräbt den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Das ist wahrlich kein Kavaliersdelikt, sondern dieses Verhalten führt dazu, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft auseinanderbricht, dass sich die Menschen nicht mehr ernst genommen fühlen und dass die einen für die Infrastruktur und das Gemeinwesen zahlen, die anderen nicht. Es darf nicht sein, dass aus dem Gefühl eine Tatsache wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rot-Grün hat diese Pläne im Bundesrat gestoppt und damit diese Ewigkeitsgarantie für Steuersünder glücklicherweise – so muss man sagen – verhindert. Seither erleben wir eine Rückkehr in die Steuerehrlichkeit, die sich in diesem Ausmaß keiner hätte vorstellen können: 32 000 Selbstanzeigen von Januar bis September 2014. Das sind 3 500 pro Monat oder 120 pro Tag. Wenn es noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass dieses geplante Steuerabkommen in der Grundkonzeption falsch war, dann ist er hiermit erbracht. Anonymität ist keine Alternative zum Informationsaustauch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Viele haben lange dafür gekämpft, innerhalb und außerhalb der Parlamente. Mein besonderer Dank, mein Respekt und meine Anerkennung gelten Attac, die die Aufhebung des Bankgeheimnisses seit jeher zum Thema gemacht haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gemeinnützigkeit im besten Sinne, so möchte ich das einmal nennen. Danke an Attac! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Sie wissen, ich bin Schwäbin. (Christian Freiherr von Stetten: Badenerin!) – Nein, ich bin gebürtige Schwäbin; darauf bestehe ich. – Umsonst gibt es nichts, auch kein Lob. Dass das Bankgeheimnis jetzt fällt, ist richtig. Dafür verdienen Sie unser Lob. Es ist richtig, dass das jetzt geschieht. Aber wir brauchen ein paar weitere nächste Schritte, und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt und mit klaren Signalen. Erstens muss dieser Datentausch sofort in alle – vor allem auch in alle neuen – Doppelbesteuerungsabkommen aufgenommen werden. Zweitens muss die Abgeltungsteuer abgeschafft werden. Wir müssen aus der Ano-nymität herauskommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Warum soll der Informationsfluss international erfolgen, aber auf nationaler Ebene nicht? Jetzt müssen die Vorbereitungen dafür getroffen werden – das wäre ein Signal –, dass die Abgeltungsteuer abgeschafft wird. Das wäre in diesem Zusammenhang richtig. Außerdem müssen – das ist der dritte Punkt – unfaire Steuerpraktiken beendet werden. Herr Schneider, ich habe aufmerksam zugehört, als Sie die legalen Steuergestaltungsmöglichkeiten der Konzerne angesprochen und gesagt haben: Wir gehen es an. – In Ihrer Rede habe ich dann aber nichts dazu gehört. An der Stelle bleibt für mich ein großes Fragezeichen. Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, dass Kapitalanleger nicht anders behandelt werden als Arbeitnehmer. Wer von seinem Vermögen lebt, soll nicht anders, geschweige denn besser gestellt werden als jemand, der einer Arbeit nachgeht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bei diesem ist dem Fiskus bekannt, wie hoch sein Einkommen ist. Bei Zinsen, Dividenden und Veräußerungsgewinnen greift jedoch die Abgeltungsteuer. Mit dem Informationsaustausch, der jetzt verabredet wurde, wird die Situation paradox: Zinsen in Liechtenstein, in Mexiko oder auf den Cayman Islands sind bekannt, Zinsen innerhalb Deutschlands aber nicht. Das heißt, es braucht auch über die Zinsen und Vermögenserträge auf deutschen Konten einen Informationsaustausch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Aber auch bei der gerade noch legalen Steuervermeidung muss gehandelt werden. Deutschland entgehen Milliardeneinnahmen. Im Schnitt zahlt ein Mittelständler 30 Prozent mehr Steuern als ein international agierender Konzern. Mitverantwortlich dafür sind die sogenannten Lizenz- und Patentboxen. Auf internationaler und vor allem auf europäischer Ebene wird versucht, dagegen anzugehen. Die Lizenzboxen locken in verschiedenen EU-Ländern mit niedriger Besteuerung. Was erleben wir jetzt? Statt für ein europaweites Verbot zu streiten, liebäugelt der Finanzminister offen damit, diese Lizenzboxen auch in Deutschland einzuführen. Damit gefährden Sie zum einen den internationalen Einigungsprozess, und zum anderen schaffen Sie wiederum ein Steuerschlupfloch für Großkonzerne. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen, dass Sie vorangehen, auch in Europa, und sich gegen Lizenzboxen hier und in anderen Ländern aussprechen. Ich halte den Vorschlag aus Hessen für eine ganz gute Idee: Patent- und Lizenzausgaben werden nur dann anerkannt, wenn im Empfängerland mindestens 25 Prozent Steuern darauf gezahlt werden. Was wäre das Signal? Gewinnverlagerung würde unattraktiver. Die anderen Länder wüssten, dass wir es mit der Bekämpfung von internationaler Steuergestaltung ernst meinen, und mit den Mehreinnahmen könnten Sie den Mittelstand entlasten. Es wird immer gesagt, für die degressive AfA und die steuerliche Forschungsförderung sei kein Geld da. Nun bietet sich die Möglichkeit, die Finanzierung zu sichern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie müssen einen umfassenden Informationsaustausch gewähren. Sie müssen jetzt die Voraussetzungen schaffen, dass die Abgeltungsteuer fällt, und Sie müssen verhindern, dass neue Steuergestaltungsmöglichkeiten für Großkonzerne geschaffen werden. Wenn Sie das machen, dann kommen wir zusammen. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege Ralph Brinkhaus das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe zum wiederholten Mal ein Déjà-vu-Erlebnis. Die Opposition bemüht sich krampfhaft, irgendetwas zu kritisieren. Aber so richtig gelingt das nicht; denn anscheinend ist das, was wir hier vollbracht haben, ziemlich gut. Frau Andreae, ich konnte Ihren Ausführungen an der einen oder anderen Stelle nicht mehr folgen. Ich glaube, da ist auch einiges durcheinandergegangen. Sie haben gesagt, dass Menschen, die über Kapitaleinkünfte verfügen, nicht besser behandelt werden sollen als andere. Das stimmt, aber man sollte sie auch nicht schlechter behandeln. Sie möchten mit Ihrer Vermögensteuer bzw. Vermögensabgabe insbesondere den Menschen, die Kapitaleinkünfte erzielen, ganz tief in die Tasche greifen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das sind die Steuer-erhöher à la Trittin!) Eigentlich ist heute ein Tag großer Freude. Alle Steuerpolitiker müssten eigentlich vor Begeisterung platzen; denn das, was in der letzten Woche hier in Berlin erreicht wurde, ist in der Tat ein Meilenstein. Ich möchte meine Rede dazu nutzen, meine Begeisterung als Steuerpolitiker mit Ihnen allen zu teilen. Der Austausch von Steuerdaten gehört zu den sensibelsten Bereichen in den Beziehungen zwischen Staaten. Das hat damit zu tun, dass jeder eifersüchtig auf seine Steuergesetzgebung achtet. Bekanntlich sind die Steuergesetzgebung und das Budgetrecht die Königsrechte eines jeden Parlaments. Hier lässt man sich ungern in die Karten schauen. Es ist sicherlich richtig – das wurde bereits von mehreren Rednern angesprochen –, dass es einige Staaten gab und gibt, die Steuerhinterziehung und Steuervermeidung als Geschäftsmodell entwickelt haben. Insofern ist es umso erstaunlicher, dass in der letzten Woche über 50 Staaten – weitere werden folgen – ein Abkommen unterschrieben haben, das vorsieht, dass freiwillig und automatisch Steuerdaten an andere Staaten weitergegeben werden. Das ist ein riesiger Sprung. Den bisherigen Informationsaustausch haben wir durch viele Doppelbesteuerungsabkommen organisiert. Hier geschah der Austausch aber nur auf Anfrage. Das war ein fürchterlich anstrengender Prozess, der dazu beigetragen hat, dass Steuervermeidung und Steuerhinterziehung fröhliche Urständ gefeiert haben. Vor diesem Hintergrund ist das, was geschehen ist, wirklich beeindruckend. Dahinter steckt sehr viel Arbeit. Frau Andreae und Frau Wagenknecht, ich glaube, dass Sie das unterschätzen. Mit den Steuern verhält es sich so wie beim Fußball: Jeder meint, davon Ahnung zu haben. Wir haben in Deutschland ein paar Millionen Bundestrainer und wahrscheinlich genauso viele Finanzminister, die davon überzeugt sind, zu wissen, wie das Steuersystem gestaltet werden muss. Je nach Blickwinkel sind die Steuern zu hoch oder zu niedrig. Auf jeden Fall sei das System viel zu kompliziert. Viele meinen, dass andere zahlen müssten, nur sie selber nicht. Jeder hat also eine Meinung dazu und ist überzeugt, dass das ganz einfach sei. Die Vorschläge, die durch das Land geistern, sind Legion. So hieß es einst – durchaus sympathisch –, das Steuersystem werde so stark vereinfacht, dass man seine Steuererklärung auf einem Bierdeckel machen könne. Dann wurde von Stufentarifen gesprochen und davon, die Zahl der Steuerparagrafen zu halbieren. Das alles führt nur nicht weiter. Das möchte ich Ihnen anhand des automatischen Informationsaustausches, des von Herrn Schäuble angesprochenen BEPS-Abkommens und der strafbefreienden Selbstanzeige beispielhaft erläutern. Wir alle sind uns, glaube ich, einig, dass das Steuersystem ergiebig sein soll, damit der Staat seine Aufgaben erfüllen kann. Es soll zudem einfach und gerecht sein. Aber es muss auch fair sein. Ein Steuersystem ist dann fair, wenn jeder, dem das Gesetz die Last der Steuerzahlung auferlegt, seine Steuern tatsächlich zahlt. Man muss ehrlich sagen: Da waren wir in der Vergangenheit nicht immer ganz so gut. Blicken wir auf die 80er- und 90er-Jahre zurück. Damals waren die Steuersätze sehr hoch. Gleichzeitig gab es sehr viele Möglichkeiten, sich von der Steuerlast zu befreien, legal durch Abschreibungsmodelle und Verlustzuweisungsgesellschaften, translegal durch eine weite Dehnung der Gesetze und auch illegal. Es stimmt, dass damals viele Menschen ihr Geld in die Schweiz gebracht haben, weil sie sich dem deutschen Steuersystem entziehen wollten. Deshalb haben alle Bundesregierungen, egal von welcher Partei sie gestellt wurden, daran gearbeitet, die entsprechenden Schlupflöcher zu schließen. Das war nicht immer einfach. Zuerst haben wir die deutsche Steuergesetzgebung sukzessive verschärft. Des Weiteren haben die Finanzgerichte entsprechende Urteile gefällt. Auf internationaler Ebene wurden Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen. Hier ist sehr viel kleinteilige Kärrnerarbeit geleistet worden. Deswegen finde ich es bedauerlich, dass das alles quasi mit einem Federstich weggewischt und behauptet wird, nichts sei passiert. Tatsächlich ist sehr viel passiert. Aber wir müssen auch sehen: Wir sind immer wieder im wahrsten Sinne des Wortes an unsere Grenzen gestoßen, nämlich an die Grenzen unseres Landes; denn uns fehlten die Informationen über das Geld, das auf irgendeine Weise ins Ausland gebracht wurde. Deswegen konnten wir es nicht besteuern. Es ist daher sehr wichtig, dass der nun vereinbarte automatische Informationsaustausch tatsächlich umgesetzt wird. Die Grundlage für eine faire Besteuerung ist, dass wir wissen, wer wo sein Geld liegen hat. (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) – Danke, Lothar. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das haben wir jetzt erreicht. Carsten Schneider hat es gesagt: Das ging nicht innerhalb von anderthalb Jahren, sondern das ist ein Prozess, der seit mindestens 2002 andauert. Wolfgang Schäuble hat jetzt den Ball ins Tor geschossen. Wir sind nun so weit, dass wir auf einem Stand sind, den wir uns vor wenigen Jahren wirklich nicht zu erträumen gewagt haben. Das ist gut und richtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deswegen können wir uns heute einmal so richtig darüber freuen. Natürlich sind wir mit der ganzen Aktion noch nicht fertig. Wir werden andere Staaten integrieren müssen. Ich bin übrigens sehr optimistisch, dass beispielsweise die Schweiz sehr schnell nachfolgen wird und dass auch andere Länder nachfolgen werden. Aber wir müssen auch an anderen Stellen arbeiten. Ich habe gerade gesagt, dass wir ein faires Steuersystem haben wollen. Ein faires Steuersystem bedeutet auch, dass derjenige, der auf Einkommen in Deutschland keine Steuern zahlt, diese Steuern in anderen Ländern zahlt. Das Problem, das sich entwickelt hat – die Namen der Firmen, die das in einer großen Extensität betrieben haben wie Google und Amazon, sind genannt worden –, ist die doppelte Nichtbesteuerung. Doppelte Nichtbesteuerung heißt, dass Einkommen weder in Deutschland noch in einem anderen Staat versteuert werden. Das ist in der Tat nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, sondern das ist auch – das ist mehrfach angesprochen worden – ein Wettbewerbsproblem, weil ein Mittelständler in Erfurt, dem Wahlkreis von Carsten Schneider, nicht die Chance hat, die doppelte Nichtbesteuerung zu organisieren. Das ist vielmehr ein zweifelhaftes Privileg von großen Konzernen. Deshalb müssen wir dagegen vorgehen. Auch da hat sich unser Bundesfinanzminister sehr verdient gemacht, indem er vor zwei Jahren mit seinem britischen Kollegen George Osborne die sogenannte BEPS-Initiative angestoßen hat. Die BEPS-Initiative bedeutet, dass sich alle OECD-Staaten darauf einigen, dass man nach gleichen Standards arbeitet und eines nicht mehr passiert, nämlich die doppelte Nichtbesteuerung. Auch da sind wir schon sehr weit. Man hat dieses Mammutprojekt in 15 Teilprojekte aufgeteilt. Sieben davon sind schon abgeschlossen, acht werden im nächsten Jahr folgen. Wir werden das gemeinsam mit unserem Koalitionspartner sehr zügig in nationales Recht umsetzen. Auch das ist ein Meilenstein, der von diesem Bundesfinanzminister und dieser Bundesregierung gesetzt worden ist. Auch darüber können wir uns freuen. Darauf können wir sehr stolz sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wenn ich von Fairness im Steuersystem rede, dann gehört dazu auch, dass derjenige, der in diesem Steuersystem Fehler macht, die Möglichkeit hat, diese Fehler zu korrigieren, und zwar zu korrigieren, ohne dass er gleich kriminalisiert wird. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So ist das!) Wir sprechen heute über die strafbefreiende Selbstanzeige. Die Regelungen für die strafbefreiende Selbstanzeige, die es seit Jahrzehnten gibt, sind in der letzten Legislaturperiode von der christlich-liberalen Koalition maßgeblich verschärft und stark eingeengt worden. Es ist nach diesem Gesetz der christlich-liberalen Koalition nicht mehr möglich, mit der strafbefreienden Selbstanzeige zu zocken. Dabei sind wir allerdings ein wenig über das Ziel hi-nausgeschossen; denn es gibt einen Bereich, in dem -Fehler gemacht werden, die aus dem ganz normalen -wöchentlichen oder monatlichen Geschäftsbetrieb herrühren. Das geschieht dann, wenn ich monatlich eine Umsatzsteuervoranmeldung abgeben oder wenn ich Lohnsteueranmeldungen vornehmen muss. Die Menschen, die dabei vielleicht einen Fehler gemacht haben und diesen korrigieren müssen, sind durch die Verschärfung, die wir in der letzten Legislaturperiode gemacht haben, in einen Bereich gerutscht, in dem es nicht mehr klar ist, ob es sich um eine Korrektur von Fehlern oder einen Hinterziehungsakt handelt. Das werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur strafbefreienden Selbstanzeige ändern. Das heißt, wir werden das erreichen, was wir immer erreichen wollten: Die gewerbliche Wirtschaft, die Steuern zahlt, kann Fehler korrigieren – das muss auch möglich sein –, aber diejenigen, die bewusst Steuern hinterziehen, können das nicht mehr, weil man mit dem Instrument der strafbefreienden Selbstanzeige nicht mehr zocken kann. Auch das ist gut und richtig, und das ist der zweite Punkt, den wir heute auf den Weg bringen werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Zur Fairness im Steuersystem gehört aber auch, dass ich nicht 99,9 Prozent der Steuerpflichtigen unnötig belaste, um 0,1 Prozent der Steuerhinterzieher zu erwischen. Deswegen müssen wir sehr vorsichtig sein und dürfen den normalen und ehrlichen Steuerpflichtigen nicht mit Bürokratie belasten und ihm Dokumentationspflichten auferlegen, die ihm das Leben und die tägliche Arbeit unglaublich schwer machen und die nur dazu dienen, dass man einen minimalen Prozentsatz von Steuerhinterziehern tatsächlich aufdeckt. Beim BEPS-Projekt und bei vielen anderen Projekten stellt sich die Frage, ob wir nicht an der einen oder anderen Stelle über das Ziel hinausschießen. Wenn wir das Ganze wirklich ernst nehmen und wenn wir sagen: „Keine zusätzlichen Belastungen für die Wirtschaft, keine zusätzliche Bürokratie, keine zusätzlichen Dokumentationspflichten“, dann müssen wir das, was wir hier im steuerlichen Bereich beschließen, sehr genau dahin gehend überprüfen, ob es am Ende des Tages stimmt. Ich sage Ihnen auch: Mir ist es lieber, in Kauf zu nehmen, dass der eine oder andere einmal „durchrutscht“, als dass man die gesamte Wirtschaft mit unzumutbaren Bürokratie- und Informationspflichten belastet. (Beifall bei der CDU/CSU) Insofern werden wir diesen Punkt sehr genau im Auge behalten. Wenn man einmal einen Strich unter die drei Aspekte, die ich gerade genannt habe – unter den automatischen Informationsaustausch, unter dieses BEPS-Projekt, das eine internationale Nichtbesteuerung vermeidet, und unter die Verschärfung der strafbefreienden Selbstanzeige –, zieht, dann muss man eins sagen: Steuerpolitik ist Kärrnerarbeit, ist kleinteilig, dauert lange und geht nicht schnell. Deswegen kann ich allen nur sagen: Glauben Sie niemandem, der behauptet: Ich habe im steuerpolitischen Bereich den großen Wurf in der Tasche. Ich kenne den grünen Knopf, auf den man nur drücken muss, und dann haben wir ein supereinfaches Steuersystem, das völlig gerecht ist, das es vermeidet, dass international an irgendeiner Stelle Steuern hinterzogen werden. – Das Ganze ist harte Arbeit. Wir in dieser Koalition und insbesondere unser Finanzminister haben uns auf den Weg gemacht, diese harte Arbeit zu leisten. Wir haben heute ein wichtiges Etappenziel erreicht. Wir werden in der nächsten Zeit weitere Etappenziele erreichen. Ich denke, dass wir dann ein viel besseres Steuersystem haben, als wir es vorher gehabt haben. Jetzt vielleicht noch einige Sätze zu dem Thema Steuervereinfachung. Das, was ich gerade im Hinblick auf das internationale Steuerrecht ausgeführt habe – dass es in diesem Zusammenhang viele kleine Projekte und viele kleinteilige Maßnahmen gibt, die das Ganze besser machen –, gilt auch für die Steuervereinfachung. Auch daran werden wir uns im nächsten Jahr machen. Wir werden ein Verfahrensvereinfachungsgesetz auf den Weg bringen, und wir werden mit Hunderten kleinerer Maßnahmen versuchen, das Steuerrecht unbürokratischer zu machen, Dokumentationspflichten abzuschaffen, das Ganze gerechter und fairer zu machen. Ich denke, das wird uns auch gelingen. Wir haben mit unserem Koalitionspartner verabredet, dass wir das zustande bringen. Da ziehen wir an einem Strang; da sind wir uns total einig. Ein Steuersystem muss nicht nur dafür sorgen, dass genügend Steuern da sind, dass der Staat finanziert werden kann, sondern es muss auch handhabbar sein, muss verlässlich sein, muss fair sein und muss partnerschaftlich sein. Dafür zu sorgen, das ist das, was wir uns in dieser Legislaturperiode vorgenommen haben. Das ist viel ambitionierter als Versprechungen, das Steuersystem mit einem großen Wurf komplett zu reformieren oder zu revolutionieren. Insofern freue ich mich auf die Arbeit in dieser Legislaturperiode. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Lothar Binding ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Carsten Schneider und Ralph Brinkhaus haben sehr gut auf den Punkt gebracht, worum es heute geht: Letztendlich geht es um international gerechte und faire Besteuerung der Unternehmen und darum, dass Arbeitnehmer, Konzerne und auch alle anderen fair besteuert werden und keiner mehr belastet wird, als es ihm, bezogen auf die gesellschaftlichen Leistungen, zugemutet werden kann. Der heutige Beschluss ist ein riesiger Schritt in diese Richtung. Sahra Wagenknecht hat uns die Steuersätze in Irland vorgeworfen. Das hat mich ein bisschen irritiert. Sie hat uns auch das Verhalten von Luxemburg vorgeworfen. (Zurufe von der SPD: Wo ist sie denn?) Auch das hat mich ein bisschen irritiert; schließlich könnte sie ja wissen, dass wir weder in dem einen noch in dem anderen Land regieren. (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) Es geht natürlich darum, mit diesen Ländern zu verhandeln; das stimmt. Aber auch da wäre Sahra Wagenknecht gut beraten gewesen, uns zu helfen; denn gerade sie verfügt über ein besonderes Insiderwissen bezüglich Irland: (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo ist denn Sahra Wagenknecht? – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ha, ha, ha! Können Sie nicht sachlich diskutieren?) Sie hat lange dort in einer Weise gelebt, die es ihr ermöglicht, genau zu wissen, wie internationale Steuerpolitik funktioniert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Ich will das nicht näher ausführen. Interessanterweise fehlen bestimmte Aspekte in den Ausführungen zu ihrer Biografie. Vielleicht sollten Sie darüber einmal genauer nachdenken. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE] Aber wenn man einen Bayern heiratet, möchte man auch nicht unbedingt nur Leberkäse essen!) Im Rahmen des Global Forum, einer von der OECD initiierten Vereinigung, der 122 Länder angehören, ist ein Steuerabkommen vereinbart worden. Das ist ein Riesenprojekt. Wir wissen, 122 Länder miteinander verhandeln zu lassen, ist keine ganz leichte Aufgabe. Die Schweiz ist unter diesen 122 Ländern. Aber sie unterzeichnet das Abkommen noch nicht; vielleicht unterzeichnet sie es im nächsten Jahr. Wir sehen, wie schwer es ihr fällt, von der Hoffnung auf das Deutsch-Schweizer Steuerabkommen zum automatischen Informationsaustausch und zur Aufgabe des Bankgeheimnisses zu kommen. Das ist für die Schweiz, glaube ich, ein unendlich langer Weg. Wenn sie den jetzt zu Ende geht, haben wir sehr viel erreicht, haben wir international gut verhandelt. Das gilt – das muss man sagen – sowohl für unseren Minister. Unterstützt wurde das Ganze aber auch – da schließe ich mich den Aussagen der Grünen an – von Attac (Beifall der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und vom Tax Justice Network. Es war sehr wichtig, dass die uns geholfen haben. Sie haben uns im internationalen Diskussionszusammenhang den Rücken sehr gestärkt. Wir sind uns sicherlich einig, dass sie es verdient haben, den Status der Gemeinnützigkeit zu behalten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen einen internationalen Ordnungsrahmen. Das Wort „Ordnung“ müssen wir genauer hinterfragen, wenn wir nach Luxemburg schauen. Wer heute die -Süddeutsche gelesen hat, der weiß: Wer unter dem Stichwort „Ordnungsrahmen“ nach Luxemburg schaut, erschreckt. Es gibt dort keine international erträgliche Ordnung. Die SPD-Arbeitsgruppe – das will ich berichten – war vor längerer Zeit einmal in Luxemburg und hat auch mit Jean-Claude Juncker gesprochen. Er hat uns Deutschen vorgeworfen, dass wir relativ bürokratisch und unflexibel seien, und erklärt, dass man das in Luxemburg sehr viel leichter handhaben könne. Er sagte: Ich brauche nur über diesen Platz zu gehen; dann bin ich Finanzminister, und dann kann man die Dinge flexibel regeln. Ich muss sagen: Diese Aussage erscheint heute in einem anderen Licht. Sie lässt mich fragen, ob es wirklich gut war, Juncker als konservativen Kommissionspräsidenten zu wählen. Ich glaube, er muss eine Verantwortlichkeit entwickeln, die ihre Europakonformität noch beweisen muss. (Beifall bei der SPD) Der automatische Informationsaustausch wird immer als Überschrift genannt. Ich frage: Ist er eigentlich wirklich geeignet, die Probleme, die wir haben, zu lösen? Was passiert heute? Minister Schäuble hat es schon etwas ausgeführt: Heute werden die Gewinne verlagert, im Wesentlichen durch grenzüberschreitende Verlagerung der immateriellen Werte wie Patente und Lizenzen. Es gibt das sogenannte Hybrid Mismatch, bei dem über Rechtsformgestaltungen und Umwandlungen Gewinne verlagert werden. Es gibt Zinstricks durch Finanzierungsgesellschaften im Ausland. An Tochterunternehmen werden Zinsen überwiesen, um Gewinne aus Deutschland zu transferieren. Eine sehr alte Methode funktioniert über Verrechnungspreise. Das alles ist bekannt. Es gibt eine zweite Ebene. Neuerdings fangen bestimmte Länder an, zur Gestaltung einzuladen. Ich erwähne noch einmal die niederländische Patentbox, in die man Patente legt, um anschließend Gewinne in diese Box zu überweisen – dort steuerfrei, hier gewinn-mindernd, sodass man in Deutschland Steuern spart und in den Niederlanden nicht zahlen muss. Die Frage ist, ob das, was wir jetzt machen, eigentlich hinreichend ist, um hierfür Lösungen zu finden. Ich sage: Ja, wir sind einen sehr großen Schritt weitergekommen. Ich will ein bisschen genauer erklären, was eigentlich die Meldestandards sind. Die Meldestandards umfassen zum Beispiel Finanzinformationen. Was sind Finanzinformationen? Dies sind alle Kapitalerträge, also Zinsen, Dividenden, Einkünfte aus Versicherungsverträgen, Kontenguthaben, Erlöse aus der Veräußerung von Finanzvermögen. Es wird also ein großes Spektrum von Informationen geliefert, die einen sehr genauen Blick auf die Vermögens- und Einkommensverhältnisse derjenigen bieten, die verlagern. Ein großer Schritt! Was sind die Meldestandards hinsichtlich der meldepflichtigen Finanzinstitute? Schauen wir nach: Die Banken sind angesprochen, die Verwahrstellen, auch die Makler, das, was wir Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapiere nennen, die OGAW-Einrichtungen, und bestimmte Versicherungsgesellschaften. Wir sehen: Ein breites Spektrum von Instituten wird in den Blick genommen. Wer weiß, wie auch bisher schon zwischen diesen Entitäten hin und her jongliert wurde, um international Steuern zu sparen, erkennt, wie wichtig dieser Schritt ist. Was wird eigentlich an meldepflichtigen Konten angesprochen? Erst einmal sind es die Konten der natürlichen Personen. Da denken wir an spezielle; das ist klar. Ein großer Schritt! Es sind aber auch die Konten von Rechtsträgern, also insbesondere von Trusts und Stiftungen. Auch die werden in den Blick genommen. Es gibt außerdem eine Pflicht zur Prüfung der passiven Rechtsträger und – so steht es in der Verabredung – der Personen, die diese beherrschen. Die Möglichkeit zu Tricks mit Briefkastenfirmen, um sich als Person mit einer entsprechenden Hinterziehung hinter solchen Formen zu verstecken, wird jetzt genommen. Wir merken, dass wir auf dem Weg zu einem Maß an internationaler Transparenz sind, das wir uns bisher nicht haben träumen lassen. Deshalb ist dieser Schritt so bedeutend. Man geht sogar noch weiter. In diesem 45-seitigen Papier wird auch definiert, welche Sorgfaltspflichten jeweils einzuhalten sind, wird definiert, wie man mit diesen Meldepflichten umzugehen hat. Das geschieht in einer Weise, wie das bisher noch nicht gemacht wurde. Jetzt besteht natürlich die Aufgabe, diese Meldestandards in jeweiliges nationales Recht umzusetzen. Ich will mit einer kleinen Warnung schließen. Die Idee unseres Ministers ist, Steuernachlässe nur noch in dem jeweiligen Land zu gewähren – auch europäisch –, in dem die Wertschöpfung eines Unternehmens entsteht. Ein Land, in dem eine solche Wertschöpfung entstanden ist, kann also sagen: Ich erlasse euch die Steuern. – Das ist ein großer Schritt zur Vereinheitlichung und besser als alles, was wir bis jetzt haben, weil es international vereinbart ist. Es führt in Richtung Level Playing Field. Ich meine aber trotzdem: Wir müssen stark überlegen – Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Binding. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): – eine Sekunde, ich bin sofort fertig –, ob wir uns damit nicht doch dem Geleitzug des internationalen Steuerwettbewerbs und des Race to the Bottom anschließen. Das müssen wir sicher noch diskutieren. Aber insgesamt ist das eine sehr positive Entwicklung. Vielen Dank, auch für die kleine Zugabe. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Richard Pitterle ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Richard Pitterle (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nach den heutigen Meldungen ernsthafte Zweifel, ob jemand an der Spitze der EU Kommission sitzen kann, der als Regierungschef Steuervermeidungsstrategien der Konzerne in Europa zulasten der europäischen Staaten organisiert hat. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben wir in Thüringen auch!) Aber ich will nicht zu diesem Thema sprechen. Wir diskutieren heute auch den Koalitionsvorschlag für die Reform der strafbefreienden Selbstanzeige. Ich will gleich zu Beginn darauf hinweisen, dass meine Fraktion hier einen weiter gehenden Antrag eingebracht hat, der die gänzliche Abschaffung der Selbstanzeige vorsieht. Viel zu lange konnten Wohlhabende ihre riesigen Vermögen vor dem Fiskus verstecken. Sie mussten keine ernsthaften Konsequenzen fürchten. Sie wogen das Entdeckungsrisiko ab und stellten eine Selbstanzeige, wenn sie der Meinung waren, dass dieses zum Beispiel aufgrund des Ankaufs einer Steuer-CD zu groß war. Das ging zulasten der Allgemeinheit und der vielen ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Ich finde es daher gut, dass die Regelungen zur strafbefreienden Selbstanzeige aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit ein weiteres Mal verschärft werden; denn offensichtlich war die Geldgier noch immer größer als die Angst vor der Strafe. (Beifall bei der LINKEN) Es ist schlimm genug, dass der Reichtum in unserem Land so ungleich verteilt ist. Genauso schlimm ist es, dass viele derjenigen, die viel haben, dem Staat nicht das geben wollen, was ihm zusteht. Es wird endlich Zeit, dass die Steuergesetze für alle Menschen, auch die Reichen und Superreichen, gelten. (Beifall bei der LINKEN) Folgende Ansätze des Entwurfs will ich hervorheben: zuerst einmal die deutliche Anhebung und Staffelung des zu zahlenden Geldbetrages beim Absehen von der Strafverfolgung nach § 398 a der Abgabenordnung. In jenen Fällen konnten sich Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterzieher bisher für eine im Vergleich lächerliche Zusatzzahlung von 5 Prozent der hinterzogenen Steuer quasi freikaufen. Das war mit dem Gerechtigkeitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger nun wirklich nicht mehr in Einklang zu bringen. Denn am Ende kam folgende Botschaft bei den Menschen in diesem Land an: Wer mehrmals schwarzfährt, wird gleich bestraft; wenn aber Superreiche Steuern in Millionenhöhe hinterziehen und damit allen schaden, dann wird ein Auge zugedrückt. Das hat zu Recht zu Empörung geführt. Daher ist es richtig und wichtig, dass die Zusatzzahlungen, die Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterzieher leisten müssen, zukünftig auch wehtun. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wichtig ist auch, dass die Problematik von Umsatzsteuervoranmeldung und Lohnsteueranmeldung berücksichtigt wurde, wie es die Linke kürzlich in ihrem Antrag gefordert hat. Ich bin seit vielen Jahren als Rechtsanwalt im Bereich Wirtschaftsrecht tätig. Aus meiner Erfahrung kann ich Ihnen daher versichern, dass man sich zum Beispiel als Kleinunternehmerin oder Kleinunternehmer gerne mal im tiefen Meer des Steuerrechts verlieren kann. Wenn die Bäckermeisterin, wenn der Bäckermeister morgens früh aufsteht, um Brot und Brötchen zu backen, und dann abends nach einem langen Arbeitstag noch den sogenannten Schreibkram erledigen muss, kann sich schon mal der eine oder andere Fehler einschleichen. Es ist daher gut, dass zukünftig nachträglich korrigierte oder verspätete Umsatzsteuervoranmeldungen und Lohnsteueranmeldungen wieder als wirksame Teilselbstanzeige gelten. Mit einer Kriminalisierung solcher menschlichen Fehler ist nämlich niemandem gedient. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Muss man abschaffen!) Wer aus Unachtsamkeit oder Überforderung eine falsche oder verspätete Angabe macht und diese dann korrigiert oder nachholt, darf nicht denen gleichgestellt werden, die ihr Geld absichtlich verstecken und ihren Beitrag der Allgemeinheit bewusst vorenthalten. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Margaret Horb [CDU/CSU]) Zuletzt einen Gedanken, den ich als Rechtspolitiker, der ich auch bin, einbringe: Ich halte es für vernünftig, dass bei der Strafverfolgung die Verjährungsfristen entgegen den ursprünglichen Plänen nun doch nicht ausgedehnt worden sind; denn bei aller Notwendigkeit eines schärferen Vorgehens gegen Steuerhinterziehung darf man auch hier das Verhältnis zu vergleichbaren Delikten nicht außer Acht lassen. Wenn für den einfachen Betrug eine Verjährungsfrist von fünf Jahren gilt, so sollte das auch bei der einfachen Steuerhinterziehung beibehalten werden. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In puncto Steuergerechtigkeit und Steuerwahrheit hat unsere Bundesregierung, insbesondere der Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble, nun erfolgreich Meilensteine gesetzt. Das ist eine Tatsache, über die wir uns heute wirklich freuen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Andreas Schwarz [SPD]) Dies gilt sowohl national wie auch international. Drei Bereiche sind dabei hervorzuheben: erstens die Neuregelung der strafbefreienden Selbstanzeige, zweitens der automatische Austausch von Steuerdaten und drittens die BEPS-Initiative gegen internationale Gewinnverlagerungen. Zunächst zur Klarstellung: Es ist natürlich nicht verboten, wie es hier nach den Beiträgen der Linken den Anschein haben muss, Geld im Ausland anzulegen. Es ist auch nicht verboten, mit diesen Geldanlagen im Ausland Gewinne zu erzielen; (Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber es ist verboten, sie zu verstecken, wie es die Linke macht!) aber diese Gewinne müssen ordnungsgemäß versteuert werden. Darauf hat der Staat, darauf hat unsere Gesellschaft einen Anspruch. Deshalb ist die Schließung von Steuerschlupflöchern ein zentrales Anliegen von CDU und CSU – und das nicht erst seit dieser Legislaturperiode. Denn Steuerhinterziehung, meine Damen und Herren, ist gemeinschaftsschädlich und muss deshalb geahndet werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Da ist zum einen der Gesetzentwurf, mit dem die Wirksamkeitsvoraussetzungen bei der strafbefreienden Selbstanzeige neu geregelt werden. Die Berichtigungspflicht erstreckt sich künftig in allen Fällen der Steuerhinterziehung auf einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren, und es wird für Steuersünder deutlich teurer, wenn das Hinterziehungsvolumen mehr als 25 000 Euro beträgt. Ebenso wichtig ist: Das Instrument der strafbefreienden Selbstanzeige bleibt erhalten. Ich sage, das ist auch gut so; denn es hat sich bewährt und es muss Korrekturmöglichkeiten im Steuerrecht geben. Ohne die strafbefreiende Selbstanzeige wären die vielen Fälle in der Vergangenheit gar nicht erst ans Licht gekommen. Daher wird im Bereich der Anmeldesteuern für eine gesetzliche Klarstellung gesorgt, um praktische und rechtliche Verwerfungen zu beseitigen. Zudem ist ein steuerartenübergreifendes Vollständigkeitsgebot nicht vorgesehen; denn dieses könnte kaum klar und rechtssicher ausgestaltet werden. Ebenso wird von der Einführung einer Obergrenze bei der Wirksamkeit der Selbstanzeige abgesehen. Auch wir wollen nicht – das ist ein wichtiger Punkt –, dass bloße Arbeitsfehler kriminalisiert werden. Insbesondere mit Blick auf den Unternehmensbereich besteht die Notwendigkeit, steuerliche Korrekturmöglichkeiten zuzulassen. Insofern ist es zu begrüßen, dass die Sperrwirkung auf den sachlichen und zeitlichen Umfang begrenzt und die Wirksamkeit von Teilselbstanzeigen für die Korrektur von Umsatzsteuervoranmeldungen und Lohnsteueranmeldungen wieder eingeführt wird. Allerdings möchten wir diesen sinnvollen Schritt auch noch auf die Jahreserklärungen erweitern, weil die beabsichtigte Neuregelung sonst nach Abgabe der Jahreserklärung ins Leere laufen würde. Wir sind also dabei, diesen Gesetzentwurf sachlich angemessen zu beraten und auch noch rechtzeitig in diesem Jahr zu verabschieden. Das sorgt für Klarheit. Damit ist Rechtssicherheit gegeben. Dieses Gesetz ist dann für den Steuerpflichtigen handhabbar und transparent. Das gehört zur Steuerklarheit, Steuerwahrheit und Steuergerechtigkeit, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber noch viel wichtiger für die Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist das Abkommen über den automatischen Informationsaustausch in Steuersachen, das auf der Jahrestagung des Globalen Forums zu Transparenz und Informationsaustausch für Besteuerungszwecke hier in Berlin unter Federführung unseres Bundesfinanzministers Dr. Wolfgang Schäuble geschlossen wurde. 50 Finanzminister haben dieses Abkommen auf Initiative Deutschlands unterzeichnet. Schon bald werden weitere Staaten folgen. Das ist ein starkes Kooperationsinstrument für die Steuerbehörden international. Das Geschäftsmodell der Steuerlockvogelangebote gehört der Vergangenheit an. Das ist auch gut so. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Im Übrigen waren meiner Ansicht nach die Verhandlungen mit der Schweiz über ein Abkommen – das ist hier angeklungen – damals richtig, weil es viele Verjährungen von Steuerhinterziehungen verhindert hätte. Sie müssen sich immer fragen – denn Sie haben es damals verhindert –, wie viele Steuern dem Fiskus aufgrund dieses Steuerschlupflochs verloren gegangen sind. Dies müssen Sie verantworten. Deswegen wäre schon damals ein erster Schritt richtig gewesen, der dazu geführt hätte, dass es zu Besteuerungen gekommen wäre, die es heute nicht gibt. Präsident Dr. Norbert Lammert: Lieber Herr Kollege Michelbach, darf der Kollege Gambke Ihnen eine Zwischenfrage stellen? Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Sehr gerne, Herr Präsident. Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Kollege Michelbach, dass Sie die Frage zulassen. – Das geht jetzt ein Stück zu weit. Sie können nicht auf der einen Seite den automatischen Informationsaustausch loben und auf der anderen Seite die Tatsache kritisieren, dass wir als Opposition das Schweizer Steuerabkommen verhindert haben. Herr Kollege Schneider und Frau Andreae haben sehr schön dargelegt, warum dies geschehen ist. Unsere Ablehnung hat im Übrigen dazu geführt, dass es zum automatischen Informationsaustausch kommen wird und die Amerikaner FATCA durchgesetzt haben. Beides werfen Sie der damaligen Opposition vor. Ich frage Sie in diesem Zusammenhang – Herr Kollege Brinkhaus hat dazu keine Stellungnahme abgegeben, aber wir haben es in der Debatte mehrfach gehört –: Wie verhalten sich die Regierungsfraktionen, wie verhält sich die Union zum Thema Lizenzbox? Ich hoffe, dass Sie in Ihrer Rede darauf eingehen; denn das ist ein kritischer Punkt. Wir haben heute in der Zeitung gelesen, wie Steuern umgangen werden. Das, was Herr Schäuble mit Herrn Osborne bezüglich der Lizenzbox verabredet hat, wird dazu führen – das sagen die Experten; das sagen nicht diejenigen, die, wie Herr Brinkhaus sagt, oberflächlich darüber schweben –, dass Konzerne weitere Gestaltungen vornehmen können. Ich bitte Sie, dazu Stellung zu nehmen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN) Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Gambke, ich tue das sehr gern. Es waren mehrere Fragen; ich fange zunächst hinten an. Es ist ganz klar – das hat der Bundesfinanzminister in seiner Rede deutlich gemacht –: Die Steuern gehören dem Staat, in dem die Gewinne erwirtschaftet wurden, und nicht dem Staat, der den höchsten Steuerrabatt gewährt. Deswegen ist der Ansatz bezüglich der Patente bzw. der Lizenzboxen richtig, letzten Endes so zu verfahren, bei der Besteuerung von der in einem Land entstandenen Wertschöpfung auszugehen. Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass der Bundesfinanzminister hier den richtigen Weg einschlägt und versucht, andere Länder auf den Pfad der Tugend zu führen und zu sagen: Diese Steuerlockvogelangebote, bei denen keine Wertschöpfung in dem jeweiligen Land dahintersteckt, gehören der Vergangenheit an. Das ist der richtige Weg. (Beifall bei der CDU/CSU) Der letzte Punkt. (Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt wieder Platz) – Ich bin noch nicht fertig, Herr Gambke. Sie haben mir sehr viele Chancen gegeben. Präsident Dr. Norbert Lammert: Aber ich bin damit fertig, Herr Kollege Michelbach, (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) weil der Versuch zu durchsichtig ist, bei solchen Gelegenheiten die Redezeit zu verdoppeln. Also, Herr Gambke, Sie dürfen sich setzen, und der Kollege Michelbach ist nicht daran gehindert, entweder das zu sagen, was er ohnehin sagen wollte, oder sich weiterhin intensiv mit Ihnen zu beschäftigen. Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Präsident, wenn Sie in Ihrer unermesslichen Weisheit sprechen, höre ich natürlich sofort zu. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich mache das natürlich gerne. Ich möchte noch einmal deutlich machen, dass die Steuer- und Finanzschlupflöcher im Ausland für die Steuerbehörden bisher kaum auffindbar waren. Insofern wird hier jetzt mit dem Informationsaustausch der glorreiche Endpunkt erreicht. Wir befinden uns in einer optimalen Situation, um dieses Kooperationsinstrument der Steuerbehörden auf den Weg zu bringen. Da nützt es gar nichts, meine Damen und Herren von der Opposition, Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung immer geradezu mit Schaum vor dem Mund zu kritisieren. Über sachliche Überzeugungsarbeit kann ich mich natürlich freuen. Aber ich habe heute in dieser Debatte bei Frau Wagenknecht wieder die Attitüde des Klas-senkampfes erlebt. Ich frage mich: Wo ist Frau Wagenknecht? – (Zuruf von der LINKEN: Hier!) Sie hat hier wieder eine Rundum-Schimpfkanonade gegen alle Steuerzahler vorgeführt und sich dann vom Acker gemacht, meine Damen und Herren. (Widerspruch bei der LINKEN) – Da ist sie wieder. Wunderbar! Dann nehme ich das zurück. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber sie hatte sich kurz vom Acker gemacht!) Aber meine Äußerung zur Schimpfkanonade war trotzdem richtig. Ich darf Ihnen sagen: Das Abkommen über den automatischen Steuerdatenaustausch ist kein Grund, sofort die Abgeltungsteuer zu schleifen und eine Steuererhöhung durch die Hintertür einzuführen; das ist meine feste Überzeugung. Die Abgeltungsteuer bleibt ein wesentliches Mittel zur Steuervereinfachung. Auch darüber muss man nachdenken. Man kann nicht immer nur Steuervereinfachung fordern und dann letzten Endes ein Instrument wie die Abgeltungsteuer sofort schleifen wollen. Die Leute, die damals schon Steuerpolitik gemacht haben – etwa meine Kollegin Gerda Hasselfeldt –, wissen, welche Probleme wir mit dem alten Halbeinkünfteverfahren hatten. Das ist doch keine Lösung mehr. Die Abgeltungsteuer sorgt seit 2009, seit ihrer Einführung durch Peer Steinbrück, für eine gut kalkulierbare und nachvollziehbare Besteuerung von Zinsen, Dividenden und Veräußerungsgewinnen und für einen einheitlichen Steuersatz von 25 Prozent. Die Kreditinstitute erledigen die steuerlichen Formalitäten für ihre Kunden. – Herr Präsident? Präsident Dr. Norbert Lammert: Jetzt möchte der Kollege Ernst noch mal was fragen, und so, wie ich Sie kenne, lassen Sie das auch zu. Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Ja. Sie kennen mich gut. Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön. Klaus Ernst (DIE LINKE): Danke, Herr Dr. Michelbach. Ich entnehme Ihren Ausführungen bezüglich der Abgeltungsteuer, dass Sie der Auffassung sind: Sie sollte so bleiben, wie sie ist, weil die Steuer sonst so kompliziert zu erheben wäre. – Vorher habe ich von Herrn Schneider gehört, der ebenfalls einer Partei angehört, die zurzeit die Regierung trägt, dass man die Besteuerung nach seiner Auffassung ab 2017, wenn der Datenaustausch funktioniert, ändern sollte. Kann ich Ihren Ausführungen entnehmen, dass es zwischen den Koalitionsfraktionen keinesfalls eine -Einigung darüber gibt, dieses aus meiner Sicht absolut inakzeptable Recht aufrechtzuerhalten, nach dem Kapital-erträge bei weitem geringer besteuert werden als die Einkommen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern? Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Kollege Ernst, Sie müssen davon ausgehen, dass wir uns in dieser Koalition immer einigen. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, ja! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist nur eine Frage der Zeit!) Natürlich gibt es unterschiedliche Argumente. Gerade mit den Kollegen Carsten Schneider und Lothar Binding und anderen Kollegen einigen wir uns immer. Wir haben eine hervorragende Zusammenarbeit in der Steuer- und Finanzpolitik. Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Steuerrecht ist kein Ersatztummelplatz für den Klassenkampf, sondern man muss Argumente austauschen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Meine Frage ist nicht beantwortet! – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist überhaupt nicht beantwortet! Ja oder nein? – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir lassen uns gar nicht auf so etwas ein!) Es ist nun einmal so, dass ein einheitlicher Steuersatz von 25 Prozent im Hinblick auf Unternehmensbeteiligungen und die Aktienkultur sehr transparent ist; er ist kalkulierbar. Deswegen ist zu hinterfragen, ob man solch ein Steuervereinfachungsmodell, das von der SPD federführend eingeführt wurde, letzten Endes schleifen sollte. Wir müssen die Argumente austauschen. Es ist ganz normal, dass wir uns nach der Beratung darüber einigen werden. – Jetzt steht der Herr nicht mehr. Ich mache dann weiter, Herr Präsident. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Frage war sehr einfach, die Antwort kompliziert!) – Ja, die Frage war einfach. Ich habe sie auch gut beantwortet, Herr Kollege Ernst. Meine Damen und Herren, es steht außer Zweifel: Der Kampf gegen Steuerhinterziehung kann nur in enger Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg zum nachhaltigen Erfolg führen. Deshalb muss es unser Ziel sein, weitere Staaten von der Unterzeichnung des Abkommens zu überzeugen. Wir müssen aber auch an anderer Stelle Steuerschlupflöcher schließen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig!) Der Finanzminister hat zu Recht darauf hingewiesen: Die Steuergestaltung durch grenzüberschreitende Gewinnverlagerungen und willkürliche Gewinnkürzungen mancher internationaler Konzerne muss ein Ende haben. Mein Unternehmen steht mit internationalen Konzernen im Wettbewerb. Ich ärgere mich natürlich maßlos, wenn wir die Steuern in voller Höhe zahlen, sich Konkurrenten andererseits in Deutschland einen schlanken Fuß machen. Das ist Wettbewerbsverzerrung zulasten des Mittelstandes. Das wird von uns nachhaltig bekämpft werden, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass transnationale Konzerne ihre Gewinne dort versteuern, wo sie sie erwirtschaften. Ich glaube, die G-20-Länder haben vor einem Jahr einen Aktionsplan beschlossen, mit dem Steuerschlupflöcher für multinationale Konzerne gestopft werden sollen. Ich freue mich, dass Wolfgang Schäuble diese Aufgabe mit großem Engagement weitergetragen hat und dass es hierfür letztlich Lösungen geben wird. Es muss Schluss damit sein, dass internationale Großkonzerne ihre Steuerlast kleinrechnen können. (Beifall der Abg. Ulli Nissen) Es ist schließlich nicht hinnehmbar, dass manche international agierenden Konzerne Gewinne und Verluste so lange grenzüberschreitend hin- und herschieben, bis praktisch keine Steuerlast mehr übrigbleibt. Deswegen müssen wir dieses Hin- und Herschieben letztlich verhindern. Das ist die Aufgabe. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmen Sie einmal den Anträgen der Grünen zu! Da steht das alles drin!) Wir haben natürlich gleichzeitig die Frage zu beantworten: Wie können wir in dieser Zeit durch eine aktive Steuerpolitik Investitionsförderung betreiben? Wir haben – das muss man erkennen – eine Investitionslücke in Deutschland. Zur Schließung dieser Lücke sind zusätzliche Investitionen von Unternehmen und Staat in einem Umfang von etwa 3 Prozent des BIP erforderlich. Das entspricht etwa 80 Milliarden Euro. Deswegen ist die richtige Steuerpolitik wichtig. Jetzt haben wir den großen Erfolg, dass wir keine Nettoneuverschuldung haben und einen ausgeglichenen Haushalt verabschieden. Dies wird neue Spielräume eröffnen, weil es natürlich nach wie vor Wachstum in Deutschland gibt. Diese Spielräume werden wir nutzen müssen, insbesondere beim Thema Abschreibungen. Es kann nicht sein, dass der Werteverzehr und die Abschreibungen zulasten der Liquidität in den Unternehmen -gehen und damit die Unsicherheit bezüglich der Investitionen steigt. Man muss insbesondere berechenbare, kostengünstige und investitionsfreundliche Rahmenbedingungen schaffen. Daran wollen wir weiterhin arbeiten. Das ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben: bei Forschung und Entwicklung sowie bei den Abschreibungen. Natürlich haben unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch einen Anspruch darauf, dass wir uns mit dem Thema „Kalte Progression“ befassen – ob das allen gefällt oder nicht. 1 Prozent Lohnerhöhung bedeutet 1,9 Prozent Steuermehreinnahmen beim Staat. Das ist ein Thema. Es ist nicht richtig, dass alle Mehreinnahmen durch die Steigerungen der Leistungskraft nur beim -Fiskus landen. Vielmehr gehört das Geld, das von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erwirtschaftet wird, zunächst einmal den Arbeitnehmern, also den Steuerzahlern. Dann erst kommt der Fiskus. So wird ein Schuh daraus. Deswegen ist es notwendig, dass wir uns damit befassen. Dann werden wir weiterhin Arbeitsplätze schaffen, und dann werden wir auch in den Bereichen des internationalen Wettbewerbs weiterhin vorankommen. Ich bin froh, dass wir diese Erfolge heute feiern können, dass wir damit letzten Endes einen Erfolgsweg gehen und unserem Land dienen: den Steuerzahlern, der Steuerwahrheit und der Steuergerechtigkeit. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort der Kollegin Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht einmal zwei Jahre her – es war Dezember 2012 –, als das von Herrn Schäuble ausgehandelte Steuerabkommen mit der Schweiz – ein echter Persilschein für Steuerhinterzieher – endgültig scheiterte, und das war gut so. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wolfgang Schäuble warf uns Grünen damals billige Polemik vor. Er behauptete, wer beim Schweizer Steuerabkommen wirklich der Meinung sei, man könne da mehr rausverhandeln, der sei nicht von dieser Welt. Heute, zwei Jahre nachdem Grüne und SPD im -Bundesrat das Steuerabkommen verhindert haben, Uli Hoeneß wegen Steuerhinterziehung in der Schweiz rechtskräftig verurteilt ist (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) und sein Banker in Polen verhaftet worden ist, erhalten Deutsche mit einem Bankkonto in der Schweiz von ihrer jeweiligen Schweizer Bank Post mit Informationen über die neue Weißgeldstrategie der Schweizer Regierung. In einem solchen Schreiben, das mir vorliegt, heißt es zum Beispiel – ich zitiere –: Die Schweizer Regierung hat sich zum automatischen Informationsaustausch bekannt. Weiter: Für die Finanzinstitute wurde in der Schweiz zudem ein neues Bundesgesetz in die Vernehmlassung gegeben. Es sieht vor, dass Schweizer Banken die Steuerkonformität der Vermögen ihrer bestehenden Kunden abklären müssen. Sollten die Gelder im Land des Kunden nicht ordnungsgemäß versteuert sein, ist die Bank gezwungen, die Geschäftsbeziehungen mit dem Kunden abzubrechen. Und schließlich: Unsere Bank handelt stets gesetzeskonform. Bitte beachten Sie, dass wir deshalb nächstens eine -Offenlegung oder Bestätigung der ordentlichen Versteuerung Ihrer Gelder in Ihrem Domizilland von Ihnen verlangen müssen. Das ist die Schweiz im Jahr 2014. Ich bin stolz darauf, Herr Schäuble, dass wir Grünen damals in dieser Frage standhaft geblieben sind und dass es Ihnen auch nicht gelungen ist, die SPD-geführten Bundesländer -herauszukaufen, obwohl Sie es, wie wir alle wissen, versucht haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Denn so wurde in der Schweiz ein Wandel möglich, und so war der Weg frei für das internationale Abkommen für automatischen Informationsaustausch, unterzeichnet von 51 Staaten, das Sie heute zu Recht als Meilenstein im Kampf gegen Steuerhinterziehung bezeichnen. Die Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige, die heute auch zur Debatte steht, gibt es in Deutschland seit über 100 Jahren. Die Zahl der Selbstanzeigen war in den letzten 100 Jahren dennoch durchaus überschaubar. Das lag aber nicht an der großen Steuerehrlichkeit in unserem Lande, sondern an dem sehr geringen Entdeckungsrisiko. Das hat sich inzwischen geändert: Der Aufkauf von Steuer-CDs, das gescheiterte Steuerab-kommen mit der Schweiz und der nun vereinbarte flächendeckende automatische Informationsaustausch der Steuerbehörden aus über 50 Ländern haben das Entdeckungsrisiko stark erhöht. Umso wichtiger war es, diese Entwicklung mit einer Verschärfung der Voraussetzungen für eine strafbefreiende Selbstanzeige zu flankieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Denn nach der derzeit geltenden Regelung ist es immer noch so, dass sich das Zuwarten bei der Selbstanzeige finanziell lohnen kann. Lassen Sie mich das an einem Beispiel deutlich machen. Alice Schwarzer hat nach eigenen Angaben mehr als 20 Jahre lang Steuern hinterzogen, muss aber nach geltender Gesetzeslage nur für maximal zehn Jahre nachzahlen und für fünf Jahre einen fünfprozentigen Strafzins zahlen. Das heißt, sie ist mit ihrer Selbstanzeige nach geltender Gesetzeslage nicht nur einem Strafverfahren entgangen – das ist der Sinn des Gesetzes –, sondern sie hat gegenüber dem Steuerehrlichen immer noch viel Geld gespart. Das darf nicht sein! Das muss aufhören! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Der vorliegende Gesetzentwurf ändert das. Im Rahmen der Finanzministerkonferenz sind Verschärfungen erarbeitet worden, die zu den neuen Rahmenbedingungen passen und die sicherstellen, dass der Steuerehrliche in Deutschland eben nicht mehr der Dumme ist. Die Ankündigung der Verschärfung hat auch schon sichtbare Effekte: Waren es 2013 mit 25 000 Selbstanzeigen schon dreimal so viel wie 2012, so ist die Zahl im Jahr 2014 noch einmal deutlich angestiegen und lag im Oktober bereits bei knapp 32 000 Selbstanzeigen mit Mehreinnahmen für den Fiskus in Milliardenhöhe. Die Reformvorschläge, an denen auch die Finanz-ministerinnen von den Grünen aus Schleswig-Holstein und Bremen, Monika Heinold und Karoline Linnert, mitgewirkt haben, tragen eine deutlich grüne Handschrift. Die Absenkung der Grenze hin zu schwerer Steuerhinterziehung von bisher 50 000 Euro auf 25 000 Euro, die deutliche Anhebung und Staffelung des Geldzuschlages, der bei hinterzogenen Steuern anfällt, und die Verdoppelung der Nacherklärungsfrist von fünf auf zehn Jahre – das sind wichtige Punkte. Wir setzen uns dafür ein, dass an ihnen am Ende, nachdem das Gesetz das Parlament passiert hat, auch festgehalten wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eine besondere Schwierigkeit gab und gibt es bei den sogenannten Anmeldesteuern, also bei der Lohn- und der Umsatzsteuer, insbesondere bei der Umsatzsteuer. Derzeit können Vorsteueranmeldungen, die um wenige Tage verspätet eingereicht werden, als vollendete Steuerhinterziehung bewertet werden. Das will aber tatsächlich niemand, weil das offensichtlich lebensfremd ist. Mittelständische Unternehmen erreichen die Grenze von 25 000 Euro, ab der eine Umsatzsteueranmeldung notwendig ist, schnell, zumal bei der Berechnung, ob diese Grenze erreicht wurde, auf den zu spät deklarierten Umsatzsteuerbetrag und nicht auf den tatsächlich entstandenen Steuerschaden abgestellt wird. Deswegen sind wir froh, dass in dem Gesetzentwurf jetzt eine gute Formulierung gefunden worden ist. Allerdings ist zu fragen – diesbezüglich sehen wir für die Anhörung noch Diskussionsbedarf –, inwieweit das vollständig gut geregelt ist und ob es bei der Jahreserklärung vielleicht doch noch Anpassungen geben sollte. Hier sehen wir tatsächlich noch Prüfungs- und Änderungsbedarf. Ich fasse aus Sicht der Grünen zusammen: Wir sind Schritte vorangekommen. Wichtige Bausteine liegen vor. Finanzminister Schäuble kann in gewisser Weise für sich in Anspruch nehmen, international vom Saulus zum Paulus geworden zu sein. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur da!) Aber es müssen noch weitere Schritte folgen, und zwar die, die auf nationaler Ebene möglich sind: Die Abgeltungsteuer gehört abgeschafft. Die Argumente dafür wurden heute schon mehrfach genannt. Wir brauchen sie jetzt nicht mehr. Es macht einfach keinen Sinn, Kapitaleinkommen geringer zu besteuern als Arbeitseinkommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wenn der Austausch dann läuft! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Steuerkomplizierung lässt grüßen! Steuerbürokratie lässt grüßen!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss. – Auch das Thema Steuergestaltung müssen wir noch stärker angehen. Auch da kann man auf nationaler Ebene etwas machen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Zum Abschluss den Minister loben, und dann ist Schluss!) 158 Milliarden Euro gehen dem deutschen Fiskus jedes Jahr verloren, nicht nur wegen Steuerhinterziehung, sondern auch wegen Steuergestaltung. Das ist eine große Summe. Das kann so nicht bleiben. Deswegen brauchen wir dringend eine effizientere und transparentere Steuerverwaltung, die mit den internationalen Konzernen auf Augenhöhe operieren kann. Deswegen fordern wir Sie erneut auf: Machen Sie es mit uns zusammen, richten Sie eine Spezialeinheit auf Bundesebene ein, die auf Steuerhinterziehung und Steuergestaltung reagieren kann. Wir brauchen eine solche Spezialeinheit – Stichworte „hohe Einkommen“ und „international agierende Unternehmen“ – Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – Entschuldigung –, damit wir endlich dazu kommen, dass die Finanzämter in diesem Land mit den Steuergestaltern in den großen Steuerabteilungen der großen internationalen Konzerne auf Augenhöhe operieren können. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich bitte sehr um Nachsicht. Ich lege die Redezeiten nicht fest. Ich muss nur darauf achten, dass das, was wir selbst beschlossen haben, auch einigermaßen eingehalten wird. Es erleichtert uns die Arbeit sehr, wenn sich alle darum bemühen, sich an die Vorgaben zu halten. Der Kollege Andreas Schwarz ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Andreas Schwarz (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der spätere langjährige Präsident des Deutschen Reichstages, der Sozialdemokrat Paul Löbe, hat am 17. Dezember 1919 in der verfassunggebenden Nationalversammlung in einer bemerkenswerten Rede unter anderem Folgendes ausgeführt – ich zitiere –: Gerade im letzten Jahr hat sich das öffentliche Gewissen und die öffentliche Stimme immer lauter gegen diejenigen gekehrt, die als Steuerschieber oder -flüchtlinge einen Teil ihres Vermögens vor der allgemeinen Not des Volkes in Sicherheit gebracht haben. Es liegt keinerlei Anlass vor, über sie die schützenden Hände zu erheben. Zitatende. (Beifall bei der SPD) Man sieht, die Bekämpfung der Steuerhinterziehung war und ist für die SPD immer auch eine Frage der Gerechtigkeit. „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“, so lautet ein bekanntes Sprichwort. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hatten nach der Aufdeckung prominenter Fälle von Steuerflucht den Eindruck gewonnen, dass sich Wohlhabende vom Tatbestand der Steuerhinterziehung freikaufen können. Der Schaden, den Steuerbetrug anrichtet, ist also nicht nur fiskalischer Natur. Nein, er hat auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen in diesem Lande wird erschüttert. Hier können und dürfen wir nicht tatenlos bleiben. Deshalb handeln wir. Steuerbetrug ist Betrug an der Allgemeinheit und verbaut Zukunftschancen. Daher ist es richtig und wichtig, dass wir die Regelungen für die strafbefreiende Selbstanzeige verschärfen. Wir wollen, dass der Staat die Steuern erhält, die ihm zustehen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) und wir wollen das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung wieder ins Lot bringen. Der vorliegende Gesetzentwurf gibt darauf überzeugende Antworten und findet daher die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion. Wir schaffen die Selbstanzeige ausdrücklich nicht ab. Ja, die Hand des Staates bleibt ausgestreckt, aber – das ist für uns entscheidend – zu deutlich erschwerten Bedingungen. Der amtierende thüringische Finanzminister Wolfgang Voß hat das im April 2014 überzeugend zusammengefasst – ich zitiere –: Die Selbstanzeige wird für Steuerhinterzieher unbequemer, bleibt aber weiterhin handhabbar. Steuerbetrug darf sich niemals lohnen. Deshalb ist es richtig, dass wir die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit nicht verbauen, aber eben deutlich erschweren und vor allen Dingen teurer machen. Es ist kein Geheimnis, dass es innerhalb der SPD zu Beginn durchaus auch kontroverse Ansichten zur Beibehaltung der Selbstanzeige gab. Dass wir die Selbstanzeige am Ende aber sogar vor dem bayerischen Finanzminister Markus Söder retten mussten, ist schon ein Novum. Herr Söder wollte im Frühjahr 2014 eine Obergrenze diskutieren lassen, ab der eine Selbstanzeige generell unwirksam sein sollte. Aber so ist es nach langen, sehr konstruktiven Gesprächen und Verhandlungen nicht gekommen. Von Beginn an wurde von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe und der Finanzministerkonferenz parteiübergreifend eine ganz klare Botschaft ausgesendet: Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt und wird konsequent bekämpft und bestraft. (Beifall bei der SPD) Bund und Länder haben – bei durchaus unterschiedlichen Auffassungen im Detail – an einem Strang gezogen. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt die gemeinsam verabredeten Beschlüsse überzeugend um. Für die geleistete Arbeit sprechen wir Herrn Bundesfinanzminister Dr. Schäuble, dem Vor-sitzenden der Finanzministerkonferenz, Dr. Walter-Borjans, und allen Beteiligten unseren herzlichen Dank aus. Das Ergebnis bei der Abstimmung des Finanzausschusses des Bundesrates vorletzte Woche spricht ebenfalls für sich: Bei 15 Jastimmen und einer Enthaltung durch Brandenburg wurde beschlossen, diesen Gesetzentwurf dem Bundesrat zur Beschlussfassung vorzulegen – ohne Änderung. Am 8. Oktober 2014 erklärte der hessische Finanzminister, Herr Schäfer: Die Selbstanzeige bleibt ein wirksames Instrument zur Bekämpfung von Steuerkriminalität. Dass der Bund zum 1. Januar 2015 unter aktiver Mitarbeit Hessens eine Verschärfung der Bedingungen für eine Selbstanzeige plant, zeigt bereits jetzt Wirkung. Recht hat er. Man muss ja oft Jahre warten, bis sich ein Gesetz als erfolgreich herausstellt. Manchmal, so hört man, wird nie etwas daraus. Welcher Gesetzentwurf bringt hingegen bereits Milliarden an Mehreinnahmen, bevor er überhaupt verabschiedet ist? Keine Frage, ein solch erfolgreiches Gesetz ist ein gutes Gesetz. Den Druck auf Steuerbetrüger zu erhöhen, hat sich unbestreitbar als der richtige Weg erwiesen. Bis dato gingen in diesem Jahr schon 32 000 Selbstanzeigen bei den Steuerbehörden ein, und im vergangenen Jahr waren es rund 24 000 Anzeigen – ein toller Erfolg. Diesen Weg werden wir mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes konsequent weitergehen. Wir begrüßen ebenfalls, dass die Straffreiheitsgrenze auf 25 000 Euro abgesenkt wird. Wer im Bereich von Kapitalerträgen 25 000 Euro an Steuern hinterzieht, hat 100 000 Euro an Zinsen nicht angegeben und somit bei einem unterstellten Zinssatz von 2 Prozent 5 Millionen Euro vor dem Fiskus versteckt. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Diese Armut!) Hier geht es nicht um ein Kavaliersdelikt. Nein, hier geht es um massiven Steuerbetrug. Deshalb ist die Absenkung der Straffreiheitsgrenze wohl sehr begründet. Noch ein Wort zu den Anmeldesteuern. Das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz von 2011 hat die Problematik im Hinblick auf die Anmeldesteuern der Unternehmer ja erst geschaffen. Deshalb begrüßen wir, dass die Teilselbstanzeige bei der Lohn- und Umsatzsteuervoranmeldung wieder möglich ist. Dieser Gesetzentwurf hat also nicht nur Verschärfungen und strenge Regelungen zum Inhalt, sondern er bietet auch praxisorientierte Verbesserungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir, dass ich diese Rede mit einem Zitat des großen Sozialdemokraten Paul Löbe schließe – seine Worte vom 17. Dezember 1919 sind fast 100 Jahre alt, haben aber an Ak-tualität nichts eingebüßt. Ich zitiere: Gleiches Recht für alle, besonders aber gleiches Recht dem ehrlichen Steuerzahler, der es nicht verdient, dass diejenigen geschont werden, die in den vergangenen Jahren ihrer Pflicht gegenüber der Allgemeinheit nicht nachgekommen sind. Dieser Aufforderung kommt der vorgelegte Gesetzentwurf in vollem Umfang nach. Deshalb kann man auf die Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion zählen. Wir freuen uns auf weiterhin gute Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen der Union und gute Debatten im Finanzausschuss und im Parlament. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Bettina Kudla ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Bettina Kudla (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst einmal auf das Steuerabkommen mit der Schweiz eingehen, weil dies hier mehrfach kritisch angesprochen wurde. Ich wundere mich, wie Politiker stolz darauf sein können, dass sie verhindert haben, dass aus der Schweiz Milliarden an Steuern nach Deutschland fließen. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: So ist das!) Deshalb muss man einmal fragen, wer denn die Verantwortung dafür trägt, dass dem deutschen Staat Milliarden an Steuereinnahmen entgehen. Mit der Unterzeichnung des Abkommens wären 2 Milliarden Euro sofort geflossen. (Widerspruch bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Steuereinnahmen in Höhe von 10 Milliarden Euro sind prognostiziert worden. Wer die harte Nuss Schweiz knacken will, der muss erst einmal ein unterschriebenes Abkommen vorlegen. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Schweizer sind viel weiter! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Da hat uns FATCA geholfen, nicht dieses Abkommen!) Momentan beteiligt sich die Schweiz noch nicht an dem automatischen Informationsaustausch. Nach dem ursprünglich vorgesehenen Abkommen wären künftige Kapitalerträge genauso wie in Deutschland besteuert worden. Es hätte also gar keinen Sinn mehr gemacht, Geld in die Schweiz zu transferieren. Hinsichtlich der Abgeltungsteuer wurde hier gesagt, man wolle das genauso wie mit der Lohnsteuer handhaben. Das macht aber doch gar keinen Sinn. Es hat seinen guten Grund, dass die Abgeltungsteuer nicht so behandelt wird wie die Lohnsteuer, weil man Kapitaleinkünfte nicht so einfach greifen kann wie die Steuer des Arbeitnehmers. Deswegen hat die Abgeltungsteuer durchaus ihren Sinn. (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Nun zum Gesetzentwurf zur strafbefreienden Selbstanzeige. Zunächst zur Ausgangslage. Die Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist ein wesentliches Ziel der Koalition. Die Selbstanzeige als Fall der Straffreiheit nach Beendigung des Delikts ist daher immer wieder rechtfertigungsbedürftig. Mit dem Schwarzgeldbekämpfungsgesetz wurden die Voraussetzungen für eine strafbefreiende Selbstanzeige im Jahr 2011 deutlich verschärft. Der aktuelle Gesetzentwurf setzt die Eckpunkte der Beschlüsse der Finanzministerkonferenz vom Mai 2014 um. Kern des Gesetzes ist, dass das Instrument der Selbstanzeige beibehalten wird. Folgende Leitplanken dienen dem Gesetz als Grundlage: Es wird immer die Abwägung getroffen zwischen dem Gebot der gerechten Bestrafung und der pragmatischen Ermöglichung der Rückkehr in die Legalität. Die strafbefreiende Selbstanzeige soll dem Steuerpflichtigen den Weg in die Steuerehrlichkeit eröffnen, sofern dieser Steuern hinterzogen hat. Der strafrechtliche Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“, wonach niemand an seiner eigenen Überführung mitwirken muss, muss trotz der erheblichen Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen auch im Steuerstrafrecht Geltung behalten. Die Öffentlichkeit ist durch die Diskussion der vergangenen Monate erheblich sensibilisiert worden. Es ist ein stärkerer Verfolgungsdruck entstanden, und die Zahl der strafbefreienden Selbstanzeigen hat sich deutlich erhöht. Das ist zu begrüßen. Ich möchte aber auch betonen, gerade was die Sensibilisierung der Öffentlichkeit betrifft: Das Recht des Bürgers auf die Wahrung des Steuergeheimnisses besteht nach wie vor. Im Einzelnen zum Gesetz. Wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, wird – wir haben es jetzt schon mehrfach gehört – der Nacherklärungszeitraum auf zehn Jahre ausgedehnt. Das schafft mehr Rechtssicherheit. Bisher mussten fünf Jahre nacherklärt werden, und für weiter zurückliegende Zeiträume wurde geschätzt. Es tritt ein Sperrgrund ein: Nur wer den Strafzuschlag bezahlt, bleibt straffrei. Die Staffelung des Zuschlags führt zu einer deutlichen Verschärfung bei der strafbefreienden Selbstanzeige. Wichtige neue Voraussetzung für die Wirksamkeit ist, dass die Hinterziehungszinsen sofort mit Abgabe der Selbstanzeige entrichtet werden; allerdings ist es auch hier gängige Praxis, dass die Finanzämter eine angemessene Frist setzen. Das ist auch notwendig; denn die Belange der kleinen und mittelständischen Betriebe müssen berücksichtigt werden. Das Gesetz soll dazu dienen, dem Steuerpflichtigen zu mehr Steuerehrlichkeit zu verhelfen. (Beifall bei der CDU/CSU) Im Bereich der Anmeldesteuern wird eine Teilselbstanzeige ermöglicht, damit Korrekturen – Fehler passieren nun einmal im betrieblichen Alltag – nicht kriminalisiert werden. Die Berichtigungsvorschrift bzw. die ausdrückliche Berichtigungsmöglichkeit des § 153 AO gilt nach wie vor. Das ist wichtig für die Rechtssicherheit der Unternehmen. Wir haben ferner in dem Gesetz vorgesehen, dass eine Anlaufhemmung der steuerrechtlichen Festsetzungsverjährung eintritt bei Kapitalerträgen aus Ländern, die am automatischen Informationsaustausch nicht teilnehmen. Das ist ein deutliches Signal an diejenigen Steuerpflichtigen, die ihr Geld in Steueroasen anlegen und dem Fiskus die Einnahmen verschweigen. Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung findet einen angemessenen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen und beendet vorhandene Missstände. Das Gesetz wird dazu beitragen, dass die Zahl der Fälle von Steuerhinterziehung, insbesondere großen Ausmaßes, zurückgehen wird. (Beifall der Abg. Antje Tillmann [CDU/CSU] und Lothar Binding [SPD]) Gleichzeitig bleiben die positiven Wirkungen der Selbstanzeige erhalten. Das wären insbesondere die Möglichkeit der Rückkehr in die Legalität, die Stabilisierung der Steuereinnahmen, die Vermeidung des verfassungsrechtlich schwierigen Aufeinanderprallens von Selbstbelastungsfreiheit im Strafrecht und weitreichender Mitwirkungspflicht im Steuerrecht. Es liegt ein wirksamer Gesetzentwurf gegen Steuerhinterziehung vor, der in einigen wenigen Details noch auf seine Praxistauglichkeit, insbesondere im Hinblick auf anschlussgeprüfte Unternehmen, überprüft werden muss. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Andreas Schwarz [SPD]) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Carsten Sieling, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Tillmann [CDU/CSU]) Dr. Carsten Sieling (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich kann man – erstens – die Debatte heute zusammenfassen unter der Überschrift: Am Ende wird alles gut. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja! – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nee! Wir sind noch auf dem Weg!) Nach vielen Jahren der Debatte haben wir hier jetzt einen Konsens, der am Ende doch relativ breit ist, einen Konsens dahin gehend, dass Selbstanzeigen zu einem wirklich wirksamen Schwert gemacht werden müssen und so ausgestaltet werden müssen, dass sie einen wirksameren Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung bieten. Das ist der Kern dessen, was wir heute beschließen. Punkt zwei: Das Bankgeheimnis wird mit dem Informationsaustausch wegfallen. Auch hierüber herrschte nicht immer Konsens. Das Dritte: Auch die Steuerschlupflöcher von Konzernen sollen und müssen international bekämpft werden. (Beifall bei der SPD) Es ist gut, dass wir hierbei einer Meinung sind. Man hat aber an dem einen oder anderen Redebeitrag gemerkt, dass der Weg dahin steinig und ein bisschen holprig war. Frau Kollegin Kudla hat eben deutlich gemacht, welche Schwierigkeiten es manchen Abgeordneten bereiten kann, diesen Punkten zuzustimmen. An dem Versuch, das geplante deutsch-schweizerische Steuerabkommen zu rechtfertigen, hat man das gesehen. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Da haben wir auch nicht geklatscht!) Ich will an dieser Stelle auch sagen, Herr Bundesfinanzminister: Sie haben sich mit Ihrer ganzen Hartnäckigkeit für den Abschluss des deutsch-schweizerischen Steuerabkommens eingesetzt. Man muss aber doch am Ende feststellen, dass es gut gewesen ist, dass wir Ihnen in den vergangenen Jahren mit dem Scheitern des Steuerabkommens den Weg eröffnet und die Möglichkeit gegeben haben, Ihre ganze Hartnäckigkeit dafür einzusetzen, den richtigen Weg einzuschlagen: gegen das Bankgeheimnis und für den Informationsaustausch. Ich finde es gut, dass wir dafür jetzt gemeinsam stehen und Fehler beseitigt haben. (Beifall bei der SPD) Lassen Sie mich die Angelegenheit mit dem Bankgeheimnis etwas genauer betrachten. Ich will hier im Hause daran erinnern, dass es Anfang dieses Jahrtausends in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung Finanzminister Eichel war, der einen Gesetzesvorschlag gemacht hat, das Bankgeheimnis aufzuheben. Dieser Vorstoß ist damals an einer Bundesratsmehrheit unter der Führung eines Ministerpräsidenten gescheitert, der seinen Weg in die Wirtschaft gefunden hat und diesen Weg jetzt auch schon wieder verlassen musste, nämlich von Herrn Koch aus Hessen. Die Einführung des Informationsaustausches hätte zehn Jahre früher kommen können. Aber auch da will ich sagen, Herr Bundesfinanzminister, liebe Kolleginnen und Kollegen: Vielleicht sollten wir froh sein, dass wir das heute zusammen beschließen. Uns Sozialdemokraten gibt das an dieser Stelle ein gewisses Gefühl der Selbstzufriedenheit, weil wir mit den heutigen Beschlüssen in der Steuerpolitik einen richtig großen Schritt vorankommen werden. (Beifall bei der SPD – Volker Kauder: Mit der Deutschland AG haben Sie alles falsch gemacht!) Ein paar Dinge sind noch anzugehen. Ich will nur eine Sache herausgreifen, die Abgeltungsteuer. Auch hier vernehme ich einen großen Konsens darüber, dass wir dieses Thema weiter bearbeiten müssen. Bei allen unterschiedlichen Akzenten und Betonungen, die es an dieser Stelle gibt, scheint mir auch die Frage wichtig zu sein: Wann ist eigentlich der richtige Zeitpunkt, sich damit auseinanderzusetzen? (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt!) – Der richtige Zeitpunkt kann nicht erst 2017 sein. Wir und auch Sie, Frau Kollegin Andreae, argumentieren, dass die Geschäftsgrundlage für die Abgeltungsteuer durch den automatischen Informationsaustausch entfallen sei. Der richtige Zeitpunkt für die Überführung der Abgeltungsteuer zurück in die Einkommensteuer ist der Tag, an dem der automatisierte Informationsaustausch beginnt. Das wird entweder 2017 oder 2018 sein. Wenn man das erreichen will – das ist der wesentliche Punkt –, dann muss man jetzt mit der Arbeit anfangen. 2017 liegt noch in dieser Legislaturperiode – 2018 liegt außerhalb dieser Legislaturperiode –, sodass wir es uns als Große Koalition mit Handlungsverantwortung und mit einem Bundesfinanzminister, der hier sehr oft deutlich gemacht hat, dass es systematisch richtig wäre, die Abgeltungsteuer wieder in die Einkommensteuer zu überführen, gar nicht erlauben können, uns nicht auf den Weg zu machen. Dies ist auch deswegen so wichtig, weil es viele schwierige Fragen zu klären gibt. Stichwort Zinseinkünfte: Wie gehen wir in diesem Zusammenhang damit um? Wollen wir wieder zurück zur Anrechnung von tatsächlichen Werbungskosten, oder erhalten wir weiterhin die Freibeträge aufrecht? Stichwort Veräußerungsgewinne: Die Spekulationsfrist ist abgeschafft worden. Diese Regelung müssen wir meines Erachtens beibehalten. Auch bei den Dividenden gibt es wichtige Fragen, die sachpolitisch zu klären sind. Heute ist der Tag, an dem vieles gut wird. Aber das heißt nicht, dass es in Zukunft nicht noch besser werden darf. Es gibt viele Aufgaben, an die wir politisch herangehen wollen. Wir Sozialdemokraten werden das tun. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Uwe Feiler, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Uwe Feiler (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung, den wir heute in erster Lesung miteinander diskutieren, knüpfen wir an eine durchaus kontroverse und lange öffentliche Debatte an, die wir nun auch parlamentarisch zum Abschluss bringen werden. Der etwas sperrige Titel des Gesetzentwurfs sollte uns dennoch nicht daran hindern, diesen Baustein zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung durch die Weiterentwicklung des Instruments der strafbefreienden Selbstanzeige zu würdigen. Aus meiner Sicht lohnt es sich, noch einmal deutlich zu machen, dass die strafbefreiende Selbstanzeige nicht nur eine Möglichkeit für Steuerhinterzieher darstellt, unter nunmehr verschärften Bedingungen wieder zurück in die Gemeinschaft der ehrlichen Steuerzahler zu finden, die wir bis auf verhältnismäßig wenige Ausnahmen in Deutschland ja auch haben. Sie ist vielmehr auch im Interesse des ehrlichen Steuerzahlers und der Finanzverwaltung. Meine Damen und Herren, wer die Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige fordert, verkennt, dass in kaum einem anderen Rechtsgebiet eine derart umfassende Mitwirkung verlangt wird wie im Steuerrecht. Umgekehrt fordert die Tatentdeckung nirgendwo einen derartigen Einsatz an hochqualifiziertem Personal und vor allem Zeit. Der Einsatz von mehr Steuerfahndern in den Finanzämtern reicht hierbei allerdings nicht aus. Wir müssen den Finanzbehörden auch die nötigen Werkzeuge an die Hand geben. Die Tatentdeckung im Steuerrecht ist deutlich schwieriger als in anderen Rechtsgebieten. Beim Bankraub merkt der Filialdirektor spätestens am Montagmorgen, wenn er den Tresorraum aufschließt, dass der Tresor leer und irgendetwas nicht in Ordnung ist. Das Konto in der Schweiz, in Liechtenstein oder anderswo finden Sie so schnell nicht, und wir brauchen in der Finanzverwaltung die entsprechenden Werkzeuge, um derartige Konten zu finden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Andreas Schwarz [SPD]) Wer die Politik der Bundesregierung und der Regierungskoalition aufmerksam verfolgt, muss bei objektiver Betrachtung feststellen, dass große Anstrengungen unternommen wurden, um Steuerhinterziehung wirksam zu bekämpfen. Deshalb ist es wichtig, den Blick nicht nur auf das Instrument zu richten, sondern auch zu beurteilen, wie sich die strafbefreiende Selbstanzeige in den gesamten Instrumentenkasten einfügt. Meine Damen und Herren, in der vergangenen Woche haben sich in Berlin auf Einladung von Bundesfinanzminister Schäuble die Finanzminister von 51 Staaten darauf verständigt, ab September 2017 den automatischen Informationsaustausch für Besteuerungszwecke einzuführen. Jeder, der mit politischen Prozessen vertraut ist, weiß, welches Verhandlungsgeschick, aber auch welche Durchsetzungsstärke vonnöten ist, um die divergierenden Interessen von 51 Staaten unter einen Hut zu bringen. Wir haben eben schon von einem Meilenstein gehört. Für mich als ehemaligen Angehörigen der Steuerverwaltung ist es ein Felsblock. Herr Bundesminister, vielen Dank, dass Sie diesen Felsblock gesetzt haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutschland gehört damit gemeinsam mit anderen Staaten zu den Vorreitern dabei, Steuerhinterziehung effizient und effektiv zu bekämpfen und im Interesse des ehrlichen Steuerzahlers Einnahmen für den Staat zu sichern. Ich bin mir sicher, dass den 51 Staaten, die sich bisher schon beteiligen, noch weitere Staaten folgen werden. Fest steht aber auch, dass es bei 194 Staaten, die es weltweit gibt, und 51 teilnehmenden Staaten auch in Zukunft weiterer Instrumente bedarf, um Steuerhinterziehung und Steuerflucht wirksam zu verhindern. Das von der OECD angestoßene BEPS-Projekt wird dazu beitragen, dass dieser Prozess weiter an Fahrt gewinnt. Ich freue mich bereits auf die Debatten zu diesem Thema im kommenden Jahr. Deshalb ist es im Zusammenspiel mit dem oben genannten Abkommen in der EU auch richtig, dass der automatische Informationsaustausch weiter verbessert wird und auch Dividenden, Veräußerungsgewinne aus Wertpapieren, andere Finanzprodukte, sonstige Finanzerträge und Kontoguthaben mit einbezogen werden sollen. Meine Damen und Herren, der zunehmende Verfolgungsdruck wird zu einer weiteren Erhöhung der Anzahl der Selbstanzeigen führen. Steuersünder werden diese Kronzeugenregelung dafür nutzen, sich ehrlich zu machen, um wieder in die Gemeinschaft der ehrlichen Steuerzahler zurückzufinden. Ohne die Möglichkeit der Selbstanzeige würden wir aufgrund der steuerlichen Verjährungsfristen auf Einnahmen verzichten. Das führt ebenfalls zu weniger Steuergerechtigkeit. Hier sind natürlich auch die Länder gefragt und in die Pflicht genommen, ihre Finanzämter mit ausreichend Personal auszustatten, um die gewonnenen Erkenntnisse entsprechend verarbeiten zu können. Hier bleibt für mich festzustellen, dass auch mein Heimatland Brandenburg mit einem Personalbesatz von circa 85 Prozent der Personalbedarfsberechnung nicht gerade positiv hervortritt. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist besser als Bayern!) In der öffentlichen Diskussion wird die strafbefreiende Selbstanzeige oft lediglich im Zusammenhang mit hinterzogenen Steuern bei Kapitalerträgen betrachtet. Bei den beispielhaft genannten prominenten Einzelfällen wird aber vollkommen außer Acht gelassen, dass weitere Steuerverkürzungen zum Beispiel bei anderen Einkunftsarten oder bei den Anmeldesteuern für eine Selbstanzeige infrage kommen können. Die strafbefreiende Selbstanzeige soll und darf jedoch kein Wellnessangebot für Steuerhinterzieher darstellen. Deshalb wird – genauso wie bisher – eine umfassende Mitwirkungspflicht dem Steuerpflichtigen abverlangt, gerade um eine vermeintliche Besserstellung gegenüber dem ehrlichen Steuerzahler zu unterbinden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Konkret soll künftig die strafbefreiende Wirkung der Selbstanzeige nur noch bei hinterzogenen Beträgen bis zu 25 000 Euro statt wie bisher bis zu 50 000 Euro eintreten. Hinzu kommt, dass bei hinterzogenen Steuern auf Kapitalerträge, die nicht automatisch übermittelt werden, die Anlaufhemmung bei der steuerrechtlichen Festsetzungsverjährung ab dem 1. Januar 2015 bis zu zehn Jahre betragen kann. In Verbindung mit der generellen Ausdehnung des Berichtigungszeitraums auf zehn Jahre wird deutlich, dass wir fest entschlossen sind, dieses Instrument zu behalten, aber auch Anpassungen vorzunehmen, die deutlich machen, dass Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt darstellt. Richtig finde ich auch, zukünftig Anstifter und Gehilfen in den Kreis derjenigen aufzunehmen, die einer Sperre nach § 371 Absatz 2 AO unterliegen und von der Strafbefreiung ausgenommen werden. Das schließt im Übrigen Amtsträger, die ihre Position missbrauchen, ein. Wichtig ist mir an dieser Stelle, zu unterstreichen, dass wir in § 371 aber auch die Möglichkeit der Korrektur von Umsatzsteuervoranmeldungen und Lohnsteueranmeldungen verbessert haben, sodass sich Betriebe nicht dem Verdacht der Steuerhinterziehung ausgesetzt sehen müssen. Das Gleiche gilt für anschlussgeprüfte Betriebe, die nunmehr für nicht auf einer Prüfungsanordnung aufgeführte Steuerarten und Zeiträume zum Mittel der Selbstanzeige greifen können. Wie wir bereits gehört haben, bleibt uns § 153 AO in der bisherigen Form erhalten. Der Unterschied liegt hier in der Strafbarkeit und der Nichtstrafbarkeit. Wer also eine berichtigte Steuer-erklärung abgibt, kann auch zukünftig darauf hoffen, nicht mit einem Strafverfahren konfrontiert zu werden. Das ist bislang in der Praxis leider ein wenig anders. Ich freue mich, dass es uns in der Fraktion gelungen ist, mit dem Bundesfinanzministerium übereinzukommen, dass wir zu § 153 eine klarstellende Regelung in Form eines Erlasses erhalten werden. Die zu leistenden Geldbeträge nach § 398 a AO werden angepasst und zukünftig gestaffelt. 10 Prozent der hinterzogenen Steuern werden bei Beträgen bis zu 100 000 Euro fällig, 15 Prozent bei Beträgen bis zu 1 Million Euro und 20 Prozent bei darüber hinausgehenden Beträgen. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich die Schuld des Straftäters bei der zu vermeidenden Strafbemessung an der Höhe der hinterzogenen Steuern orientiert. Noch ein kurzes Wort zur Abgeltungsteuer. Solange der vereinbarte Informationsaustausch nicht funktioniert, brauchen wir weiterhin eine Abgeltungsteuer. Deswegen ist es falsch, bereits über ihre Abschaffung zu diskutieren. Ebenso falsch ist, ein wahres Bürokratiemonster wie das Halbeinkünfteverfahren wiederzubeleben. Wir müssen schauen, was wir hier in Zukunft machen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Ich freue mich auf die Diskussionen im Ausschuss und die dazugehörigen Anhörungen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3018 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu weitere Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c sowie Zusatzpunkt 1 auf: 5 a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) Drucksachen 18/2575, 18/2626 – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge Drucksachen 18/2576, 18/2627 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Drucksache 18/3088 b) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes Drucksachen 18/2577, 18/2629 – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus Drucksachen 18/2580, 18/2628 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsauschusses (8. Ausschuss) Drucksache 18/3082 c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsauschusses (8. Ausschuss) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen Durchführungsbestimmungen zum Instrument der direkten Bankenrekapitalisierung durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 4 Absatz 1 des ESM-Finanzierungsgesetzes Drucksachen 18/2669, 18/3082 ZP 1 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Risiko und Haftung zusammenführen – Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstellen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gemeinsam die Haftung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler beenden – Für einen einheitlichen europäischen Restrukturierungsmechanismus – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Manuel Sarrazin, Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Bankenabwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates KOM(2013) 520 endg.; Ratsdok. 12315/13 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Zum Schutz der Allgemeinheit vor Einzelinteressen – Für eine echte Europäische Bankenunion Drucksachen 18/97, 18/98, 18/774, 18/3088 Zu dem BRRD-Umsetzungsgesetz der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Erster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden heute eines der wichtigsten Gesetze der europäischen Finanzgeschichte verabschieden. Wir diskutieren seit dem Jahr 2008 über Hilfsmaßnahmen des Staates für Kommunen, über Konjunkturpakete, über Hilfen für Staaten und Banken in Form von Rettungsschirmen, und wir haben uns unserer Verantwortung gestellt, hier im Deutschen Bundestag dafür zu sorgen, dass bei Krisen wieder Haftung und Verantwortung zusammengebracht werden und nicht der Staat für Leute haften muss, die in diesem System Fehler machen. (Beifall bei der CDU/CSU) Seit Mitte 2012 beraten wir über das Thema der Bankenunion. Was verstehen wir unter Bankenunion? Es geht im Wesentlichen um zwei Bereiche: einmal eine gemeinsame Aufsicht in Europa für die Banken zu schaffen, nicht nur eine nationale Aufsicht, zum anderen geht es um die Frage: Was passiert, wenn Banken in eine Schieflage geraten? Wie kann hier abgewickelt oder saniert werden? Wir haben im Jahr 2012 erlebt, dass viele europäische Staaten der Meinung waren, eine gemeinsame Aufsicht zu schaffen, aber dann, wenn eine Bank in Schieflage gerät, an europäisches Geld kommen wollten, nämlich an den Rettungsschirm ESM. Deshalb war es uns im Deutschen Bundestag wichtig, ein Stoppsignal zu setzen und zu sagen: Das ist mit uns so einfach nicht zu machen. Wir haben deshalb hier im Deutschen Bundestag damals eine Entschließung verabschiedet und unserer Bundesregierung Vorgaben gemacht, wie die Verhandlungen zu führen sind und vor allen Dingen welche Merkmale in den Verhandlungen nach vorne gestellt werden sollten. Wir sind der Meinung, dass in Europa alle großen Banken europäisch kontrolliert werden müssen und nicht mehr national. Aber wir sind genauso der Meinung, dass kleine Banken, kleine Institute, Sparkassen und Volksbanken, die gewisse Grenzen nicht überschreiten, nicht europäisch kontrolliert werden müssen, sondern dass hier proportional gehandelt werden muss. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Manfred Zöllmer [SPD]) Denn es darf nicht sein, dass kleine Banken dem gleichen Regime unterliegen wie die großen. Ich habe als unsere wichtigste Verantwortung unter anderem gesehen, dass wir Proportionalität gewährleisten und dass wir uns für die kleinen Institute einsetzen, die gerade in der Finanzkrise immer dafür gesorgt haben, dass die Geld- und Kreditversorgung in Deutschland gewährleistet war. Das ist unsere besondere Verantwortung. Es gab natürlich auch den Wunsch, Banken möglichst auf die europäische Ebene zu schieben, ohne sie zu prüfen, damit anschließend eine europäische Haftung greift. Wir als Deutscher Bundestag haben gesagt: Wir sind für die europäische Aufsicht, aber wir sind nur dann für die europäische Aufsicht, wenn sich alle großen Banken, die in Zukunft europäisch kontrolliert werden sollen, einer Prüfung, einem Stresstest unterziehen, damit nicht kranke Banken auf der europäischen Ebene abgelagert werden können. Diese Prüfung ist soeben erfolgt. Vor gerade zehn Tagen sind die Ergebnisse herausgekommen. Die 130 größten europäischen Banken sind kontrolliert worden. Von diesen haben 25 die Bedingungen nicht erfüllt; zum heutigen Zeitpunkt sind es noch 13 Banken. Diese 13 Banken müssen selbst oder mithilfe ihrer Staaten das Geld aufbringen, damit sie in die europäische Aufsicht kommen. Es ist eben nicht Angelegenheit der gemeinsamen Haftung, sondern der Banken und der betreffenden Staaten, dafür zu sorgen, dass diese Banken liquide sind und keine Gefahr für den Finanzmarkt darstellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben auch deutlich gemacht, dass wir dafür sind, dass Banken, die in eine Schieflage geraten, gemeinsam gerettet werden können. Dafür haben wir das Gesetz, das wir heute hier vorlegen, das Abwicklungs- und Sanierungsgesetz, geschaffen. Wir in Deutschland haben zwar bereits seit dem Jahre 2010 ein nationales Gesetz zu diesem Thema gehabt, aber wir gehen mit diesem Gesetz doch deutlich weiter, als wir es national getan haben. Wenn Banken in die Schieflage geraten, wenn sie saniert oder abgewickelt werden müssen, dann wird zum ersten Mal nicht der Steuerzahler herangezogen. Wie schaffen wir das? Wenn jemand in die Schieflage gerät, wird zuerst der Eigentümer herangezogen. Natürlich haben viele Eigentümer von Bankaktien in der Krise Geld verloren. Wer auf dem Höhepunkt im Jahre 2008 eingestiegen ist, hat mit Commerzbank-Aktien über 90 Prozent verloren. Aber hier geht es darum, dass dem Eigentümer, dem Aktionär, Geld entzogen wird. Er verliert eventuell sein gesamtes Geld. Wenn das nicht ausreicht, dann werden die Gläubiger herangezogen, und zwar nicht die kleinen Gläubiger, die wir als Eigentümer von Einlagen bis 100 000 Euro definieren, sondern die Eigentümer, deren Einlagen darüber hinausgehen. Ihr Guthaben bei einer Bank wird in haftendes Eigenkapital der Bank umgewandelt. Das heißt, jeder ist selbst dafür verantwortlich, wem er sein Geld anvertraut. Wenn er es einer Bank anvertraut hat, die ihm hohe Zinsen geboten hat, aber hinterher nicht liquide ist, dann muss er mit dafür haften. Eigentümer und Gläubiger müssen in Zukunft haften, wenn eine Bank in Schieflage gerät. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben aber auch deutlich gemacht, dass wir uns für den Fall, dass das alles nicht ausreichen sollte, das Modell einer gemeinsamen Haftung in Form eines gemeinsamen Fonds vorstellen können. Wer die Anhörungen in der letzten Zeit, die Fachgespräche, die Gespräche mit der Europäischen Kommission, mit der Bundesbank verfolgt hat, wird doch als Ergebnis mitnehmen, dass der Chef des Euro-Rettungsschirmes ESM, Herr Regling, gesagt hat: Wenn wir diese Gesetzeslage im Jahre 2008 gehabt hätten, dann wären nicht Hunderte von Banken europaweit in die Schieflage geraten, sondern es wären nur zwei oder drei Banken gewesen, und die Schieflage hätte im einstelligen Milliardenbereich gelegen. – Das heißt, wenn wir das schon damals gehabt hätten, wäre es eine völlig andere Situation gewesen. Deswegen sollten wir stolz darauf sein, dass wir dieses Gesetz heute verabschieden, das die Steuerzahler wirklich von der Haftung befreit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nutzt doch gar nichts!) Wir haben zur Absicherung noch einen europäischen Fonds geschaffen. Wir haben natürlich darüber diskutiert: Wie kann ein solcher Fonds finanziert werden? Er wird 1 Prozent der gedeckten Einlagen umfassen müssen. Er wird nicht vom Staat, sondern von den Banken finanziert. Die Banken müssen dafür in den nächsten acht Jahren 55 Milliarden Euro bereitstellen. Unsere zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist: Wer finanziert einen solchen Fonds? Wer bezahlt das Ganze? – Natürlich müssen die Großen, von denen die Risiken ausgehen, den Hauptteil tragen. Aber wir diskutieren immer auch über die Frage: Wie gehen wir mit kleinen Banken, mit Sparkassen und mit Volksbanken um? Wir haben damals in Deutschland einen Freibetrag für kleinere Banken durchsetzen können, weil wir es selbst entscheiden konnten. Auf europäischer Ebene mit nahezu 6 000 Banken ist es natürlich schwieriger, Entscheidungen dieser Art zu treffen, weil sich jedes Land in einer unterschiedlichen Situation befindet. Auch hier muss ich dem Finanzminister Schäuble dafür danken, dass sich die deutsche Bundesregierung immer wieder dafür eingesetzt hat, dass gerade die Kleinen nicht so belastet werden wie die Großen. Herr Schäuble, ich danke Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich, dass Sie zu dieser Forderung des Deutschen Bundestages immer wieder gestanden haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Opposition wird natürlich darauf hinweisen, dass das alles nicht ausreicht, dass die Kleinen trotzdem wieder zu stark belastet werden. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt ja auch!) Wir haben auch bei kleinen Banken gesehen – übrigens auch bei Sparkassen im Verbund mit der Westdeutschen Landesbank –, wo überall Risiken stecken. Insofern glaube ich, wir haben hier eine sehr gute Lösung gefunden. Meine Damen und Herren, auch in Zukunft wird immer wieder die Diskussion geführt werden, ob der Staat nicht doch irgendwo haften muss. Wenn diese drei Maßnahmen – Eigentümer, Gläubiger und Fonds – nicht ausreichen sollten, sind Länder selbst verpflichtet, die Finanzierung der Banken vorzunehmen. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So ist das!) Wenn sie das dann immer noch nicht können, können sie Hilfe aus dem Rettungsschirm beantragen. Sie bekommen eine Unterstützung, aber natürlich, wie wir es kennen, in Verbindung mit einem vollen Programm. Damit geben sie ein Stück ihrer Eigenständigkeit auf. Es wird auch die direkte Bankenrekapitalisierung diskutiert, die im Jahr 2012 natürlich von großer Bedeutung war. Sie müssen bedenken, dass Kommission, Regling und Bundesbank sagen: Das wäre damals nicht passiert. – An fünfter Stelle ist jetzt also auch eine Rekapitalisierung möglich, aber nur, wenn alle auf der europäischen Ebene zustimmen und auch wir als Deutscher Bundestag, die wir das Haushaltsrecht haben. Wer heute behauptet, es gebe eine direkte Bankenrekapitalisierung insofern, als wir es zulassen, dass auf europäisches Geld zurückgegriffen wird, der stellt die Dinge falsch dar und dem werden wir so nicht zustimmen können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, in den letzten sechs Jahren haben wir 30 Gesetze verabschiedet, um Stabilität auf den Finanzmärkten herzustellen. Denken Sie nur an das große Abkommen Basel III: mehr Eigenkapital für die Banken, mehr Liquidität, eine andere Liquidität in den Banken. Wir haben die Testamente gefordert. Wir haben Trennbankensysteme eingeführt. Wir haben außerbörsliche Derivate geregelt. Wir haben im Grunde eine europäische Aufsicht auch im Systemrisikobereich geschaffen. Wir haben also die Jahre genutzt, um auf vielfältige Weise dafür zu sorgen, dass wir wieder einen stabilen -Finanzmarkt in Europa bekommen. Wir verabschieden heute gemeinsam mit der Bundesregierung ein Gesetz, das genau das abschließt, was wir sechs Jahre lang in Teilschritten betrieben haben. Wir erleben heute sicherlich den Höhepunkt. Es ist eines der wichtigsten europäischen Finanzgesetze, mit dem Haftung und Verantwortung wieder zusammengeführt werden, mit dem erreicht wird, dass dann, wenn Banken in eine Schieflage geraten, nicht die Steuerzahler, sondern die Banken selbst herangezogen werden. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort Alexander Ulrich. (Beifall bei der LINKEN) Alexander Ulrich (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am heutigen Tag kann man sagen: versprochen – gebrochen. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo leben Sie denn?) Nach der verheerenden Wirtschafts- und Finanzkrise hatte die Bundeskanzlerin versprochen, dass nie wieder der Steuerzahler für marode Banken haften soll. Aber spätestens am heutigen Tag ist klar, dass auch zukünftig die Steuerzahler dafür haften werden – wir werden das heute noch einmal klarlegen –; wir als Linke lehnen das ab. (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Super! – Johannes Kahrs [SPD]: Nichts Neues!) Hätte es die Bankenunion schon 2007 gegeben, Herr Flosbach, hätte es also das, was uns heute vorliegt, damals schon gegeben, so hätte uns das gegen die Finanzkrise nicht geschützt. James White von der Europäischen Finanzmarkt-Assoziation hat die Bankenunion als ein entscheidendes Projekt bezeichnet, das die Marktinte-gration voranbringt, die Finanzmärkte stärkt und Vertrauen in die europäische Wirtschaft schafft. Kolleginnen und Kollegen, wenn die Interessenvertreter der Großbanken über ein Regulierungsprojekt derart ins Schwärmen kommen, dann muss sich die Politik fragen, was sie falsch gemacht hat. Dazu fällt mir eine Menge ein: Zuerst haben Sie Eigenkapitalregeln festgelegt, die viel zu schwach sind. Lehman hatte kurz vor der Pleite noch 11 Prozent Kernkapital. Sie haben sich in der EU auf 8 Prozent verständigt, und diese 8 Prozent sind nicht nur Mindest-, sondern zugleich auch Höchstgrenze. Das ist keine Finanzregulierung. Das ist Deregulierung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist doch Unfug!) Dann haben Sie die Aufsicht über die Großbanken an die EZB übertragen, eine Institution, die kraft ihrer Statuten frei von demokratischer Kontrolle ist und die aufgrund ihrer geldpolitischen Rolle ganz offenkundig in einen Interessenkonflikt gerät. Und nun beschließen Sie einen Abwicklungsmechanismus, der festlegt, dass die Gläubiger und Eigentümer von Pleitebanken künftig mit 8 Prozent der Bilanzsumme an den Kosten beteiligt werden sollen. Danach ist der Steuerzahler wieder dran. Das gleiche Schonprogramm gegenüber den Banken legen Sie beim Abwicklungsfonds an den Tag. 55 Milliarden Euro sollen sie einzahlen – bis 2024. Das ist viel zu spät und viel zu wenig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bankenrettungen der letzten Jahre haben uns 1 700 Milliarden Euro gekostet. Riskiert wurden sogar über 4 000 Milliarden Euro. Nun sollen 55 Milliarden Euro dafür sorgen, dass die Steuerzahler nie wieder für marode Banken haften müssen? Das ist wirklich ein schlechter Witz. Aber noch schlimmer als das, was Sie im Rahmen dieser Bankenunion gemacht haben, ist, was Sie nicht machen: Sie geben keine Antwort auf die enorme Konzentration im Finanzsektor, die einzelne Institute in die Lage versetzt, Staaten zu erpressen. Sie geben auch keine Antwort auf das Problem des riesigen Einflusses der Finanzlobbys. Allein in Brüssel sind 1 700 Finanzlobbyisten beschäftigt. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Man muss ja nicht mit denen reden!) Es ist kein Wunder, dass die Finanzjongleure ins Schwärmen kommen. Diese Bankenunion ist für sie maßgeschneidert. Wenn Sie es ernst damit meinen, die Steuerzahler zu schützen, dann lehnen Sie die Richtlinien und Verordnungen zur Bankenabwicklung ab. (Beifall bei der LINKEN – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was machen wir stattdessen?) Wir brauchen diese Bankenunion nicht. (Zurufe von der SPD: Ah ja!) Wir brauchen eine strenge Regulierung, eine Entflechtung und Schrumpfung des Finanzsektors. Wir brauchen ein Trennbankensystem und eine Zerlegung der Großbanken in kleinere Einheiten. Es muss sichergestellt werden, dass nie wieder die Steuerzahler für die perverse Zockerei der Finanzmafia haften müssen. (Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wie?) Zudem brauchen wir eine demokratische Kontrolle und ein Ende des enormen Einflusses der Bankenlobbys. Über all das wird heute aber nicht abgestimmt. Diese Bankenunion kratzt nicht einmal an der Oberfläche der eigentlichen Probleme im Finanzsektor. Wir werden ihr daher nicht zustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Johannes Kahrs, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Johannes Kahrs (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Flosbach hat hier ausgeführt, wie der Vorgang vonstattengehen soll. Der Kollege Ulrich hat aber leider nicht zugehört. Hätte er zugehört, hätte er seine Rede gar nicht so halten können, wie er sie gehalten hat, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Manfred Zöllmer [SPD]: Sehr richtig!) oder er hat sie nicht verstanden; man soll aber nicht gleich das Schlimmste annehmen. Im Kern wird von der Linken hier wieder an einer alten Legende gestrickt: Die fiesen Banken werden vom Steuerzahler finanziert; damit werden nur Lobbys bedient. (Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: So ist es ja auch!) Wer braucht überhaupt Banken? – Sie zielen damit auf eine gewisse Zielgruppe ab, darauf, 10 bis 12 Prozent der Bevölkerung in Verwirrung zu stürzen, damit diese Menschen glauben, dass ihre Steuergelder ausgegeben werden, um Lobbys, Verbände und andere zu retten. (Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Gehen Sie doch mal auf die Argumente ein!) Ehrlich gesagt: Das ist doch etwas schlicht, selbst für die Linke. Ich meine, Sie mögen zwar schlichte Strickmuster; aber das muss doch nicht immer so sein. Hier liegen mehrere Gesetzentwürfe vor, mit denen dafür gesorgt werden soll, dass die Verfahren vernünftig ablaufen. Das ist Ihnen eben alles erklärt worden. Aber wenn Sie im Kern sagen, dass hier der Steuerzahler wieder die Banken finanzieren soll, die nichts geregelt kriegen, dann muss ich Ihnen doch einmal sagen, wozu wir die Banken brauchen: Die Bürger haben eine enge Verbindung zu den Banken. Die Banken finanzieren den Mittelstand, und jeder, der eine Lebensversicherung hat, braucht eine Bank. Die Wirtschaft, die Unternehmen, die ihre Geschäfte abwickeln, brauchen die Banken ebenfalls. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist jetzt aber auch schlicht!) – Na, ich versuche, Ihnen das so zu erklären, dass Sie es auch verstehen. Dazu muss ich mich leider auf Ihr Niveau begeben; das ist mein Problem. (Beifall und Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Das heißt, wenn Sie hier schlicht argumentieren, müssen wir auch schlicht darauf antworten. Sonst geht es mir wie dem Kollegen Flosbach, der Ihnen das hier erklärt hat, aber Sie haben es nicht verstanden. Das ist doch jedes Mal das gleiche Strickmuster. So kommen wir doch nicht miteinander klar. (Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN) Ich habe mich deswegen entschieden, meine Rede zur Seite zu legen und zu versuchen, Ihnen das auf Ihrem Niveau zu erklären. Erstens. Die Menschen, die Industrie und der Mittelstand brauchen ein funktionierendes Bankensystem. Zweitens. Wir wollen, dass dieses funktionierende Bankensystem Bestand hat. Drittens. Wir alle sind überzeugte Europäer. Wir wollen, dass das auch in Europa funktioniert. Viertens. Wir wissen, dass in anderen europäischen Staaten – ob in Griechenland, Spanien oder anderswo – ein Aufschwung nur möglich ist und eine Wirtschaft nur funktionieren wird, wenn auch sie ein funktionierendes Bankensystem haben. Fünftens – das kann man alles weiter herunterdeklinieren – brauchen auch diese Staaten Banken, wenn die Wirtschaft dort funktionieren soll; denn wir müssen am Ende doch klarkommen. Zu der dümmlichen Argumentation, mit der Sie hier aufgetreten sind, hier würden wieder Lobbys und Banken versorgt, kann ich nur sagen: (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist doch so!) Die Banken sind ein integraler Bestandteil unseres Wirtschaftssystems. Wenn diese Banken ausfallen, dann geht noch sehr viel mehr den Bach runter. Viel schlichter kann ich das nicht erklären. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie haben keine Lehren aus 2007/2008 gezogen!) – Wenn Sie sagen, wir hätten keine Lehren gezogen, dann frage ich Sie, warum wir hier eine Debatte über zwei von uns vorgelegte Gesetze führen, in denen wir genau diese Lehren durchdeklinieren. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Was soll man denn in diesem Hohen Hause sonst noch machen? Man stößt doch an die Grenzen von Ra-tionalität, wenn nicht zugehört oder verstanden wird. Das ist doch die Grundlage eines parlamentarischen Systems. Wenn Sie sich das Ganze anschauen, dann werden Sie feststellen, dass wir der Meinung sind, dass dieser europäische Bankensektor sicherer gemacht werden muss. Das haben wir auch vor. Deswegen stehen wir hier. Wir als Sozialdemokraten haben einer direkten Bankenrekapitalisierung immer kritisch gegenübergestanden und stehen ihr auch heute noch kritisch gegenüber. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr wolltet es ablehnen, habt ihr gesagt!) – Lesen bildet, denken hilft; Herr Kollege, ich schätze Sie sehr. – Deswegen haben wir – wenn man in den Gesetzentwurf schaut, wird man das erkennen – sehr viele Hürden aufgebaut, die dazu führen sollen, dass eben nicht der Steuerzahler gefordert wird, sondern, wie vom Kollegen Flosbach mehrfach ausgeführt wurde, zunächst die Eigentümer, die Unternehmen und die Aktionäre gefordert werden, bevor wir an der Reihe sind. Wir haben auf europäischer Ebene verhandelt, um den Zugang zu ESM-Hilfen so anspruchsvoll zu gestalten, wie es hier dargestellt worden ist, damit das der absolute Notfall ist, damit es eine Haftungskaskade gibt. Das ist Ihnen doch alles mehrfach erklärt worden. Im Sommer 2012 haben einige gedacht, dass das ein Weg für die maroden europäischen Banken wäre, schnell an ESM-Geld zu kommen. Das wollten wir nicht. Es darf keinen schnellen Zugang zu diesem Geld geben; das muss im Rahmen der Haftungskaskade in sehr vielen Stufen ausgeschlossen werden. Das ist Ihnen hier klar gesagt worden. Gleichzeitig sorgen wir mit den hier vorgelegten Gesetzen dafür, dass der Deutsche Bundestag beteiligt wird, dass der Haushaltsausschuss beteiligt wird, dass das nicht in irgendwelche Untergremien geschoben wird, weil wir keine Lust haben, wieder von irgendwem vor dem Verfassungsgericht verklagt zu werden. Wir wollen, dass der Bundestag beteiligt wird. Wir wollen, dass der Bundestag entscheidet. Wir wollen, dass der Bundestag mitreden kann; denn es geht um das Geld der Steuerzahler. Das ist hier alles, glaube ich, klar erläutert worden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn man das der Linken noch einmal sagen darf: Es bringt überhaupt nichts, hier irgendwelche großen Theorien in die Welt zu setzen und zu versuchen, die Bevölkerung zu verunsichern. Das führt im Ergebnis nicht zu dem, was nicht nur wir, sondern auch Sie wollen: dass es einen vernünftigen Umgang mit den Banken gibt. Wir wollen, dass der Bankensektor vernünftig reguliert wird. Eine Bank muss auch einmal pleitegehen können, aber so, dass die Spareinlagen von Privatpersonen nicht betroffen sind. Das ist jetzt hier alles geregelt worden. Dafür haben wir Sozialdemokraten uns lange eingesetzt, schon als wir in der Opposition waren. Jetzt, wo wir mitregieren, läuft das alles sehr viel besser. Dem Kollegen Flosbach konnte man ja anhören, dass vieles aus sozialdemokratischer Feder stammt. Insofern wirkt diese Große Koalition. Sie funktioniert, und das ist gut. Nur die Linke hat es nicht verstanden. Das ist aber nichts Neues. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Aus dieser Rede zitieren wir in der nächsten Krise!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Sven-Christian Kindler, Bündnis 90/Die Grünen. Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den etwas schlichten Reden, sowohl des Kollegen Ulrich als auch des Kollegen Kahrs, will ich wieder zum Thema der Debatte zurückkommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir heute über die Bankenunion und den ESM reden, dann dürfen wir, finde ich, nicht vergessen, was der Hauptgrund für die immer noch andauernde Finanzkrise in Europa war. Hauptgrund waren und sind die hohen Schulden des Bankensystems. Bis 2008 hatten Länder wie Irland oder Spanien zum Beispiel deutlich bessere Haushaltszahlen als Deutschland. Aber in diesen Ländern gab es einen überbordenden Banken- und Immobiliensektor. In der Krise sind dann aus diesen Bankschulden Staatsschulden geworden. Nach Angaben der Europäischen Kommission haben die europäischen Staaten von 2008 bis 2012 rund 600 Milliarden Euro für den Bankensektor bereitgestellt; rund 80 Prozent davon entfielen auf Griechenland, Irland, Spanien und Portugal. Dieses Geld fehlt uns heute für den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Dieses Geld fehlt uns heute für Investitionen. Wir Grüne sagen klar für die Zukunft: Es muss in Europa endlich Schluss damit sein, dass Bankschulden in Staatsschulden umgewandelt werden, dass die Staatshaushalte und die Steuerzahler für die Bankenrettung aufkommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir dürfen nicht vergessen: Woran lag diese falsche Krisenpolitik in den letzten Jahren in Europa? Das lag auch daran, dass wir keinen Lösungsmechanismus hatten für stark vernetzte Banken in Europa, für die Abwicklung und die Kontrolle. Die Bundesregierung, vor allen Dingen Bundesfinanzminister Schäuble, hat das in den letzten Jahren auf europäischer Ebene immer blockiert und torpediert; sie hat immer nur die nationale Karte gespielt. Dass die Krise im Bankensektor die Staaten in Europa so viel Geld gekostet hat, dass sie sich so verschärft hat, dafür ist auch die deutsche Bundesregierung verantwortlich. Das war nicht pro-europäisch, das war national borniert. Und: Das war und ist am Ende ganz teuer für Europa. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: So ein Unsinn!) Dieser Logik der nationalen Bankenrettung mit Steuergeldern folgt leider auch die Umsetzung der BRRD-Richtlinie in Deutschland. Auf europäischer Ebene soll ein Rechtsrahmen bezüglich der Bankenunion geschaffen werden. Trotzdem will die Bundesregierung mit dem SoFFin nationale Steuermittel weiter ins Schaufenster stellen. Wir Grüne beantragen heute, dass der SoFFin nicht um ein weiteres Jahr verlängert wird. Das wäre das falsche Signal und würde auch dem Grundgedanken der europäischen Lösung widersprechen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir Grüne haben von Anfang an eine europäische Bankenunion gefordert. Wir brauchen eine gemeinsame Kontrolle, ein gemeinsames Abwägen, auch harte Regelungen, damit Eigentümer und Gläubiger in der Krise zahlen und nicht wieder die Steuerzahler für die Bankenrettung eintreten müssen. Wir sollten aber auch nicht vergessen, wer die entscheidenden Fortschritte auf europäischer Ebene durchgesetzt hat. Das war nicht die Bundesregierung. Im Gegenteil: In der entscheidenden Nacht hat sich das Europäische Parlament bei den zentralen Fragen wie einer effektiven Bankenabwicklung ganz klar gegen den Europäischen Rat und Wolfgang Schäuble durchgesetzt. Das war auch dringend notwendig und gut so. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Leider hat sich an einer anderen entscheidenden Stelle die deutsche Bundesregierung durchgesetzt, und zwar bei der Frage des intergouvernementalen Übereinkommens, kurz: IGA. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Hat sie oder hat sie nicht?) – Ja, bei einem ganz zentralen, europapolitisch bedenklichen Punkt, nämlich bei der IGA. – Was heißt IGA? Es geht darum, dass bis 2024, was viel zu lange ist, die national erhobenen Bankenbeiträge für den Abwicklungsfonds in einem zwischenstaatlichen Vertrag geregelt werden sollen. Das heißt, das europäische Recht wird hier ausgehebelt; das Europäische Parlament wird in seinen Rechten beschnitten. Die deutsche Bundesregierung war mit dieser Haltung in Europa isoliert. Kein anderer Mitgliedstaat und nicht das Europäische Parlament oder die Europäische Kommission haben diese Rechtsauffassung geteilt. Denn was innerhalb des europäischen Rechts geregelt werden kann, darf nicht in zwischenstaatliche Verträge zulasten des Europäischen Parlaments outgesourct werden. Dieser Vorfall – das sage ich ganz deutlich – ist ein Präzedenzfall für die europäische Demokratie. Er untergräbt die europäische Demokratie. Gerade in der Krise brauchen wir aber keine weitere Schwächung, sondern eine Stärkung des europäischen Parlaments. Darum geht es. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Die Europäische Kommission hat doch zugestimmt!) Weil wir Grüne die Bankenunion mit der gemeinsamen Abwicklung immer gefordert haben, werden wir heute trotz unserer Kritik am SoFFin für die BRRD-Richtlinie stimmen. Bezogen auf IGA, das intergouvernementale Übereinkommen, werden wir uns enthalten und es deshalb nicht ablehnen, weil wir zum Ausdruck bringen wollen, dass wir die Bankenunion und die Abwicklung unterstützen. Gleichzeitig wollen wir klarstellen, dass sich eine solche Umgehung der europäischen Demokratie nicht wiederholen darf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das neue Instrument der direkten Bankenrekapitalisierung beim ESM lehnen wir Grüne ab; denn hier wird wieder Steuergeld ins Schaufenster gestellt und eine Pa-rallelstruktur zur europäischen Bankenunion aufgebaut. Es ist hochproblematisch, dass der gemeinsame Abwicklungsfonds erst 2024 eingerichtet werden soll. Das heißt, für diese Zeit braucht man einen Letztsicherungsmechanismus, einen sogenannten Common Backstop. Das kann der ESM aber nicht leisten, jedenfalls nicht mit der direkten Bankenrekapitalisierung. Der ESM hat nicht die Kapazität und nicht die Expertise beim Management von maroden Banken. Gleichzeitig sind die Steuerzahler wieder in der Haftung. Deswegen sagen wir: Wir wollen eine Kreditlinie vom ESM als Common Backstop, weil klar ist, dass der Abwicklungsfonds die Banken abwickelt und restrukturiert und die Kredite außerdem zurückgezahlt werden müssen. Das heißt, nicht die Steuerzahler, sondern die Banken sind nachher in der Verantwortung. Das ist die richtige Lösung. Deswegen lehnen wir heute die Einführung der direkten Bankenrekapitalisierung beim ESM klar ab. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist schon angesprochen worden: Natürlich ist die Einführung der Bankenunion ein wichtiger Schritt für die Regulierung des Bankensektors. Das reicht aber nicht. Wir haben immer noch ein Problem mit Großbanken in Europa. Wir haben das Problem, dass es immer noch eine implizite Staatsgarantie für Großbanken gibt. Großbanken können am Finanzmarkt spekulieren und zocken, ohne dass sie reguliert werden. Leider ist es auch so, dass die Bankenabgabe das Problem nicht löst. Mit der Einführung eines Risikofaktors geht man völlig unzureichend auf das Problem Großbanken ein. Die Risiken, das systemische Risiko und die Too-big-to-fail-Problematik, werden nicht angemessen berücksichtigt. Nachher werden wahrscheinlich mittelgroße Banken mit einem risikoarmen Geschäftsmodell die Zeche zahlen. Ich finde aber, dass es noch nicht zu spät ist. Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag vorgelegt. Im Europäischen Parlament kämpft man jetzt darum, das zu stoppen und Änderungen einzubringen. Ich fordere die Bundesregierung und auch die Parlamentarier von CDU/CSU und SPD auf, hier Änderungen herbeizuführen. Großbanken müssen bei der Bankenabgabe den Hauptbeitrag leisten – das wäre nur fair und gerecht –, nicht kleine und mittlere Banken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen das Großbankenproblem angehen; es ist weiterhin nicht gelöst. Es müssen weitere Schritte folgen. Wir brauchen ein echtes, hartes Trennbankensystem. Wir brauchen ein scharfes Wettbewerbsrecht mit einer Bankenfusionskontrolle. Wir brauchen eine höhere Leverage Ratio, damit nachher nicht wieder die Steuerzahler die Verluste von Großbanken ausgleichen müssen. Die Schaffung der Bankenunion ist nur der erste Schritt; es müssen weitere wichtige Schritte und Reformen für eine konsequente Regulierung des Bankensektors folgen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Gesetzespaket zur Schaffung der Bankenunion, das wir heute verabschieden, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg, den Euro, die europäische Währung, nach der infolge der Finanz- und Bankenkrise entstandenen Euro-Krise zu stabilisieren. Wir waren in den letzten Jahren mit der Schaffung des Rettungsschirms und den Programmen für die Länder sehr erfolgreich. Die Finanzmärkte vertrauen der europäischen Währung bei allen konjunkturellen Schwierigkeiten in einem starken Maße. Bei der Schaffung einer Bankenunion ist die Trennung der Risiken im Bankensektor, die in der Entstehungsphase dieser Krise im Hinblick auf die Staatsverschuldung in der Tat eine Rolle gespielt haben – Herr Kollege Kindler, Ihre Äußerungen waren ein bisschen widersprüchlich –, ein zentrales Anliegen. Deswegen ist das, was wir heute schaffen, ein wichtiger Schritt. Ich habe noch nicht ganz verstanden, was Sie daran kritisieren. Es war völlig widersprüchlich, wie Sie hier argumentiert haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Wir ziehen zwei Lehren. Erstens: Mit der Schaffung der Bankenunion, mit der Schaffung einer Bankenaufsicht, die für die grenzüberschreitend agierenden, systemrelevanten Institute zuständig ist, machen wir den Euro stabil. Wir tun das übrigens im europäischen Rechtsrahmen; denn, Herr Kollege Kindler, mit der Demokratie ist es so: Sie macht nur Sinn, wenn sie mit dem Rechtsstaatsprinzip einhergeht. Deswegen müssen wir uns in Europa im Rahmen der Verträge an komplizierte rechtliche Grundlagen halten. Deswegen gibt es keine andere europäische Institution als die Europäische Zen-tralbank, die eine Bankenaufsicht machen kann, solange wir nicht eine Vertragsänderung zustande bringen. Das ist Tatsache; deswegen geht es nicht anders. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Manfred Zöllmer – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So ist das!) Wir müssen im Zusammenhang mit der Bankenaufsicht darauf achten, dass bei der Europäischen Zentralbank die klare Trennung zwischen der Wahrnehmung der geldpolitischen Verantwortung, bei der sie unabhängig ist, auf der einen Seite und der Bankenaufsicht auf der anderen Seite erhalten bleibt, so wie es auf nationaler Ebene bei der bewährten Arbeitsteilung zwischen BaFin und Bundesbank immer der Fall war. Zweitens: Wir können die Haftung in Europa nur insoweit vergemeinschaften, wie wir auch die Entscheidungszuständigkeit vergemeinschaftet haben. Auch da werden wir durch die europäischen Verträge begrenzt. In diesem Rechtsrahmen wäre es falsch, bei der Schaffung der Bankenabgabe einen anderen Weg als den zu gehen, den wir mit dem intergouvernementalen Abkommen gegangen sind. Wir wären übrigens bei der ersten Klage beim ersten Gericht in Europa damit gescheitert. Die Schaffung von Rechtsgrundlagen, die nicht rechtssicher sind, ist keine Lösung für Probleme, die Stabilität und Rechtssicherheit schaffen sollen. Deswegen – Herr Kollege Kindler, möglicherweise haben Sie es nicht verstanden – war es wichtig, dass es uns gelungen ist, sicherzustellen, dass das Werk, das wir heute für die Bankenunion zustande bringen, auf einer sicheren Rechtsgrundlage steht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Volker Kauder [CDU]) – Herr Kollege Kauder, die Wahl lasse ich Ihnen, ob er es nicht verstanden hat. Wenn er wider besseres Wissen die Dinge falsch darstellt, ist es schlimmer. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben ihn ja geschützt!) – Ich habe ihn noch geschützt? Also gut, das ist mir gerade egal. Ich muss nur für den Rest des Hauses und für diejenigen, die uns von außerhalb zuhören, ein Stück weit klarstellen, warum wir das so machen. Die Europäische Bankenaufsicht funktioniert seit dem 4. November. Wir hatten den Stresstest. Die Banken, die in die Aufsicht übernommen worden sind, sind durch die Bilanzprüfung und den Stresstest – das war eine gewaltige Anstrengung – sicherer geworden. Sie haben sehr viel mehr Kapital als während der Bankenkrise. Das ist ein wichtiger Erfolg. 25 Banken haben den Stresstest nicht bestanden. Davon hatten 12 – darunter die einzige deutsche betroffene Bank –, weil sich der Stresstest auf die Bilanzzahl Ende 2013 bezogen hat, auf Anordnung der nationalen Bankenaufsicht – bei uns: die BaFin – bereits das Notwendige veranlasst, sodass lediglich 13 Banken in Europa einen zusätzlichen Bedarf haben. Das Zweite, was wir mit diesem Gesetzespaket erreichen, ist, dass wir sicherstellen, dass in Zukunft nicht mehr der Steuerzahler haftet, dass also das, was man in der internationalen Sprache „Moral Hazard“ nennt, dass die einen die Geschäfte machen und die anderen nachher die Haftung dafür tragen, beendet wird. Deswegen haben wir die klare Haftungskaskade, wie es der Kollege Flosbach dargestellt hat: Zunächst haften die Eigentümer. Wenn die Eigentümer nicht ausreichen, dann haften die Anleger, die höhere Renditen und höhere Zinsen bekommen haben. Höhere Renditen haben etwas mit höherem Risiko zu tun. Wenn sich das Risiko einmal verwirklicht, ist das eben die Gegenseite. Deswegen ist diese 8-prozentige vorrangige Beteiligung von Eigentümern und Gläubigern der entscheidende Schritt sowohl in der europäischen Regelung, die für alle 28 Mitgliedsländer gilt, als auch in der Bankenunion für die Europäische Bankenaufsicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Darüber hinaus haben wir Regelungen. National haben wir schon einen Vorgriff gemacht: Seit 2011 haben wir das Gesetz. Jetzt schaffen wir es als eine Rechtsverpflichtung für alle europäischen Länder, dass die Banken selber Fonds aufbauen müssen, sodass dann, wenn eine Bank in Notlage ist, wenn die Bail-in-Fähigen, also die Beteiligungen von Eigentümern und bestimmten Anlegern, nicht mehr ausreichen, ein Solidarfonds der Banken die Haftung übernimmt. Für die Europäische Bankenunion machen wir das mit einem gemeinsamen Fonds, der im Wesentlichen durch die systemrelevanten großen Banken bezahlt wird. Deswegen haben wir erreicht, dass die Großzahl der Sparkassen und der Kreditgenossenschaften nur mit einer Pauschalsumme ihren Beitrag zu diesem Fonds leistet und dass dies eben nicht entsprechend den Regeln der Proportionalität wie bei den großen systemrelevanten Banken geschieht. Bis zu einer Bilanzsumme in Höhe von 1 Milliarde Euro müssen sie nur eine Pauschalsumme zahlen. Wir haben auch ein Optionsrecht eingeführt. Wir werden davon Gebrauch machen – darüber ist sich die Bundesregierung einig –, dass man die Grenze bis 3 Milliarden Euro anheben kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Manfred Zöllmer [SPD]) Das heißt: Wir haben die Interessen der Kleinbanken geschützt. Jetzt kommt der Punkt: Nach dem Bail-in haftet der Fonds. Nun bleibt die Frage: Was ist, wenn der Fonds das Geld noch gar nicht hat? Mit Ihrer These, nach der wir die intergouvernementale Abgabe und all die schönen Dinge nicht machen sollten, hätten Sie vom ersten Tag an, weil es den Fonds noch gar nicht gibt, die Haftung der Staaten vergemeinschaftet und vom Tage des Inkrafttretens an bei jeder anderen Regelung die Situation gehabt, dass der deutsche Steuerzahler am Ende für die Banken aller anderen europäischen Länder die Risiken getragen hätte. Deswegen haben wir darauf bestanden, dass die Haftung erst im Rahmen des Bankenfonds vergemeinschaftet wird, wenn die Beiträge eingezahlt sind, und nicht schon zuvor. Denn dann hätten wir erreicht, dass Sie hinterher wieder kritisiert hätten – – (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und genau da sind Sie widersprüchlich, Herr Schäuble, weil das den Teufelskreis von Bankenschulden und Staatsschulden immer noch aufrechterhält! Das ist der Widerspruch, den Sie nicht auflösen!) – Herr Kollege Schick, vielleicht machen Sie von den Regeln der Geschäftsordnung Gebrauch. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Zwischenruf!) – Ja gut, dann will ich darauf antworten, wenn Sie mir die Chance dazu geben. Solange in den Fonds nicht einbezahlt ist, hat der Fonds keine schützende Wirkung. Das ist immer so im Leben. Erst müssen die Mittel in den Fonds einbezahlt werden; denn sonst bleibt das Problem: Wer haftet? Wir haben gesagt: Solange die Mittel nicht einbezahlt sind, bleibt die Verantwortung bei den Mitgliedstaaten. Deswegen haben wir auch gesagt: So lange brauchen wir notfalls noch den SoFFin, damit jede Beunruhigung, jede Destabilisierung, jede Sorge in einer möglicherweise krisenhaften Situation von vornherein ausgeschlossen ist. Ich verstehe daher überhaupt nicht, warum Sie jetzt dafür plädieren, den SoFFin zu schließen. Das ist reine Polemik und sachlich überhaupt nicht zu begründen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Herr Kollege Schick, sobald wir die Mittel in den europäischen Fonds – ich bin jetzt wieder im Bereich der Bankenunion – einbezahlt haben, gibt es eine solidarische Haftung aller Banken, die der Bankenunion angehören, für die Risiken aller Banken. Es ist eben nicht mehr eine solidarische Haftung der Steuerzahler in Europa für die Fehler, die in anderen europäischen Ländern gemacht wurden; das ist der Unterschied. Die Solidarität im europäischen Bankensektor ist Teil der Bankenunion, aber eine Vergemeinschaftung der Haftung über das hinaus, was wir im Zuge des europäischen Rettungssystems vereinbart haben, ist das nicht. Zur Frage der direkten Bankenrekapitalisierung. Sie haben uns, insbesondere mich, kritisiert. Das war, ehrlich gesagt, vom Niveau her auch nicht besser, Herr Kahrs – das war ein bisschen vornehmer dahergeschwätzt –, als das, was der Kollege von der Linkspartei zunächst gesagt hatte. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Man kann sich auch gegenseitig ernst nehmen!) Bei allem Respekt: Das war ohne Sinn und Gehalt. Wir haben es doch nicht blockiert, wir haben es vorangetrieben. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie nicht! Das ist die Unwahrheit!) Wir haben darauf geachtet, dass die direkte Bankenrekapitalisierung nicht zum Einfallstor wird, um durch die Hintertür doch die Haftung für die Bankschulden zu vergemeinschaften. Genau das war der Punkt. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben sechs Jahre verschlafen! Die Banken haben auf eine andere Karte gesetzt!) – Sie müssen mir schon die Chance geben, ein paar Sätze ohne Unterbrechung zu sagen. – Deswegen haben wir eine klare Haftungskaskade vereinbart. Sie funktioniert so: Wenn eine Bank notleidend wird, dann stehen zunächst Eigentümer und Gläubiger in der Pflicht. Danach kommt der Fonds, in den die Bankenindustrie, entweder die Mitgliedstaaten oder die Bankenunion, einbezahlt. Wenn das auch nicht reicht, dann haftet am Ende der einzelne Staat. Wenn ein Staat aber nicht in der Lage ist, die Mittel dafür aufzubringen – auch diese Situation gab es in den letzten Jahren –, dann kann dieser Staat beim europäischen Rettungsschirm ein Hilfsprogramm beantragen. Es gelten die üblichen Regelungen, die Vereinbarung von Anpassungsprogrammen mit Überwachung und Ähnlichem mehr. Erst wenn auch das gar nicht mehr funktioniert, käme als allerletzte Möglichkeit theoretisch auch in Frage, dass sich der europäische Rettungsschirm selbst – aber dann immer noch unter der Verantwortung des Mitgliedstaats – mit den entsprechenden Anpassungsprogrammen an der Bank beteiligen würde in dem Sinne, dass er übergangsweise Eigentümer wird. Die Kaskade ist eindeutig so geregelt, dass der Haftungsfall sehr unwahrscheinlich wird; um es vorsichtig zu formulieren. Aber ohne die Möglichkeit, dass dies zumindest theoretisch enthalten ist, Herr Kollege Kindler – und das ist der Widerspruch, den ich Ihnen vorwerfe, weil Sie es besser wissen –, hätte es in Europa unter gar keinen Umständen eine Einigung über eine Bankenunion gegeben. Ich gebe zu: Die Erwartungen der Kollegen in Europa waren sehr viel weitgehender. Deswegen ist es Unsinn, dass Sie uns auf der einen Seite vorwerfen, wir hätten die Verhandlungen auf europäischer Ebene erschwert, und auf der anderen Seite gegen die direkte Bankenrekapitalisierung polemisieren. Entweder das eine oder das andere. Wir haben im Zuge der direkten Bankenrekapitalisierung gesagt: Wir gestalten das so schwierig und unwahrscheinlich wie nur irgend möglich. Darauf haben wir in den Verhandlungen geachtet. Wenn wir das geländegängiger gemacht hätten und mit den Geldern der Steuerzahler so umgegangen wären wie Rot-Grün, dann wäre es auf europäischer Ebene einfacher gewesen; das ist wahr. Aber wir haben es anders gemacht. Ich sage es noch einmal: Wir haben ein sehr ausgewogenes Paket. Wir machen damit die Euro-Zone stabiler. Wir sorgen dafür, dass die Steuerzahler nicht mehr die Haftung für die Banken übernehmen. Wir schonen bzw. schützen die Besonderheit des deutschen Finanzsektors, die ihn stark macht. Es ist nämlich gut, dass wir nicht nur große Banken, sondern auch leistungsfähige Sparkassen und Kreditgenossenschaften haben. Wir tragen den Eigenheiten des deutschen Finanzsektors Rechnung. Wir sorgen damit insgesamt dafür, dass die Voraussetzungen erfüllt sind, damit der Steuerzahler nicht mehr die Haftung für Risiken übernehmen muss, mit denen andere ihre Geschäfte gemacht haben. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzespaket. Wir machen Europa stabiler. Wir stärken Europa. Wir bringen Europa voran und sichern den Steuerzahler. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Ich würde gerne eine Kurzintervention machen!) – Entschuldigung, Herr Kollege Troost. Die Kollege Wagenknecht würde gerne eine Kurzintervention machen. Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Eigentlich wollte ich noch eine Frage stellen. Herr Schäuble war aber so schnell vom Rednerpult weg. Deswegen sage ich das jetzt in Form einer Kurzintervention – ich denke, auch Axel Troost wird darauf noch einmal hinweisen –: Ich finde es merkwürdig, wie die Haftungskaskade dargestellt wird. Es wird nicht erwähnt, dass die Verträge eine Klausel enthalten, mit der die Haftungskaskade ausdrücklich ausgesetzt wird. Dort heißt es wörtlich, dass bei einer schweren Störung der Finanzmarktstabilität eben keinerlei Haftungskaskade gilt, sondern unmittelbar Steuergeld fließen kann. Ich finde wirklich, dass man das einfach so wegredet, ist ein Für-dumm-Verkaufen der Öffentlichkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Schäuble, möchten Sie antworten? – Bitte schön. Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Frau Kollegin Wagenknecht, es bleibt dabei: Die Regelungen sind so – die kann jeder nachlesen –, wie wir sie dargestellt haben. Natürlich gibt es auch Situationen, in denen in Europa gesagt wird: Ja, und was ist, wenn überhaupt nichts mehr geht? Kann dann auch eine andere Situation eintreten? – Aber die Regeln für die Inanspruchnahme von Mitteln des europäischen Rettungsschirms sind eindeutig. Sie stehen auch nicht unter dem Vorbehalt. Das haben Sie nicht richtig dargestellt; tut mir leid. Die Regeln für die Inanspruchnahme von Mitteln aus dem europäischen Stabilisierungssystem stehen nicht unter irgendeiner generalklauselartigen Ausnahmebestimmung. Das ist nicht zutreffend. Das Gegenteil ist die Wahrheit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Dr. Axel Troost das Wort, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es bleibt dabei: Wir haben massive Kritik an dem vorgelegten Gesetzentwurf, an dem vorgeschlagenen Bankenrettungsfonds. Gestern im Finanzausschuss wurde das als Meilenstein dargestellt. Kollege Brinkhaus hat von einem Dach gesprochen, das das Haus zusammenhält. Aber die grundlegenden Probleme sind für meine Begriffe hier nicht angesprochen worden bzw. wurden harmonisiert. Das erste Problem ist: Man hat die EZB mit dieser Aufgabe betraut, wohlwissend, dass dadurch ein Zielkonflikt entsteht, der ungeheuer groß ist. Die beschworene chinesische Mauer zwischen Geldpolitik und -Bankenaufsicht wird es so nicht geben. Bei jeder geld-politischen Entscheidung, zum Beispiel hinsichtlich des Aufkaufs von Papieren, wird man fragen müssen: Könnte das auch aus der Abteilung Bankenaufsicht kommen, weil bestimmte Banken bestimmte Probleme haben? (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Mit der Zuständigkeit der EZB ist klar, dass man sich auf die Euro-Zone begrenzt hat. Damit ist London – jeder weiß, dass London der größte Finanzplatz Europas ist – eben nicht Teil des Regulierungsbereichs. Das heißt, bei jeder Art von Bankenabwicklung – gleich ob es um deutsche Banken oder Banken aus anderen europäischen Ländern geht – wird es eine Schnittstelle mit der britischen Aufsicht geben, und keiner weiß, ob das wirklich funktionieren wird, ob die Mechanismen greifen werden, wie das ausgelegt wird. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Schnittstelle New York/USA. Insofern sollte man hier nicht so tun, als würde man etwas wirklich Stabiles schaffen. (Beifall bei der LINKEN) Drittens. Man ist nicht in Ansätzen – das ist für mich das Zentrale – an die Frage „too big to fail“ herangegangen. Das Bankensystem und die einzelnen Banken werden nicht massiv verkleinert. Ich will das verdeutlichen: Zehn Banken in der EU haben ein Geschäftsvolumen, das größer ist als die jährliche Wirtschaftsleistung, also das Bruttoinlandsprodukt, von Spanien. Alleine die Deutsche Bank hat ein Bilanzvolumen, das so groß ist wie die gesamte Wirtschaftsleistung Italiens. Solche Banken wollen Sie regulieren? Solche Banken wollen Sie – Stichwort: 8 Prozent – wie auch immer abwickeln, wenn es hier zu Schieflagen kommt? Ich glaube, nicht einmal eine relativ kleine Bank wie die Commerzbank ist in diesem Regime wirklich abwickelbar. Deswegen geht es schon darum, die Banken zu verkleinern. Kollege Kahrs, Ihren arroganten Vortrag hätten Sie sich sparen können. Denn wir sind diejenigen, die sagen: Wir müssen die Rolle der Kreditinstitute wieder auf ihre Kernfunktion, nämlich auf eine der Realwirtschaft dienende Funktion, beschränken. (Johannes Kahrs [SPD]: Dann sollten Sie mal was dafür tun und nicht nur Unsinn reden!) Aber diese Situation haben wir ja nicht. Die Bankenlandschaft ist so groß geworden, weil die Banken im Zockergeschäft tätig sind, und nicht, weil sie die Realwirtschaft finanzieren. (Beifall bei der LINKEN) Deswegen muss genau dies angegangen werden. (Johannes Kahrs [SPD]: So wird das garantiert nichts!) Wenn man das systematisch nicht angeht, dann verfehlt man letztlich das eigentliche Ziel. (Johannes Kahrs [SPD]: Getretener Quark wird breit, nicht stark!) Aber das heißt natürlich, sich auch mit den Mächtigen anlegen zu müssen. Das ist in diesem Fall nicht passiert. Kommen wir zu einem Punkt, der für uns zentral ist: zum Bankenrettungsfonds. Minister Schäuble hat eben dargestellt, es gehe dabei um einen Solidarpakt und um die solidarische Haftung für gemeinsame Risiken. Das hört sich gut an. In der Tat sind wir der Ansicht, dass die Branche sowohl zur Begleichung der bisherigen Kosten als auch zur Begleichung zukünftiger Kosten in einen solchen Fonds einzahlen muss. Er müsste viel größer sein. Aber einzahlen müssten diejenigen, die wirklich Risiken erzeugen und mit den Mitteln aus einem solchen Fonds gerettet werden können. Wenn man mit einem solchen Fonds aber letztlich die Bankenlandschaft Deutschlands plattzumachen versucht, indem man deutsche Sparkassen und Genossenschaftsbanken bei der Zahlung der Beiträge massiv mit heranzieht, dann geht das voll am Thema vorbei, (Beifall bei der LINKEN) weil diese erstens regional organisiert sind, diese Risiken also gar nicht erzeugen, und weil sie zweitens ein jeweils eigenes Sicherungssystem haben. Die retten sich selber; die brauchen keinen Bankenrettungsfonds. Also ergibt es auch überhaupt keinen Sinn, dass sie in einen solchen Bankenrettungsfonds einzahlen. (Manfred Zöllmer [SPD]: Warum wollt ihr denn, dass noch mehr eingezahlt wird?) Jetzt wird gesagt: Na ja, da haben wir im Prinzip ein Problem. Es gibt eine Kleinbankenregelung, also eine Regelung für Banken mit einer Bilanzsumme von unter 1 Milliarde Euro. – Das hört sich erst einmal gut an, wenn man nicht Bescheid weiß. Wenn man weiß, dass nur 20 Prozent der Sparkassen darunterfallen, heißt das: 80 Prozent liegen darüber. Diese Banken müssen nicht nur einen Beitrag von 1 000 bis 50 000 Euro pro Jahr zahlen, sondern sie müssen deutlich mehr bezahlen. Eben haben wir vom Minister gehört: Es gibt eine Übergangsregelung – diese will man auch in Anspruch nehmen –, die Banken mit einem Bilanzvolumen von 1 bis 3 Milliarden Euro etwas Erleichterung bringt. – Wir haben das einmal im Einzelnen nachgerechnet. Das sind maximal 10 Prozent Ersparnis, und das gegenüber viel, viel höheren Beiträgen, die gezahlt werden müssen. Damit das nicht so abstrakt bleibt, mache ich das einmal ganz konkret mit Blick auf einige mir nachfolgende Redner deutlich. Wir haben in Bad Tölz – das ist der Wahlkreis des CSU-Debattenredners Alexander Radwan – eine Sparkasse mit einem Bilanzvolumen von 2 Milliarden Euro. Sie wird, so ist uns im Finanzausschuss vorgerechnet worden, zwischen 240 000 und 300 000 Euro jährlich in diesen Fonds einzahlen müssen, ohne jemals gerettet werden zu können. Nehmen wir die Sparkasse Wuppertal – Kollege Manfred Zöllmer spricht als Nächster –, die Sparkasse einer Stadt, die völlig pleite ist, kein Geld mehr für Schulen, Schwimmbäder, Theater und anderes mehr hat. Diese Sparkasse wird keine Chance mehr haben, Geld gemeinnützig auszuschütten, wenn sie denn Gewinne macht. Sie muss jedes Jahr 900 000 Euro an den Fonds abführen, ohne jemals etwas davon zu haben. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das ist doch gelogen!) Wir können aber auch – Kollege Brinkhaus, gut, dass du gerade etwas sagst – (Heiterkeit des Abg. Johannes Kahrs [SPD]) die Volksbank Bielefeld-Gütersloh oder, Kollege Schick, die Volksbank Rhein-Neckar heranziehen. Beide Volksbanken werden entsprechend ihrer Größe jeweils um die 0,5 Millionen Euro jährlich in diesen Fonds einzahlen müssen. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nein! Das stimmt nicht!) Dabei ist klar, dass noch niemals eine Volksbank -gerettet werden musste, weil die eigenen Sicherungs-systeme immer ausgereicht haben. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Aber vielleicht die Spitzenverbände! Jetzt sei mal ehrlich!) – Nein, es bleibt dabei. Das sind alles Beträge, die der Gemeinnützigkeit entzogen werden. Deshalb ist das in dieser Übergangsregelung nicht vernünftig geregelt. (Beifall bei der LINKEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Es ist falsch, was du da sagst!) Deswegen kann ich nur sagen: Gerade bei der Bankenregulierung zeigt sich das gleiche Muster wie bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung der vergangenen 20 Jahre. Auch in diesem Fall findet eine Umverteilung von unten nach oben statt, in diesem Fall von den Sparkassen hin zu den Großbanken. Das lehnen wir ab. Deswegen werden wir dem Gesetzentwurf auf keinen Fall zustimmen. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Manfred Zöllmer, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Manfred Zöllmer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Dienstag dieser Woche war wirklich ein historischer Tag. Die Europäische Zentralbank hat an diesem Tag die Aufsicht über die großen Banken in den meisten -Ländern in Europa übernommen. Damit ist die erste Säule der Bankenunion sozusagen in Betrieb gegangen. Dies ist ein ganz wichtiger Schritt zur Stabilisierung der Finanzmärkte in Europa, aber auch zur Stabilisierung der Euro-Zone; denn die Finanzmarktkrise war letztlich die zentrale Ursache der Staatsschuldenkrise in Europa. Das wird leider häufig vergessen. Mit der Bankenunion wird ein Geburtsfehler der Euro-Zone behoben. Es gab eine ganze Reihe von Geburtsfehlern der Euro-Zone, damals von Bundeskanzler Kohl und Finanzminister Waigel so verhandelt. Diese Geburtsfehler sind die Ursache für viele Probleme, mit denen wir zu kämpfen haben. Ich betone das deshalb, weil der von mir soeben angesprochene ehemalige -Bundeskanzler Kohl nun in einem Buch versucht, Geschichtsklitterung zu betreiben. Er war unbestreitbar ein großer Europäer, aber die Fehler bei der Einführung des Euro muss er, muss die damalige Bundesregierung verantworten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mit der Einführung der Bankenunion gehen wir einen wichtigen Schritt in Richtung einer europäischen -Finanzmarktunion. Dies tun wir in einer Zeit, in der separatistische und nationalistische Strömungen in Europa in vielen Ländern hoffähig geworden sind, in einer Zeit, in der viele sagen, Europa sei in einer veritablen Krise. Die erste Säule ist also die Bankenaufsicht, die es seit Dienstag gibt. Die zweite Säule betrifft die Restrukturierung und Abwicklung. Das ist das, was wir heute -beschließen werden. Das Ziel dieses Gesetzes ist klar: In Zukunft sollen die Steuerzahler nicht mehr für die Zockereien von -Banken bluten müssen. Auch systemrelevante Banken sollen in einem geordneten Verfahren abgewickelt werden können. Im Insolvenzfall sollen Eigentümer und Gläubiger haften. Damit wollen wir auch auf den -Finanzmärkten wieder marktwirtschaftliche Verhältnisse einführen. Risiko und Haftung müssen wieder zusammengehören. Mit diesem Gesetz setzen wir eine europäische Richtlinie um. Dies ist sehr komplex, aber wir haben das sehr gründlich diskutiert. Allein 47 Änderungsanträge haben wir im Finanzausschuss beschlossen. Es gab eine Vorbedingung, die wir an die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs gestellt haben: Wir wollten vor dem Beschluss den Vorschlag der Kommission zur europäischen Bankenabgabe kennen. Diese Banken-abgabe speist einen europäischen Abwicklungsfonds. Kollege Troost hat vorhin Ausführungen zu diesem Thema gemacht. Das war uns deshalb wichtig, weil wir unser bewährtes dreigliedriges Bankensystem mit der Vielzahl kleiner und sehr kleiner Institute, das in dieser Form einzigartig in Europa ist, erhalten wollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jetzt kennen wir diesen Vorschlag. Er ist aus unserer Sicht nicht optimal, aber akzeptabel, weil er die Interessen der kleinen Institute – im Gegensatz zu dem, was du hier gesagt hast – berücksichtigt. Wir haben es hier mit einem Solidarsystem des Finanzsektors zu tun. Deswegen müssen wir sagen: Der Finanzminister hat gut -verhandelt. Es gibt zukünftig einen nationalen Spielraum, um kleinere Institute noch weiter zu schonen. Von dem Wahlrecht zur Entlastung kleinerer und mittlerer Banken will die Bundesregierung Gebrauch machen; das begrüßen wir. Wir erwarten, dass die Bundesregierung dieses Wahlrecht auch nach 2016 zugunsten der kleinen Institute nutzt. Lassen Sie mich einfach einmal feststellen: Lösungen auf europäischer Ebene, bei denen viele Staaten betroffen sind, deren Bankensysteme extrem unterschiedlich sind, müssen notwendigerweise ein Kompromiss sein. So muss auch die Ausgestaltung der Bankenabgabe vor dem Hintergrund von 6 000 europäischen Instituten immer ein Kompromiss sein. Steuersystematisch wäre die Bankenabgabe übrigens eine Betriebsausgabe, und Betriebsausgaben sind, das wissen wir, steuerlich absetzbar. Wir haben es hier aber, das hatte ich gesagt, nicht mit einer normalen Betriebsausgabe zu tun – die Bankenabgabe ist ein Beitrag des Bankensystems zur Finanzierung zukünftiger Krisen. Deshalb wollen wir Sozialdemokraten nicht, dass auf diesem Weg, quasi durch die Hintertür, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler wieder an den Kosten einer möglichen Bankenrettung oder -abwicklung beteiligt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) In vielen europäischen Ländern – ich weiß das – wird das anders gesehen. Wir setzen uns auch ein für ein, wie das auf Englisch heißt, „level playing field“, also für einen gemeinsamen Wettbewerbsrahmen, und bitten die Bundesregierung, sich auf europäischer Ebene für eine einheitliche Lösung einzusetzen, damit es nicht zu -Wettbewerbsverzerrungen kommt. Eine Lösung kann aus unserer Sicht aber nur die Nichtabsetzbarkeit der Bankenabgabe bei den Steuern zur Folge haben. Ein weiteres wichtiges Thema dieses Gesetzesvorhabens war die Umsetzung der Haftungskaskade. Die -Umsetzung der Forderung, dass im Falle einer Insolvenz Eigentümer und Gläubiger ab einer bestimmten Höhe haften müssen, führt dazu, dass, wenn der Worst Case einer Insolvenz eintritt, letztendlich auch bei Sparkassen ein Rechtsformwechsel notwendig wird; sonst wäre dieses Haftungsverfahren bei einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft so nicht umzusetzen. Die Sparkassen -haben aber deutlich gemacht: Diese Situation wird nie eintreten. – Sparkassen haben ein Institutssicherungssystem, das im Krisenfalle in Not geratene Sparkassen auffangen wird; das ist in der Vergangenheit auch schon geschehen. Der Rechtsformwechsel ist von daher nur ein theoretischer Fall, der nach den Aussagen der Sparkassen so niemals eintreten wird. Für die Umsetzung der Richtlinie ist es allerdings notwendig, im Gesetz Regelungen für den Worst Case zu implementieren. Wir lassen den Bundesländern nun ein Wahlrecht, wie sie mit einer Änderung der Sparkassengesetze umgehen wollen. Sie haben dann die Möglichkeit, alternative Wege zu gehen. Ein weiterer Diskussionspunkt in diesem Zusammenhang war die Umsetzung des Trennbankengesetzes, das die schwarz-gelbe Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode verabschiedet hat. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Pseudo-Trennbankengesetz! Seien Sie doch mal ehrlich!) – Sie kommen doch gleich dran; dann können Sie ordentlich draufhauen. – Gleichzeitig gibt es auf europäischer Ebene Vorschläge zu Trennbanken. Wir haben uns im Koalitionsvertrag auf den Report von Herrn Liikanen bezogen, der auf europäischer Ebene eine Kommission geleitet und entsprechende Vorschläge gemacht hat. Deutsche Banken haben gefordert, dass man die deutschen Regelungen, deren Umsetzung nun beginnen muss, aufweichen solle. Wir Sozialdemokraten haben dieses abgelehnt, weil „too big to fail“ – die Problematik, dass von den Spareinlagen der Kunden Zockereien finanziert werden – für uns auf Dauer nicht haltbar ist. Wir brauchen eine vernünftige gesetzliche Regelung im Trennbankengesetz. Wir wollen deswegen das deutsche Recht nicht aufweichen, sondern wir wollen uns im nächsten Jahr mit dieser Frage und der Umsetzung intensiv beschäftigen. Die Aufsicht über die europäischen Großbanken wird nun von der EZB ausgeübt. Wir wollen aber, dass dies nur übergangsweise der Fall ist. Insofern hat der Kollege Troost in diesem Punkt völlig recht. Die Sache mit der chinesischen Mauer ist eher eine Fiktion. Auf Dauer muss der mögliche Konflikt zwischen Aufsicht und Geldpolitik durch eine Trennung beider Funktionen aufgelöst werden. Die EZB arbeitet eng mit den nationalen Aufsehern zusammen, also Bundesbank und BaFin. In der letzten Legislaturperiode wollte die schwarz-gelbe Bundesregierung die Bankenaufsicht allein auf die Bundesbank übertragen. Dies hat die Bundesbank abgelehnt. Wir stellen fest, dass auch in Zukunft die bewährte Aufgabenteilung zwischen BaFin und Bundesbank bei der deutschen Bankenaufsicht erhalten bleibt. Wir erwarten, dass die entsprechenden Informationskanäle so gestaltet werden, dass beide Institute von der Aufsicht der EZB profitieren und dass es klare Verantwortlichkeiten gibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetzespaket sind noch nicht alle Probleme einer neuen Finanzmarktarchitektur in Europa gelöst. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Zöllmer, denken Sie an Ihre Redezeit? Manfred Zöllmer (SPD): Ja, natürlich. – Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, es gibt diesen grünen Knopf eben nicht. Wir haben noch eine ganze Reihe von Problemen zu lösen. Aber es ist falsch, den Eindruck zu erwecken, es sei noch nichts geschehen, wie es einige Ideologen von links und rechts in Politik und Medien immer wieder versuchen. Wir machen heute einen großen Schritt in die richtige Richtung zur Stabilisierung der Finanzmärkte. Das ist ein wichtiger Integrationsschritt, und das ist gut so. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will noch einmal kurz auf die Debatte eingehen, die sich zwischen Herrn Schäuble und uns ergeben hat. Herr Schäuble, ich weiß, dass Sie das verstehen, und Sie -wissen, dass ich das verstehe: Auf diese Debattenebene müssen wir nicht gehen, sondern wir können klar-machen, wo die Unterschiede liegen und worin wir uns einig sind. Bei folgendem Thema sind wir uns doch völlig einig: Wir wollen das, was man als den Teufelskreis zwischen Banken und Staaten bezeichnet, durchbrechen. Das steht in Ihren Texten, das steht in unseren Texten; darin sind wir uns einig. Das heißt, wenn eine Bank in eine Schieflage gerät, dass sie also zu hohe Bankschulden hat, dann soll nicht nachher der Steuerzahler die Last tragen. So weit herrscht Einigkeit. Jetzt gibt es aber in zwei Punkten Unterschiede, die dazu führen, dass wir heute nicht dem gesamten Paket zustimmen, sondern zu einzelnen Punkten Nein sagen. Der erste Punkt ist der hypothetische Fall, dass eine portugiesische, spanische oder italienische Bank in eine Schieflage gerät. Was würde dann passieren? Jetzt sagt Herr Schäuble, er habe so verhandelt, dass die ESM--Mittel, also die vom europäischen Steuerzahler bereit-gestellten Mittel, nur im äußersten Extremfall genutzt werden. Deswegen lässt er den jeweiligen Mitgliedstaat sehr lange in der Verantwortung für die Bank. Das haben Sie verhandelt, und das haben Sie gerade so dargestellt. Das führt dazu, dass der jeweilige Nationalstaat für eine sehr lange Zeit noch in der Verantwortung ist, wenn eine Bank auf seinem Territorium kippen sollte. Da sagen wir: Genau das ist die Weiterführung des Teufelskreises zwischen Bankschulden und Staatsschulden, den wir durchbrechen wollen. An dieser Stelle ist das, was Sie sagen, widersprüchlich. Wir haben an dieser Stelle einen anderen, besseren Vorschlag, mit dem diese Trennung wirklich erreicht würde. Wenn man es nämlich in dem Fall, dass in der Übergangszeit, solange der Fonds durch die Bankenabgabe noch nicht genügend aufgefüllt ist, noch Geld benötigt wird, so wie in den USA macht, dann ist das die bessere Lösung. Was wird in den USA gemacht? Wenn der Bankenfonds, den die Banken befüllen, noch nicht genügend Geld enthält, dann kann er einen Kredit aufnehmen, den nachher die Banken wieder zurückzahlen müssen. Die Verpflichtung bleibt bei den Banken. So hat das während der Krise die Federal Deposit Insurance Corporation in den USA gemacht. Das wäre auch für Europa die richtige Lösung. Dann bleibt es nämlich dabei, dass Bankenprobleme bei den Banken bleiben und nicht die Steuerzahler einspringen. Das ist unser Vorschlag, und er ist besser als Ihrer. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Schick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wolfgang Schäuble? Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich würde dem Abgeordneten Schäuble gerne die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Vielen Dank. – Herr Kollege Schick, würden Sie mir bitte bestätigen, dass der europäische Restrukturierungsfonds die Möglichkeit der Kreditaufnahme hat? Sie haben gerade gesagt, der amerikanische Bankenfonds könne einen Kredit aufnehmen. Das kann auch der europäische Restrukturierungsfonds. Er kann aber den Kredit nicht unter Vergemeinschaftung der Haftung der Mitgliedstaaten aufnehmen. Dies war der Streitpunkt in den Verhandlungen; denn wir haben abgelehnt, dass man über die Kreditaufnahme des Restrukturierungsfonds doch eine Vergemeinschaftung der Mitgliedstaatenhaftung in der Aufbauphase vornimmt. Darum ging es. Insofern haben Sie es gerade falsch dargestellt. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke für die Zwischenfrage. Das ist genau der Punkt: Warum muss dann noch der Steuerzahler bei dem ESM-Instrument der direkten Bankenrekapitalisierung nach wie vor in der Haftung sein? Ich glaube, dass in einem wirklichen Krisenfall tatsächlich eine Kreditaufnahmemöglichkeit wie in den USA – dort ist sie nämlich gegenüber dem Finanzministerium möglich, aber es bleibt ein Kredit, der von den Banken gezahlt werden muss; so ist es auch mit einem Volumen von mehreren Milliarden US-Dollar in den USA passiert – auch für Europa die bessere Lösung wäre. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wer haftet denn dann?) Sie stellen nach wie vor an dieser Stelle Steuerzahlergeld ins Schaufenster. Wir befürchten, dass der Steuerzahler erneut in die Haftung gerät, und das wollen wir nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der zweite Punkt, in dem es ebenfalls um Steuerzahlergeld geht, bezieht sich auf die Rolle des Soffin in Ihrem Gesetzentwurf. Warum soll, wenn eine deutsche Bank in Schwierigkeiten gerät, jetzt noch einmal über den Soffin, den deutschen Finanzmarktstabilisierungsfonds, Steuerzahlergeld angeboten werden? Entweder vertraut man auf die Gesetze, die Sie mit vorangetrieben haben, zum Beispiel das Restrukturierungsgesetz, und sieht das Ganze in der Verantwortung der Gläubiger – dann braucht man das nicht –, oder man hat Angst, dass es nicht funktioniert; dann soll man es aber auch sagen. Wir meinen, dass es notwendig ist, diesen Teufelskreis zwischen Bankenproblemen und Steuerzahler wirklich zu durchbrechen. Deswegen sagen wir zu der Verlängerung des Finanzmarktstabilisierungsfonds in Deutschland Nein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will aber auch noch auf das eingehen, was in Zukunft notwendig ist. Denn bei dem, was wir jetzt auf den Weg bringen und bei dem wir in Bezug auf den europäischen Abwicklungsmechanismus einer Meinung sind, nämlich dass er jetzt vorangetrieben werden sollte, bleibt zu sagen: Bei wirklich großen Banken funktioniert das nicht. Banken wie Barclays und die Deutsche Bank sind zu groß und komplex. Das zeigt auch die Erfahrung in den USA, dass die wirklich großen Banken im Ernstfall nicht durch einen solchen Abwicklungsmechanismus abgewickelt werden können. Deswegen ist es notwendig, dass diese großen Banken kleiner und in der Struktur einfacher werden. An der Stelle war ich sehr überrascht – Herr Kollege Zöllmer hat es schon angesprochen –, dass die Union jetzt ausgerechnet bei dem Thema Trennbankensystem noch einmal hinter die wachsweiche Formulierung Ihres Gesetzes zurückgehen wollte. Ich habe den Eindruck, dass Sie nach wie vor, wenn die Deutsche Bank signalisiert, dass sie etwas nicht will, auf Zuruf schnell das Gesetz ändern. So geht das nicht. Man braucht dabei schon eine gewisse Autorität. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der zweite Punkt beim Blick auf die Zukunft ist: Mit dem Bankenstresstest ist sichergestellt worden, dass die meisten Banken in Europa grob überleben können. Das ist aber nicht genug. Wenn die Wirtschaft in Europa stabilisiert werden und sich in der nächsten Zeit gut entwickeln soll, dann brauchen wir nicht nur Banken, die irgendwie überleben, sondern es muss endlich eine wirkliche Stabilität geschaffen werden. Im internationalen Vergleich ist es nach wie vor so, dass europäische Banken zu wenig eigenes Kapital haben, zu wenig stabil sind und die Risiken im Ernstfall immer noch zu leicht auf andere verlagert werden können. Deswegen bleibt es auch nach dem Bankenstresstest Aufgabe, das Eigenkapital der Banken zu stärken. Wir brauchen eine Leverage Ratio, eine Schuldenbremse, für Banken, die deutlich höher ist als das, was bisher als grobe Beobachtungsgröße von 3 Prozent festgelegt ist. Wirkliche Stabilität im Finanzsektor ist durch das heutige Gesetz noch nicht erreicht. Wir kommen einen Schritt weiter. Aber es bleiben große Aufgaben. Große Banken müssen kleiner werden, und sie brauchen deutlich mehr Kapital als bisher. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort Norbert Barthle. (Beifall bei der CDU/CSU) Norbert Barthle (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wer der Rede unseres Bundesfinanzministers genau zugehört hat, ist eigentlich umfänglich informiert über die Inhalte des vorliegenden Pakets. Aber ich vermute, dass manche da draußen auch dem Kollegen Schick zugehört haben. Deshalb ist es mir wichtig, Herr Kollege Schick, zur Erklärung Ihrer Position festzustellen: Sie waren schon immer für die Vergemeinschaftung der Verschuldung und gemeinsame Haftung bei der Verschuldung. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch völliger Quatsch!) Sie gehörten zu denjenigen, die einen gemeinsamen Schuldentilgungsfonds gefordert haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind dafür, dass die EZB es macht!) Genau das ist der Unterschied zwischen Ihrer Auffassung und unserer, die der Minister dargelegt hat. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht der Unterschied!) Das müssen die Menschen wissen. Dann erklärt sich die Unterschiedlichkeit Ihrer Position. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch nicht!) Was das gesamte Paket angeht, haben meine Vorredner die notwendigen Details bereits dargelegt. Ich will mich daher beschränken auf die direkte Bankenrekapitalisierung durch den ESM. Ich betrachte dieses neue Instrument als sinnvoll. Es rundet das Gesamtpaket ab. Ganz so neu ist es nicht; denn eigentlich haben die Staats- und Regierungschefs bereits im Jahr 2012 vereinbart, dies zu machen, allerdings unter der Voraussetzung, dass es einen einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eine einheitliche Bankenaufsicht gibt. Das wurde als Voraussetzung immer genannt. Diese haben wir nun erfüllt. Deshalb ist es sinnvoll, diesen letzten Baustein vollends zu beschließen. Ich werbe daher um Zustimmung zum gesamten Paket. Erinnern wir uns daran: Die grundsätzliche Funktion des ESM ist eigentlich, Staaten in massiven Finanzierungsschwierigkeiten mit Hilfskrediten im Rahmen eines Anpassungsprogramms beizustehen, um damit die Finanzstabilität der gesamten Euro-Zone zu wahren. Nun hat sich im Zuge der 2010 begonnenen Staatsschuldenkrise gezeigt, dass es durchaus zu negativen Wechselwirkungen zwischen der Schieflage der öffentlichen Haushalte und den Störungen in den jeweiligen Finanzsektoren kommen kann. Im Extremfall ist es möglich, dass ein Staat die benötigten Finanzhilfen nicht mehr in voller Höhe bereitstellen kann, ohne seine eigene Schuldentragfähigkeit zu überdehnen und den Zugang zum Kapitalmarkt zu verlieren. Wenn eine betroffene Bank systemrelevant ist, also das Finanzsystem in der Euro-Zone insgesamt gefährdet, kann unter Umständen eine direkte Rekapitalisierung dieser Bank durch den ESM tatsächlich anstehen, allerdings – darauf hat der Finanzminister deutlich hingewiesen – anders, als es sich 2012 viele im europäischen Raum vorgestellt haben. Damals dachten manche, man könne mit diesem Instrument die nationalen Bankprobleme aus der Vergangenheit beim ESM abladen. Dem ist nicht so. Das läuft nicht; denn dem haben wir einen klaren Riegel vorgeschoben. Die direkte Rekapitalisierung durch den ESM steht immer am Ende einer langen Haftungsabfolge, wie sie der Finanzminister dargelegt hat. Die Risiken bleiben bei denjenigen, die zuvor Gewinne eingestrichen haben. Das ist richtig so. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dass wir diesem Prinzip europaweit Gültigkeit verschaffen, ist eine der zentralen Errungenschaften der Bankenunion. Darauf können wir zu Recht stolz sein. Wenn wir zurückblicken, was wir alles zur Bekämpfung der aktuellen Krise und im weiteren Verlauf zur Vorbeugung getan haben, dann müssen wir feststellen, dass das, was wir bisher geleistet haben, durchaus erfolgreich war. Von den fünf Ländern, die unter den Rettungsschirm gegangen sind, nehmen noch zwei Länder, Griechenland und Zypern, Hilfsprogramme in Anspruch. Griechenland wird bereits Ende 2014 aus dem Programm aussteigen. Ich frage die Kritiker: Was haben wir also falsch gemacht? Es funktioniert doch, auch wenn ein bekannter deutscher Verfassungsrechtler, der schon einmal in Karlsruhe gescheitert ist, erneut meint, dass wir dieses Paket ablehnen sollten. Er führt dafür Begründungen auf, die aus meiner Sicht eher juristisch-sophistisch als tragfähig sind. Für mich ist klar: Diese direkte Bankenrekapitalisierung kommt nur als allerletztes Instrument infrage und steht am Ende einer langen Haftungskette, und – das ist mir wichtig – sie erhöht nicht das gesamte Risiko, das wir mit dem ESM übernommen haben. Das ist und bleibt Teil des gesamten ESM-Volumens, auch wenn klar ist, dass am Ende, wenn dieses Instrument angewendet werden sollte, tatsächlich der ESM und die Kapitalgeber des ESM, also die einzelnen Mitgliedstaaten, dafür haften. Das ist keine Frage, und das ist nie bestritten worden. Aber es gibt auch für die Anwendung dieses Instruments klare Leitlinien. Der Haushaltsausschuss hat ihnen gestern zugestimmt. Diese Leitlinien legen für die Anwendung sehr hohe Hürden fest. Ich will ganz kurz daran erinnern: Es muss der Antrag eines Mitgliedstaats erfolgen. Eine Bank kann sich nicht direkt an den ESM wenden, sondern nur ein Mitgliedstaat. Es entsteht damit eine Rechtsbeziehung zwischen dem Mitgliedstaat und dem ESM. Eine direkte Rekapitalisierung ist nur dann möglich, wenn die indirekte Rekapitalisierung nicht mehr möglich war. Sie ist immer mit Auflagen verbunden, entweder institutsspezifischen, sektorspezifischen oder gesamtwirtschaftlichen Auflagen. Das ist das, was man als MoU, Memorandum of Understanding, kennt. Schließlich steht dieses Mittel im Rahmen der Haftungskaskade erst ganz am Ende, als allerletztes Mittel zur Verfügung. Überdies ist es so, dass der beantragende Mitgliedstaat auch bei der direkten Rekapitalisierung dafür sorgen muss, dass eine minimale Kapitalquote der Bank von 4,5 Prozent erreicht wird. Das bedeutet in der Folge, dass die direkte Rekapitalisierung nicht bei Banken zum Tragen kommt, die nicht überlebensfähig sind, sondern nur Banken gerettet werden, die aufgrund dieser Mindestkapitalquote eine Überlebensperspektive haben. Das wiederum sichert die Rückzahlung der vergebenen Kredite. Mit dieser Abfolge ist sichergestellt, dass ein Missbrauch dieses Instruments ausgeschlossen ist. Man kann sogar annehmen – darauf hat Herr Regling in der Anhörung, die wir durchgeführt haben, hingewiesen –, dass dieses Instrument vermutlich nie zur Anwendung kommen wird, weil die Hürden für die Anwendung sehr hoch sind. Ein wichtiger Punkt, den ich noch erwähnen möchte, ist die Parlamentsbeteiligung. Wir haben bei all diesen Maßnahmen immer großen Wert darauf gelegt, dass das Parlament, der gesamte Deutsche Bundestag oder zumindest der Haushaltsausschuss, in die Entscheidungen eingebunden wird. Auch bei diesem Instrument ist das so. (Beifall des Abg. Johannes Kahrs [SPD]) – Danke, lieber Kollege Johannes Kahrs. – Es ist sogar so, dass nicht nur die Einführung dieses Instruments, sondern auch jede einzelne Anwendung zunächst vom Deutschen Bundestag beschlossen werden muss. Anderenfalls müssten der Finanzminister oder die Bundeskanzlerin Nein sagen. Sie können sich auch nicht der Stimme enthalten. Wir müssen einen positiven Beschluss herbeiführen, und damit ist der gesamte Bundestag involviert. Wir haben nach intensiven Beratungen die ursprünglich vorgesehene Regelung, dass gegebenenfalls, wenn es sich um vertrauliche Informationen handelt, nur das sogenannte Neunergremium informiert werden sollte, aus dem Gesetzentwurf wieder herausgenommen. Auf die rechtlichen Bedenken hat unser Bundestagspräsident Norbert Lammert schon sehr frühzeitig hingewiesen. Deshalb haben wir diese Regelung herausgenommen. Damit sind wir verfassungsrechtlich auf dem sicheren Weg. Wir haben dies also nicht auf die leichte Schulter genommen. Wir wissen, dass damit eine große Verantwortung für das gesamte Hohe Haus einhergeht; denn im Zweifelsfall müsste der gesamte Deutsche Bundestag die Sachlage beurteilen. Das geht dann, wenn man die notwendige Vertraulichkeit wirklich herstellt; aber die müsste dann auch gewährleistet sein. Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei, drei Anmerkungen zu der gesamten Situation, in der wir uns befinden, machen. Wir beschließen dieses Paket zur Bankenunion in einer Zeit, in der die Staatsschuldenkrise noch nicht so richtig überwunden ist. Wenn man sich die Staatsschuldenquoten der einzelnen Euro-Länder genau anschaut, stellt man fest, dass sie seit Ausbruch der Krise nicht gesunken, sondern im Gegenteil gestiegen sind. Also darf man die Frage der Staatsverschuldung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Anders ausgedrückt: Wir haben einen Stabilitätspakt beschlossen. Wir haben einen Fiskalvertrag geschlossen. Wir haben die Verschärfungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts beschlossen. Derzeit wird auf europäischer Ebene vorwiegend über Wachstumsimpulse und weniger über die Frage der Stabilität diskutiert. Das ist etwas, was uns mit Sorge erfüllt; denn wir sind der Auffassung, dass das eine nicht ohne das andere zu denken ist und dass man die Balance zwischen Wachstumsimpulsen und Stabilitätsbemühungen wahren muss. Wer den Wachstumspakt genau studiert und wer den Fiskalvertrag genau liest, der stellt sehr schnell fest, dass es dort vorwiegend um Stabilität, um Defizitreduzierung und nicht um Konjunkturprogramme und Ähnliches geht. Defizitabbau ist der Kernpunkt all dieser vertraglichen Vereinbarungen. Das sollten wir im Auge behalten, insbesondere dann, wenn in den kommenden Wochen und Monaten die Europäische Kommission die vorgelegten Haushalte anderer Mitgliedstaaten beurteilen muss. Wir sind sehr gespannt, wie dies erfolgt, und hoffen, dass damit der Wachstums- und Stabilitätspakt nicht beschädigt, sondern gestärkt wird. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Lothar Binding, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute Vorlagen zur Schaffung der Europäischen Bankenunion im Wesentlichen, um künftig Krisen abzuwenden oder für den Fall der Krise gewappnet zu sein. Bei den Vorträgen von Manfred Zöllmer, von Vertretern der CDU/CSU-Fraktion und von Bundesminister Schäuble gab es immer eine gewisse Nervosität auf der ganz linken Seite dieses Hauses. Man forderte, irgendwie mehr zu machen; schließlich ist geregelt, dass auf „schwere wirtschaftliche Störungen“ reagiert werden muss, um zu verhindern, dass allzu viel schiefgeht. An dieser Stelle geht mir ein Bild durch den Kopf, das vielleicht nicht in allen Punkten zutrifft: Sahra Wagenknecht und ich wandern in einem Gebirge, (Heiterkeit – Olav Gutting [CDU/CSU]: Im Odenwald! – Michaela Noll [CDU/CSU]: Das würde ich nie machen!) und ich habe mein Geld vergessen. (Zurufe von der LINKEN) – Das diskutieren wir ein andermal. – Sie bezahlt mein Frühstück. Wir wandern weiter und stürzen ab. Wir sind im freien Fall – stellen Sie sich das vor: der Binding und die Wagenknecht im freien Fall! –, und dann sagt Sahra Wagenknecht zu mir: Lass uns einmal über die Verzinsung der 10 Euro reden, die ich für dein Frühstück ausgegeben habe. Ich antworte: Nein, es ist viel besser, darüber zu reden, ob man nicht rechtzeitig an ein Netz hätte denken sollen oder an einen Zaun, der verhindert, dass wir abstürzen. – Wenn man jedenfalls im freien Fall ist, dann muss man mehr machen, als über die Zinsen für die 10 Euro, die sie mir für das Frühstück ausgelegt hat, zu diskutieren. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das ist die Basis, auf der wir heute diskutieren. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Die hätte Ihnen das Frühstück spendiert!) – Wir waren preiswert unterwegs, und die Sahra ist sicher sparsam. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie hätte Ihnen das aber spendiert!) – Da bin ich mir nicht ganz so sicher. Eine weitere Frage ist, ob es eigentlich gut ist, zu sagen: Wir wollen die Risiken vom Steuerzahler abwenden. Das sagen wir ja alle, und eigentlich ist das auch gut. Die Frage ist nur – einmal angenommen, wir hätten es wirklich geschafft, dogmatisch vom Steuerzahler die Lasten abzuwenden –: Wie ist es eigentlich, wenn plötzlich der Familienvater die Last trägt oder die Familienmutter oder der Sparer oder jemand, der für seine Altersvorsorge Geld angelegt hat, oder die Alleinerziehende, die zur Finanzierung der Ausbildung ihrer Kinder ein Sparbuch angelegt hat? Wenn wir nur über den Steuerzahler reden, dann ist es sicher gefährlich, nicht auch alle anderen in den Blick zu nehmen. Bei schwerer wirtschaftlicher Störung genügt es eben nicht, allein den Steuerzahler zu schützen; dann müssen wir die Gesamtgesellschaften vor solchen Risiken schützen. Deshalb ist es wichtig, dass die entsprechende Klausel vorhanden ist und dass die Europäische Bankenunion so beschlossen wird, wie wir es heute tun wollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Ausgangslage war recht gefährlich: Wir mussten Sorge haben, dass eine private Bank in irgendeinem europäischen Land relativ leichtfertig in einen öffentlich gespeisten Topf greifen kann. Das wäre die Finanzierung der Mittel zur Deckung der Kosten privater Risiken über öffentliche Steuern, über Steuern der Bürger. Dieser Idee wollten wir uns natürlich nicht anschließen, und deshalb war es klug, sich verstärkt Gedanken zu machen und zunächst die Lage der Banken ein bisschen genauer zu untersuchen. Da gibt es zwei Sachen. Bei der AQR, der Asset Quality Review, guckt man ein bisschen, wie die Aktiva in den Banken sind, ob sie risikoreich sind oder nicht. Beim Stresstest guckt man: Wie ist die Entwicklung, wenn eine Bilanz unter Druck gerät? Meines Erachtens ist nach dem Stresstest bei den Banken ein bisschen zu viel Selbstzufriedenheit aufgekommen. Ich habe gelesen, dass die Banken, die durch den Stresstest gefallen sind, gesagt haben: Das war 2013. Wir haben inzwischen Eigenkapital aufgebaut und sind jetzt so ausgestattet, wie es der Stresstest verlangt hat. Eigentlich sind die meisten jetzt auf der sicheren Seite. – Da bin ich mir nicht ganz so sicher; denn das reduziert die Lösung unserer Probleme auf das Eigenkapital. Gerhard Schick hat gesagt: Wir brauchen eine Leverage Ratio, um das Risiko unabhängig noch etwas abzusichern. – Aber auch dazu sage ich: Wer nur an das Eigenkapital denkt, ist für die Zukunft nicht nachhaltig aufgestellt. Was meine ich damit? Ich nehme einmal an, alle Banken hätten genügend Eigenkapital in unserem Sinne. Dann muss man sich überlegen, wie das Verhalten der Banker ist, ob die Selbstbeschränkung bezogen auf ganz bestimmte Geschäftsmodelle funktioniert, ob die Verantwortung, die sie zu übernehmen bereit sind, ausreicht, ob – ich benutze einmal den Begriff, der im Bankwesen heute häufig zu finden ist – es eine neue Kultur gibt. Gibt es keine neue Kultur im Verhalten der Banker, dann kann das Eigenkapital so hoch sein, wie es will, es wird immer wieder zu Problemen kommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Da hat er recht!) Die Bankenunion als großes Projekt mit ihren drei Teilen – Aufsicht, Abwicklungsregime, Notfallabwicklungsfonds – ist eine gute Idee. Trotzdem ist sie keine abschließende Lösung. Ich glaube, damit müssen wir uns noch befassen. Wir sind uns wahrscheinlich in den meisten Punkten einig. Was noch fehlt, ist zum Beispiel die Besteuerung von Finanztransaktionen. Es gibt im Bankwesen Modelle wie den Hochfrequenzhandel und andere Geschäfte, die besteuert gehören, um die Risiken, die dort erzeugt werden, in einer Abgabe abzubilden, um den Steuerzahler zu schützen. – Ich freue mich, dass du nickst, Hans Michelbach, denn ich weiß, dass das nicht hundertprozentig deine Meinung ist. Mit dem Nicken signalisierst du aber, dass wir darüber nachdenken können. So ähnlich ist es natürlich auch mit dem Trennbankensystem für große Banken. Auch da sind wir noch nicht am Ende. Wir müssen die Risiken im Spekulationsgeschäft von den Risiken, die das Realgeschäft betreffen, abtrennen; denn sonst wird die Realwirtschaft immer wieder unter Druck geraten, induziert durch Spekulanten, und das wollen wir natürlich vermeiden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist sicher auch zu fragen, ob die Ausstattung des Fonds mit 55 Milliarden Euro genügt. Wenn wir einmal an die Fonds denken, die die öffentliche Hand, die europäische Staaten aufgebaut haben, dann erkennen wir: Da besteht wenigstens eine Differenz um den Faktor 10 bis 20. Wir wollen die Banken nur so weit belasten, dass sie es überleben – das ist klar –, aber 55 Milliarden Euro sind zu wenig. Diese Größenordnung ist jetzt der Konsens. Ich will den ersten Schritt in die richtige Richtung nicht ablehnen, bloß weil wir noch nicht gleich am Ziel ankommen, aber zum Ziel ist es noch ein ganz schön weiter Weg. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Bail-in!) – Ja; darauf komme ich noch. – Trotzdem ist die Größe des Topfes möglicherweise nicht hinreichend. Es gibt viele Dinge, die noch zu verbessern sind. Wir haben schon öfter über die EZB und darüber gesprochen, dass sie eigentlich die falsche Aufsichtsbehörde ist. Trotzdem sind wir dankbar, dass sie die Aufgabe übernimmt. Warum? Wir haben keine andere Behörde. Wir wissen, dass es falsch ist, weil Geld- und Währungspolitik von der Aufsichtsfunktion natürlich abzutrennen ist, aber wir haben keine andere Behörde. Deshalb sind wir erst einmal dankbar, dass die EZB das macht; aber wir sprechen ja von der Sunset Clause. Wir würden gern in einigen Jahren eine eigene Behörde gründen, die für die Aufsicht zuständig ist, die auch institutionell von der EZB, die für das Geld zuständig ist, abgetrennt ist. Dann wäre das nicht mehr in einer Hand. Geldpolitik und Aufsicht in einer Hand, das ist nämlich schwierig. Das wäre ein großer Schritt. Ich bin nicht sicher, ob das hier im Haus konsensfähig ist, aber zumindest in Europa wird es schwierig sein, das zu verhandeln. Dennoch sollten wir uns diesem Verhandlungsauftrag stellen. Es gibt ein weiteres Problem – darauf hat Axel Troost schon hingewiesen –, bei dem sicher noch etwas zu tun ist: Die Bankenunion, wenn auch mit einer Öffnungsklausel, umfasst nur die Euro-Zone. Die Euro-Zone ist aber nicht Europa; London wurde schon erwähnt. Das ist sicherlich ein großes Problem. Wir müssen uns vergegenwärtigen, was passiert, wenn es Krisen innerhalb oder außerhalb der Bankenunion gibt, inwieweit es Infektionskanäle hinein oder heraus gibt. Natürlich haben wir keine Lust, zu erleben, dass über solche Kanäle die Bankenunion oder überhaupt Europa infiziert wird. Deshalb ist es wichtig, zur Begrenzung künftiger Krisen darüber noch einmal nachzudenken. Mit Sicherheit ist später auch noch einmal über den Grundsatz „too big to fail“ nachzudenken. Eine Bank, die zu groß ist, darf – das sagt schon der Name – nicht scheitern. Aber wir müssen auch darüber nachdenken, was eigentlich passiert, wenn es zu Schwarmeffekten kommt. Denn Kleinheit an sich ist ja noch kein Problem – Größe auch nicht. Auch eine kleine Bank kann große Sauereien treiben. Insofern müssen wir schauen, ob wir Schwarmeffekte, die sich aus dem gleichen Verhalten vieler Gleiche ergeben, nicht besser regulieren sollten. Das ist sicherlich eine sehr offene Frage. Zur Bankenabgabe an sich und der damit verbundenen Gewinnminderung in der eigenen Bilanz hat Manfred Zöllmer schon etwas gesagt. Steuersystematisch ist eine Bankenabgabe ja eine Ausgabe. Und Ausgaben sind natürlich kein Gewinn. Das heißt also, eigentlich müsste man diese Ausgabe – die Bankenabgabe – als Betriebsausgabe abziehen dürfen. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist das Nettoprinzip!) – Ja, das Nettoprinzip. Jetzt machen wir aber an der Stelle eine Ausnahme, und das können wir auch sehr gut erklären. Denn wir richten diesen Topf ja zur Abschirmung von Risiken für die Steuerzahler ein, und wenn wir gleichzeitig einen Betriebsausgabenabzug zulassen, dann beteiligen wir den Steuerzahler an dieser für ihn gedachten Abschirmung mit 30 Prozent. Diesen Widersinn kann man nicht erklären. Vor diesem Hintergrund ist diese Ausnahme-regelung notwendig. Die Schwierigkeit ist – du hast darauf hingewiesen, Manfred –: In Europa sehen das manche anders. Da spürt man auch zum Teil eine etwas andere Kultur. Es gibt durchaus Länder, die zwar meinen, der Steuerzahler sollte vielleicht, eventuell – vermeintlich – ein wenig geschützt werden, aber in Wahrheit soll er es selber bezahlen. Das wollen wir natürlich nicht. Wir wollen den Steuerzahler wirklich schützen. (Beifall bei der SPD) Diese Abschirmwirkung soll letztendlich vergrößert werden. Darüber international zu verhandeln, ist sicherlich noch eine Aufgabe für Minister Schäuble – wenn auch keine beneidenswerte Aufgabe; das wissen wir alle. Warum spreche ich das an? Diese Ausnahmeregelung ist keine schöne Lösung; denn es werden in Europa Wettbewerbsverzerrungen erzeugt, wenn die deutschen Banken diesen Betriebsausgabenabzug nicht machen können, während andere, ausländische Banken die Möglichkeit dazu haben. Auf diesen Punkt wollen wir schauen; unter Wettbewerbsgesichtspunkten ist hier noch sehr viel zu tun. Schließlich wollen wir einen weiteren Punkt genauer in den Blick nehmen: Diese Abgabe richtet sich ja heute im Wesentlichen nach der Größe. Wir glauben, dass sie sich im Wesentlichen nach der Risikobelastung richten muss. Denn die Risikobelastung ist ja der eigentliche Parameter, wenn es um eine Gefährdung in der Zukunft geht. Ich will noch etwas zu den Anträgen der Linken und der Grünen sagen, die in wesentlichen Teilen zustimmend formuliert sind. Der Antrag der Linken ist aus meiner Sicht ganz gut gelungen. Es steht aber auch wieder ein typisches K.-o.-Argument drin: Ihr wollt die Großbanken vergesellschaften. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir dann besser zurechtkommen würden als heute. Wahrscheinlich würden dann alle Fehler in wenigen Händen kumuliert. Das wollen wir natürlich nicht. Auch im Antrag der Grünen gibt es einen kleinen Pferdefuß. Wir haben den Soffin ja gerade um ein Jahr verlängert. Sie wollen diese Verlängerung rückgängig machen. Das ist für uns natürlich ein widersinniger Vorschlag, dem wir nicht folgen wollen. Ich möchte auch noch ein Wort zur Haftungskaskade sagen. Denn die Haftungskaskade – Sie können es vielleicht erkennen – ist ziemlich lang. Die Kaskade verläuft zwischen dem Risiko und der letztendlichen Belastung des Steuerzahlers. Und wenn man sieht, wie lang sie ist – ich zitiere das ganz kurz – – Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Binding, aber bitte wirklich ganz kurz – und nicht die ganze Kaskade! Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Dann zitiere ich das auch nicht ganz kurz, sondern beende meine Rede lieber mit folgender Bemerkung: Die Haftungskaskade ist lang, und diese Länge ist ein Zeichen dafür, wie stark wir den Steuerzahler vor den Haftungsrisiken der Banken schützen wollen. Deshalb ist die Bankenunion eine sehr gute Lösung, ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Alexander Radwan das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Alexander Radwan (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister! Als letzter Redner zu diesem Thema möchte ich gleich dort anschließen, wo der Herr Kollege Binding aufgehört hat. Denn das ist eigentlich die richtige Formulierung: Die Bankenunion ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung, um die Finanzmärkte stabiler zu machen. Zunächst haben wir den Euro eingeführt. In den letzten Jahren haben wir die Regeln für den europäischen Binnenmarkt kreiert. Jetzt sind wir dabei, durch die Bankenunion die Aufsicht zu vollziehen. Wie gesagt: Das ist ein wichtiger, richtiger Schritt. Die Stabilität der Finanzmärkte steht im Vordergrund; der Steuerzahler soll durch eine lange Haftungskaskade geschützt werden, wie der Herr Kollege Binding ausgeführt hat. Heute entscheiden wir darüber. Ein Ziel von uns war, erst zu wissen, was die Bankenabgabe auf europäischer Ebene bewirken soll. Wir haben dazu einen Vorschlag bekommen, und ich möchte mich hier beim Finanzminister bedanken, der sich massiv für die deutschen Interessen eingesetzt hat. Wir hoffen, dass diese Bankenabgabe nach der Prüfung das Europäische Parlament und den Rat passieren wird, damit das, was uns wichtig ist, für unsere regionalen Banken umgesetzt wird, nämlich die Annehmung der Institutssicherung, der verbundinternen Verbindlichkeiten und das Wahlrecht über 2016 hinaus bis 2023. Wenn es uns ermöglicht wird, gehen wir natürlich davon aus, dass diese Option auch gezogen wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich habe versucht, die Argumente der Opposition nachzuvollziehen und mir vorzustellen – meine Gedanken dazu will ich jetzt einmal darstellen –, wo wir heute wären, wenn sie umgesetzt würden. Zum einen ging es um den Vorwurf, IGA, also das Intergovernmental Agreement, abzuschließen, sei undemokratisch. Ich kann nur sagen – ich gehe jetzt nicht so weit wie das Bundesverfassungsgericht in der Beurteilung der Demokratie auf europäischer Ebene in Bezug auf das EP –: Wir entscheiden heute darüber. Das Gleiche gilt auch für den ESM. Da entscheiden die nationalen Parlamente. Darum kann ich daran nichts Undemokratisches finden, sondern es ist eher eine Stärkung der Demokratie auf nationaler Ebene, hier entsprechend einbezogen zu sein. Insofern sollten wir unsere Rechte wahrnehmen und über den Bundestag hinaus artikulieren und hochhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Zum anderen geht es um eine ganz besondere Kon-stellation – das betrifft Herrn Troost, den ich persönlich sehr schätze –, nämlich die immer wiederkehrende Diskrepanz, einerseits zu fordern: „Wir müssen in Europa schneller werden, wir müssen schneller integrieren und Aufsicht sicherstellen“, aber gleichzeitig andererseits die europäischen Entscheidungen zu kritisieren nach dem Motto: „Das, was die Bankenabgabe jetzt für die kleinen Banken bedeutet, ist zu wenig“. Sie haben ja das Beispiel aus Wahlkreisen von Kollegen gebracht, in meinem Fall das Beispiel der Sparkasse Bad Tölz-Wolfratshausen. Ich danke dafür. Normalerweise wurde ich in den letzten Monaten auf eine andere Sparkasse angesprochen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Das ist schon einmal ein kollegialer Zug, dass wir jetzt über die Sparkasse Bad Tölz-Wolfratshausen reden. Also, auf der einen Seite zu fordern, dass wir schneller integrieren müssen – Sie kritisieren aber zugleich, dass inzwischen die Europäische Zentralbank diese Aufgaben wahrnimmt; da frage ich mich: Wenn sie sie nicht wahrnehmen würde, wo wären wir dann heute? –, und auf der anderen Seite, wenn Integration stattgefunden hat, zu kritisieren, dass das Ergebnis nicht ausreichend ist nach dem Motto: „Europa ist ein Wunschkonzert, und meine Vorgaben sollen eins zu eins umgesetzt werden“, reicht mir nicht. Ich werde mit großer Aufmerksamkeit verfolgen, wie der Thüringer Landtag unter dem zukünftigen Ministerpräsidenten Beschlüsse zur europäischen Finanzmarktregulierung – Sie haben ja sogar New York genannt – fasst und diese dann global eins zu eins umsetzt. Europa ist das zähe Ringen, auf der einen Seite Schritt für Schritt die europäische Integration und die Kapitelmarktaufsicht voranzubringen und auf der anderen Seite gleichzeitig deutsche Interessen zu wahren und durchzusetzen. Und das ist Finanzminister Schäuble in den Runden hervorragend gelungen. Dafür ein herzliches Dankeschön. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir haben bei der Umsetzung der Richtlinie aus meiner Sicht die Möglichkeiten genutzt, die diese an Flexibilität bietet. Ich nenne hier die Diskussion um den Rechtsformwechsel. Das ist ja auch ein klassisches Beispiel im Rahmen des Drei-Säulen-Modells mit Genossenschaftsbanken und öffentlich-rechtlichen Banken. Wir haben jetzt das Modell, dass auf nationaler Ebene bei Bail-in der Rechtsformwechsel vorgesehen ist, aber es besteht auch die Möglichkeit, dass die Länder, wenn sie ein entsprechend gleichwertiges Bail-in regeln, in ihren Sparkassengesetzen Ausnahmen machen. Das zeigt für mich – das ist auch gelebte Subsidiarität –: Es ist wichtig, dass wir auf nationaler Ebene das, was wir auf europäischer Ebene jahrzehntelang zu Recht verteidigt und hochgehalten haben, auch auf nationaler Ebene behüten und nicht preisgeben. Hier haben wir also die Flexibilität der Richtlinie entsprechend ausgenutzt. Die Europäische Zentralbank hat jetzt die Aufsicht übernommen. Herr Troost, ich habe Sie so verstanden, dass Sie das für falsch halten. Möglicherweise habe ich Sie falsch verstanden. Das ist jedenfalls ein richtiger Schritt. Er ist nicht ideal, aber es ist ein richtiger Schritt. Das sollte man in diesem Zusammenhang auch von Ihrer Seite betonen. 120 Banken in Europa werden direkt beaufsichtigt. Auch bei diesem Punkt sage ich: Es ist ein Schritt. Wir werden zukünftig darauf achten müssen, wie diese Aufsicht funktioniert und wie sie sich entwickelt. Ein weiterer Kritikpunkt, der genannt wurde, ist, in einem Haus zusammen Geldpolitik und Aufsicht zu kombinieren. Auch ich halte das für problematisch. Aber wenn man das für problematisch hält, muss man auch sagen: Um das auszuschließen, bedarf es einer Änderung der Verträge. Wenn die Verträge geändert werden, dann ist der Weg frei. Ich kann mir nicht vorstellen, so wie ich Finanzminister Schäuble bisher verstanden habe, dass er diesen Weg nicht gehen will. Aber wir müssen auch pragmatisch herangehen und fragen: Was ist auf der europäischen Agenda als Nächstes möglich? Eine weitere Frage neben der nach der Aufsicht auf europäischer Ebene ist: Wie gehen wir in der EZB zukünftig mit den Regionalbanken um? Hier sehe ich durchaus auf Level 2 von Normierung und Aufsicht die Problematik, dass wir die Besonderheiten der Regionalbanken durch die Hintertür Stück für Stück zwar nicht preisgeben, aber den Kampf, den wir auf europäischer Ebene führen, dorthin verlagern. Denn die Europäische Zentralbank hat nicht nur unmittelbare Aufsicht über die Großbanken, sondern auch mittelbare Aufsicht über alle Banken. Über 40 Prozent der Regionalbanken, die nicht unmittelbar beaufsichtigt werden, befinden sich nun in Deutschland. Erster Ansatzpunkt ist hier das Meldewesen. Ich halte es – das muss ich ganz klar sagen – für falsch, dass immer mehr IFRS-Anforderungen durchgereicht werden. Daher bedarf es hier einer entsprechenden Governance und Vorgabe, wie es sich weiterentwickeln soll. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich die Lösung – ich habe mit mir gerungen über das Verhältnis von BaFin und Bundesbank zueinander; dabei gibt es gute Argumente für die eine wie für die andere Seite –, die wir gefunden haben, für gut: BaFin ist jetzt Ansprechpartner, aber wir betonen zugleich, dass das System der kollegialen Aufsicht durch Bundesbank und BaFin sich bewährt hat. Das sollte auch für die europäische Ebene eine Blaupause sein, indem wir uns dagegen wenden, dass alles auf einen Bereich konzentriert wird, und vielmehr die Splittung als Modell auf europäischer Ebene voranbringen. Wir wissen, dass wir uns bei den Trennbanken weiterentwickeln müssen. Wir haben auf nationaler Ebene eine Lösung. Wir haben auf europäischer Ebene einen Verordnungsvorschlag. Es ist umso wichtiger, dass dieser Vorschlag auf europäischer Ebene sich an den Kriterien und den Prioritäten, die wir in Deutschland haben, orientiert. Ich muss allerdings sagen: Die europäische Vorgabe ist für mich nicht ganz konsistent. Die Zeitvorgaben, die hier genannt werden, halte ich für bemerkenswert. Einmal habe ich einen Verordnungsvorschlag, der unmittelbar gilt, aber gleichzeitig können auf nationaler Ebene mithilfe von Regelungen, die einen gewissen Rahmen haben, Ausnahmen gemacht werden. Das ist für mich ein Widerspruch in sich. Das wird sicher eine ganz wichtige, aber auch langwierige Diskussion werden. Zum Thema Steuern – das hat auch der Kollege Binding angesprochen –: Ich halte es für richtig, dass wir zwischen den Staaten auf europäischer Ebene für Wettbewerbsgleichheit sorgen, dass wir versuchen, systematisch korrekt zu arbeiten. Darum werden wir dieses sicher in den nächsten Wochen und Monaten auf europäischer Ebene nicht nur verfolgen, sondern auch versuchen, die Mitgliedstaaten für unsere Haltung zu gewinnen. Letztendlich haben wir es auf europäischer Ebene geschafft, deutsche Standards entsprechend weiterzuentwickeln. Es ist auch wichtig, die Entscheidungen rechtzeitig richtig zu treffen. Vor diesem Hintergrund kann ich es mir nicht verkneifen, nachdem Sie, Herr Kollege Zöllmer, vorhin das Thema Griechenland angesprochen haben, noch ganz kurz zu sagen – das brauchen wir nicht zu sehr vertiefen –: Ich habe zumindest zu dem Zeitpunkt, als eine andere Bundesregierung zugestimmt hat, im Europäischen Parlament dagegen gestimmt. Ich war gegen die Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstums-paktes. – Wir sollten daraus jedenfalls gemeinsam lernen, dass wir uns rechtzeitig mit den richtigen Weichenstellungen in Europa befassen müssen. Wir müssen rechtzeitig unsere Stimme erheben, um die Weichen richtig zu stellen. Das schaffen wir heute mit dem Beschluss zur Bankenunion. Ich danke Minister Schäuble, dass er hier mit Augenmaß vorgegangen ist. Er sollte nicht dafür kritisiert werden, deutsche Interessen zu vertreten und trotzdem die Aufsicht in Europa zu europäisieren. Herzlichen Dank. Wir werden zustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Peter Hintze: Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkt 5 a: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung einer Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung weiterer Richtlinien und Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates – BRRD-Umsetzungsgesetz. Hierzu liegen mehrere Erklärungen gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3088, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/2575 und 18/2626 in der Ausschussfassung anzunehmen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt, getrennt abzustimmen: zum einen über Artikel 5 Nummern 6 bis 11, Nummern 12 a und 12 b, Nummer 13 a, Nummer 15 sowie Artikel 7 und zum anderen über den Gesetzentwurf im Übrigen. Ich rufe zunächst auf Artikel 5 Nummern 6 bis 11, Nummern 12 a und 12 b, Nummer 13 a, Nummer 15 sowie Artikel 7 in der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Artikel 5 Nummern 6 bis 11, Nummern 12 a und 12 b, Nummer 13 a, Nummer 15 sowie Artikel 7 sind mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke in der Ausschussfassung angenommen. Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um ihr Stimmzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann sind die übrigen Teile des Gesetzentwurfs mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, den Stimmen der SPD-Fraktion und den Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und eine Stimme aus der CDU/CSU-Fraktion so beschlossen. Alle Teile des Gesetzentwurfes sind damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion und die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen worden. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3091. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung durch die Fraktion Die Linke abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3092. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und Zustimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3088, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/2576 und 18/2627 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Linken und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 5 b: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes. Der Haushaltsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3082, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/2577 und 18/2629 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf angenommen worden mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und den Stimmen der SPD-Fraktion gegen zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion und die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion dann so angenommen worden. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des Vertrags zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Der Haushaltsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3082, den -Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/2580 und 18/2628 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie gegen zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen worden. Tagesordnungspunkt 5 c: Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zum Antrag des Bundesministeriums der Finanzen mit dem Titel „Durchführungsbestimmungen zum Instrument der direkten Bankenrekapitalisierung durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 4 Absatz 1 des ESM-Finanzierungsgesetzes“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3082, dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen auf Drucksache 18/2669 zuzustimmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen worden. Zusatzpunkt 1. Wir setzen die Abstimmung zu den Beschlussempfehlungen des Finanzausschusses auf Drucksache 18/3088 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/97 mit dem Titel „Risiko und Haftung zusammenführen – Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstellen“. Wir stimmen also über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses ab. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen worden. Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/98 mit dem Titel „Gemeinsam die Haftung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler beenden – Für einen einheitlichen europäischen Restrukturierungsmechanimus“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen worden. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/774 mit dem Titel „Zum Schutz der Allgemeinheit vor Einzelinteressen – Für eine echte Europäische Bankenunion“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Damit sind wir am Ende dieser Reihe von Abstimmungen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Das Massensterben an den EU-Außengrenzen beenden – Für eine offene, solidarische und humane Flüchtlingspolitik der Europäischen Union Drucksachen 18/288, 18/2946 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bevor ich die Aussprach eröffne, warten wir vielleicht noch einen Moment, bis alle ihren Platz gefunden haben. Diejenigen, die eine Aussprache über indivi-duelle Themen wünschen, bitte ich, den Plenarsaal hierfür zu verlassen. Ich eröffne die Aussprache und erteile für die CDU/CSU-Fraktion das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Bosbach. (Beifall bei der CDU/CSU) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Neben dem Kampf gegen den Terror des sogenannten Islamischen Staates ist die Bewältigung der ja weltweiten Flüchtlingskrise und -problematik sicherlich die größte internationale und europäische Herausforderung sowie auch innenpolitische Herausforderung bei uns in Deutschland. Über 50 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, rund 33 Millionen sind Binnenvertriebene, an die 18 Millionen sind über Grenzen geflohen. Was sich wenige Flugstunden von uns entfernt abspielt, ist eine wahre Tragödie. Menschen fliehen vor brutalen Diktatoren, vor brutalen Diktaturen, sie fliehen vor Hungersnot, vor Epidemien und vor dem Terror der IS-Truppen. Wir erleben gerade eine Tragödie im Grenzgebiet der Länder Syrien/Irak/Türkei. Hunderttausende campieren dort unter freiem Himmel. Der Winter steht vor der Tür. Zuerst kommt der Regen, dann kommt die Kälte, dann kommt der Schnee, dann kommt der Tod. Wir wissen von den Tragödien im Mittelmeer. Wir wissen, dass Schlepper und Schleuserbanden mit der Not vieler Menschen brutale Geschäfte machen. Um einen Punkt in dieser Debatte gleich abzuräumen: Wenn Menschen in Not sind, wenn sie zu ertrinken drohen, dann fragen wir nicht nach der Staatsangehörigkeit, wir fragen nicht nach der Religion, wir fragen nicht nach der Rechtslage, sondern wir retten sie, wir werfen ihnen Rettungsringe zu. Dazu müssen wir vorher auch in keinem Gesetzesbuch nachlesen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Alles andere wäre im Übrigen unterlassene Hilfeleistung. (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen wir auch so!) Ich glaube, da gibt es einen großen Konsens über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Der Antrag der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen geht allerdings weit darüber hinaus. Im Grunde genommen ist es eine Anklageschrift gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten. (Beifall bei der LINKEN – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Aber der Inhalt dieser Anklageschrift wird den Realitäten in keiner Weise gerecht. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Von den 700 000 Flüchtlingen aus dem Balkan, zum Beispiel aus Bosnien-Herzegowina, hat Deutschland allein 350 000 Flüchtlinge aufgenommen. Deutschland also die Hälfte, alle anderen Länder der Welt zusammen die andere Hälfte. Wir haben über 40 Prozent der Flüchtlinge aus dem Kosovo aufgenommen. Zurzeit nimmt kein Land in der Europäischen Union mehr Flüchtlinge auf als die Bundesrepublik Deutschland. Richtig ist: Es gibt Länder, die pro Kopf der Bevölkerung mehr Flüchtlinge als Deutschland aufnehmen, darunter auch sehr kleine Staaten, zum Beispiel die Insel Malta, wo sich aber auch nur sehr kleine Zahlen ergeben. Es gibt aber auch große Länder, die sich bei der Aufnahme von Flüchtlingen – je nach Betrachtungsweise – vornehm zurückhalten oder schäbig verhalten; jeder mag das anders bewerten. Deutschland alleine wird in diesem Jahr mehr Flüchtlinge aufnehmen als Portugal, Spanien, Italien und Griechenland zusammen. In einer solchen Situation kann man ruhig einmal, wenn auch nur in einem Nebensatz, anerkennen, was Deutschland in der Vergangenheit bereits geleistet hat, was Deutschland heute leistet und auch in Zukunft leisten wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Situation in allen anderen Büros anders aussieht als bei mir. Alle Gespräche, alle Zuschriften sind angesichts der derzeitigen Lage von zwei Argumentationslinien geprägt. Die einen sagen: „Seht ihr nicht die Not der Menschen in der Welt, die Not der Menschen, die fliehen müssen? Kann ein reiches Land wie Deutschland nicht mehr tun?“, und die anderen sagen: „Seht ihr nicht, dass unsere Städte und Gemeinden an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angekommen sind? Viel mehr können wir nicht leisten.“ Für beide Haltungen gibt es übrigens gute Argumente. Angesichts der dramatischen Situation, wie ich sie eingangs geschildert habe, ist die Frage: „Kann Deutschland nicht noch mehr tun?“, oder: „Müsste Deutschland nicht noch mehr tun?“, legitim. Es gibt im Übrigen eine enorme Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung jenen gegenüber, die tatsächlich verfolgt sind, die tatsächlich politisch Verfolgte sind, die tatsächlich vor Krieg oder Bürgerkrieg fliehen. Unser Problem ist aber doch, dass wir jedes Jahr auch sehr viele Menschen aufnehmen, die nicht politisch verfolgt sind, die nicht vor Krieg oder Bürgerkrieg fliehen, die keinen Rechtsanspruch auf einen Daueraufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Die allermeisten Menschen von denen werden das auch wissen. Eine vernünftige Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Zu dieser Wirklichkeit gehört, dass nicht alle, aber viele Städte und Gemeinden unseres Landes an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt sind. Eine Schlagzeile von heute Morgen in einer Kölner Zeitung: „Roters will keine weiteren Flüchtlinge“. Zur Vermeidung möglicher Missverständnisse: Es handelt sich nicht um einen CDU-Oberbürgermeister oder um einen CSU-Oberbürgermeister, sondern es handelt sich um den SPD-Oberbürgermeister der Stadt Köln. Die Stadt Köln wird von einer rot-grünen Ratsmehrheit regiert. Ist Herr Roters xenophob? Ist er ausländerfeindlich? (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat doch keiner gesagt!) Ist er ein latenter Rassist? Nein, er hat Not. Er weiß nicht mehr, wo er die vielen Flüchtlinge unterbringen kann. Und das führt zu Spannungen. Das führt zu Spannungen in der Gesellschaft, das führt zu Spannungen vor Ort. Wenn wir Politiker, die wir unmittelbar politische Verantwortung tragen, den Menschen draußen signalisieren, dass uns die Probleme vor Ort nicht interessieren, dass wir uns gar nicht damit beschäftigen, dass wir sie ignorieren in der Hoffnung, dass den Menschen gar nicht auffällt, dass es diese Probleme gibt, dann werden sie sich anderen politischen Kräften zuwenden, die heute – darüber sind wir froh – nicht im Deutschen Bundestag vertreten sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir haben auch, aber nicht nur eine Verantwortung gegenüber den bedrängten Menschen in der Welt. Dieser Verantwortung wird Deutschland gerecht; wobei ich nicht sagen würde, dass man nicht noch mehr tun könnte. Mir fällt in der Politik überhaupt kein Thema ein, zu dem ich sagen könnte: Da könnte man nicht noch mehr tun. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Aber warum machen Sie dann nicht mehr?) Wir werden hier auch mehr tun müssen; aber wir können nicht diejenigen aufnehmen, die politisch verfolgt sind, und diejenigen, die es nicht sind, auch. Wir können nicht diejenigen aufnehmen, die vor Krieg fliehen, und diejenigen, die nicht vor Krieg fliehen, auch. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Wer sind denn „diejenigen“?) Deswegen ist es wichtig, dass wir die Fluchtursachen vor Ort bekämpfen, damit die Menschen sich erst gar nicht auf eine lebensgefährliche Reise begeben müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Deshalb ist es wichtig, dass wir die Schlepper- und Schleuserkriminalität bekämpfen. Ein letzter Punkt: Europa kümmert sich sonst um alles: um Glühbirnen und neuerdings auch um die Saugkraft von Staubsaugern; sie muss europaweit einheitlich geregelt werden. Es wäre schön, wenn wir uns auch oder wenigstens darüber einig wären, dass Europa sich auch darum kümmern muss, dass wir einheitliche Mindeststandards für die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern in allen Ländern der Europäischen Union bekommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dass humanitäre Mindeststandards eingehalten werden, ist übrigens nicht nur eine völkerrechtliche Verpflichtung; das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Das schulden wir denjenigen, die wirklich bedrängt sind, die wirklich in Not sind. Denen wird in Deutschland niemals nicht geholfen werden. Da sind wir aufnahmebereit wie kaum ein anderes Land in der Welt. Auch das könnte man im Rahmen der Beschreibung der großen Probleme, die wir haben, ruhig einmal anerkennen. Wir dürfen unser eigenes Land ruhig einmal loben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Bosbach, kein Mensch flieht ohne Not, verlässt sein Land ohne Not und möglicherweise auch seine Familie. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt halt nicht so!) Anlass für den Antrag der Linksfraktion, über den wir heute hier reden, waren die Tragödien, die sich im Herbst vorigen Jahres im Mittelmeer vor der Insel Lampedusa ereigneten. Dort sind 400 Menschen ertrunken. Eine Woche später gab es ein weiteres Unglück mit 250 Toten. Ich möchte hier einmal die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini, zitieren, die damals von einem regelrechten Massaker an den Flüchtlingen gesprochen hat. Es sei wie im Krieg, sagte sie, und weiter: Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass die europäische Einwanderungspolitik diese Menschenopfer in Kauf nimmt, um die Migrationsflüsse einzudämmen …, dass ihr Tod für Europa eine Schande ist. (Beifall bei der LINKEN) Genau das ist der Grund, warum die europäische Flüchtlingspolitik grundlegend geändert werden muss. Das UNO-Flüchtlingswerk bzw. der UNHCR führt eine grausame Statistik über die Menschen, die seit Jahren im Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Fast 2 Prozent aller Flüchtlinge im Mittelmeer sind darin ertrunken. In diesem Jahr gab es allein bis Ende August mindestens 3 200 Tote. Je dichter die Abschottung, desto gefährlicher werden die Fluchtrouten. Das treibt die -Todeszahlen in die Höhe. Dieser grausamen Logik muss man endlich ein Ende bereiten. (Beifall bei der LINKEN) Doch leider kommt von den für diese Flüchtlingspolitik Verantwortlichen, Herr Bosbach, außer Betroffenheitsfloskeln überhaupt nichts. Es heißt einfach: Weiter so! An diesem Montag zum Beispiel sind 24 Flüchtlinge im Bosporus ertrunken; sie wollten über das Schwarze Meer, um nach Rumänien, also nach Europa, zu gelangen. Das ist das Ergebnis der Politik der Abschottung an den EU-Außengrenzen. Das Massaker, von dem Frau Nicolini sprach, fordert jeden Tag neue Opfer. Einzig Italien hat noch im Oktober vorigen Jahres eine Aktion unter dem Titel Mare Nostrum gestartet. Wir alle wissen, dass Italien ein Asylsystem mit schweren Mängeln hat. Aber für diese Rettungsaktion verdient das Land Anerkennung. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Italien hat die EU um Unterstützung gebeten. Deutschland und auch kein anderer EU-Staat waren aber bereit, sich an den Kosten zu beteiligen, Herr Kollege Bosbach. Diese Aktion kostet in der Tat monatlich 9 Millionen Euro; diese Kosten könnten aber auf viele EU-Staaten verteilt werden. Statt Mare Nostrum und Seenotrettung hat die EU am Montag dieser Woche mit einem Einsatz zur Grenzüberwachung begonnen, den sie Triton nennt. Er bedeutet noch mehr Abschottung, kostet aber nur 3 Millionen Euro im Monat. Man stellt sich hier doch ernsthaft die Frage: Ist es billiger, die Menschen ertrinken zu lassen, als sie zu retten und sich auch für Rettungsaktionen einzusetzen? Für solch einen Zynismus können wir nur abgrundtiefe Verachtung empfinden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Bundesinnenminister hat vor einigen Wochen mit anderen Kollegen aus EU-Staaten einen Brief an das EU-Innenkommissariat gesandt. Was steht in dem Brief? Ehrlich gesagt, nur die alte Leier: dichtere Überwachung der EU-Außengrenzen, engere Zusammenarbeit mit Transitstaaten, um Flüchtlinge schon in Afrika aufzuhalten, verstärkte Bekämpfung von Schleuserbanden, aber kein Wort zur Rettung von Flüchtlingen. Auch der -Innenminister hat meiner Meinung nach aus den Tragödien, die wir im vergangenen Jahr im Mittelmeer erlebt haben, überhaupt nichts gelernt. Stattdessen pflegt er eine absolut unangemessene -bürokratische Kleinkariertheit, wenn er etwa darüber doziert, im Rahmen von Frontex dürfe nur Grenzüberwachung durchgeführt werden und Frontex habe für Seenotrettung – ich zitiere ihn – „weder das Mandat noch die erforderlichen Ressourcen“. Ich sage Ihnen: Für die Rettung aus Seenot braucht man kein Mandat. Im Gegenteil: Das ist eine Pflicht. Wer sich dieser Pflicht bewusst verweigert, macht sich an weiteren -Massakern mitschuldig. Ich gebe Herrn Bosbach recht, dass hier etwas passieren muss und nicht nur geredet werden darf. (Beifall bei der LINKEN) Noch etwas. Wenn Frontex nicht dafür geschaffen ist, Flüchtlinge zu retten, dann, so sagt die Linke, muss Frontex eben abgeschafft und durch ein effektives Seenotrettungssystem ersetzt werden. Was die Bekämpfung von Schleusern angeht, will ich die Frage aufwerfen: Haben Sie sich eigentlich schon einmal überlegt, dass es Schleuser nur deswegen gibt, weil sich die EU weigert, dafür zu sorgen, dass Flüchtlinge auf legalem Wege nach Europa kommen können? Es ist doch die EU selbst, die die Flüchtlinge damit regelrecht in die Hände von Schleusern treibt. Die richtige Antwort, die wir in unserem Antrag beschreiben, lautet deswegen nicht: „Noch mehr Repression und noch mehr Abschottung“, sondern: Menschen in Not muss, ohne dass sie sich in Lebensgefahr begeben müssen, ermöglicht werden, in Europa Asyl zu beantragen. Das könnte ganz einfach durch eine Liberalisierung der Visapolitik geschehen. (Beifall bei der LINKEN) Statt mit Staaten wie Libyen zu kooperieren, wo Flüchtlinge eingesperrt sind – übrigens zurzeit 100 000 – oder einfach in der Wüste ausgesetzt werden, gilt es, -Kapazitäten für Aufnahmeprogramme zu schaffen, die in akuten Lagen wie etwa jetzt in der Syrien-Krise auch kurzfristig greifen. Es ist doch ein Trauerspiel – ich sage ja nicht, dass wir nichts tun –, dass es Monate und Jahre dauert, bis wir in Deutschland ein paar Tausend Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen, nur weil wir dabei eine unglaubliche Bürokratie an den Tag legen. Meine Damen und Herren, es muss endlich das unwürdige Dublin-System abgeschafft werden, mit dem Schutzsuchende gezwungen werden, in dem Land Asyl zu beantragen, das sie zuerst betreten haben. Für die Flüchtlinge bedeutet es eine inhumane und zudem völlig nutzlose Schikane, wenn sie in Deutschland noch vor der Prüfung ihres Asylantrages festgenommen und zum Beispiel nach Italien abgeschoben werden. Übrigens hat erst gestern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wieder festgestellt, was vielen Flüchtlingen in Italien blüht – das ist vielen immer noch nicht klar –: Entweder sie bleiben ganz ohne Unterkunft, oder sie werden in überfüllte Lager mit – so das Gericht – gesundheitsgefährdenden und gewalttätigen Zuständen gesteckt. – Es ist wesentlich humaner – es spricht überhaupt nichts dagegen –, sie dorthin gehen zu lassen, wo sie Verwandte haben, wo sie die Sprache beherrschen, wo sie besser integrierbar sind. Innerhalb der EU könnte das auch mit einem Finanzausgleich geregelt werden. Meine Damen und Herren, zum Schluss kann ich nur an das Haus appellieren: Die europäische Flüchtlings-politik tötet. Deswegen ist es an der Zeit, sie radikal zu ändern. Mit noch mehr Abschottung wird nur noch mehr Tod und Leid provoziert. Ein Weiter-so in der europäischen Flüchtlingspolitik darf es einfach nicht geben. Deswegen werden wir noch weitere Anträge einbringen, zumal Sie diesen Antrag heute ablehnen werden. Es muss endlich etwas passieren, damit Menschen nicht mehr ums Leben kommen. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten Christina Kampmann, SPD-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christina Kampmann (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 17. Januar dieses Jahres habe ich meine erste Rede im Deutschen Bundestag zu genau diesem Antrag und zu genau diesem Thema gehalten. Seitdem ist rund ein Dreivierteljahr vergangen. Insofern ist es jetzt an der Zeit, die Frage zu stellen, was seitdem eigentlich passiert ist. Den Bürgerkrieg in Syrien gab es damals schon, und er hat nichts von seiner Brutalität und Grausamkeit -verloren. Der Konflikt in Syrien ist aber nur einer von vielen, der in diesem Jahr täglich Menschenleben kostet. Seit einiger Zeit erschüttern uns auch die Gräueltaten -einer Terrorgruppe namens „Islamischer Staat“, die mit einer Gewalttätigkeit und Grausamkeit agiert und überall dort, wo sie auftaucht, solch unfassbares Leid hinterlässt, dass die Nachvollziehbarkeit derartigen Handelns längst an ihre Grenzen gestoßen ist. Das sind aber nur zwei Konflikte zusätzlich zu denen, die tagtäglich stattfinden, weil Menschen Hunger leiden, weil Menschen aus ihren Dörfern vertrieben werden oder schlichtweg keine Perspektive mehr für sich und ihre Familie sehen. Dies sind Gründe genug, um sich heute die Frage zu stellen: Was ist seitdem eigentlich passiert? Was haben wir getan, um unseren Worten vom 17. Januar Taten folgen zu lassen? Da sei zunächst die finanzielle Unterstützung von rund 520 Millionen Euro genannt, die wir Syrien haben zukommen lassen und die vor allem der humanitären Hilfe dient. Aber auch das THW leistet vor Ort und in den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Nordirak vor allem durch die Bereitstellung der Wasserversorgung jeden Tag eine immens wichtige Hilfe. Im Juni haben wir uns auf ein weiteres Aufnahme-programm geeinigt, sodass wir insgesamt 20 000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen werden. Bei der Syrien-Flüchtlingskonferenz in der vergangenen -Woche hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier deutlich gemacht, dass wir uns über die humanitäre Versorgung der Flüchtlinge hinaus auch um die Stabilität der Aufnahmeländer kümmern müssen, die schon jetzt an ihre Grenzen gekommen sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der -Tatsache, dass sich weltweit über 50 Millionen Menschen auf der Flucht befinden, ist das vielleicht nicht viel. Angesichts dessen, was andere europäische Länder, insbesondere wenn es um die Aufnahme syrischer Flüchtlinge geht, beigetragen haben, ist das aber eine ganze Menge. Wir können uns gewiss nicht darauf ausruhen, wir können es aber als Basis für unser weiteres Handeln nehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber blicken wir auf die europäische Ebene. Da macht in diesen Tagen ein Einsatz namens Triton von sich reden. Wir müssen uns die Frage stellen: Hilft -Triton weiter, wenn es darum geht, das in dem Antrag formulierte Ziel der Rettung von in Seenot geratenen Menschen zu erreichen? Die Zweifel, die daran aufkommen, sind berechtigt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD]) Das italienische Programm Mare Nostrum durch ein -europäisches zu ersetzen, ist zunächst einmal richtig. Wir haben uns dazu entschlossen, gemeinsame Außengrenzen zu haben; deshalb ist es auch unsere gemeinsame europäische Aufgabe, für das, was an diesen Grenzen passiert, Verantwortung zu übernehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Verantwortung bedeutet nicht nur, aber auch, diese Grenzen zu schützen. Deshalb lehnen wir die im Antrag der Linken formulierte Forderung nach der Auflösung von Frontex entschieden ab. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Die sind für Abschottung zuständig!) Verantwortung bedeutet aber vor allem, die Menschen, die ihre letzte Hoffnung darin sehen, sich unter Gefährdung ihres eigenen Lebens und oft auch des Lebens ihrer Kinder auf einem überfüllten Boot auf den Weg nach Europa zu machen, zu retten, wenn sie in Seenot geraten sind. Darüber sollten wir nicht diskutieren; denn das ist unsere elementarste menschliche Pflicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD) Herr Bosbach, es ist gut, wenn wir uns in diesem Ziel einig sind; aber Rettung fällt eben nicht vom Himmel – dafür muss auch die entsprechende Infrastruktur bereitgestellt werden, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und es hilft nicht, da auf Europa zu zeigen; denn wir sind ein Teil von Europa. Wir müssen uns gemeinsam dafür starkmachen, dass wir genau dieses Ziel erreichen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir fordern deshalb: Triton muss mindestens genauso gut ausgestattet sein wie Mare Nostrum; das bezieht sich sowohl auf den Umfang des Mandats als auch auf die finanzielle Ausstattung. Alles andere ist eine Farce, die in keiner Weise nachvollziehbar ist und die für uns auch nicht akzeptabel ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir es wirklich ernst meinen mit der Rettung von in Seenot geratenen Menschen, wenn wir ein weiteres Unglück, wie es sich vor Lampedusa ereignet hat, verhindern wollen, dann brauchen wir für Frontex ein eindeutiges Mandat, das über den Grenzschutz hinausgeht und sich in aller Deutlichkeit auch zur Seenot-rettung bekennt. Dann brauchen wir auch eine bessere -finanzielle Ausstattung als die rund 3 Millionen Euro, die derzeit vorgesehen sind. Wenn wir es wirklich ernst meinen mit den europäischen Werten, die wir jeden Tag aufs Neue verteidigen, dann müssen wir hier noch eine Schippe drauflegen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU]) Europäische Flüchtlingspolitik darf sich aber nicht nur auf die beschränken, die über das Mittelmeer auf dem Weg zu uns sind. Wenn Europa es ernst meint mit Werten wie Solidarität, Gerechtigkeit und Menschlichkeit, dann müssen wir auch über eine Reform des -Dublin-Systems reden. Dublin III funktioniert nämlich so, wie es derzeit ausgestaltet ist, nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist zum einen unsolidarisch, weil die Länder, die an den Außengrenzen sind, stärker belastet werden als andere; das ist ein eindeutiger Fakt, der sich nicht wegdiskutieren lässt. (Barbara Woltmann [CDU/CSU]: Die Zahlen sprechen dagegen!) Es ist zum anderen ungerecht gegenüber den Flüchtlingen; denn wenn Länder wie Griechenland und Italien stärker belastet werden als andere, dann ist es für diese natürlich auch schwieriger, angemessene Unterkünfte, Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und alles, was man für ein einigermaßen menschenwürdiges Existenzminimum braucht, zur Verfügung zu stellen. Deshalb muss Dublin III besser heute als morgen reformiert werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Linken sage ich mit Blick auf Alternativen: Das von Ihnen vorgeschlagene Free-Choice-Verfahren, wonach sich jeder das Aufnahmeland selbst aussuchen kann, (Dr. Eva Högl [SPD]: Das geht nicht!) stellt nur vordergründig eine wirklich gute Alternative dar; denn das – dessen bin ich mir sicher – würde in einem Wettbewerb um die niedrigsten Standards enden. Das kann nicht in Ihrem Sinne sein und ist auch nicht im Sinne der Flüchtlinge. (Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) Unser Vorschlag dazu ist ein Quotensystem, das sich an Kriterien wie zum Beispiel Wirtschaftswachstum, Bevölkerungszahl und Arbeitslosigkeit orientieren könnte und damit zu einer gesamteuropäischen Lösung beiträgt, die solidarisch und gerecht gegenüber den Flüchtlingen ist, weil sie – da bin ich mir sicher – zu besseren Standards in den Aufnahmelagern und während des Asylverfahrens führen wird, auch dann, wenn es darum geht, dass diese Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Das ist aus unserer Sicht die beste Alternative. Für diese werden wir uns weiterhin starkmachen. (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, tote Menschen vor den Küsten Europas sind längst zur Alltäglichkeit geworden. Mehr als 3 000 Menschen sind seit Anfang dieses Jahres im Mittelmeer ertrunken. Ich wünsche mir, dass wir uns jeden einzelnen Tag vor Augen führen, wie beschämend allein diese Tatsache ist. Ich wünsche mir, dass wir uns jeden Tag die Frage stellen: Was treibt einen Menschen an, sein Zuhause zu verlassen, mehr Geld zu zahlen, als er sich eigentlich jemals hätte leisten können, seine Familie zurückzulassen oder auf einen Weg mitzunehmen, dessen Ziel er nicht kennt und von dem er noch nicht einmal weiß, ob er es jemals erreichen wird, und das alles in dem Wissen, dass dieser Weg vielleicht das eigene Leben und auch das Leben der eigenen Kinder kosten könnte? Ich frage Sie ehrlich: Könnte irgendjemand von Ihnen sich das vorstellen? Kann sich irgendjemand vorstellen, wie verzweifelt ein Mensch sein muss, um diesen Weg dennoch zu gehen? Ich sage ehrlich: Ich kann es mir nicht vorstellen. Gerade weil dieser Schritt alles übersteigt, was ich mir vorstellen kann, sage ich: Egal, worüber wir in Europa diskutieren, egal, welche Pläne die neue Kommission hat: Die menschliche Tragödie, die sich täglich an den Küsten Europas abspielt, muss ihre Grenze in dem finden, was unser Dasein als Menschen ausmacht: in Mitmenschlichkeit, in Achtung voreinander und in einem Minimum an Respekt vor dem Leben jedes einzelnen Menschen. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen. Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Kollege Bosbach, ich muss zwei Punkte in Ihrer Rede klarstellen. Der eine Punkt ist, dass der vorliegende Antrag nur von der Linken und nicht von uns Grünen ist, wie Sie gesagt haben. Der andere Punkt ist, dass wir mitnichten irgendjemandem in den Kommunen unterstellt haben, rassistisch zu sein, nur weil er deutlich macht, dass die derzeitige Situation in den Kommunen schlichtweg nur noch mit „Überforderung“ zu beschreiben ist. Deshalb haben wir als Grünenfraktion gesagt: Wir wollen einen nationalen Asylgipfel, bei dem die Interessen des Bundes, der Länder und der Kommunen harmonisiert werden. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, diesen Gipfel vorzubereiten. Es muss auch um eine stärkere finanzielle Beteiligung des Bundes und eine Entlastung der Kommunen gehen. All diese Punkte haben wir angeführt. Auch heute Nachmittag bei der Debatte um das Thema Unterbringung von Flüchtlingen gehen wir auf die Kommunen zu und sagen: Ja, in bestimmten Ausnahmefällen muss es möglich sein, Flüchtlinge in einem Gewerbegebiet unterzubringen, wenn gewisse Standards erfüllt werden. Da können Sie uns nicht vorwerfen, dass wir uns der Debatte verweigern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir nehmen die Sorgen vor Ort ernst. Aber heute geht es um die europäische Flüchtlingspolitik. „Wir können nicht zulassen, dass das Mittelmeer ein Meer des Todes ist.“ Das war die Antwort des italienischen Ministerpräsidenten Letta auf die Tragödie, die Katastrophe von Lampedusa. Noch im selben Monat startete Italien die Militäroperation Mare Nostrum. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich muss einräumen, dass wir von den Grünen zu Beginn dieser Operation sehr skeptisch waren. Wir haben nicht daran geglaubt, und es war für uns schlichtweg unvorstellbar, dass die italienische Marine tatsächlich ein Programm auf den Weg bringt, das ausschließlich auf die Rettung von Menschenleben abzielt. Ich muss sagen: Ich habe mich damals getäuscht. Mare Nostrum hätte von Anfang an ein europäisches Programm sein müssen. Es hätte unsere gemeinsame Antwort auf das Sterben im Mittelmeer sein müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es wurde schon gesagt: In wenigen Wochen wird das Programm Mare Nostrum eingestellt, weil es die europäischen Staaten nicht über das Herz brachten, dieses Programm zu finanzieren. Im Gegenteil: Auch auf Betreiben der Bundesregierung haben sich die Staaten dafür eingesetzt, dass Mare Nostrum eingestellt wird. Dafür hat die EU – auch das wurde schon erwähnt – die Frontex-Mission „Triton“ ins Leben gerufen, die vor wenigen Tagen anlief und Mare Nostrum zwar zeitlich ablöst, aber ganz bestimmt nicht in dem Ziel, Menschenleben im Mittelmeer zu retten. Das geht auch gar nicht; denn Triton steht nur ein Drittel der finanziellen Ressourcen zur Verfügung. Im Gegensatz zur italienischen Marine, die auch auf hoher See gerettet hat, überwacht Triton lediglich einen Küstenstreifen. Damit ist die Rettung von Flüchtlingen auf hoher See leider nicht gewährleistet. Deshalb frage ich mich ernsthaft: Wer soll diese Aufgabe in Zukunft übernehmen? Italien hat dieses Jahr 112 Millionen Euro in die Flüchtlingsrettung investiert, und das Einzige, was uns dazu einfällt, ist, nackte Zahlen gegeneinanderzustellen und uns dafür zu feiern, dass wir mehr Flüchtlinge aufnehmen als Italien oder Portugal. Wir sind die viertstärkste Wirtschaftsnation in der Welt. Wir haben mit dem Fachkräftemangel und dem demografischen Wandel, der ganze Gegenden aussterben lässt, zu kämpfen. Aber bei der Flüchtlingsaufnahme machen wir eine zahlenmäßige Spitz-auf-Knopf-Abrechnung mit Ländern wie Bulgarien und Portugal. Ich finde nicht, dass uns das gut steht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Inhaltlich ist festzustellen: Wir haben zu Triton nachgefragt und sind erst einmal davon ausgegangen, dass diese Mission tatsächlich ein Ersatz für Mare Nostrum ist. Uns wurde aber relativ schnell klar, dass dies kein Ersatz dafür ist. Das Kuriose ist, dass die Bundesregierung der Frontex-Mission Triton zugestimmt hat und im Nachgang dazu in den Ausschüssen, aber auch im Plenum nicht in der Lage war, unsere Fragen dazu zu beantworten: Welche konkreten Aufgaben wird Triton haben? Wie hoch ist die finanzielle Beteiligung der Bundesrepublik? Wie gedenkt man, die Mission menschenrechtskonform zu gestalten, wenn jetzt schon klar ist, dass eine ihrer Aufgaben sein wird, Flüchtlingen bereits an Bord Fingerabdrücke abzunehmen, und zwar im Zweifel auch gegen ihren Willen? Alles, was Sie auf diese vielen Fragen entgegnen können, ist die zynische Rationalisierung des eigenen Versagens, Menschenleben zu retten. Das wird aus den Reihen der Union ganz deutlich. So wollen Sie die Abschaffung von Mare Nostrum, weil es angeblich Wasser auf die Mühlen der Schleuser ist. Was Schleusern aber tatsächlich zugutekommt, sind abgeschottete Land- und Seegrenzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das ist auch absolut klar. Denn je schwieriger es für Menschen wird, an den Zäunen vorbei über das Mittelmeer zu gelangen, desto lukrativer wird das Geschäft für diejenigen, die es betreiben, und desto gefährlicher und teurer wird es für die, die es in Anspruch nehmen müssen. Ich sage bewusst „müssen“, weil es kaum Möglichkeiten gibt, legal in die Europäische Union einzureisen, um hier Schutz zu beantragen. Man kann es noch plastischer machen. Unser Innenminister hat seine Amtskollegen überzeugt, Libyen beim Aufbau eines Grenzsystems zu unterstützen – welche Staatlichkeit gibt es dort eigentlich? –, obwohl man weiß, dass die libyschen Grenzbeamten schon seit langem mit Schleusern zusammenarbeiten. Aber Mare Nostrum soll Wasser auf die Mühlen von Schleusern sein? Das ist eine Verdrehung von Tatsachen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Peter Hintze: Denken Sie bitte an die Redezeit, Frau Kollegin. Sie haben sie schon überschritten. Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss. – Lassen Sie mich noch zwei Punkte ansprechen. Sie haben immer betont, dass man Menschen vor Ort helfen und die Situation in den Heimatländern verändern muss. Auch das ist richtig, aber dann frage ich mich, warum die humanitäre Hilfe so drastisch gekürzt wird, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass das Welternährungsprogramm seine Programme in Syrien um 40 Prozent kürzen muss. Das fehlt den Menschen vor Ort. Ich sage abschließend noch etwas zu unserem Abstimmungsverhalten. Auch wir haben nicht auf alles eine Antwort. Aber wir wollen konstruktiv an Lösungen arbeiten, Herr Bosbach, auch in der Frage legaler Einreisemöglichkeiten und einer anderen Verteilung innerhalb Europas. Wir haben Vorschläge gemacht. Unser Wunsch ist es, darüber zu einem Austausch zu kommen. Wir sind nicht mit der Linken einer Meinung, wenn sie einfach fordert, Frontex bzw. den Grenzschutz abzuschaffen, weil das eine unrealistische Forderung ist. Aber man kann Grenzschutz auch menschenrechtskonform gestalten, und das muss unsere Aufgabe sein. Bitte lasst uns uns in die Mitte bewegen und endlich daran arbeiten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Peter Hintze: Als Nächster erteile ich das Wort der Abgeordneten Nina Warken, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Nina Warken (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der Linken, um den es in der heutigen Debatte geht, blendet sämtliche Fortschritte der europäischen Asylpolitik aus, die in jüngster Vergangenheit erzielt wurden. Dazu zählen die Schaffung von gemeinsamen Standards für eine menschenwürdige Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern in Europa sowie Maßnahmen zur Beseitigung von Fluchtursachen und zur Bekämpfung von Schleuserkriminalität. Gefordert werden von den Linken stattdessen die Auflösung der Grenzschutzagentur Frontex, die Einführung eines sogenannten humanitären Visums, sodass Asylbewerber ihr Aufnahmeland frei wählen können, sowie ein Freizügigkeitsrecht für alle Asylberechtigten innerhalb der EU. Die Annahme dieser Forderungen würde nicht nur die Fortschritte der europäischen Asylpolitik zunichtemachen, sondern sie wäre auch keine Lösung für die Situation im Mittelmeer und damit ein völlig falsches Signal. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Auflösung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex würde das Ende jeglicher Grenz- und Migra-tionskontrolle bedeuten, was im Hinblick auf illegale Einreisen, Menschenhandel und Drogenkriminalität schlichtweg eine Katastrophe wäre, ganz zu schweigen von den zurückkehrenden Dschihadisten. Mit der Einführung eines sogenannten humanitären Visums könnte jeder, der auch nur vorgibt, schutzbedürftig zu sein, problemlos in die EU einreisen. Die Folge für uns in Deutschland wäre eine Vielzahl von Personen, denen unter keinem Gesichtspunkt ein Aufenthaltsrecht in der EU zusteht. Auch sie landen letztlich in unserem Asylsystem, wo sie die Kapazitäten in Anspruch nehmen, die eigentlich für Menschen gedacht sind, die in ihrer Heimat systematisch verfolgt werden und die tatsächlich jeden Tag um ihr Überleben bangen müssen. Auch die Bundeskanzlerin hat in diesem Zusammenhang am vergangenen Wochenende betont, es sei weniger christlich, „wenn wir zu viele aufnehmen und dann keinen Platz mehr finden für die, die wirklich verfolgt sind“. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Eine „tolle“ Argumentation!) Eine Auflösung von Frontex und die Einführung eines sogenannten humanitären Visums würden das schon heute vorhandene Problem des Asylmissbrauchs noch verstärken. Leittragende wären dann in erster Linie die tatsächlich Schutzbedürftigen. Hinzu kommt die Situation in unseren Kommunen. Es ist leicht, die Aufnahme von mehr und mehr Menschen zu fordern, wenn man sich keinerlei Gedanken darüber macht, wie die Konsequenzen vor Ort aussehen. Die Berichte aus unseren Landkreisen, Städten und Gemeinden sind schon jetzt alarmierend und häufen sich. Bei den Kapazitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen stehen viele Landkreise schon heute – ich zitiere mehrere Landräte – „mit dem Rücken zur Wand“. Daher dürfen wir die Folgen, die eine Annahme des Antrags der Linken hätte, unseren ohnehin mit der Unterbringung und Versorgung überforderten Kommunen nicht zumuten. Noch, meine Damen und Herren, noch herrscht bei uns in der Bevölkerung weitestgehend Solidarität mit den Flüchtlingen, die zu uns kommen. Das ist gut so; denn das ist wichtig. Auch ohne den Antrag der Linken müssen wir leider davon ausgehen, dass der Flüchtlingsstrom durch die vielen gewaltsamen Konflikte weltweit nicht so schnell abreißen wird. Wenn wir aber diese Solidarität nicht gefährden wollen, dann muss die Politik berechenbar und verlässlich bleiben. Dazu gehört auch, dass wir gewährleisten, dass bei abgelehnten Asylbewerbern der Aufenthalt zügig beendet wird. Der Antrag der Linken verfehlt das eigentliche Ziel einer solidarischen und humanen Flüchtlingspolitik vollkommen. Es kann uns doch nicht darum gehen, so viele Flüchtlinge wie möglich nach Europa zu holen. Stattdessen sollten wir uns darum bemühen, dass wir durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitstaaten die Fluchtursachen durch die Verbesserung der Bedingungen vor Ort beseitigen. (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was machen Sie da?) Beschlossene Maßnahmen wie die zusätzlichen Hilfsmittel von rund 640 Millionen Euro für die Anrainerstaaten Syriens, in denen viele Flüchtlinge Schutz gefunden haben, sind hier der richtige Weg. Nur so packen wir im Endeffekt das Problem bei der Wurzel. Die ganze Absurdität sieht man schon daran, dass in dem vorliegenden Antrag von „humanitär handelnden Fluchthelfern“ gesprochen wird. Das ist in meinen Augen geradezu zynisch. (Beifall bei der CDU/CSU) Denn die Schleuser handeln keineswegs aus humanitären Gründen, sondern aus reiner Profitgier. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Es gibt solche und solche! Das sollten Sie eigentlich wissen!) Wer das nicht sieht oder nicht sehen will, kann in der Asylpolitik nicht ernst genommen werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Linke spricht weiter von eklatanten Mängeln im gemeinsamen europäischen Asylsystem, fordert die Abschaffung des Dublin-Systems und stattdessen für jeden Asylbewerber die freie Wahl des Aufnahmestaates und ein Freizügigkeitsrecht innerhalb der EU. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Eine gute Forderung!) Auch diese Forderungen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, gehen völlig an der Realität vorbei; denn das Problem sind nicht – damit möchte ich zum Ende kommen – die bestehenden gemeinsamen Regelungen und Standards, sondern deren Umsetzung durch alle Mitgliedstaaten. Es kann doch nicht sein, dass von 28 EU-Mitgliedstaaten nur 10 überhaupt Asylbewerber aufnehmen. Hierunter sind es gerade die nördlichen Mitgliedstaaten – allen voran Deutschland –, wohin die Asylsuchenden gezielt weiterreisen. Die freie Wahl des Aufnahmelandes und die Freizügigkeit innerhalb der EU würden diesen Effekt der einseitigen Belastung einzelner Länder verstärken. Die Folge wäre, dass in einem solchen Fall die Hauptaufnahmeländer die Standards ihrer Asylsysteme deutlich reduzieren werden, um weniger Asylbewerber aufnehmen zu müssen. Es würde hier zu einem fatalen Abwärtswettlauf kommen. Dies wäre weder im Sinne einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik noch im Sinne der Betroffenen. Für ein gerechtes Asylsystem brauchen wir wirksame Grenzkontrollen, um die tatsächlich Schutzbedürftigen zu identifizieren und gleichzeitig zügig diejenigen in ihre Herkunftsländer zurückzuführen, denen kein Aufenthaltsrecht in Europa zusteht. Lassen Sie uns deshalb diesen Antrag, der in die völlig falsche Richtung geht, mit breiter Mehrheit ablehnen und damit dem Bundesinnenminister bei seiner Initiative auf europäischer Ebene für eine bessere Kontrolle der EU-Außengrenzen, für die Einhaltung der vereinbarten Regeln des gemeinsamen Asylsystems, für die Bekämpfung von Schleuserkriminalität und Menschenhandel sowie für eine bessere Verzahnung der europäischen Außen-, Flüchtlings- und Entwicklungspolitik gegenüber den Herkunfts- und Transitländern den Rücken stärken. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Tom Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen. Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bosbach – er ist jetzt schon nicht mehr da – hat vorhin gesagt (Max Straubinger [CDU/CSU]: Er kommt gleich wieder!) – na wunderbar –: Die Tragödie im Mittelmeer muss aufhören; das ist hier Konsens. – Das müsste auch Konsens sein, ist es aber nicht. Sie reden so – auch Frau Kampmann hat so geredet –, als wären Sie nicht in der Regierung. Die Italiener haben mit der Aktion Mare Nostrum etwas gegen das Sterben im Mittelmeer unternommen. Sie haben gesagt, dass sie europäische Hilfe brauchen; aber diese europäische Hilfe haben sie nicht bekommen. Jetzt sagt Herr Bosbach: Europa muss sich kümmern. – Ja, die Mitgliedstaaten müssen sich kümmern und sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wo war denn die deutsche Initiative, um die Dublin-Regeln abzuschaffen oder zu verbessern, Frau Kampmann? Das lag offenbar nicht im Interesse der deutschen Vertretung, und da wird dann nichts gemacht. Genau das ist das Problem. Und dann wird Frontex Plus erfunden. Als Ersatz für Mare Nostrum. Frontex ist in der Tat ein bürokratisches Monster. Dagegen tun Sie nichts. Das ist ein technisches, bürokratisches, militärisches Verfahren, das gleichzeitig die Flüchtlinge abschrecken und retten soll. Das geht nicht, und das wissen Sie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Am vergangenen Montag hat es der Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration, IOM, wieder gesagt: Keine Grenzschutzmission wird die Flüchtlinge dieser humanitären Katastrophen in der Welt aufhalten. Angesichts solcher Notlagen wie in Syrien, wie in Somalia, wie in Eritrea und wie im Irak wird es keinen geben, der diese Flüchtlinge aufhält. Es ist eine Illusion, zu glauben, irgendjemanden abschrecken zu wollen oder zu können. Deshalb stimmt es einfach nicht, dass Dublin II alternativlos ist. Kein bisschen! Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, aber auch von der SPD, Sie sollten nicht glauben, dass das, was wir da machen, nur auf die Flüchtlinge wirkt. Das wirkt auch auf uns, das wirkt auch auf die Bürgerinnen und Bürger der EU. Wo bleiben wir denn mit unserem Glauben an die europäischen Werte, mit unserem Glauben an die Menschenrechte? Triton ist nicht billig, Triton ist sehr teuer und kostet mehr als Geld. Wir können uns doch ein Beispiel an den Nachbarländern der Krisenherde nehmen. Die haben die Grenzen nicht zugemacht. Libanon hat die Grenzen nicht zugemacht, auch Irak macht die Grenzen nicht zu, Jordanien macht die Grenzen nicht zu. Auch in der schlimmsten Zeit haben Tunesien und Ägypten die Grenzen nicht zugemacht, obwohl dort ganz andere Zahlen von Flüchtlingen zu verzeichnen waren und obwohl diese Länder unter ganz anderen Verhältnissen Flüchtlinge aufnehmen müssen. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Abschließend: Wenn wir schon so kleinmütig sind, dass wir keinen Konsens finden, wie wir das Sterben im Mittelmeer beenden, wenn wir uns schon nicht trauen, irgendetwas an dem heiligen, alternativlosen Unwort des Jahres „Dublin-System“ zu ändern, dann sollten wir wenigstens die Nachbarstaaten der Krisenherde, die anders herangehen, großzügig durch humanitäre Hilfe unterstützen und nicht die entsprechenden Haushaltstitel kürzen bzw. schmälern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hier ist eine Führungsrolle angesagt. Wenn wir eine solche einnehmen wollen, wie es der Bundespräsident, die Verteidigungsministerin und der Außenminister immer wieder sagen, dann sage ich: Bei den Flüchtlingen könnten wir anfangen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Karamba Diaby, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Karamba Diaby (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir brauchen eine europäische Antwort; denn die Außengrenzen Europas liegen in europäischer Verantwortung. Als Menschenrechtspolitiker sage ich: Es besteht Handlungsbedarf. Daher freue ich mich, dass wir heute über europäische Flüchtlingspolitik diskutieren. Werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihr Antrag enthält mehrere Vorschläge, die zur Verbesserung der europäischen Flüchtlingspolitik beitragen können. Die Gemeinsamkeiten hat heute meine Kollegin der SPD Christina Kampmann und haben in der ersten Lesung mein SPD-Kollege Rüdiger Veit und meine SPD-Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler deutlich gemacht. Bezüglich der Probleme und des Handlungsbedarfs besteht ohne Zweifel über alle Fraktionen hinweg Einigkeit. Das Ziel einer solidarischen und humanen Flüchtlingspolitik teilen wir alle hier im Hause. Wir, die SPD-Fraktion, sind aber anderer Auffassung, was die Lösung dieser Probleme angeht. Der Antrag der Linken enthält neben einigen guten Ansätzen auch Vorschläge, die das Ziel verfehlen, wie beispielsweise die Forderung zur Abschaffung von Frontex. Sie stehen alleine mit dieser Forderung. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Nur hier! Außerhalb des Parlaments stehen wir damit nicht alleine!) Schließlich hat Frontex im Auftrag der EU eine wichtige ordnungspolitische Funktion. Daher unterstützt meine Fraktion Ihren Antrag nicht. Lassen Sie mich nun zu den diskussionswürdigen Ansätzen kommen. Wir brauchen für in Europa Asylsuchende Möglichkeiten der legalen und sicheren Einreise, damit sie nicht lebensgefährliche Wege gehen müssen. Ja, wir brauchen neben der Möglichkeit, als Hochqualifizierte nach Deutschland zu kommen, auch andere legale Wege. Ob wir dafür nun ein humanitäres Visum, wie die Grünen es vorschlagen, brauchen oder ob wir andere Wege gehen müssen, ist noch offen. (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann es auch anders nennen! Kein Problem!) Die Richtung stimmt aber. Im Gespräch zwischen dem Bundesinnenminister und dem Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration kam die Frage auf, ob es möglich sei, ein Willkommenszentrum in Nordafrika aufzubauen. Das ist keine neue Idee. Die Vorschläge zeigen aber, werte Kolleginnen und Kollegen, dass wir gemeinsam ernsthaft und konstruktiv an Möglichkeiten der legalen Einreise Asylsuchender arbeiten müssen. Damit komme ich zum Aspekt der Verantwortungsteilung innerhalb der Europäischen Union. Das Dublin-System ist dringend reformbedürftig; darin sind wir uns fast alle einig. Wir brauchen eine Flexibilisierung, um die Verantwortung für die Flüchtlinge fair und solidarisch in der Europäischen Union zu teilen. Bislang trägt Deutschland einen Löwenanteil, und das ist gut so. Auch die anderen europäischen Länder müssen ihrer Verantwortung nachkommen. Wir kennen die Vorschläge, wie eine solidarische Verantwortungsteilung in Europa aussehen könnte. Dabei können ähnlich dem Königsteiner Schlüssel Quoten für jedes Mitgliedsland berechnet werden. Die Einwohnerzahl, die Wirtschaftskraft, teilweise auch die Flächengröße und die Arbeitslosenquote werden einbezogen. Dabei dürfen wir die Erfahrung der Länder mit Vielfalt und Einwanderung nicht vergessen. Neben angemessenen Quoten für die europäischen Staaten dürfen wir die Wünsche der Flüchtlinge nicht ignorieren. Aspekte wie Verwandtschaftsbeziehungen, Sprachkompetenzen und Ähnliches erleichtern die Teilhabe und Integration vor Ort. Auch das sollte in diesem Prozess berücksichtigt werden. Wir brauchen natürlich auch vergleichbare Standards in allen europäischen Ländern, was die Verfahren angeht – das wurde von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern gesagt –, angefangen bei der Registrierung über die Verfahrensdauer bis hin zu den Schutzquoten. So wie es jetzt ist, darf es nicht bleiben: (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE] und Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) unterschiedliche Schutzquoten, je nachdem, wo der Asylantrag gestellt werden kann, wohlgemerkt bei gleichen Herkunftsländern. Wir dürfen in Europa keine Anreize für die Mitgliedstaaten schaffen, ihre Standards in der Asylpolitik zu senken. Ansonsten wird der Druck auf die Länder steigen, die ein hohes Niveau an Schutzquoten und Sozialstandards bieten, und das ist nicht mein Verständnis von einem solidarischen Europa. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir alle wissen: Nur ein Bruchteil der Rückführungen von Flüchtlingen kann stattfinden; denn noch immer gibt es Menschenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen in den europäischen Grenzstaaten. Hier spreche ich vor allem von Griechenland und Italien; das ist nicht neu. Gerade erst hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geurteilt, dass Flüchtlinge nur dann nach Italien zurückgeschickt werden dürfen, wenn das Land eine menschenrechtskonforme Unterbringung und Sozialleistungen gewährleistet. (Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dieses Urteil wird weitreichende Konsequenzen haben: für das italienische und das europäische Asylsystem. Das Urteil legt den Finger in die Wunde. Nächster Aspekt, meine Damen und Herren: Das deutsche Resettlement-Programm für Flüchtlinge aus dem syrischen Krisengebiet ist gut. Die Bundesländer und der Bund haben in gemeinsamer Anstrengung mehr als 20 000 Flüchtlinge zusätzlich zu den normalen Asylverfahren aufgenommen, und das ist gut so. Ralf Jäger, Vorsitzender der Innenministerkonferenz, hat recht, wenn er sagt: Statt sich hinter Stacheldraht zu verschanzen, brauchen wir ein gesamteuropäisches Aufnahmeprogramm, das den Menschen schnell und wirksam hilft. Den Appell von dort möchte ich wiederholen: Auch die anderen europäischen Länder sollten sich stärker für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge engagieren. Der Bürgerkrieg in Syrien, meine Damen und Herren, ist eine der größten humanitären Krisen unserer Zeit. Syriens Nachbarstaaten bieten Flüchtlingen in bemerkenswerter Zahl Schutz und vorübergehend Heimat. Dafür brauchen sie unsere Unterstützung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Daher ist es gut, dass wir bislang etwa 130 Millionen Euro an humanitärer Hilfe leisten und perspektivisch 500 Millionen Euro insgesamt in den nächsten drei Jahren für die Region bereitstellen. Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich Danke sagen. Ich freue mich über die große Hilfsbereitschaft in Deutschland. Es gibt unzählige Ehrenamtliche, die Verantwortung übernehmen und den traumatisierten Flüchtlingen das Ankommen erleichtern. Ich möchte ihnen danken. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Peter Hintze: Das wäre an sich ein sehr schöner Schluss, Herr Kollege, zumal die Zeit schon weit überschritten ist. Dr. Karamba Diaby (SPD): Mein letzter Satz, Herr Präsident. – Wir in diesem Hause können zwar politische Rahmenbedingungen setzen; das Miteinander lebt aber von der aktiven Bürgergesellschaft. Danke schön. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Peter Hintze: Ab und zu ein Blick auf die Zeit, das wäre solidarisch mit allen Anwesenden. Ich rufe als nächste Rednerin die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion, auf. (Beifall bei der CDU/CSU) Andrea Lindholz (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Grundanliegen des vorliegenden Antrags ist absolut richtig: Das Sterben im Mittelmeer muss beendet werden. Trotzdem lehne ich den -Antrag ab; denn er basiert auf einer falschen Problemanalyse, er ignoriert die tatsächlichen Fluchtursachen, und er zieht kurzsichtige Schlussfolgerungen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es doch besser!) Ein Großteil der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa strömen, stammt aus Syrien und Eritrea. Aus diesen Ländern stammt ein Drittel der Asylanträge in Deutschland. Die Menschen fliehen vor Krieg, vor dem IS-Terror, vor Diktatoren wie Assad in Syrien und Afewerki in Eritrea. Diese zentralen Fluchtursachen erwähnt der Antrag aber mit keinem Wort. Stattdessen werden der Freihandel, die EU und vor allen Dingen die Bundesregierung als Problem hingestellt. Diese Problem-analyse des Antrags kann nur zu falschen Schlussfolgerungen führen. (Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU]: So ist es!) In diesem Jahr werden voraussichtlich über 200 000 Asylanträge in Deutschland gestellt. Die Schutzquote des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge beträgt derzeit fast 30 Prozent. Angesichts dieser Fakten wirkt der Vorwurf einer Abschottungspolitik in Deutschland absurd. Allein 60 000 Flüchtlinge aus Syrien wurden bereits aufgenommen, Tendenz stark steigend. Die Bundesregierung engagiert sich zudem massiv mit Blick auf die Fluchtursachen vor Ort. Deutschland hat allein in den letzten zwei Jahren 635 Millionen Euro bereitgestellt, um die Flüchtlingskrise rund um Syrien einzudämmen. Weitere 500 Millionen Euro wurden zugesagt. Der UNO-Flüchtlingskommissar Guterres lobte Deutschland kürzlich – ich zitiere ihn –: Deutschland spielt eine führende Rolle beim Flüchtlingsschutz und dient als positives Beispiel, dem andere europäische Staaten folgen können. (Beifall bei der CDU/CSU) Das sagen nicht wir, das sagt nicht die Bundesregierung. Vizepräsident Peter Hintze: Frau Kollegin, Kollege Liebich von der Fraktion Die Linke möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Mögen Sie sie zulassen, oder möchten Sie weitersprechen? Andrea Lindholz (CDU/CSU): Bitte. Vizepräsident Peter Hintze: Herr Abgeordneter Liebich. Stefan Liebich (DIE LINKE): Vielen Dank. – Frau Kollegin, dass Sie uns nicht recht geben, ist sehr bedauerlich. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Aber nachvollziehbar!) Deswegen möchte ich auf eine Äußerung einer Ihrer Kolleginnen verweisen. Ihre Kollegin Dagmar Wöhrl hat kürzlich ein Flüchtlingslager in Nürnberg besucht. Sie hat gesagt, sie schäme sich für die Politik der Bayerischen Staatsregierung, weil die Bayerische Staatsregierung nicht rechtzeitig verantwortungsbewusst gehandelt habe. Am Mittwoch war Bundesentwicklungsminister Gerd Müller im Auswärtigen Ausschuss zu Gast. Auch er hat gesagt, Deutschland müsse mehr tun. Er hat auf eine Stadt in Jordanien verwiesen, die er kürzlich besucht hat, die 60 000 Einwohner hat und 100 000 Flüchtlinge aufgenommen hat. Wenn Sie also unsere Vorschläge nicht teilen, dann möchte ich gerne wissen, was Sie auf diese Hinweise hin tun möchten. Andrea Lindholz (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Kollege, wenn ich Ihnen dazu antworten darf: Mit Blick darauf, was unsere bayerischen Kommunen derzeit leisten – und als ehemalige stellvertretende Landrätin weiß ich das –, kann ich Ihnen nur -sagen: Bayern tut viel, und Bayern tut mehr als alle anderen Bundesländer. (Lachen des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dieser massive Zustrom, der insbesondere auch dadurch bedingt ist, dass die Flüchtlinge von Italien ungehindert nach Bayern durchgewunken werden, war so nicht absehbar. Nichtsdestotrotz gab es Missstände, die eingeräumt wurden, die aber auch ausgeräumt werden. Wir in Bayern tun sehr viel für die Flüchtlinge. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aber was denn?) – Ich habe es gerade dargestellt. Es geht nicht einfach nur darum, die Menschen vor Ort unterzubringen; es geht zum Beispiel auch darum, die Kinder einzuschulen. Die Menschen werden bei uns in Bayern aufgenommen und ordnungsgemäß untergebracht, und zwar in vielen bayerischen Kommunen. Wenn Sie hier sagen, die bayerische Politik wäre verantwortungslos hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen, (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Frau Wöhrl hat das gesagt!) dann weise ich das mit aller Entschiedenheit zurück. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist ein Schlag gegen alle ehrenamtlichen Helfer, alle Bürgermeister, alle Landräte, alle Stadträte und alle, die mit dieser Problematik befasst sind. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das war Frau Wöhrl!) Ich stehe heute für die CSU hier, die Sie angegriffen haben. Ich nehme das, was Dagmar Wöhrl gesagt hat, zur Kenntnis. Ich habe Ihnen gesagt, dass die Mängel, die es in Bayern gab, abgestellt wurden bzw. noch werden. Ich hoffe, dass das auch in allen anderen Bundesländern der Fall ist. Zu Ihrer zweiten Bemerkung, zu Herrn Müller: Ich weiß, dass wir noch mehr tun müssen. Aber vielleicht lassen Sie mich meine Rede erst einmal zu Ende bringen. (Beifall bei der CDU/CSU – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist die Antwort?) Vizepräsident Peter Hintze: Noch eine Zwischenfrage, eine Zwischenfrage des Kollegen Max Straubinger. (Abg. Max Straubinger [CDU/CSU] erhebt sich) – Moment, wir müssen erst fragen, ob sie sie zulässt. Andrea Lindholz (CDU/CSU): Ja, ich lasse sie zu. Vizepräsident Peter Hintze: Das weiß man unter Parteifreunden nicht immer. (Heiterkeit) Bitte schön. Max Straubinger (CDU/CSU): Frau Kollegin Lindholz, würden Sie bestätigen (Heiterkeit bei der SPD) oder können Sie bestätigen, dass die Bayerische Staatsregierung im Gegensatz zur Landesregierung in Nordrhein-Westfalen die Kommunen nicht hängen lässt, (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sondern deren Kosten voll übernimmt? Andrea Lindholz (CDU/CSU): Lieber Kollege Straubinger, ich habe in meiner Antwort gerade schon versucht, zu sagen, dass Bayern mehr tut als viele andere. Ich hoffe, dass auch andere Länder, in denen noch Defizite bestehen, nachziehen. Aber es geht heute meines Erachtens nicht darum, irgendwelche Schuldzuweisungen vorzunehmen, sondern darum, uns der Lösung der Probleme zu widmen. Ich merke, jetzt rennt mir die Redezeit davon. Ich fahre jetzt mit meiner Rede fort. Vizepräsident Peter Hintze: Frau Kollegin, ich hatte vergessen, die Uhr anzuhalten. Sie bekommen für Straubinger gleich noch eine Minute extra. (Heiterkeit) Andrea Lindholz (CDU/CSU): Ich möchte an dieser Stelle das Lob und den Dank des UNO-Flüchtlingskommissars, den ich gerade zitiert habe, an die Menschen vor Ort weitergeben, an die Helfer in den Flüchtlingslagern, aber auch bei uns in den Kommunen, an die Organisationen und vor allem auch an die vielen ehrenamtlich Engagierten. Es ist eine großartige Leistung, die die Menschen in Deutschland derzeit vollbringen. Es ist unsere Aufgabe, die Akzeptanz für unser Asylsystem und diese überwältigende Hilfsbereitschaft der Menschen zu erhalten, um anderen am rechten Rand keine Chance zu geben. Wir müssen daher alles daransetzen, damit unsere Kräfte nicht überstrapaziert werden. Es geht, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, nicht nur darum, einfach Menschen in einer großen Vielzahl zu uns zu holen, sondern es geht auch um eine gute Versorgung und Unterbringung vor Ort. Dazu gehört mehr als ein Dach über dem Kopf. Dazu gehören Beschulung, Integration, Sprachkurse und vieles mehr. (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprachkurse, ganz genau!) Ihr Antrag fordert, Europa solle die Steuerung von Migration aufgeben, seine Grenzen öffnen und jedem ein Visum gewähren. Das können wir nicht leisten. Die Fluchtursachen würden damit auch nicht behoben. (Beifall bei der CDU/CSU) Es gibt heute so viele Flüchtlinge auf der Welt wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die UN rechnen mit über 50 Millionen Vertriebenen. Europa verspricht den Menschen Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Natürlich versuchen daher viele, zu uns zu kommen. Die italienische Marine hat laut der Internationalen Organisation für Migration innerhalb eines Jahres rund 150 000 Flüchtlinge mit militärischen Mitteln gerettet. Im gleichen Zeitraum wurden aber auch 3 200 Todesfälle registriert. Das sind fünfmal so viele Fälle wie im Jahr vor Mare Nostrum. Auch diese Mission konnte das Sterben nicht verhindern. (Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und deshalb stellen wir sie ein?) Laut Frontex steigen allein in Libyen jede Woche bis zu 4 000 Flüchtlinge in ein Boot nach Europa. Eine flächendeckende Überwachung ist trotz der militärischen Mittel von Mare Nostrum angesichts der riesigen Fläche nicht möglich. Mare Nostrum wird zurückgefahren, und wir müssen genau beobachten, ob Frontex im Rahmen der Mission Triton unsere humanitären Verpflichtungen auf dem Mittelmeer erfüllen kann. Können sie nicht erfüllt werden, müssen wir meines Erachtens nachsteuern. Letztendlich kann das Sterben auf dem Mittelmeer aber nur beendet werden, wenn wir verhindern, dass die Menschen überhaupt in Boote steigen. Dabei stellen sich für uns drei zentrale Herausforderungen: Erstens müssen wir Transitländer wie Libyen und Ägypten unterstützen, um den menschenverachtenden Schleuserbanden das Handwerk zu legen. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Da geht es ja auch so menschlich zu!) Der italienischen Marine fehlen die dafür notwendigen polizeilichen Befugnisse, die Frontex hat. Zweitens muss Europa seine Mittel stärker bündeln, um die Fluchtursachen effektiver zu bekämpfen. Unsere Innenpolitik muss stärker mit der Außen- und Entwicklungspolitik der EU verknüpft werden. Die EU ist mit Abstand der weltweit größte Geldgeber bei der Entwicklungshilfe. Ein gezielter Einsatz dieser Mittel kann -substanziell zur Stabilisierung der Anrainerstaaten, wie zum Beispiel Libanon, beitragen; denn die meisten dort untergekommenen Flüchtlinge wollen zurück in ihre Heimat, sobald es ihnen möglich ist. Drittens muss endlich die Blockade im europäischen Asylsystem gelöst werden. Wir brauchen ein faires und solidarisches Asylsystem in Europa, das diesen Namen auch verdient. Es gibt dafür bereits alle erforderlichen Regelungen. Europa muss das bestehende Regelwerk nur richtig umsetzen und praxistauglich machen. Länder wie Italien und Griechenland fordern unsere Unterstützung beim Schutz der Außengrenzen. Gleichzeitig ignorieren sie aber zentrale Regeln des Asylsystems. Auf Deutschland entfallen heute über 30 Prozent aller Asylanträge in Europa, während auf Italien trotz des großen Zustroms nur rund 10 Prozent entfallen. Warum ist das so? Italien ignoriert zum Beispiel zentrale Regeln und europäische Standards für die humanitäre Versorgung von Flüchtlingen. Das können und dürfen wir nicht zulassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Solidarität in der EU darf keine Einbahnstraße sein. Alle Flüchtlinge müssen direkt nach der Einreise in die EU registriert werden, so wie es die Dublin Verordnung festlegt. Erst dann kann, liebe Kolleginnen und Kollegen, die es schon angesprochen haben, ein notwendiges europäisches Quotensystem installiert werden, an dem sich alle EU-Staaten solidarisch beteiligen müssen. Deutschland hat bereits Sonderprogramme für syrische Flüchtlinge aufgelegt. Diesem Beispiel sollte -Europa endlich folgen. Mit der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen gibt es dafür in Europa bereits eine Rechtsgrundlage. Alle EU-Staaten müssen sich der langfristigen Folgen der Fluchtursachen bewusst werden und den Sinn eines praxistauglichen europäischen Asylsystems anerkennen. Deutschland alleine als mahnende Stimme reicht hierfür nicht aus. Die komplette Auflösung der bestehenden Regelungen des Asylsystems, sehr geehrte Damen und Herren von der Linken, wie sie Ihr Antrag fordert, bietet keine Lösung. Sie wäre ein klarer Rückschritt. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Peter Hintze: Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich das Wort dem Abgeordneten Frank Heinrich, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr dankbar, dass alle Fraktionen es unterstützen, dass in dieser Debatte, die eine innenpolitische Debatte ist, auch die menschenrechtlichen Aspekte eine große Rolle spielen. Die letzte Stunde hat das sehr deutlich gemacht. Ich habe ein Symbol mitgebracht, ein Symbol für mich: ein Liederbuch aus dem Norden Nigerias. Vor 14 Tagen fand ich es in einer zerstörten Kirche in einem zerstörten Dorf in einem Haufen von Müll. Die Bewohner wurden am 24. und 26. August vertrieben. Das letzte Mal war dort Gottesdienst Ende August. Warum dieses Symbol und die Erinnerung an dieses Erlebnis? Es steht dafür, dass ganz viele Menschen – einige Kollegen haben es gesagt – vor realen, lebens-bedrohlichen Gefahren auf der Flucht sind. In Nigeria ist es zumeist Binnenflucht; das ist nur ein Beispiel. Wir kennen die Folgen des IS und wissen von den vielen Vertriebenen. Wir wissen von den Krisen in anderen Staaten. Herr Bosbach hat es gerade gesagt: Terror, brutale Verhältnisse, Tragödien, Dinge, die uns zum Weinen bringen müssen, sind Ursachen, warum sich Menschen auf den Weg, auch auf den Weg nach Europa, machen. Eine humane und dem Grundgesetz entsprechende Flüchtlingspolitik darf Menschen allerdings nicht einfach unter den Generalverdacht stellen, dass sie Wirtschaftsflüchtlinge seien. Humanität ist mehr, als nur Grenzen zu ziehen. Allerdings darf ein verantwortungsvoller Antrag – das geht an die Adresse der Linken, die den Antrag eingebracht hat – auch nicht die EU oder die Bundesrepublik einfach unter Generalverdacht stellen und kritisieren, dass sie Ignoranz und Ablehnung an den Tag legen würden. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Was ist denn mit Mare Nostrum?) Das Wort „Massensterben“ in der Überschrift Ihres -Antrages ist für mich billige Polemik, und das ist nicht hilfreich für diejenigen, über die wir heute sprechen. Massen sterben in Kriegen und humanitären Katastrophen, zum Beispiel – das wurde gerade gesagt – in -Syrien, im Norden des Iraks, in Liberia, in Zentralafrika und in vielen anderen Krisengebieten. Nicht die EU-Politik, wie Sie es gesagt haben, Frau Jelpke, treibt die Menschen in den Tod. Ganz im Gegenteil: Die Hilfe für Flüchtlinge rettet Leben. Dennoch sind die Flüchtlingszahlen – wir haben es gehört – gestiegen und werden angesichts der Weltlage wahrscheinlich weiter steigen. Die italienische Regierung spricht von 150 000 Bootsflüchtlingen allein in diesem Jahr. Das Bootsunglück von Lampedusa im Oktober letzten Jahres, das schon angesprochen wurde, bei dem 390 Tote zu beklagen waren, hat die Debatte ausgelöst. Auch aktuell gab es Meldungen bei Spiegel Online – Sie haben es wahrscheinlich verfolgt –: im Schwarzen Meer Dutzende Flüchtlinge, 24 Leichen, einige davon Kinder. Am 10. September sind in der Nähe von Malta rund 500 Menschen ertrunken. Seit Jahresbeginn kamen je nach Schätzung 2 500 bis 3 000 Menschen bei ihrer Flucht über das Mittelmeer ums Leben. Aber auch auf anderen Fluchtwegen sind Todesfälle zu verzeichnen, zum Beispiel auf den Wegen durch die Sahara. Deshalb müssen wir – das haben alle betont – die -Anstrengungen erhöhen. Jeder einzelne Tote an den Grenzen der EU und auf dem Mittelmeer ist einer zu viel. Wir wollen und wir werden – einige Begründungen haben Sie schon gehört – unsere Verantwortung wahrnehmen. Dies ist in letzter Zeit in Deutschland, auch in der Gesetzgebung, schon passiert. Neben den genannten Einsätzen des THW und der Erhöhung der Mittel – Frau Kampmann, Sie haben darauf hingewiesen – gibt es Bestrebungen, das Asylrecht zu verändern. Die Residenzpflicht wird gelockert, Asylbewerber dürfen früher arbeiten, es gibt den Vorrang von Geldleistungen. Was ist noch passiert? Es wurde vorhin das Lob des Flüchtlingskommissars Guterres zitiert, das er uns -ausgesprochen hat, was insbesondere die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen angeht. Wir haben die Quote weit übererfüllt. Das muss uns nicht nur mit Stolz erfüllen. Aber, wie mein Kollege Bosbach gesagt hat, man darf im Nebensatz auch einmal sagen, was hier schon alles passiert. (Beifall bei der CDU/CSU) Allerdings sind wir in diesem Konzert nicht alleine; wir sind als EU unterwegs. Hier müssen schon noch -einige Dinge getan werden, zum Beispiel ein besseres Programm zur Rettung der Seeflüchtlinge. Dass Mare Nostrum in Triton übergeht, ist ein guter Schritt. Aber Aufstockung, Verifizierung und Ausweitung sind notwendig. Schleuserbanden muss das Handwerk mit all unseren Möglichkeiten gelegt werden. An dieser Stelle kann ich es nicht anders sagen: Es kommt mir hoch, wenn ich höre, dass auf dem Rücken der Verletztesten in unserer Welt Geld gemacht wird und Sie diese Personen auch noch als Helfer bezeichnen. Eine Vereinheitlichung der humanitären Standards, etwa bei der Unterbringung und den Rechtsverfahren, halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Ich bin sehr nah bei Ihrem Vorschlag, liebe Kollegen von der SPD, eine feste EU-Quote für die Aufnahme von Flüchtlingen in Verbindung mit einem möglichen Finanzausgleich einzuführen. Darum werden wir den Antrag ablehnen: rein sachlich wegen der Polemik, die weit über das vernünftige Maß in einer Auseinandersetzung hinausgeht, und wegen der unsinnigen Schuldzuweisungen darin, wegen der Verknüpfung mit Kritik an der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik, (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Schicken Sie keine Waffen in die ganzen Krisenländer?) nicht zuletzt, weil wir der Abschaffung von Frontex nicht zustimmen können, da dies die Sicherheit an den Grenzen tatsächlich beeinträchtigen würde, die gerade von mir emotional angesprochene Tätigkeit der Schleuser eher begünstigen und eine Kontrollierbarkeit ausschließen würde. Zum Ende noch einmal zum Symbol dieses Liederbuchs. Das vorrangige Ziel von Politik, auch bei uns, muss sein, dass Menschen – in diesem Fall in Nigeria, aber auch in vielen anderen Ländern – in Frieden ihre Lieder singen und ihre Gebete sprechen können, sei es in einer Synagoge, in einer Moschee oder in einer Kirche. Dafür stehen wir unter anderem: für Humanität. Wir engagieren uns mit humanitärer Hilfe vor Ort und in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit; Sie haben es genannt. Solidarität und Humanität müssen sich am Schluss in der partnerschaftlichen Zusammenarbeit und der Übernahme von Verantwortung in Krisen erweisen. Da bin ich ganz bei dem Satz, den Sie, Frau Kampmann, gesagt haben: Lassen Sie uns da noch die eine oder andere Schippe drauflegen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Peter Hintze: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Das Massensterben an den EU-Außengrenzen beenden – Für eine offene, solidarische und humane Flüchtlingspolitik der Europäischen Union“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2946, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/288 abzulehnen. Wer für die Beschlussempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 c auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG Drucksache 18/2953 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht Drucksache 18/2954 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss Digitale Agenda c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulle Schauws, Katja Keul, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Artikel 36 der Istanbul-Konvention umsetzen – Bestehende Strafbarkeitslücken bei sexueller Gewalt und Vergewaltigung schließen Drucksache 18/1969 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 i sowie den Zusatzpunkt 2 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 37 a: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Änderung mautrechtlicher Vorschriften hinsichtlich der Einführung des europäischen elektronischen Mautdienstes Drucksache 18/2656 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) Drucksache 18/2988 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/2991 Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2988, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2656 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen zu erheben. – Wer dagegen stimmt, möge bitte aufstehen. – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 37 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 15 vom 24. Juni 2013 zur Änderung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Drucksache 18/2847 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/3072 Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3072, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2847 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ohne Enthaltung angenommen worden. Tagesordnungspunkt 37 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Änderung der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immis-sionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung – 16. BImSchV) Drucksachen 18/2849, 18/2931, 18/3065 Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3065, auf eine Änderung oder Ablehnung der Verordnung auf Drucksache 18/2849 zu verzichten. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ohne Enthaltung angenommen worden. Tagesordnungspunkt 37 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Übersicht 3 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht Drucksache 18/2921 Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit Zustimmung aller Fraktionen ohne Gegenstimme oder Enthaltung angenommen worden. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 37 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 103 zu Petitionen Drucksache 18/2889 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Sammelübersicht 103 mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 37 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 104 zu Petitionen Drucksache 18/2890 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Sammelübersicht 104 mit Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 37 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 105 zu Petitionen Drucksache 18/2891 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Sammelübersicht 105 mit den Stimmen aller Fraktionen ohne Gegenstimmen und Enthaltungen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 37 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 106 zu Petitionen Drucksache 18/2892 (neu) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Sammelübersicht 106 mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen worden. Tagesordnungspunkt 37 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 107 zu Petitionen Drucksache 18/2893 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 107 ist damit angenommen worden mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ohne Enthaltung. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Walter-Rosenheimer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämpfen – Stopp des Programms MobiPro-EU sofort aufheben Drucksachen 18/1343, 18/1531 Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1531, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1343 abzulehnen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung ab. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber so was von!) bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen worden. Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haltung der Bundesregierung zu den alarmierenden Ergebnissen des Weltklimaberichts und dem Handlungsbedarf für mehr Klimaschutz Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Oliver Krischer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen hat der Weltklimarat seinen zusammenfassenden Bericht vorgelegt, der zwei zentrale Botschaften enthält. Die eine Botschaft ist: Der Klimawandel schreitet voran, und zwar viel stärker, als es die Forscher noch vor wenigen Jahren erwartet hätten. Es ist längst klar: Wir können eigentlich nicht mehr, wie es auf dem Bericht vorne draufsteht, vom Klimawandel reden, sondern wir müssen von der Klimakatastrophe sprechen. Diese Katastrophe findet nicht nur irgendwo in der Arktis statt. Sie findet ganz real auch bei uns hier in Deutschland statt. 2014 wird wahrscheinlich das Jahr werden, das als das wärmste in die Geschichte der Wetteraufzeichnung eingeht. Die sogenannten Jahrhundertfluten kommen inzwischen alle fünf Jahre, also in immer schnellerer Folge, und verursachen Milliardenschäden. Die zweite Botschaft des Weltklimarates ist positiv. Wir können, wenn wir wollen, das Schlimmste noch verhindern, wenn wir konsequent handeln, wenn die Weltgemeinschaft etwas unternimmt. Das Allerbeste ist: Sie muss dafür weniger als 0,1 Prozent des Weltbruttoinlandsprodukts, der Wertschöpfung, aufwenden, um den Klimawandel aufzuhalten. Das bietet eine riesige Chance für Entwicklung und Wohlstand auf der ganzen Welt. Diese positive Botschaft sollten wir aufgreifen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dass es bis heute noch kein globales Klimaschutzabkommen gibt, liegt daran, dass es viele nationale Egoismen gibt. Wenn wir endlich vorankommen wollen, dann braucht es Vorreiter, die die Sache in die Hand nehmen. Man kann es nicht anders sagen: Deutschland war über viele Jahre hinweg Vorreiter, angefangen – und ich hätte nicht gedacht, dass ich das hier einmal sage – bei Helmut Kohl über die rot-grüne Bundesregierung bis hin zur letzten Großen Koalition. (Frank Schwabe [SPD]: Sigmar Gabriel!) Wir erinnern uns alle daran, wie Angela Merkel und Sigmar Gabriel in schönen roten Anoraks vor Gletschern standen. Von da an ging es mit dem Klimaschutz in Deutschland nur noch bergab. Die Anoraks sind längst in der Abfallmitverbrennung in einem Braunkohlekraftwerk zu CO2 verbrannt worden; diese Geschichte ist vorbei. Deutschland ist schon lange kein Vorreiter mehr. Wir haben Jahre des Nichthandelns, des Stillstandes und des Rückschrittes erlebt. Die Bundesregierung steht vor dem Scherbenhaufen ihrer Klimapolitik. Es sieht ganz so aus, dass wir das Klimaschutzziel, die Verringerung der Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent, krachend verfehlen werden. Das liegt vor allen Dingen daran, dass die Emissionen aus dem Energiesektor immer weiter steigen, weil Uraltkraftwerke und Kohlekraftwerke rund um die Uhr laufen, weil wir im Wärmebereich nur in Trippelschritten vorankommen. Mit Klimaschutz in der Verkehrspolitik haben wir noch gar nicht angefangen. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft steigen auch die Emissionen in diesem Sektor immer weiter. Hätten wir nicht die Wall-Fall-Profits – das ist der Rückgang der CO2-Emissionen durch den Niedergang der DDR-Wirtschaft, Stichwort „25 Jahre Mauerfall“ – und hätten wir nicht das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das Sie vor der Sommerpause noch verstümmelten, dann wären Deutschlands Emissionen gegenüber 1990 noch gestiegen. Das ist die Bilanz. Wir stehen vor einer schwierigen Situation. Aber Sie liefern keine Antworten auf die drängenden Fragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) Ich kann nur sagen: Ich finde es absolut zynisch, dass Sie trotz der schlechten Bilanz und der vor uns stehenden Herausforderungen die Vorlage des Weltklimaberichtes dafür nutzen, eine Debatte darüber anzustoßen, ob man das Ziel nicht streichen solle nach dem Motto „Wir schaffen es nicht, dann canceln wir das ganze Ziel“. Nun schicken Sie Herrn Homann, den Präsidenten der Bundesnetzagentur, vor, um die Reaktion der Öffentlichkeit auf einen solchen Vorschlag zu testen. Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, liebe Frau Hendricks, ich kann Ihnen nur eines sagen: Wenn Sie das Klimaschutzziel 2020 beerdigen, dann ist das nicht nur der Abschied von der Vorreiterrolle – die ist schon lange weg –, dann ist das das Ende jeder Klimaschutzpolitik in Deutschland. Das müssen Sie sich dann ins Stammbuch schreiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eines ist klar: Man könnte handeln. Es gäbe in Deutschland die Möglichkeit, das Klimaschutzziel bis 2020 noch zu erreichen. Dazu müsste man das „dreckige Dutzend“, die schmutzigsten Kohlekraftwerke aus den 1960er-Jahren, die im Moment rund um die Uhr laufen, abschalten. Die Möglichkeiten dazu haben Sie. Das wäre im Sinne der Energiewende und im Sinne eines modernen Strommarktes erforderlich, um der klimafreundlichen Kraft-Wärme-Kopplung, den Gaskraftwerken und dem Bereich der erneuerbaren Energien eine Chance zu geben. Diesbezüglich kommt von Ihnen aber gar nichts. Ich erwarte, dass das Maßnahmenprogramm, das einst mittelfristiges Sofortprogramm hieß, das dann den Namen geändert hat und vielleicht irgendwann im Dezember kommt, klare Vorschläge enthält. Ich erwarte, dass wir in diese Richtung gehen und die schmutzigsten Kohlekraftwerke endlich vom Markt nehmen. (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vor allen Dingen – das ist das Allerwichtigste – sollten Sie Klimaschutz endlich als Chance begreifen. Es geht um Effizienz, Nachhaltigkeit und grüne Wirtschaft. Mit grüner Wirtschaft schwarze Zahlen schreiben, das ist die Zukunft. Der Klimaschutz liefert uns die richtige Vorlage dafür. Darauf müssen Sie sich einstellen. Auf diesem Gebiet müssen Sie Maßnahmen liefern. Frau Hendricks, ich erwarte, dass das, was am 3. Dezember 2014 endlich vorgelegt werden soll, mit konkreten Maßnahmen hinterlegt ist, damit wir das Klimaschutzziel erreichen. Eine Aufgabe des Klimaschutzziels wäre eine Versündigung am Weltklima. Vizepräsident Peter Hintze: Herr Kollege. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wäre eine Versündigung an der nachhaltigen Wirtschaft. Das wäre eine Versündigung an unseren Kindern und Enkeln. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Peter Hintze: Das Präsidium hat Milde walten lassen, aber es wäre ganz gut, wenn wir alle darauf achten würden, die Vereinbarungen zur Aktuellen Stunde, auch was die Redezeiten angeht, liebevoll und solidarisch einzuhalten. Als nächster Rednerin erteile ich das Wort Dr. Anja Weisgerber von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Als Umweltpolitikerin bin auch ich der Meinung, dass Klimaschutz ein sehr wichtiges Thema ist. Aber ich halte es nicht für zielführend – das möchte ich an dieser Stelle auch ganz klar sagen –, dass das Thema in jeder Sitzungswoche auf die Tagesordnung gesetzt wird, heute unter dem Motto: Haltung der Bundesregierung zu den alarmierenden Ergebnissen des IPCC-Rates. Dazu muss ich erst einmal Folgendes sagen: Das ist kein neuer IPCC-Bericht, sondern das ist eine Zusammenfassung für die Entscheidungsträger, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich auch gesagt! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind aber die Entscheidungsträger!) und die Haltung der Bundesregierung ändert sich nicht von Woche zu Woche. Derzeit arbeitet die Bundesregierung mit uns zusammen an einem Klimaschutz-Aktionsprogramm. Dieses Klimaschutz-Aktionsprogramm wird am 3. Dezember 2014 im Kabinett verabschiedet, rechtzeitig vor der Lima-Konferenz. Darin werden CO2-Minderungspotenziale in allen Sektoren aufgezeigt und konkrete Handlungsmaßnahmen vorgeschlagen. Das ist doch nicht mehr lange hin. Warten Sie das doch erst einmal ab. Das sind unsere Antworten auf den IPCC-Bericht. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt viel zu tun! Warten wir es ab!) Seit der letzten Debatte ist etwas Positives passiert: Ende Oktober haben die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten verbindliche Klimaziele beschlossen. Die Tatsache, dass sich 28 EU-Mitgliedstaaten auf ambitionierte Klimaziele einigen, ist einzigartig in der Welt. Wir sind damit die Ersten. Was wurde erreicht? Es wurde beschlossen, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 40 Prozent im Verhältnis zu 1990 zu reduzieren, den Anteil der erneuerbaren Energien EU-weit auf mindestens 27 Prozent auszuweiten und den Gesamtenergieverbrauch in der EU um mindestens 27 Prozent zu senken. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverbindlich!) Damit sendet Europa ein klares Signal: Schaut her, wir sind bereit. Das ist unser Beitrag zur internationalen Klimapolitik. Nun seid ihr an der Reihe. Es ist kein Geheimnis – das sage ich an dieser Stelle auch ganz klar –, dass Deutschland gerne weitergegangen wäre. Wir wollten zum Beispiel, dass das Ziel bezüglich der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz, das auf EU-Ebene verbindlich verabredet wurde, auf die nationale Ebene heruntergebrochen wird. Das sage ich ganz ehrlich an dieser Stelle. Wir wollten auch 30 Prozent als Ziel; das sage ich auch ganz klar. Aber die Verhandlungen waren schwierig. Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei wollten nicht mitmachen, haben auf die Bremse gedrückt. Es war nicht klar, ob es überhaupt gelingen würde, verbindliche Klimaziele zu verabreden. Deswegen sage ich an dieser Stelle ganz klar: Das ist ein Erfolg. Es steht jeweils das Wörtchen „mindestens“ drin. Das heißt, es sind Mindestziele. Wir können weitergehen, wenn die äußeren Umstände, etwa die wirtschaftliche Lage, es zulassen. Also: Es gibt wirklich keinen Grund, in die Defensive zu gehen. Die Bundeskanzlerin hat ein gutes Ergebnis erzielt. Wir können mit diesem Ergebnis selbstbewusst und mit Rückenwind nach Lima und Paris reisen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Trotzdem sage ich: Wir dürfen uns auf diesem Zwischenerfolg nicht ausruhen. Wir müssen mit diesem Ergebnis im Rücken jetzt den Druck auf internationaler Ebene erhöhen, die anderen Staaten mitreißen und auch von anderen Ländern, egal ob es Industrieländer oder Entwicklungs- und Schwellenländer sind, einen Beitrag einfordern – wir alleine können das Klima nicht retten –; sonst können wir das 2-Grad-Ziel nicht erreichen. Wir brauchen dafür alle Staaten der Welt. Auch der Stern-Bericht besagt ganz klar: Wenn wir es schaffen, gerade in den Entwicklungs- und Schwellenländern die Weichen von Anfang an in Richtung einer kohlenstoffarmen und energieeffizienten Technologie zu stellen, dann haben wir viel gewonnen. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann machen Sie es mal!) Deswegen müssen wir in diesen Ländern massiv ansetzen, auch mit Geldern, die zum Beispiel wir Deutsche zur Verfügung zu stellen bereit sind. Außerdem geben auch die Äußerungen vonseiten der USA und Chinas Anlass zu leiser Hoffnung. Diesen Worten müssen jetzt allerdings Taten folgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau! Bravo!) – Das war auch an diese Länder gerichtet. Wir haben mit den europäischen Beschlüssen schon Taten geliefert, meine Damen und Herren. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch diese anderen Länder, nämlich die USA und China, müssen jetzt liefern, und zwar bis zu den Klimakonferenzen in Lima und Paris. Zuallerletzt möchte ich noch sagen: Mir ist ganz wichtig, dass es uns gelingt, ein verbindliches Abkommen hinzubekommen, das transparent ist und überprüfbare Kriterien enthält, die auch kontrolliert werden können (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, klar! Genau das heißt ja „verbindlich“!) und es ermöglichen, andere Länder, die diese Ziele nicht einhalten, an den Pranger zu stellen bzw. zu ermutigen, die Erreichung dieser Ziele wirklich ehrgeizig anzustreben. Denn nur ein ehrgeiziges, beherztes Handeln aller Länder der Welt führt letztendlich zu einem Erfolg beim internationalen Klimaschutz. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke, das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einer guten Nachricht beginnen: Der Kohleausstieg, den die Linke schon lange fordert, ist endlich in trockenen Tüchern. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Außer in Brandenburg! – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Regierung hat am Wochenende angekündigt, dass Strom aus Kohle 2025 Geschichte sein wird. Jetzt will man sich mit Wirtschaft, Gewerkschaften und Gesellschaft an einen Tisch setzen, um die schrittweise Abschaltung der Kohlekraftwerke in die Tat umzusetzen. Ausschlaggebend waren die Erkenntnisse der Klimaforschung bzw. die Handlungsempfehlungen dazu. Der letzte Bericht des Weltklimarats gibt der Politik einen klaren Auftrag: Es muss endlich Schluss sein mit der Stromproduktion aus fossilen Energieträgern, und zwar ohne Wenn und Aber, (Beifall bei der LINKEN) oder, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Weltklima fliegt uns um die Ohren, mit allen uns bekannten Folgen. Jetzt die schlechte Nachricht, die leider lautet: Nicht Deutschland hat hier seine Klimahausaufgaben erledigt, sondern unser Nachbar Dänemark hat den Kohleausstieg beschlossen. Die dortige Mitte-Links-Regierung hat, wie ich finde, eine reife politische Entscheidung getroffen, statt nur darauf zu warten, dass der Energiemarkt das Kohleproblem löst. Im Übrigen funktioniert das sowieso nicht. In Schweden gibt es ähnliche Entwicklungen. Da frage ich mich natürlich: Warum hören die Skandinavier auf die Wissenschaft, während in Deutschland Monat für Monat neue Rekorde bei der Stromgewinnung aus Kohle aufgestellt werden? Die Linke sagt: Der Bund muss endlich eine klare Entscheidung treffen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl) Nur mit einem Kohleausstiegsgesetz, das den Firmen Planbarkeit ermöglicht, wird die Energiewende zu einem Erfolg; da bin ich mir sicher, meine Damen und Herren. Gerade die Landesregierungen brauchen eine Vorgabe vom Bund für diesen klimapolitisch notwendigen Schritt nicht nur, sondern sie fordern diese sogar immer öfter ein. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja! Manche!) Handeln Sie endlich, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, und lassen Sie uns gemeinsam dem Beispiel der Dänen folgen. Im Übrigen ist im Staate Dänemark nichts faul. Im Gegenteil, das Beispiel zeigt uns, dass Klimaschutz im nationalen Alleingang machbar ist. Die Wärmewende hat Dänemark auch schon geschafft, weil Dänemark gleich nach der Ölkrise Ende der 70er-Jahre fleißig auf Effizienzsteigerung gesetzt hat, während in der Bundesrepublik Doppelfenster eingebaut wurden. Beklagenswerterweise funktioniert Politik hierzulande noch immer nach dem Schwarzer-Peter-Prinzip: Regt sich Protest gegen ein Kohlekraftwerk oder einen Tagebau, dann zeigt der Bürgermeister mit dem Finger auf die Landesregierung. Die Landesregierung wiederum zeigt mit dem Finger auf den Bund. Das Umweltministerium klagt dann über das Wirtschaftsministerium. Berlin verweist auf Brüssel. Ähnlich wie beim Emissionshandel fielen in Brüssel die Entscheidungen. – Daran sind Sie aber eigentlich maßgeblich beteiligt. – Bei der EU heißt es dann, in Zeiten der Globalisierung schwäche mehr Klimaschutz Europas Wettbewerbsfähigkeit gegenüber China oder den USA. – Das ist übrigens ein Ball, der oft und gerne über Bande gespielt wird. Wir kennen diese Argumentation ja von der Lohndrückerei und vom Sozialabbau. Nein, meine Damen und Herren, wo kommen wir denn da hin? Wir brauchen ein schlagkräftiges Klimaschutz-Aktionsprogramm, das seinen Namen wirklich verdient. Alle Sektoren müssen einen Beitrag zur Schließung der Klimaschutzlücke leisten. Um 7 bis 9 Prozent werden wir bei einem Weiter-so die Marke verfehlen. Ein Verschlafen des 40-Prozent-Ziels bis 2020 wäre ein schlimmer Rückschlag. (Beifall bei der LINKEN) Dabei ist der Energiesektor in der Bringschuld. Die EU-Kommission hat es vorgerechnet: Deutschland ist das EU-Land mit der größten Fördersumme für Kohle. Von 1970 bis 2007 wurden EU-weit 380 Milliarden Euro Steuergelder zur Förderung des Kohlestroms ausgegeben, der Großteil davon in Deutschland. In 37 Jahren macht das einen Jahresschnitt von über 10 Milliarden Euro aus. Zudem verursacht dieser Marshallplan für die Energieriesen immense Folgekosten. Allein 2012 sind durch die Nutzung fossiler Energien 42 Milliarden Euro Folgekosten für Mensch, Umwelt und Klima entstanden. Darüber reden Sie aber nicht. Die Fakten liegen auf dem Tisch, auch dem Wirtschaftsministerium: Zurzeit liegen 8 Tonnen Kohle von Greenpeace vor dem Wirtschaftsministerium. Ich finde, wir brauchen mutige Entscheidungen. Ich wünsche der Koalition den Mut, den wir für eine mutige Politik brauchen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich das Wort für die Bundesregierung Frau Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bekämpfung des Klimawandels – wir wissen es alle – ist die zentrale Herausforderung unserer Zeit. Die Generationen, die nach uns kommen, werden uns dafür danken, dass wir sie bewältigt haben, oder sie werden uns fragen, warum wir nicht den Mut gefunden haben, uns der Zerstörung unseres Planeten in den Weg zu stellen. Der IPCC-Bericht, der am Wochenende vorgelegt worden ist, ist aus meiner Sicht erschreckend und ermutigend zugleich. Er ist erschreckend, weil der Klimawandel keine ferne Bedrohung ist, sondern bereits stattfindet. Das wird auch von niemandem mehr ernsthaft bestritten. Das war vor einigen Jahren – auch in manchen Wissenschaftskreisen – noch anders. Dies hat sich jetzt auch in Wissenschaftskreisen erledigt. Es gibt allerdings noch einzelne Regierungen, wie zum Beispiel die neue Regierung in Australien, die anderer Auffassung sind. Im Prinzip wird das aber nicht mehr bestritten. Der nun vorliegende IPCC-Bericht ist aber zugleich ermutigend, weil wir noch ein wenig Zeit haben, den Klimawandel in den Grenzen zu halten, in denen er noch beherrschbar ist. Der Bericht macht ganz klar: Die Begrenzung der Erwärmung auf 2 Grad im Verhältnis zur vorindustriellen Zeit ist noch möglich; aber dafür ist entschlossenes und schnelles Handeln natürlich die Voraussetzung. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das benötigt ein wenig Zeit!) – Ja, wir haben nicht mehr viel Zeit; das ist gar nicht zu bestreiten. Es muss gelingen, den Ausstoß der Treibhausgase bis 2050 gegenüber 2010 global um 40 bis 70 Prozent zu senken; bis 2100 müssen es 100 Prozent sein. Deutschland muss Europa mitreißen und wird dies auch weiter tun, (Lachen des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und Europa muss die Welt mitreißen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Wahr ist: In Deutschland hat sich schon viel bewegt. Wir verfügen über die notwendigen technischen Mittel, um den Energiesektor schrittweise zu dekarbonisieren, die Energieeffizienz deutlich zu steigern und ehrgeizige Einsparungen in privaten Haushalten, in der Industrie, im Gebäude- und Transportbereich und bei der Landnutzung zu erzielen; auch das ist uns möglich. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie tun es nicht!) Jetzt, in diesem Jahr, haben die erneuerbaren Energien bei uns einen Anteil an der Stromerzeugung von fast 30 Prozent: Aktuell sind es etwa 28,5 Prozent, und wir sind noch nicht am Ende dieses Jahres. Damit liegt der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung erstmals vor dem Anteil von Kohle. Das war bisher noch nie der Fall. Das ist ein Erfolg. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegenüber Kohle insgesamt? Steinkohle und Braunkohle zusammen haben immer noch einen größeren Anteil!) Wahr ist aber auch: Die Anstrengungen sind seit einer Reihe von Jahren – unabhängig davon, wer die politische Verantwortung getragen hat – zu keinem Zeitpunkt ausreichend gewesen. Deswegen gibt es eine prognostizierte Lücke bei der Erreichung unseres Minderungsziels von 40 Prozent bis 2020 von 5 bis 8 Prozent. Die Ziel-erreichung ist keineswegs trivial, sondern durchaus schwierig. Das heißt aber nicht, dass ich mich etwa davon verabschieden wollte, Herr Krischer. Wir werden vor dieser Aufgabe nicht davonlaufen, und wir werden unsere Ansprüche nicht relativieren. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie erzählen jetzt bestimmt, wie!) Meine Kolleginnen und Kollegen, es besteht kein Zweifel: Das Erreichen des 40-Prozent-Ziels ist die zentrale Herausforderung für mich als Bundesumweltministerin und eines der wichtigsten Projekte dieser Bundesregierung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich einmal gespannt!) Deswegen werden wir am 3. Dezember im Kabinett unser Aktionsprogramm verabschieden. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hat keiner geklatscht! – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Doch. – Wir werden damit rechtzeitig vor der in Lima beginnenden Konferenz ein Signal geben. Die Eckpunkte sind klar: Wir müssen den Anteil fossiler Energieträger reduzieren. Das Ziel ist, den CO2-Ausstoß bis 2050 um 80 bis 95 Prozent zu reduzieren. Das macht deutlich: Das Zeitalter der fossilen Energie wird sich – natürlich muss das in einem planmäßigen Prozess geschehen – Stück für Stück dem Ende nähern. Natürlich brauchen wir auch noch größere Anstrengungen im Gebäudebereich und bei der Energieeffizienz; das liegt auf der Hand. Auch dazu werden wir die notwendigen Aussagen in unserem Aktionsprogramm „Klimaschutz 2020“ und auch im „Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz“, der verschränkt mit unserem -Aktionsprogramm zeitgleich in der Verantwortung des Bundeswirtschaftsministers erarbeitet wird, zum 3. Dezember vorlegen. Nach dem Aktionsprogramm, das in der Verantwortung meines Hauses liegt, werden wir dann weitere konkrete Schritte angehen, um Maßnahmen für die Zeit zwischen 2020 und 2050 zu entwickeln, mit überprüfbaren Zwischenzielen, etwa – das liegt ja auf der Hand – in Zehnjahresmargen. Meine Damen und Herren, die entscheidende Phase der Klimaschutzpolitik haben wir jetzt vor uns, insbesondere im Hinblick auf die Ende des nächsten Jahres in Paris stattfindende internationale Konferenz. Die Bundesregierung – das wissen Sie – engagiert sich gerade im Hinblick auf diese international notwendigen Abstimmungen Ende des nächsten Jahres mit aller Kraft. In diesem Zusammenhang möchte ich mich sehr herzlich bei der Bundeskanzlerin bedanken für die Verhandlungen im Europäischen Rat vor knapp zwei Wochen. Das war ein großer Erfolg, und es ist nicht zuletzt der Beharrlichkeit der Bundeskanzlerin zu verdanken – neben den guten Vorarbeiten –, dass dies gelingen konnte. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Es ist kein Geheimnis: Wir hätten uns, insbesondere in den Bereichen „Energieeffizienz“ und „erneuerbare Energien“, noch etwas ehrgeizigere Ziele gewünscht. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür haben Sie wie wild gekämpft!) Das ist keine Frage. Aber der Beschluss ist ein großer Schritt nach vorne. Europa hat damit Handlungsfähigkeit und Weitsicht unter Beweis gestellt. Dies wird auch international durchaus anerkannt. – Ich weiß, Herr Kollege Krischer, wenn man das aus dem Blickfeld des -Aachener Reviers sieht, guckt man vielleicht nicht ganz so weit. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn?) Aber zum Beispiel Ban Ki-moon, der die Welt im Blick hat, hat uns dazu beglückwünscht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer: Was soll das denn?) Erstens. Wir in Europa sind die Ersten, die einen Beitrag zum neuen Klimaschutzabkommen vorlegen können und eben vorgelegt haben. Wir werden unsere Emissionen um 40 Prozent absenken können. Das ist ein sehr deutliches Signal. Das Ziel ist selbstverständlich verbindlich. Es ist nicht an irgendwelche Bedingungen geknüpft. Jeder Investor in Europa weiß jetzt, worauf er sich in den nächsten 16 Jahren einstellen muss und welche Investitionen sich langfristig lohnen und welche nicht. Das Ganze ist also auch ein Modernisierungsprogramm für unsere Volkswirtschaften. Zweitens. Der Beschluss enthält das Wörtchen „mindestens“. Andere Staaten müssen jetzt nachziehen. Wir haben im Rahmen des Petersberger Klimadialogs von China gehört, dass es einen Beitrag leisten wird. Wir sind gespannt, wie dieser Beitrag aussehen wird, aber zugleich zuversichtlich, dass er weit über das hinausgeht, was wir von China bisher gesehen haben. Wie ich höre – man wird sehen, wie das nach den „midterm elections“ weitergeht –, wollen auch andere Schwellenländer und nicht zuletzt auch die USA Anfang 2015 ihre Beiträge vorlegen. Ich weiß, dass es für Präsident Obama schwer wird. Deswegen arbeitet die amerikanische Administration an einer Lösung, die man auch dann umsetzen kann, wenn man keine Mehrheit im Repräsentantenhaus hat. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie nicht so viel über Obama! Was machen Sie denn?) Wenn sich diese Dynamik fortsetzt – da bin ich zuversichtlich –, dann werden wir in Paris erfolgreich sein und ein gutes Abkommen erreichen. Dann sollte die EU bereit sein, noch einmal nachzulegen, wenn denn auch andere Länder ehrgeizige Pläne vorlegen. Dann können auch wir in der Tat noch einmal nachlegen; das Wörtchen „mindestens“ bedeutet nicht zuletzt dies. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Drittens. Der Rat hat sich eindeutig zu einem funktionierenden und reformierten Emissionshandel bekannt. Wir werden weiterhin darauf achten, dass dies so bald als möglich, nämlich 2017, geschieht. Das gibt Rückenwind. Zugleich bedeutet das natürlich auch, dass die 900 Millionen Zertifikate, die sich im Prozess des Backloadings befinden, sofort in die Stabilitätsreserve überführt werden müssen; denn wir müssen natürlich den Emissionshandel wieder auf Kurs bringen. Der nächste Schritt ist die Klimakonferenz in Lima; das wissen wir. Das Aktionsprogramm und die europäischen Klimaziele unterstreichen die Vorreiterrolle, die wir einnehmen wollen und die von uns erwartet wird. Der Wandel in eine Zeit ohne fossile Energieträger hat längst begonnen: Windräder werden gebaut, Solar-panels installiert, energieneutrale Gebäude geplant und errichtet. Die Aussage, Klimaschutz schade der Wirtschaft, haben wir längst in die Märchenwelt verbannt. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon hat Herr Gabriel aber noch nichts gehört!) Klimaschutz lohnt sich; nicht zu handeln, kostet – das macht auch der IPCC-Bericht klar. Wir brauchen einen langen Atem. Wir werden das Problem des Klimawandels nicht allein in dieser Legislaturperiode lösen und auch nicht in diesem Jahrzehnt. Vielleicht wird es länger dauern, als dass meine Generation die Früchte dieser Politik wird ernten können. Wir werden diesen Weg entschlossen gehen, und zwar in der Zeit unserer jeweiligen Verantwortung, so wie es nötig ist und unseren Möglichkeiten entspricht – und die sind umfangreich. Darauf kann man sich verlassen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Wort über konkrete Maßnahmen!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Thomas Gebhart das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Temperaturen steigen, der Meeresspiegel steigt, Wetterextreme häufen sich: Der Klimawandel ist da. Dieser Klimawandel wird aller Wahrscheinlichkeit nach – dies zeigt uns der Bericht, der jetzt auf dem Tisch liegt – weitergehen, wenn es uns nicht gelingt, die Emissionen von Treibhausgasen erheblich zu senken. Wir müssen dazu beitragen – das ist Teil unserer Verantwortung, und es ist auch eine ethische Pflicht und entspricht der ökonomischen Vernunft –, dass es gelingt; denn viele Untersuchungen zeigen inzwischen ganz klar, dass es günstiger ist, weltweit jetzt entschieden gegen den Klimawandel vorzugehen, als einfach alles laufen zu lassen und zum Schluss für die Schäden und die Folgekosten zu bezahlen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Die spannende Frage wird sein, wie es uns gelingt. Wir müssen zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass es sich um ein weltweites Problem handelt. Auf Deutschland kommen gut 2 Prozent der weltweiten Emissionen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt wieder der Fingerzeig auf andere!) Deutschland wird dieses Problem nicht allein lösen können. Auch Europa wird dieses Problem nicht allein lösen können. Was wir brauchen, sind weltweite Anstrengungen, und genau aus diesem Grund sind die Weltklimakonferenzen der Vereinten Nationen so wichtig. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sagen Sie mal was zur deutschen Vorreiterrolle!) Wir alle haben in den letzten Jahren erlebt, wie zäh und schwierig die Verhandlungen sind und dass es immer nur in kleinen Schritten vorangeht. Aber diejenigen, die jetzt die Konsequenz ziehen und sagen, wir sollten es besser sein lassen, irren gewaltig. Denn letzten Endes gibt es keine vernünftige Alternative dazu, dass wir auf dieser Ebene miteinander sprechen, verhandeln, kooperieren und möglichst gemeinsame Lösungen finden. Deswegen brauchen wir auch einen Erfolg. Wir müssen im nächsten Jahr in Paris zu einem Ergebnis kommen. Wir brauchen ein weltweites Abkommen über den Klimaschutz, und in wenigen Wochen bei der nächsten Konferenz in Lima müssen wir den Weg dazu bereiten. Genau darauf müssen wir hinarbeiten, mit Nachdruck und möglichst alle gemeinsam. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, Europa hat vorgelegt. -Europa hat beschlossen, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um mindestens 40 Prozent zu senken. -Europa geht voran. Dies ist ambitioniert, und Deutschland geht nochmals darüber hinaus, indem wir sagen: 40 Prozent nicht erst 2030, sondern bereits bis zum Jahr 2020. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht ambitioniert! Das ist viel weniger als nötig!) Wir wissen auch: Dies reicht noch nicht. Es gibt eine Lücke. Wir müssen noch erhebliche Anstrengungen unternehmen. Deswegen wird es – die Ministerin hat es angesprochen – ein Aktionsprogramm geben. Ich bin sehr dafür, dass wir in diesem Aktionsprogramm den Fokus auch auf Bereiche lenken, die bislang noch nicht so im Mittelpunkt standen. Ich nenne das Beispiel Kreislaufwirtschaft. Unser Ziel ist es, aus Abfällen mehr Rohstoffe zu gewinnen, mehr Recycling zu betreiben und den Rohstoffverbrauch zu senken. Dies ist ein effektiver Beitrag zum Klimaschutz, und es ist vor allem eine Frage technologischer Innovation. Hier haben wir noch erhebliche Potenziale, die wir in den nächsten Jahren nutzen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Auf einem wichtigen Feld ist Deutschland vorangegangen: bei der Energiewende. Wir haben enorm viel gemacht. Das zeigen die Zahlen. Im Jahr 2005, vor neun Jahren, betrug der Anteil der erneuerbaren Energien bei der Stromerzeugung 10 Prozent. Wir sind heute bei 25 Prozent. Dies ist eine rasante Entwicklung. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Sie beendet haben!) Es wird international sehr genau beobachtet – das erleben wir auch auf den Klimakonferenzen –, was wir in Deutschland machen. Man spricht von der „German Energiewende“. Aber es wird auch immer klar: Ob die deutsche Energiewende zu einem Modell wird, ob uns andere folgen und diese Energiewende nachahmen, was wir uns wünschen, hängt letztlich davon ab, ob die Energiewende bei uns, im eigenen Land, gelingt. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie tun alles dafür, dass das nicht klappt!) Die Frage, ob die Energiewende gelingt, bedeutet im Klartext: Sie muss unter ökologischen Gesichtspunkten gelingen; sie muss aber auch in der Weise gelingen, dass die Preise bezahlbar bleiben und die Wirtschaft und die Industrie am Ende damit klarkommen. Es geht also darum, die richtige Balance zu halten. Es geht darum, eine nachhaltige Politik zu betreiben. Deswegen sage ich gerade auch an die Adresse der Grünen: Wer an dieser Stelle überzieht und die Wettbewerbsfähigkeit einseitig über Gebühr belastet, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausnahmen gibt es doch schon!) der schadet nicht nur der Energiewende, sondern auch dem Klimaschutz. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, Sie wollen die Kohlekraftwerke weiterlaufen lassen!) Sie erweisen ihm einen Bärendienst, weil uns nämlich niemand in der Welt folgen wird. Das müssen wir beachten. Es bleibt dabei: Die Energiewende muss gelingen. Das ist unsere Aufgabe. Sie muss unter ökologischen, ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten gelingen. Das ist unsere Herausforderung und zugleich unsere Chance. Diese müssen wir nutzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner spricht Ralph Lenkert. (Beifall bei der LINKEN) Ralph Lenkert (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen und Herren! Täglich prasseln Schlagzeilen zu den Folgen des Klimawandels hernieder. Beklemmung macht sich breit, genauso wie ein Ohnmachtsgefühl. Trotz der vielen Klimagipfel steigt der weltweite CO2-Ausstoß. Die schlechten Nachrichten über einen abrutschenden Eisschild in der Antarktis und über Kiribati, einen Inselstaat, der im Pazifik versinkt, bereiten Sorgen. Aber wie kommt es, dass bei Menschen trotz der Kenntnis der zukünftigen riesigen Probleme durch den Klimawandel ein kollektiver Verdrängungsmechanismus einsetzt? Wie kommt es, dass diese Bundesregierung weitermacht wie bisher? Laut Soziologen liegt die Ursache darin, dass sowohl das Problem als auch die Lösung für einen einzelnen -Menschen schwer fassbar sind. Sie sind einfach zu gigantisch. Deshalb wird Handeln unterlassen, auch von dieser Bundesregierung. Berichte über vertagte Klimaschutzverhandlungen und angekündigte Vorhaben gibt diese Bundesregierung ständig ab. Doch bei all dem gilt: Außer Spesen bisher nicht viel gewesen! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Betrachten Sie neben dem globalen Klimaschutz unsere Region; das ist greifbar. Das Klima in Deutschland verändert sich. Die Wettergrenze zwischen dem maritim beeinflussten Süden und Westen der Republik und dem kontinental geprägten Nordosten verschärft sich. Im Südwesten steigt die Anzahl heftiger Gewitter mit Hagelschlag und lokalen Überschwemmungen. Im Osten wird es im Sommer immer trockener und wärmer. Wenn es regnet, dann gibt es zumeist Unwetter. Im Morgen-magazin der ARD lautete die heutige Zahl des Tages: 635 000. Das ist die Anzahl der in diesem Jahr durch Hagel und Unwetter beschädigten Pkw. Der Schaden beläuft sich auf 1,5 Milliarden Euro. Das ist ein Allzeitrekord. Hinzu kommen – für mich viel gravierender – Tote und Verletzte, zerstörte Häuser, beschädigte Infrastruktur und nicht arbeitsfähige Firmen. All diese Auswirkungen der Unwetter könnten wir mit Maßnahmen vor Ort verhindern oder verringern. Hier lässt sich das eine mit dem anderen verbinden. Für die Linke ist das Prinzip klar. Der Natur muss man möglichst viel Raum zurückgeben, und das dauerhaft. Die Renaturierung und Wiederbelebung von Feuchtgebieten wirken der Austrocknung von Böden entgegen, dienen gleichzeitig dem Hochwasserschutz bei Starkregen und verbessern das Mikroklima. Es wird regional im Sommer etwas kühler. Zusätzliche Grünanlagen in städtischen Bereichen fungieren als Wasserspeicher bei Stark-regen und Trockenheit. Sie können Innenstädte an heißer werdenden Sommertagen abkühlen, senken damit sogar den Energiebedarf von Klimaanlagen und dienen gleichzeitig dem Staub- und Lärmschutz. In Thüringen werden wir zukünftig mehr Flächen entsiegeln und renaturieren. Ehemalige Militärflughäfen und alte Indus-triebrachen werden grün, speichern Wasser im Boden, und die optischen Schandflecken verschwinden. Das verringert zudem die Hochwassergefahr. Ganz nebenbei bindet die zusätzliche Grünmasse CO2, was wiederum dem Klimaschutz dient. All diese Maßnahmen kann man im kleinen Maßstab beginnen. Es sind Mosaiksteinchen bei der Lösung des großen Klimaproblems. Aber, meine Damen und Herren von der Koalition, Sie behaupten, Deutschland allein könne beim Klimaschutz nichts bewirken. Das ist der Klassiker: Verdrängung. Beginnen Sie im Kleinen! Legen Sie Klimaschutz- und Klimaanpassungsprogramme langfristig an! Es ist Schwachsinn, wenn man bei der Jahrhundertaufgabe Klimaschutz Projekte nach wenigen Jahren auslaufen lässt. Viele Kommunen, ob im Ruhr-gebiet oder in Ostdeutschland, können sich Klimaschutzmaßnahmen nicht leisten, weil sie nicht in der Lage sind, die benötigten Eigenmittel aufzubringen. Deswegen fordern wir Förderprogramme, die ohne Eigenmittel auskommen. Gehen wir die kleinen Schritte zum Klimaschutz vor Ort. Das gibt vielleicht auch Ihnen die Kraft, die großen Schritte international zu gehen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die Bundesregierung hat genug geredet. Lassen Sie uns im Bundestag mit Handeln anfangen, zuerst im Kleinen, im Greifbaren, und dann mit Mut zum Großen. Wir Abgeordnete, wir bestimmen die Gesetze, wir machen den Haushalt, wir können entscheiden. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner spricht Dr. Matthias Miersch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Matthias Miersch (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist richtig, dass die Grünen diese Aktuelle Stunde nutzen, um den Bericht des Weltklimarats zum Thema zu machen. Es ist gut, dass wir immer wieder über dieses Thema reden. Wenn man die Gazetten richtig wahrnimmt, dann ist es auch in Deutschland immer noch so, dass an einigen Stellen gezweifelt wird. Deswegen will ich am Anfang für meine Fraktion sehr deutlich machen: Es geht nicht nur um Klimaschutz, sondern es geht auch darum, weitaus höhere volkswirtschaftliche Folgekosten – nach Sir Nicholas Stern das Fünffache – zu vermeiden. Klimaschutz ist auch eine wirtschaftliche Frage. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Oft wird ein Gegensatz zwischen Wirtschaft und Ökologie gesehen. Dazu muss man aber sagen: Es geht letztlich auch um das Verhindern von Abhängigkeiten von anderen Staaten; denn die Ressourcen sind endlich, sie sind begrenzt. Auch deswegen ist Klimaschutz mehr als eine ökologische Frage, es ist ein urökonomisches Erfordernis, in den Klimaschutz zu investieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann tun Sie es auch!) Herr Krischer, seien Sie beruhigt. Herr Homann ist nun wirklich alles andere als von uns vorgeschickt worden. Ich will an der Stelle sagen – ich finde es richtig, dass auch die Bundesumweltministerin das hier gesagt hat –: Herr Homann, die 40 Prozent sind unverhandelbar. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir nehmen Sie beim Wort!) Kümmern Sie sich um gute Netzplanung, aber nicht um das Klimaschutzziel! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich finde es richtig, dass Sie, Herr Lenkert, die Frage stellen, wie wir das hier im Parlament machen. Aber ich fände es gut, erst einmal hinzuhören. Wir haben eine Bundesumweltministerin, die sich hier eindeutig zum Klimaschutz und zu dem 40-Prozent-Ziel bekannt hat. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat sie nicht!) – Das hat sie. Das können Sie im Protokoll von heute nachlesen. Sie hat es gerade eben an diesem Pult gesagt. (Klaus Mindrup [SPD]: Schwerhörig!) Es gehört schon zur Redlichkeit, zuzuhören. – Sie hat seit ihrer Amtseinführung gesagt, dass wir bis jetzt ein Defizit haben und uns 7 bis 8 Prozent fehlen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zweifelt niemand an!) Deswegen finde ich es richtig, dass wir, die wir alle einer Meinung sind – ich hoffe es jedenfalls –, sie in diesem Vorhaben unterstützen und sagen: Ja, es ist richtig gewesen, alle Ressorts aufzufordern. Denn es darf nicht nur die Aufgabe des Bundesumweltministeriums in dieser Regierung sein, die Klimaziele zu erreichen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Sigmar Gabriel?) Wir hatten in den letzten Jahren eine Blockade zwischen Wirtschafts- und Umweltministerium. Die weichen wir auf. Wir haben jetzt, glaube ich, eine Allianz zwischen dem Umweltressort, dem Wirtschaftsressort und auch der Bundeskanzlerin. Das sage ich hier ganz deutlich. Ich bin mir sehr sicher, dass diese drei auch ihre Kolleginnen und Kollegen im Kabinett mitnehmen und wir am 3. Dezember beginnen können, über ein Maßnahmenpaket zu reden. Ich finde, ein Vorlauf von einem Jahr für eine neue Bundesregierung ist recht und billig. Aber wir müssen als Parlament auch schauen, ob das ausreicht. Insofern bin ich der Bundesumweltministerin genauso dankbar dafür, dass sie am Montag die Frage gestellt hat, wie es mit der Versorgung mit fossiler Energie weitergeht. Frau Bulling-Schröter, das alles ist nicht einfach. Das wissen auch Sie. In Brandenburg ist das Verhältnis der Linken zur Kohle auch nicht so ganz einfach. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch nicht in NRW!) – Ja, Herr Krischer, auch in NRW ist das nicht so einfach mit den Grünen. Danke für den Zwischenruf. – Ich will damit sagen: Dass die Bundesumweltministerin dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat, ist richtig. Wir sollten sie dabei unterstützen; denn es kann nicht sein, dass hochflexible Gaskraftwerke vom Netz gehen und alte Kohlemöhren sich rechnen. Dabei müssen wir sie unterstützen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In welcher Partei sind Sie denn?) Deswegen, Herr Hofreiter, glaube ich, sollten wir noch einmal Luft holen und schauen, was die Bundes-regierung im Dezember vorlegt. Wir sollten – da bin ich mir ganz sicher – diese Bundesumweltministerin unterstützen (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen Sigmar Gabriel, oder wie?) im Einsatz dafür, dass das eintritt, was wir wollen, nämlich die Vorreiterrolle Deutschlands in der Europäischen Union und die Vorreiterrolle der Europäischen Union im UN-Konzert. Unsere Glaubwürdigkeit wird sich letztlich an der Vorreiterrolle messen lassen müssen. – In der -Aktuellen Stunde gibt es leider nicht die Möglichkeit nach einer Zwischenfrage; deswegen kann ich sie nicht zulassen. Frau Umweltministerin, Sie werden mit Sicherheit in den nächsten Monaten viel Kraft brauchen; denn das, was Sie angestoßen haben, war in den letzten Jahren nicht durchsetzbar. Das muss man hier immer wieder -sagen. Sie haben uns und, ich hoffe, das ganze Haus an Ihrer Seite. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin spricht Annalena Baerbock. Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da Matthias Miersch gleich losmuss, fange ich gleich mit Ihnen an: Wir würden die Bundesumweltministerin ja gerne unterstützen. Liebe Frau Hendricks, dann müssen Sie aber auch ehrlich sein. Sie haben groß angekündigt: Wir wollen eine Reform des ETS, am besten 2017. – Das wird nicht eintreten, und jetzt sagen Sie hier: Die Ergebnisse sind ein großer Erfolg. – Das passt vorne und hinten nicht zusammen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie haben groß angekündigt: Wir wollen aus der KfW-Finanzierung für Kohlekraftwerke aussteigen. Jetzt ist relativ klar, dass das nicht die IPEX-Projekte betreffen wird. Auch das kann man nicht als Erfolg verkaufen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie haben außerdem groß angekündigt: Kohlekraftwerke müssen vom Markt. – Wir wollen Sie da unterstützen. Aber darum haben wir gehofft, dass Sie jetzt hier das tun, was Herr Miersch mittlerweile gemacht hat, nämlich zu sagen: Wir halten an dem 40 Prozent-Ziel fest. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das hat sie -gesagt!) – Nein, sie hat gesagt: Wir halten am 2 Grad-Ziel für 2050 fest. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Nein! – Frank Schwabe [SPD]: Nein! Nachlesen, Leute!) Außerdem hätten Sie Herrn Homann eine deutliche Absage erteilen sollen und hätten sagen sollen, dass es nicht sein kann, dass wir dieses Klimaziel aufkündigen. Wenn Sie das täten, unterstützen wir Sie dabei; aber dann kämpfen Sie auch dafür. Lieber Herr Miersch, kämpfen Sie in der SPD dafür, dass das auch im Wirtschaftsministerium so gesehen wird. Es ist ja nicht so, dass es von irgendeiner anderen Partei geführt wird. An dessen Spitze sitzt die SPD, und aus diesem Hause wird dieses Ziel infrage gestellt. Deswegen ist es Ihre Verantwortung, für die Erreichung dieses Ziels ordentlich zu kämpfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]) Was klar ist: Mit den Zielen, die beim EU-Gipfel festgelegt wurden, erreichen wir das 2 Grad-Ziel eben nicht. Daher kann es doch nicht richtig sein, die Ergebnisse des EU-Gipfels hier als Erfolg zu verkaufen. Wir müssen eine Schippe oben drauflegen. Wenn Sie, wie hier immer propagiert, die Vorreiterin sind, warum machen Sie es dann nicht wie Dänemark? Frau Weisgerber, Dänemark hat nach dem Gipfel verkündet: Das reicht uns nicht; deswegen legen wir eine Schippe oben drauf und sagen: Wir wollen nicht erst 2030 aus der Kohle aussteigen, sondern schon 2025. – Solche Worte kamen aus Deutschland nicht. Man stellt hier eher das Klimaziel -infrage. So etwas macht doch kein Vorreiter. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE] – Zuruf der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]) – Frau Weißgerber, ich weiß, Sie wollen darüber nicht reden; Sie haben ja eben noch einmal offiziell zu Protokoll gegeben, dass es Sie nervt, alle zwei Wochen über Klimafragen zu reden. Wir aber wollen darüber reden. Weil es ja viel zu tun gibt, legen wir nicht die Hände in den Schoß; vielmehr müssen wir Antworten geben, und genau das erwarten wir auch von Ihnen als Regierungsfraktionen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Machen wir auch! Aber wir reden nicht nur, sondern wir machen!) – Ja, dann machen Sie mal. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Weisgerber, was machen Sie denn? Nichts!) Der IPCC hat uns klar gesagt, wir müssen jetzt und nicht irgendwann in 20 Jahren mit dem Klimaschutz anfangen. Das sagt nicht nur der IPCC, sondern das sagen auch große Wirtschaftsunternehmen. Sie haben Ihnen vor dem EU-Ratsgipfel doch einen Brief geschrieben und haben gesagt: Wir brauchen ambitionierte 2030-Ziele, weil wir sonst im internationalen Vergleich nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Ignorieren Sie doch nicht einfach, was Ihnen die Wirtschaft da rät. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]) Andere Länder wie Schweden gehen voran. Schweden sagt: Unser Staatskonzern Vattenfall soll aus der Kohleverstromung aussteigen. Was ist die Antwort aus Deutschland? Die SPD-Linken-Regierung in Brandenburg sagt – man muss es leider so klar feststellen –: Oh, mein Gott, die Schweden wollen aus der Kohleverstromung aussteigen; dann steigen wir als Land Brandenburg am besten ein. – Das würde das nur künstlich -verlängern. Weil sich aus wirtschaftlichen Gründen kein Unternehmen findet, das dieses Risiko eingehen will, -erwägt jetzt der neue Ministerpräsident Woidke sogar, öffentliche Bürgschaften auszureichen, damit es einen neuen Betreiber von Kohleverstromung gibt. Das ist mehr als absurd. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]) Wir fordern Sie daher noch einmal eindringlich auf: Machen Sie als Bundesumweltministerin, als SPD-Fraktion, als Klimapolitiker innerhalb der CDU/CSU deutlich: Hände weg vom Klimaziel! Wir müssen bei dem 40-Prozent-Ziel für 2020 bleiben. Wir müssen dabei bleiben, den Wandel im fossilen Kraftwerkspark einzuleiten, und zwar nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus ökonomischen Gründen; denn wir wissen: So kann es im Strommarkt nicht weitergehen. Wenn Sie am 3. Dezember nicht zu dieser Erkenntnis kommen sollten, dann können Sie gleich die Hotelbuchungen für Lima stornieren; denn wir brauchen gar nicht nach Lima zu fahren, wenn Deutschland dort nichts vorzutragen hat. Wenn Sie sagen: „Wir wollen da nichts weiter tun“, dann schlagen Sie doch einmal im IPCC-Report nach! In dem Bericht steht deutlich: Wenn wir so weitermachen wie bisher, wenn wir an die fossilen Energien nicht herangehen, dann wird es zu einer Erderwärmung um mehr als 4 Grad Celsius kommen. Wenn es zu einer Erderwärmung um mehr als 4 Grad Celsius kommt, dann steigt der Meeresspiegel um mindestens 80 Zentimeter. – Sie können in Ihre zukünftigen Haushalte schon einmal die Milliarden einstellen, die wir brauchen, um Deutschland davor zu schützen. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner spricht der Kollege Andreas Jung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Andreas Jung (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Debatte vor dieser Aktuellen Stunde ging es um Flüchtlingsfragen, um die Frage, wie Flüchtlinge gerettet werden können, und um die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen. Natürlich wurde dort wieder darauf hingewiesen, dass wir eine besondere Verantwortung haben, dazu beizutragen, dass Menschen ihre Heimat erst gar nicht verlassen müssen. Dabei ging es angesichts der aktuellen Krisen natürlich um sicherheitspolitische Fragen. Ich will die Debatte jetzt aber nutzen, um noch einmal darauf hinzuweisen: Das ist selbstverständlich auch ein Thema für die Klimapolitik. Auch bei dieser Frage entscheidet sich, ob Menschen ihre Lebensgrundlage, ihre Heimat verlieren oder ob sie in ihrer Heimat bleiben können. Ich erinnere mich an die Weltklimakonferenz in Bali. Dort hat der Umweltminister von Papua-Neuguinea gesagt: Bei der Frage des Klimaschutzes geht es für mein Land, für meine Insel, für die Menschen in meiner Heimat nicht um irgendeine politische Frage; es geht um Leben und Überleben. – Er hat an die Weltgemeinschaft appelliert, diese Verantwortung für die Menschen in seiner Heimat und für die Menschen überall auf der Welt wahrzunehmen. Das führt uns der IPCC-Bericht erneut vor Augen. Er zeigt uns nochmals und noch eindringlicher das, was in den letzten Jahren und in den vorausgegangenen Berichten schon herausgearbeitet wurde. Es gibt keine Ausreden, und es darf keine Ausreden geben. Wir brauchen ein gemeinsames, international abgestimmtes Vorgehen. Wir brauchen ein wirksames Klimaschutzabkommen auf internationaler Ebene. (Beifall der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]) Weil die Debattenbeiträge hier durchaus differenziert waren, will ich darauf hinweisen, dass die letzten Klimakonferenzen doch nie daran gescheitert sind, dass Deutschland oder die Europäische Union nicht bereit gewesen wäre, mitzumachen. Wir haben immer anderes signalisiert. Wir haben dafür gekämpft, wir haben darauf gedrungen, dass es ein Klimaabkommen gibt. Wir waren bereit, zu unterschreiben. Wir haben versucht, andere mitzunehmen. Wir haben auch schon wichtige Schritte unternehmen können. Deutschland ist hier über viele Bundesregierungen unterschiedlicher parteipolitischer Prägung hinweg immer treibender Motor gewesen und ist es auch weiterhin. Wir stehen dazu und stehen auch zu dieser Verantwortung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Das ist so, und das bleibt so, jetzt vor Lima und dann auch vor der Konferenz im nächsten Jahr in Paris. Wenn ich sage: „Es gibt keine Ausreden“, dann will ich gleichzeitig sagen: Es gibt gar kein Vertun; die Klimaziele bleiben. – Sie haben sich teilweise auf einen Debattenbeitrag von Herrn Homann gestern bezogen. Ich glaube, es ist in dieser Aktuellen Stunde deutlich geworden: Das ist nicht die Haltung der Bundesregierung. Das ist nicht die Haltung der Koalition. Das ist nicht die Haltung der Unionsfraktion. In dieser Debatte sprechen von unserer Seite fünf Redner; alle bekennen sich zu diesem Klimaziel. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hier redet nicht Herr Fuchs! Hier redet nicht Herr Bareiß!) Sie haben die Bundesumweltministerin gehört; auch sie hat sich klar dazu geäußert. Sie hat darauf hingewiesen, dass es eine enge Abstimmung zwischen ihr und der Bundeskanzlerin gibt. Es ist klar: Niemand wird vorgeschickt; das wird entschieden zurückgewiesen. Die Klimaziele bleiben bestehen. Wir diskutieren jetzt darüber, wie wir auch in der -Europäischen Union zu ambitionierten Klimazielen kommen können. Wir haben in Brüssel einen ersten Schritt machen können. Es ist doch wahr – das ist auch von der Bundesregierung so vertreten und öffentlich kommuniziert worden –: Wir Deutsche wären auch bereit gewesen, darüber hinauszugehen. Deshalb war es uns wichtig, dass formuliert wurde, dass der CO2-Ausstoß in der EU bis 2030 um mindestens 40 Prozent sinken soll. Mindestens – das heißt, da ist Spielraum nach oben. Wir als Deutsche haben für diesen Spielraum geworben. Aber andere wollten noch nicht einmal das mitmachen. Deshalb war es ein Verhandlungserfolg der Kanzlerin und der Bundesregierung, dass das erreicht wurde. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir gesehen!) Darauf gilt es jetzt bei den nächsten Schritten aufzubauen; denn unsere besondere Verantwortung besteht nicht nur darin, Ziele zu formulieren, sondern auch darin, diese zu erreichen. Es wurde gefragt: Wo bleibt denn die Ehrlichkeit? – Ich finde, es ist schon eine besondere Form von Transparenz, wenn Ziele dargestellt werden und gleichzeitig gesagt wird, dass es im Moment noch eine Lücke gibt und wir etwas tun müssen, um sie zu schließen. Genau darüber wird jetzt nicht nur diskutiert, sondern das wird im Dezember vom Bundeskabinett entschieden. Dann werden wir im Bundestag darüber entscheiden und damit unseren Beitrag dazu leisten. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, der Bundestag entscheidet darüber?) Das klare Signal ist: Deutschland hat ehrgeizige Ziele und ergreift ehrgeizige Maßnahmen, um sie umzusetzen. Wir stehen zur Reform des Emissionshandels, die wir brauchen, damit der CO2-Ausstoß von Kohlekraftwerken reduziert wird, und wir sind uns sicher, dass die G 7 dabei eine wichtige Rolle übernehmen müssen. Das haben die Kanzlerin und die Bundesumweltministerin angekündigt. Deutschland und die Bundesregierung werden weiter eine drängende Rolle, eine Vorreiterrolle in der Klimapolitik spielen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Jung!) – Herr Krischer, Sie haben gesagt, Sie hätten sich nicht vorstellen können, dass Sie die Regierung Kohl einmal als Vorreiter bezeichnen würden. Möglicherweise kommen Sie in einigen Jahren auch zu einem milderen Urteil über diese Bundesregierung. Ich bin mir sicher, wir können die Weichen dafür in den nächsten Wochen stellen. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Umso schlimmer, was Sie jetzt machen!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Frank Schwabe das Wort. (Beifall bei der SPD) Frank Schwabe (SPD): Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben beim Thema Klimaschutz eigentlich zwei Probleme. Das erste Problem ist die Ungleichzeitigkeit von Handeln und Wirkung. Wenn CO2 in die Atmosphäre gelangt, dauert es, bis wir sehen, welche Auswirkungen das hat. Das ist, glaube ich, ein gravierendes Problem. Das zweite gravierende Problem ist – der Kollege Lenkert hat ja dargestellt, welche Probleme mittlerweile auch in Deutschland sichtbar sind –, dass wir und andere in der Welt leider für den Klimawandel verantwortlich sind, aber zuerst andere in der Welt die Auswirkungen zu tragen haben. Ich bin mir ziemlich sicher: Wenn das anders wäre, würde man weltweit anders über Klimaschutz reden, und dann wären wir deutlich weiter. Trotzdem will ich optimistisch sein. Der Weg ist international eigentlich durchaus klar. Ich sehe auch gute Entwicklungen: weg von fossilen Energien, hin zu erneuerbaren Energien, hin zur Energieeinsparung. Die Welt ist zwar zum Teil durchaus indifferent, aber es gibt auch Fortschritte. Deswegen bin ich auch optimistisch, dass wir 2015 in Paris ein gutes Abkommen erreichen werden. Wahr ist – das ist hier mehrfach betont worden –: Die Welt schaut beim Ausbau der erneuerbaren Energien auf Deutschland. Wir waren diejenigen, die aus Deutschland heraus die Energierevolution – so muss man das, glaube ich, benennen – weltweit ermöglicht haben. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Waren!) – Ja, natürlich: zunächst einmal „waren“. Wir haben einen Anstoß gegeben, sodass die Preise weltweit deutlich gefallen sind. – Man schaut aber auch auf das, was bei uns „Energiewende“ genannt wird, und darauf, wie wir das in Deutschland organisieren. Ich will deutlich machen, dass der Beschluss zu den Klimazielen für 2030 für Europa ein Kompromiss war. Wir hätten uns in der Tat mehr gewünscht. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der Kanzlerin bin ich nicht so sicher!) Aber am Ende müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass mit Blick auf eine Einigung der 28 Staaten zurzeit nicht mehr möglich ist. Das betrifft die drei Ziele, über die wir reden. Das betrifft aber auch den Sektor des Emissionshandels. Auch dort ist viel zu wenig passiert. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass das, was wir hier verabredet haben, über alle Fraktionen hinweg eingehalten wird. Ich schätze ja vieles an den Grünen, und Sie müssen uns treiben – das ist auch richtig so –; aber es geht natürlich nicht, dass Sie der Ministerin Falsches unterstellen. Ich habe noch einmal den Redetext der Ministerin durchgesehen. Wenn dort steht: „Es besteht kein Zweifel: Das Erreichen des 40-Prozent-Ziels ist die zentrale Herausforderung für mich als Bundesumweltministerin“ – ich zitiere Frau Hendricks; das hat sie so gesagt – „und eines der wichtigsten Projekte dieser Regierung“, dann ist das doch, glaube ich, nicht in Zweifel zu ziehen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) und dann sollten Sie das an dieser Stelle auch nicht tun. Sie sollten sich auch nicht an Herrn Homann orientieren, der vielleicht eher im Nachklang seines ehemaligen Wirtschaftsministers bestimmte private Philosophien vertritt. Ich finde, man kann ihm sagen, dass er das eigentlich nicht tun sollte. Er muss wissen, dass Dinge anders einsortiert werden, wenn er sich in irgendwelchen Diskussionsrunden dahin gehend äußert. Aber das gilt ganz gewiss nicht für diese Bundesregierung. Das gilt auch für uns alle nicht. Das gilt im Übrigen auch nicht für den Bundeswirtschaftsminister. Ich habe gerade noch einmal Revue passieren lassen, wie es eigentlich zu dem Reduktionsziel von 40 Prozent gekommen ist. Wenn man das einmal historisch einordnet, war es Bundesumweltminister Sigmar Gabriel, der in den Jahren 2005 bis 2009 dafür gekämpft hat, dieses Ziel bei uns in Deutschland festzuschreiben. Insofern wäre es natürlich völlig absurd, ihm zu unterstellen, dass er dieses Ziel unterminieren möchte. (Lachen des Abg. Oliver Krischer) Ganz im Gegenteil: Er wird in der Tat gemeinsam mit Barbara Hendricks dafür sorgen, dass dieses Ziel auch eingehalten werden kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Obwohl ich es hier schon mehrfach gesagt habe, will ich es noch einmal betonen: Das große Verdienst von Barbara Hendricks ist, dass wir uns ehrlich machen in der Debatte; denn in den letzten Jahren haben wir uns in die Tasche gelogen. Ich muss leider auch noch einmal sagen: Insbesondere in den letzten vier Jahren gab es eher Rückschritte als Fortschritte. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fortschritte sehe ich nicht!) In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auch darüber zu diskutieren, dass es im Jahr 2016 einen Klimaschutzplan gibt, weil wir endlich, wie ich finde, gesetzlich überprüfbar deutlich machen müssen, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gesetzlich überprüfbar?) welche Schritte wir im Klimaschutz gegangen sind und welche wir noch gehen müssen. Deswegen ist es wichtig, dass wir am 3. Dezember 2014 ein solches Klimaaktionsprogramm präsentiert bekommen. Eines bleibt, auch nach dem 3. Dezember: Wir werden hoffentlich ein gutes Programm – ich kenne es auch noch nicht – für den Bereich der nichtemissionshandelspflichtigen Sektoren sehen. Was problematisch bleibt, ist der Bereich der emissionshandelspflichtigen Sektoren; gar keine Frage. Wir werden Antworten finden müssen, was passiert, wenn der Emissionshandel auf europäischer Ebene nicht ausreichend funktioniert. Das hat dann auch etwas mit Kraftwerksparks in Deutschland zu tun. Diese Frage werden wir miteinander diskutieren müssen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Ansonsten wird das 40-Prozent-Ziel in der Tat nicht zu erreichen sein. Das ist die Diskussion, die wir in den nächsten Monaten gemeinsam zu führen haben. (Beifall des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich hätte jetzt gerne zitiert, was Sigmar Gabriel bei der Klimakonferenz in Bali 2007 gesagt hat. Zeit dafür habe ich leider nicht mehr. Ich kann das irgendwann einmal nachliefern. Dort hat er nämlich deutlich gemacht, dass es genau darum geht, dass am Ende die Energieversorgungsunternehmen in Deutschland begreifen, dass wir weg müssen vom herkömmlichen Kraftwerkspark hin zu erneuerbaren Energien. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie das 2014 noch einmal sagen, ist es gut!) Mein Eindruck ist, dass viele Unternehmen auf einem guten Weg sind. Unternehmen wie Eon und andere lobbyieren mittlerweile für einen höheren CO2-Preis im Emissionshandel. Wer hätte das vor ein paar Jahren gedacht? Insofern bin ich optimistisch. Wir sollten Vertrauen in die Bundesregierung haben und abwarten, was am 3. Dezember auf den Tisch kommt. Dann werden wir hier sicherlich wieder zusammenkommen und das diskutieren. Ein herzliches Glückauf. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner spricht der Kollege Matern von Marschall. (Beifall bei der CDU/CSU) Matern von Marschall (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir im Dezember nach Peru fahren, dann werden Deutschland und auch die Staaten der -Europäischen Union deutlich machen: Wir stehen zu unseren auf dem Europäischen Rat am 23. und 24. Oktober 2014 eingegangenen Verpflichtungen, und wir stehen zu unserer globalen Verantwortung. Wir können klar und deutlich sagen, wohin die Reise geht. Mit Blick auf die Konferenz in Paris müssen wir einen klaren und verbindlichen Fahrplan vorlegen. Einen Streik können wir uns in diesem Zusammenhang nicht mehr leisten. Die Bundeskanzlerin – das ist gesagt worden – hat diese ambitionierten Ziele auf dem Europäischen Rat durchgesetzt. Dafür sind wir ihr sehr dankbar; Ministerin Hendricks hat es ausgeführt, und ich möchte das auch noch einmal sehr ausdrücklich sagen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dass Europa solche ambitionierten Ziele vorträgt, entspricht auch der besonderen Verantwortung Europas. Bei einem Blick in die Geschichte Europas müssen wir nämlich sagen: Die industrialisierten Länder sind maßgeblich verantwortlich für die Schädigung des Klimas, die wir heute sehen. Das bedeutet auf der anderen Seite aber nicht, dass weniger industrialisierte Länder keine Anstrengungen unternehmen müssen. Im Gegenteil, sie müssen es sehr wohl. Wir wollen und werden ihnen dabei helfen, und zwar unter anderem mit dem Green Climate Fund, der, wie Sie wissen, bis zum Jahr 2020 mit 100 Milliarden Dollar aufgestockt werden muss. Auch diese Verpflichtung wollen wir gegenüber den weniger industrialisierten Ländern eingehen. Eine Klimapolitik, die erfolgreich sein will, ist aber eine Klimapolitik – davon bin ich ganz fest überzeugt –, die nicht anklagen und nicht verurteilen darf, sondern die praktisch und verbindlich vorangehen muss. Darum geht es in Lima, und darum geht es dann in Paris. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Frage, wie wir diese ambitionierten Klimaziele vor Ort erreichen, bezieht sich auf ein riesiges Themenfeld. Vieles davon ist heute angesprochen worden. Ich glaube, wir sollten eine Thematik ganz genau in den Fokus nehmen: Forschung und Entwicklung. Wir haben die deutsche Hightech-Strategie, wir haben nationale Programme angehängt, wir haben ein Horizon-2020-Programm in Europa. Wir müssen diese Programme verstärken und verstetigen. Es geht im Wesentlichen darum, dass Unternehmen und Forschung den Weg in eine marktreife Technologieentwicklung CO2-armer Produkte gemeinsam gehen. Das ist von ganz außerordentlicher Bedeutung. Frau Staatssekretärin Bär, wir hatten vorgestern – jetzt kommt ein Punkt, den ich ganz besonders betonen möchte – eine Veranstaltung in der amerikanischen Botschaft – manche wird das wundern –, bei der wir uns die dies- und jenseits des Atlantiks befindliche Entwicklung der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie angeschaut haben. Kalifornien – für sich genommen die achtgrößte Volkswirtschaft der Welt – ist dabei, ein Wasserstofftankstellennetz aufzubauen, das bis zum Jahr 2021/2022 fertiggestellt sein soll. Dann können in diesem großen amerikanischen Bundesstaat die Menschen CO2-frei mobil unterwegs sein. Weil wir gerade über die Vorreiterrolle diskutieren, will ich schon deutlich sagen, dass wir uns in Europa und in Deutschland auch aus wirtschaftlicher und technologischer Perspektive anstrengen müssen, unsere technologische Vorreiterrolle zu halten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wiederzubekommen! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben keine Vorreiterrolle mehr!) Ich will noch einmal ganz deutlich sagen: In Kalifornien steht das Silicon Valley. Es stellt sich die Frage, was von dort in Zukunft an technologischer Vorreiterrolle noch zu erwarten ist. Die Amerikaner sind eben nicht hinter dem Mond, wie Sie es von den Grünen immer meinen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das behauptet keiner!) Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass das TTIP, das Sie so kritisieren, in dieser Hinsicht schädlich ist. Ganz im Gegenteil, es wird den Wettbewerb auch um diese herausragenden neuen Technologien beflügeln. Dann werden wir sehen, ob Amerika bei dieser modernen CO2-armen Technologie nicht plötzlich vor uns ist. Wir müssen uns anstrengen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube daher, dass wir auf europäischer Ebene besonders stark in Forschung und Entwicklung investieren müssen. Gehen wir also mit Freude, aber auch mit Ehrgeiz und Kraft an diese Herkulesaufgabe! Glauben wir im Übrigen an das Machbare und weniger an die Katastrophe! Gehen wir nach Peru mit folgender Einstellung: Prima Klima in Lima. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Nina Scheer. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Nina Scheer (SPD): Liebe Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Der IPCC-Report verlangt die vollständige Dekarbonisierung in allen Sektoren bis spätestens zum Jahr 2100. Daraus folgt zuallererst für uns in Deutschland, dass wir natürlich nicht das Minderungsziel von 40 Prozent bis 2020 infrage stellen. Ich bin froh, dass das hier so deutlich klargestellt wurde. Zu den Äußerungen von Herrn Homann ist alles gesagt worden. Man sollte sie nicht mit der Bundesregierung in Verbindung bringen. Darüber hinaus – das wurde auch gesagt – müssen wir uns für die Schlussfolgerungen einsetzen, die der IPCC-Report nahelegt, um daraus in Paris entsprechende Handlungserfordernisse zu beschließen. Wenn wir uns die Chronologie der Klimareporte der letzten Jahre anschauen, so erkennen wir, dass die Reporte stets eine eindeutige Aussage enthalten: Ein Nichthandeln ist auf jeden Fall viel teurer als ein Handeln, als eine engagierte Klimapolitik. (Beifall bei der SPD) Bereits heute können wir sehen: Die Vollkosten neuer Wind- und Solaranlagen sind auf dem gleichen Niveau wie die Vollkosten neuer Steinkohle- und Gaskraftwerke. Die emissionsarmen Technologien verursachen somit heute schon keine höheren Kosten mehr als die fossilen Energieträger, die einen großen Rucksack an externen Kosten mit sich schleppen. Insofern ist es jetzt wichtig, in den Bereichen der Erneuerbare-Energien-Technologien, der Effizienzsteigerungsmöglichkeiten und der Wärmeenergiewende endlich auf die Chancen zu blicken und, wenn wir uns diesen neuen Technologien widmen, nicht so sehr die damit einhergehenden Belastungen in den Fokus zu nehmen. Die Erneuerbare-Energien-Technologien, durch deren Anwendung wir den Ausbau in den letzten Jahren erfolgreich hinbekommen haben – darauf ist hingewiesen worden –, zeigen uns auf, welche wirtschaftlichen Chancen in ihnen stecken; wir müssen sie einfach nur besser wahrnehmen. Die im Bericht dargestellten Herausforderungen liegen also darin, endlich die Chancen einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik und einer nachhaltigen Wirtschaftsweise zu erkennen und uns auf eine zukunftsfeste Wirtschafts- und Industriepolitik einzuschwören. Die Energiewende ist der Schlüssel zu ebendieser Industriepolitik. Das ist eine Erkenntnis, die wir aus dem Report zu ziehen haben. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Zitat von Ban Ki-moon, dem UN-Generalsekretär, anbringen. Er sagte auch in Richtung großer Investoren, dass sie mehr Geld in erneuerbare Energien als in fossile Brennstoffe stecken sollen. Damit sagt er nicht nur, dass wir die erneuerbaren Energien voranbringen sollen, sondern auch, dass wir etwas abbauen sollen, dass wir aussteigen sollen. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!) Es geht um die Debatte über das sogenannte Devestment. Das hört sich ein bisschen rückwärtsgewandt an; es ist aber vorwärtsgewandt. Das genau ist der Anknüpfungspunkt. Ban Ki-moon weist richtigerweise darauf hin, dass es nicht nur um den Ausbau erneuerbarer Energien geht, sondern auch um einen Strukturwandel, um den Ausstieg aus veralteten Energiegewinnungsformen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE] und Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dieser Herausforderung müssen wir uns natürlich auch in Deutschland stellen, gerade vor dem Hintergrund der immensen Überkapazitäten am Strommarkt. Ich finde es richtig, dass unsere Umweltministerin genau dieses Themenspektrum benannt hat. Angesichts der Überkapazitäten bedarf es eines klimaschutzgerechten Abbaus, und zwar nur eines solchen. Dafür müssen wir aber einen Perspektivwechsel vornehmen. Jetzt werde ich vielleicht etwas philosophisch. Aber wenn es um einen Perspektivwechsel geht, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass eine Belohnung von Nachhaltigkeitspolitiken in vielen Bereichen nicht angezeigt ist. Wenn wir schauen, wie Ratingagenturen aufgestellt sind, wie das Handeln nicht nur von Investoren, sondern auch von Staaten bewertet wird, dann sehen wir, dass die Bewertungen häufig nicht an Zukunftsfestigkeit und Nachhaltigkeit ausgerichtet sind. Vielleicht wäre es eine Idee, die Entlastungseffekte, die Investitionen in Zukunftstechnologien mit sich bringen, sowie die Langfristigkeit und Zukunftsfestigkeit dieser Investitionen in der Bewertung des Staatshandelns abzubilden. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles super! Hat nur nichts mit der Politik der Bundesregierung zu tun!) Ich sehe, ich bin schon am Ende meiner Redezeit. Insofern möchte ich an dieser Stelle nur einen letzten Aspekt nennen – das wäre eine weitere Forderung an uns selbst –: Bei internationalen Verhandlungen sollten wir im Blick behalten, dass im Hinblick auf das internationale Verständnis von Klimaschutzpolitik Korrekturbedarf besteht. Ich finde es nicht gut, dass die Atomenergie dort nach wie vor – das ist ja nicht erst seit heute so – als eine klimafreundliche Technologie angesehen wird. Das ist eine Hausaufgabe, die Deutschland hat; denn wir sind mit diesem Gedanken schon weit fortgeschritten. Wir müssen das auch international auf die Beine stellen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als letzter Redner in der Debatte spricht der Kollege Carsten Müller. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die heutige Aktuelle Stunde ist eine abermalige gute Möglichkeit, die Haltung der Bundesregierung zu einem Thema zu unterstreichen, das sie sehr ernst nimmt, nämlich dem Klimaschutz. Ich will dafür gerne einige wenige Belege anführen: Wir haben uns verpflichtet, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Dazu stehen wir ohne Wenn und Aber. Mit dem „Aktionsplan Klimaschutz 2020“, an dem intensiv gearbeitet wird und der in allernächster Zeit sehr scharfe Konturen annehmen wird, leiten wir die entscheidenden Schritte ein. Wir denken auch darüber hinaus; denn das große Ziel, das über allem steht, ist eine Absenkung der klimaschädlichen Emissionen bis zum Jahr 2050 um rund 95 Prozent. In Ihrem recht maßvoll gehaltenen Beitrag, Herr Kollege Lenkert, haben Sie an sich die zentrale Frage der heutigen Debatte gestellt, nämlich: Warum macht die unionsgeführte Bundesregierung in der Klimaschutz-politik so weiter wie bisher? – Sie haben leider keine Antwort gegeben. Ich will sie Ihnen gern geben: weil wir uns grundsätzlich auf dem richtigen Weg befinden. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb verfehlen wir die Ziele, oder wie?) – Herr Krischer, zu Ihnen komme ich gleich noch. – Deswegen ist es gut, dass Deutschland entgegen Ihren Behauptungen nach wie vor eine Vorreiterrolle in Europa spielt, Bundeskanzlerin Angela Merkel nach wie vor Klimakanzlerin ist (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Klimakanzlerin a. D.!) und weltweit mit ihren Äußerungen intensiv beobachtet wird. Meine Damen und Herren, das Ziel steht fest: Bis 2030 sollen die CO2-Emissionen um 40 Prozent reduziert werden. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bis 2020! Nicht bis 2030!) Ich will mit Blick auf die europäische Ebene etwas Wasser in den Wein geben und einräumen, dass ich mir bei der Frage des Anteils der erneuerbaren Energien durchaus ambitioniertere Ziele bei der Festlegung hätte wünschen können. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die Energieeffizienz. Herr Krischer, jetzt sind Sie dran. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah!) Sie haben mit der Kollegin Baerbock in dieser Diskussion mächtig auf den Eimer gehauen, und zwar so mächtig, dass ich noch einmal nachschauen musste, aus welchem Heimatbundesland Sie eigentlich stammen. Ich habe nachgeschaut: Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen. Sie waren sogar eine Zeit lang in der Landtagsfraktion tätig; bei der einen oder anderen Gelegenheit ist das immer einmal angesprochen worden. Das Land Nordrhein-Westfalen hat nun ein Klimaschutzgesetz beschlossen. Ich weiß nicht, ob Sie an den ersten Vorläufern beteiligt waren. Aber ehrlich gesagt ist das eine herbe Enttäuschung – leider haben Sie es aus unserer Sicht völlig unterlassen, Frau Baerbock, sich dazu einzulassen –: Leider steht in diesem Klimaschutzgesetz, das von einer rot-grünen Landesregierung auf den Weg gebracht und verabschiedet wurde und das von einem grünen ressortzuständigen Minister ganz wesentlich in die Wege geleitet wurde, ein CO2-Minderungsziel von 25 Prozent. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erste Klimaschutzgesetz in Deutschland! – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) – Herr Krischer, ehrlich gesagt: Nutzen Sie Ihre künftigen Redezeiten, um diese Peinlichkeiten zu erklären! (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch albern! Das ist völlig albern, was Sie hier machen!) Ich mache etwas anderes, weil die Zeit voranschreitet. Ich erspare Ihnen die Peinlichkeit, die von der Landesregierung im Internet eingestellte Sprachregelung, wie man am besten antworten soll, wenn man diese kritische Frage gestellt bekommt, in der Langversion vorzulesen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Ich gebe Ihnen die Antwort, die richtig ist: weil es die rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen nicht kann und – das befürchte ich – weil sie das nicht will. (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann nennen Sie mal ein Bundesland mit einer schwarzen Regierung! – Zuruf von der SPD: Vorsicht! Vorsicht!) Am besten verwenden Sie, wie gesagt, beim nächsten Mal etwas Redezeit darauf. Meine Damen und Herren, Klimaschutzpolitik ist sehr konkret. Dazu müssen alle Bereiche ihren Beitrag leisten. Ich will im Wesentlichen einen Beitrag herausgreifen, damit es auch konkret wird, nämlich den Bereich des Verkehrs. Zwischen 1999 und 2012 haben wir in der Bundesrepublik – das untermauert die Vorreiterrolle – die CO2-Emissionen um 31 Millionen Tonnen gesenkt. Wir haben das mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen erreicht, die auch weitergeführt werden sollen, beispielsweise zum Thema „Elektromobilität“. Da sind wir mit der Bundesregierung auf einem klugen Weg. Das Elektromobilitätsgesetz ist mit einer Vielzahl von Anreizen auf den Weg gebracht worden und wird intensiv diskutiert. Ich finde das richtig. Ich finde es auch richtig, dass wir zu intelligenten Verkehrsverlagerungen gekommen sind. Angesichts der aktuellen Situation muss ich allerdings anmerken, dass bei diesem Ziel, das so wichtig ist, der aktuelle Streik der Lokführer in der Bundesrepublik durchaus kontraproduktiv ist. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bitte Sie!) Das ist ein Ansatz, wie man Klimapolitik mit kleinen und insofern auch unrichtigen Maßnahmen unterminieren kann. Ich will allerdings gern noch einige Hinweise geben, was aus meiner und aus unserer Sicht in Angriff genommen werden sollte, beispielsweise ein stärkeres Setzen auf alternative Antriebe und alternative Treibstoffe. Die steuerliche Begünstigung von Autos mit Gasantrieb muss weiterhin gewährleistet sein, und auch Rußpartikelfilter – das habe ich mehrfach gesagt, auch im Koalitionsvertrag steht das eindeutig – sollten weiterhin steuerlich gefördert werden. Frau Hendricks, hier müssten Sie bitte noch nachbessern und auch schneller liefern. Gestatten Sie mir zum Schluss, damit es konkret wird, eine Bemerkung zu einem Bereich, der mir sehr am Herzen liegt. Klimaschutz wird nur dann für alle besonders gut nachvollziehbar und umsetzbar, wenn wir uns gemeinsam um die steuerliche Förderung von energetischer Gebäudesanierung kümmern. Ich hoffe, dass wir hier in diesem Hause sehr schnell einen breiten Konsens herstellen können. Wenn wir hier in diesem Hause Konsens erreichen, dann werden wir auch die Bundesregierung dazu bewegen, dieses wichtige Thema künftig schneller und entschlossener anzugehen, als sie es bisher getan hat. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aktuelle Stunde. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften Drucksachen 18/2581, 18/3004 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) Drucksache 18/3077 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/3083 Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke sowie ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der Debatte hat der Staatssekretär Dr. Günter Krings das Wort. Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der heutigen Sitzung liegt dem Deutschen Bundestag der Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften zur abschließenden Beratung vor. Grundlage dieses Gesetzentwurfs – das wissen wir – ist der Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses der Bundesregierung, der sich mit „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“ – so der ausführliche Titel – befasst hat. Der Ausschuss war notwendig und richtig, weil es zwei bewussten oder auch unbewussten Fehlbewertungen der Armutszuwanderung innerhalb der EU entgegenzutreten galt. Es war und ist nicht klug, diese Zuwanderungsprobleme innerhalb der EU zu überschätzen. Aber es war und ist mindestens ebenso gefährlich für die Akzeptanz der europäischen Integration, wenn Politiker die damit zusammenhängenden Probleme ignorieren oder die Belastungen für Bürger und Städte gar tabuisieren. Mit dem Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung zentrale Vorschläge des Ausschusses zur Unterbindung von Missbrauch im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsrecht sowie zur Entlastung betroffener Kommunen konsequent um. Verschiedene Kommunen und kommunale Spitzenverbände haben in dringlichen Appellen wiederholt auf die Belastungen hingewiesen, die mit einer steigenden Zuwanderung aus der EU verbunden sind. Die Berichte der Kommunen zeigen aber auch: Es gab und es gibt hier kein flächendeckendes Problem. Eine Reihe von Kommunen, in erster Linie einige Großstädte, sieht sich aber zu Recht durch die Folgen eines stetig wachsenden Zuzugs aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union belastet. Die Bundesregierung hat hier einen Handlungsbedarf erkannt. Die Bundesregierung hat mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf einen Handlungsvorschlag gemacht. Die Zuwanderung aus anderen EU-Staaten bringt für unser Land und auch für die zuziehenden Menschen in erster Linie viele Vorzüge mit sich. Der weit überwiegende Teil der Zuwanderer kommt zu uns, um eine Arbeit oder eine Ausbildung aufzunehmen. Ich will es deshalb noch einmal sehr deutlich betonen: Die Freizügigkeit in Europa ist eine der bedeutendsten Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses und einer der sichtbarsten Vorzüge Europas für seine Bürger. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CDU hat sich zum Schluss auch noch zum Klatschen entschlossen!) Die europäische Freizügigkeit hat aber klare rechtliche Voraussetzungen. Sie gilt insbesondere für die Aufnahme einer Ausbildung oder einer Arbeit oder zu einer konkreten Suche nach einem Arbeitsplatz. Es gibt keinen europarechtlichen Grundsatz, wonach zum Beispiel nur die Mehrheit der Zuwanderer, die aus einem Mitgliedstaat nach Deutschland kommt, die rechtlichen Voraussetzungen der Freizügigkeit erfüllen muss. Die Voraussetzung für dieses Recht muss jeder Einzelne erfüllen. Gerade weil die Europäische Union mehr ist als ein Staatenbund, gerade weil sie eine Union der Bürger ist, müssen die Voraussetzungen der Freizügigkeit bei jedem einzelnen Zuwanderer, in seiner Person, vorliegen. Darauf bestehen wir. Wir dürfen nicht so tun, als ob mit einem steigenden Zuzug von Menschen aus anderen Mitgliedstaaten vor Ort, in den Städten und Gemeinden, nicht auch Probleme verbunden sein könnten. Betroffene Städte und Gemeinden berichten von einer steigenden Belastung ihrer Systeme der kommunalen Daseinsvorsorge und von einer Verschärfung sozialer Probleme. Dabei geht es etwa um den Bereich der Schule, um die Versorgung mit Wohnraum, um die unberechtigte Inanspruchnahme sozialer Leistungen oder um die Gesundheitsversorgung. Aktuell sehen sich Städte und Gemeinden zusätzlich belastet, weil sie eine stetig steigende Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern aufnehmen sollen; darüber haben wir heute Mittag in diesem Hause debattiert. Auch diesbezüglich will der Bund im Rahmen seiner Möglichkeiten dazu beitragen, rasch Lösungen zu finden. Das letztgenannte Thema ist zwar nicht das Thema dieser Debatte, man muss aber sehen, dass diese beiden zusätzlichen Aufgaben viele Kommunen vor große Herausforderungen stellen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgen wir zwei zentrale Ziele: Erstens. Wir wollen die betroffenen Kommunen substanziell entlasten. Zweitens. Wir wollen die Akzeptanz in unserer Gesellschaft für die Freizügigkeit in Europa nachhaltig sichern. Gerade deshalb ist es wichtig, gegen Missbrauch im Zusammenhang mit diesem Recht gezielt vorzugehen. Lassen Sie mich kurz einen Blick auf die Hilfen für unsere Kommunen werfen: Wir stocken die Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem Sozialgesetzbuch II um 25 Millionen Euro auf. Das Geld kann, so wir das hier beschließen, noch in diesem Jahr an die Länder fließen, in denen die besonders involvierten Städte und Gemeinden liegen, damit es dann möglichst umgehend – hoffentlich – an die betroffenen Kommunen zielscharf weitergegeben werden kann. Künftig sollen durch eine Änderung im Sozialgesetzbuch V die Impfkosten für Kinder und Jugendliche mit ungeklärtem Krankenversicherungsstatus übernommen werden. Zur Unterbindung von Missbrauch im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsrecht sieht der vorliegende Gesetzentwurf eine Reihe von Maßnahmen vor: Im Freizügigkeitsrecht sollen befristete Wiedereinreisesperren im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug ermöglicht werden. Das Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche soll in Übereinstimmung mit dem Europarecht befristet und die Erschleichung von Aufenthaltsbescheinigungen durch falsche Angaben konsequent unter Strafe gestellt werden. Beim Kindergeld wollen wir wirksam Doppelzahlungen unterbinden. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das jetzt mit EU-Freizügigkeits-Berechtigung zu tun?) Künftig wird die Kindergeldzahlung von der eindeutigen Identifikation von Antragstellern und Kindern durch Angabe der steuerlichen Identifikationsnummer abhängig sein. Ferner wollen wir entschieden gegen Scheinselbstständigkeit und Schwarzarbeit vorgehen. Dazu sieht der vorliegende Gesetzentwurf eine Regelung vor, mit der die Zusammenarbeit mit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit intensiviert wird. Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung können jedoch in keinem Fall allein zu einer Lösung der anstehenden Probleme beitragen. Wir wollen den betroffenen Menschen, die sich mit Recht hier aufhalten, die Integration erleichtern. Wir werden Integrationskurse in besonders betroffenen Kommunen stärker auf den Bedarf von zuziehenden EU-Bürgern zuschneiden und gezielt spezifische Hemmnisse für eine Teilnahme an Integrationsangeboten abbauen. Damit unterstützen wir nicht nur zuziehende EU-Bürger, sondern wir leisten hiermit auch einen Beitrag zur Entlastung der Kommunen bei der Integration vor Ort. Meine Damen und Herren, die Zuwanderung nach Deutschland ist nicht statisch, sondern ein Prozess, der in seiner Form, seinem Ablauf und seinen Gründen einem kontinuierlichen Wandel unterworfen ist. Damit verändern sich auch die sich daraus ergebenden politischen Herausforderungen. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, kann auch aus diesem Grund keine Antwort auf alle Probleme im Zusammenhang mit dem Zuzug aus anderen EU-Staaten geben. Er ist aber ein wichtiger Schritt zur Entlastung der Kommunen und zur Unterbindung von Missbrauch. Damit wollen wir zugleich die Aufnahmebereitschaft in unserer Gesellschaft insbesondere für Menschen erhalten, die zu uns kommen und unserer Hilfe in besonderer Weise bedürfen. Diese Koalition bleibt dabei: Wir treten für Freizügigkeit, aber auch gegen den Missbrauch von Rechten ein. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber der Missbrauch wird ausdrücklich nicht im Staatssekretärsbericht bestätigt!) Genau das schaffen wir hiermit. Außerdem ist dies ein großer Beitrag zur Entlastung der Kommunen. Wir zeigen, dass diese Koalition auch die kommunalen Probleme ernst nimmt und sie nicht unter den Teppich kehrt. Diese Koalition sorgt sich um die Städte und Kommunen in unserem Land und arbeitet daran mit, dass die Probleme, die dort entstehen, gelöst werden. Aus diesem Grunde bitte ich Sie ganz herzlich um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man muss hier deutlich sagen: Vor einem Jahr wurde mit dem Slogan „Wer betrügt, der fliegt“ insbesondere von der CSU eine doch recht populistische Debatte befeuert, die vor allen Dingen darauf aus war, Menschen aus Bulgarien und Rumänien und insbesondere Roma, die hierher zuwandern, auszugrenzen und zu treffen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt ja nicht! Es geht um den sozialen Missbrauch!) Bis heute hat es keinen einzigen Beleg gegeben, dass es diesen Missbrauch ernsthaft gibt. Natürlich gibt es Einzelfälle. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Aha! Die Stadt Duisburg schön also, ja?) Aber dass über 400 000 Menschen aus Bulgarien und Rumänien eingewandert sind, hier arbeiten, Steuern zahlen, in die Sozialsysteme einzahlen und die deutsche Gesellschaft davon im Grunde genommen auch profitiert, hört man hier nie. Es wird immer auf die Minderheit abgestellt, von der der eine oder andere im Hinblick auf den Sozialhilfebedarf vielleicht einmal falsch vorgegangen ist. Ich will hier ganz deutlich sagen: Die Linke ist dafür, dass EU-Bürgerinnen und -Bürger ihre sozialen Rechte wahrnehmen können und vor allen Dingen der Bund Unterstützung leisten muss, wenn es in den Kommunen der Hilfe bedarf, insbesondere was Ausbildung und Fortbildung angeht. Meine Damen und Herren, die sozialen Rechte der Unionsbürgerinnen und -bürger werden von dieser Bundesregierung unter Vorbehalt gestellt. Laut Gesetzentwurf soll sein Aufenthaltsrecht verlieren, wer nach sechs Monaten noch keine Arbeit gefunden hat. Diese Regelung ist pauschal und sehr restriktiv. Mir soll einmal jemand zeigen, wie das gehen soll, wenn man in einem anderen EU-Staat völlig neu anfängt. Damit nicht genug: In Zukunft sollen auch Kindergeldstellen, Jobcenter und Krankenkassen prüfen, ob Unionsbürger und -bürgerinnen möglicherweise länger als ein halbes Jahr in Deutschland verbleiben können, weil sie die Voraussetzungen erfüllen müssen. In der Sachverständigenanhörung, die wir im Innenausschuss durchgeführt haben, haben wir einige Beispiele gehört, die gezeigt haben, wie absurd die Folgen sein können. Ein Beispiel: Eine EU-Bürgerin aus Dänemark, die mit ihrem Mann und zwei Kindern nach Deutschland gekommen ist, wird von ihrem Mann verlassen. Sie hat die Kinder inzwischen aber gut integriert; sie gehen in den Kindergarten, sie haben Freunde, sie sprechen die deutsche Sprache. Deshalb möchte die Frau gerne hierbleiben. Aber wenn sie nicht schnell genug Arbeit findet, kann ihr Folgendes passieren: Die Kindergeldstelle lehnt ihren Kindergeldantrag ab, die Krankenkasse verweigert den Versicherungsschutz, das Jobcenter lehnt den Antrag auf Hartz IV und Qualifikationsmaßnahmen ab. Am Ende kommt die Ausländerbehörde aber zu einem ganz anderen Ergebnis und bestätigt ihr Aufenthaltsrecht. Die Familie darf bleiben, verliert aber ihre sozialen Rechte. Wie perfide ist denn das? Was ist denn das für ein Bürokratiekram? (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie wollen wieder Einreisesperren einführen, wie wir eben schon gehört haben, beispielsweise dann, wenn ein EU-Bürger die Behörden getäuscht hat. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Oh, wie furchtbar! Das ist ja unglaublich!) Doch den Unionsbürgerrechten zufolge sind Einreisesperren nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erlaubt. Der Gesetzentwurf geht also weit über das Erlaubte hinaus und setzt eine Täuschung der Behörden mit einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit gleich; auch das ist doch völlig absurd. In Sonntagsreden betonen wir hier immer wieder, wie wichtig die Freizügigkeit der EU ist; das haben wir eben auch wieder gehört. Aber hier schaffen Sie Regelungen, die dieses Recht aushöhlen. Das nenne ich eindeutig Heuchelei. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will noch kurz auf den vermeintlichen sozialen Missbrauch eingehen. Ich habe es eben schon einmal gesagt: Im vergangenen Jahr gab es 91 Fälle, in denen der Verdacht bestand, dass Sozialhilfemissbrauch bzw. -betrug begangen wurde. Wie gesagt, dem steht gegenüber, dass über 400 000 Menschen hier arbeiten. Man fragt sich also wirklich: Warum dieser Aufwand? Warum diese Einschränkung bei einem ganz wichtigen Recht der EU, nämlich bei der Freizügigkeit? Dazu hat zu der Anhörung eine zuständige Bezirksstadträtin aus Berlin-Neukölln in ihrer Stellungnahme geschrieben, dass europäische Unionsbürger lediglich ihr Recht auf Freizügigkeit nutzten und die damit verbundenen Sozialleistungen in Anspruch nähmen. Dabei könne nicht automatisch von einem Missbrauch oder -Sozialleistungsbetrug gesprochen werden, sondern in vielen Fällen lediglich von einer Wahrnehmung von Rechten. Man kann es auch anders ausdrücken: Sie stellen mit diesem Gesetz und Ihrem weiteren Vorhaben das Frei-zügigkeitsrecht infrage, weil es vereinzelte Fälle von Missbrauch geben mag. Das nenne ich, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, die Linke nimmt den Grundgedanken der Europäischen Union ernst. Wir sind dafür, dass alle Unionsbürger und -bürgerinnen die -gleichen Rechte haben. So sollte man es auch weiter praktizieren. Das Gesetz ist völlig überflüssig und reine Schikane. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Castellucci das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Lars Castellucci (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zwei Feststellungen: Deutschland braucht Zuwanderung, und Deutschland profitiert von Zuwanderung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutschland braucht Zuwanderung, weil wir in einigen Jahren, in einigen Jahrzehnten auch noch Leute -haben müssen, die die Steuern zahlen, die wir für den -Erhalt unserer Infrastruktur brauchen, weil wir Leute brauchen, die in die Sozialversicherungssysteme einzahlen, damit unter anderem die Renten meiner Generation auch noch finanziert sind, damit die Angehörigen meiner Generation und der vielen Generationen, die hoffentlich noch nachkommen, gepflegt werden können, und wir brauchen Leute für andere Bereiche, in denen Fachkräftemangel herrscht. Außerdem profitieren wir von Zuwanderung. So ist es im Bericht des Staatssekretärs eindeutig festgehalten. Das gilt insbesondere – darum ging es ja – für die Menschen, die aus Europa zu uns kommen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragt sich, was Sie bei dieser Begründung mit dem Gesetzenwurf wollen!) Gleichzeitig – das ist ja kein Wunder – ist Zuwanderung bzw. das Zusammenleben insgesamt immer mit Problemen behaftet. Das will ja niemand in Abrede -stellen. Wo stellen sich diese Probleme? Sie stellen sich bei den Kommunen; denn da kommen die Menschen an, und da brauchen sie im Zweifel Wohnraum. Ferner müssen die Kinder in die Schule gehen; denn für sie gilt die Schulpflicht. Außerdem stellt sich die Frage von Arbeit. Da stellt sich die Frage, was passiert, wenn jemand krank wird, usw. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! Das sind die Probleme, die aber nicht angegangen werden!) Deswegen ist es gut – und das ist auch für uns der zentrale Inhalt dieses Gesetzesvorhabens –, dass wir die Kommunen entlasten und mit 25 Millionen Euro für Kosten der Unterkunft unterstützen (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie glauben nicht, dass das reicht, oder? Nicht ernsthaft!) und dass Impfkosten für Kinder von EU-Bürgerinnen und -Bürgern übernommen werden. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Einzige!) Zuwanderung ist nicht nur selbst gut, sondern man muss sie auch gut machen. Was heißt steuern und gestalten? (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wiedereinreisesperre!) Man könnte in Abwandlung eines alten Spruches sagen: Wer morgen sicher leben will, der muss heute Zuwanderung nicht nur zulassen, sondern er muss sie steuern und gestalten. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist der Rechtsanspruch auf Integrationskurse?) Wer nicht immer nur in kurzfristigen Zeiträumen denkt, der weiß, dass wir in den vergangenen Jahren – nehmen wir einfach das abgelaufene Jahrzehnt – nicht nur Jahre mit steigenden Zuwanderungszahlen hatten, sondern sogar Minuszahlen. Wir sind also weit entfernt von der Zuwanderung, die wir brauchen für den Infrastrukturerhalt, für die Sozialversicherungsbeiträge und für Steuern in der Zukunft. Wir machen die Zuwanderung nicht gut genug, damit sich diese Versprechen in Steuern, in Sozialversicherungsbeiträgen und in Integration einlösen können. Wir haben hier wirklich noch eine große Gemeinschaftsaufgabe vor uns. Es gibt eine Fülle von legalen Zugangswegen. Diese Fülle von legalen Zugangswegen ergibt aber noch kein Gesamtkonzept. Daran müssen wir weiter arbeiten. (Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat wenig mit EU zu tun!) Jetzt zur EU-Freizügigkeit. Das ist eine große Errungenschaft. Das ist zu Recht schon gesagt worden. Ich finde, das ist fantastisch. Für mich – dabei denke ich an Sonntag – wächst da ein Stück weit zusammen, was in Europa zusammengehört. Ich habe das Fernziel, dass wir irgendwann einmal eine vollständige Freizügigkeit in Europa haben. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu leisten Sie aber keinen Beitrag!) Ich weiß nicht, ob ich das jemals erleben werde. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn die Regierung so weitermacht, sicher nicht!) Aber vielleicht kann ich ein Stück weit dafür arbeiten. In jedem Fall wird es eine Zeit mit einem Übergang geben, und es ist nicht richtig, wenn wir Übergänge diffamieren, die wir doch brauchen, weil die Zuwanderung auch gestaltet und geregelt werden muss. Zu einer Regelung können, wie es hier vorgesehen ist, auch Elemente von Befristung oder Wiedereinreisesperren gehören. Bei Letzteren geht es um Einzelfälle, um schwerwiegende Einzelfälle. Wir haben zugesagt, dass wir in zwei Jahren ganz sachlich und nüchtern analysieren werden, ob da weiterer Steuerungsbedarf besteht. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur konnten Sie die Einzelfälle im Ausschuss auf Nachfrage nicht beschreiben!) Ich möchte gerne etwas aufgreifen, was häufig genannt wird: dass wir die Ängste der Menschen ernst nehmen sollen. Das finde ich richtig. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie sollten sie nicht schüren!) Gleichzeitig muss man fragen: Was heißt es denn, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen? Nehmen wir einmal an, jemand hat Angst vorm schwarzen Mann – bitte nicht politisch verstehen! (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie meine Ängste bitte ernst!) Dann nehme ich das vielleicht erst einmal ernst; aber man kann ja nicht regieren, indem man einen schwarzen Mann, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es kann auch eine schwarze Frau sein!) den es gar nicht gibt, ausweist oder mit einer Wiedereinreisesperre belegt, sondern müsste an die Wurzeln der Ängste herangehen. Die Wurzeln von Ängsten stehen aus meiner Sicht gar nicht unbedingt eng mit der Frage der Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern in Zusammenhang, sondern haben etwas damit zu tun, dass die Menschen selbst keinen sicheren Stand haben. Es ist die Frage, ob sie mithalten können in einer Gesellschaft, die so extrem auf Konkurrenz, auf Leistungsdruck aufbaut, wie wir das in den letzten Jahren zugelassen haben. Wir müssen also die Menschen ernst nehmen in ihren Ängsten; aber wir dürfen die Ängste nicht zum Maßstab unserer Politik machen, sondern müssen an den Wurzeln ansetzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es gibt nicht nur Menschen mit Ängsten, es gibt auch die andere Seite: Fast die Hälfte der Menschen sagt, wir sollten sogar mehr tun, wenn es um Flüchtlinge, beispielsweise aus dem Irak oder aus Syrien, geht. Ich will, dass wir hier als Politikerinnen und Politiker Unterstützer und Ermöglicher sind für alle die, die sich für dieses Miteinander in Deutschland einsetzen. Darüber, wie das gelingen kann, würde sich eine Debatte wahrlich lohnen. Anfang der Woche ist der Deutsche Dialogpreis verliehen worden. Das war eine ganz wunderbare Veranstaltung, bei der unter anderem Dr. Navid Kermani ausgezeichnet worden ist, der im Mai dieses Jahres hier eine beeindruckende Rede gehalten hat. Das sind Menschen, die sich für interreligiösen Dialog, für interkulturellen Dialog einsetzen, Menschen, die sich anderen, die fremd sind, nähern und dadurch sich selbst ein Stück weit besser kennenlernen, Menschen, die in vielen Projekten für ein gutes Miteinander arbeiten. Mein Wunsch ist, dass wir in unserem Reden und unserem Tun uns diese Menschen, diese Brückenbauerinnen und Brückenbauer, zum Vorbild nehmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich schließe mit einem der Preisträger, dem Rabbiner Ben-Chorin. Er hat an dem Abend gesagt: Mauern, die wir nicht sehen, sind gefährlicher als die, die wir sehen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Brett vor dem Kopf der -Koalition!) Mit Blick auf die morgige Feierstunde will ich sagen: Lassen Sie uns weiter gemeinsam daran arbeiten, Mauern abzutragen: um Europa, in Europa und in unseren Köpfen. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie bauen -Mauern! Sie bauen Mauern!) So tragen wir die Fackel der friedlichen Revolution weiter. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Volker Beck das Wort. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Castelluci, Sie haben zu vielem gesprochen, aber nicht zu dem Gesetzentwurf, um den es heute geht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Lars Castellucci [SPD]: Hat mich das Ziel verlassen!) Ich kann das in gewisser Weise verstehen: Es war Ihnen schon im Ausschuss anzumerken, dass Ihnen ziemlich unwohl ist bei diesem Gesetzesvorhaben. Ich bin mit Ihnen von der Koalition einig: Wo Sozialbetrug stattfindet, müssen wir ihn bekämpfen. Deshalb stimme ich der Regelung, als Voraussetzung für das Kindergeld die Steueridentifikationsnummer zu verlangen, auch vollkommen zu. Niemand soll für seine Kinder doppelt Kindergeld beziehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Das ist richtig und unterstützenswert, hat mit der EU-Freizügigkeit aber überhaupt nichts zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es waren 2 400 deutsche Beamte, die doppelt Kindergeld bezogen haben. Ihr Staatssekretärsbericht weist nicht einen einzigen doppelten Kindergeldbezug von Bulgaren oder Rumänen nach. Sie haben von Ängsten gesprochen. Schüren Sie keine Ängste! Erfinden Sie keine Ängste in der Bevölkerung! Reden Sie den Menschen nicht ein, es gäbe bei Bulgaren und Rumänen Sozialbetrug, den es in Wirklichkeit bei den deutschen Beamten gegeben hat, wie der Bundesrechnungshof festgestellt hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Lars Castellucci [SPD]: Auch sehr pauschal!) So betreiben Sie nämlich gemeinsam mit Ihrer Kampagne „Wer betrügt, fliegt“ das Geschäft der AfD und nicht das Geschäft eines demokratischen, friedlichen und rechtsstaatlichen Europas. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Auch die Bekämpfung der Schwarzarbeit oder die bessere Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden, die Impfaktionen für Kinder aus Europa – ich finde, man könnte auch die Kinder aus Staaten der EWR impfen, wenn der Krankenversicherungsstatus nicht geklärt ist –, all das unterschreiben wir. Die Entlastung der Kommunen durch die Übernahme von 25 Millionen ist nicht genug, aber besser als nichts. Darüber gibt es keinen Streit. Aber was Sie dann bei der EU-Freizügigkeit machen, wird durch keine Tatsache in Ihrem Staatssekretärs-bericht gedeckt. Das machen Sie nur, um der CSU sagen zu können: Für eure Kampagne gab es tatsächlich einen Grund. Es gab dafür keinen Grund; das haben Sie selber aus dem Staatssekretärsbericht richtig zitiert. Es ist infam, jetzt die EU-Freizügigkeit einzuschränken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich bin da näher bei der Kanzlerin als bei der Koalition. Die Mitglieder dieser Koalition und die Kanzlerin sind heute Gott sei Dank kaum da. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Uli Grötsch [SPD]: Sehen Sie uns nicht?) Die Kanzlerin hat gesagt: Deutschland wird an dem Grundprinzip der Bewegungsfreiheit in der EU nicht rütteln. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir auch nicht!) Die Abgeordneten der Koalition, die heute da sind, werden nachher, wenn sie dem Gesetzentwurf zustimmen, sehr wohl an der Freizügigkeit rütteln. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Nein! Wir tun etwas gegen Sozialmissbrauch!) Sie regeln Wiedereinreisesperren für EU-Freizügigkeits-Berechtigte über das vorhandene Maß hinaus, das wir heute schon haben – für Menschen, die eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit in Deutschland sind, haben wir diese Regelung schon –, für Fälle, bei denen das nicht zulässig ist. Es kann schon sein, dass einmal ein EU-Bürger, nicht nur ein Deutscher, einen Fehler beim Ausfüllen eines Antrags beim Jobcenter macht. Das ist nicht okay, egal ob es vorsätzlich oder fahrlässig ist. Aber dann zu sagen, dieser Bürger dürfe nicht wieder einreisen, ist eindeutig europarechtswidrig. (Dr. Lars Castellucci [SPD]: Das ist Quatsch! Weil es nicht drinsteht!) Auch den Fall, dass jemand zum Beispiel vortäuscht, er habe einen 400-Euro-Job, den er gar nicht hat, um als Aufstocker sein Freizügigkeitsrecht zu untermauern und seine Sozialbezüge zu erhalten, kann man sich ausdenken und könnte es theoretisch geben. Nachgewiesen, dass das in relevanter Zahl vorkommt, haben Sie nicht. In diesen Fällen wäre auch eine Wiedereinreisesperre rechtlich nicht zulässig. (Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Doch!) Sie können ihn rausschmeißen. Aber wenn er zwei Jahre später – die Einreisesperre soll fünf Jahre dauern – einen Deutschen oder einen in Deutschland lebenden Ausländer heiratet oder sich verpartnern lässt, dann darf er -natürlich wieder einreisen. Dass Sie das hier verbieten wollen, verstößt gegen die Richtlinie zur Freizügigkeit der Europäischen Union. Ich garantiere Ihnen: Früher oder später wird Sie der Europäische Gerichtshof darauf hinweisen, und zwar zu Recht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Es ist klar – da lag Frau Jelpke nicht ganz richtig –: Natürlich ist die Freizügigkeit zur Arbeitsaufnahme im europäischen Recht auf sechs Monate begrenzbar; darüber darf man auch reden. Jetzt steht noch eine Begrenzung von drei Monaten im Gesetz. Bloß, bislang haben wir gesagt: Es reicht aus, wenn sich die hier lebenden EU-Bürger ernsthaft um Arbeit bemühen. Sie wollen jetzt, dass dies mit „Aussicht auf Erfolg“ geschieht; auch darüber könnte man reden. Aber das soll jetzt auf einmal das Ausländeramt beurteilen. Mit welcher Expertise sollen die Mitarbeiter das denn machen? Wenn diese Menschen keine Sozialleistungen beanspruchen: Warum wollen Sie sie dann rausschmeißen? Das ist eine Begrenzung der EU-Freizügigkeit, wie wir sie politisch nicht wollen und wie wir sie auch nicht brauchen, weil die Möglichkeiten, aufenthaltsbeendende Maßnahmen einzuleiten, schon nach jetzigem Recht bestehen. Aber bürokratisieren Sie diesen Quatsch nicht dadurch, indem Sie Ämtern Aufgaben zuweisen, die diese aus eigener Erkenntnis überhaupt nicht bewältigen -können. Dabei kommen falsche Entscheidungen heraus. Das geht zulasten der Freizügigkeit. Deshalb lehnen wir diese Regelung ab. Wir schlagen Ihnen vor: Beschließen Sie die Entlastung der Kommunen. Beschließen Sie die Regelung zum Kindergeld, und nehmen Sie den Artikel 1 mit der Beschränkung der EU-Freizügigkeit einfach wieder aus dem Gesetzentwurf heraus. Sie haben eine letzte Chance, bevor der Gesetzentwurf in den Bundesrat geht. Sie können das heute durch Zustimmung zu unserem Änderungsantrag korrigieren. Ich weiß, Herr Castellucci, im Herzen sind Sie auf jeden Fall dabei, wenn wir nachher darüber abstimmen. Ich wünschte mir, es wäre dann auch in der Realität so. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat die Kollegin Andrea Lindholz das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Andrea Lindholz (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Freizügigkeit ist und bleibt der zentrale Bestandteil unseres gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraumes, von dem Deutschland als Exportnation besonders profitiert: Deutschland verkauft 60 Prozent seiner Exporte zollfrei innerhalb der EU. 40 Prozent unserer Exporte gehen in den Euro-Raum; sie sind sowohl von Zöllen als auch von teuren Währungsschwankungen befreit. Die europäische Integration fördert aber nicht nur den deutschen Außenhandel. Unsere Wirtschaft profitiert auch von den vielen qualifizierten und motivierten Migranten aus der EU. Angesichts unserer überalternden Bevölkerung und der geringen Geburtenrate kann daran auch kein Zweifel bestehen. Von 3,1 Millionen EU-Bürgern, die letztes Jahr in Deutschland lebten, waren 146 000 arbeitslos gemeldet. Das entspricht knapp 5 Prozent aller Arbeitslosen in Deutschland. Die große Mehrheit der ausländischen EU-Bürger in Deutschland arbeitet, zahlt Steuern und Sozialabgaben und trägt zu unserem Wohlstand bei. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ihr Freizügigkeitsrecht bleibt völlig unbestritten. Trotzdem muss man klarstellen, dass es in den EU-Verträgen kein uneingeschränktes Recht auf Freizügigkeit gibt. Wir Bundesbürger haben ein unbedingtes bzw. unbeschränktes Freizügigkeitsrecht nur innerhalb Deutschlands, aber nicht in der gesamten EU. In den EU-Verträgen heißt es wörtlich: Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich … vorbehaltlich der … in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen … Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Diese Durchführungsvorschriften sollte unter anderem die Freizügigkeitsrichtlinie näher definieren. Ihre Vorgaben sind allerdings ungenau. Das Resultat ist, dass es auf nationaler Ebene teilweise erhebliche Rechtsunsicherheiten gibt. Fest steht aber, dass die Mitgliedstaaten gewisse Handlungsspielräume besitzen, um die Freizügigkeit auszugestalten und zu steuern. Darauf hat auch die Kommission immer wieder hingewiesen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie trotzdem Artikel 15! Das ist zwar ein bisschen verworren geschrieben, aber ziemlich rechtsklar!) – Herr Kollege Beck, ich kenne die Artikel, aber ich glaube, Sie kennen sie nicht alle. – Artikel 35 der Freizügigkeitsrichtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten ausdrücklich, Herr Kollege Beck, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Maßnahmen!) Missbrauch und Betrug im Rahmen der Freizügigkeit zu bekämpfen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) Aus Artikel 7 der Richtlinie geht zudem hervor, dass speziell das Freizügigkeitsrecht von Personen, die nicht arbeiten, an Bedingungen geknüpft ist. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie weit reicht es?) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nutzt die Bundesregierung ihren rechtlichen Spielraum und zieht wesentliche erste Schlüsse aus dem Bericht des Staatssekretärsausschusses zur Armutsmigration. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck zu? Andrea Lindholz (CDU/CSU): Ich glaube, ich komme noch zu dem Punkt. Aber wir können es gerne schon vorher diskutieren. Die Zeit wird ja angehalten. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Ja. Gut. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Würden Sie mir zustimmen, dass in Artikel 35 der Freizügigkeitsrichtlinie, auf die Sie sich gerade bezogen haben, anders als in Artikel 15 das Wort „Wiedereinreisesperren“ nicht vorkommt? Dort heißt es nämlich: Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug – wie z. B. durch Eingehung von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Das ist eine abschließende Aufzählung. Dann heißt es weiter, „solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein“ und sich „nach den Artikeln 30 und 31“ im Verfahrensrecht richten. Damit ist eindeutig klar, dass Artikel 15 die Spezialregelung ist, und diese regelt die Wiedereinreisesperren abschließend aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. Das, was Sie vorgetragen haben, betrifft aber nicht öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Andrea Lindholz (CDU/CSU): Herr Kollege Beck, Sie wissen doch, dass wir dazu eine völlig andere Rechtsauffassung haben. Sie sprechen jetzt schon konkret die Wiedereinreisesperren an, die wir in § 7 Absatz 2 des Freizügigkeitsgesetzes betreffend die Fälle des § 2 Absatz 7 des Freizügigkeitsgesetzes regeln. Da ist bereits festgestellt, dass keine Freizügigkeit mehr besteht. Die Rechtsexperten, die nach unserer Auffassung die korrekte Rechtsauffassung vertreten, sehen Artikel 35 der Freizügigkeitsrichtlinie als Lex specialis zu Artikel 15 der Freizügigkeitsrichtlinie, den Sie gerade so schön zitiert haben. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber leider ist es gerade umgedreht! Das ist kabarettreif: Artikel 35 als Lex specialis zu Artikel 15?!) Da steht ausdrücklich, dass wir die Konsequenzen daraus ziehen dürfen. Das tun wir in § 7 Absatz 2, Herr Kollege Beck, indem wir Wiedereinreisesperren gegen diejenigen verhängen, die nach § 2 kein Freizügigkeitsrecht mehr haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Ich gehe davon aus, dass wieder Professoren oder möglicherweise auch Richter darüber zu befinden haben werden, wer nun am Ende recht hat. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Viel Spaß bei den Verhandlungen!) Wir sind der Auffassung: Unsere Regelungen sind europarechtskonform. Herr Beck, Sie haben sich schon mit meinem Vorgänger, Herrn Geis, immer auseinandergesetzt. Ich sage immer wieder: Dass wir diese Tradition fortsetzen, freut zumindest die Bürgerinnen und Bürger in meinem Wahlkreis. Ich setze nun meine Rede fort. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nutzt die Bundesregierung ihren rechtlichen Spielraum und zieht wesentliche erste Schlüsse aus dem Bericht des Staatssekretärsausschusses zur Armutsmigration. Sie setzt ein wichtiges Signal, indem sie sagt: Betrug und Missbrauch werden nicht toleriert. Darüber hinaus greift die Bundesregierung den Kommunen bei den Kosten unter die Arme. Das geschieht im Wesentlichen mit fünf Maßnahmen. Erstens werden im Falle von Betrug und Rechtsmissbrauch Wiedereinreisesperren ermöglicht. Zweitens wird das Aufenthaltsrecht von EU-Bürgern zur Arbeitsuche auf sechs Monate befristet. Warum? Weil auch hier Artikel 7 der Freizügigkeitsrichtlinie nur die ersten drei Monate regelt. Danach werden sehr strenge Anforderungen gestellt, wann und unter welchen Voraussetzungen jemand in einem Land bleiben darf. Er muss nämlich seinen Lebensunterhalt weitestgehend selbst sicherstellen. Indem wir die Geltungsdauer des Merkmals der Arbeitsuche von drei auf sechs Monate verlängern, kommen wir den Menschen sogar entgegen. Dass eine begründete Aussicht auf Arbeit bestehen muss, ist aus meiner Sicht gerechtfertigt, genauso wie die Tatsache, dass darüber verschiedene Stellen zu befinden haben. Denn es gibt unterschiedliche Anspruchsgrundlagen: Möchte jemand Arbeitslosengeld beziehen, oder bezieht er nur Kindergeld, oder braucht er nur Unterstützung von der Krankenkasse? Wir werden sehen, sehr geehrter Herr Kollege Castellucci, ob sich die Regelungen in der Praxis bewähren oder ob Nachbesserungsbedarf besteht. Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich das für richtig. Drittens sorgen wir dafür, dass Doppelzahlungen beim Kindergeld vermieden werden. Indem bei jedem Kindergeldantrag die steuerliche Identifikationsnummer angegeben werden muss, geben wir den Behörden die Möglichkeit, leichter Überprüfungen vorzunehmen. Viertens wird die Bekämpfung von Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit verbessert, indem die zuständigen Behörden besser vernetzt werden. Die Gewerbeämter sollen künftig schon beim ersten Verdacht auf Scheinselbstständigkeit prüfen und Verdachtsfälle direkt an die Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll melden. Fünftens werden die Kommunen mit zusätzlichen 35 Millionen Euro unterstützt. Diese Unterstützung ergänzt das bereits im März in Folge des Zwischenberichts beschlossene Entlastungspaket für die Kommunen in Höhe von über 200 Millionen Euro. Dazu wurde das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ aufgestockt sowie Programme des Europäischen Sozialfonds und ein EU-Hilfsfonds so zugeschnitten, dass vor allem die stark belasteten Kommunen von diesen Programmen in den nächsten Jahren profitieren können. Die Bundesregierung und der Bundestag packen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf offensichtliche Probleme im Rahmen der europäischen Freizügigkeit an. Die kommunalen Spitzenverbände begrüßen ausdrücklich, dass wir uns endlich mit den Problemen der Armutszuwanderung aus der EU befassen. Die Kommunen werten unsere Initiative als wichtigen ersten Schritt in die richtige Richtung. Auch das haben uns die Sachverständigen von der kommunalen Ebene in der Anhörung am 13. Oktober bestätigt. Der Gesetzentwurf kann nur ein erster Schritt sein. Wir alle wissen, dass es unklar ist, ob und unter welchen Bedingungen ein EU-Bürger, der sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten darf, in dieser Zeit Anspruch auf Hartz IV Leistungen hat. Deutsche Gerichte haben in dieser Frage aufgrund widersprüchlicher Vorgaben in den Richtlinien unterschiedlich geurteilt. Das Urteil des EuGH im Dano-Fall wird am 11. November wohl für etwas mehr Klarheit sorgen. Gerichte sollten allerdings nicht die Rolle des Gesetzgebers übernehmen. Die demokratisch legitimierten Institutionen in Europa sind gefordert, in so weitreichenden Fragen Rechtssicherheit zu schaffen. Auf nationaler Ebene unternehmen wir heute einen ersten Schritt im Rahmen des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts und schaffen etwas mehr Rechtssicherheit. Nach dem Dano-Urteil müssen weitere Schritte folgen. Wir wollen und brauchen die Freizügigkeit in Europa. Die öffentliche Akzeptanz dieses Rechts ist aber keine Selbstverständlichkeit. Es steht außer Frage, dass weitere Schritte kommen müssen. Auch die offene Frage, ob EU-Bürger in Deutschland für ihre im Ausland lebenden Kinder Kindergeld in voller Höhe wie in Deutschland bekommen sollen, gehört für mich dazu. Die Politik auf europäischer und nationaler Ebene trägt Verantwortung dafür, dass eine Akzeptanz sichergestellt wird. Mit diesem Gesetzentwurf tragen wir dazu bei. Ich bitte Sie daher heute um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Josip Juratovic das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Josip Juratovic (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kürzlich bei der Anhörung der Sachverständigen zum geplanten Freizügigkeitsgesetz hat Frau Dr. Giffey, Bezirksstadträtin von Neukölln, einen entscheidenden Beitrag zu dieser Debatte geleistet. Frau Giffey begrüßte viele der neuen Regelungen, betonte aber auch, dass in Neukölln nicht der Missbrauch die größten Schwierigkeiten bereitet. Kommunen brauchen vor allem Unterstützung, um mit legaler und gerechtfertigter Zuwanderung zurechtzukommen. Ich kann Frau Giffey nur zustimmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Es ist entscheidend, dass wir die Kommunen ausreichend unterstützen, und wir haben mit den geplanten Entlastungen einen wichtigen Schritt dafür geleistet. Kolleginnen und Kollegen, selbstverständlich müssen wir Gesetze auf den Weg bringen, die sich auch um Missbrauchsfälle kümmern. Daher finde ich die neuen Regelungen zur zeitlichen Begrenzung der Arbeitssuche oder zum Kindergeldmissbrauch gerechtfertigt. Es ist aber auch entscheidend, dass wir dem Missbrauch nicht mehr Aufmerksamkeit schenken, als er verdient. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die meisten Menschen, die zu uns kommen, missbrauchen nicht die Freizügigkeit, sondern machen nur von ihrem Recht Gebrauch. Dieses hohe Gut wollen und müssen wir schützen. (Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe offen zu, dass ich verärgert bin angesichts des bewussten Spiels mit Ängsten und Vorurteilen der Bevölkerung, zu dem sich mancher Kollege auch aus diesem Haus im vergangenen Jahr hat hinreißen lassen. Es kann nicht sein, dass, wenn grenzüberschreitende Mobilität im Einzelfall zu gesellschaftspolitischen Problemsituationen führt, wie es in manchen deutschen Kommunen tatsächlich der Fall ist, statt Unterstützung zu bieten, reflexartig nach Abschottung gerufen wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist die hohe Aufgabe der Politik, nicht dem Reiz zu erliegen, selbst populistische Meinungsmache zu betreiben. Kolleginnen und Kollegen, es ist unmoralisch, die Zuwanderung nur auf wirtschaftliche Nützlichkeit zu reduzieren. Deshalb sollten wir gemeinsam ein positives Bild der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union prägen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Art und Weise, wie wir das Thema Freizügigkeit behandeln, gibt nämlich Aufschluss darüber, was für ein Europa wir haben wollen. Was macht uns als Europa aus? Freizügigkeit darf nicht nur eine Freizügigkeit der Waren und Dienstleistungen sein, sondern sie ist vor allem das demokratische Grundrecht der Menschen in Europa. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!) Es gibt keine gute und schlechte Zuwanderung, es gibt aber sehr wohl eine gute oder schlechte Aufnahme. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb danke ich den vielen Menschen bei uns, den Kirchen, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen, die die Willkommenskultur in Deutschland pflegen. Die Freizügigkeit ist ein Zugewinn für alle und fördert den Zusammenhalt Europas und die gegenseitige Solidarität. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kolleginnen und Kollegen, Zuwanderung muss selbstverständlich auch politisch gesteuert werden, wie mit dem aktuellen Gesetz geplant. Auch in Zukunft bleibt es entscheidend, die Menschen zu schützen und das Miteinander zu erleichtern. Wir müssen Willkommenscenter stärken und Anlaufstellen für Arbeitsmi-granten ausbauen, die den Migranten den Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtern. Besonders wichtig: Missbrauch der Arbeitsmigranten durch Schwarzarbeit muss verhindert werden. Es darf aber nicht sein, dass wir uns darauf konzentrieren, -diejenigen zu bestrafen, die aus Not handeln, während diejenigen, die diesen Missstand ausnutzen, unbestraft davonkommen. Deshalb gilt auch weiterhin: Je besser und sicherer die Bedingungen für Arbeitsmigrantinnen oder -migranten auf unserem Markt gesetzlich geregelt werden, desto weniger Missbrauchsfälle wird es geben. Der vorliegende Kompromiss geht aus meiner Sicht in die richtige Richtung, hindert uns aber nicht daran, weiterzudenken und zu handeln. Übrigens, wir dürfen nicht der Illusion erliegen, das alles sei einfach. Bundespräsident Gauck hat es treffend formuliert: „Offen sein ist anstrengend.“ Ich bitte um Ihre Zustimmung für das geplante Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Damit schließe ich die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner -Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3077, den -Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/2581 und 18/3004 anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3079 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? – Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das ist die Koalition. Wer enthält sich? – Die Fraktion Die Linke. Damit ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt worden. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt für den Gesetzentwurf? – Das ist die Koalition. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Wer enthält sich? – Das ist niemand. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition angenommen worden. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wir kommen zunächst zum Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3080. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das ist die Koalition. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist dieser Entschließungsantrag auf Drucksache 18/3080 mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt worden. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3081. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Die Opposition. Wer stimmt dagegen? – Die Koalition. Gibt es jemanden, der sich enthält? – Das ist nicht der Fall. Dann ist auch dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf: a) – Zweite und dritte Beratung des von der -Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes Drucksachen 18/2592, 18/3000 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Drucksache 18/3073 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/3084 b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Luise Amtsberg, Kerstin Andreae, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes Drucksache 18/2736 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Drucksache 18/3073 c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und -Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Sozialrechtliche Diskriminierung beenden – Asylbewerberleistungsgesetz aufheben Drucksachen 18/2871, 18/3073 Hierzu liegen mir mehrere Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Das ist dann so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin Daniela Kolbe das Wort, das sie dann sofort bekommt, wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze gewechselt haben. – Das ist jetzt der Fall. Daniela Kolbe (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in beunruhigend unruhigen Zeiten. Weltweit gibt es derzeit so viele Flüchtlinge wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr: mehr als 50 Millionen Menschen – Tendenz steigend. Natürlich ist das auch in Deutschland spürbar, hier bei uns. In diesem Jahr rechnen wir mit etwa 200 000 Asylanträgen. Ich denke, dass ich für das gesamte Haus spreche, wenn ich sage: Wir wollen und wir werden dieser Verantwortung gerecht werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wie groß diese Verantwortung ist, kann man erleben, wenn man derzeit ein Asylbewerberheim besucht. Dort trifft man eigentlich immer auf erschütternde Geschichten, gerade von Menschen aus Syrien. Meine letzte Begegnung war mit einer Familie: ein Handwerker, seine Frau, ein Kleinkind und ein Säugling. Ihre Geschichte war, dass der Mann sich mit seinem zweijährigen Kind und der hochschwangeren Frau am Mittelmeer in ein Boot gesetzt hat in dem Wissen, dass das Boot vor diesem gesunken war. – Solche Geschichten gibt es zu Zehntausenden. Sie lassen uns nachvollziehen und spüren, wie groß die Verantwortung ist, die wir hier zu erfüllen haben. Wir wissen auch, wie groß die Herausforderung in den Kommunen ist, wie dort geächzt wird, wie dort nach Unterbringungsmöglichkeiten gesucht wird. Wir verschließen vor der Verantwortung in beiden Bereichen die Augen nicht. Wir wissen: Es ist eine gemeinsame -Verantwortung, und der einzig mögliche Weg hier ist, akzeptable Bedingungen für alle Flüchtlinge zu organisieren. Nur so werden wir auch die Akzeptanz in der Bevölkerung erhalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir machen heute den ersten Schritt, allerdings nur den ersten Schritt in einer ganz schön langen Etappe. Wir setzen das Verfassungsgerichtsurteil aus dem Juli 2012 eins zu eins um – (Widerspruch bei der LINKEN) nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Berechnung der Leistungen wird endlich transparent und rechtssicher. Wir sorgen dafür, dass Kinder und Jugendliche, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten können. Das hilft diesen Kindern enorm. Es wird erstmals einen kleinen Vermögensfreibetrag und einen höheren Einkommensfreibetrag geben. Das hilft natürlich den Betroffenen, aber auch den Verwaltungen. Wir verkürzen die Dauer des Bezugs von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von 48 Monaten auf 15 Monate. Das ist einfach nur sachgerecht. Wir nehmen einige Gruppen aus dem Leistungsbezug nach diesem Gesetz heraus: Opfer von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung sowie solche Menschen, deren Abschiebung schon seit mehr als anderthalb Jahren aus rechtlichen oder humanitären Gründen ausgesetzt ist. Durch diesen letzten Schritt entlasten wir unsere Kommunen jährlich um mehr als 40 Millionen Euro. Außerdem wird es einen Nothelferparagrafen geben, der sicherstellt, dass Asylbewerber definitiv Nothilfe erhalten und die Helfer eine Vergütung dafür bekommen. Ich finde gut, dass wir dieses Urteil im Gesetzentwurf jetzt eins zu eins umsetzen. Mein Dank gilt dem Ministerium und der Ministerin. Ich finde es gut, dass diese -Regierung dieses Urteil so zügig umgesetzt hat. Das ist etwas, was der letzten Regierung nicht so schnell von der Hand gehen wollte. Aber es ist nur der erste Schritt. Weitere Schritte sind bereits in der Vorbereitung oder in der Umsetzung – ich mache das jetzt einmal im Stakkato, weil das schon recht viel ist –: Wir werden im BAMF mehr Mitarbeiter einstellen, um eine kürzere Antragsbearbeitungsdauer hinzubekommen. Wir werden die Residenzpflicht weitgehend abschaffen. Seit heute können Asylsuchende, wenn sie drei Monate in Deutschland sind, eine Arbeit aufnehmen. Ab nächster Woche wird, wenn die Menschen 15 Monate in Deutschland sind, auch die Vorrangprüfung wegfallen. Wir werden das Sachleistungsprinzip weitgehend abschaffen. Es gibt auch noch einige wenige Punkte, an denen wir weiterhin hart arbeiten und die wir noch klären müssen. Es bleibt die große Frage der Entlastung der Länder und Kommunen – diese Frage ist eminent wichtig; darüber müssen wir, glaube ich, nicht diskutieren –, und es bleibt die Frage der Gesundheitsversorgung; das ist definitiv verbesserungsbedürftig, wie unsere Anhörung gezeigt hat. Das Bremer Modell, das auch in Hamburg und in abgewandelter Form in Berlin angewandt wird, weist uns hier womöglich den richtigen Weg. Zusammengefasst: Diese Koalition wird ihrer Verantwortung gerecht: gegenüber den Flüchtlingen, gegenüber den Kommunen und gegenüber der Gesellschaft. Das Gesetz ist ein erster großer Schritt in die richtige Richtung, und es setzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eins zu eins um. Insofern bitte ich um Zustimmung. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes will die Koalition an der sozialrechtlichen Sonderbehandlung von Asylsuchenden, Flüchtlingen und geduldeten Menschen festhalten. -Dagegen fordert die Linke, dass diese Menschen wie alle anderen auch Zugang zu regulären Sozialleistungen -erhalten und dass Beschränkungen – egal welcher Art – beim Zugang zu Arbeit und Ausbildung unbedingt abgeschafft werden müssen. (Beifall bei der LINKEN) Soziale Rechte dürfen nicht unter aufenthaltsrechtlichen Vorbehalt gestellt werden. Meine Damen und Herren, das Asylbewerberleistungsgesetz besteht seit über 20 Jahren. Keine Bundes-regierung wollte daran rütteln. Geboren ist es übrigens aus dem Gedanken der Abschreckung von Flüchtlingen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2012 klargestellt, dass auch Asylsuchende ein Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum haben. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der zentrale Satz des Urteils lautet: Die Menschenwürde ist „migrationspolitisch nicht zu relativieren“. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das sollte auch die Koalition in diesem Haus endlich einmal ernst nehmen. (Kerstin Griese [SPD]: Tun wir! – Daniela Kolbe [SPD]: Tut sie!) Das Bundesverfassungsgericht hat unter anderem gefordert, das Asylbewerberleistungsgesetz nur auf jene anzuwenden, die sich voraussichtlich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten. Doch wenn man sich den vorliegenden Gesetzentwurf genau anschaut, muss man feststellen, dass auch Menschen mit humanitären -Aufenthaltstiteln aus den regulären sozialen Sicherungssystemen herausgehalten werden. Das betrifft zum Beispiel die syrischen Flüchtlinge. Über drei Jahre dauert dieser Krieg inzwischen an, und leider ist nicht abzusehen, wann er beendet wird. Und trotzdem unterliegen diese Flüchtlinge dem Asylbewerberleistungsgesetz, als könne man davon ausgehen, dass sie spätestens nächste Woche das Land wieder verlassen können. Das ist doch schlicht Realitätsverweigerung und obendrein zynisch gegenüber diesen Menschen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Asylbewerberleistungsgesetz soll auch weiter für Menschen gelten, deren Asylantrag abgelehnt wurde, deren Aufenthalt in Deutschland aber weiter geduldet wird, weil sie auf längere Sicht nicht abgeschoben werden können. Auch deren Aufenthalt ist weder kurzzeitig noch vorübergehend. Deswegen müssen auch sie aus diesem Gesetz herausgenommen werden. In einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales wurden von einer Reihe von Sachverständigen Verbesserungen – das ist ein ganz wichtiges Thema – bei der Gesundheitsversorgung angemahnt. Derzeit erhalten Menschen, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, allenfalls Hilfe in akuten Notsituationen. Chronische Erkrankungen werden nicht behandelt; die Folgen sind oft Verschlimmerungen der Erkrankung bis hin zu schweren Behinderungen. Auch Todesfälle hat es schon gegeben. In der Expertenanhörung des Sozialausschusses wurden schlimme Beispiele geschildert. In einem Fall verweigerte das Sozialamt die Operation von -Augenkrebs bei einem Kind. In einem anderen Fall wurde die medizinisch notwendige Nachsorge einfach nicht geleistet, weil das Sozialamt Rechnungen nicht bezahlt hatte. Das Recht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit darf nicht von einem Aufenthaltsstatus abhängig gemacht werden, meine Damen und Herren. Deswegen darf es so nicht weitergehen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kerstin Griese [SPD]: Deswegen verbessern wir ja auch die Gesundheitsversorgung!) Meine Damen und Herren, besonders eklatant ist, dass die Bundesregierung daran festhalten will, geduldeten Flüchtlingen das Taschengeld zu streichen, wenn sie an ihrer Abschiebung angeblich nicht mitwirken. Dieses Strafregime verletzt ganz klar das Recht auf ein -menschenwürdiges Existenzminimum. Sie müssen sich vorwerfen lassen, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht ernst genommen zu haben. (Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, dasselbe gilt für den Vorrang von Sachleistungen vor Bargeld. Die Asylsuchenden erhalten fertig gepackte Esspakete, die oft nur mangelhafte Waren enthalten. Diese Form der Versorgung ist absolut entmündigend. (Daniela Kolbe [SPD]: Aber das ändern wir doch!) Auch hier wird die Würde der Betroffenen mit Füßen getreten. Damit muss endlich Schluss sein! (Daniela Kolbe [SPD]: Wird es ja auch!) Deshalb fordert die Linke, das System der sozialen Diskriminierung von Flüchtlingen endlich zu beenden und Sondergesetze wie das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen. Auch das hat das Bundesverfassungsgericht als Option durchaus im Sinn gehabt, und das wäre eigentlich auch das Richtige. Schönen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Rednerin hat jetzt Jutta Eckenbach das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Jutta Eckenbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, dass wir – hier möchte ich an das anschließen, was meine Kollegin Frau Kolbe vorhin ausgeführt hat – uns wieder ins Bewusstsein rufen müssen, mit wem wir es letztendlich zu tun haben. Wer jemals in ein Übergangsheim gegangen ist, mit den Menschen dort gesprochen hat, in die Kinderaugen gesehen hat und festgestellt hat, wie traumatisiert manche Kinder waren, der wird zustimmen, dass wir unserer Verantwortung in Deutschland gerecht werden und diesen Menschen helfen müssen. Das tun wir mit voller Überzeugung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich komme darauf, weil gerade das Wort „Strafregime“ gefallen ist. Es ist unangebracht. Es trifft keinesfalls auf das zu, was wir hier in Deutschland vorfinden. Ich weise diesen Vorwurf mit aller Schärfe zurück. Deutschland hat kein Strafregime, und so etwas gibt es auch nicht in Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Anhörung der Sachverständigen am Montag hat ergeben, dass die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts rechtlich nicht zu beanstanden ist. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) Ebenso ist das Festhalten am Asylbewerberleistungsgesetz notwendig. Da ja nicht alle bei dieser Anhörung anwesend waren, will ich Ihnen auch sagen, warum. Der Grundgedanke des sogenannten Asylkompromisses von 1992/1993 war, dass unser Sozialleistungssystem keinen Anreiz für Zuwanderung bieten sollte. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist verfassungswidrig!) Wie die Zahlen zeigten, gingen die Anträge auf Asyl damals schlagartig zurück. Also gab es offensichtlich einen Zusammenhang zwischen der Wahl des aufnehmenden Landes und den dort angebotenen Leistungen. Dass es diesen Zusammenhang immer noch gibt, wird auch durch die neueren Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bestätigt. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber das darf hier keine Rolle spielen!) So war, unmittelbar nachdem das Bundesverfassungsgericht im Juli 2012 das Urteil verkündet hatte, über das wir heute reden und das die Grundlage für das heute vorgelegte Gesetz ist, wieder ein Anstieg der Anzahl der Anträge zu verzeichnen. Während noch im Juni 2012, also vor Verkündung des Urteils, 770 Anträge gestellt wurden, wurden im August bereits 1 163, im September 2 257 und im Oktober 4 303 Anträge gestellt. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist respektlos gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, was Sie hier sagen!) Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der sich im Rahmen des Verfahrens herausgestellt hatte, war die Frage der Gesundheitsversorgung nach den §§ 4 und 6 Asylbewerberleistungsgesetz. In einigen Stellungnahmen der Sachverständigen klang immer wieder an, dass die Gesundheitsversorgung nicht ausreichend sei, es ein Martyrium sei, medizinische Hilfe zu erhalten, und der Bund seiner Fürsorgepflicht nicht nachkomme. Ich will nur der Ordnung halber darauf hinweisen, dass die Ausführung des Asylbewerberleistungsgesetzes nicht allein in der Zuständigkeit des Bundes liegt, sondern dass hierfür auch die Länder zuständig sind. Genau das ist in der Anhörung ja auch noch einmal am Beispiel des Landes Bremen deutlich geworden, das hier anderweitig tätig wird. Das machen übrigens auch andere Länder, indem sie eine Krankenversorgung, wie sie im Rahmen der normalen gesetzlichen Krankenversicherung üblich ist, gewährleisten. Dort gibt es eine Krankenkassenkarte. Ich wünsche mir natürlich, dass alle Länder dieses Modell übernehmen, auch im Interesse der Gesundheitsversorgung. Die Länder haben es also selbst in der Hand, die gesundheitlichen Versorgungsleistungen für Asylbewerber zu regeln. Egal wie die aktuelle Ausgestaltung aussehen wird: Ich will, weil das von den Linken gerade beanstandet wurde, an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen, dass der Bundesregierung aus der Zeit von 2004 bis 2014 offiziell kein Fall bekannt ist, bei dem das angebliche Vorenthalten bzw. Verzögern einer medizinischen oder psychotherapeutischen Behandlung bei einer Person, die dem Asylbewerberleistungsgesetz unterworfen war, zu körperlichen Schäden oder gar zum Tod geführt hätte, wie das von den Linken gerade behauptet wurde. Die Opposition malt an dieser Stelle immer wieder den Teufel an die Wand und stellt irgendwelche Schreckensbilder dar, was meinem Erachten nach völlig unbegründet ist. Es sei auch noch einmal erwähnt, dass sich zahlreiche Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wie auch der Aufnahmeeinrichtungen vor Ort tagtäglich um die Bedürftigen kümmern. Dass diese Arbeit immer nur zum Nachteil der Asylbewerber sei, kann und will ich hier nicht gelten lassen. Deswegen wollen wir auch heute an diese Menschen denken und ihnen herzlich danken; denn ihre Aufgabe in diesen Einrichtungen vor Ort ist nicht einfach. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch einmal auf die Forderung der Opposition eingehen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz in die Leistungssysteme des SGB II und XII einzubetten sei. Dies ist nicht möglich, da die Zielrichtungen andere sind; denn während das Asylbewerberleistungsgesetz auf Hilfen für einen vorübergehenden Aufenthalt gerichtet ist, haben das SGB II und XII dauerhaft in Deutschland lebende Personen im Blick. Insofern machen zum Beispiel arbeitsmarktpolitische Instrumente in den Erstaufnahmeeinrichtungen wenig Sinn. Meine Damen und Herren, dass wir alle Fragen der Asylpolitik allein mit den Änderungen, die für das Asylbewerberleistungsgesetz anstehen, nicht bewältigen werden, ist mir bewusst. Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir alle helfen wollen. Jedoch muss die Hilfe auch machbar sein. Ich danke zum Abschluss all denen herzlich, die sich ehrenamtlich bemühen, in den Einrichtungen für Ruhe und Frieden zu sorgen, die dort tagtäglich ein- und ausgehen und für die Menschen in den Asylbewerbereinrichtungen und -heimen da sind. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kollegin Eckenbach, ich bitte doch um ein bisschen mehr Respekt gegenüber dem Bundesverfassungsgericht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Sie haben eben schon wieder – Kollegin Jelpke hat auf den Satz im Urteil des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen – versucht, einen Zusammenhang zwischen der Leistung im Asylbewerberleistungsgesetz und der Zahl der Menschen, die hierhinkommen, herzustellen. Man kann darüber streiten. Meines Erachtens ist das, was in der Anhörung genannt worden ist, methodisch angreifbar. Aber selbst wenn es so wäre: Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig gesagt, dass migrationspolitische Argumente bei der Menschenwürde keine Rolle spielen dürfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das heißt, diese Argumente dürfen hier im Bundestag in der Debatte, die wir führen, überhaupt nicht verwendet werden. Sie haben es aber in der Ausschussanhörung getan. Herr Kollege Stracke, das gehört sich nicht. Es geht hier um die Verfassung, die Menschenwürde und um ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Bitte unterlassen Sie das. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Aber auch nicht der offensichtliche Missbrauch des Asylrechts!) – Stellen Sie eine Zwischenfrage, Herr Straubinger, wenn Sie darüber etwas mehr erfahren wollen. Ich finde es grundsätzlich problematisch, dass wir hier häufig Gesetzentwürfe besprechen, die an der Grenze der Verfassungsmäßigkeit sind, und wir auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts warten müssen, ob sie verfassungsgemäß sind oder nicht. Bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist das schon wieder so. Ich bin kein Jurist, aber meines Erachtens ist dieser Entwurf gerade eben noch verfassungsgemäß. Aber wir haben in der Ausschussanhörung diverse Argumente von den Expertinnen und Experten gehört, die aufzeigten, wo es verfassungsrechtliche Probleme gibt. Ich habe dazu in der Ausschusssitzung etwas länger Stellung genommen und die Punkte noch einmal erwähnt. Hier habe ich nicht die Zeit dazu, weil ich dann meine Redezeit um ein Vielfaches überschreiten würde. Ich fände es schön, wenn wir mehr Gesetze verabschieden würden, bei denen von vornherein klar ist, dass sie der Verfassung entsprechen. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wir machen es!) Ein weiterer wichtiger Punkt. Wir finden es wichtig, dass es endlich eine einheitliche Grundsicherung gibt und keine Dreiklassengrundsicherung, wie wir sie derzeit vorfinden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Anknüpfend an die letzte Debatte sage ich: Unionsbürger, die zu uns kommen, verlieren irgendwann ihren Anspruch auf Grundsicherung, ein Teil ist davon ausgeschlossen. Asylbewerber erhalten zwar eine Leistung, aber sie liegt unterhalb der Leistung, die andere Menschen in diesem Lande erhalten. (Daniela Kolbe [SPD]: Aber nur geringfügig!) Das ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar. Wir wollen da eine Vereinfachung. Ihre Vorlage offenbart das Menschenbild der Großen Koalition: Es gibt die guten Menschen, die hier länger leben, und es gibt die schlechten Menschen; das sind diejenigen, die aus der EU oder von weiter weg zu uns kommen. (Kerstin Griese [SPD]: Das ist doch Unsinn! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sie wissen genau, dass das nicht stimmt!) Wir finden: Alle Menschen müssen und sollten gleich behandelt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich komme ganz kurz auf ein paar wichtige Probleme zu sprechen. Es wird hier behauptet, die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum würden hier eins zu eins umgesetzt. Das Existenzminimum ist ein Grundrecht nach Artikel 1 Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es umfasst ein physisches Existenzminimum und ein gewisses Maß an sozialer Teilhabe. Und dann gibt es § 1 a Asylbewerberleistungsgesetz, den Frau Jelpke als Strafregime bezeichnet hat. Unabhängig davon, wie man es bezeichnet, (Kordula Kovac [CDU/CSU]: Aber nicht als „Strafregime“!) besagt § 1 a, dass Leistungskürzungen möglich sind. Es ist überhaupt nicht festgelegt, in welcher Größenordnung sie erfolgen können. Das ist auch in der Ausschussanhörung kritisiert worden. Diese Leistungskürzungen können auch dauerhaft vorgenommen werden. Leistungskürzungen, die dauerhaft eine Senkung unter das Existenzminimum bewirken, widersprechen eigentlich ganz eindeutig dem Grundrecht auf eine existenz-sichernde Leistung. Im Asylbewerberleistungsgesetz sind, anders als im SGB II und im SGB XII, keine Mehrbedarfe, zum Beispiel für Alleinerziehende und Schwangere, vorgesehen. Das ist schon ein Problem. Die Regelleistung selber ist 10 Prozent niedriger als die Leistung für Menschen, die Arbeitslosengeld II oder die Grundsicherung im Alter beziehen. Begründet wird dies damit, dass bestimmte Leistungen als Sachleistungen bereitgestellt werden, zum Beispiel Hausrat und Gesundheitsleistungen. Teilweise ist es ziemlich absurd, was in der Begründung steht. Zum Beispiel wird ein Teil dieser Differenz damit begründet, dass Asylbewerber keine Praxisgebühr zahlen müssen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die gibt’s doch gar nicht mehr!) – Richtig. – Wie auch Sie von der Koalition wissen sollten, gibt es die Praxisgebühr gar nicht mehr. Das macht zwar nur 2,64 Euro der Differenz zwischen SGB-II-Leistungen und den Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, wie Sie es vorgelegt haben, aus; aber es zeigt, wie Sie an dieses Gesetz herangegangen sind, nämlich korinthenkackerisch, sehr kleinlich, nicht wirklich fundiert und auch nicht transparent. Offensichtlich ist es Ihnen nicht einmal aufgefallen, dass die Ausgaben für die Praxisgebühr herausgerechnet wurden. Deswegen gibt es keinen Grund, Asylbewerbern 2,64 Euro weniger zu geben als anderen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Daniela Kolbe [SPD]: Sollen wir die Hartz-IV-Leistungen jetzt deswegen senken? Das ist lächerlich!) Für uns ist wichtig, die Selbstbestimmung und Freiheit der Menschen zu stärken. An der Stelle sind die Sachleistungen ein Riesenproblem. Auch Asylbewerberinnen und Asylbewerber sollten eine Geldleistung kriegen, mit der sie selbstbestimmt entscheiden können, wie sie ihr Leben gestalten. Die Ausschussanhörung hat deutlich gemacht, dass das Existenzminimum auch an dieser Stelle nicht unbedingt gesichert ist, (Daniela Kolbe [SPD]: Aber das ändern wir doch!) weil die Sachleistungen möglicherweise nicht existenzsichernd sind; das ist schwer zu kontrollieren. Auch an der Stelle wären Geldleistungen sehr viel sinnvoller als Sachleistungen. Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie denken an die vereinbarte Redezeit? Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gut. Dann komme ich zum Schluss. – Leider kann ich zum Punkt Gesundheit nicht mehr viel sagen; aber er ist schon genannt worden. Auch beim Thema Gesundheit gibt es ein zentrales Problem; auch hier ist das physische Existenzminimum gefährdet. Ich wünsche der Kollegin Kolbe viel Glück dabei, an der Stelle Veränderungen zu erreichen. Es gibt da auch einen Beschluss des Bundesrates, der einen Weg aufzeigt. Ich finde, das Gesetz, wie es jetzt vorliegt, ist nicht christlich; Sie sollten vielleicht einmal über den Begriff „christlich“ in Ihren Parteinamen nachdenken. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes vorsieht und eine Gleichstellung schafft. Er ist im Bundesrat von allen Ländern unterstützt worden, in denen Grüne und SPD zusammen regieren. Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege, der letzte Satz war schon längere Zeit angekündigt. Er muss jetzt auch erfolgen. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja. – Deswegen bitten wir Sie: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu. Denn nur so kriegen wir wirklich ein Gesetz, das der Verfassung entspricht, Bürokratie abbaut und die entwürdigende Diskriminierung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern tatsächlich abschafft. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese für die Sozialdemokraten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kerstin Griese (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meinem Vorredner will ich zum Thema „Respekt“ Folgendes sagen: Ich verstehe, dass man immer noch mehr wollen kann. Auch ich kann mir noch viele Dinge vorstellen, was wir tun können, um die soziale Situation von Flüchtlingen in unserem Land zu verbessern. Aber ich fände es auch ein Zeichen von Respekt, wenn Sie anerkennen, dass wir die Bedingungen des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt haben, dass wir jetzt einen richtig großen Schritt machen und an sechs Punkten die Situation von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in unserem Land deutlich verbessern. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die Anhörung am Montag hat eindeutig ergeben, dass wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eins zu eins umgesetzt haben. Die Experten haben gesagt, das sei angemessen und richtig umgesetzt. Die Sätze sind nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ermittelt worden. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Inklusive Praxisgebühr?) Das ist ein wichtiger erster Schritt, dieses Urteil umzusetzen. Die Anhörung hat auch ergeben – den Punkt will ich noch einmal aufgreifen –, dass wir uns beim Thema Gesundheitsleistungen – da sind wir uns sicherlich einig – in der Tat Verbesserungen vorstellen können. Wir haben darüber sehr konkret mit dem Experten der AOK Bremen diskutiert. Dazu gehört etwa die Idee, dass die Gesundheitsleistungen von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern über Krankenkassen abgerechnet werden. Diese Sache finden wir gut. In diese Richtung müssen wir gemeinsam mit den Ländern gehen. (Beifall bei der SPD) Ich muss aber auch deutlich sagen: Wir verbessern jetzt im Asylbewerberleistungsgesetz die Notfallhilfe, indem wir für Notfallsituationen regeln, dass die Träger das Geld für die entstandenen Kosten direkt an Krankenhaus oder Arzt überweisen. (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) Ich will aber auch deutlich sagen – das habe ich in der ersten Lesung schon einmal getan –: Was an schrecklichen Fällen in Flüchtlingsheimen passiert ist – da wurde kein Arzt gerufen –, ist auch schon nach heutiger Gesetzeslage rechtswidrig. In Notfallsituationen haben selbstverständlich Flüchtlinge Anrecht auf medizinische Behandlung in Deutschland. Ein dritter Punkt aus der Anhörung ist mir wichtig; er betrifft das, was wir aus der Stadt Dortmund gehört haben. Die Stadt Dortmund zählt sicherlich nicht zu den reichsten Städten. (Zustimmung des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Der Kollege darf zustimmend nicken, weil er von dort kommt. – Diese Stadt verfolgt seit vielen Jahren die Politik, die Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen. Sie hat damit sehr positive Erfahrungen gemacht. Dort gibt es keine Konflikte, weil die Privatsphäre gewahrt wird und weil Gemeinschaftsaktivitäten auf freiwilliger Basis angeboten werden. Diese Unterbringung in Wohnungen ist ein erstrebenswertes Ziel, weil es damit auf der kommunalen Ebene so positive Erfahrungen gibt. Jetzt braucht man sicherlich noch eine Zeit lang Gemeinschaftseinrichtungen, da die Zahl der Flüchtlinge höher ist. Die Unterbringung in Wohnungen ist aber ein ganz entscheidender Schritt in Richtung einer positiven Integration. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Frau Kollegin Griese, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder eine Anmerkung des Kollegen Kurth? Kerstin Griese (SPD): Ja, selbstverständlich. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kerstin Griese, es freut mich, dass das Beispiel Dortmund genannt wurde. Die Stadt versucht in der Tat, Flüchtlinge nicht in Sammelunterkünften, sondern in Wohnungen unterzubringen. Allerdings muss ich dann doch die Frage stellen, warum denn zum Beispiel die Kosten für die Unterbringung weiterhin als Sachleistungen erbracht werden sollen. Können Sie das einmal begründen? Wenn die Unterbringung in Wohnungen in Ihren Augen eine so vorbildliche Praxis ist, müsste doch der gesetzliche Rahmen entsprechend gestaltet werden. Kerstin Griese (SPD): Herr Kollege Kurth, herzlichen Dank für diese Frage; denn sie gibt mir Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass wir noch die Protokollerklärung des Bundesrates umsetzen werden. Diese sieht vor, dass wir dort Geldleistungen explizit vor Sachleistungen verankern werden, dass wir dort die Residenzpflicht aufheben werden – das ist eine ganz wichtige Sache für das praktische Leben der Asylbewerberinnen und Asylbewerber in unserem Land – und dass wir außerdem mit einer Verwaltungsverordnung die sogenannte Vorrangprüfung bei einem Arbeitsplatz abschaffen werden. Das werden ganz wichtige Dinge sein, um das Leben der Flüchtlinge im Alltag bei uns zu verbessern. Es geht immer um zwei Dinge: darum, dass sie gut und anständig wohnen können, und darum, dass sie möglichst früh anfangen können, sich einen Arbeitsplatz zu suchen und zu arbeiten. Denn das ist das Wichtigste, um sich in diesem Land zu integrieren. Mit Arbeit kann man seinen Unterhalt sichern, was sich positiv auf das Selbstbewusstsein auswirkt. Insofern sind das richtige Schritte. Ich möchte Ihnen noch Folgendes kurz zu Dortmund sagen: Ich bin sehr froh, dass das Land Nordrhein-Westfalen auf seinem Flüchtlingsgipfel beschlossen hat, die Landespauschale für die Leistungen zu erhöhen. Damit werden die Kommunen in ihren Bemühungen unterstützt – gerade Kommunen wie Dortmund brauchen das –, um die Flüchtlinge ordentlich unterzubringen. (Zurufe von der CDU/CSU: Das reicht hinten und vorne nicht! In Bayern übernimmt das die Landesregierung! Nordrhein-Westfalen zahlt nur 20 Prozent!) Dafür wird die Pauschale jetzt erhöht. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Der Flüchtlingsgipfel, der dort abgehalten wurde, war ein wichtiges Vorbild, wie man das in anderen Bundesländern machen könnte. (Beifall bei der SPD) Ich will noch einen weiteren Punkt aus der Anhörung deutlich machen. Denn das Asylbewerberleistungsgesetz ist nicht dafür da, Migration zu steuern – weder nach oben noch nach unten. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist für die individuellen Leistungen und die individuellen Bedarfe der Asylbewerberinnen und Asylbewerber da. Es ist aber nicht dazu da, Migration zu regulieren. Dass es Veränderungen bei den Wanderungsbewegungen und Fluchtbewegungen auf dieser Welt gibt, hat mit den schlimmen weltweiten Krisen zu tun. Das sieht man allein daran, dass die meisten Flüchtlinge derzeit aus Syrien kommen. Die Veränderungen sind auch durch den Jahresverlauf bedingt. Mir ist wichtig, festzuhalten: Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz machen wir keine Migrationspolitik, indem wir Zuwanderung regeln, sondern wir regeln die soziale Situation und die Absicherung der Flüchtlinge in unserem Land. (Beifall bei der SPD) Wir verbessern die Situation in sechs Bereichen: Wir heben die Bedarfssätze an, wir verkürzen die Wartefrist, Kinder und Jugendliche werden Bildungs- und Teilhabeleistungen erhalten, sie werden nicht mehr sanktioniert, wenn ihre Eltern Verstöße begehen, und wir nehmen Opfer von Menschenhandel und bestimmte Gruppen, die geduldet werden, aus dem Gesetz heraus, sodass sie heute schon Leistungen gemäß SGB II oder SGB XII erhalten. Dadurch entlasten wir die Kommunen erheblich. Wir führen außerdem eine Regelung ein, die in medizinischen Notfällen sehr schnell die Finanzierung sichert. Das sind gute Schritte. Es werden noch weitere folgen. Die wichtigsten sind für mich, dass wir ermöglichen, dass Flüchtlinge bei uns schneller arbeiten können. Auch die Unterbringung in guten Wohnungen hatte ich erwähnt. Wir werden außerdem die Residenzpflicht abschaffen und den Vorrang von Geldleistungen vor Sachleistungsbezug ermöglichen. Das ist eine ganze Menge. Damit zeigen wir, dass wir ein Land sind, das Flüchtlinge, die aus Situationen schwerster Bedrohung zu uns kommen, willkommen heißt. In diesem Zusammenhang danke ich allen, die sich ehrenamtlich vor Ort engagieren. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Matthäus Strebl. (Beifall bei der CDU/CSU) Matthäus Strebl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend über den Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes. Wir befassen uns des Weiteren mit einem Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und einem Antrag der Fraktion Die Linke, in denen die Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert wird. Seit der ersten Beratung haben wir eine Reihe von Fachleuten zurate gezogen. Die öffentliche Anhörung mit den Sachverständigen am vergangenen Montag hat vor allem eines bestätigt: Wir müssen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere die Gewährleistung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, die Anhebung der Geldleistungen und die Erhöhung der Transparenz bei der Berechnung von Leistungen, zeitnah umsetzen. Mit der heutigen Verabschiedung werden wir das auch tun. Dieser Verpflichtung kommen wir mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nach. Wir gewährleisten insbesondere das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für die Asylbewerber in Deutschland. Das halte ich für zweifelsfrei wichtig und richtig. Erneut lehnen wir die Vorlagen der Opposition ab, in denen die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung gerade nicht die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Es hat das offen gelassen!) Die Situation der Empfänger von Leistungen gemäß Sozialgesetzbuch II ist zweifelsfrei eine andere als von Flüchtlingen. Bei vielen Flüchtlingen ist schlichtweg unklar, ob und wie lange sie eine Bleibeperspektive in Deutschland haben. Würde das Sozialgesetzbuch II auch für Asylbewerber gelten, müssten die ganzen arbeitsmarktpolitischen Instrumente auch für sie zur Verfügung stehen, egal ob der Aufenthaltsstatus geklärt wurde oder nicht. Das erscheint mir nicht nachvollziehbar. Das Recht auf Asyl in Deutschland ist im Grundgesetz Artikel 16 a verankert. Dieses Recht und die daraus resultierende Verantwortung wollen und werden wir den verfolgten Menschen weiterhin garantieren. Wir dürfen bei der ganzen Diskussion aber nicht vergessen, dass Deutschland für viele Flüchtlinge ein bevorzugtes Asylland ist. Dafür sprechen auch die sogenannten Pull-Faktoren, wie gute Arbeitsbedingungen, gute Arbeitsmarktchancen, stabile Verhältnisse und Religionsfreiheit. Deshalb sage ich klar und deutlich: Die finanziellen Leistungen für Asylbewerber dürfen keine Anreize für eine verstärkte Armutszuwanderung sein. Bestätigt wurde uns in der öffentlichen Anhörung auch, dass die Zahl der Anträge auf Asyl unmittelbar nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gestiegen ist. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fängt er auch noch an!) Nach Auskunft des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge stieg die Zahl der Asylanträge – Frau Kollegin Eckenbach hat es heute schon gesagt – von Flüchtlingen aus den Westbalkanstaaten. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dieses Argument darf hier keine Rolle spielen!) – Die Zahlen belegen das. Passen Sie auf! – Die Zahl der Asylanträge stieg von 770 Anträgen im Juni 2012 auf 1 163 im August und 6 977 im Oktober des gleichen Jahres. Die Zahl der Anträge hat sich also innerhalb kürzester Zeit fast verzehnfacht. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Gründe hat das denn? Das müssen Sie einmal überlegen!) Auch wenn sich die Zahl der Asylanträge bekanntermaßen im Herbst erhöht – das wissen wir –, kann angesichts dieser Zahlen nicht ausschließlich von einem jahreszeitbedingten Anstieg gesprochen werden. Im Rahmen der Asylpolitik hat sich der Bundestag mit den verschiedensten Fragestellungen beschäftigt. Dabei ging es insbesondere um die Frage der sicheren Herkunftsstaaten, um die Residenzpflicht oder auch um die Entscheidung für oder gegen Sachleistungen. In diesem Zusammenhang hat man auch auf die gestiegene Zahl der Asylanträge reagiert. Ich bin mir sicher, dass wir aufgrund der weltweiten Krisenherde auch in Zukunft über asylrechtliche Problematiken diskutieren werden. Deshalb appelliere ich an alle, sich der Flüchtlingspolitik verantwortungsvoll zu widmen. Mit der Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes ist niemandem gedient, es muss vielmehr mit Leben ausgefüllt werden. Wir werden dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes daher zustimmen und damit die Situation vieler Asylbewerber in Deutschland verbessern. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Griese) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächster Redner für die Sozialdemokraten ist der Kollege Josip Juratovic. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Josip Juratovic (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz endlich umgesetzt wird. Ich wage einmal zu sagen: Es war auch Zeit. Wir alle haben die Berichte über Vorfälle in Asylbewerberheimen mitbekommen. Die Vorfälle sind beschämend und einer modernen Gesellschaft wie unserer -unwürdig. Umso wichtiger ist es, die Arbeit der Ehrenamtlichen rund um Flüchtlingsheime zu erwähnen. Sie dienen als großes Vorbild für unsere gesamte Gesellschaft. Die Ehrenamtlichen und auch die Angestellten sorgen dafür, dass die Ersterfahrung der Flüchtlinge mit unserem Land positiv ist. Sie sorgen dafür, dass die Ankommenden Vertrauen in unseren Staat fassen und sich auch langfristig als Teil unserer Gesellschaft fühlen. Sie sind offen dafür, dass sich unser Zuhause durch die Zuzüge positiv verändert. Sie sind diejenigen, die das neue deutsche Wir leben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Als Integrationsbeauftragter der SPD-Bundestagsfraktion möchte ich, dass wir uns diese Menschen auch in der Politik zum Vorbild nehmen. Ihre Offenheit und Hilfsbereitschaft muss unser Ziel und das Maß unseres Handelns sein. Das betrifft die Freizügigkeit innerhalb der EU, über die wir gerade gesprochen haben, genauso wie die Lebensbedingungen der Flüchtlinge, die in dem aktuellen Asylbewerberleistungsgesetz behandelt werden. Meine Vorrednerinnen haben die wichtigen Neuerungen im Asylbewerberleistungsgesetz vorgestellt. Ich werde deshalb nur ganz kurz die Neuerungen nennen, die mir persönlich besonders am Herzen liegen: die Verkürzung des Asylbewerberleistungsbezugs, die Verbesserungen bei der medizinischen Versorgung und insbesondere die Aufnahme der Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets in das Asylbewerberleistungsgesetz. Diese und andere kleine Schritte sind zusammen ein großer Schritt, um den Menschen, die neu in Deutschland ankommen, von Beginn an das Gefühl zu vermitteln, dass das, wonach sie sich am meisten gesehnt haben, hier tatsächlich möglich ist: ein menschenwürdiges Leben für alle. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn alle Neuankommenden dieses Gefühl vermittelt bekommen, haben wir ein wichtiges Ziel erreicht. Dann haben wir unser Land, was das weltweite Ansehen betrifft, ein Stück weitergebracht, und dann haben wir als Vorbild für den zwischenmenschlichen Umgang dem Weltfrieden einen großen Dienst erwiesen. Daher bitte ich um Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Dr. Martin Pätzold für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir novellieren das Asylbewerberleistungsgesetz, weil wir dazu den Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes haben und weil wir auf die Herausforderungen in der Welt, die uns in Deutschland betreffen, reagieren. Dieses Jahr werden über 200 000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Alleine von Januar bis September dieses Jahres waren es 163 000 Menschen, die hier einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Wir erleben, dass die Konflikte, die es im Irak, in Syrien, im Nahen Osten im Allgemeinen und in den ehemaligen Republiken der Sowjetunion gibt, natürlich auch Auswirkungen auf die Politik hier in Deutschland haben. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir dieses Gesetz novellieren und deutliche Verbesserungen beschließen. Aus meiner Sicht sind vor allen Dingen drei Punkte von Bedeutung – vieles wurde ja schon angesprochen –, auf die ich als letzter Redner eingehen möchte und die mir mit Blick auf diese Gesetzesinitiative besonders wichtig sind, da wir den Betroffenen dadurch, wie ich glaube, helfen. Erstens. Im Hinblick auf das Bildungs- und Teilhabepaket beschließen wir, dass es eine verbindliche Unterstützung der Kinder von Flüchtlingen geben wird. Vorher war das eine Entscheidung, die von den Ländern teilweise unterstützt wurde. Jetzt gibt es einen Rechtsanspruch darauf. Das stärkt die Integration im lokalen Raum. Deswegen finde ich persönlich, dass das eine wichtige und gute Sache ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Zweitens. Wir verkürzen die Dauer der Vorläufigkeit auf 15 Monate. Auch hier ist es wichtig, den Übergang zu organisieren. Deswegen ist es gut, dass wir die Dauer der Vorläufigkeit deutlich reduzieren und auf 15 Monate festlegen. Auch der dritte Punkt ist wichtig, gerade für uns als christliche Partei – es wurde schon angesprochen, dass für uns die Prinzipien Subsidiarität, Solidarität und Personalität von besonderer Bedeutung sind –: Da es auch um Eigenverantwortung geht, ist es richtig, dass wir einen Freibetrag festlegen, dass es Freigrenzen gibt und dass auch für Flüchtlinge die Möglichkeit besteht, Geld anzusparen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dann kann man nämlich selbst entscheiden, welche Ausgaben man tätigt. Die Frage, die wir in dieser Diskussion andauernd hören, lautet: Ist es menschenwürdig, wie wir Flüchtlinge unterbringen, oder nicht? Da gibt es den Bundesgesetzgeber – das sind wir Abgeordnete –, der eine Verantwortung hat. Da gibt es aber auch Länder und Kommunen, die hier in der Verantwortung stehen. Ich war in der letzten Woche im Nahen Osten, unter anderem in Jordanien und Israel, und konnte sehen, wie Flüchtlinge dort untergebracht werden. Alleine Jordanien, ein Land mit ungefähr 6 Millionen Einwohnern, hat 620 000 Syrer aufgenommen. Erstens können wir dankbar sein, dass ein Land wie Jordanien Verantwortung übernimmt. Zweitens müssen wir aber feststellen, dass die Standards dort andere sind als bei uns. Das wird klar, wenn man sich diese Zahl vor Augen führt. Das wird aber auch klar, wenn man weiß, wie die wirtschaftlichen Verhältnisse vor Ort sind. Wenn das der Bezugspunkt ist, dann sieht man, wie viel unsere Gesellschaft für diejenigen leistet, die hier Hilfe suchen. Wir leisten auch deswegen so viel, weil wir eine historische Verantwortung und eine humanitäre Verantwortung haben. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mir persönlich ist wichtig – das habe ich bereits angesprochen –, dass wir als Gesetzgeber nicht nur einen menschenwürdigen Rahmen festsetzen, sondern dass wir auch die gesamte Gesellschaft und die Zivilgesellschaft zur Unterstützung ermutigen. In meinem Wahlkreis Lichtenberg im Berliner Norden ist es gelungen, mit der Zivilgesellschaft ordentlich und vernünftig zusammenzuarbeiten und dafür zu sorgen bzw. zu werben, dass es auch zu einer Beteiligung vor Ort kommt. So gibt es beispielsweise Deutschkurse, die von Menschen im Rentenalter geleitet werden, die dadurch die Kompetenzen, die sie erworben haben, weitergeben. Wir brauchen eine starke Zivilgesellschaft und Anerkennung dafür, dass es uns gelingt, Flüchtlinge vernünftig zu integrieren. Ich beispielsweise sammle immer zu Weihnachten mit einem Einzelhändler vor Ort Geschenke für Flüchtlingskinder; das werde ich auch dieses Jahr machen. Jeder kann einen Beitrag dazu leisten, dass es in unserem Land in sozialer Hinsicht besser zugeht. Auch mit diesem Gesetzentwurf leisten wir als Bundestagsabgeordnete dazu einen vernünftigen Beitrag. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes. Dazu liegt mir eine Reihe von Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3073, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/2592 und 18/3000 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 8 b. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3073, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2736 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 8 c. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Sozialrechtliche Diskriminierung beenden – Asylbewerberleistungsgesetz aufheben“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3073, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2871 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 9: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulle Schauws, Tabea Rößner, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grundlagen für Gleichstellung im Kulturbetrieb schaffen Drucksache 18/2881 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Ulle Schauws von Bündnis 90/Die Grünen. Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste, die ich heute besonders begrüßen möchte! Kultur lebt von Vielfalt, und auf unsere kulturelle Vielfalt sind wir in Deutschland besonders stolz – zu Recht. Aber Vielfalt heißt nicht nur Auswahlmöglichkeiten aus einem möglichst breiten kulturellen Angebot. Nein, das heißt auch, die Unterschiedlichkeit in der Kultur zu fördern. Kunst als gesellschaftlicher Spiegel gewinnt durch die Vielfalt der verschiedenen Blickwinkel. Kunst gewinnt durch die unterschiedlichen Perspektiven derer, die sie machen. Darum müssen Frauen in allen Bereichen der Kunst und Kultur selbstverständlicher Teil sein, genauso wie Männer. Aber genau da liegt das Problem. Fakt ist: 2014 sind weder Bezahlung, Arbeit oder Macht bei den circa 1 Million Erwerbstätigen in der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland gerecht verteilt. Frauen haben hier – und ich rede von der bestausgebildetsten Frauengeneration, die es je gab – nach wie vor das Nachsehen. Für den Kulturbetrieb gilt das Gleiche wie für die Wirtschaft: Je höher Gehalt, Ansehen oder Funktion einer Stelle, desto geringer ist der Frauenanteil. Die Schieflage besteht – ich betone es nochmals – trotz einer steigenden Anzahl von Absolventinnen in den künstlerischen Studiengängen. Im Kulturbetrieb herrscht ein großes Ungleichgewicht in der Stellenverteilung zwischen Frauen und Männern, insbesondere in Leitungen bei Theatern, Orchestern und auch in den Film- und Fernsehproduktionen. Aktuell macht die Initiative Pro Quote Regie deutlich, wie stark diese Missstände sind: Im letzten Jahr waren unter den 115 aus dem Deutschen Filmförderfonds unterstützten Projekten nur 13 Projekte von Regisseurinnen. In Euro heißt das: 62 Millionen Euro Fördergelder für Männer gegen 6 Millionen für Frauen. Das heißt, weniger als 10 Prozent der Mittel gingen an Regisseurinnen. Und was glauben Sie wohl, wie viele der Folgen der beliebtesten deutschen Krimiserie Tatort 2013 unter der Regie einer Frau gedreht wurden? 3 von 82. Unglaublich, oder? Meine Damen und Herren, das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung zur Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Das gilt auch für den Kulturbetrieb. Die Bundesregierung steht somit auch in der Verantwortung, Frauen in öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen und Projekten zu unterstützen. Wir fordern Sie daher auf: Verteilen Sie die öffentlichen Gelder geschlechtergerecht! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Die Förderkriterien für den Etat der Beauftragten für Kultur und Medien müssen sich für Frauen und Männer gleichermaßen gut auswirken; darum müssen Sie sie anpassen. Man sollte meinen, 2014 sei es selbstverständlich, dass Jurys zur Hälfte aus Frauen bestehen. Das ist leider eine Illusion. Deshalb wollen wir eine 50/50-Besetzung aller Gremien aus dem Hause der BKM, die Fördergelder vergeben, und wir brauchen eine paritätische Geschlechterverteilung bei der Vergabe von Förderprojekten und Preisen durch Jurys. Hier sollten nur in begründeten Einzelfällen Ausnahmen möglich sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) Und, meine Damen und Herren, es kann ja wohl nicht sein, dass die Daten zur Situation von Frauen und Männern im Kulturbetrieb 15 Jahre alt sind. Da ist das Wegsehen der Bundesregierung quasi symbolisch. Diesen Mangel müssen Sie beheben. Ich höre die Kritikerinnen und Kritiker schon stöhnen: Jetzt auch noch eine Quote für den Kulturbetrieb! Wenn es um Inhalt, Talent und künstlerische Freiheit geht, setze sich Qualität schon durch, heißt es ja gerne. Nein, sagen wir, das ist kein Argument. Künstlerische Produktionen von Frauen leiden doch nicht an Qualitätsmangel. Künstlerinnen leiden unter den Strukturen in einem System, das ihnen Chancen verwehrt. Eine Quote bringt mehr künstlerische Freiheit, sie schützt die Freiheit der Kultur. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir wissen: Freiwillige Vereinbarungen und unverbindliche Regelungen haben für Frauen in der Wirtschaft bislang nichts verbessert. Darum fand ich es schon ganz schön hanebüchen, wie Sie von der CSU immer noch verzweifelt versuchen, die Frauenquote in der Wirtschaft noch mal zu verzögern. Dass Erfolge hingegen durch verbindliche Vorgaben erzielt werden können, dafür gibt es gute Beispiele. Schweden hat 2012 eine Quote für die Filmförderung eingeführt. 40 Prozent des Filmförderbudgets werden seitdem in den Positionen Regie, Drehbuch und Produktion an Frauen vergeben. So sieht für uns eine erfolgreiche Film- und eine geschlechtergerechte Kulturförderung aus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Meine Damen und Herren, es geht um die Chancengleichheit für Frauen. Es geht nicht darum, ob Frauen und Männer besser oder schlechter arbeiten. Es geht um gleiche Arbeitsmöglichkeiten und gleiche Aufstiegschancen. Es geht um eine gerechte Verteilung von Geld und Perspektiven. Wenn wir als Bundespolitikerinnen und Bundespolitiker zulassen, dass der Kulturbetrieb einseitig gefördert wird, dass er selbstverständlich von Männern dominiert wird, bringen wir die Kultur um die Chancen der Vielfalt. Es kann doch nicht sein, dass möglichst viele Frauen Kultur konsumieren, aber möglichst wenige Frauen selbst gestalten und entscheiden können. Wir wollen die ungerechte berufliche Benachteiligung von Frauen beenden. Wir wollen, dass Frauen in Kulturbetrieben selbstverständlich sind, dass unser Meinungsbild durch weibliche Vielfalt bereichert wird, dass sich die Pluralität unserer Gesellschaft hier abbildet. Wir wollen das kreative Potenzial von Frauen nicht verpassen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Dr. Herlind Gundelach. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Große Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich festgehalten, dass die Gleichstellung von Frauen und Männern für uns eine hohe Priorität hat. Wir haben schon wichtige Punkte beschlossen und bringen derzeit weitere wichtige Gesetze auf den Weg. Allein in dieser Woche werden wir das Elterngeld Plus in zweiter und dritter Lesung beraten. Die flexibleren Lösungen beim Elterngeld und bei der Elternzeit bedeuten für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine ganz erhebliche Erleichterung. Jede Frau und jeder Mann sollten grundsätzlich jeden Beruf ergreifen können. Das müssen wir ihnen ermöglichen. Das ist für mich Gleichstellung. Ich weiß aber auch, dass das einfacher klingt, als es tatsächlich ist. Für mich bedeutet Gleichstellung außerdem, dass Frauen und Männer für die gleiche Arbeit auch den gleichen Lohn bekommen. Die Problematik der Entgeltgleichheit ist übrigens besonders paradox; denn in der Praxis sind Frauen häufig besser ausgebildet, haben oft die besseren Noten und bekommen trotzdem weniger Gehalt für die gleiche Arbeit. Das ist auf Dauer nicht zu akzeptieren. Für mich bedeutet Gleichstellung aber auch, dass Frauen ihre Entscheidungsfreiheit nicht selber begrenzen. Ich war immer eine berufstätige Mutter. Ich weiß, dass es für Frauen reale Barrieren in der Berufswelt gibt. Aber es ist auch entscheidend, ob wir diese als Frauen hinnehmen oder aktiv dagegen angehen. Ich beobachte nämlich auch, dass junge Frauen oftmals Berufe danach auswählen, ob sie geeignet sind, Familie und Beruf miteinander zu verbinden. Das ist selbstverständlich absolut legitim; aber ich möchte Frauen ausdrücklich dazu ermutigen, ihre Wünsche laut zu äußern und sich selber zu erlauben, reale Entscheidungsfreiheit zu leben. Die Grenzen, die Frauen im Berufsleben erleben, sind über viele Jahrzehnte durch Geschlechter- und Rollenbilder entstanden und gewachsen. Wenn Frauen sich selber begrenzen, dann zementieren sie diese Bilder, und wir werden weiterhin zwischen Frauen- und Männerberufen unterscheiden. Ich habe aus meiner Meinung nie einen Hehl gemacht: Ich bin eigentlich keine Befürworterin der Quote. Aber wie die Erfahrung zeigt, ist sie zum jetzigen Zeitpunkt leider immer noch notwendig. Es wäre aber falsch, zu glauben, dass wir dadurch die Geschlechter- und Rollenbilder ändern können; denn das können nur wir selbst. Das fängt früh an, nämlich schon in der Art, wie wir unsere Kinder erziehen. Da finde ich übrigens selbst bei manchen Feministinnen ganz traditionelle Erziehungsmuster. Also, es gibt genug zu tun. Es gibt aber Branchen – ich glaube, darin sind wir uns einig –, in denen die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und auch der Karrierechancen für Frauen nicht so einfach umzusetzen ist, wie wir das gerne hätten. Eine dieser Branchen ist zweifellos der Kulturbereich. Grundsätzlich begrüße ich daher den Antrag der Grünen, der die Gleichstellung von Frauen im Kulturbetrieb thematisiert. Ich bin aber doch etwas verwundert darüber, dass der Antrag die besonderen Aspekte dieser Branche aus meiner Sicht überwiegend verkennt, dass dieser Antrag Themen adressiert, bei denen der Bund schlichtweg der falsche Ansprechpartner ist, und dass dieser Antrag die künstlerische Freiheit zum Teil völlig außer Acht lässt. So können und so sollten wir die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen im Kulturbereich nicht erreichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie sprechen in Ihrem Antrag explizit durch Bundesmittel geförderte Filmprojekte an. Ja, es ist schade, dass die Zahl der Filme von Regisseurinnen niedriger ist als die von Regisseuren. Ich würde aber keine Kausalität zwischen Geschlecht und Förderung unterstellen. Das halte ich in diesem Fall schlichtweg für falsch. Einen ähnlichen Zusammenhang stellen Sie auch bei Theaterinszenierungen fest. Ja, die Stücke beim Berliner Theatertreffen haben zu großen Teilen männliche Regisseure. Auch wenn ich die Spielpläne der deutschen Theaterlandschaft insgesamt durchforste, stelle ich fest: Die meisten Stücke werden von Männern inszeniert. Aber ich stelle auch fest, dass es immer mehr Autorinnen und mehr weibliche Bühnen- und Kostümbildner und auch Co-Regisseurinnen gibt, vor allem an vielen kleineren, aber auch durchaus bedeutenden Theatern. Dass vor allem auch Intendantinnen wie Karin Beier und Shermin Langhoff besondere Aufmerksamkeit bekommen, ist zweifellos richtig und geschieht meiner Meinung nach völlig zu Recht. Denn diese Frauen leisten großartige Arbeit. Ich möchte aber in diesem Zusammenhang noch eine Bemerkung machen. Wenn ich mir in den letzten Jahren beim Berliner Theatertreffen manche Stücke angeschaut habe, konnte ich zum Teil Geschlechterbilder erkennen, die mir sonst eher durch meine Großmutter vorgelebt worden waren. Aber diese Inszenierungen wurden gefeiert, und zwar von beiden Geschlechtern. Das ist auch in Ordnung; denn über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Vielleicht müssen wir eher die Rollenbilder in der Gesellschaft hinterfragen. Warum finden auch Frauen solche klischeehaften Darstellungen gut? Aber an dieser Stelle möchte ich ausdrücklich betonen: Für Inszenierungen und Produktionen muss die künstlerische Freiheit immer oberstes Gebot bleiben. Berufe im Kunst- oder Kulturbereich haben meistens besondere Arbeitsbedingungen, die sich nicht wegdiskutieren lassen. Manche Theater haben zum Beispiel Hausregisseure. Diese inszenieren dann vielleicht drei Stücke in einer Spielzeit und sind somit schätzungsweise sechs Monate eines Jahres an einen Ort gebunden. Die allermeisten Regisseure inszenieren aber im gesamten deutschsprachigen Raum und sind so meist nicht länger als zwei Monate in einer Stadt. Ich glaube nicht, dass bei der Verpflichtung eines Regisseurs das Geschlecht grundsätzlich eine Rolle spielt. Aber die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielt bei der Berufswahl in diesem Fall ganz sicher eine Rolle. Denn Regisseurinnen und Regisseuren hilft auch eine Kita mit den besten Öffnungszeiten nichts, wenn sie alle zwei Monate umziehen müssen. Dann ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schwer zu erreichen. Ähnliche Probleme haben übrigens beispielsweise auch freie Bühnen- und Kostümbildner. Die in dieser Woche zu beschließenden Änderungen beim Elterngeld Plus können für diese Frauen Erleichterung schaffen. Ich bin daher froh, dass wir damit mehr Flexibilität für alle schaffen. Denn so können nicht nur Frauen, sondern auch Paare im Kulturbereich ihre Elternzeit an die besonderen Gegebenheiten ihrer Berufe anpassen. Meine Damen und Herren, Quoten im Kulturbereich können beim besten Willen kein Weg sein. Wenn Menschen mehr Bilder von männlichen Malern kaufen, obwohl es genauso viele weibliche wie männliche Maler gibt, können wir ihnen letztendlich nichts anderes vorschreiben. Wir können den Geschmack nicht beeinflussen. Deswegen finde ich Ihre Vorschläge für die Vergabe von Preisen oder die Zusammenstellung von Ausstellungen nicht zielführend, vor allem, da selbstverständlich im Bereich der institutionellen Förderung durch Bund und Länder gleichermaßen – darauf haben auch Sie abgehoben – das Gleichstellungsgesetz und die Gremienbesetzungsgesetze durchaus Anwendung finden. Hier setzen wir uns für weitere Verbesserungen ein. Eine Novellierung dieser Gesetze ist in Arbeit. Außerdem sind die dauerhaft durch den Bund geförderten Einrichtungen gehalten, die Gleichstellungsanforderungen zu beachten. Auch gibt es konkrete Projektförderung mit frauenspezifischem Hintergrund. Ich bin durchaus dafür, dass solche Dinge ausgeweitet werden. Ich bin auch Ihrer Auffassung, dass es mit Blick auf weitere Maßnahmen, die zu ergreifen sind, vielleicht ganz sinnvoll wäre, zu einer Aktualisierung der Daten zu kommen. Sie sind in der Tat etwas zu alt, um von der heutigen Warte aus ein Urteil darüber zu erlauben, was tatsächlich nottut. Aber für mich und, wie ich glaube, auch für die CDU/CSU insgesamt ist es ganz wichtig, dass im Bereich der Kunst immer künstlerische und kulturelle Kriterien maßgeblich sein müssen. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die Linke spricht jetzt die Kollegin Sigrid -Hupach. (Beifall bei der LINKEN) Sigrid Hupach (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vielen Dank an die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, dass wir heute über das wichtige Thema der Gleichstellung von Frauen im Kulturbetrieb debattieren können. Ihrem Antrag werden wir zustimmen. Das haben wir schon in der letzten Legislatur getan, als dieser Antrag das erste Mal eingebracht wurde. Jetzt ist er bereichert um den aktuellen Aufruf der Initiative Pro Quote Regie, einer Initiative von rund 200 Regisseurinnen, die sich für Gleichbehandlung einsetzen. Auch ich habe diesen Aufruf mit meiner Unterschrift unterstützt. Gleichstellung im Kulturbetrieb, das sollte im Jahr 2014 eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Aber der Kulturbereich ist von Gleichberechtigung von Mann und Frau genauso weit entfernt wie unsere Gesellschaft insgesamt. Es gibt eklatant zu wenige Frauen in Leitungs- und Führungspositionen. Von Equal Pay kann keine Rede sein. Frauen verdienen, wie bereits gesagt, im Kulturbereich im Durchschnitt wesentlich weniger als Männer. Demzufolge sind Frauen in weit höherem Maße von Altersarmut betroffen. Altersarmut in Deutschland ist vorwiegend weiblich. Im Kulturbereich gibt es traditionell einen hohen Frauenanteil sowohl in der Ausbildung in Medien- und Kulturberufen als auch bei den Beschäftigten. Zunehmend ist dies im Journalismus so. Andere Bereiche wie Bibliotheken oder Museen sind heutzutage nahezu Frauendomänen. „Viele Frauen“ ist aber nicht gleichzusetzen mit „viele Frauen in wichtigen Entscheidungspositionen“. In ihrer Halbzeitbilanz vom Juni 2014 stellt die Initiative Pro Quote fest, dass der sogenannte Machtanteil von Journalistinnen bei fast allen großen Zeitungen unter 30 Prozent liegt. Was ist also zu tun? Der Antrag der Grünen zeigt einige Möglichkeiten auf. Wir brauchen belastbares Zahlenmaterial und Förderkriterien im Etat des Kapitel 5 des Einzelplans 04, die eine geschlechterparitätische Vergabe von Führungspositionen und Besetzungen von Orchestern, Ausstellungen und Jurys garantieren. Uns Linken geht das nicht weit genug. Die Linke ist für Pro Quote. Damit ist aber nicht das auf wackeligen Beinen stehende schwache Quotengesetz gemeint, das die Bundesregierung je nach Wirtschaftslage ab 2015 plant. Wir als Linke fordern eine Mindestquotierung aller politischen Mandate und öffentlichen Ämter von 50 Prozent (Beifall bei der LINKEN) sowie ein Gleichstellungsgesetz für die private Wirtschaft. Das bezieht auch den Kulturbereich ein, öffentlich gefördert oder nicht. Es gibt also für die Bundesregierung viel zu tun. Ich will hier nur einige Beispiele nennen, in denen ein zeitnahes Engagement der Koalition deutliche Verbesserungen für Frauen nicht nur im Kulturbereich bewirken würde: Erstes Beispiel, faire und gleiche Entlohnung. Mit der Einführung von Equal Pay in öffentlich geförderten Kultureinrichtungen und Projekten kann die Bundesregierung mit gutem Beispiel vorangehen und den Rechtsanspruch auf gleiche Entlohnung bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit für Frauen durchsetzen. Dazu gehört ein durchsetzungsstarkes Urhebervertragsrecht. Wir Linke haben hierzu schon in der letzten Legislatur einen Gesetzentwurf eingebracht. Dazu gehört auch die Frauenquote. Zweites Beispiel, soziale Absicherung. Der Koalitionsvertrag kündigt für Ende 2014 eine Anschlussregelung zum Arbeitslosengeld-I-Bezug für kurzzeitig Beschäftigte an, eine Regelung, die auch für viele Kulturschaffende von großer Bedeutung ist. (Beifall bei der LINKEN) Vorgelegt hat die Koalition aber nichts. Stattdessen wird heute zu später Stunde in einem sogenannten Omnibusgesetz die Geltungsdauer der bestehenden ungenügenden Regelung um ein Jahr verlängert. Schade! Auch das wäre eine Möglichkeit gewesen, die soziale Absicherung im Kreativbereich zu verbessern. (Beifall bei der LINKEN) Wir Linke haben mit unserem Antrag „Kurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversicherung ermöglichen“ das vorgelegt, was die Koalition verschlafen hat. Weitere Beispiele, die zu nennen wären, sind die Ausstellungsvergütung, die Problematik der Mehrwertsteuer im Kunsthandel und – last, but not least – der Gabriele-Münter-Preis. Dieser europaweit einzigartige Preis für Künstlerinnen über 40 Jahre kann seit 2010 nicht mehr vergeben werden, weil sich das Bundesfamilienministerium aus der Finanzierung zurückgezogen hatte. Nach jahrelangem Ringen hat das Frauenmuseum in Bonn jetzt vom Ministerium einen Bewilligungsbescheid erhalten, um eine Vergabe des Preises für 2017 zu organisieren, aber mit der Hälfte des Geldes. Sieben Jahre ohne Preisvergabe und dann noch ein Sparpreis, das ist eine Blamage. Kein Mann hätte sich das wohl ohne Protest gefallen lassen. Danke. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist für die Sozialdemokraten die Kollegin Hiltrud Lotze. (Beifall bei der SPD) Hiltrud Lotze (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste auf den Besuchertribünen! 65 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes kann von einer tatsächlichen Gleichstellung in vielen Bereichen unserer Gesellschaft nicht die Rede sein. Das ist ein Fakt. Wenn es so weiterginge wie bisher, dann würden wir wahrscheinlich auch 65 Jahre später uns alle eingestehen müssen, dass es mit gutmütigen Appellen und mit Freiwilligkeit in der Privatwirtschaft nicht wirklich weiter vorangeht. Ich bin deswegen dankbar, dass wir mit Manuela Schwesig eine kompetente und sehr hartnäckige Ministerin haben, die trotz heftigen Gegenwinds – jetzt zitiere ich den Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz – „auf die Beseitigung bestehender Nachteile“ hinwirkt. Deswegen ist die Frauenquote ein immens wichtiger Beitrag zur Gleichstellung von Frau und Mann. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Indikatoren der Ungleichstellung von Frau und Mann, die wir in der Privatwirtschaft beobachten können, gelten größtenteils auch für den Kunst-, Kultur- und Medienbereich und sind uns mittlerweile mehr als gut bekannt. Frauen verdienen für gleiche Arbeit weniger, sie sind überdurchschnittlich von prekärer Beschäftigung betroffen, und wir treffen sie viel seltener auf den höheren Hierarchieebenen an, und das trotz nachweislich vorhandener sehr guter Qualifikationen. Sie sind auch noch viel stärker davon betroffen, dass sich nach wie vor Familie und Beruf so schlecht miteinander vereinbaren lassen. Es gibt aber eine Besonderheit im Bereich der Kultur-, Kreativ- und Medienwirtschaft, nämlich die, dass gerade hier die Möglichkeit für Frauen besonders groß ist, Karriere zu machen, und zwar jenseits von tradierten -Berufsbildern, also typisch weiblichen und typisch männlichen Berufen. Die Digitalisierung, über die wir hier schon häufig intensiv gesprochen haben, verstärkt diesen Effekt noch. Unter den Selbstständigen im Kultur-, Medien- und Kreativbereich sind überdurchschnittlich viele Frauen. Es zeigt sich aber auch, dass Frauen in diesem Bereich besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind, jedenfalls stärker als Männer. Wir können also sagen, dass der Kreativ-, Kultur- und Medienbereich einerseits ein wichtiger und aus der Genderperspektive eigentlich traumhafter Arbeitsmarkt für Frauen ist, der im Übrigen ein großes Wachstums- und Beschäftigungspotenzial aufweist. Deswegen arbeiten wir intensiv am Kreativpakt. Er ist also eigentlich ein traumhafter Arbeitsmarkt, der aber andererseits für Frauen ein großes soziales Risiko birgt. Wir haben in Regierungsverantwortung bereits einige Weichen gestellt, um die Situation zu verbessern. Ich nenne als Beispiel nur den Mindestlohn, der positive Auswirkungen für die Beschäftigten im Kreativ-, Kultur- und Medienbereich hat. Noch wichtiger zu erwähnen ist, dass wir umgehend nach der Regierungsbildung beschlossen haben, die Beiträge zur Künstlersozialkasse zu stabilisieren. Gerade für selbstständige Frauen, die in der KSK versichert sind und Mutter werden, ist die KSK eine ganz wichtige Stütze. Das sind zugegebenermaßen nur einige und verhältnismäßig kleine Steine, die wir aus dem Weg geräumt haben, aber sie sind sehr wichtig. Allerdings sind noch einige dicke Brocken zu bewegen. Es ist deswegen richtig und wichtig, dass der -Antrag der Grünen dies heute hier thematisiert. Der Antrag ist nahezu wortgleich mit einem Antrag der Grünen aus der letzten Legislaturperiode. Damals hatte auch die SPD einen Antrag mit dem Titel „Für die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern auch im Kunst-, Kultur- und Medienbereich“ vorgelegt. Ich denke – das ist hier schon angeklungen –, wir sind uns auch heute darüber einig, dass Handlungsbedarf besteht. Auch wenn ganz klar ist, dass die Kompetenz des Bundes aufgrund der Kulturhoheit der Länder begrenzt ist, sollte uns das hier nicht davon abhalten, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten die Gleichstellung zu fördern. Der Antrag der Grünen und auch unser Antrag aus der letzten Legislaturperiode haben da die Richtung -vorgegeben und die möglichen Handlungsfelder beschrieben. Ganz wichtig dabei ist, dass wir über die -aktuelle Situation genau Bescheid wissen, sprich: Wir brauchen – ich zitiere aus dem Antrag – „… geschlechtsspezifisches Wissen über die sozialen Rahmenbedingungen der Kunstschaffenden, die Besetzung von Führungspositionen und Gremien sowie die Vergabe von Stipendien und anderen Fördermaßnahmen …“. Dieser Forderung aus dem Antrag der Grünen kann ich vor-behaltlos zustimmen. Gleichzeitig sehe ich, dass ein Bereich in diesem Antrag zu kurz kommt: der Medienbereich. Leider kommt der Begriff „Medien“ schon im Titel des Antrags nicht vor. Das ist für uns Grund genug, dieses Thema jetzt im Kultur-, Kreativ- und Medienbereich aufzugreifen, und zwar umfassend. Wir sollten uns für dieses wichtige Thema aber auch Zeit nehmen, um es gründlich zu -behandeln. Ich schlage deswegen vor, dass wir im -Ausschuss für Kultur und Medien ein Fachgespräch zu diesem Thema führen, um uns alle gemeinsam auf den neuesten Stand zu bringen. Als zuständige Berichterstatterin setze ich mich dafür ein, und ich bin mir sicher, dass ich da die Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen der Union habe. – Ich sehe da schon Nicken. Eine Sache noch zum Schluss, die mir besonders wichtig ist. Wenn wir über Gleichstellung im Kultur-, Kreativ- und Medienbereich reden, dann gehört ein wichtiger Aspekt dazu: Das ist die Inklusion. Kultur für alle bedeutet nicht nur, dass wir allen den Zugang zur Kultur ermöglichen, sondern auch, dass jeder mitmachen kann. Wenn wir also unter dem Stichwort „Gleichstellung“ die Fördergrundsätze des Bundes im Kultur- und Medienbereich unter die Lupe nehmen, dann dürfen wir das nicht nur unter dem Genderaspekt machen, sondern wir müssen auch die UN-Behindertenrechtskonvention ernst nehmen und dabei die Inklusion mitdenken. (Beifall bei der SPD) Ich freue mich darüber, dass wir das im Ausschuss gemeinsam mit allen Fraktionen anpacken wollen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein spricht als Nächstes für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich habe mir Ihren Antrag sehr genau durchgelesen. Mir war er neu; ich bin ja zum ersten Mal hier. Ich habe wirklich überlegt, ob daraus noch eine runde Sache werden kann. Ich muss sagen: Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Ergebnis, dass ich Ihren Antrag eigentlich für ziemlichen Unsinn halte. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Da gibt es zum einen die kulturpolitischen Gründe, etwa die Kulturhoheit der Länder, die eben schon erwähnt wurde. Die Zuständigkeit für die Kulturförderung liegt zu einem Großteil bei den Ländern, vor allem aber bei den Kommunen. Sie wären die Hauptansprechpartner für Ihre Forderungen. Dort, in den Ländern und in den Kommunen, gelten -natürlich schon jetzt, wie auch bei der Kulturförderung aus dem Bundesetat, die ganz allgemeinen gleich-stellungspolitischen Grundsätze. Es mag in den Kommunen und in den Bundesländern mit der Gleichstellung unterschiedlich gut funktionieren. Für Bayern, mein Land, kann ich sagen: Dort werden Künstlerinnen durchaus ganz gezielt mit Programmen gefördert. Schaut man sich die Gewinnerinnen und Gewinner des Bayerischen Kunstförderpreises der vergangenen Jahre an, stellt man fest: Bei der „Darstellenden Kunst“ haben fast nur Schauspielerinnen und Sängerinnen den Preis gewonnen. In der Kategorie „Bildende Kunst“ ist es ebenso ausgeglichen wie in den Sparten „Musik und Tanz“ oder „Literatur“. Im Übrigen können Sie in Baden-Württemberg schon einmal damit anfangen, Ihre Forderungen umzusetzen; da regieren Sie ja. Ich habe aber aus dieser Richtung bisher eigentlich nichts gehört. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch was!) Außerdem ist da der Punkt „Freiheit der Kunst“. Sie berufen sich in Ihrem Antrag auf Artikel 3 des Grundgesetzes, wonach Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Ich bin sicher, dass niemand in diesem Hause dies bestreiten wird. Dieses Grundrecht steht natürlich in -keinerlei Widerspruch zu Artikel 5 des Grundgesetzes, wonach die Kunst frei ist. Frauen dürfen in unserem Land ihre Kunst natürlich so frei betreiben wie Männer. Sie dürfen sich aber auch ganz frei entscheiden, ob sie sich um eine Stelle als Intendantin bewerben oder ob sie das nicht tun. Sie dürfen Karriere machen wollen, sie dürfen das aber auch nicht wollen, und sie dürfen Drehbücher einreichen, und sie dürfen das auch nicht wollen. Die Juroren eines Auswahlgremiums dürfen – ich meine sogar, sie müssen – allein nach künstlerischen Kriterien beurteilen, und sie dürfen daher Frauen oder eben auch Männer prämieren. Ich will hier auch nicht unterstellen, dass Frauen bei Preisvergaben regelrecht aussortiert würden. Fakt ist nämlich: Frauen bewerben sich in einigen Bereichen auch heute noch viel seltener um Führungspositionen als Männer, (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher kommt das wohl?) etwa um Intendanten- oder Dirigentenposten. Sie bewerben sich auch seltener um Preise. Damit sind wir schon mitten in einem weiteren Punkt: Ihren Zahlenspielereien. Sie stellen in Ihrem Antrag Zahlen relativ willkürlich gegeneinander und folgern daraus, dass es – ich zitiere – „strukturelle Schranken beim -Zugang ins Berufsleben für Frauen im Kulturbetrieb“ gebe. Was Sie dabei unterschlagen, ist, dass es zwischen den einzelnen kulturellen Sparten ganz erhebliche Unterschiede bei der Anzahl von Frauen in Führungspositionen gibt. Sie zitieren leider nur die Negativbeispiele. Richtig ist aber, dass in den Kulturredaktionen der -Rundfunkanstalten, in den Feuilletons der Zeitungen, in den Bibliotheken und Museen, in den Literaturhäusern ausgesprochen viele Frauen vertreten sind. Auch die -Tatort-Redaktion des Bayerischen Fernsehens ist voller Frauen. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden wir über die Leitungen, oder worüber reden wir hier?) Ebenso ist das bei Ihrem Vergleich zwischen den freiberuflichen Künstlerinnen und Künstlern. Frauen verdienen danach im Schnitt weniger als ihre männlichen -Kollegen. Das ist ein Fakt, den man überhaupt nicht bestreiten kann. In den allgemeinen Diskussionen um den Gender Pay Gap haben Sie korrekterweise schon einige Faktoren herausgerechnet. Der dann entstehende Unterschied ist die eigentliche Ungerechtigkeit. Aber auch hier muss man natürlich ganz genau hinschauen. Gerade bei den Selbstständigen ist von einer sehr großen Chancengleichheit auszugehen, weil eventuell diskriminierende Faktoren, die es bei Angestelltenverhältnissen mitunter noch geben kann, fehlen. Es ist doch sehr viel naheliegender, dass Frauen gerade diese Freiberuflichkeit im Kulturbereich nutzen, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Das führt mich zum nächsten Punkt. Es sind vermutlich gerade die Frauen, die diese Flexibilität im Kulturbereich nutzen und schätzen, um ihren Beruf ausüben -zu können, auch wenn sie Kinder bekommen. Dann arbeiten sie natürlich nicht so viel wie jemand, der keine -Kinder und keine Familie hat, und verdienen konsequenterweise auch weniger. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, das Fachgespräch ist wirklich notwendig!) Aber sie sind vielleicht gar nicht unzufrieden mit ihrem Leben. Das muss kein Missstand sein. (Zuruf von der LINKEN: Wo leben Sie denn?) Richtig ist auch, dass es in speziellen Branchen des Kulturbetriebs nach wie vor extrem schwierig ist, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Ich nenne hier einmal das Theater. Nirgendwo sonst gibt es so viele Wochenend- und Abendtermine. Nirgendwo sonst wird so viel zeitliche und örtliche Flexibilität verlangt. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das passt alles in die Geschichte mit dem Betreuungsgeld! Das passt eins zu eins da rein! Das ist genau die gleiche Story!) Ein Intendant bringt bekanntlich sein eigenes Ensemble mit. Die Theaterleute sind in der ganzen Republik unterwegs, wie ein Wanderzirkus, und das muss man organisieren können, auch als Frau. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit dem Betreuungsgeld geht das bestimmt in Bayern!) Es ist weder schlecht noch rückständig, wenn sich auch eine Sängerin, eine Regisseurin, eine Tänzerin um ihr Kind kümmern will. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber haben wir nicht gesprochen! Das wissen Sie! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist die Konsequenz?) Dieser Wunsch ist bei Frauen öfter vorhanden als bei Männern. In dieser Welt leben wir alle. Ich unterstelle trotzdem nicht, dass die Frauen allesamt unzufrieden sind oder an Schranken des Kulturbetriebs scheitern. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie den Aufruf von Pro Quote Regie mal gelesen?) Ich sage einen Satz, auch wenn dieser fast an ein Tabu rührt: Vielleicht sind manche Frauen, wenn sie denn Kinder bekommen, in dem Moment gar nicht so stark an einer beruflichen Karriere interessiert. Ich könnte das auch nachvollziehen. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es doch überhaupt nicht! Sie verstehen überhaupt nicht, worum es geht!) Meine Damen und Herren, Sie sprechen in Ihrem Antrag wörtlich von einer Diskriminierung von Frauen im Kulturbetrieb; Sie unterstellen also ein halbwegs gezieltes Vorgehen. Ich unterstelle das Gegenteil. Ich meine, dass gerade in der Kulturbranche die Bereitschaft, Frauen zu fördern und auf herausgehobene Positionen zu berufen, besonders ausgeprägt ist, eben weil Frauen – das stimmt ja – ein ganz besonders großes kreatives -Potenzial mitbringen. Es wäre überhaupt nicht nachvollziehbar, dieses Potenzial nicht zu nutzen. Gerade deshalb übernehmen sehr viele Frauen die Leitung von Museen, Galerien, Literaturhäusern und Bibliotheken. Ich behaupte auch, dass nur in wenigen Branchen die Chancengerechtigkeit so hoch ist wie in der Kulturbranche, zum Beispiel weil bei Probespielen in der Regel hinter einem Vorhang gespielt wird, sozusagen als Schleier des Nichtwissens für die Juroren. Auch ich war schon in einer Findungskommission für einen neuen Intendanten. Es ging um eine städtische Bühne. In der Findungskommission saßen übrigens drei Frauen und ein Mann, nicht alle von der CSU; das sage ich nur, falls Sie meinen, das Ergebnis würde mit der Parteizugehörigkeit zusammenhängen. Am Schluss bekam ein Mann den Posten. Denn unter den vielen Dutzend Bewerbern war nur eine Handvoll Frauen, und die passten nicht in das Profil. Ich meine, wir müssen uns die Eigenheiten des Kulturbetriebes wirklich genauer anschauen. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll man dazu sagen? Nichts mehr!) Meine Damen und Herren, der Verweis auf die Kulturhoheit der Länder und die Freiheit der Kunst würde als Grund schon reichen, um Ihren Antrag abzulehnen. Ihr schräger Blick auf die Wirklichkeit des Kulturbetriebes und die Lebenswirklichkeit der Frauen tut ein Übriges. Für Ihren nächsten Antrag habe ich einen Tipp: Schlagen Sie doch vor, den Auktionshäusern zu verbieten, einen Gerhard Richter für mehr Geld zu versteigern als die Bilder seiner weiblichen Kolleginnen. Dann kommen Sie vermutlich ganz groß raus. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist herzzerreißend!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Burkhard Blienert von den Sozialdemokraten. (Beifall bei der SPD) Burkhard Blienert (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich stelle vorab fest: Der Antrag der Fraktion der Grünen ist in der Sache richtig. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke!) Dass er allerdings nicht weit genug greift, darauf hat meine Kollegin Hiltrud Lotze schon hingewiesen. Denn darin sind einige Fragen nicht beantwortet. Insofern müssen wir uns mit dem Antrag und den noch offenen Fragen tatsächlich noch intensiver beschäftigen. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerne! Wir können auch gerne noch einen stellen!) Und da Wiederholung tatsächlich das beste pädagogische Element ist, möchte ich an dieser Stelle auch auf die Situation von Frauen im Filmbereich eingehen. Dabei möchte ich klarmachen, dass wir es nicht nur mit einem gleichstellungspolitischen Thema zu tun haben; denn das Ganze hat natürlich auch eine kulturelle Dimension. Auch ich beziehe mich auf die aktuelle Initiative von Pro Quote Regie, die auch im Antrag der Grünen erwähnt wird. Sie hat uns in den letzten Wochen schon intensiv beschäftigt und wird uns auch noch weiter beschäftigen. Da haben sich – inzwischen über 200 – deutsche Regisseurinnen zusammengeschlossen und auf einen Missstand hingewiesen, der mich in seiner Deutlichkeit schon überrascht hat: Nur 15 Prozent aller deutschen Kino- und Fernsehfilme werden von Frauen gemacht, aber über 42 Prozent der Hochschulabsolventen im Fach Regie sind weiblich. Wie passt das zusammen? (Mechthild Rawert [SPD]: Gar nicht!) Ich will noch auf andere Fakten aufmerksam machen, die auch eine Rolle spielen: Im vergangenen Jahr hat der DFFF, der Deutsche Filmförderfonds, 115 Filmprojekte gefördert, aber nur 13 Filme davon wurden von Frauen inszeniert. 2013 flossen aus dem DFFF insgesamt 62 Millionen Euro, aber nur 6 Millionen Euro gingen an Projekte von Regisseurinnen. Und noch ein beeindruckender Befund – die beliebteste deutsche Fernsehreihe ist schon angesprochen worden –: Im vergangenen Jahr sind ganze 3 von 82 Tatorten von Frauen gedreht worden. Angesichts dieser Zahlen wundert es mich, dass sich die kreativen Filmemacherinnen erst jetzt zu Wort gemeldet haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ruf nach einer Frauenquote im Kulturbereich irritiert zunächst trotzdem. Regulierung und künstlerische Freiheit passen auf den ersten Blick irgendwie nicht zusammen; das muss man berechtigterweise feststellen. Aber insgesamt ergeben sich doch wichtige Hinweise von alleine. Die Frage, ob eine Quote bei Förderentscheidungen die richtige Antwort ist ober ob nicht auch der Weg der Selbstverpflichtung der maßgeblichen Akteure bei Film und Fernsehen funktionieren kann, möchte ich zunächst offen lassen. Das ist nicht die entscheidende Frage, die wir uns jetzt stellen müssen. Zustimmen kann ich der Forderung nach paritätisch besetzten Fördergremien – so haben wir es in der letzten Legislaturperiode auch formuliert –; denn hier geht es schließlich um die Vergabe öffentlicher Mittel. Was wir aber vor allem brauchen, ist eine umfassende Untersuchung, die die strukturellen Ursachen der mangelnden weiblichen Präsenz in der Regie aufdeckt. Wichtig ist auch eine breite Sensibilisierung für diesen eklatanten Mangel an Gleichstellung im Filmbereich. Die heutige Debatte verstehe ich – mit allen Facetten – als einen wichtigen Beitrag dazu. Dafür hat die Initiative Pro Quote Regie den Anstoß gegeben, und dafür können wir alle gemeinsam nur dankbar sein. Die Kulturpolitik ist und bleibt aufgefordert, die Gleichstellung im Kultur- und Medienbereich zu befördern. Die anstehende Novelle des Filmfördergesetzes bietet übrigens eine passende Gelegenheit dazu. Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange 85 Prozent der Filme von Männern gemacht sind, ist unsere Filmkultur in ihrer Vielfalt reduziert. Die Filmkultur kann davon nur profitieren, wenn künftig mehr Frauen auf dem Regiestuhl sitzen und ihre Filme drehen können. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Sigrid Hupach [DIE LINKE]) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/2881 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 10, den ich hiermit aufrufe: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen Drucksache 18/2752 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und -Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) Drucksache 18/3070 Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Da ich keinen Widerspruch sehe, gehe ich davon aus, dass Sie alle damit einverstanden sind. Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundesregierung das Wort der Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus Kriegs- und Krisengebieten kommen zahlreiche Flüchtlinge zu uns, insbesondere aus Syrien, Eritrea und Afghanistan. Mehr als 130 000 Asylanträge wurden bis Ende September 2014 gestellt. Insgesamt werden in diesem Jahr mehr als 200 000 Flüchtlinge erwartet. Es ist eine Frage der Menschlichkeit, dass wir ihnen helfen. Es ist unsere Pflicht, diese Menschen aufzunehmen und angemessen unterzubringen. Das ist, wie wir wissen, für die Kommunen keine leichte Aufgabe. Dessen bin ich mir wohl bewusst. Deswegen ist es nach meiner Überzeugung die Aufgabe der Bundesregierung, die Kommunen zu unterstützen, wo es geht. Ich kann und will dabei mithelfen, dass die Flüchtlinge schnell ein Dach über dem Kopf bekommen und dass wir sie so aufnehmen, dass sie hier angemessen und in Würde leben können. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die betroffenen Kommunen unternehmen große Anstrengungen, um möglichst rasch Unterkünfte in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen. Es müssen dazu geeignete Grundstücke zur Verfügung stehen. Es müssen geeignete Gebäude zur Verfügung stehen. Vielfach sind bauliche Anpassungen nötig. Oft sind leider auch Behelfsunterkünfte unvermeidbar. Die Kommunen unternehmen tatsächlich alle Anstrengungen. Vor kurzem habe ich in Heidelberg gesehen, wie eine gerade geräumte amerikanische Kaserne umgestaltet werden konnte – ein Glücksfall. So etwas hilft den Kommunen natürlich sehr, und die BImA kommt den Kommunen dabei natürlich auch sehr entgegen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, unser Gesetzentwurf hält Instrumente bereit, die den Bau von Flüchtlingsunterkünften auch kurzfristig ermöglichen sollen. Zur Initiative des Bundesrates vom 19. September 2014 hat die Bundesregierung Stellung genommen und einige Änderungen vorgeschlagen. Dazu gehört, dass die vorgesehenen Regelungen bundesweit gelten sollen. Die Vorschläge der Bundesregierung haben breite Zustimmung gefunden. Auch die kommunalen Spitzenverbände haben sich durchweg positiv geäußert. Mit dem heute zu beschließenden Gesetz wollen wir im Baugesetzbuch neben einigen Klarstellungen auch befristete Erleichterungen schaffen. Wir wollen ermöglichen, Flüchtlingsunterkünfte auch dann im Innenbereich zuzulassen, wenn sie sich, wie es sonst im Baurecht heißt, nicht in die nähere Umgebung einfügen. Das könnte beispielsweise Büro- oder Geschäftsgebäude betreffen, die dann zu Unterkünften umgenutzt werden können. Außerdem ermöglichen wir, dass Flüchtlinge auf Flächen untergebracht werden können, die unmittelbar an einen bebauten Ortsteil anschließen. Und wir wollen den Kommunen die Möglichkeit geben, Flüchtlingsunterkünfte eingeschränkt und befristet in Gewerbegebieten zu ermöglichen. Natürlich bedeutet das nicht, dass wir die Unterkünfte in Industriegebiete abschieben. Das ist nicht unsere Intention und auch nicht die des Bundesrates. Aber es gibt Gewerbegebiete, die sich dafür eignen. Und hier dürfen wir keine unüberwindbaren Hürden zulassen. Langfristig wird sich auswirken, dass in diesem Gesetzentwurf ausdrücklich vorgesehen ist, die Flüchtlingsunterbringung bei der Aufstellung von Bebauungsplänen zu berücksichtigen. Dies ist bisher nicht der Fall gewesen. Und wir stellen klar, dass die Unterbringung von Flüchtlingen zu den Belangen des Allgemeinwohls gehört. Auch dies ist neu im Baurecht. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Der Bundesrat wird bereits morgen den Gesetzentwurf abschließend beraten, sodass er noch im November, also in diesem Monat, in Kraft treten kann. Ich bin mir absolut bewusst, dass es für Kommunen nicht einfach ist, quasi über Nacht Flüchtlinge aufzunehmen und unterzubringen. Auch für die Länder ist es ein Kraftakt. Die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und in den Kommunen verdienen für ihren Einsatz große Anerkennung, und sie verdienen unsere konkrete Hilfe. Dazu dient diese Gesetzesänderung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Heidrun Bluhm. (Beifall bei der LINKEN) Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit den letzten Worten meiner Kollegin Jelpke vor circa einer Stunde. Sie sagte: Das System der sozialen Diskriminierung von Flüchtlingen müssen wir endlich beenden. Bei der Rede der Frau Ministerin hat sich alles ganz harmlos angehört. Ich hatte schon die Befürchtung, dass sie bis zum Ende ihrer Rede das Wort „Gewerbegebiet“ gar nicht verwenden würde. Fairerweise hat sie das am Ende doch getan. Insofern wird jetzt deutlich, dass wir heute hier – das haben wir noch nie gemacht, wenn wir über eine Novelle des Baugesetzbuches in irgendeiner Weise verhandelt haben – keine Formalie verhandeln. Heute geht es nicht um Erleichterungen des Baus, sondern darum, dass wir Menschen, die in größter Not zu uns kommen, weil sie aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, Angehörige, Familienangehörige oder Freunde verloren haben, die ihre Gesundheit, ihre Wohnung und ihre Zukunft verloren haben, die nichts als ihr nacktes Leben haben, in Gewerbegebieten unterbringen wollen. (Sören Bartol [SPD]: Hallo! Sollen sie in Zelte? Was ist die Alternative?) All das haben wir schon vor einer Stunde in der Diskussion über das Asylbewerberleistungsgesetz deutlich gemacht. Jetzt sollen wir also entscheiden, dass Asylbegehrende und Flüchtlinge in Gewerbegebieten wohnen werden. (Sören Bartol [SPD]: Nur im Notfall! – Ulli Nissen [SPD]: Notfall!) In der öffentlichen Anhörung zu diesem Gesetzesentwurf am Montag hat einer der zwei Befürworter gesagt: Diese Leute – gemeint waren damit natürlich die Flüchtlinge – seien gottfroh und dankbar, dass sie hier angekommen sind und ein Dach über dem Kopf haben. Für mich fehlte nur noch der Zusatz: Das sollten sie gefälligst auch sein. (Ulli Nissen [SPD]: Sollen sie unter die Brücke, oder was?) Die Krisengebiete, so hat es auch die Ministerin gesagt, von denen der Gesetzentwurf spricht, liegen durchweg in Weltregionen, die jahrhundertelang von europäischen Kolonialmächten beherrscht und ausgeplündert worden sind. Wir, die Europäer, verdanken diesen Ländern einen großen Teil unseres materiellen, wissenschaftlichen und kulturellen Reichtums. (Beifall bei der LINKEN) Wir haben ihnen oft zerstörte Kulturen, geplünderte Natur und willkürlich gezogene Grenzen hinterlassen. Wenn wir also heute über Maßnahmen zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen reden, dann sprechen wir nicht über großzügige Almosen, die wir zeitweilig verteilen, um eine akute Notlage in irgendeiner Weise zu beheben, (Ulli Nissen [SPD]: Was ist das denn sonst im Augenblick?) sondern über Mitmenschlichkeit, über Solidarität, Unterstützung für Traumatisierte und aus ihrer Heimat Vertriebene. (Sören Bartol [SPD]: Deshalb wollen wir sie angemessen unterbringen! – Ulli Nissen [SPD]: Besser als in Zelten!) Der Grundfehler dieser Gesetzesänderung, Herr Bartol, liegt in der Unterstellung, wir hätten es mit einem vorübergehenden Notstand zu tun, den wir unter anderem mithilfe einer Änderung im Bauplanungsrecht bis Ende 2019 wieder beheben können. Wie grotesk ist diese Vorstellung? (Beifall bei der LINKEN) Der Zustrom von Flüchtlingen und Asylbegehrenden nach Europa wird nicht abreißen, sondern weiter zunehmen. Die Krisen und Kriege werden nicht plötzlich aufhören, und es besteht die reale Gefahr, dass zu den Flüchtlingen, die heute kommen, noch Klimaflüchtlinge hinzukommen werden, denen die zivilisierten Industrienationen die Lebensgrundlage buchstäblich abgegraben oder weggespült haben. (Sören Bartol [SPD]: Aber du hast doch jetzt schon zu wenig Wohnungen! Wo willst du sie unterbringen? – Ulli Nissen [SPD]: Wo sollen sie denn hin?) Wir haben es also mit einer dauerhaften, umfassenden europäischen, wenn nicht sogar globalen Aufgabenstellung zu tun. Der schnelle Aktionismus der Bundesregierung vermittelt hier den Eindruck einer prompten und einvernehmlichen Lösung zwischen Bund und Ländern. Wenn sich aber, so wie jetzt, hausgemachte, weil jahrelang -ignorierte Probleme aufgestaut haben, wenn Kommunen, die vom Bund im Stich gelassen werden, verständlicherweise nach Auswegen suchen, dann sollten Gesetzes- und Verordnungsänderungen, wenn sie überhaupt notwendig sind, so ausgestaltet werden, dass sie ein Problem nicht nur aus der Sichtachse verdrängen, sondern auch keine neuen erzeugen. Mit diesem Gesetzentwurf wird eine Ausnahmesituation zu einem rechtssicheren Dauerzustand gemacht. Formale Sicherheit im Baurecht darf aber niemals dazu missbraucht werden, dass Menschenrechtsverletzungen zu geregelter Normalität werden. (Beifall bei der LINKEN) Oder glaubt hier wirklich jemand, dass diese Regelungen in fünf Jahren wieder einkassiert werden? – Wohl nicht, es sei denn, die Linke regiert – dann vielleicht. (Sören Bartol [SPD]: Ihr wollt ja nicht regieren! – Weiterer Zuruf von der SPD: Dann fallen die Häuser vom Himmel!) Selbst wenn es im Gesetzestext so nicht vorgesehen ist, bestätigt meine Erfahrung aus fast zehn Jahren Bundestag: So beständig wie ein Provisorium ist sonst kein Gesetz. (Ulli Nissen [SPD]: Aber was macht man im Übergang, bis man fertiggebaut hat? Was macht man dann?) Und noch schlimmer: Es signalisiert geradezu, dass wir die Flüchtlinge nicht dauerhaft unter uns haben wollen, dass ihre Integration nicht organisiert, sondern verhindert werden soll. Dieses Gesetz ist also kein Anreiz, menschenwürdige Wohnverhältnisse für Flüchtlinge und Asylsuchende zu schaffen, sondern es fördert die dauerhafte Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen, denen wir Hilfe und Respekt schuldig sind. Was anstelle dieses Gesetzes notwendig ist, haben wir in unserem vorliegenden Entschließungsantrag beschrieben. Ich will sagen: Die eigentlichen Lösungen sind die, die wir lange kennen. Wir brauchen einen ausgewogenen sozialen Wohnungsbau. Wir müssen ihn wiederbeleben; die Bundesregierung spricht davon, aber bisher ist nichts zu sehen. Wir brauchen eine bedarfsgerecht ausgestattete Städtebauförderung mit neuen oder ergänzenden Programmen, die auch der dauerhaften Zuwanderung von Menschen aus dem Ausland gerecht wird, sodass diese Menschen in unserer Mitte leben können. (Ulli Nissen [SPD]: Machen wir alles! Aber das wird nicht innerhalb von zwei Jahren fertig sein!) Und wir brauchen eine bedarfsbezogene Vergabe von bundeseigenen Liegenschaften an die Kommunen anstelle des Höchstgebotskultes; morgen haben wir Gelegenheit, ausführlicher darüber zu reden. (Beifall bei der LINKEN) Wenn wir all das umsetzen – verbunden mit einer nicht nur plakativen, sondern tatsächlich gelebten Willkommenskultur –, dann machen wir wirkliche Schritte in Richtung eines menschenwürdigen Umgangs mit Flüchtlingen und Asylsuchenden, (Ulli Nissen [SPD]: Aber das sind keine Zelte!) die nicht rechtssicher verwahrt, sondern Teil unserer Gesellschaft werden sollen. Schluss also mit der Lagerunterbringung der Vertriebenen in Deutschland! (Beifall bei der LINKEN – Ulli Nissen [SPD]: Jetzt wird es aber richtig hart! – Sören Bartol [SPD]: Das ist nicht in Ordnung! Echt nicht! – Weitere Zurufe von der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Kai Wegner. (Beifall bei der CDU/CSU) Kai Wegner (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über Änderungen im Baugesetzbuch, mit denen wir eine schnellere und leichtere Flüchtlingsunterbringung gewährleisten, aber vor allen Dingen, liebe Frau Bluhm, den Städten und Kommunen, die unter einem enormen Druck stehen, neue Handlungsspielräume eröffnen. Die Städte brauchen schnelle Hilfe, und das gewährleistet heute der Deutsche Bundestag. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das Gesetz, das wir heute beraten, geht auf eine Bundesratsinitiative Hamburgs zurück. Meine Damen und Herren, das ist keine große Überraschung; denn gerade die großen Städte, die Ballungsgebiete sind in besonderem Maße von den hohen Flüchtlingszahlen betroffen. Schauen wir uns die Zahlen an: Allein von Januar bis September 2014 haben rund 136 000 Menschen in Deutschland Asyl beantragt. Das bedeutet eine Steigerung um 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Insgesamt erwarten wir in diesem Jahr in Deutschland 250 000 Asylbewerber. Meine Damen und Herren, dieser enorme Zustrom von hilfebedürftigen Menschen stellt unser Land vor große Herausforderungen und erfordert daher eine nationale Kraftanstrengung. Das betrifft zunächst vor allem die Unterbringung der Flüchtlinge in den Städten und Gemeinden. Die Bundesministerin hat es gesagt: Uns geht es in der Tat darum, schnell für Unterbringungsmöglichkeiten zu sorgen, aber auch darum, angemessene und würdige Unterbringungsformen für diese Menschen zu finden. Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, versetzen wir Kommunen in die Lage, zeitnah und rechtssicher Unterkünfte für die Flüchtlinge zu schaffen. Gerade für Kommunen mit angespanntem Wohnungsmarkt, liebe Frau Bluhm, ist das eine ganz wichtige Erleichterung. Damit zeigt auch der Bund, dass er seiner Verantwortung für eine würdige Unterbringung aller Schutzsuchenden nachkommt und die Städte und Gemeinden eben nicht im Stich lässt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Aufgrund der hohen Fallzahlen geben wir den Städten und Gemeinden neue Handlungsmöglichkeiten an die Hand. So ermöglichen wir es den Kommunen, von bestimmten Festsetzungen des Bebauungsplans abweichen zu können. Außerdem können Flüchtlingsunterkünfte befristet auch dann im Innenbereich zugelassen werden, wenn sie sich nicht in die nähere Umgebung einfügen. Darüber hinaus wird die Unterbringung von Flüchtlingen befristet – ja, Frau Bluhm – auch in Gewerbegebieten und auf Flächen gestattet werden, die unmittelbar an einen bebauten Ortsteil anschließen. Dabei ist uns aber klar, dass Gewerbegebiete oder der Außenbereich immer nur die Ultima Ratio sein können. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, ich will das in aller Form klarstellen: Uns geht es wahrlich nicht darum, Flüchtlinge in Gewerbegebiete oder in die Außenbereiche von Siedlungen zu drängen. Es geht darum, Städten und Gemeinden schnell zu helfen, damit wir würdige und angemessene Unterbringungsräume schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) In der Tat, Frau Bluhm: Das Gesetz löst nicht alle Probleme und begegnet nicht allen Herausforderungen, die wir bei dieser Thematik haben, aber es ist ein ganz wichtiger Baustein. Frau Bluhm, nun haben Sie leider nicht gesagt, was Sie eigentlich wollen. (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Doch!) Sie haben in Ihrem Antrag von Wohnungsunterbringung geschrieben. Ich frage mich, wie Sie das hinbekommen wollen. (Sören Bartol [SPD]: Wie denn?) Wir diskutieren oft im Deutschen Bundestag über die angespannte Situation des Wohnungsmarktes. (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: In Berlin gibt es über 200 000 leerstehende Wohnungen!) Wir machen uns Gedanken, wie wir bezahlbaren Wohnraum schaffen und wie wir es hinbekommen, neue Wohnungen zu bauen. Wir haben in vielen Städten Vollauslastung bei den Mietwohnungen. In Berlin haben wir eine Leerstandsquote von 2 Prozent. Das ist gleich null. Wo wollen Sie denn hier noch Flüchtlinge unterbringen, Frau Bluhm? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Sie bieten Lösungen an, die nicht kurzfristig helfen. Aber unsere Städte und Gemeinden brauchen kurzfristige Lösungen; denn die Menschen kommen jetzt zu uns. Sie sind jetzt da und wollen jetzt angemessen und würdig untergebracht werden, Frau Bluhm, nicht erst in zwei oder drei Jahren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, wir müssen die Städte und Gemeinden noch weiter unterstützen. Wir haben hierfür Programme. Dazu gibt es eine Diskussion in der Koalition; das will ich gern noch einmal sagen. Wir sollten auch weitere Mittel aus dem Programm „Soziale Stadt“ für die Integration von Flüchtlingen zur Verfügung stellen. Ich denke da an Deutschkurse für Flüchtlinge, an Nachbarschaftstreffen zwischen Flüchtlingen und angestammten Bewohnern. (Sören Bartol [SPD]: Das geht doch jetzt schon!) Mir geht es bei allen Maßnahmen, die wir hier diskutieren, um die Akzeptanz der Bevölkerung für unser liberales Asylrecht. Auch diese Herausforderung ist in unserem Land nicht zu unterschätzen. (Beifall bei der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Das machen wir!) Meine Damen und Herren, wir sehen auch weitere wichtige Maßnahmen neben der Veränderung des Bauplanungsrechts vor. Ich nenne als Beispiel die Residenzpflicht oder die Neuregelung der sicheren Herkunftsstaaten, die heute in Kraft getreten ist. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen, die tatsächlich Hilfe brauchen, auch unsere Unterstützung bekommen. Wir müssen diejenigen zielgerichtet unterstützen, die tatsächliche Asylgründe haben. Aber wenn wir hier in Berlin erleben müssen, dass Plätze und Schulen illegal besetzt werden, dann dient das nicht der Akzeptanz unseres Asylrechts. (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist inakzeptabel, und das schadet dem eigentlichen Anliegen der Flüchtlinge. Meine Damen und Herren, ich begrüße ausdrücklich, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehr Personal bekommen soll. Wir brauchen schnellere Asylverfahren, und die Flüchtlinge brauchen zeitnah Gewissheit darüber, wie ihr Aufenthaltsstatus ist. Deutschland steht für eine humane Flüchtlingspolitik. Das soll so bleiben. Wir stehen zu unserer Verantwortung. Mit diesem Gesetz beweisen wir, dass der Bund die Städte und Gemeinden bei der Bewältigung dieser Herausforderung nicht alleine lässt. Ich bitte Sie daher alle um Ihre Unterstützung; denn die Flüchtlinge brauchen unsere Hilfe, aber auch die Städte und Gemeinden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Der Kollege Christian Kühn hat als Nächster jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf der Tribüne! Ich bin froh, dass es heute bei uns in Deutschland eine andere Willkommenskultur gibt und dass sich viele Menschen mit hohem Engagement für das Wohl der Flüchtlinge, die im Augenblick zu uns kommen, einsetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich bin dankbar, dass wir, anders als Anfang der 90er-Jahre, eine andere Stimmung und eine andere Debatte in Deutschland haben. Ich will ganz klar sagen: Das Boot ist nicht voll; das Boot ist niemals voll. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Heute geht es um Grundrechte von Menschen, denen die Grundrechte in ihren Heimatländern versagt wurden, von Menschen, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen, die Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Zerstörung, Tod und Katastrophen am eigenen Leib erlebt haben, von Menschen, die oft traumatisiert zu uns kommen. Diese Menschen brauchen eben nicht nur einfach ein Dach über dem Kopf, sie brauchen eine menschenwürdige Unterbringung, ein soziales Umfeld, das ihnen dabei hilft, ihre Verluste und die dramatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Die Unterkunft ist ein zentraler Baustein einer menschenwürdigen Flüchtlingspolitik. Deswegen begrüßen wir es als Grüne, dass in diesem Gesetzentwurf erstmals die Flüchtlingsunterbringung als Allgemeinwohl festgeschrieben wird. Das ist ein großer Schritt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir Baupolitiker können die Fehler und Versäumnisse der Flüchtlingspolitik der letzten zehn Jahre nicht mit einer Änderung des BauGB reparieren. Wir müssen aber beim Thema Unterbringung immer die Menschenwürde der Flüchtlinge im Blick behalten. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin skeptisch, ob Gewerbegebiete die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung erfüllen. Hier müssen wir alle genau hinschauen; das hat die Anhörung im Bauausschuss ganz klar gezeigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Unterbringung in Gewerbegebieten darf es – das ist meine Überzeugung – nur in ganz bestimmten Ausnahmefällen, (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Was steht denn im Gesetz drin?) nur als Notlösung und nur als reine Übergangslösung geben, also als Ultima Ratio. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerade das steht eben nicht drin!) Das steht leider nicht in dem vorliegenden Gesetzentwurf drin. Es ist nicht konditioniert. Das ist letztlich auch der Grund, warum wir uns heute enthalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Kommunen befinden sich in einer Notsituation. Ich verstehe nicht, warum man jetzt nur am BauGB Änderungen vornimmt. Frau Hendricks hat in ihrer Rede darauf hingewiesen, dass man Kommunen nun unterstützen muss, wo es geht. Ich finde, dass diese Bundesregierung die Kommunen eben nicht unterstützt, wo es geht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Erstens. Organisieren Sie mit den Kommunen einen Flüchtlingsgipfel, wie wir das in Baden-Württemberg und auch in Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit den Sozialdemokraten mit großem Erfolg getan haben. Man braucht einen Flüchtlingsgipfel auch auf nationaler Ebene, um klarzumachen, dass wir heute einen Rahmen brauchen, der Flüchtlinge nicht mehr rechtlich ausgrenzt und Kommunen wirklich hilft. Greifen Sie den Kommunen bei der Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge endlich unter die Arme. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zweitens. Sorgen Sie endlich dafür, dass die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben den Kommunen Liegenschaften für die Flüchtlinge zu fairen Bedingungen überlässt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Es kann doch nicht sein, dass die BImA sich in dieser Situation – und das meine ich wirklich ernst – eine goldene Nase an der Notlage der Kommunen verdient. (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!) Die Kommunen werden nicht unterstützt, sondern abgezockt. Das muss beendet werden. Sie müssen die Politik der BImA dringend ändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Drittens. Legen Sie ein Bauprogramm für eine verbesserte dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen in Wohngebieten auf. Das wäre eine schnelle Hilfe für die Kommunen; denn sie müssen die Liegenschaften jetzt anmieten oder erwerben und herrichten. Die Kommunen brauchen jetzt die Unterstützung bei den Baumitteln. Gerade die Kommunen in Haushaltsnotlagen brauchen Unterstützung, da die Kommunalaufsicht die benötigten Kredite nicht genehmigt. Der Bund muss diesen Kommunen mit einem Bauprogramm unter die Arme greifen. Sie von der Großen Koalition sagen bei fast jeder wohnungspolitischen Debatte, dass nur Bauen, Bauen, Bauen hilft. Halten Sie sich an Ihre eigenen Worte! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sören Bartol [SPD]: Aber das hilft jetzt doch nicht! – Gegenruf des Abg. Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bauen heißt nicht nur neu Bauen!) Zum Schluss. In der Debatte, die wir über das BauGB geführt haben, stellen wir eigentlich immer noch die falsche Frage, nämlich: Wie können wir Flüchtlinge auf Zeit unterbringen? Dabei werden 30 bis 60 Prozent der Asylsuchenden – je nachdem, welchen Experten man fragt –, die heute zu uns kommen, dauerhaft in Deutschland bleiben. Wir müssen uns deshalb endlich die Frage stellen: Wie können wir diese Menschen ab dem ersten Tag optimal integrieren und unterstützen, damit sie gut in unserer Gesellschaft ankommen, damit wir ihnen, da sie ihre alte Heimat gerade verloren haben, eine neue Heimat geben können? (Mechthild Rawert [SPD]: Darauf haben wir schon eine Antwort gegeben!) Diese Frage müssen wir uns als Allererstes stellen. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die Sozialdemokraten spricht jetzt als Mitglied des Bundesrates Senatorin Jutta Blankau-Rosenfeldt, Senatorin für Stadtentwicklung der Freien und Hansestadt Hamburg. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jutta Blankau-Rosenfeldt, Senatorin (Hamburg): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Steigerung der Flüchtlingszahlen stellt die Länder und viele deutsche Städte, auch Hamburg, und Gemeinden vor große Herausforderungen. Seit 2011 steigen die Flüchtlingszahlen wieder an. Für 2015 ist mit einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen zu rechnen. Bezogen auf Hamburg bedeutet das beispielsweise: 2011 kamen circa 2 000 Flüchtlinge nach Hamburg, 2014 werden es ungefähr 5 200 Flüchtlinge sein. Hinzu kommen rund 1 000 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Insgesamt sind das geschätzt 6 200 Flüchtlinge in diesem Jahr, für die wir geeignete, menschenwürdige Unterkünfte schaffen müssen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]) Insbesondere in den Ballungsräumen in Deutschland ziehen Menschen zu. Diese Entwicklung ist völlig unabhängig davon, ob Flüchtlinge in die Städte kommen. Das spiegelt sich in einer riesigen Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum wider. Uns fehlt es in Hamburg an bezahlbarem Wohnraum. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vor dem Hintergrund wachsender Bevölkerungszahlen hat Hamburg frühzeitig und erfolgreich die Weichen für mehr Wohnungsneubau gestellt. Der soziale Wohnungsbau ist uns dabei besonders wichtig. Unser 2011 geschlossenes Bündnis für das Wohnen in Hamburg mit den wohnungswirtschaftlichen Verbänden und den Mietervereinen ist Vorbild für das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen auf Bundesebene gewesen. Wir haben mittlerweile die Baugenehmigungs- und Fertigstellungszahlen maßgeblich steigern können, um der anhaltend hohen Nachfrage gerecht zu werden. Dafür nutzen wir die knappen Flächenpotenziale, die sich in einem dichtbesiedelten Ballungsraum wie Hamburg bieten. Wie viele andere Kommunen haben wir schnell auf den Zustrom von Flüchtlingen reagiert und nutzen jede kurzfristig verfügbare und geeignete Fläche sowie bestehende Gebäude, um dort Unterkünfte zu schaffen, die den Bedürfnissen der bei uns Schutz und Hilfe suchenden Menschen, häufig Familien mit Kindern, gerecht werden. Aber wir stoßen an Grenzen. Geeignete Grundstücke lassen sich in Ballungsräumen nicht beliebig vermehren, und es wäre falsch, den dringend notwendigen Wohnungsneubau an dieser Stelle auszubremsen. Bei allem Verständnis für die Forderung, Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen, weil die Integration so besser gelingt, was stimmt: Wohnungsbau braucht Zeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber die Menschen, die zu uns kommen, können nicht warten, bis diese Wohnungen fertig sind oder genügend Wohnungen frei werden. Sie brauchen jetzt geeignete Unterkünfte und keine Zelte. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: Ja! Das ist der Punkt!) Frau Bluhm, ich möchte auf eines hinweisen: Gewerbegebiete sind keine frei schwimmenden Inseln. Es ist gegen uns ein Urteil des Verwaltungsgerichts ergangen – es ging um eine Nachbarschaftsklage –, weil wir in einem Gewerbegebiet, das direkt an ein Wohngebiet angrenzt, Flüchtlinge unterbringen wollten. Das ging nicht. Auch deswegen haben wir die Initiative ergriffen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das ist doch keine gute Begründung!) Angesichts dieser Lage besteht ein dringender Bedarf an planungsrechtlichen Erleichterungen, um schneller und rechtssicherer als bisher Unterkünfte für Flüchtlinge schaffen zu können. Deshalb hat der Bundesrat einstimmig auf Initiative der Länder Baden-Württemberg, Bremen und Hamburg diesen Gesetzesantrag auf den Weg gebracht. Das macht einmal mehr deutlich, dass die Schaffung von menschenwürdigen Unterkünften für Flüchtlinge eine bundesweite Herausforderung darstellt, die alle Bundesländer betrifft. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Auch der Bund sieht sich in der Pflicht. Ich begrüße den im Gesetzgebungsverfahren gemachten Vorschlag der Bundesregierung, den jetzt die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD als Änderungsantrag aus der Mitte des Bundestages aufgegriffen haben. Unter Berücksichtigung der inhaltlichen Ziele des Gesetzes-antrags des Bundesrates können die notwendigen Erleichterungen so noch schneller auf den Weg gebracht werden, als dies im Bundesratsentwurf vorgesehen war. Ich freue mich insoweit auch über diese Einigkeit. Der Gesetzentwurf stellt ein ausgewogenes Ergebnis dar. Er ist kein Freifahrtschein für eine wahl- und rücksichtslose Nutzung von Flächen für die Unterbringung von Flüchtlingen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) sondern schafft die planungsrechtlichen Voraussetzungen, auf prinzipiell dafür geeigneten Flächen im Innen- und Außenbereich und in Gewerbegebieten Unterkünfte zu errichten und die Umnutzung von bestehenden Gebäuden – die Linke fordert übrigens immer die Umnutzung von Gewerberäumen und Büroflächen in Hamburg, weil wir ja bezahlbaren Wohnraum brauchen – zu erleichtern. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist doch gut! – Ulli Nissen [SPD]: Hört! Hört!) Es kommt dabei – auch das betone ich – auf den Einzelfall an. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Genau!) Jede Fläche muss daraufhin geprüft werden, ob eine Unterbringung dort möglich und sinnvoll ist. Anbindung an den Nahverkehr, Einkaufsmöglichkeiten, Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und Erwachsene in der Nähe, das findet sich auch auf Flächen, die eigentlich für Gewerbe reserviert sind, insbesondere dann, wenn in der Nachbarschaft schon ein Wohngebiet vorhanden ist. Das wollen wir nutzen können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Städte und Gemeinden setzen darauf, dass diese Änderungen im Baugesetzbuch schnell wirksam werden. Die Sachverständigenanhörung im zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, in der auch ein Vertreter meiner Behörde angehört worden ist, hat den -Bedarf der Kommunen an planungsrechtlichen Erleichterungen noch einmal deutlich gemacht. Ich bin mir sicher, dass dieses Vorhaben auch hier im Deutschen Bundestag eine deutliche Mehrheit finden wird. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU die Kollegin Dr. Anja Weisgerber. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Weltweit nehmen die kriegerischen Auseinandersetzungen und politische Verfolgung zu. Dadurch kommen immer mehr Menschen in unser Land, die Schutz suchen und denen wir auch Schutz bieten wollen. Wir übernehmen humanitäre Verantwortung für diese Menschen, und das ist auch gut so. Wir haben es aber gerade von der Frau Senatorin gehört: Die Situation stellt uns vor große Herausforderungen, besonders die Kommunen. Unsere Städte, Kreise und Gemeinden leisten hier tagtäglich Außergewöhnliches. Das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich loben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Doch sie stoßen eben vermehrt an ihre Grenzen. Die Zahlen der Asylbewerber steigen stetig. Zum Beispiel sind Anfang Oktober allein an einem Wochenende mehr als 700 Asylbewerber in Bayern angekommen. Das stellt eine Frage immer mehr in den Vordergrund: Wie können wir die Flüchtlinge angemessen unterbringen? Das bestehende Bauplanungsrecht ist momentan zu unflexibel, um kurzfristig auf den Zustrom reagieren zu können. Zudem gibt es immer wieder Klagen gegen Baugenehmigungen für Flüchtlingsunterkünfte. Das führte zu teils sehr zwiespältigen Urteilen. Ich möchte ein Beispiel nennen: In Baden-Württemberg hat ein Nachbar erfolgreich dagegen geklagt, dass in einem leerstehenden Lehrlingswohnheim in einem Gewerbegebiet Flüchtlinge untergebracht werden, mit der Folge, dass die Flüchtlinge aus dem Wohnheim aus- und in einen Container einquartiert werden mussten. Das kann doch nicht sein; das können wir doch nicht wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das zeigt, dass wir diese Änderungen im Baurecht brauchen. Mit dem Gesetz schaffen wir genau die nötige Rechtssicherheit, aber auch die nötige Flexibilität, und das ist gut so. Den Antrag der Linken habe ich aufmerksam durchgelesen. Sie fordern darin menschenwürdige Flüchtlingsunterkünfte. Das wollen wir alle. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Auch wir wollen menschenwürdige Unterkünfte. Auch wir wollen die Flüchtlinge in möglichst vielen dezentralen kleinen Einheiten unterbringen. Aber woher sollen wir diese Einheiten nehmen? Wir stoßen hier einfach an unsere Grenzen. Wir alle kennen die Situation in den Ballungsgebieten. Dort ist Wohnraum ohnehin knapp. Natürlich brauchen wir neuen Wohnraum, und wir müssen den öffentlichen Wohnungsbau stärken. Die Bundesländer müssen im Übrigen die Mittel, die sie dafür vom Bund bekommen, auch dafür verwenden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Ulli Nissen [SPD]: Völlig richtig, Frau Dr. Weisgerber!) Das müssen wir unbedingt angehen. Aber der notwendige Wohnraum wird eben nicht von heute auf morgen geschaffen. Das braucht Zeit, und diese Zeit haben wir derzeit nicht. Die Initiative Hamburgs im Bundesrat habe ich wie einen Hilferuf wahrgenommen. Wir dürfen die Kommunen in dieser Situation nicht im Stich lassen. Deswegen ist der Gesetzentwurf auch so wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU) Immer wieder wird kritisiert, die Unterbringung von Flüchtlingen in Ortsrand- oder Gewerbegebieten sei menschenunwürdig. Aber ich frage: Ist es denn aus Ihrer Sicht wirklich menschenwürdiger, diese Menschen im Winter, wenn es kalt ist, in Zelten oder Containern unterzubringen? (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Wer sagt denn so was?) Genau das wollen wir eben nicht. Wichtig für die Flüchtlinge ist es doch, dass sie ein Dach über dem Kopf haben. Mit dem Gesetz geben wir den Ländern und den Kommunen ein Instrumentarium an die Hand, um schneller und unkomplizierter Hilfe leisten zu können. Befristet auf fünf Jahre bekommen die Kommunen mehr Handlungsoptionen. Für den Fall, dass die Kommunen die Asylbewerber nicht dezentral im Innenbereich oder im integrierten Wohnbereich unterbringen können, bekommen sie die Möglichkeit, Flüchtlinge in Außenbereichen unterzubringen, wenn diese unmittelbar an die bebaute Ortschaft angrenzen. Unter bestimmten Voraussetzungen – ich betone: unter bestimmten Voraussetzungen – können Unterkünfte in Gewerbegebieten entstehen. Die Unterbringung in Gewerbegebieten ist zudem nur auf Flächen möglich, auf denen bislang schon Anlagen für soziale Zwecke als Ausnahme zugelassen werden können oder zulässig sind. Außerdem müssen die Interessen der dort ansässigen Betriebe gewahrt werden, und die Unterbringung muss mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein. Das heißt, dass in Gebieten mit zu hoher Lärm- oder Geruchsbelästigung ohnehin niemand untergebracht wird. Das gehört auch zur Wahrheit dazu. Diese Voraussetzungen enthält das Gesetz. Ich bin der Meinung, mit diesem Maßnahmenpaket versetzen wir unsere Städte und Gemeinden in die Lage, den Menschen schnellstmöglich zu helfen. Doch – und das möchte ich abschließend noch sagen – das Gesetz ist eben nur ein Baustein zur Entlastung der Kommunen. Die Lösung der Flüchtlingsfrage ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) an der sich alle, auch unsere europäischen Nachbarn im Übrigen, beteiligen müssen. So ist es ein positives Signal, dass die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben verfügbare Immobilien und Freiflächen offensiv als Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte anbietet. (Zuruf von der SPD: Zu welchem Preis?) Aber auch das allein reicht nicht. Die Städte und Gemeinden brauchen mehr Flexibilität. Mit dem Gesetz senden wir heute ein wichtiges Signal an die Kommunen und die schutzbedürftigen Menschen aus, dass die notwendige Flexibilität jetzt geschaffen wird. Deshalb stimmen wir dem Gesetz auch aus Überzeugung zu. Ich fand es bemerkenswert, dass die Grünen gesagt haben, dass sie nicht dagegen stimmen, sondern sich enthalten werden. Ein gewisser Bedarf wird also vielleicht auch bei den Grünen gesehen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die Kollegin Nina Warken, CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Nina Warken (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Asylbewerberzahlen in Deutschland – das haben wir bereits gehört – haben in den letzten Jahren rapide zugenommen. 2008 waren es lediglich rund 28 000 Asylanträge. 2013 waren es mehr als 127 000 Asylanträge. In diesem Jahr werden über 230 000 Erstanträge erwartet. Gründe für diese erhebliche und plötzliche Zunahme sind unter anderem der Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien, die akute Bedrohung durch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ im Irak und in Syrien, aber auch die Anziehungswirkung, die von unserem Asylsystem auf Menschen auf dem Balkan, in Afrika und anderen Ländern mit großer Armut ausgeht. Deutschland ist im Vergleich zu allen anderen EU-Mitgliedstaaten das Land mit den meisten Asylbewerbern und auch das Land, das die meisten Menschen aufnimmt. Dies liegt an den hohen Standards unseres Asylsystems. Das muss man bei der ganzen Kritik, die immer wieder bezüglich der Mindeststandards bei der Unterbringung vorgebracht wird, auch einmal klar betonen. Meine Damen und Herren, besonders betroffen vom rapiden Anstieg der Asylbewerberzahlen sind nun unsere Landkreise und Städte, da sie letztlich für die Unterbringung der Menschen verantwortlich sind. Vielerorts wissen die Kommunen schlicht nicht mehr, wo sie die Menschen unterbringen sollen. Hier brauchen wir eine kurzfristige und möglichst unbürokratische Lösung, die den Kommunen sofort bei der Unterbringung hilft. Es ist deshalb der richtige Weg, dass Bund, Länder und die kommunalen Spitzenverbände derzeit gemeinsam darüber beraten, wie wir unsere Kommunen bei den voraussichtlich anhaltend hohen Asylbewerberzahlen entlasten können – natürlich mit der klaren Zielvorgabe einer menschenwürdigen Unterbringung. Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Bauplanungsrechts ist eine solche Lösung. Er wird mit der Annahme des Änderungsantrages der Koalition sofort bundesweit wirksam und bedarf keiner Umsetzung mehr durch die Länder. Mit der Gesetzesänderung wird es künftig möglich sein, Asylbewerberunterkünfte auch in Gewerbegebieten einzurichten. Für viele Kommunen mit leerstehenden Gebäuden in Gewerbegebieten ist das eine erhebliche Erleichterung, da diese vergleichsweise schnell und kostengünstig umgewidmet werden können. Das Gleiche gilt für die Unterbringung von Asylbewerbern in ehemaligen Geschäfts-, Büro- oder Verwaltungsgebäuden. Hier reichte in der Vergangenheit häufig die Klage eines einzelnen Anwohners aus, die Kommunen zu zwingen, die Menschen wieder anderswo unterzubringen. Selbstverständlich kann die Unterbringung von Asylbewerbern nur mit der Akzeptanz der Anwohner gelingen; doch gerade angesichts des nahenden Winters kann es nicht sein, dass Asylbewerber bei eisigen Temperaturen in Zelten oder Containern hausen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Auch die Möglichkeit, dass Asylbewerberunterkünfte künftig in sogenannten Außenbereichsinseln bzw. im innenbereichsnahen Außenbereich gebaut werden dürfen, ist für viele Kommunen eine erhebliche Erleichterung bei der Schaffung von zusätzlichen Kapazitäten für die Unterbringung. Bei so vielen Vorteilen für die Kommunen tut sich selbst die Linke dabei schwer, den Gesetzentwurf zu kritisieren. Wenn man Ihren auf den letzten Drücker eingebrachten Antrag liest, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, merkt man aber, wie wenig Sie von der Situation in den Kommunen und Landkreisen wissen. Dort weiß man nicht mehr, wo man die Leute unterbringen soll, und Sie reden davon, man solle doch die Asylbewerber ihren Unterbringungsort selbst wählen lassen. Wenn es nach Ihnen geht, dürfen Gemeinschaftsunterkünfte nicht mehr als 50 Personen beherbergen und die Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen darf maximal 6 bis 12 Wochen dauern. All das geht doch völlig an der Realität in den Landkreisen und Kommunen vorbei. (Beifall bei der CDU/CSU) Dort geht es mittlerweile darum, den Leuten überhaupt ein Dach über dem Kopf geben zu können. (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Meine Damen und Herren, als Stadt- und Kreisrätin kann ich Ihnen versichern, dass es unseren Landkreisen und Kommunen fernliegt, Asylbewerber menschenunwürdig unterzubringen. Es geht mit dem vorliegenden Gesetzesvorhaben auch nicht darum, Asylbewerber systematisch und dauerhaft in Gewerbegebiete oder in den Außenbereich abzuschieben; ein Beweis dafür ist doch schon die Befristung des Gesetzes bis zum Jahr 2019. Auch die Kritik bezüglich einer angeblich mangelnden Infrastruktur in diesen Gebieten entspricht nicht der Realität. Die Gewerbegebiete und Außenbereichsinseln, um die es hier geht, liegen oft nahe an Wohngebieten und können häufig sogar zu Fuß durchquert werden. Öffentliche Verkehrsmittel, Zugang zum Gesundheitssystem und zum Bildungssystem sowie sonstige Infrastruktur sind vorhanden. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden wir gemeinsam evaluieren!) Es gibt keinen Grund, der gegen diesen Gesetzentwurf spricht. Lassen Sie uns ihm also zustimmen, um unseren Kommunen damit etwas an die Hand zu geben, mit dem sie unbürokratisch, rechtssicher und in kürzester Zeit dem Anstieg der Asylbewerberzahlen gerecht werden und den Menschen vor dem nahenden Winter ein Dach über dem Kopf bieten können. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, liebe Kollegin. – Schönen guten Abend von meiner Seite aus. Ich schließe diese Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3070, den Gesetzentwurf des Bundesrats auf Drucksache 18/2752 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung von den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD, Gegenstimmen von der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU- und SPD-Fraktion, Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Wir kommen nun zur Abstimmung über die vorliegenden Entschließungsanträge, und zwar zunächst über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3075. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung der Linken, Ablehnung von CDU/CSU und SPD und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3076. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungs-antrag ist abgelehnt bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung von CDU/CSU, SPD und Linken. Damit gibt es einen Themenwechsel und in der Regel auch einen Sitzwechsel. Ich wünsche denen, die jetzt gehen, einen schönen Restabend und freue mich, ziemlich zeitnah zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen zu dürfen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Sabine Leidig, Thomas Lutze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland Drucksachen 18/806, 18/2989 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Herbert Behrens für Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Herbert Behrens (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Diskussion hier im Bundestag ging heute eine interessante Debatte im nordrhein-westfälischen Landtag voraus. Vielleicht haben Sie Gelegenheit gehabt, sich das anzuhören: Der SPD-Verkehrsminister will keine Murks-Maut, und der CDU-Abgeordnete Klaus Voussem sagt: „Keine Maut wäre sicher die beste Lösung.“ (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Heute können Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von der CDU, Ihrem Verkehrsminister hier in Berlin ein Stück Orientierung geben. Folgen Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen aus Düsseldorf! Verabschieden Sie sich von der Ausländermaut! Stimmen Sie unserem Antrag zu! (Beifall bei der LINKEN) Die Linke fordert den sofortigen Stopp der Pläne für eine Pkw-Maut. Diese Maut ist weder erforderlich noch sinnvoll. Vielleicht war einigen von Ihnen das im März 2014 noch nicht so deutlich wie heute. Darum haben Sie sich zumindest im Ausschuss geweigert, sich inhaltlich mit unserem Antrag auseinanderzusetzen. Nach den vielen Diskussionen, die wir gehabt haben, muss aber heute jedem, der nicht an der Leine des bayerischen Ministerpräsidenten hängt, klar sein: Die Pkw-Maut bringt nicht mehr Geld, aber auf jeden Fall mehr bürokratischen Aufwand. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Eigentlich sollte hier, wie gesagt, gar keine Diskussion stattfinden. Man hat uns im Ausschuss eine Anhörung dazu verweigert mit dem Hinweis, es gebe irgendwann einen Gesetzentwurf dazu. Nun hat es in der vergangenen Woche zwar einen Gesetzentwurf gegeben. Den kennen wir alle aber gar nicht; denn er war erst einmal nur Gegenstand im Kabinett und geht jetzt in die Ressortabstimmung. Einiges aus diesem Entwurf ist aber bekannt geworden. So heißt es, dass 3,7 Milliarden Euro Einnahmen erwartet würden. Die Pkw-Maut werde zu einer Verkehrsinfrastrukturabgabe, die dann alle deutschen Autofahrer zu zahlen hätten. Das heißt, jeder Kfz-Halter hätte eine Zwangsmaut zu zahlen. Aber 3 Milliarden Euro sollen den deutschen Autofahrern im Rahmen eines Gesetzes, das der Finanzminister erarbeiten muss, zurückerstattet werden; dadurch werden sie entlastet. Aber auch dieser Gesetzentwurf liegt noch nicht vor. Wir haben den Eindruck, dass bei den 700 Millionen Euro Einnahmen, die nur die ausländischen Autofahrer einbringen sollen, ähnlich wie bei anderen Großprojekten Einnahmen hochgerechnet und Ausgaben heruntergerechnet werden. Der ADAC hat nachgefragt, ob dieser Betrag von 700 Millionen Euro, den die Firma AGES – ein Unternehmen, das sich mit Mauteintreiben beschäftigt – ermittelt hat, stimmt. Er hat nachgerechnet und ist auf 262 Millionen Euro gekommen. (Karl Holmeier [CDU/CSU]: Nicht glaubwürdig!) Er hat auch festgestellt, dass der Aufwand wesentlich höher ist als vom Verkehrsminister vorgesehen. Er hat nämlich 357 Millionen Euro, die allein der Aufbau der Kontrollstrukturen kosten wird, gar nicht mit eingerechnet. Das heißt, die Berechnung des Verkehrsministers ist von vorne bis hinten falsch und anzuzweifeln. Das ist ein weiterer Grund, auf die Einführung der Maut zu verzichten. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir können Wetten abschließen, wer zuerst die schwarze Null erreicht: Herr Dobrindt mit seiner Pkw-Maut oder der Finanzminister bei seinem Haushalt. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zwangsmaut ist aus unserer Sicht auch rechtlich nicht zu halten. Wie verhält es sich beispielsweise mit innerorts gelegenen Bundesstraßen? Haben die Städte jetzt Anspruch auf die Einnahmen aus der Maut, die dort zu zahlen wäre, oder ist es zulässig, die Maut nur außerorts einzutreiben? Auch diese Frage ist völlig ungeklärt. Beispielsweise in Berlin und anderen Großstädten gibt es viele Kilometer an innerörtlichen Bundesstraßen. Die Städte müssen dafür aufkommen; aber sie bekommen möglicherweise nichts von den Mauteinnahmen ab. Ist das zulässig? Ich vermute, es wird Klagen geben. Auf Menschen mit Behinderungen, die nur teilweise von der Kfz-Steuer befreit sind, wird auch mit keinem Wort eingegangen. Die, die voll entlastet werden sollen, werden nicht zusätzlich belastet. Das ist einfach umzusetzen. Aber wie mit dem Freibetrag bei nur teilweise Befreiten umgegangen werden soll, auch dazu ist kein Wort zu finden. Die Maut bringt also nicht nur keine zusätzlichen Einnahmen, sondern sie wirft auch erheblich mehr Fragen auf, als es Antworten gibt. Es geht aber nicht um ein Frage-und-Antwort-Spiel. Es geht vielmehr um die politische Entscheidung: Soll es in Deutschland eine Pkw-Maut geben, ja oder nein? Diese Frage ist zu beantworten. Darum bleibt es dabei: Wir brauchen eine politische Entscheidung gegen die Einführung. Lassen Sie uns die Pkw-Maut jetzt stoppen! Vielleicht trägt der Bundesfinanzminister dazu bei, indem er seinen Gesetzentwurf so lange schiebt, dass es nicht mehr zu einer Pkw-Maut kommen kann. Aber das wäre kein politischer Weg, sondern nur ein Ausweg. Aber den würde ich auch mitgehen. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Herr Kollege Behrens. – Nächster Redner in der Debatte ist Karl Holmeier für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Karl Holmeier (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am kommenden Sonntag vor 25 Jahren, am 9. November 1989, hat die friedliche Revolution vieler Hunderttausend mutiger Menschen in der ehemaligen DDR das SED-Unrechtsregime nach jahrzehntelanger Schreckensherrschaft, Stasiterror und Todesschüssen an der Mauer in sich zusammenbrechen lassen. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und jetzt baut ihr Maut-Zollhäuschen auf!) Gott sei Dank! Ich bezeichne es als Wunder, dass dies friedlich möglich war. Die Wiedervereinigung Deutschlands, auf die die Unionsparteien seit Gründung der beiden deutschen Staaten hingewirkt haben, wurde eingeläutet und möglich. Der 9. November 1989 war und ist ein großartiger Tag in der deutschen Geschichte. Heute, 25 Jahre später, müssen wir uns mit einem Antrag der SED-Nachfolgepartei Die Linke beschäftigen, der sinnlos und, wie man bei uns zu Hause sagt, so überflüssig wie ein Kropf ist. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt für die Maut! – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das war der Zusammenhang! Den mussten Sie erst einmal erklären!) Die Fraktion Die Linke hat, wie Herr Behrens schon gesagt hat, im März 2014 einen Antrag eingebracht, nach dem der Deutsche Bundestag die Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland ablehnen soll. Zudem, so die Forderung der Linken, soll die Bundesregierung alle Planungen für die Einführung einer Pkw-Maut unverzüglich einstellen. Sehr geehrte Damen und Herren, das tun wir natürlich nicht. Die Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland war Bestandteil unseres Wahlprogramms zur Bundestagswahl 2013. Auch dafür haben uns die Menschen gewählt und ihr Vertrauen ausgesprochen. Die Einführung einer Pkw-Maut ist neben vielen anderen guten Dingen Bestandteil des Koalitionsvertrages zwischen CDU, CSU und SPD. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben versprochen, dass Sie hohe Einnahmen erzielen! Die erzielen Sie damit nicht!) Es war also früh absehbar – auch Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken, kennen sicherlich unseren sehr guten Koalitionsvertrag –, dass -Verkehrsminister Dobrindt einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen wird. Vor der Sommerpause hat Minister Dobrindt die Eckpunkte zur Einführung einer Pkw-Maut dargelegt und kurz darauf angekündigt, bis Ende Oktober 2014 einen Gesetzentwurf vorzulegen. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist er denn? Oktober war schon!) Im Sinne eines geordneten Verfahrens wird nun im -Verkehrsausschuss eine Anhörung zur Pkw-Maut durchgeführt; das stand immer fest. Eine Anhörung und eine inhaltliche Diskussion machen aber erst dann Sinn, wenn der Gesetzentwurf vorliegt. Dieser liegt nun vor. Unser Verkehrsminister hat sein Versprechen gehalten. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat es x-mal verschoben!) Der Gesetzentwurf wurde Ende Oktober vorgelegt, und er ist gut. Versprochen und Wort gehalten! (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollten Einnahmen erzielen! Wo sind die Einnahmen?) Die Große Koalition trägt die Bundesregierung. Wir machen eine erfolgreiche Politik für unser Land und -damit für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die -Beratung der Pkw-Maut kann in Kürze im Deutschen Bundestag beginnen. Alles hat seine Ordnung. Es gibt keinen Grund zur Aufregung. Unser erklärtes Ziel ist, den hohen Standard des deutschen Infrastrukturnetzes zu erhalten und weiter auszubauen. Nur so können wir den Verkehrszuwachs im Personen- und Güterverkehr -bewältigen. Mit der kontinuierlichen Ausweitung der Nutzerfinanzierung erreichen wir eine größere Unabhängigkeit vom Bundeshaushalt. Die Planungssicherheit für die Finanzierung von dringend erforderlichen Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen wird mit der Ausweitung der Lkw-Maut, über die wir in den letzten Tagen diskutiert haben, und der Einführung der Infrastrukturabgabe für Pkw gestärkt. Mit dem Gesetzentwurf unseres Verkehrsministers halten wir unser Wahlversprechen ein. Halter von in Deutschland zugelassenen Kraftfahrzeugen haben keine Mehrbelastungen. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diesen Entwurf gibt es doch noch gar nicht!) Herr Behrens, Sie haben vorhin gefragt, wer sich traut, mit Ihnen zu wetten. Ich traue mich schon, mit Ihnen -darum zu wetten, dass etwas übrig bleibt. Wir können als Wetteinsatz gerne 50 Liter Bier nehmen. Wir legen zudem einen europarechtskonformen Gesetzentwurf vor. Der Bonner Staatsrechtler Professor Christian Hillgruber stellt in seinem Gutachten fest, dass die Infrastrukturabgabe niemanden diskriminiere. Die Kompensation der Infrastrukturabgabe bei der Kfz-Steuer sei eine legitime Maßnahme. Der Preis für die Pkw-Jahresvignette bestimmt sich nach Hubraum und Umweltfreundlichkeit und wird bei 130 Euro gedeckelt. Halter von nicht in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen können wählen zwischen einer Zehntagevignette für 10 Euro, einer Zweimonatsvignette für 22 Euro oder einer Jahresvignette zu den gleichen Bedingungen wie für in Deutschland zugelassene Fahrzeuge. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder sie weichen auf andere Strecken aus und belasten dort die Menschen!) Ich stelle abschließend fest, dass die Linke mit der Beantragung der heutigen Debatte eigentlich nichts anderes als heiße Luft produziert. Diese Debatte ist nicht notwendig. Wir werden den Antrag natürlich ablehnen. Ich freue mich auf die inhaltliche Beratung unseres Gesetzentwurfs in den kommenden Wochen (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo bleiben denn die Inhalte?) und wünsche Ihnen allen gute Fahrt auf deutschen Straßen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke schön, Herr Kollege Holmeier. – Die Wette kommt in das Protokoll. Wenn man aber aus Bayern kommt, sind 50 Liter Bier günstig. Da könnte man schon etwas drauflegen. Ich werde das dann kontrollieren. – Gut, die Wette gilt. Nächste Rednerin in der Debatte ist Dr. Valerie Wilms für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Als ich eben die Rede von Herrn Holmeier gehört habe, habe ich gedacht: Wo bin ich hier eigentlich? – Alles, was er erzählt hat, habe ich hier noch nicht erlebt. Es liegt doch noch gar kein Gesetzentwurf vor. Welche Märchen haben Sie uns aus Bayern wieder erzählt? Das funktioniert doch hinten und vorne nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts als heiße Luft!) Es ist schön, dass auch das Ministerium jetzt vertreten ist, liebe Kollegin Bär. Ihr Minister hat nicht Wort gehalten. Monatelang hat er das Parlament hingehalten. Eine schon vor der Sommerpause von uns im Ausschuss kollegial gemeinschaftlich geplante Anhörung zu Ihrer CSU-Maut wurde im Oktober mir nichts, dir nichts abgeblasen. Der einzige Grund: Ihr lieber Minister Dobrindt hat nicht geliefert, was er versprochen hat. Es gibt auch jetzt noch keinen Gesetzentwurf. Ich darf vermuten, dass dem Minister sehr wohl bekannt ist, was ein Gesetzentwurf ist. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wäre ich mir nicht so sicher!) Das ist nämlich ein Dokument, das dem Bundestag schon zugeleitet sein müsste, zumindest aber dem Bundesrat. Davon habe ich noch lange nichts gesehen. Was bedeutet das? Es kursiert vielleicht nur ein Entwurf im Internet, über den wir hier mutmaßen dürfen. Das ist schlicht unverschämt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Der Minister hält sich nicht an seine Versprechen. Statt dem Parlament, dem Gesetzgeber, wirklich etwas vorzulegen, über das wir entscheiden können, gibt er blumige Presseerklärungen alle paar Monate heraus. Das ist eine Missachtung des Parlaments. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Sie können noch früh genug zustimmen, Frau Wilms! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns einmal die Details von dem anschauen, was man im Internet findet. Punkt eins: europäisches Recht. (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Befassen Sie sich jetzt mit etwas nicht Vorhandenem?) Dazu gibt es ein Gutachten – man könnte dafür auch einen besonderen Begriff finden –, das man bestellt hat, in dem Sie sich die Vereinbarkeit der Maut mit dem europäischen Recht bescheinigen lassen. Alle anderen Experten kommen zum glatt gegenteiligen Schluss. Mit dem Gefälligkeitsgutachten haben Sie es sogar geschafft, dass Ihnen der Kommissar Kallas auf die Schulter geklopft hat. Der ist aber nicht mehr Kommissar, der ist weg. Ich bin gespannt, was das insgesamt dann wirklich wert ist; denn seit einer Woche haben wir eine neue Kommissarin, und die fühlt sich nicht an die Aussagen ihres Vorgängers gebunden, wie sie heute noch einmal ganz deutlich per Agenturmeldung hat mitteilen lassen. Ich sage: Auch jetzt diskriminiert Ihre CSU-Maut die EU-Ausländer. Sie ist und bleibt ein mittelalterlicher Wegezoll, der überhaupt nicht zum europäischen Gedanken passt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Punkt zwei: die elektronische Vignette, wie wir letzte Woche dem Internet entnehmen konnten. Damit keine Bildchen an jeder Autoscheibe kleben, geben Sie sich ganz modern. – Da war doch einmal etwas: Minister für Modernität oder irgendetwas anderes. – Es müssen nur alle Fahrzeuge fotografiert werden. Das ist wie bei der Lkw-Maut, hat aber einen kleinen Haken. Die Daten werden bei den Pkw nämlich nicht sofort gelöscht. Sie sollen bis zu 13 Monate aufbewahrt werden. Damit werden Bewegungsprofile aller Autofahrer zentral erfasst. (Karl Holmeier [CDU/CSU]: Stimmt nicht!) Die lieben Kollegen vom BKA rufen schon nach den Daten zur Verbrechensbekämpfung. (Zuruf von der CDU/CSU: Ich denke, es gibt noch keinen Gesetzentwurf!) Davor kann ich nur warnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wenn Sie schon nicht die Finger von der unseligen Maut lassen können, dann korrigieren Sie wenigstens diese Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür. Aber die Vorratsdatenspeicherung ist ja eine CSU-Nummer. Punkt drei: Ihre Einnahmen. Aus den vollmundigen Ankündigungen ist nichts geworden. Stattdessen wurde es mit jeder Ankündigung weniger. 2013 wurden noch 900 Millionen Euro Einnahmen geschätzt, im Juli dieses Jahres hat der Minister von nur noch 600 Millionen Euro gesprochen. Inzwischen kommt er selbst durcheinander. Er sprach letzte Woche von deutlich mehr als 300 Millionen Euro, dann wieder von einer halben Milliarde Euro. Ja was denn nun? Sie wissen es offensichtlich selbst nicht im Ministerium. Vielleicht sind Ihnen auch ein paar Zahlen durcheinandergekommen. Das kann schon einmal passieren, wenn man Wohltaten für Bayern und die Republik durcheinanderbringt; denn das Verkehrsministerium arbeitet nicht nur an der CSU-Maut. Lassen Sie mich ein Beispiel aufzeigen. Im Sommer wurden fleißig Geschenke verteilt. Dabei hat der Minister natürlich auch an sich und seinen Wahlkreis gedacht. (Florian Oßner [CDU/CSU]: Ist es eine Sünde, wenn man an seinen Wahlkreis denkt?) Dort, in Oberau, soll die teuerste Ortsumgehung Bayerns gebaut werden. Zusammen mit drei geplanten Tunneln kostet das Ganze eine halbe Milliarde Euro, genauso viel, wie die CSU-Maut einbringen soll. (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Verschwörungstheorie!) Wir werden genau hinsehen müssen, wohin das Geld am Ende geht. Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Frau Präsidentin, ich komme jetzt zum Ende. Es bleibt festzuhalten: Die CSU-Maut ist untauglich und bürokratisch. Sie wird keines, aber auch wirklich keines unserer Probleme lösen, sondern viele neue schaffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer mit dummen Ideen ein Gesetz machen will, kann auch nur ein dummes Gesetz bekommen. Also, lassen Sie die Finger davon. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in dieser Debatte ist Sebastian Hartmann für die SPD--Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sebastian Hartmann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da wartet man darauf, was die Opposition sagt, bereitet sich vor und ist richtig gespannt. Und was passiert? Sie kritisieren, dass es nichts gibt und dass der Minister angeblich nichts vorgelegt hat. Dann reden Sie über das, was es nicht gibt – Frau Wilms sagt, dass es das nicht gibt –, und Sie arbeiten sich an irgendetwas ab, was es angeblich nicht gibt. Dabei profitiert Ihr Antrag, der sich eigentlich auf die Geschäftsordnung bezieht, lieber Kollege Behrens, ganz erheblich davon, dass der Minister Wort gehalten hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Sonst könnten Sie sich doch an keinem einzigen Vorschlag abarbeiten. Es ist eben ein Vorteil der deutschen Infrastruktur, dass es auch eine digitale Infrastruktur gibt und dass man im Internet manches Wichtige nachlesen kann, an dem Sie sich abarbeiten wollen. Der umgekehrte Fall: Wenn Sie kritisieren wollten, dass der Minister eben keinen Gesetzentwurf in dem 31 Tage zählenden Oktober vorgelegt hätte, worüber hätten Sie denn heute geredet? (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Über unseren Antrag!) Was wollen Sie denn? Sie wollen, dass die Pkw-Maut nicht kommt. Dann könnten Sie einfach einen Schlussstrich ziehen, und damit wäre die Debatte beendet. Dennoch arbeiten Sie sich an dem ab, was wir hier vielleicht zur Diskussion bekommen. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt mal zur Sache, zum Thema, zum Inhalt!) Es spricht doch für eine gute parlamentarische Debatte, dass man einen entsprechenden Vorschlag bekommt, dass man sich diesen Vorschlag anschaut und ihn da, wo er noch nicht so gut ist, besser macht. Dafür wird es ein geordnetes Verfahren geben. Dazu wird es eine Sachverständigenanhörung geben. Dann wird man das eine oder andere Gutachten, ob jetzt bestellt oder nicht, vielleicht um ein noch besseres Gutachten ergänzen. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kriegen wir das noch in dieser Wahl-periode?) Dann wird man sehen: Gilt der Koalitionsvertrag oder nicht? Das wird die Maßgabe der SPD, der CDU und der CSU sein. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Es ist ein offenes Geheimnis: Es gibt zwei große Parteien. Wenn sie die absolute Mehrheit verpassen – die eine deutlich, die andere knapp –, dann gibt es immer das Problem, dass man einen Kompromiss in der Sache schließen muss. Ja, wir haben es geschafft, den Mindestlohn und die Rente mit 63 durchzusetzen. Andere wollen vielleicht eine Infrastrukturabgabe für die deutsche -Infrastruktur organisieren. Ja, das ist so, und das hat man in den Koalitionsvertrag geschrieben. Der Koalitions-vertrag wird auch die Maßgabe für das Infrastruktur-abgabegesetz sein, das der Minister in einem ersten -Referentenentwurf seinen Kolleginnen und Kollegen im Kabinett zugeleitet hat. Wenn sie darauf reagiert haben, dann wird es diesen Gesetzentwurf geben. Ich erinnere einmal daran, dass es für ein solches -Gesetz ein paar klare Kriterien gibt. Über die werden wir reden, und die werden wir in der parlamentarischen -Debatte genau abarbeiten. Wir als SPD und die andere tragende Fraktion werden streng darauf achten, dass diese Kriterien nicht unterlaufen werden; das garantiere ich Ihnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich lese Ihnen etwas vor, damit hier im Parlament keine Nebelkerzen gezündet werden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den 9. November – vielen Dank für die Ausführungen dazu –; es ist ein besonderes -Datum in unserer Geschichte. Ich möchte mich diesen Ausführungen natürlich anschließen, Herr Kollege Holmeier, auch wenn ich zunächst mit dem von der Geschäftsordnung vorgesehenen Bericht gerechnet habe und dann einen ganz anderen Einstieg vernehmen konnte. Ich zitiere: Zur zusätzlichen Finanzierung des Erhalts und des Ausbaus unseres Autobahnnetzes werden wir einen angemessenen Beitrag der Halter von nicht in Deutschland zugelassenen Pkw erheben (Vignette) mit der Maßgabe, dass kein Fahrzeughalter in Deutschland stärker belastet wird als heute. Die Ausgestaltung wird EU-rechtskonform erfolgen. Am 7. Juli 2014 wurde ein Konzept vorgestellt, und daran wurde gearbeitet. Wenn man die öffentliche -Debatte verfolgt, stellt man fest: Aus einem Konzept wurde ein etwas verschärftes Konzept. Es wurde noch einmal nachgedacht, ob man die eine oder andere Straße in das Konzept hineinnimmt, und dann kam es zu dem Vorschlag, dass man sich vor allen Dingen auf die Bundesfernstraßen konzentriert; denn wir wollen ja nicht die Grenzregionen abhängen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das wollen wir nicht, und das werden wir auch nicht tun. Darauf können Sie sich verlassen. (Gustav Herzog [SPD]: Wir wollen den kleinen Grenzverkehr!) – Genau, der kleine Grenzverkehr wird ein großes Plus werden. Kriterium für die Ausgestaltung dieses Gesetzes ist nicht nur, dass es EU-rechtskonform sein muss und dass Pkw-Halter in Deutschland nicht zusätzlich belastet werden. Es gibt ein konkludentes Kriterium. Der Kollege Wittke aus Nordrhein-Westfalen, aus meinem Heimatland, hat das so schön formuliert: Vernünftig muss die Regelung schon sein. Vernünftig heißt: Der Aufwand muss deutlich geringer sein als der Nettoertrag. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Darauf warten wir genau!) Beides muss in einem vernünftigen Verhältnis stehen … (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das fehlt uns!) Kollege Wittke, Sie haben 10 Prozent als Messlatte benannt. Das ist doch gut. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Mehr wollen wir doch nicht. Die Lkw-Maut ist die Messlatte, an der wir das messen werden. Ich mache Ihnen jetzt zwei Rechnungen auf, und diese Rechnungen werden die gesamte Mautdebatte der folgenden Monate bestimmen: 3,7 Milliarden Euro Einnahmen stehen nur 200 Millionen Euro Erhebungsaufwand gegenüber; das sind sagenhafte 5,4 Prozent. Wenn Sie es negativ rechnen, dann stehen 700 Millionen Euro Einnahmen 200 Millionen Euro Aufwand gegenüber; das sind 30 Prozent. So viel Rechnen muss sein. Daran werden wir arbeiten; denn das beste und effizienteste System wird unsere Maßgabe sein. Alle diejenigen, die das kritisieren, muss man fragen, ob 500 Millionen Euro für die deutsche Infrastruktur zu wenig sind, um sich auf den Weg zu machen. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei 7,2 Milliarden, die wir zusätzlich brauchen!) Da wird die Frage sein, ob Sie den notwendigen Infrastrukturbeitrag anders darstellen können, ohne deutsche Autofahrerinnen und Autofahrer zusätzlich zu belasten. Wir werden in der Debatte sehr vernünftig darauf zu achten haben, dass wir uns genau an diesen Maßgaben orientieren. Zu guter Letzt. Es ist als Teil einer modernen Infrastrukturfinanzierung über eine Nutzerfinanzierung nachzudenken. Wenn Sie eine noch weiter gehende Maut auf allen Straßen – Kommunal-, Bundes- und Landesstraßen – nach Uhrzeit, nach Tageszeit getrennt, wollen, dann dürfen Sie sich im Plenum nicht darüber beschweren, wenn der Minister liefert und wir Ihnen zusagen, dass wir ein vernünftiges Gesetzgebungsverfahren durchführen, um den Koalitionsvertrag so umzusetzen, wie wir ihn vereinbart haben. Nicht mehr und nicht weniger werden wir tun. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur leider fehlt die Vernunft!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke schön, Herr Kollege Hartmann. – Nächster Redner in der Debatte: Steffen Bilger für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Steffen Bilger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ehrlich sagen, dass wir uns in der Unionsfraktion eigentlich auf die Mautdebatten in dieser Woche gefreut haben und ein bisschen spekuliert haben: Wird denn die Opposition eine Aktuelle Stunde dazu beantragen? (Sören Bartol [SPD]: Welcher Teil der Unionsfraktion denn?) – Zumindest kann ich das für den Unionsteil der Koalition sagen. – Aber sie hat uns enttäuscht. Jetzt diskutieren wir zumindest in dieser Debatte über die Pkw-Maut. Aber das zeigt vielleicht auch, dass die Luft schon ein Stück weit raus ist, weil Erwartungen der Pkw-Maut-Gegner nicht erfüllt wurden. Nach allem, was in den letzten Monaten gesagt wurde – „nicht europarechtskonform“, „Quadratur des Kreises, die nicht funktionieren wird“ –, zeigt sich, dass es anders aussieht und dass wir ein vernünftiges Gesetz beschließen können, um die Pkw-Maut in Deutschland einzuführen. Liebe Frau Kollegin Wilms, ich finde es dann auch nicht angemessen, von dummen Ideen und dummen Gesetzen zu sprechen. Wir machen eine vernünftige Lösung, die auch den Rückhalt in der Bevölkerung hat. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weniger als 50 Prozent!) Den Linken will ich herzlich danken für den Antrag und damit auch für die Gelegenheit, jetzt über den Gesetzentwurf, den wir alle offensichtlich kennen, zu diskutieren und uns darüber hier im Plenum auseinanderzusetzen. Ich will mich auch auf Ihren konkreten Antrag beziehen; denn Sie stimmen in diesem Antrag beispielsweise in den Chor der Kritiker ein, die sagen: Was soll das denn mit der Pkw-Maut? Man sollte lieber die Lkw-Maut erhöhen. – In der Debatte darf man nicht vergessen: Das machen wir schließlich. Die Lkw-Maut – das sage ich für alle, die das noch nicht mitbekommen haben – wird ausgeweitet. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber erst einmal deutlich gesenkt! – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist doch alles Stückwerk!) Man kann es gar nicht oft genug sagen: Wir gehen die Lücken in der Infrastrukturfinanzierung konsequent an. Dem Bund fehlen laut den verschiedenen Expertenkommissionen rund 4 Milliarden Euro pro Jahr. Dieses Problem werden wir lösen; so ist es in der Großen Koalition vereinbart. Das heißt: mehr Haushaltsmittel, 5 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode, geplant ab 2018 stetig 1,8 Milliarden Euro pro Jahr mehr aus dem Haushalt. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder bemerkung der Kollegin Wilms? Steffen Bilger (CDU/CSU): Ausgesprochen gern. (Oliver Wittke [CDU/CSU]: Das ist gelogen!) – Das ist die Wahrheit. (Zuruf von der CDU/CSU: Nichts als die Wahrheit!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Bitte schön. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Bilger, ich habe hier gerade eine Agenturmeldung, eine Meldung von AFP. Darin steht ganz deutlich: Die von Herrn Dobrindt geplante Pkw-Maut stößt in der Bevölkerung „überwiegend auf Ablehnung“. Wie passt denn das mit den Aussagen zusammen, die Sie eben getroffen haben? – Laut dieser Agenturmeldung sprechen sich 54 Prozent der Befragten gegen die Einführung einer Pkw-Maut auf den Autobahnen aus. Steffen Bilger (CDU/CSU): Es gibt ja im Laufe einer solchen Debatte viele Erhebungen. Als die Diskussion über die Pkw-Maut begonnen hat, lag die Unterstützung in der Bevölkerung für unser Gesetzesvorhaben bei 80 Prozent. Es mag sein, dass durch diese Diskussion die Zustimmung etwas gesunken ist. Aber ich bin mir sicher, wenn wir uns in einem halben Jahr wieder darüber unterhalten, wird die Zustimmung wieder deutlich gestiegen sein. Wir haben auf jeden Fall dauerhaft eine Unterstützung in der Bevölkerung für das Vorhaben der Pkw-Maut. Das kann ich Ihnen insbesondere als Baden-Württemberger sagen. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Menschen verstehen, dass ein Riesenbürokratieaufwand damit verbunden ist!) – Nun, lieber Herr Kollege Gastel, auch die Grünen in Baden-Württemberg haben sich immer mal wieder für Nutzerfinanzierung ausgesprochen, im Übrigen verbunden mit einem noch erheblicheren Aufwand – wenn wir schon über Datenschutz sprechen –, mit streckengenauer Abrechnung usw. Da sollten wir, glaube ich, bei der Wahrheit bleiben. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht für Ihr Modell!) Zurück zu den Zahlen und zu unserem Vorhaben, die Infrastruktur in Deutschland vernünftig auszufinanzieren: Es geht, wie gesagt, um mehr Haushaltsmittel. Es geht aber auch um die Ausweitung der Lkw-Maut. Bisher stehen uns rund 4,4 Milliarden Euro im Jahr zur Verfügung. Die Lkw-Maut wird auf die 7,5-Tonner ausgeweitet. Das bringt rund 300 Millionen Euro zusätzlich pro Jahr ab 2016. Wir werden die Lkw-Maut auf vierspurige Bundesstraßen – das sind weitere 1 100 Kilometer – ausweiten. Das bringt 80 Millionen Euro ab 2015. Schließlich werden wir sie ab 2018 auf alle Bundesstraßen ausweiten. Das wird etwa 2 Milliarden Euro pro Jahr bringen. Die Verkehrspolitiker kennen alle Schwierigkeiten, die es bei der Umsetzung einer Ausweitung einer Lkw-Maut geben kann. Ich will aber noch etwas dazu sagen, weil wir oft gefragt werden, warum das alles so lange dauert, warum das nicht schneller geht. Wir machen es so schnell wie möglich, aber es dauert einfach, bis ausgeschrieben ist, bis die Systeme errichtet sind. Die Lkw Maut wird so schnell wie möglich – wie ich es eben dargestellt habe – ausgeweitet. Dann kommt noch die Pkw-Maut mit Einnahmen von rund 500 Millionen Euro im Jahr dazu. Wenn man das alles zusammenrechnet – die 1,8 Milliarden Euro aus dem Haushalt, die zusätzlichen 2 Milliarden aus der Lkw-Maut, die 500 Millionen Euro aus der Pkw-Maut –, dann sind das mehr als 4 Milliarden Euro pro Jahr für die Infrastruktur. Damit schließen wir die vorhin erwähnte, bisher bestehende Lücke. Deshalb, meine Damen und Herren: Nach Jahren des Redens über die mangelnde Finanzierung der Infrastruktur kann ich feststellen: Wir reden nicht nur, sondern wir handeln auch. Wir packen die Probleme, die sich bisher bei der Infrastrukturfinanzierung stellen, an. (Beifall bei der CDU/CSU) In Ihrem Antrag äußern Sie größtes Verständnis für die ausländischen Fahrzeughalter. Sie schreiben: Ausländische Pkw zahlen in Deutschland etwa das Doppelte an Mineralölsteuer, als ihnen an Wegekosten zugerechnet werden kann. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Ja, so ist es!) Ich muss sagen: Es ist ja schön, dass Sie so viel Verständnis für die ausländischen Pkw-Fahrer haben. Aber, mit Verlaub, wen interessiert denn diese Frage in Österreich, in Frankreich oder in der Schweiz? Es ist eben doch auch eine Frage der Gerechtigkeit. Und wir beenden jetzt die Benachteiligung der deutschen Autofahrer, die lange Jahre bestanden hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Der Kollege Behrens von der Fraktion Die Linke möchte Ihnen auch eine Zwischenfrage stellen. Steffen Bilger (CDU/CSU): So viele Zwischenfragen hatte ich noch nie. Herbert Behrens (DIE LINKE): Vielen Dank. – Herr Bilger, Sie haben gesagt, in Österreich gebe es ein vergleichbares System der Maut-erhebung, über das Ausländer an der Finanzierung der Straßen beteiligt werden. Ist neben Österreich noch ein anderes europäisches Land genau in dieser Weise am Start, wie es der Verkehrsminister Dobrindt versucht, der die deutschen Autofahrer nicht über das hinaus belasten will, was sie schon jetzt beitragen, sondern nur die ausländischen Fahrer belasten will? Gibt es ein vergleichbares Modell, das mir bislang verborgen geblieben ist? Steffen Bilger (CDU/CSU): Ihr Vergleich hinkt. Denn man muss ja sehen, dass die österreichischen Autofahrer zwar natürlich auch in ihr Mautsystem einzahlen, aber dadurch eine Entlastung des österreichischen Steuerzahlers gegeben ist. Allein deswegen kann man nicht konstruieren, dass hier eine Diskriminierung von Haltern ausländischer Fahrzeuge stattfinden würde. Wir haben bisher eine Benachteiligung der deutschen Autofahrer; denn sie müssen in fast allen Nachbarländern bezahlen. Diese Benachteiligung werden wir jetzt mit der Pkw-Maut beenden. Ich will noch ein anderes Thema Ihres Antrags beleuchten. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter Antrag!) Denn Sie sagen ja oft, sie würden dafür stehen, dass den Menschen mit geringerem Einkommen Unterstützung zukommt. Das stellen Sie oft in den Mittelpunkt Ihrer Politik. In Ihrem Antrag schlagen Sie jetzt aber vor, eine Busmaut einzuführen. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Für Fernbusse, die anstatt des Zuges fahren!) Wir erinnern uns ja alle noch, dass wir uns bei der Reform des Personenbeförderungsgesetzes bewusst entschieden haben, keine Busmaut einzuführen, weil wir in Zeiten von teurer Mobilität mit dem Auto, der Luftverkehrsabgabe und von nicht ganz billigen Zugtickets eine kostengünstige Alternative bieten wollen. Deswegen haben wir mit der Liberalisierung des Fernbusverkehrs eine Alternative geschaffen. Ich glaube, an einem Tag wie heute kann man nur sagen, dass wir froh sein können über dieses Erfolgsmodell Fernbusse, das eine gute und vor allem eine kostengünstige Alternative darstellt. Insofern kann ich nicht nachvollziehen, dass ausgerechnet die Linken sich jetzt für eine Busmaut aussprechen, die dazu führen würde, dass die Fernbustickets teuer würden. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Entsprechend der Belastung der Straßen! Natürlich!) Der Fernbus ist eine hervorragende Ergänzung der Mobilitätsangebote, die wir haben. Er ist insbesondere für junge Menschen und für Menschen mit einem geringen Einkommen eine sehr gute Alternative. Vor diesem Hintergrund halte ich Ihre Pläne für falsch. Ihr Antrag ist zugegebenermaßen ja schon vor einigen Monaten gestellt worden, aber ich kann heute feststellen, dass Ihre Befürchtungen allesamt nicht eingetreten sind. Im Gegensatz zu den Ausführungen in Ihrem Antrag ist die vorgeschlagene Mautregelung europarechtskonform. Sie entspricht den Vorgaben, auf die wir uns im Koalitionsvertrag verständigt haben. Eines will ich auch noch einmal abschließend betonen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Aber bitte abschließend. Steffen Bilger (CDU/CSU): Wirklich abschließend. – Alle, die sagen: „Das sind ja nur 500 Millionen Euro“, sollten sich einmal in Erinnerung rufen, wie wir im Verkehrsausschuss oder in anderen Ausschüssen des Deutschen Bundestages um wenige Millionen streiten. 500 Millionen Euro sind ein wesentlicher Beitrag, um bei der Infrastruktur in Deutschland -voranzukommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Herr Kollege Bilger. – Ich dränge, weil wir heute noch eine sehr lange Tagesordnung haben. Nächste Rednerin in der Debatte: Kirsten Lühmann für die SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kirsten Lühmann (SPD): Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Linke hat beantragt, dass wir heute eine Debatte führen, um den Deutschen Bundestag über den Stand der Beratungen zu ihrem Antrag zur Maut zu informieren. Herr Behrens, genau darum geht es und nicht um den Inhalt Ihres Antrages. Diesen haben wir schon in erster Lesung beraten und werden ihn später noch behandeln. Ich übernehme es sehr gerne, die anwesenden Kolleginnen und Kollegen, die nicht Mitglied im Verkehrsausschuss sind, darüber zu informieren, was wir zu diesem Antrag schon alles gemacht haben. Wir haben uns nämlich zusammengesetzt und besprochen, dass wir eine Sachverständigenanhörung zur Pkw-Maut machen wollen. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und dann haben wir sie abgesagt! Oder der Minister!) Der Sinn dieser Anhörung ist, die Frage „Maut oder nicht Maut?“ zu klären. Wenn ich aber solch eine Frage stelle und die Sachverständigen sie sinnvoll erörtern sollen, dann muss ich auch eine Alternative haben. Das heißt, ich brauche einen Gesetzentwurf, der den Sachverständigen vorliegt und der etwas darüber aussagt, wie eine Mautregelung aussehen könnte. Erst wenn ich beides habe, kann ich vernünftig entscheiden, ob eine Pkw-Maut Sinn macht oder ob sie keinen Sinn macht. Diese Entscheidung, dass wir das zusammen beschließen wollen und dass wir zusammen die Anhörung machen wollen, haben wir einvernehmlich getroffen, weil es richtig ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dass nun die Vorlage des Gesetzentwurfs nicht so zeitig erfolgte, wie wir es geplant haben, mag man bedauern, ist aber eigentlich für den Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens nicht besonders schlimm. Leider bestand darüber nach der Verlegung der Anhörung im Ausschuss kein Konsens mehr. Wir sagen aber immer noch: Ja, natürlich werden wir Ihren Antrag debattieren, und wir werden Ihren Vorschlag zusammen mit dem Vorschlag des Ministers in einer Anhörung und dann in einer gemeinsamen Debatte hier im Hohen Hause behandeln, weil es einfach sinnvoll ist, das so zu machen, Kollege Behrens. Die Anhörung ist auch deshalb für die SPD so wichtig, weil wir den Sachverständigen einige Fragen vorlegen wollen. Kollege Sebastian Hartmann hat das eine oder andere angesprochen. Mir ist auch noch etwas anderes wichtig: Ich bekomme im Moment sehr viele Briefe. Auch in den Bürgersprechstunden kommen die Menschen zu mir und sagen: Wir glauben euch das nicht so recht mit eurem Koalitionsvertrag. Ihr werdet dieses Mautgesetz beschließen, aber die Entlastung über die Kfz-Steuer wird dann nicht kommen. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das wird passieren, Kollegin!) Darum ist es für die Glaubwürdigkeit in diesem Hause und auch für die Glaubwürdigkeit unserer Politik ganz wichtig – weil wir Wort halten –, dass wir beides zusammen beschließen: zum einen das Mautgesetz und zum anderen das Entlastungsgesetz. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zum Datenschutz haben wir diverse Modelle und auch Bundesverfassungsgerichtsurteile. Allerdings denke ich, dass wir das ein oder andere noch einmal deutlicher in dem Gesetzentwurf festschreiben müssen. Ich denke hier insbesondere an Speicherfristen. Ich glaube, wir sollten uns das eine oder andere Gerichtsurteil noch einmal ansehen und überlegen, ob man das nicht anders regeln kann. Aber die E-Vignette erfordert nicht nur Datenschutz, sie erfordert auch neue Technik. Der Minister hat gesagt, das Kraftfahrtbundesamt soll die Maut erheben und die Bundesanstalt für Güterverkehr soll sie kontrollieren. Beide Behörden brauchen dafür natürlich Fachpersonal. Die Fachleute haben uns gesagt, dass es erhebliches Personal beanspruchen wird. Der Minister hat jetzt gesagt, es gebe auch eine andere Lösung. Diese beiden Behörden könnten sich der Mitwirkung Dritter bedienen. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Privater Dritter!) Was wir noch nicht festgelegt haben, ist die Frage: Wie werden diese Dritten ausgewählt? Welche Kosten entstehen dadurch, auch für die Technik? Das Ziel – der Kollege Hartmann hat es noch einmal aus dem Koalitionsvertrag vorgelesen – ist, dass wir in dieser Legislaturperiode mehr Geld für unsere bundeseigenen Straßen erlangen wollen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dann darf dieses Geld nicht von den Investitionen für Technik aufgefressen werden. Zu der Europarechtskonformität wurde schon einiges gesagt. Wir haben ein Gutachten. Es ist immer gut, eines im Vorfeld erstellen zu lassen. Wir haben aber auch eine neue Kommissarin. Violeta Bulc hat gesagt, dass sie sich den Gesetzentwurf anschauen wird, wenn er denn durch das Kabinett verabschiedet worden ist. Dann wird sie mit ihrem Sachverstand entscheiden. (Zuruf von der LINKEN: Hat sie den?) Ich glaube, es ist gut und richtig so, dass sie das in dieser Reihenfolge macht. Ich komme zu unserem Thema zurück: Wann manchen wir die Anhörung? Natürlich ist für uns und die Sachverständigen auch diese Entscheidung von Frau Bulc eine Grundlage. Wir können nicht vorher eine Anhörung machen. Ein Stochern im Nebel hilft uns bei der Entscheidungsfindung nicht einen Deut weiter. (Beifall bei der SPD) Das Fazit: Der Beschluss, die Expertenanhörung zu verschieben, bis wir genug Fakten haben, die die Experten auch beurteilen können, war und ist richtig. Es bleibt spannend. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Frau Kollegin. – Letzter Redner in dieser Debatte ist Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Ulrich Lange (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, der Gesetzentwurf zur Maut ist da. Liebe Kollegin Wilms, ob Sie ihn formal bekommen haben oder nur unformal gelesen haben, (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein gewaltiger Unterschied!) gelesen haben Sie ihn, weil Sie lesen können und auch über die modernen technischen Mittel verfügen. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Eben hieß es, wir diskutieren über etwas, was es nicht gibt!) Sie haben sich über diesen Gesetzentwurf gefreut, weil Sie gar nicht geglaubt haben, dass er kommt – es ist wie Weihnachten, wenn man hofft und wartet –, und wenn er dann doch da ist, dann denkt man sich: Hurra, wie schön. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider steht nichts Gescheites drin!) Herr Kollege Hartmann, ich mache es nicht oft, aber ich muss wirklich sagen: Es hat mir und den Kollegen richtig Spaß gemacht, Ihnen heute zuzuhören; denn es war richtig gut. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Liebe Kollegen der Linken, zu dem, was Sie eigentlich diskutieren wollten, gibt es nichts zu sagen als: Guten Abend. Auf Wiedersehen. Das war die Debatte. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das habe ich jetzt wieder nicht verstanden! Das war zu hoch für mich!) Lassen Sie mich doch noch ein paar Sätze anmerken. Der Minister hat Wort gehalten. Der Gesetzentwurf liegt auf dem Tisch. Das ist das Entscheidende. (Sören Bartol [SPD]: Ein Referentenentwurf!) – Ein Gesetzentwurf liegt auf dem Tisch, (Gustav Herzog [SPD]: Ein Referentenentwurf!) ohne das formal bewerten zu wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es geht doch vor allem um eines: um die Parameter unseres Koalitionsvertrages. Diese Parameter sind – ich wiederhole sie gerne – nämlich zwei: mit EU-Recht vereinbar und keine Mehrbelastung für die deutschen Autofahrerinnen und Autofahrer. Genau das haben wir vorgelegt. Auch bei der Europarechtskonformität, liebe Kollegin Wilms, wäre ich ganz beruhigt; denn auch wenn die Kommissarin wechselt, die Generaldirektion MOVE ist ja geblieben. Da wechselt ja nicht alles. Ich sage auch ganz direkt, was mein Verständnis vom deutschen Gesetzgeber ist: Zunächst einmal machen wir hier unsere Gesetze, bevor wir sie nach Europa tragen. Wir sind nicht die Vollzieher Europas. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach so! Bayern will nicht mehr zu Europa gehören! – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist genau der Charakter, der diese Maut gemacht hat!) Meine Kolleginnen und Kollegen, nachdem vorhin das Wort „Zwangsmaut“ gefallen ist, sage ich ganz deutlich: Es ist keine „Zwangsmaut“ und auch keine „Rachemaut“, sondern ganz klar eine Gerechtigkeitsmaut, die wir hier einbringen. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Maut, die von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird! – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Es ist eine Seehofer-Maut!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege, erlauben sie eine Zwischenfrage von einem Kollegen der Linken? – Ja oder nein? Ulrich Lange (CDU/CSU): Ja, natürlich. Wir können doch noch länger reden. Wunderbar! Vizepräsidentin Claudia Roth: Das möchte ich laut hören. – Sie denken, bitte schön, an die lange Debatte, die wir heute noch haben. Ulrich Lange (CDU/CSU): Das müssen Sie dem Kollegen der Linken sagen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Ja, das sage ich ihm ja. Ulrich Lange (CDU/CSU): Ich darf drei Minuten darauf antworten. Vizepräsidentin Claudia Roth: Sie dürfen selbstverständlich darauf antworten. Keine Angst! Ich bin ganz gerecht – wie Ihre Maut. (Reinhold Sendker [CDU/CSU]: Das war aber grenzwertig!) Roland Claus (DIE LINKE): Es ist schneller gefragt, Frau Präsidentin, als belehrt. – Herr Kollege, wenn Sie denn von der Ernsthaftigkeit des Unternehmens, das Sie hier vortragen, so überzeugt sind und gewiss die Aussage des Bundesministers Dobrindt unterstützen, dass die Maut ab 1. Januar 2016 – so seine Formulierung – „scharf geschaltet“ werden soll, wie können Sie dann erklären, dass im Haushalt für das Jahr 2015, über den wir noch in diesem Jahr abstimmen müssen, keinerlei Vorsorge für all die Momente der umfangreichen technischen Erfassung getroffen wird? – Solange Sie diese Frage nicht beantworten können – im Haushalt steht dazu nichts drin –, sind Ihre Belehrungen zur Zukunftsfähigkeit der Maut nichts wert. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Müssen wir einen Nachtragshaushalt machen, oder was?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Lange, bitte. Ulrich Lange (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege Claus, ich glaube, da können Sie ganz beruhigt sein. Wir haben am 13. November die Bereinigungssitzung, und Sie können davon ausgehen, dass da entsprechende Beschlüsse gefasst und die entsprechenden Mittel im Haushalt eingeplant werden. Ein Blick in das Gesetz zeigt: Es tritt 2016 in Kraft. Ich wäre da an Ihrer Stelle ganz beruhigt, dass wir das haushalterisch in den Griff bekommen. Wir arbeiten ja daran. Wir freuen uns dann auf Ihre Unterstützung in der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses. Wenn Ihre einzige Sorge ist, dass es formal noch nicht im Haushalt steht, kann ich Ihnen sagen: Das werden wir am 13. November sicher klären können. Danke. (Roland Claus [DIE LINKE]: Diese Antwort werden Sie noch bereuen!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Lange, Ihre Redezeit läuft weiter. Ulrich Lange (CDU/CSU): Ja. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, 500 Millionen Euro zusätzlich – das sind fast 10 Prozent unseres Straßenverkehrsetats. Wer hier also davon spricht, dass es sich um „kein Geld“ handelt, der verkennt einfach den Verkehrshaushalt. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen 7,2 Milliarden Euro zusätzlich! 7,2 Milliarden Euro!) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir 500 Millionen Euro zusätzlich an Steuermitteln verwenden würden, wäre das für alle Bürgerinnen und Bürger viel Geld. Auch das sollten wir in diesem Zusammenhang respektieren. (Beifall bei der CDU/CSU) Was uns sehr wichtig ist, ist die Zweckbindung der entsprechenden Mittel – damit die Infrastrukturabgabe auch in der Verkehrsinfrastruktur, nämlich bei den Straßen, landet. Genau das wollen und werden wir erreichen. Nun, liebe Kollegin Wilms, müssen Sie noch fünf Minuten meinen Ausführungen zu den Daten zuhören. Vizepräsidentin Claudia Roth: Oh nein, fünf Minuten nicht – 58 Sekunden! (Heiterkeit) Ulrich Lange (CDU/CSU): 55 Sekunden zu den Daten. – Frau Wilms, passen Sie mal auf. Wir saßen doch gemeinsam beim NDR. Da haben Sie zu mir gesagt: Wenn es doch wenigstens eine intelligente Maut wäre, mit der man steuern und erfassen könnte, wie die Menschen auf der Straße unterwegs sind! – (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben!) Das ist doch Heuchelei. Wenn man solch ein System einführt, dann gilt: Big Toni is watching us. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann würde man doch nicht 13 Monate die Daten speichern!) – Natürlich! Das wäre die Überwachung à la Grüne. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Dobrindt will doch die Überwachung!) Das ist genau die Art, auf die Sie den Menschen vorschreiben wollen, wie sie sich zu bewegen haben. Sie wollen den Menschen vorschreiben, was sie zu essen haben, wann sie zu fahren haben. Nein, meine Damen und Herren, so nicht! Das ist heuchlerisch. (Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Helau! – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch billig, superbillig!) Mit einem solchen System könnte man Bewegungsprofile erstellen. Und dann denken Sie doch mal bitte an Ihr bürokratisches Monster Citymaut, das Sie auch noch in Ihrem Köcher haben! (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Bürokratiemonster sitzt bei Ihnen!) Ich würde an Ihrer Stelle etwas vorsichtiger sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Pkw-Infrastrukturabgabe (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist ein bürokratisches Monster!) hilft uns bei der Finanzierung. Sie ist ein Teil der Gerechtigkeit auf deutschen Straßen. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ist oberbürokratisch, sonst gar nichts!) Dafür werden wir sie einführen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Lange. – Ich schließe diese lebhafte und lebendige Aussprache. Die Wette gilt, Herr Holmeier: 50 Liter. Ich bitte diejenigen, die der nächsten Debatte nicht folgen wollen, die Plätze zu wechseln. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf – liebe Kollegen und Kolleginnen, ich bitte Sie, Platz zu nehmen –: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Resolution 1996 (2011) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und Folgeresolutionen, zuletzt 2155 (2014) vom 27. Mai 2014 Drucksache 18/3005 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Die Debatte beginnt Dr. Ralf Brauksiepe, Staatssekretär, für die Bundesregierung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner) Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung: Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der Tat jetzt über ein trauriges Thema zu reden; denn drei Jahre nach seiner Unabhängigkeit befindet sich der Südsudan in einer politischen und humanitären Krise, und das trotz des starken Engagements der internationalen Gemeinschaft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich betone nicht „wegen“, sondern „trotz“ des starken Engagements der internationalen Gemeinschaft. Wir haben es nicht zu verantworten, dass es so ist. Wir haben an vielen Stellen Not und Leid lindern können. Das ist auch in Zukunft unsere Aufgabe und unsere Verantwortung, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Seit Dezember 2013 kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des Präsidenten Kiir und des ehemaligen Vizepräsidenten Machar. Der Konflikt zwischen Regierung und oppositionellen Rebellen hat sich auf große Teile des Landes ausgeweitet und zu großem Leid geführt. Über 10 000 Menschen sind ums Leben gekommen. Von den Einwohnern Südsudans mussten mehr als 1,4 Millionen ihre Häuser verlassen. Sie befinden sich im eigenen Land auf der Flucht. 450 000 Südsudanesen sind in die Nachbarländer geflohen. Mehrere Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das ist eine traurige Entwicklung, wenn man an den hoffnungsvollen Aufbruch vor drei Jahren denkt, als der Südsudan nach einer langen Periode von Auseinandersetzungen in die Unabhängigkeit entlassen wurde und die Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung bestand, die sich leider bisher nicht erfüllt hat. Umso wichtiger ist es, dass die internationale Gemeinschaft und Deutschland als ein Teil dieser Gemeinschaft die Menschen im Südsudan unterstützen und hier weiterhin Verantwortung übernehmen. Die bisherigen Versuche der nordafrikanischen Re-gio-nalorganisation IGAD, einen längerfristigen Waffenstillstand und ein Friedensabkommen zu erreichen, waren leider wenig erfolgreich. Weder Präsident Kiir noch sein früherer Vize Machar sind derzeit bereit, Zugeständnisse einzugehen und den Konflikt zu lösen. Vielmehr versuchen offensichtlich beide Seiten weiterhin, ihre militärische Ausgangslage zu verbessern bzw. eine militärische Konfliktlösung zu erreichen. Auch wenn inzwischen die bewaffneten Auseinandersetzungen zurückgegangen sind, bleibt die Lage im Land nach wie vor angespannt. Gerade die humanitäre und die allgemeine Sicherheitslage haben sich im gesamten Land massiv verschlechtert. UNMISS nimmt derzeit den Schutz der Zivilbevölkerung sowie alle anderen Aufgaben des Mandats unter schwierigen Bedingungen so gut wie möglich wahr. Knapp 100 000 Menschen sind aktuell in UNMISS-Lagern untergebracht, wo die VN-Mission für die Sicherheit der Flüchtlinge garantiert. Auf die bewaffneten Auseinandersetzungen hatte die Mission der Vereinten Nationen im Südsudan unmittelbar reagiert und ihre Lager für alle um Schutz suchenden Südsudanesen geöffnet und damit wahrscheinlich Tausende vor dem Tod bewahrt. Für dieses schnelle und verantwortungsvolle Handeln, liebe Kolleginnen und Kollegen, gebühren allen Angehörigen der Mission unsere Anerkennung und unser herzlicher Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch der Sicherheitsrat hat konsequent auf die -Entwicklungen im Südsudan reagiert. In der Sicherheitsratsresolution 2155 sind die Aufgaben von UNMISS deutlich gestärkt und klar auf den Schutz der Zivilbevölkerung ausgerichtet worden. Die Zahl der maximal einzusetzenden Soldaten wurde deutlich von bisher 7 000 auf 12 500 angehoben. Wie gefährlich dieser Einsatz für die VN-Friedenstruppen ist, wird anhand der Geschehnisse im -UNMISS-Lager in Bor am 17. April dieses Jahres deutlich. Dort versuchten bewaffnete Rebellen, das UNMISS-Camp zu stürmen, um Flüchtlinge anzugreifen. Nur durch den Gebrauch ihrer Waffen konnten die Peacekeeper verhindern, dass es zu einer Katastrophe kam. Das heißt: Nur durch die Entsendung bewaffneter Soldaten und die Ausstattung mit einem robusten Mandat durch den Sicherheitsrat kann die Zivilbevölkerung wirklich wirksam geschützt werden. Angesichts dieser schwierigen Lage im Südsudan und der zahlreichen Herausforderungen, mit denen sich die VN-Friedensmission konfrontiert sieht, ist es deshalb umso wichtiger, dass Deutschland einen Teil zur Lösung des Konflikts beiträgt und sich wie bisher im Rahmen der Vereinten Nationen engagiert. Wir sind seit Beginn der Mission UNMISS als Bundesrepublik Deutschland beteiligt. Wir haben uns mit Einzelpersonal in den Führungsstäben der Mission und mit Verbindungsoffizieren beteiligt, zuletzt mit 16 Soldatinnen und Soldaten und 7 Polizistinnen und Polizisten. Sie verrichten ihren Auftrag häufig abseits der medialen Aufmerksamkeit, aber hochprofessionell im Sinne der Sache. Ich möchte allen unseren Soldatinnen und Soldaten sowie den eingesetzten Polizistinnen und Polizisten bei UNMISS meine – und ich hoffe unser aller – Hochachtung für ihr bemerkenswertes Engagement und für ihre Professionalität aussprechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mit unserer fortgesetzten Beteiligung im Rahmen von UNMISS – auch künftig soll die Obergrenze bei 50 Soldatinnen und Soldaten liegen – setzen wir ein deutliches Zeichen, dass wir bereit sind, unserer Verantwortung in den VN-Missionen in Afrika weiterhin nachzukommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte dafür um Zustimmung. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Brauksiepe. – Nächster Redner in der Debatte: Jan van Aken für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jan van Aken (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wieder einmal steht die Verlängerung der Teilnahme der -Bundeswehr am UNMISS-Einsatz im Südsudan auf der Tagesordnung. Wieder einmal werben Sie hier mit viel Schönrednerei, aber auch mit einer gehörigen Portion Selbsttäuschung, Herr Brauksiepe, um Zustimmung. -Unsere Zustimmung werden Sie dafür allerdings nicht bekommen. (Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Na, Gott sei Dank!) Sie weisen hier auf die vielen Probleme, die es im Südsudan gibt, aber auch auf die Schwierigkeiten bei der Beendigung von Gewalt und auf den notwendigen -Friedensprozess hin. Aber eine Sache blenden Sie alle völlig aus, nämlich die Tatsache, dass UNMISS das völlig falsche Instrument war und ist, um die Krise im Südsudan zu bewältigen. (Beifall der Abg. Christine Buchholz [DIE LINKE]) UNMISS war von Anfang an ein Mandat mit Schieflage. Die Mission wurde 2011 eingerichtet, um die südsudanesische Regierung dabei zu unterstützen, Stabilität zu schaffen und den Friedensprozess voranzubringen. Das hatte aber von vornherein zwei ganz große Haken. Erstens. Stabilität und Frieden können nicht militärisch erkämpft werden, sondern nur durch eine aktive Friedenspolitik, durch Dialog, durch soziale, durch wirtschaftliche Entwicklung erreicht werden. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Die Rede halten Sie immer!) Zweitens gibt es ein ganz zentrales Problem: Die südsudanesische Regierung unter Salva Kiir ist, damals wie heute, Teil des Problems im Südsudan. Sie selbst ist eine der größten Bedrohungen für die Zivilbevölkerung im Sudan. (Beifall bei der LINKEN) Bis heute jedoch braucht UNMISS für jeden einzelnen Schritt die Genehmigung genau dieser südsudanesischen Regierung. Das kann nicht funktionieren. (Beifall bei der LINKEN – Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also wollen Sie ein robusteres Mandat?) Unter den Augen von mehreren Tausend UN-Soldaten und Zivilpersonal eskalierte im letzten Dezember die Situation aufgrund eines Konfliktes innerhalb der Regierung. Seitdem kämpfen abtrünnige Milizen gegen die Zentralregierung. Mittlerweile sind 3,5 Millionen Menschen im Südsudan auf humanitäre Hilfe angewiesen, 450 000 Menschen sind in Nachbarstaaten geflohen, 1,3 Millionen Menschen sind auf der Flucht innerhalb des Südsudan und 100 000 von ihnen haben Zuflucht bei UNMISS gesucht. (Zuruf des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Aber an diesem Punkt haben wir ein echtes Problem: UNMISS ist bis heute nicht auf die Versorgung von so vielen Menschen eingestellt. Überflutungen, drohende Krankheitsausbrüche, Mangelernährung und Gewalt – all das sind alltägliche Probleme, auf die UNMISS überhaupt nicht eingestellt ist, mit der sie überhaupt nicht umgehen kann. Als Reaktion auf die Eskalation im letzten Dezember haben Sie das Mandat deutlich verändert: mehr Soldaten, weniger Staatsaufbau. Wir lehnen diesen Fokus auf das Militärische einfach ab. (Beifall bei der LINKEN – Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so zynisch! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das wissen wir doch!) Die UNO sitzt im Südsudan mittlerweile zwischen allen Stühlen: Die Regierung wirft UNMISS vor, die Opposition zu unterstützen, unter anderem dadurch, dass sie auch Rebellen in den Flüchtlingslagern unterbringt. Die Rebellen wiederum werfen UNMISS vor, die Regierung zu unterstützen und Regierungstruppen per Hubschrauber zu transportieren. Das ging so weit, dass sie sogar einen UNMISS-Hubschrauber abgeschossen haben. Und die Zivilbevölkerung hat überhaupt kein Vertrauen mehr in UNMISS, weil UNMISS sie eben nicht vor den Gewalttaten der Regierungstruppen schützt. (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hat 100 000 Leute beschützt!) Das ist das große Drama von UNMISS im Moment. Anstatt jetzt so weiterzumachen und sich wieder einmal mit ein paar Soldaten und ein paar Polizisten aus der Verantwortung zu stehlen, sollte die Bundesregierung endlich einmal wirklich Verantwortung übernehmen. Da können Sie vieles tun und auch viel Gutes tun: Erstens. Warum unterstützen Sie eigentlich nicht die Forderung von 50 zivilgesellschaftlichen Organisationen nach einem vollständigen Waffenembargo? Waffen und Munition kommen immer noch in dieses Land, auch direkt an die südsudanesische Regierung. Machen Sie sich doch als Bundesregierung diese Forderung zu eigen! (Beifall bei der LINKEN) Sorgen Sie dafür, dass der Zufluss an Waffen und Munition in den Südsudan gestoppt wird! Zweitens. Stärken Sie die zivilgesellschaftlichen Organisationen im Südsudan! Die gibt es; die gibt es immer noch. Es ist doch gerade die Jugend im Südsudan, die die Zukunft darstellt. Diese Jugend brauchen wir in Zukunft. Diese Jugend braucht auch jetzt internationale Unterstützung. (Beifall bei der LINKEN) Drittens und letztens. Vergessen Sie nicht, dass der Bürgerkrieg nicht überall ist. Unterstützen Sie doch vor allem die Regionen, in denen momentan nicht gekämpft wird, in denen auch die Dinka und die Nuer, die verschiedenen Volksgruppen, friedlich zusammenarbeiten. Wenn die Unterstützung dieser Regionen ein Erfolg wird, wenn in diesen Regionen Entwicklung funktioniert, dann können sie beispielgebend für den ganzen Südsudan sein. Deshalb sage ich Ihnen: Sie können im Südsudan im Moment sehr viel Gutes tun. Das Militärische gehört nicht dazu. (Beifall bei der LINKEN) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen exportieren sollte, natürlich auch nicht in den Südsudan. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege van Aken. – War das jetzt eine Wortmeldung? (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) – Gut. Ich glaube, Sie hätten sich deutlicher gemeldet. Ich wusste nicht, ob die Handbewegungen etwas zu bedeuten hatten. (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das ist immer so bei dem!) Gut. Offensichtlich war das keine Wortmeldung. Nächster Redner: Thomas Hitschler für die SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Thomas Hitschler (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über eine deutsche Beteiligung an einer Mission der Vereinten Nationen. Eine Mission in einem Konflikt, der in der öffentlichen Wahrnehmung wenig präsent ist, der es nicht in die alltäglichen Schlagzeilen schafft, aber dennoch so grausam ist und unglaubliches menschliches Leid verursacht. Ein Konflikt, bei dem auch wir Verantwortung übernehmen müssen. Die Geschichte des Südsudan ist keine friedliche; aber gerade in den letzten Jahren waren Hoffnungen und fürchterliches Leid eng beieinander. Was als Auseinandersetzung zwischen Präsident und Vizepräsident angefangen hat, hat sich schnell militarisiert, als sich Teile der Streitkräfte auf verschiedene Seiten geschlagen -haben. In der Folge steht der Südsudan, dieser junge Staat, der 2011 in die UN-Familie aufgenommen wurde, derzeit dem Scheitern näher als der erfolgreichen Staatsbildung. Perfiderweise wurden politische Konflikte mittlerweile auf die Ebene des Zusammenlebens unterschiedlicher Volksgruppen verschoben. Und inzwischen ist der Konflikt zu einem Bürgerkrieg zwischen zwei Ethnien, den Nuer und den Dinka, geworden, der die Gesellschaft des Südsudan zerrissen hat. Die Folgen: Hunderttausende Menschen sind innerhalb des Landes auf der Flucht, und viele Ausländer haben das Land verlassen. Hunger geht um und bedroht nach Oxfam-Schätzungen bis zu 2 Millionen Menschen. Vergewaltigungen und der Einsatz von Kindersoldaten sind alltäglich geworden. Gleichzeitig wird der Südsudan massiv beeinflusst von den Interessen größerer Nachbarstaaten, was eine diplomatische Lösung nicht unbedingt erleichtert. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat auf diese Entwicklung entsprechend reagiert und den Fokus von UNMISS in der Resolution 2155 angepasst: Der Auftrag von UNMISS ist nun verstärkt der bessere Schutz von Zivilisten, von Flüchtlingen, von humanitären Helferinnen und Helfern. Die Zahl der Blauhelmsoldaten im Land wird auf 12 500 erhöht. Damit bewegt sich UNMISS vom ursprünglichen Auftrag, festgelegt in der Resolution 1996, ein gutes Stück weit weg. Nach dieser Resolution sollte UNMISS nämlich der Unterstützung des Südsudans beim Aufbau staatlicher Institutionen dienen. Dass dieser Wechsel notwendig geworden ist, ist zutiefst bedauerlich. Dass auf eine verschlechterte Situation reagiert wird, ist allerdings nachvollziehbar. Die Verschiebung der Konfliktlinie auf die Ebene der ethnischen Zugehörigkeit erschwert die Konfliktbewältigung in besonderer Weise. Selbst wenn es zu einem politischen Friedensschluss kommt, werden die zwischen den Volksgruppen aufgerissenen Gräben noch lange wahrgenommen werden. Zu viel Blut ist dafür mittlerweile geflossen. So wurde erst im April dieses Jahres – der Staatssekretär hat es berichtet – ein Lager der Vereinten Nationen in der Stadt Bor angegriffen. In diesem -Lager lebten 5 000 Flüchtlinge, als eine Gruppe von Männern, die vorgeblich eine Friedenspetition übergeben wollten, plötzlich das Feuer auf unbewaffnete -Männer, Frauen und Kinder eröffnete. Dabei starben 48 Menschen. Und diese Menschen, liebe Kolleginnen und Kollegen, glaubten sich bereits in Sicherheit. Auch diese neue Form der Brutalität zwingt uns dazu, weiterhin Verantwortung zu übernehmen. Meine Damen und Herren, ein Abflauen der Kampfhandlungen im Südsudan, wie es in den vergangenen Wochen feststellbar war, zeigt nach Einschätzung der Mehrzahl der Experten leider keine Entspannung der -Situation. Dies ist vielmehr jahreszeitlich bedingt. Die Regenzeit hat Teile des Landes unpassierbar und für -größere militärische Kampagnen ungeeignet gemacht. Aber die Regenzeit endet in diesem Monat. Vor diesem Hintergrund, Kolleginnen und Kollegen, ist unsere Aufgabe am heutigen Abend, über eine Verlängerung des Mandats zur deutschen Beteiligung an UNMISS zu entscheiden. Mit unserem deutschen Beitrag übernehmen wir dabei Verantwortung. Derzeit tragen 16 Soldaten und 7 Polizisten vor Ort zum Schutz von Zivilpersonen und humanitären Helferinnen und Helfern bei. Dabei handelt es sich nicht um kämpfende Einheiten, sondern um solche, die Führungs- und Unterstützungsaufgaben wahrnehmen und ihren internationalen Kameradinnen und Kameraden bei technischer Ausstattung und Ausbildung helfen. Die Kosten für diesen Einsatz – für das kommende Kalenderjahr auf etwa 1 Million Euro beziffert – sind zu vernachlässigen angesichts dessen, was durch UNMISS erwirkt werden kann und was UNMISS in der Tat bereits geleistet hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin dem deutschen Kontingent für die Erfüllung der dortigen Aufgabe sehr dankbar. Sie sind nicht nur umgeben von schrecklichem menschlichen Leid, sondern arbeiten dort gemeinsam mit vielen anderen Nationen daran, ein Land aufzubauen, das eine gute Zukunft mehr als verdient hat. Lassen Sie uns mit der heutigen Entscheidung auch ein Signal der Unterstützung für die Polizisten und Soldaten vor Ort geben. Das haben sie mehr als verdient, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir alle wissen – da stimme ich Herrn van Aken zu –, dass militärisches Engagement diesen Konflikt nicht beenden wird. Die Ursachen des Konflikts sind viel zu differenziert, historisch zu tief verwurzelt und regional zu weit verteilt. Zur Lösung des Konflikts sind diplomatische Initiativen, die auch auf die Anrainerstaaten des Südsudan und deren Partikularinteressen eingehen, sehr notwendig. Zu einer dauerhaften Verbesserung der Lage der Menschen im Südsudan ist der Aufbau eines funktionierenden und demokratischen Staatswesens, ja von Institutionen und Strukturen notwendig. Diese müssen kommen, und dazu wird auch unser Land einen wichtigen Beitrag leisten. Davon bin ich fest überzeugt. Für mich ist die Beteiligung an dieser Mission auch ein gutes Beispiel. Die Beteiligung zeigt, was mit den schwierigen Worten „Verantwortung in der Welt“ gemeint sein kann. Dies bedeutet eben nicht nur mehr Kampfeinsätze, sondern vor allem humanitäre Verantwortung, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Unterstützung beim Aufbau von Staaten und Hilfe zur Selbsthilfe sowie gleichzeitig – das darf auch nicht vernachlässigt werden – Schutz von Menschen, die Hilfe geben wollen. Auch deshalb bitte ich Sie, der Mandatsverlängerung zuzustimmen. Erlauben Sie mir, einen letzten Aspekt hinzuzufügen. Die Bevölkerung im Südsudan hat ein Trauma erlitten, dessen Folgen noch in Generationen spürbar sein werden. Daher müssen die Menschen, die unter diesem -Konflikt gelitten haben, dringend auch Zugang zu Betreuungsmechanismen bekommen, welche helfen, die zwischenmenschlichen Konflikte zu lösen. Institutionen der Aussöhnung zwischen den Ethnien und den Bürgerkriegsparteien müssen gebildet und unterstützt werden, um zu verhindern, dass aus Feindschaft Tradition wird. Gerade wir Europäer können auch in diesem Jahr deutlich bestätigen, wie wichtig ein solcher Prozess ist. All dies muss geleistet werden, damit die Menschen im Südsudan eine Zukunft haben, an der sie arbeiten können, anstelle einer Gegenwart, in der sie kämpfen müssen. Dafür braucht es zunächst jedoch Sicherheit und Stabilität. Hier sind wir an dem Punkt angekommen, wo unsere Zustimmung zum Mandat wichtig wird. Was militärisches Engagement nämlich leisten kann und derzeit dringend leisten muss, ist der Schutz der Bevölkerung, die allein durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Volksgruppen unfreiwillig zu Bürgerkriegsparteien -geworden sind. Diese Menschen haben sicher kein Interesse daran, dass ihr gerade einmal drei Jahre altes -Heimatland verwüstet und auseinandergerissen wird. Für diese Menschen wollen wir gemeinsam mit anderen -Nationen eine Umgebung errichten, in der ein friedvolles Zusammenleben möglich ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nach derzeitigem Stand nicht wahrscheinlich, dass der Konflikt im Südsudan den Rest der Region in Flammen setzt. Die Welt der Menschen im Südsudan selbst steht aber bereits in Flammen. Auch für diese Menschen bitte ich heute um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des Mandats für den deutschen Beitrag zu UNMISS. Ein Sprichwort aus der Region lautet: Die beste Zeit, einen Baum zu pflanzen, war vor 20 Jahren. Die nächstbeste Zeit ist jetzt. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Hitschler. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Frithjof Schmidt für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vereinten Nationen stufen die Lage im Südsudan als eine der vier schwersten humanitären Krisen auf dieser Welt ein. Gemeinsam mit Syrien, dem Irak und der Zentralafrikanischen Republik gilt der Südsudan als sogenannter Level-3-Notfall. Das ist die höchste Alarmstufe der UNO. Insofern ist es unabdingbar, dass die UNO in einer solchen Situation interveniert. Es ist auf der anderen Seite erschreckend, dass der Südsudan schon fast wieder aus dem Fokus der internationalen Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit verschwunden ist. Man nennt das den CNN-Effekt: Wenn CNN nicht mehr berichtet, dann haben wir es mit einer schon fast wieder vergessenen Krise zu tun. Vergegenwärtigen Sie sich einmal die Berichterstattung: Das Thema kommt eigentlich fast nicht mehr vor, obwohl sich seit Dezember ein Bürgerkrieg entwickelt hat. Die Zahlen sind genannt worden: Knapp 1,9 Millionen Menschen wurden vertrieben oder mussten in die Nachbarstaaten flüchten. 3,8 Millionen Menschen sind schon auf humanitäre Hilfe angewiesen. Es fehlt am Nötigsten. Und UNICEF warnt davor, dass in den nächsten Monaten allein 50 000 Kinder vom Hungertod bedroht sind. Deswegen kann man die Arbeit der Vereinten Nationen nicht hoch genug einschätzen. Man muss klar sagen: UNMISS leistet vor Ort einen unverzichtbaren Beitrag zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Verteilung der humanitären Hilfe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ja, es stimmt, auch UNMISS hat große Probleme. Ja, es stimmt, UNMISS schafft es leider nicht, alle Flüchtlinge zu schützen. Gerade auch in Bezug auf die von den Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei vorgebrachten Argumente möchte ich sagen: Fakt ist, mehr als 100 000 Flüchtlinge sind in UNMISS-Camps geflüchtet und haben dort Schutz gefunden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das alleine ist doch Grund genug für eine Fortsetzung dieses Einsatzes. Insofern ist es notwendig, diesem Einsatz zuzustimmen. Ich kann nur sagen: Ein Abzug oder auch nur eine Schwächung von UNMISS hätte grauenvolle Konsequenzen für diese Menschen. Natürlich wird UNMISS alleine keine dauerhafte Lösung erreichen. Klar ist, ein Ende der Krise und das Ende der Gewalt können nur durch einen politischen Prozess, der alle Konfliktparteien mit einbezieht, herbeigeführt werden. Dabei ist auch die Bundesregierung gefordert. Sie muss sich energisch dafür einsetzen, dass der UN-Sicherheitsrat endlich ein Waffenembargo beschließt. Die Europäische Union ist dabei soeben vorangegangen, und die UNO sollte folgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Die Vereinten Nationen beklagen außerdem seit langem einen eklatanten Personalmangel. Wir sollten also prüfen, ob wir die Mandatsobergrenze nicht ausschöpfen können. Auch im Bereich der Polizei sollten wir die Anstrengungen deutlich verstärken. Die UNO ist da in ihren Bitten und Wünschen sehr deutlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Doch vor allem sollte Deutschland noch mehr Verantwortung bei der Bekämpfung der humanitären Krise übernehmen. Die Vereinten Nationen rechnen für dieses Jahr mit Kosten von 1,8 Milliarden US-Dollar für humanitäre Nothilfe im Südsudan. Davon sind gerade einmal 62 Prozent finanziert. Deutschland stellt dafür im Augenblick 16,6 Millionen Euro zur Verfügung. Das ist deutlich weniger als das, was Großbritannien, Japan oder Dänemark zur Verfügung stellen. Ich finde, hier kann und muss unser Land mehr leisten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dafür und auch für das vorliegende Mandat für die Bundeswehr haben Sie unsere politische Unterstützung. Danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frithjof Schmidt. – Letzter Redner in dieser Debatte: Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Frithjof Schmidt ausdrücklich dankbar, nicht nur für seine Anregung hinsichtlich der Obergrenzen, sondern auch dafür, dass hier im Hause ein sehr breiter Konsens für das -UNMISS-Mandat vorhanden ist. Dafür danke ich ausdrücklich Ihrer Fraktion. Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 8. Juli 2011 wurde das UNMISS-Mandat von den Vereinten Nationen beschlossen. Das war einen Tag vor der Unabhängigkeit des Südsudan. Es ist außergewöhnlich selten, dass die Vereinten Nationen ein Mandat vor der Gründung eines Staates ins Leben rufen. Das zeigt auch, wie ernst die Vereinten Nationen diese Staatenbildung nehmen. Ich erinnere mich noch sehr intensiv, mit welcher Ernsthaftigkeit wir – die eine oder andere Kollegin und der eine oder andere Kollegen und ich – im Unterausschuss für Zivile Krisenprävention im Jahr 2011 die Teilung des Sudan verfolgt haben, mit welchen Befürchtungen wir das damals beraten haben. Ich muss sagen: Viele der Befürchtungen sind eingetreten. Dass es uns aber gelungen ist, ein Mandat – auch von deutscher Seite – bereits im Jahr 2011 einzurichten, zeugt von der Handlungsfähigkeit des Bundestages, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich möchte deshalb auch klarstellen, dass das, was hier heute von der Linkspartei vorgestellt wurde, schlichtweg falsch ist. Die Vereinten Nationen verfolgen hier kein militärisches Mandat, sondern Militär leistet Unterstützung im Rahmen eines ganzheitlichen Ansatzes. (Jan van Aken [DIE LINKE]: Das ist doch ein neuer Sicherheitsratsbeschluss, oder?) Ich will das auch von der deutschen Seite her deutlich machen. Die militärische Seite des Mandats kostet uns etwa 1 Million Euro; zumindest wurde das in den Haushaltsberatungen für 2015 veranschlagt. Zeitgleich wenden wir 40 Millionen Euro auf für humanitäre Hilfe, für Nothilfe im Bereich des Welternährungsprogramms und für die Unterstützung von NGOs. Ein Verhältnis von 1 zu 40! Nennen Sie mir einen Einsatz, wo dieses Verhältnis noch einmal erreicht wird! Ich sage, hier wird ausdrücklich deutlich, dass die Bundesrepublik Deutschland den Schwerpunkt ihrer Förderung eindeutig auf die zivile Unterstützung legt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Was leisten wir Deutsche noch? Ich möchte hier die Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung ansprechen, die im Frühjahr dieses Jahres verabschiedet worden sind. Klar, sie sind ein erster Schritt, sie umfassen gerade einmal 17 Seiten, aber sie machen eines deutlich: Wir wollen die Eigenverantwortung Afrikas stärken und auf der anderen Seite gute Regierungsführung unterstützen. Afrika ist ein Kontinent, der ungeheuer im Umbruch ist. Zurzeit leben in Afrika etwas mehr als 1 Milliarde Menschen. Zum Ende dieses Jahrhunderts sollen dort knapp 4 Milliarden Menschen leben, mehr als dreimal so viele wie jetzt. Wie wollen wir denn dafür Sorge leisten, wenn nicht dadurch, dass wir bereits jetzt im Sinne dieser Leitlinien mit der Stärkung der Eigenverantwortung und der Stärkung der jeweiligen Zivilgesellschaften beginnen? Die Afrikapolitischen Leitlinien verweisen ausdrücklich auch auf den Südsudan; aber sie reichen natürlich bei weitem nicht aus. Deshalb rege ich an, dass wir auch im Rahmen des Weißbuch-Prozesses stärker den Fokus darauf richten, mit welchen Partnern wir zusammenarbeiten wollen. Wir müssen in Afrika die Partner – sei es in der Zivilgesellschaft, sei es in den Regierungen –, die unterstützend wirken, stabilisieren. Dazu dienen einerseits die Einsätze; viele Einsätze der Bundeswehr werden in diesen Regionen durchgeführt. Zum anderen gehen auch unterstützende Leistungen, wie wir sie bei Ebola erleben, eindeutig in diese Richtung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie deshalb auch Afrika Teil unserer strategischen Überlegungen im Weißbuch-Prozess werden. Hier geht es auch darum, welche Aufgaben wir beispielsweise im Südsudan erfüllen wollen, wie wir die regionale Einbindung des Südsudans sichern wollen, im Übrigen auch, wie wir die rund 75 Prozent Christen unter den 11 Millionen Einwohnern vor einem zunehmenden Salafismus, zunehmenden Islamismus auch im afrikanischen Raum schützen können. Ein Letztes. Am Sonntag feiern wir den 25. Jahrestag des Mauerfalls. Die Barrieren heute sind außerhalb -Europas. Wir müssen alles dafür tun, dass die Barrieren außerhalb Europas nicht zu einer neuen Mauer werden. (Zurufe von der LINKEN) Nehmen wir Deutsche den 25. Jahrestag des Mauerfalls zum Anlass, auch darüber nachzudenken, wie wir als Europäer aktiv daran mitwirken können, dass Afrika nicht ein Kontinent der Abschottung wird, sondern ein Kontinent der Teilhabe. Das ist Sicherheitspolitik von morgen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter. Ich schließe die sehr intensive und sehr nachdenkliche Aussprache. Da wir heute nicht abstimmen, sondern interfraktionell beschlossen worden ist, die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3005 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorzunehmen, gehe ich davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. – Das ist der Fall. Dann ist damit die Überweisung beschlossen. Bevor ich den Tagesordnungspunkt 13 aufrufe, bitte ich darum, die Plätze zügig zu wechseln. Auch Ihnen wünsche ich noch einen schönen Restabend. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Die kommen wieder!) – Ja, wir sehen uns gleich wieder. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Jürgen Trittin, Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kündigung des bilateralen Atomabkommens mit Brasilien Drucksachen 18/2610, 18/2907 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre, ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich gebe das Wort der ersten Rednerin in der Debatte, Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Nina Scheer (SPD): Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Schon zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode haben wir dieses doch wichtige Thema auf der Tagesordnung: eine Überprüfung der bilateralen Atomabkommen, nun den Fall des deutsch-brasilianischen Abkommens. Ich möchte an dieser Stelle wiederholen, dass ich es wichtig finde, dass die Atomabkommen auf den Prüfstand kommen. Es ist an dieser Stelle aber auch festzustellen, dass es uns nicht gelingen wird, Ihrem Antrag dahin gehend zu entsprechen, dass Deutschland eine Kündigung dieses Vertrages herbeiführt. Dazu möchte ich Folgendes ausführen. Es steht fest, dass wir aus heutiger Sicht das 1975 geschlossene Atomabkommen so nicht mehr gutheißen können. Es stammt aus einer Zeit, in der Deutschland noch nicht den Atomausstieg beschlossen hatte, und ist natürlich in diesem Lichte zu sehen. Konsequenterweise muss natürlich eine Betrachtung des Atomabkommens aus heutiger Sicht zu der Einsicht führen, dass es so nicht aufrechterhalten werden kann bzw. überprüft werden muss. Ich schließe allerdings auch daraus, dass man in der Gemengelage, in der wir stecken, den Blick auf Elemente des Atomabkommens richten sollte, die möglicherweise beinhalten könnten, einen Informationsfluss mit Brasilien aufrechtzuerhalten und damit einen Rahmen zu gewinnen, wodurch dazu beigetragen werden kann, mit den Folgelasten von Atomenergienutzung in Brasilien verantwortlich umzugehen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für ein Unsinn!) Ich weiß nicht, ob dies der Inhalt eines abzuändernden und anzupassenden Atomabkommens sein könnte und ob so etwas Bestand haben könnte. Wenn das aber möglich wäre, dann müssen wir uns dem stellen. Insofern finde ich es wichtig, dass ein regierungsinterner Austausch darüber stattfindet, ob nicht dieses Atomabkommen und auch andere Atomabkommen dahin gehend überarbeitet werden müssen. Wenn man in einem entsprechenden Abstimmungsprozess zu einem Ergebnis gekommen ist, sind daraus dann auch die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Ich plädiere dafür, dass dieser Austausch offen geschieht. Offen heißt auch, dass möglicherweise weitere Kündigungen in Betracht gezogen werden müssen. Wir haben in der Vergangenheit auch schon einmal eine Kündigung vorgenommen. Aber die Wahrheit ist auch, dass unter Rot-Grün nur ein einziges Atomabkommen gekündigt wurde. Wir haben, wenn ich das jetzt richtig zusammenzähle, 183 Atomabkommen. All das ist, wie gesagt, bis heute nicht abschließend geklärt. Insofern hoffe ich, dass wir zu einer Klärung kommen; denn den Status quo aufrechtzuerhalten finde ich wie Sie nicht gut. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Frau Kollegin Scheer. – Nächster Redner in der Debatte: Hubertus Zdebel für Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Atomabkommen zwischen Deutschland und Brasilien wurde vor nunmehr 39 Jahren während der Militärdiktatur in Brasilien unterzeichnet. Alle fünf Jahre verlängert sich der Vertrag automatisch um weitere fünf Jahre, solange ihn keiner der zwei Staaten kündigt. Zum 18. November dieses Jahres, also in einigen Tagen, könnte die Bundesregierung das Abkommen per diplomatischer Note kündigen. Es würde dann zum 18. November nächsten Jahres auslaufen. Das sind die Fakten. Das deutsch-brasilianische Atomabkommen von 1975, das nach wie vor in Kraft ist, sieht sowohl die Gewinnung und Aufbereitung von Uranerzen als auch die Herstellung von Kernreaktoren und die Urananreicherung vor. Es ist also in dem Sinne ein Atomförderungsabkommen. Insgesamt acht Atomkraftwerke, eine Urananreicherungsanlage und eine Wiederaufbereitungsanlage sollten in Brasilien mit deutscher Technik gebaut werden. Dieser Atomvertrag war zu Beginn der 80er-Jahre für rund ein Drittel der brasilianischen Auslandsschulden verantwortlich und führte mithilfe einer deutschen Hermesbürgschaft zum Bau des Atomkraftwerks Angra 2, das weniger als 2 Prozent aller in Brasilien erzeugten Elektrizität produziert, obwohl es 14 Milliarden US-Dollar gekostet hat. Siemens/KWU freute sich damals über den Milliardenauftrag. Es war ein „Bombengeschäft“, wie es damals wörtlich hieß. Stets hatten Kritikerinnen und Kritiker gemahnt, das brasilianische Militär habe versucht, mittels Urananreicherung in den Besitz von Atombomben zu gelangen. Nach dem Übergang zur Demokratie Anfang der 90er-Jahre bestätigte die brasilianische Regierung dies indirekt durch bestimmte Äußerungen. Auch das muss man wissen, weil die Rolle des Militärs in Brasilien immer noch sehr stark ist. Sehr geehrte Damen und Herren, die Linke meint: Atomausstieg in Deutschland und weitere Atomförderung im Ausland passen nicht zusammen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutschland verweist gern auf den Atomausstieg. Bis 2022 sollen alle kommerziellen Reaktoren abgeschaltet werden. Das ist aber leider nur die halbe Wahrheit. Deutschland ist weiter ein Atomstaat. Nach 2022 wird weiter Uran aus aller Welt nach Deutschland geliefert, wie es auch jetzt immer noch der Fall ist. In den Anreicherungsanlagen in Gronau und der Brennelementefabrik in Lingen wird das radioaktive Material weiterverarbeitet und angereichert. Auch aus Brasilien treffen dort nach wie vor Lieferungen ein, nach wie vor. Das geschieht auf Basis des Atomabkommens von 1975, das weiterhin in Kraft ist. Wer ankündigt, sich im eigenen Land aus der Atomkraft verabschieden zu wollen, sollte keine doppelten moralischen Standards anwenden und kann deswegen auch nicht weiter den Ausbau der Atomkraft im Ausland unterstützen. Das ist nicht länger hinnehmbar. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Große Koalition will aber an dem deutsch-brasi-lianischen Abkommen festhalten. Deutschland und deutsche Konzerne sollen im internationalen Atomgeschäft weiter mitmischen können. Das finden wir auch völlig unakzeptabel. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Besonders schwierig und opportunistisch finde ich das Verhalten der SPD an dieser Stelle. Ich habe nicht vergessen, dass sich die SPD in der vergangenen Legislaturperiode und auch schon vorher, als sie in der Opposition war, dafür starkgemacht hat, dass keine Hermesbürgschaften für das geplante Atomkraftwerk Angra 3 in Brasilien erteilt werden – teilweise mit gutem Erfolg. Jetzt, wo Sie wieder mit der CDU/CSU in der Regierung sind, machen Sie wieder alles mit. Das finden wir extrem opportunistisch. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb fordert die Linke ganz klar: Das deutsch-brasilianische Abkommen zur Förderung von Atomenergie muss gekündigt werden, und zwar sofort. Wir werden den Antrag der Grünen unterstützen und entsprechend die Beschlussempfehlungen der Ausschüsse ablehnen. In diesem Sinne herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in der Debatte ist für die CDU/CSU-Fraktion Andreas Lämmel. (Beifall bei der CDU/CSU) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, die Strategie, die Sie mit Ihrem Antrag der Bundesrepublik Deutschland empfehlen, nämlich die Kündigung des Atomvertrages mit Brasilien, ist genauso falsch wie die Entscheidung, sich jetzt mit den Linken in Thüringen in ein Boot zu setzen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt noch der Mauerfall!) Das Boot wird absaufen, und Sie werden Mühe haben, den Untergang zu überleben. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir ein Abkommen mit Thüringen? Radioaktive Bratwürste!) Deswegen werden wir nicht den Fehler machen, aus dem Abkommen mit Brasilien auszusteigen, und zwar aus verschiedenen Gründen. Es gibt das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Landes über seinen Energiemix. Wie Sie sicherlich sehr genau wissen, hat die Atomenergie in Brasilien nur einen verschwindend geringen Anteil an der Stromerzeugung. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben!) Weltweit werden 436 Atomkraftwerke betrieben. 70 weitere sind geplant. Nun stellt sich die Frage, wer diese 70 Atomkraftwerke plant und baut. Deutschland unterstützt jedenfalls nirgendwo in der Welt den Bau von Atomreaktoren. Das bilaterale Abkommen mit Brasilien ist eines von fast 190 Abkommen, die die Bundesrepublik Deutschland mit vielen Ländern in der Welt geschlossen hat. Dieses Abkommen stellt also überhaupt keine Besonderheit dar, sondern es ist eines unter vielen. Die Bundesrepublik Deutschland hat allein mit Russland 16 bilaterale Abkommen geschlossen. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Diese sollten wir auch kündigen!) Meine Damen und Herren von der Linken, Sie haben das Abkommen nicht genau gelesen. Sie haben sich auf Fakten aus den 80er-Jahren gestützt. Wir schreiben aber das Jahr 2014. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, eben!) Wenn Sie das alles nicht so schnell nachvollziehen können, kann ich Ihnen zwar nicht helfen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass sich die Welt seit den 80er-Jahren weitergedreht hat, vielleicht bei Ihnen im Kopf nicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Welche Folgen hätte es, wenn wir dieses Abkommen kündigen würden? Das würde bedeuten, dass die gesamte bilaterale Zusammenarbeit mit Brasilien aufgekündigt würde. Auf dem diplomatischen Parkett würde die Frage gestellt werden, warum wir ein Abkommen mit einem demokratischen Staat kündigen. Brasilien hat – anders als es früher zu Ihrer Zeit in der DDR üblich war – gerade erst seine Präsidentin wiedergewählt. Brasilien ist ein demokratisches Land. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als das Abkommen geschlossen wurde, herrschte dort eine Militärdiktatur!) – Ja, aber das ist schon 30 Jahre her. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sollen wir ein Abkommen aufrechterhalten, das mit der Militärdiktatur geschlossen worden ist? – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie halten immer noch an dem Abkommen mit einer Militärdiktatur fest!) – Das hat doch damit nichts zu tun. Sie können sich ruhig ereifern. Sie können dann, wenn Sie Ihre Rede halten, alles in Ruhe darlegen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen Ihnen nur helfen!) Wir sind jedenfalls der Auffassung, dass uns dieses Abkommen die Möglichkeit bietet, auf Expertenebene Einfluss zu nehmen. Die deutschen Atomkraftwerke sind nach wie vor die sichersten der Welt. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland verfügt über ein enormes Know-how und enorme Erfahrungen auf dem Gebiet der Sicherheit und der Entsorgungstechnologie. Wir wären doch verrückt, wenn wir nicht die Möglichkeiten, die uns dieses Abkommen bietet, nutzen würden, unser Know-how und unsere Erfahrungen den Brasilianern beim Betrieb der Atomkraftwerke bzw. bei der Aufrüstung der sicherheitstechnischen Anlagen zu vermitteln. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen auch noch aufrüsten! Es wird immer schlimmer!) Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie den Koalitionsvertrag mit den Linken in Thüringen kündigen würden, hätten Sie nichts mehr zu sagen; da können Sie reden, wie Sie wollen. Genauso verhält es sich mit dem Abkommen mit Brasilien. Wenn man ein solches Abkommen kündigt, hat man praktisch keinen Partner mehr, mit dem man sprechen kann. Man sollte ruhig einmal einen Blick in das Abkommen werfen. Sie verschweigen, dass aus diesem Abkommen überhaupt keine Verpflichtungen für Deutschland entstehen. Es gibt keine Verpflichtung, den Brasilianern in schwierigen Fällen zu helfen. Es handelt sich vielmehr um ein Abkommen, das gewährleistet, dass man sich auf Expertenebene zu speziellen Fragen, die sich von Zeit zu Zeit stellen, austauscht. Aus diesem Grunde haben sich mehrfach deutsche Mitarbeiter in Brasilien aufgehalten. Sie haben sich zu speziellen Fragen betreffend die Sicherheitstechnik und die Entsorgung ausgetauscht. Den Brasilianern ist doch nicht verborgen geblieben, dass Deutschland aus der Atomenergie aussteigt. Aber deswegen verschwindet das entsprechende Know-how in Deutschland nicht. Wir sind stolz darauf, dass wir in Deutschland über eine solch geballte Ladung an Wissen und technischen Lösungen verfügen. Diese können wir anderen Ländern anbieten, um ihre Reaktoren sicherer zu gestalten. Der Kollege von der Linken hat das bereits erwähnt: Eine Hermesbürgschaft für den Bau neuer Atomanlagen wird Deutschland nicht geben. Das ist das Entscheidende. Wir tragen mit diesem Abkommen doch nicht dazu bei, dass neue Anlagen irgendwo in der Welt errichtet werden, und wir unterstützen nicht aktiv die Errichtung neuer Anlagen, sondern wir versuchen, mit unserem Wissen dazu beizutragen, dass die Welt sicherer wird und dass die Anlagen, die in Betrieb sind, sicherer werden. Deswegen gibt es keinen Grund, dieses Abkommen mit Brasilien zu kündigen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deswegen können wir als CDU/CSU-Fraktion und als Koalition Ihrem Antrag leider nicht zustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das „leider“, glaube ich, stimmt nicht ganz!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Lämmel. – Nächste Rednerin in der Debatte ist Sylvia Kotting-Uhl für Bündnis 90/Die Grünen. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lämmel, das war jetzt schon eine Zumutung, als Sie von „Aufrüstung“ usw. gesprochen haben. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Ich habe von Aufrüstung kein Wort gesagt!) Ich gehe davon aus, dass alle, die hier sitzen, wie das so üblich ist bei uns, diesen Antrag sorgfältig und gründlich gelesen haben. Trotzdem – vielleicht auch in der Hoffnung, dass wir nicht vollkommen aneinander vorbeireden – will ich Ihnen ein Stück daraus zitieren: Begründet wurde der Atomausstieg 2011 von der damaligen Bundesregierung unter der heute noch amtierenden Bundeskanzlerin mit dem Risiko, das der Gesellschaft nach Fukushima nicht mehr zumutbar sei. Wenn diese Begründung ernst gemeint war, dann ergeben sich aus ihr weitere Aufgaben: sich mit allen Möglichkeiten dafür einzusetzen, dass dieses Risiko auch anderen Gesellschaften nicht länger zugemutet wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich zitiere weiter: Selbstverständlich entscheidet jedes Land selbst über seine Energieversorgung und seine Energiequellen. Aber kein Land lebt in einer globalisierten Welt unter einer Glasglocke. Regierungen treffen ihre Entscheidungen nicht unbeeinflusst von Entwicklungen in anderen Ländern, von Beratungen und Absprachen mit diesen. Die deutsche Regierung kann direkt und indirekt Einfluss auf andere Länder nehmen, wenn sie sich nicht nur im eigenen Land, sondern auch international zum nicht zumutbaren Risiko durch Atomkraft bekennt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist die moralisch-ethische Begründung für unsere Forderung zur Aufkündigung dieses Abkommens, zumal eines Abkommens mit einem Land wie Brasilien, dessen beabsichtigter Atomweg nicht wirklich klar ist, da er sich der effektiven Kontrolle durch die IAEA entzieht. Vor der Sommerpause haben wir in der Tat bereits einen Antrag, der Brasilien und Indien zum Gegenstand hatte, behandelt. Es wurde beklagt, dass er zu kurzfristig eingereicht worden sei. Das war aber notwendig, weil das Abkommen mit Indien auslief und es genauso wie jetzt das Abkommen mit Brasilien – wenn es nicht zum 18. November gekündigt wird, dann läuft es auch automatisch fünf Jahre weiter – fünf Jahre weitergelaufen wäre. Die Hauptbegründung für die Ablehnung, wenigstens die der SPD, war damals, es sei keine Zeit für die Beratung gewesen. Dieses Mal war Zeit. Es wäre auch, Frau Scheer, Zeit für einen Abstimmungsprozess innerhalb der Regierung gewesen. Das Argument ist also nicht mehr brauchbar. So verschiebt sich die Argumentation. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hubertus Zdebel [DIE LINKE]) Ich will für die neuen Argumente von Ihnen, Herr Lämmel, den Bericht des Ausschusses zitieren; denn der war etwas klarer als Ihre heutige Argumentation: Gegenstand des Abkommens sei eben nicht nur der Bau oder der Betrieb von Atomreaktoren. Das Abkommen enthalte vielmehr auch Regelungen zu Fragen der Sicherheit, der Entsorgung, des Strahlenschutzes und der Nichtverbreitung von Kernbrennstoffen. … Bei einer Kündigung des Abkommens müsste man diese Aspekte neu verhandeln. Ich sage Ihnen: Ja, verhandeln Sie neu, verhandeln Sie besser, und verhandeln Sie vor allem wirklich Sicherheit! Das jetzige Abkommen, dessen Aufgabe die Förderung der Atomkraft ist, wozu auch der Bau von Angra 3 in einer erdrutschgefährdeten Bucht gehört, spottet, was die Sicherheitsvorstellungen betrifft, jeder Beschreibung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Eine Forderung von unserem damaligen Antrag ist übrigens bereits umgesetzt. Die Hermesbürgschaften werden nicht mehr gegeben. Dazu hieß es in der letzten Debatte, damals noch von Frau Motschmann: Wenn die Hermesbürgschaften zurückgezogen werden, dann können diese Länder ihre Stromversorgung nicht gewährleisten und nicht finanzieren. Es geht doch trotzdem. Lernen Sie noch ein Stück weiter, und stimmen Sie heute unserem Antrag zu. Ich will Ihnen zum Schluss noch eine Begründung geben, warum für unsere internationale Glaubwürdigkeit die Aufkündigung dieses Abkommens so wichtig ist. Ich zitiere dazu aus einem Brief von 65 brasilianischen Organisationen, den alle Fraktionen bekommen haben und der einen Aufruf an die deutsche und an die brasilianische Regierung enthält. Sie schreiben: Aber die von der deutschen Regierung angekündigte Stilllegung umfasst weder die Forschungsreaktoren noch die Urananreicherungsanlagen noch die Brennelementefabriken. Diese Aktivitäten erfolgen auch auf Basis des noch gültigen deutsch-brasilianischen Atomvertrags. Ein Teil des in Deutschland angereicherten Urans kommt aus Brasilien. … Dies bedeutet, dass Deutschland den Atomzyklus intern und im Ausland fortsetzt. Etwas weiter unten heißt es: Es ist nicht hinnehmbar, dass Deutschland für sein eigenes Territorium andere Sicherheitsregeln festlegt und gleichzeitig diese Art der Energieproduktion in anderen Ländern fördert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Kommen Sie bitte zum Schluss. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Verhalten kommt dort als Doppelmoral an. Lassen Sie uns Klarheit schaffen. Lassen Sie uns zeigen, dass wir es auch international ernst meinen mit der Bewertung des Risikos. In Deutschland hat die Zivilgesellschaft den Atomausstieg erreicht. Helfen wir alle der brasilianischen Zivilgesellschaft, die nach britischen Studien zu 67 Prozent den Atomausstieg will, mit der Kündigung dieses antiquierten Abkommens. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzte Rednerin in der Aussprache ist Hiltrud Lotze für die SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Hiltrud Lotze (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schicke einmal vorweg: Ich komme aus dem Wahlkreis Lüchow-Dannenberg – Lüneburg. Da liegt Gorleben, und ich bin die Letzte, die hier eine Lanze für die Atomenergie brechen wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hören erst einmal bis zum Ende Ihrer Rede!) – Genau. Das empfehle ich. Wir haben schon gehört: Die Bundesrepublik Deutschland hat auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie die schon genannten 182 bilateralen Abkommen mit 56 Staaten. Wir werden uns auch für Kündigungen dieser Abkommen einsetzen, wenn sie hinsichtlich unserer deutschen Ausrichtung, aus der Atomenergie auszusteigen und die Energiewende zum Erfolg zu führen, nicht mehr tragbar sind. Bevor wir aber über Kündigungen reden, müssen wir uns die Realitäten etwas genauer anschauen. Dieses Abkommen mit Brasilien wurde 1975 geschlossen. Es ist ein Rahmenabkommen zum Austausch von Informationen und nicht eine Vereinbarung einer konkreten technischen Unterstützung. Einer der Initiatoren des hier vorliegenden Antrags, Jürgen Trittin – er sitzt da drüben –, war von 1998 bis 2005 Umweltminister in der rot-grünen Koalition. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat da viel gemacht, ja!) – Genau. – Schon damals wussten wir alle, dass die Militärdiktatur dort dieses Abkommen mit unterschrieben hat. In der Amtszeit von Jürgen Trittin wurde genau ein solches Abkommen gekündigt. Es war aber eben nicht das mit Brasilien, sondern das mit dem Iran, und das zu Recht, sage ich. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Was? – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das ist ihm aber sehr schwergefallen!) – Bitte, lassen Sie mich ausreden. Ich rede ja weiter. Zuhören! Wir haben doch gerade verabredet, einander bis zum Ende zuzuhören. SPD und Grüne haben damals in der Koalition eine Linie verabredet, die auch heute noch gilt und umgesetzt wird: Die Verträge sollen daraufhin geprüft werden, ob sie mit den eigenen atompolitischen Grundsätzen noch übereinstimmen oder diesen zuwiderlaufen. Diese Überprüfungen finden regelmäßig statt. Im Übrigen haben meine Kollegin Nina Scheer und ich schon vor Wochen entsprechende Fragen gestellt und diese Überprüfung erneut angeregt. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Gibt es Antworten?) Wir steigen also aus, und wir wollen weltweit natürlich auch andere gewinnen, das ebenfalls zu tun. Aber wir können uns in die Souveränität anderer Länder nicht einmischen. (Beifall des Abg. Dr. Christoph Bergner) Wir wollen ja auch nicht, dass andere in unsere Energiewende hineinreden. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist unsere souveräne Entscheidung! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist doch unsere Entscheidung, ob wir die unterstützen!) Wir werden weiterhin Verträge wie den mit Brasilien überprüfen und entweder auf dem Verhandlungswege ändern oder notfalls kündigen. Ich sage „notfalls kündigen“, weil diese Verträge auch jetzt noch ihren Sinn haben: Durch den vereinbarten Informationsaustausch bleiben wir über das auf dem Laufenden, was in Sachen Atomenergie in anderen Ländern passiert. So sind wir sprachfähig, wenn wir über die Sicherheit von AKWs im internationalen Rahmen sprechen wollen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Liebe Kollegin, denken Sie an die Redezeit. Hiltrud Lotze (SPD): Meine Überzeugung ist: Wir sollten besser den Dialog mit anderen Ländern pflegen mit dem Ziel einer Anpassung der bestehenden Verträge an unsere neue energiepolitische Ausrichtung, und das bedeutet: keine Unterstützung bei Neubauten, Schwerpunkt des Informationsaustausches bei den Themen Stilllegung, Rückbau, Entsorgung und Endlagerung. Im Übrigen: Deutschland hat schon einen Vertrag mit Brasilien zu den erneuerbaren Energien abgeschlossen – (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!) unter Sigmar Gabriel als Umweltminister. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Das haben die Grünen auch nie hingekriegt, so einen Vertrag mit Brasilien über erneuerbare Energien!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit. Hiltrud Lotze (SPD): Ich bin schon am Ende. – Wir sind davon überzeugt, dass die Abkommen bei unseren beiden Ministern Sigmar Gabriel und Barbara Hendricks in guten Händen sind. Auf alles andere werden wir aufpassen. Deswegen werden wir dem Antrag heute nicht zustimmen können. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Kündigung des bilateralen Atomabkommens mit Brasilien“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2907, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2610 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD, Ablehnung von Bündnis 90/Die Grünen und von der Linken. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, bitte ich, gegebenenfalls die Plätze zu wechseln. Bitte noch einmal Konzentration! Jetzt ist der erste Redner nicht da, der Kollege Brauksiepe. (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist ein Ding! Wo ist der Staatssekretär?) Mag jemand für ihn reden, oder soll ich einfach umstellen? (Manfred Grund [CDU/CSU]: Frau Bartz beginnt! – Weitere Zurufe) – Moment! Ich habe den Tagesordnungspunkt noch gar nicht aufgerufen. (Zuruf von der SPD: Da kommt der Staatssekretär!) – Herr Kollege Brauksiepe, haben Sie schon mal das Bier von der Wette getestet? (Henning Otte [CDU/CSU]: Frau Präsidentin! Ordnungsruf!) – Das war jetzt freundlich gemeint. Wir haben vorher gewettet; da waren Sie nicht da. – Er hat es nicht getestet. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur (UNAMID) auf Grundlage der Resolution 1769 (2007) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007 und folgender Resolutionen, zuletzt 2173 (2014) vom 27. August 2014 Drucksache 18/3006 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch, sehe auch keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Brauksiepe. – Danke, dass Sie noch rechtzeitig gekommen sind, Herr Brauksiepe! (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Entschuldigung. Ich war mit dem außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion und einer internationalen Delegation im Abgeordnetenrestaurant – nachweislich mit Wasser; das steht noch auf den Tischen. (Heiterkeit – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das wird der Vizepräsidentin nicht passieren!) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wendet sich heute an Sie mit der Bitte, der Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur zuzustimmen. UNAMID, die gemeinsam von den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union geführte Friedensmission in Darfur, zählt zu einer der weltgrößten Friedenstruppen und hat nach wie vor eine entscheidende Funktion in der Region. Ihr Auftrag umfasst die Umsetzung des Darfur-Friedensabkommens, die Unterstützung des Friedensprozesses, den Schutz von Zivilisten und die Sicherung des humanitären Zugangs. Das ist weiß Gott kein einfacher Auftrag. Die Sicherheitslage in Darfur ist trotz der erzielten Fortschritte von UNAMID weiterhin angespannt und instabil. Dies ist besorgniserregend. Die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Rebellengruppen halten auch im elften Jahr des Konflikts an. Die immer wieder aufflammenden Kämpfe in der Region führen zu Massenflucht, Zehntausenden neuer Binnenflüchtlinge und Flüchtlingsströmen in die Nachbarländer. All dies – man muss das wiederholen, was wir auch schon beim Südsudan diskutiert haben – gipfelt in einer humanitären Tragödie. Die Zahl der Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, ist 2014 wieder deutlich angestiegen. Waren Ende 2013 noch 3,5 Millionen Menschen in Darfur auf humanitäre Hilfe angewiesen, so ist die Zahl mittlerweile auf fast 3,9 Millionen angewachsen. Solange diese humanitäre Tragödie andauert und die Sicherheitslage so instabil ist, dass Vertriebene auf Flüchtlingslager und humanitäre Hilfe angewiesen sind, bedarf es weiterhin des Schutzes durch UNAMID. Ich will das ausdrücklich betonen: Die zivile Komponente leistet hervorragende Arbeit. Aber es hängt eben das Zivile mit dem militärischen Schutz zusammen. Ich möchte an der Stelle das, was der Kollege Schmidt in der Debatte zu UNMISS gesagt hat, aufgreifen: Alleine die Tatsache, dass wir denjenigen Schutz bieten, die in die Flüchtlingslager kommen, rechtfertigt die VN-Missionen und rechtfertigt auch, dass wir uns daran beteiligen, und zwar auch mit militärischem Schutz. Es ist zynisch, etwas anderes zu behaupten, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Schon die bloße Gegenwart einer so großen internationalen Präsenz hat – bei allen Problemen, die es gibt – eine mäßigende Wirkung auf die Konfliktparteien. UNAMID schafft den notwendigen Rahmen, innerhalb dessen sich die politischen Bemühungen um ein Ende der Krise in Darfur weiterentwickeln können – und das wird noch ein langer Weg sein. Mit der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 27. August wurde das UNAMID-Mandat bis zum 30. Juni 2015 verlängert. Seit Beginn der Mission ist Deutschland als einer der wenigen westlichen Truppensteller an der Mission beteiligt; es hat sich mit Einzelpersonal in den Führungsstäben und mit Verbindungsoffizieren an dieser Mission beteiligt. Mit unseren derzeit zehn deutschen Soldatinnen und Soldaten im Hauptquartier El Fasher und den fünf Polizeivollzugsbeamten unterstützen wir die Auftragsdurchführung der Mission. Das ist im Verhältnis zur Gesamtzahl an Personal in der Mission sicherlich nur ein kleiner Beitrag, aber er erfolgt an zentraler Stelle und setzt ein wichtiges Zeichen der Unterstützung der Mission. Die eingesetzten deutschen Soldatinnen und Soldaten arbeiten unter den schwierigsten Umständen. Oft sind sie auf sich alleine gestellt, und sie arbeiten – ähnlich wie im Südsudan; diese Situation ist bei UNMISS und UNAMID ähnlich – häufig abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit. Aber – und auch das gilt für beide Missionen, liebe Kolleginnen und Kollegen – unsere Soldatinnen und Soldaten – und ich schließe die Polizistinnen und Polizisten an der Stelle ausdrücklich mit ein – verrichten ihren Auftrag unter schwierigen Umständen hoch professionell und vorbildlich. Dafür können wir ihnen dankbar sein, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will auch die schon vom Kollegen Kiesewetter in der vorangegangenen Debatte erwähnten afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung in diesem Zusammenhang ausdrücklich erwähnen: Das, was wir im Rahmen von UNAMID tun, liegt genau auf der Linie dieser afrikapolitischen Leitlinien. Wir werden deshalb unsere Bereitschaft zur Hilfe und unser Engagement in Afrika weiterhin beibehalten. Bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten können demnach weiterhin bei dieser wichtigen VN-Mission eingesetzt werden. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, das Hohe Haus – auch den jetzt eingetroffenen Kollegen Mißfelder –, (Heiterkeit) herzlich um Unterstützung für dieses Mandat. Wir haben einen schwierigen Weg erfolgreich beschritten und sollten ihn gemeinsam weitergehen – im Interesse der Menschen, die auch in Darfur unsere Unterstützung, unsere Hilfe und eine Zuflucht brauchen. Herzlichen Dank, Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Brauksiepe. – Die nächste Rednerin in der Debatte ist Christine Buchholz für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Christine Buchholz (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit sieben Jahren beteiligt sich die Bundeswehr nun an der Militärmission UNAMID in Darfur. Selbst die Bundesregierung muss zugeben: Die Ergebnisse sind mehr als ernüchternd. Die Kriminalität hat massiv zugenommen. Der bewaffnete Konflikt hat eine landesweite Dimension bekommen. 2014 sind in Darfur erneut fast eine halbe Million Menschen zu Flüchtlingen geworden. Der Antrag der Bundesregierung liest sich wie ein Dokument des Scheiterns. (Zuruf von der CDU/CSU: Na!) Trotzdem fordern Sie eine Verlängerung der deutschen Beteiligung. Eine Begründung bleiben Sie schuldig. (Martin Patzelt [CDU/CSU]: Sie müssen den Antrag lesen!) Sie behaupten einfach – Sie eben auch, Herr Brauksiepe –, der Einsatz sei „unverzichtbar“ zur Stabilisierung der Sicherheitslage. Die frühere Sprecherin von UNAMID, Aicha Elbasri, ist da ehrlicher. Sie übergab Tausende interne UNAMID-Dokumente dem amerikanischen Magazin Foreign Policy. In der Bilanz stellt sie der Mission ein vernichtendes Urteil aus. Frau Elbasri sagt – ich zitiere –: Die Präsenz von UNAMID Peacekeepern hat weder die Regierung noch die Rebellen von Angriffen gegen Zivilisten abgeschreckt. Eines ihrer vielen Beispiele ist die Entführung, Ausraubung und Misshandlung einer vielköpfigen Delegation von Flüchtlingen am 24. März 2013. Sie waren in drei Bussen unter UNAMID-Schutz auf dem Weg zu einer Friedenskonferenz. Opfer und Fahrer gaben zu Protokoll, dass UNAMID-Soldaten die Busse bereitwillig an eine bewaffnete Bande übergaben. Einige hätten den Entführern sogar Zustimmung signalisiert. Aber Frau Elbasris Dokumente zeigen auch, dass UNAMID Angriffe durch die Truppen der Regierung in Khartoum systematisch herunterspielt, und es ist auch so, wie mein Kollege Jan van Aken eben in Bezug auf UNMISS argumentiert hat, dass ihr Wohl und Wehe von der sudanesischen Regierung abhängig ist. Während die frühere Sprecherin von UNAMID also schwere Vorwürfe gegen die eigene Mission erhebt, geht die Bundesregierung schweigend darüber hinweg. Das kann doch wohl nicht wahr sein. (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Ist ja auch nicht wahr!) Es gibt noch ein weiteres Argument: Das Geld, das für diese Mission – die größte und teuerste Mission der UN – ausgegeben wird, fehlt an anderer Stelle. UNAMID kostet jedes Jahr 1,3 Milliarden US-Dollar. Der deutsche Anteil daran beträgt nicht nur eine halbe Million Euro an Zusatzausgaben, die Sie im Antrag nennen, sondern insgesamt rund 91 Millionen US-Dollar. Hochgerechnet hat die Bundesrepublik Deutschland also für diesen Militäreinsatz bereits rund eine halbe Milliarde Dollar ausgegeben. Es wäre besser, das Geld in sinnvollen Hilfs- und Entwicklungsprojekten anzulegen, um endlich die Ursachen für Flucht und Gewalt in Darfur zu bekämpfen. (Beifall bei der LINKEN) Sieben Jahre UNAMID-Militäreinsatz haben gezeigt: Weder die Mission noch die deutsche Beteiligung daran tragen etwas zur Lösung der Konflikte in Darfur bei. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Bundeswehreinsätze wie diese Beteiligung an UNAMID längst zum Selbstzweck geworden sind. Die Linke findet sich nicht damit ab, dass das zur Normalität werden soll. Wir werden der Verlängerung dieses Mandates nicht zustimmen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Frau Kollegin Buchholz. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Karl-Heinz Brunner aus Illertissen für die SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Egal ob in Neu-Ulm, Berlin oder al-Faschir, egal ob, Frau Präsidentin, in Illertissen, Babenhausen oder Nyala, eines vereint die Menschen überall: Sie wollen und brauchen eine Perspektive. Sie wollen wissen, dass das, was sie heute tun, auch morgen noch Bestand hat, und sie wollen, dass es ihren Kindern und ihrer Familie gut geht. Sie wollen ihre Wünsche, Meinungen, Ideen und Pläne offen und ohne Druck leben. Wenn wir heute allerdings den Blick auf Darfur werfen, blicken wir dabei – so möchte ich sagen – fast in ein dunkles Loch. Und doch ist dieses Land unserem Blick fast entschwunden. Die Gier nach Sensation lenkt den Blick auf Syrien, den Irak, die Ukraine, die Angst um Ebola den Blick weg vom täglichen Leid, von der Perspektivlosigkeit und von Angst und Schrecken in Darfur. Und doch: Die humanitäre Lage in der Region ist unverändert dramatisch. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen 2003 sind schätzungsweise 300 000 Menschen ums Leben gekommen. Die UNO vermutet über 2,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Der Sudan ist das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen schlechthin, ein Land, in dem seit 1999 wachsende Einnahmen aus der Erdölförderung wirtschaftliche und machtpolitische Konflikte entfachen. Man könnte fast sagen: Nicht Armut, sondern Gier ist die Triebfeder, die das Land auseinanderdriften lässt, ein Land, in dem ethnische Konflikte und politische Auseinandersetzungen stets angeheizt werden und in dem durch selbsternannte Befreiungsarmeen, zahlreiche Splittergruppen und nicht zuletzt den Staat Menschen instrumentalisiert werden. Es wurde sprichwörtlich mehr Öl ins Feuer gegossen, als Löschmittel zur Verfügung stehen könnten. Darfur ist ein Land, in dem die regierungsnahen Milizen Menschenrechtsverletzungen begehen, Frauen und Mädchen vergewaltigen, ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachen und Menschen aus ihrer angestammten Heimat vertreiben. Ich könnte die Aufzählung noch ewig weiterführen mit dem vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verurteilten Präsidenten, mit der herrschenden Kriminalisierung, mit Straftaten gegen sexuelle Minderheiten und Homosexuelle, mit Entführungen und Gewalt, der sich auch unsere westlichen Helfer und NGOs ausgesetzt sehen. Fest aber steht: Der Sudan ist ein Land, das vor sich selbst flüchtet und keine Perspektiven und schon gar nicht die Sicherheit schafft, die Menschen benötigen. Dies ist nicht Schwarzmalerei, sondern bittere Realität. Das konnte ich vor wenigen Tagen von Hilde Johnson – bis Juli Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für den Südsudan – persönlich erfahren. Erlauben Sie mir eine Bemerkung am Rande: Wenn der Sudan es mit über 2 Millionen Binnenflüchtlingen zu tun hat, dann sollten wir angesichts der aktuellen Flüchtlingszahlen in Europa und Deutschland genug Mut haben, einigen Tausend Menschen den Neuanfang zu ermöglichen, die vor dem Schrecken und Morden des IS geflohen sind. Das wäre auch Verantwortung. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kolleginnen und Kollegen, trotz vielfältiger Bemühungen konnten die Kämpfe in Darfur nicht beendet werden, geschweige denn ein dauerhafter Frieden etabliert werden. Absprachen werden, soweit sie überhaupt getroffen werden konnten, von allen Seiten gebrochen. Manchmal übermannt einen in dieser Situation der Wunsch, wie bei einem abgestürzten Rechner den Reset-Knopf zu suchen und alles wieder auf Neuanfang, auf Start zu stellen, in der Hoffnung, beim zweiten Anlauf wird es besser. Das geht jedoch nicht; so funktioniert die Welt nicht. Eine politische Lösung ist daher nach meiner Auffassung unabdingbar. Und die internationale Gemeinschaft muss vor Ort sein. Unsere Unterstützung ist unabdingbar. Hier müssen wir Verantwortung übernehmen. Deswegen haben wir 2007 deutsche Soldatinnen und Soldaten sowie Polizistinnen und Polizisten dorthin geschickt. Sie sind Teil der vom Sicherheitsrat entsandten Friedenstruppe UNAMID. Sie sollen Zivilisten schützen, humanitäre Hilfe erleichtern, humanitäre Helfer sichern und die Friedensverhandlungen unterstützen. Keine leichte Aufgabe. Aber sie übernehmen Führungsaufgaben, beraten, geben technische Unterstützung und bilden die truppenstellenden Nationen aus. Das Ganze, meine Damen und Herren, ist jedoch kein Selbstläufer. Unsere Leute versuchen, stabile Strukturen, Sicherheit zu schaffen. Das zarte Pflänzchen eines gemeinsamen nationalen Dialogs gibt es bereits. Kann es wachsen? Die Umsetzung des Doha-Friedensabkommens von 2011 geht langsam voran. Ob dies Anlass zur Hoffnung gibt, sei nach all den Rückschlägen dahingestellt. Bei einem bin ich mir aber sicher: Wenn ein möglicher Friedensprozess auch nur annähernd in Gang kommen soll, dann muss die humanitäre Notlage in Darfur dringend gelöst werden. UNAMID läuft übrigens nicht immer so rund, wie wir es uns wünschen; das haben die Vorredner bereits angesprochen. Die Kommunikation ist nicht gerade ideal. Das, was UNAMID vor Ort leisten kann, ist verbesserungsbedürftig. Aber sicherlich wird niemand erwarten, dass UNAMID und Deutschland alle Probleme dieser Welt lösen. Dennoch sollten wir den Mut haben, zu sagen, was wir eigentlich wollen: Ganz konkret Verantwortung übernehmen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das -UNAMID-Mandat ist konkrete deutsche Verantwortung, ein Versuch zur Konfliktlösung im Sudan. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen zu dieser Verantwortung. Lassen Sie mich am Ende meiner Ausführungen den deutschen Soldatinnen und Soldaten, den Polizisten, den Militärbeobachtern und den Stabsoffizieren ein herzliches Dankeschön für ihren Dienst sagen. Genauso möchte ich allen Hilfsorganisationen, den vielen ungenannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die im Sudan unter schwierigsten Bedingungen ihre Aufgabe erfüllen, meinen Respekt und Dank aussprechen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die SPD stimmt der Mandatsverlängerung zu. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Brunner. – Nächste Rednerin in der Debatte: Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen. Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit über zehn Jahren herrscht in Darfur im Sudan ein grausamer Bürgerkrieg. Um die Gewalt einzudämmen, haben die Afrikanische Union und die Vereinten Nationen 2007 eine Friedensmission auf den Weg gebracht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit sieben Jahren debattieren wir dieses Mandat. Ich finde, wir sollten es nicht als reine Routineberatung betrachten, sondern wir haben dabei auch die Verantwortung, das schreckliche Schicksal vieler Menschen im Sudan wieder in Erinnerung und in den Fokus der Öffentlichkeit zu bringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Eskalation von Gewalt findet nicht nur in Darfur statt, sondern mittlerweile auch in weiten Teilen des Landes, im Bundesstaat Blauer Nil oder in Südkordofan. In diesem Bürgerkrieg sind sowohl die vielen bewaffneten Rebellenorganisationen, aber auch die sudanesischen Truppen für das Leid und die Verbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung verantwortlich. Meine Damen und Herren, über 5 Millionen Menschen sind im Sudan von Hunger bedroht. 2,4 Millionen Menschen sind ihrer Heimat beraubt, und seit Anfang dieses Jahres sind aufgrund aufflammender Gewalt zusätzlich 400 000 auf der Flucht. Am Anfang dieses Monats gab es die schreckliche Meldung, dass 200 Frauen und Mädchen Opfer einer Massenvergewaltigung im Norden von Darfur geworden sein sollen. Dieses grauenhafte Verbrechen muss rückhaltlos aufgeklärt werden und die Täter zur Verantwortung gezogen und bestraft werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Dabei ist es völlig inakzeptabel, dass das sudanesische Militär UNAMID daran hindert, diesen Vorwürfen nachzugehen. Meine Damen und Herren, ich finde diese Zahlen schwer vorstellbar; ich finde sie schockierend, und ich finde, sie dürfen uns auch nicht kaltlassen. Sie zeigen, dass sich die Sicherheitslage im Sudan wieder verschlechtert hat. Die Vereinten Nationen haben diese Mission bei der Mandatierung im Sicherheitsrat vom Auftrag her angepasst. Sie haben auch Lehren aus den letzten Jahren gezogen. Das Zentrum dieses Mandates bilden nun drei Aufgaben: An allererster Stelle steht der Schutz der Zivilbevölkerung, aber eben auch die Vermittlung zwischen den Konfliktparteien sowohl auf nationaler als auch auf kommunaler Ebene. Und es ist klar: Dieser Konflikt und dieser Krieg können nur ein Ende finden, wenn es eine politische Lösung gibt. Dazu müssen alle gesellschaftlichen Gruppen in die Verhandlungen über eine gemeinsame Zukunft des Landes eingebunden werden. Die dritte Aufgabe von UNAMID ist aber auch wichtig: der Schutz von humanitären Helferinnen und Helfern; denn auch sie werden mittlerweile immer häufiger Opfer von Gewalt durch die Konfliktparteien und sind von Plünderungen und Übergriffen bedroht. Meine Damen und Herren, UNAMID kann sicherlich nicht alle Probleme lösen; aber die Mission ist ein wichtiger Beitrag für mehr Stabilität und Sicherheit im Sudan. Ich finde schon auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns die ehrliche Frage stellen müssen, ob diese Mission eigentlich gut genug ausgestattet ist, um diese Ziele zu erfüllen, und ob das deutsche Engagement der dramatischen Situation angemessen ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]) Die Lage hat sich verändert, die Vereinten Nationen haben das Mandat angepasst – nur eines bleibt gleich: der deutsche Beitrag. Und der ist, freundlich formuliert, mehr als bescheiden. Die personale Obergrenze, die in diesem Mandat festgeschrieben ist, beträgt 50 Bundeswehrangehörige; derzeit sind elf vor Ort. Die Zahl der Polizeikräfte, die nicht Teil dieses Mandates sind, ist noch geringer: Es sind fünf Polizistinnen und Polizisten. Diejenigen, die diese Mission erlebt haben, sagen uns immer wieder, dass gerade mehr Polizistinnen und Polizisten gebraucht werden, und zwar dringend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]) Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass das Auswärtige Amt die finanzielle Unterstützung für die Ausbildung afrikanischer Polizeiangehöriger im letzten Jahr um mehr als die Hälfte gekürzt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist angesichts der Lage das völlig falsche Signal. Wir Grüne fordern Sie auf: Nehmen Sie diese Kürzung zurück! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, auch ich möchte all jenen danken, die sich mit oder ohne Uniform im Rahmen von UNAMID oder außerhalb für eine bessere Zukunft im Sudan einsetzen. Dass sie das auch unter persönlichen Entbehrungen und großen Risiken tun, zeigt nicht zuletzt der tragische Tod von drei UNAMID-Angehörigen im letzten Monat, die Übergriffen von Rebellen zum Opfer gefallen sind. Ihnen und den Menschen im Sudan, die bereits seit Jahren unermessliches Leid erfahren und trotzdem Glauben und Hoffnung nicht verlieren, sind es die internationale Gemeinschaft und auch Deutschland als Mitgliedstaat der Vereinten Nationen schuldig, sich noch stärker zu engagieren. Denn es wird bei weitem nicht alles getan, was notwendig wäre; es wird bei weitem nicht alles getan, was getan werden könnte – auch nicht das, was getan werden müsste. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Michael Brand [CDU/CSU] und Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Letzte Rednerin in dieser Debatte: Julia Bartz für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]) Julia Bartz (CDU/CSU): 1992, ein kleines schwarzafrikanisches Dorf in den Nuba-Bergen im Sudan. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Man begrüßt normalerweise zuerst die Präsidentin!) – Kommt. – Spätabends spielt die zwölfjährige Mende Nazer gerade mit ihrer Katze. Plötzlich hört sie Schreie:“ Es brennt! Die Araber kommen!“ Sie rennt davon, wird aber von den Milizen aufgegriffen. Gemeinsam mit anderen Mädchen wird Mende verschleppt und an einen Sklavenhändler verkauft. Nach Jahren der Ausbeutung als Sklavin gelingt ihr schließlich die Flucht in die Freiheit. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mende Nazer ist heute als Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin bekannt. Ähnlich wie ihr erging und ergeht es heute noch immer vielen Mädchen und jungen Frauen in Darfur. Trotz umfangreicher Bemühungen der internationalen Gemeinschaft ist es noch nicht gelungen, den Konflikt in der Region beizulegen und einen dauerhaften, nachhaltigen Frieden zu sichern. Die Sicherheitslage in Darfur ist weiterhin äußerst angespannt. Die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem sudanesischen Regime, Rebellengruppen und den verschiedenen Ethnien dauern an. Zudem ist die Kriminalität hoch. Entsprechend ist auch die humanitäre Lage prekär. In den vergangenen Monaten sind weitere 400 000 Menschen vor der Gewalt geflohen. Derzeit befinden sich insgesamt 2,4 Millionen Binnenflüchtlinge in Darfur. Deren Versorgung ist unter diesen Umständen nur beschränkt möglich. Denn sowohl die Zivilbevölkerung als auch die über 5 000 humanitären Helferinnen und Helfer, denen ich an dieser Stelle ganz herzlich für ihren Einsatz danken möchte, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden immer wieder Ziel gewaltsamer Übergriffe und Plünderungen. Seit 2003 sind in Darfur über 300 000 Menschen getötet worden. Deshalb hat die internationale Gemeinschaft beschlossen, in Darfur aktiv zu werden. Seit 2007 stellen die Vereinten Nationalen und die Afrikanische Union eine Friedenstruppe für die Region. Heute beraten wir über die Verlängerung des Mandats mit der Obergrenze von 50 Soldatinnen und Soldaten, mit denen wir uns weiterhin an der UNAMID-Mission beteiligen wollen. Derzeit sind elf deutsche Soldatinnen und Soldaten sowie fünf Polizisten vor Ort. Angesichts der Gesamtstärke der UN-Mission von circa 16 000 Mann erscheint das möglicherweise gering. Die deutsche Beteiligung ist aber wichtig, um deutlich zu machen: Uns sind alle Länder in der Region wichtig. Für uns sind nicht nur womöglich direkt ableitbare Interessen ausschlaggebend. Somit können auch maximal 50 Soldatinnen und Soldaten einen wichtigen Beitrag leisten. Denn das Ziel dieser Friedensmission ist es, die Zivilbevölkerung in Darfur zu schützen. Ein weiteres Ziel ist es, die Sicherheit des humanitären Personals sicherzustellen. Denn nur wenn gewährleistet werden kann, dass entwicklungs-politische und humanitäre Helferinnen und Helfer vor Ort sicher wirken können, kann es uns gelingen, im Verbund von militärischen, diplomatischen und polizeilichen Instrumenten einen nachhaltigen Erfolg in einer Krisenregion zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) So setzt zum Beispiel das Auswärtige Amt die Ausbildung afrikanischer Polizisten für Einsätze bei -UNAMID fort. Auf der Wiederaufbaukonferenz in Doha hat Deutschland bereits 16 Millionen Euro für den Wiederaufbau Darfurs zugesichert. Die Mission ist also eingebettet in einen ressortübergreifenden und vernetzten Ansatz. Zudem haben wir als Handelsnation ein grundlegendes Interesse an stabilen Handelspartnern und freien Handelswegen auch und besonders in und um Afrika. Aus all diesen Gründen ist unsere Hilfe für die Afrikanische Union und die Region im Rahmen der UNAMID-Friedensmission wichtig. Schicksale wie das von Mende Nazer – ich denke, darüber sind wir uns alle in diesem Haus einig – sollen sich nicht wiederholen. Dies ist nur möglich, wenn in der Region ein dauerhafter und nachhaltiger Frieden gewährleistet ist, auch wenn der Weg dorthin noch lang sein wird. Irgendwann, meine Damen und Herren, will auch Mende Nazer wieder zurück in den Sudan. Eine Rückkehr sei erst, sagt sie, möglich, wenn in dem Land Sicherheit herrscht. Genau dieses Ziel, Sicherheit für die Menschen im Sudan, verfolgen wir mit dieser Friedensmission. Deshalb bitte ich Sie, dem Antrag zuzustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin Bartz. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3006 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für mehr Kontinuität der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzgesetz 2014) Drucksache 18/3042 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Finanzausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO (Unruhe) – Ich sehe, dass einige Abgeordnete gehen. Wir haben aber noch reichlich Abstimmungen; das will ich nur sagen. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hammelsprung!) Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind einverstanden. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3042 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsordnung vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings Drucksache 18/1774 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Drucksache 18/3066 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3066, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/1774 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umsatzsteuerbetrug bekämpfen Drucksache 18/1968 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/1968 an den Finanzausschuss vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes Drucksache 18/2707 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Drucksache 18/3064 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3064, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2707 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und den Linken und bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und den Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. André Hahn, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen Drucksache 18/2308 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Niemand ist dagegen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/2308 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes Drucksache 18/2602 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/3069 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3069, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/2602 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD und bei Enthaltung der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD und Enthaltung der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 Drucksache 18/2655 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/3071 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3071, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2655 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Linken. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Durchführung des Haager Über-einkommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen Drucksache 18/2846 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/3068 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Sigrid Hupach, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversicherung ermöglichen Drucksachen 18/2786, 18/3067 Der Gesetzentwurf zur Durchführung des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen in der Ausschussfassung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz beinhaltet Änderungen des Rechtspflegergesetzes, des Gerichts- und Notarkostengesetzes, des Altersteilzeitgesetzes und des Dritten Buches Sozialgesetzbuch. Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 23 a. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Durchführung des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3068, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2846 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit Zustimmung von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit Zustimmung von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 23 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Kurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversicherung ermöglichen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3067, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2786 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion, bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes Drucksache 18/2141 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) Drucksache 18/3078 Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3078, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2141 anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3089 vor, über den wir zuerst abstimmen müssen. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungs-antrag ist abgelehnt bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen, Ablehnung von CDU/CSU- und SPD-Fraktion und Enthaltung der Linken. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen: Zustimmung CDU/CSU- und SPD-Fraktion, Gegenstimmen Linke, Enthaltung Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen: Zustimmung von CDU/CSU- und SPD-Fraktion, Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die -Europäische Schutzanordnung, zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und zur Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Drucksache 18/2955 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind einverstanden. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/2955 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Nein, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen Drucksache 18/2956 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/2956 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Nein, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften Drucksache 18/3017 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3017 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Nein. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem -Europäischen Übereinkommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern (revidiert) Drucksache 18/2654 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/2654 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch dazu gibt es, wie ich sehe, keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. (Beifall) Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag, den 7. November, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Bitte denken Sie daran, möglichst frühzeitig von zu Hause loszufahren, damit Sie wirklich um 9 Uhr da sind. Schönen Abend! (Schluss: 21.34 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 6.11.2014 Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 6.11.2014 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 6.11.2014 Gohlke, Nicole DIE LINKE 6.11.2014 Helfrich, Mark CDU/CSU 6.11.2014 Hellmuth, Jörg CDU/CSU 6.11.2014 Henn, Heidtrud SPD 6.11.2014 Irlstorfer, Erich CDU/CSU 6.11.2014 Kühn-Mengel, Helga SPD 6.11.2014 Kunert, Katrin DIE LINKE 6.11.2014 Dr. Launert, Silke CDU/CSU 6.11.2014 Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 6.11.2014 Dr. Neu, Alexander S. DIE LINKE 6.11.2014 Pflugradt, Jeannine SPD 6.11.2014 Poß, Joachim SPD 6.11.2014 Dr. Rosemann, Martin SPD 6.11.2014 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 6.11.2014 Schön (St. Wedel), Nadine CDU/CSU 6.11.2014 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6.11.2014 Veit, Rüdiger SPD 6.11.2014 Wagner, Doris BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6.11.2014 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6.11.2014 Werner, Katrin DIE LINKE 6.11.2014 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Stephan Harbarth, Dr. Heribert Hirte und Dr. Hendrik Hoppenstedt (alle CDU/CSU) zu den Abstimmungen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) Mit den Regelungen zur Bankenunion wird eine Haftungskaskade eingeführt, die dazu führt, dass für die Schieflage von systemrelevanten Banken in erster Linie die Gesellschafter, dann die Gläubiger, der Bankenrettungsfonds und schließlich der Sitzstaat einzustehen haben. Erst im unwahrscheinlichen Fall, dass alle diese Mittel nicht reichen sollten, kommt die neue Möglichkeit einer direkten Bankenrekapitalisierung durch den ESM in Betracht. Diese Stufenfolge ist richtig, weil sie die Gefahr einer Haftung des deutschen Steuerzahlers deutlich reduziert. Auch wenn – nach den bisherigen Erfahrungen – eine direkte Bankenrekapitalisierung in der Zukunft äußerst unwahrscheinlich ist, ist kritisch zu beobachten, ob deren Voraussetzungen mit Blick auf die Mithaftung des deutschen Steuerzahlers im Einzelfall tatsächlich geprüft werden können. Es ist insoweit richtig und wichtig, dass der deutsche Vertreter im ESM-Gouverneursrat etwaige Entscheidungen zu einer direkten Bankenrekapitalisierung in jedem Einzelfall von einer Zustimmung des Deutschen Bundestages abhängig machen muss und der Deutsche Bundestag mit Blick auf das Erfordernis der Einstimmigkeit von Entscheidungen des Gouverneursrates damit der Sache nach ein Vetorecht hat. Diese Zustimmung des deutschen Vertreters im Gouverneursrat und damit auch die des Deutschen Bundestages hat sich im Wesentlichen auf zwei Fragen zu beziehen: Zum einen ist zu prüfen, ob der Sitzstaat tatsächlich nicht mehr zu der notwendigen Bankenrekapitalisierung in der Lage ist, zum anderen, ob das zu rettende Kreditinstitut tatsächlich noch sanierungsfähig ist. Während der Deutsche Bundestag hinsichtlich der ersten Frage noch zu einer eigenständigen Entscheidung in der Lage sein dürfte, ist dies bei der zweiten Frage schwieriger: Denn ihre Beurteilung kann nur in Kenntnis ausführlicher Sanierungsfähigkeitsgutachten erfolgen. Werden diese tatsächlich dem gesamten Plenum vorgelegt, dürfte das Kreditinstitut wegen des Bekanntwerdens unternehmensinterner Daten gar nicht mehr zu retten sein. Werden sie aber aus Geheimhaltungsgründen nicht offengelegt, läuft das Beteiligungsrecht des Deutschen Bundestages leer. Angesichts einer möglichen Gesamthaftungssumme von 500 Milliarden Euro ist diese Frage durchaus relevant. Unsere Zustimmung zu dem Gesetz verbinden wir vor dem Hintergrund dieses Konflikts mit der Erwartung, dass es im Falle einer notwendigen Beteiligung des Deutschen Bundestages zu einem Ausgleich dieser gegenläufigen Interessen kommt. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) zu den Abstimmungen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) Ich stimme gegen das Gesetzespaket, mit dem die direkte Rekapitalisierung von Finanzinstituten aus dem ESM ermöglicht werden soll. Die vergangenen fünf Jahre Euro-Krise sollten uns alle misstrauisch machen, wenn Finanzhilfen als Ultima Ratio im Raum stehen. Stets versucht man uns weiszumachen, dass damit Risiken für den deutschen Steuerzahler reduziert werden, dabei setzen wir den Steuerzahler immer größeren und qualitativ neuen Risiken aus. Wir unterlaufen mit Zahlungen an Banken, für die eigentlich der jeweilige Sitzstaat verantwortlich ist, auch zugleich die Maastrichtkriterien. Viele haben es vielleicht schon vergessen und verdrängt, aber die 60-Prozent-Grenze Gesamtverschuldung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt ist immer noch gültig. Zahlungen des ESM an Banken wirken sich perfiderweise nicht erhöhend auf den Schuldenstand des Sitzlandes aus und schaffen somit zusätzliche Verschuldungsmöglichkeiten, die nach aller Erfahrung lustvoll ausgeschöpft werden. Bisher war eine Rekapitalisierung von Finanzinstituten innerhalb der Euro-Zone nur indirekt möglich, das heißt, die Kredite wurden an den betroffenen Staat gegeben, der diese dann an die jeweiligen angeschlagenen Banken weiterleitete. Banken können – zumindest in der Theorie – pleitegehen; wer würde dann die Kredite zurückzahlen? Banken kommen und gehen, die Staaten bleiben. Ein von mir in Auftrag gegebenes Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes hat noch einmal bestätigt, dass im Falle der Abwicklung eines mit direkten -Finanzhilfen aus dem ESM unterstützten Finanzinstituts nicht der Sitzstaat, sondern die Bank Schuldner ist. Ein Forderungsausfall des ESM wird sich damit im Rahmen der anteiligen Gläubigerbefriedigung bis hin zum Totalausfall ergeben. Der Anteil, der nicht zurückgezahlt wird, belastet das Ergebnis des ESM und ist von den -Anteilseignern gemäß ihrer Quote zu erbringen, das heißt für den deutschen Steuerzahler derzeit zu rund 27 Prozent. Nun sollen Hilfsgelder doch als „letzte Haftungsstufe“ direkt aus dem ESM an Pleitebanken fließen. „Haftungskaskade“ ist ein schönes Wort, es ist aber nur Augenwischerei. Zunächst sollen Eigentümer und große Gläubiger der Banken haften. Diese müssen 8 Prozent der Bilanzsumme der abzuwickelnden Bank beisteuern. Für weitere 5 -Prozent der Bilanzsumme soll in einer zweiten Haftungsstufe ein aus Bankenabgaben gespeister Bankenfonds in Anspruch genommen werden. Dieser Fonds wird allerdings erst in acht Jahren seine Zielgröße von 55 Milliarden Euro erreichen. Wenn der Sitzstaat der -angeschlagenen Bank durch Deckung einer verbleibenden Kapitallücke überfordert erscheint, sollen dann die Instrumente der indirekten und – nun neu und noch risikoreicher – direkten Bankenrekapitalisierung aus dem Euro-Rettungsschirm ESM in Anspruch genommen werden. Die direkte Zahlung an Banken soll zwar durch -Beschluss des ESM-Gouverneursrates auf 60 Milliarden Euro gedeckt werden. In Zeiten der „Euro-Rettung“ seit 2010 hatten solche Wertgrenzen allerdings meist eine kurze Verfallszeit; sie dienten mehr der Erlangung der Bundestagszustimmung. In den entsprechenden Dokumenten heißt es schon: „Unbeschadet des Verfahrens zur Überprüfung des maximalen Darlehensvolumens gemäß Artikel 10 Absatz 1 des Vertrags kann der Gouverneursrat beschließen, die anfänglich auf 60-Milliarden-Euro festgesetzte Obergrenze anzupassen, sofern dies notwendig und angemessen ist.“ Die 60-Milliarden-Euro-Obergrenze kann also sehr schnell angepasst werden. Doch wie niedrig ist das Risiko für den Steuerzahler wirklich? Die Bilanzsumme der Banken in den -Krisenländern Griechenland, Portugal, Irland, Spanien, Zypern und Italien beläuft sich zusammen auf 9 074 800 000 000 Euro – in Worten: über neun Billionen. Für 8 Prozent dieser Summe haften zukünftig die Eigentümer und große Gläubiger, für bis zu 5 -Prozent der neue Bankenrettungsfonds – sogenanntes „Bail-in“ –. Das läppische Restrisiko von 87 Prozent – gleich 7,9 Billionen Euro – trägt der Steuerzahler. Dies ist natürlich nur das theoretische Risiko. Rechnen wir das Haftungsrisiko einmal anhand der portugiesischen Großbank Banco Espirito Santo, BES, durch, die vor kurzem mithilfe von EFSF-Mitteln indirekt rekapitalisiert worden ist. Hätte das Instrument der direkten Kapitalisierung aus dem ESM, das wir erst beschließen sollen, schon zur Verfügung gestanden, wären die Gelder mit Sicherheit direkt aus dem Rettungsschirm an die Bank geflossen. Die Rechnung ist ganz einfach: Die Bilanzsumme der BES beträgt 80,6 Milliarden Euro. In der ersten Haftungsrunde werden Eigentümer und private Gläubiger mit 6,448 Milliarden Euro – gleich 8 Prozent – beteiligt. Auf den 55-Milliarden-Euro-Fonds der Banken entfallen weitere 4,03 Milliarden Euro, gleich fünf Prozent, allerdings erst nach Auffüllung. Der Rest der Zeche von 70,122 Milliarden Euro hängt am ESM, an dem Deutschland mit 27 Prozent beteiligt ist. Im schlimmsten Fall haftet also der deutsche Steuerzahler für rund 19 Milliarden Euro einer portugiesischen Bank. Bevor nun der Einwand kommt, die BES habe nur 4,4 Milliarden Euro an EFSF-Mitteln bekommen und wäre mithilfe der neuen Haftungskaskade bereits in Runde 1 abgefangen worden, entgegne ich, dass einfach nicht mehr Geld zur Verfügung stand. Man hat den letzten Rest aus dem 78 Milliarden Euro schweren Programm, das im Herbst 2010 beschlossen worden war, zusammengekratzt. Ich wünsche es mir nicht, aber es besteht zumindest die Gefahr, dass uns die „Rettung“ dieser Bank irgendwann einmal wieder beschäftigen wird. Über welche Summen wir beim Thema Bankenrettung sprechen, habe ich nicht nur weiter oben vorgerechnet, es gibt auch bereits Referenzfälle. So wurde für die indirekte Rekapitalisierung spanischer Banken im Sommer 2012 ein maximales ESM-Programmvolumen von bis zu 100 Milliarden Euro beschlossen. Benötigt wurden letztendlich „nur“ 41,5 Milliarden Euro. Wir sehen aber bereits hieran, in welchen Sphären wir uns bewegen. Der Bankenfonds von 55 Milliarden ist lächerlich klein. Außerdem soll er erst in acht Jahren gefüllt sein. Ein Experte hat bei der öffentlichen Anhörung vor dem Finanzausschuss gesagt: „Ich weiß gar nicht, wie das funktionieren soll.“ Da habe ich mir gedacht: Dann sind wir ja schon zu zweit. Das kann nicht funktionieren und ist wahrscheinlich auch schon intern eingepreist. Ein Banken-Bail-out soll zwar mithilfe der neuen Bankenaufsicht verhindert werden. Aber die EZB, bei der die Aufsicht verortet ist, ist selbst Teil des Spiels. Sie hat haufenweise Schrottpapiere aufgekauft und plant, dies künftig in noch größerem Maße zu tun. Wenn die EZB eine dieser Banken abwickelt, verhagelt sie sich ihre eigene Bilanz. Ich rechne eher damit, dass die Banken künstlich am Leben erhalten werden – entgegen allen Regeln des Marktes, die wir ohnehin schon lange fahrlässig außer Kraft gesetzt haben. Im Ergebnis züchten wir uns wie in Japan immer mehr Zombie-Banken heran. Und wenn dann doch einmal eine dieser Banken Bankrott geht, wird der betroffene Staat die Verantwortung auf die EZB schieben. Die Aufsicht hat versagt, also muss der ESM haften und nicht der Euro-Mitgliedstaat. Irgendwann platzt hier unweigerlich die Bombe. Aus all diesen Erwägungen und noch vielen mehr stimme ich mit Nein. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) zu den Abstimmungen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge (Tagesordnungspunkt 5 a) Im Rahmen des Gesetzes zu einer einheitlichen europäischen Regelung zur Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten im Krisenfall – sogenanntes BRRD-Umsetzungsgesetz – wird auch die Einführung einer europäischen Bankenabgabe beschlossen, die zum Aufbau des Bankenabwicklungsfonds dient. Viele der jetzt beschlossenen Regelungen sind zu begrüßen, so zum Beispiel die Einführung der Haftungskaskade mit Gläubigerbeteiligung und der Ansatz einer risikoabhängigen Ausgestaltung der Bankenabgabe für kleinere Banken. Deswegen stimme ich dem Gesetzentwurf zu. Zu kritisieren ist jedoch, dass die Abgabe in Deutschland, anders als in anderen europäischen Ländern, nicht von der Steuer absetzbar ist. Dies stellt einen erheblichen Wettbewerbsnachteil und letztendlich eine Schwächung für die deutschen Banken dar, die sich auf dem -internationalen Finanzmarkt behaupten müssen. Diese Benachteiligung kann nicht im Interesse der deutschen Kunden und Steuerzahler sein. Eine einheitliche europäische Regelung ist unbedingt notwendig. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Sabine Dittmar, Markus Paschke und Susann Rüthrich (alle SPD) zur Abstimmung über das Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 8 a) Mit dem Gesetz werden die Leistungen für Asylsuchende rechtssicher festgesetzt und endlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 eins zu eins umgesetzt. Zudem werden Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, zukünftig ab Beginn ihres Aufenthalts Bildungs- und Teilhabeleistungen gewährt, wodurch die Möglichkeiten zur sozialen Integration verbessert werden. Angesichts der aktuellen Entwicklungen und Krisen, die weltweit zu der größten Zahl an Flüchtlingen seit dem Zweiten Weltkrieg geführt haben, begrüßen wir die weiteren anstehenden Reformen. Das Gesetz ist ein erster Schritt hin zu einer umfassenden Reform des AsylbLG, die die Länder und Kommunen entlastet und die Situation der Flüchtlinge verbessert. In den kommenden Monaten werden wir die weiteren Gesetzesvorhaben in dem Bereich nutzen, um diese Ziele zu erreichen. Insbesondere im Bereich der Gesundheitsversorgung sind Veränderungen geboten. Der heute beschlossene Nothelferanspruch ist ein erster wichtiger Schritt, um die medizinische Versorgung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern zu verbessern. Es wird damit eine medizinische Versorgung von Leistungsberechtigten in Eilfällen gewährleistet und die Erstattung der Behandlungskosten geregelt. Die Expertenanhörung am 3. November hat deutlich gemacht, dass die derzeitige Praxis der Gesundheitsversorgung darüber hinaus verbessert werden sollte. Die zumeist angewandte Praxis der Gewährung von Krankenscheinen nach vorherigem Antrag ist umständlich und bürokratisch. Die Modelle aus Bremen und Hamburg sind positive Beispiele, wie es besser gehen kann. Mit dem Gesetz nehmen wir Gruppen mit bestimmten Aufenthaltstiteln aus dem Asylbewerberleistungsgesetz heraus. Die Kommunen und Länder werden entlastet – um 43 Millionen Euro jährlich ab 2016, 2015 schon um 31 Millionen Euro. Die Zusicherung der Bundes-regierung im Rahmen ihrer Protokollerklärung im Bundesrat vom 19. September, die Kommunen und Länder noch mehr zu entlasten, muss in den nächsten Monaten mit Leben gefüllt werden. Eine komplette Abschaffung des AsylbLG, wie mit den Anträgen der Grünen und Linken gefordert, lehnen wir jedoch ab. Das AsylbLG soll eine sozialrechtliche Grundversorgung während eines vorübergehenden Zeitraums sicherstellen. Das gilt insbesondere für Asylbewerberinnen und Asylbewerber, bis das Asylverfahren abgeschlossen ist, sowie für Geduldete, deren Aufenthalt der gesetzlichen Konzeption nach als provisorisch erachtet wird. Diesem Grundgedanken wird die Anknüpfung der Bezugsdauer von Leistungen an die Dauer des Aufenthalts in Deutschland sowie die Reduzierung des maximalen Leistungsbezugs von 48 auf 15 Monate gerecht. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zum Entwurf eines Gesetzes für mehr Kontinuität der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzgesetz 2014) (Tagesordnungspunkt 15) Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir haben uns als Koalition vorgenommen, die Rentenleistungen für die Menschen in unserem Land zu verbessern und das Rentensystem gerechter zu gestalten. Dafür haben wir das Rentenpaket geschnürt. Darin enthalten waren: Erstens: eine bessere Absicherung für Erwerbsgeminderte. Zweitens: eine Anhebung des Rehabudgets, angepasst an die demografische Entwicklung. Drittens: eine bessere Anerkennung der Leistung derjenigen, die durch ihre sehr lange Beitragszeit einen großen Anteil an der guten Situation der Rentenversicherung haben – deshalb die sogenannte abschlagsfreie Rente mit 63. Viertens haben wir mit dem Paket eine Gerechtigkeitslücke bei der Anrechnung der Kindererziehungszeiten geschlossen. Die Leistung der Menschen, meist Mütter, die die Grundlage für das Funktionieren der umlagefinanzierten Rente und deren gute finanzielle Situation gelegt haben, wird nun besser anerkannt. Und das hilft gerade diesen Menschen. Sie hatten besonders oft unterbrochene Erwerbsbiografien oder Teilzeitstellen, die nicht zu einer auskömmlichen Rente führen. Die Leistungsverbesserung greift hier also an der richtigen Stelle. Ich habe Ihnen die Punkte nur noch einmal genannt, um darzustellen, wie wir die Rentenversicherung noch gerechter gemacht haben. Unser Versprechen aus dem Koalitionsvertrag haben wir also eingelöst. Eine zentrale Aufgabe bleibt aber, neben der Gerechtigkeit auch für die Stabilität der Rentenversicherung zu sorgen. Um diese Stabilität auf Jahre hinaus zu verbessern, haben wir im Frühjahr die eigentlich anstehende Senkung des Rentenbeitrags ausgesetzt – ausnahmsweise! Denn eine Aussetzung der Rentenbeitragsanpassung sollte immer eine Ausnahme bleiben. Das Gesetz regelt das ja eigentlich, wie Sie im Antrag schön beschreiben. Und das hat einen Sinn: Denn die Füllung der Rentenkasse ist kein Zweck an sich. Die Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen ein, damit die heutigen Rentner und Rentnerinnen Leistungen erhalten. Das ist der Kern des Umlageverfahrens unseres Rentensystems. Wenn absehbar ist, dass sie zu viel einzahlen, ist eine Senkung deshalb nur logisch und richtig. Unter der schwarz-gelben Koalition begann der Beitragssatz 2011 zu sinken. Ein Prozent hat er seitdem schon gutgemacht. Wir wollen auch weiterhin die Arbeitnehmer und Arbeitgeber in diesem Land entlasten, wenn es die finanzielle Situation zulässt. Wie es momentan ausschaut, trifft genau das zu. Die finanzielle Situation der Rentenversicherung hat sich augenscheinlich besser entwickelt als vor einem Jahr angenommen. Das sollte uns alle in diesem Haus freuen. Daran hat natürlich die Politik der unionsgeführten Bundesregierungen der vergangenen Jahre einen großen Anteil. Arbeitsmarktpolitisch und wirtschaftlich wurden die richtigen Weichen gestellt. Aber den größten Anteil an dieser Erfolgsgeschichte haben eben die Beschäftigten und die Arbeitgeber selbst, die, die die Beiträge gezahlt haben und zahlen. Wenn ihre Löhne und der Arbeitsmarkt insgesamt sich so gut entwickeln, besteht einfach nicht mehr die Notwendigkeit, eine Anpassung nach unten zu verhindern. Im Gegenteil: Durch eine Entlastung der Arbeitgeber können diese mehr investieren. Gerade in Zeiten, in denen die Konjunkturprognosen nicht nur nach oben schießen, ist das wichtig. Nach dem momentanen Stand der Dinge wird sich der Rentenbeitrag aber auch noch in den kommenden Jahren stabil niedrig halten lassen. Wir müssen derzeit also nicht um die Stabilität der Rentenversicherung fürchten. Wir dürfen uns vielmehr für die Leistungsträger unserer Gesellschaft freuen, wenn es zu einer Senkung des Rentenbeitrags kommt. Und natürlich für die Leistungsempfänger, die nun mehr von ihrer Rente haben. Warum sollten wir nun also ein System, das seit Jahrzehnten ordentlich läuft, das schon viele Widrigkeiten überstanden hat, so massiv verändern, wir Sie es vorschlagen? Wir passen die Rentenbeiträge so an, wie es im System verankert ist. Wir entlasten Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wenn es möglich und verantwortbar ist – für die älteren ebenso wie für die jüngeren Generationen. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Das Jahr 2014 ist für die Deutsche Rentenversicherung, für die Rentnerinnen und Rentner und für die Beitragszahle-rinnen und -zahler ein Sensationsjahr. Die Rentenver-sicherung steht so gut da wie kaum zuvor: Mit über 33,5 Milliarden Euro oder 1,82 Monatsausgaben ist die Nachhaltigkeitsrücklage erneut auf einem Höchststand. Mit dem Rentenpaket haben wir die Leistungen für die derzeitigen und zukünftigen Rentnerinnen und Rentner erheblich verbessert. Ab dem 1. Juli 2014 profitieren rund 9,5 Millionen Frauen und Männern, die vor 1992 ihre Kinder bekommen haben, von der Erhöhung der Erziehungsjahre bei der Rente. Erwerbsgeminderte erhalten durch die Verlängerung der Zurechnungszeiten ab 1. Juli 2014 ein durchschnittliches Plus von rund 45 Euro brutto im Monat bzw. mit Abschlägen von bis zu 10,8 Prozent rund 40 Euro brutto; das sind etwa 500 Euro pro Jahr. Die Aufstockung des Rehabudgets kommt denjenigen zugute, die Rehamaßnahmen in Anspruch nehmen müssen. Und mit der Rente mit 63 Jahren können diejenigen, die besonders langjährig versichert sind, die teilweise schon mit 15 oder 16 Jahren angefangen haben zu arbeiten, eine Rente ohne Abschläge erhalten. Das Rentenpaket gibt also vor allem denjenigen Menschen etwas zurück, die für unsere Gesellschaft und für die Stabilität unserer Sozialversicherungen besonders viel geleistet haben. Die langjährig geschafft haben, die Kinder erzogen haben und mit ihren Beiträgen die Allgemeinheit gestützt haben. Warum also sollten wir nun nicht auch die aktuellen Möglichkeiten ausschöpfen, damit auch die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler von den positiven Entwicklungen in der Rentenversicherung profitieren? Denn sie sind es, die für die gute wirtschaftliche Lage in Deutschland verantwortlich sind und hart gearbeitet haben. Der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung richtet sich nach einem gesetzlich festgelegten Mechanismus. Jährlich wird der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung anhand der Einkommensentwicklung der Vorjahre neu berechnet und unter Berücksichtigung der Einnahmen und vorhandenen Reserven angepasst. Gemäß § 158 SGB VI ist der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung dann zu verändern, wenn die Mittel der Nachhaltigkeitsrücklage ansonsten zum -Jahresende entweder die untere Grenze von 0,2 Monatsausgaben unterschreiten oder die obere Grenze von 1,5 Monatsausgaben überschreiten. Hintergrund dieser Regelung ist es, unterjährige Einnahme- und Ausgabenschwankungen auszugleichen. Bei den Beratungen zum Rentenpaket sind wir davon ausgegangen, dass die zusätzlichen Ausgaben zu stemmen sind bei einem für die kommenden Jahre stabilen Beitragssatz von 18,9 Prozent. Doch die Entwicklung der Rentenfinanzen ist trotz der Mehrausgaben positiver verlaufen, als es alle Experten vorausgesagt haben. Mit der aktuellen Schätzung zur Finanzlage der Rentenversicherung einschließlich der aktuellen Steuerschätzung ist es trotz der Ausgaben für das Rentenpaket möglich, den Rentenbeitrag ab dem Jahr 2015 um 0,2 Prozentpunkte herabzusetzen. Dies ist nicht zuletzt eine außerordentliche Leistung der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Gleichzeitig kann dieser verminderte Beitragssatz von 18,7 Prozent voraussichtlich auch in den nächsten vier Jahren so bestehen bleiben. Damit ist über mehrere Jahre eine Entlastung der Beitragszahler garantiert, und die Arbeitgeber verfügen über langfristige Planungssicherheit. Deshalb wird – nach geltendem Recht – zum 1. Januar 2015 der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung infolge der gesetzlichen Vorgaben um 0,2 Prozentpunkte von 18,9 auf 18,7 Prozent gesenkt werden. Auch angesichts der Gefahren eines schwächeren Wirtschaftswachstums ist die Senkung des Rentenversicherungsbeitrags das richtige Signal. So können durch die Einsparungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei der Rente nachhaltig wirkende Impulse für eine wirtschaftliche Belebung ausgehen. Und was viele vergessen: Eine Beitragssenkung hat stets auch positive Auswirkungen für die Rentnerinnen und Rentner. Denn nach der gesetzlichen Rentenformel führt eine Beitragssenkung im darauffolgenden Jahr zu einer stärkeren Anhebung der Rentenzahlungen. Wir schaffen mit dem abgesenkten Rentenversicherungsbeitrag eine Win-win-Situation für alle: die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, die Unternehmen und für die Rentnerinnen und Rentner selbst. Michael Gerdes (SPD): Der bisherige Debattenverlauf hat gezeigt, dass man sehr unterschiedlich mit der erwarteten Senkung des Rentenbeitrags umgehen kann. Die Reaktionen reichen von völliger Zustimmung bis hin zur klaren Ablehnung der Senkung. Zunächst einmal muss man ganz neutral sagen: Mit der Beitragssenkung folgen wir der gesetzlichen Logik. Ich selbst tendiere zu einer Meinung, die zwischen den genannten Extremen liegt: Einerseits begrüße ich das Signal, das von der Absenkung ausgeht. Wir entlasten nämlich die Beitragszahler und würdigen damit die wirtschaftliche Leistung der Beschäftigen und Unternehmen in Deutschland. Und – auch das gehört zur Rechnung dazu – mit der Absenkung des Beitrags in 2015 fällt die Rentenanpassung im Sommer 2015 höher aus. Arbeitnehmer und Rentner werden beide etwas mehr Geld in der Tasche haben. Andererseits habe ich Verständnis für diejenigen, die die Rücklagen der Rentenversicherung erhalten wollen. Schließlich müssen wir uns auf die demografische Entwicklung vorbereiten. Ich hoffe, dass sich die angedachte Absenkung als moderat erweist und wir am Ende nicht durch deutliche Beitragsanstiege bestraft werden. Die Absenkung um 0,2 Prozentpunkte scheint mir kein radikaler Schritt zu sein. Grundsätzlich freue ich mich über die Tatsache, dass wir überhaupt eine Absenkung des Beitrags vornehmen können. Das heißt nämlich im Umkehrschluss: Die Lage der Rentenkasse ist momentan komfortabel. Sie ist besser als erwartet. Das ist eine gute Nachricht, besonders vor dem Hintergrund der zuletzt beschlossenen Leistungsverbesserungen. Im Klartext: Wir können uns das Rentenpaket tatsächlich leisten. Abschlagsfreie Rente ab 63 für langjährig Beschäftigte, mehr Mütterrente, höhere Renten für Erwerbsgeminderte, mehr Geld für Reha-maßnahmen – das sind sinnvolle und überzeugende Verbesserungen, für die unsere Ministerin Andrea Nahles mit Hochdruck gearbeitet hat. Ich wiederhole es an dieser Stelle gerne: Das Rentenpaket schafft mehr Gerechtigkeit bei der Anerkennung von Lebensleistungen. Und noch besser: Es ist offensichtlich bezahlbar. Selbstverständlich ist die Rentenpolitik damit nicht abgeschlossen. Wir müssen weiter an den Herausforderungen der Zukunft arbeiten. Wir wollen, dass die gesetzliche Rentenversicherung die tragende Säule einer armutsfesten Alterssicherung bleibt. Sie muss allerdings durch Betriebsrenten oder öffentlich geförderte private Vorsorge ergänzt werden, damit die Menschen im Alter ihren Lebensstandard halten können. Wir wollen ein Rentensystem, das weiterhin tragfähig ist. Deshalb denken wir zum Beispiel über individuelle Renteneintritte nach. Wer länger arbeiten will und kann, soll die Möglichkeit dazu haben. Es gilt: Wer nach Erreichen der Regelaltersgrenze noch keine Rente bezieht und weiter arbeitet, erhöht den zukünftigen Rentenanspruch. Gerade weil wir die Leistungsfähigkeit der Rente -erhalten wollen, haben wir auch den gesetzlichen -Mindestlohn eingeführt. Deshalb kämpfen wir für gute, existenzsichernde Arbeit. Denn wir wissen: Eine auskömmliche Rente beginnt im Erwerbsleben. Die Rentenversicherung kann nur dann funktionieren, wenn der -Arbeitsmarkt stabil ist und die Löhne der Menschen -angemessen sind. Aktuell lassen sich die Arbeitsmarktzahlen als solide bezeichnen. Lassen Sie uns gemeinsam darauf hinwirken, dass die Beschäftigung noch besser wird und hoch bleibt. Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Mit ihrem Gesetzentwurf fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, uns auf, wie für dieses auch für das nächste Jahr die Beitragssenkung auszusetzen? Auch wenn ich selber Sympathien für eine Verstetigung des Beitragssatzes habe: Wir haben uns in unserem Koalitionsvertrag nicht vorgenommen, die Deckelung der Nachhaltigkeitsrücklage aufzuheben. Wir hatten uns aber sehr wohl anderes im Koalitionsvertrag vorgenommen, nämlich ein ambitioniertes Rentenpaket, das wir im ersten Halbjahr dieses Jahres umgesetzt haben. Das ist auch die Logik, der die Koalition gefolgt ist: Wir haben gerechte Leistungen definiert, die wir finanzieren wollen, und haben daher die zu erwartenden Ausgaben berücksichtigt und den Beitragssatz trotz gefüllter Kassen nicht gesenkt. Und das war es wert. Wir haben in diesem Jahr etwa eine Milliarde Euro für die Rente mit 63 eingesetzt, um langjährige Beitragszahlung zu honorieren – wer 45 Jahre gearbeitet hat, kann seit diesem Jahr abschlagsfrei mit 63 in Rente gehen. Das betrifft circa 240 000 Menschen in 2014, und das haben sie sich verdient! Wir setzen 3,3 Milliarden Euro für die sogenannte Mütterrente ein und sorgen so für eine bessere Anerkennung von Kindererziehung in der Rentenversicherung. Auch wenn wir – das ist kein Geheimnis – eine Steuerfinanzierung noch gerechter gefunden hätten, so ist die Anerkennung der Erziehungsleistung grundsätzlich richtig. Denn auch das haben sich in diesem Fall vor allem die Mütter verdient. Und auch die Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und die Anhebung des Rehadeckels führen zu einer besseren sozialen Absicherung: Wenn jemand beispielsweise mit 50 in die Erwerbsminderungsrente gehen muss, werden ihm zwölf Jahre anstatt wie bisher zehn Jahre hinzugerechnet. Im Durchschnitt sind das dann 41 Euro mehr im Monat – das mag manchen sehr wenig erscheinen, für die Betroffenen ist dies aber viel Geld. Seit langer Zeit, nämlich seit 2002, sind das die ersten Verbesserungen im Leistungsrecht der Rentenversicherung, und darauf sind wir stolz. Dann ist dieses Jahr noch etwas passiert, worüber wir uns, glaube ich, alle in diesem Haus sehr freuen. Die positive Arbeitsmarktentwicklung hat zu noch höheren Rentenversicherungseinnahmen geführt. Und wir erwarten das auch für das nächste Jahr. Die Steuerschätzung von heute stützt die Annahme einer Absenkung um 0,2 Prozentpunkte. Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas Grundsätzliches über Beitragssenkung und Beitragserhöhungen sagen: Sie sind weder an und für sich gut und richtig noch an und für sich schlecht und falsch: Beitragssenkungen entlasten vor allem geringe Einkommen stärker als zum Beispiel Steuersenkungen. Sie senken die Lohnkosten oder eröffnen Verteilungsspielräume der Gewerkschaften zugunsten der Nettoeinkommen der Arbeitsnehmerinnen und Arbeitnehmer – je nach Kräfteverhältnis der Tarifparteien. Und Sie entlasten die Kommunen und alle öffentlichen Haushalte. Dagegen können auch Sie erst mal nichts haben. Und dass wir die Beiträge letztes Jahr nicht gesenkt haben, hat deswegen so eine große und breite Akzeptanz gehabt, weil den Beiträgen Leistungen gegenüberstanden, die die Menschen als richtig und gerecht empfunden haben. Ich möchte an dieser Stelle die Umfragewerte in Erinnerung rufen. Rente mit 63: Nach einer Umfrage von TNS Infratest liegt die Zustimmung bei den 18- bis 34-Jährigen bei 89 Prozent und damit sogar über dem Durchschnitt aller Befragten von 87 Prozent. Für die sogenannte Mütterrente sprechen sich nach einer Umfrage von INFO GmbH 78 Prozent aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, nicht nur Sie, sondern auch wir haben rentenpolitisch noch etwas auf unserer Agenda. Aber nicht nächstes Jahr. Wir haben uns noch große Ziele gesetzt – teilweise in dieser Legislatur, teilweise darüber hinaus. Manches wird auch ohne große Kosten trotzdem große Verbesserungen bringen und sogar perspektivisch Geld sparen. Das könnten – ohne vorgreifen zu wollen – Ergebnisse der AG „Flexible Übergänge" sein. Für anderes werden wir Geld in die Hand nehmen müssen: Dazu gehören die Angleichung des aktuellen Rentenwerts Ost auf das westdeutsche Niveau, die Bekämpfung der Altersarmut, die Stabilisierung des Sicherungsniveaus oder auch eine noch bessere Absicherung der Erwerbsminderung. Wenn wir diese Ziele angehen, bin ich mir sicher, dass wir auch die Akzeptanz für angemessene Beiträge erhalten werden. „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Zukunft vorauszusagen, sondern auf sie gut vorbereitet zu sein“, wussten auch schon der alte Grieche Perikles. Das gilt insbesondere für die soziale Sicherheit im Alter. Wir wollen ein solidarisches Rentensystem, das hohe Akzeptanz und Vertrauen genießt. Dazu haben wir dieses Jahr einen großen Beitrag geleistet. Und daran werden wir weiter mit aller Kraft arbeiten. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Die Schlag-zeilen in dieser Woche lauten: Die Zahl der auf Grundsicherung im Alter Angewiesenen stieg innerhalb nur eines Jahres um sage und schreibe 7,4 Prozent auf 499 000. – Die Rentenerhöhung fällt im nächsten Jahr niedriger aus. – Und drittens wurde gerade heute Nachmittag bekannt gegeben: Bundesarbeitsministerin Nahles hält an der Senkung des Rentenbeitrages um 0,2 Prozentpunkte für 2015 fest. Frau Staatssekretärin, ich sage es Ihnen deutlich: Wenn Sie den Beitragssatz jetzt senken, handeln Sie grob fahrlässig und ignorieren die Jahr für Jahr größer werdende Welle der Altersarmut. Sie gießen gerade Öl ins Feuer! Auf dem Arbeitgebertag frohlockte vorgestern die Kanzlerin: Die Rentenkasse ist gut gefüllt, also erlassen wir euch, liebe Unternehmer, einmal ein paar Sozial-beiträge. Das ist falsch: Die Rentenkasse leert sich gerade, und zwar sehr fix. Seit der Verabschiedung des Rentenpakets im Juli ist die Nachhaltigkeitsrücklage von 34,3 Milliarden auf 32,4 Milliarden Euro im September gesunken – in zwei Monaten knapp 2 Milliarden Euro weniger in der Rentenkasse. 2 Milliarden! In zwei Monaten! Woran liegt das? Es liegt an der Rentenanpassung vom 1. Juli. Aber vor allem liegt es daran, dass Sie, meine Damen und Herren von Union und SPD, die Mütterrente aus Rentenbeiträgen der Versicherten bezahlen und nicht aus Steuergeldern. Das ist systemwidrig, grob fahrlässig, sozial ungerecht und alles andere als nachhaltig. Dr. Axel Reimann, der Präsident der Deutschen Rentenversicherung, warnt: Wenn wir so weitermachen, ist die Nachhaltigkeitsrücklage spätestens 2019 wieder leer, also auf null. Die Nachhaltigkeitsrücklage ist weder nachhaltig noch eine Rücklage, wenn sie ohne jeden Grund für die Mütterrente verballert wird. Sie müssten Steuergelder dafür verwenden. Und warum haben Sie die nicht? Weil Sie unter anderem lieber 3,5 Milliarden Euro für die staatliche Riester-Förderung verpulvern. Nachhaltig heißt doch langfristig denken, oder? Warum heißt die Nachhaltigkeitsrücklage dann so, wenn wir ständig am Beitragssatz herumschrauben? Nachhaltig ist das nicht. Rücklage? Auch zurückgelegt wird da gar nix, wenn Sie die Nachhaltigkeitsrücklage bis 2019 wieder auf null fahren. Das ist schlecht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie wollen die Versicherten kurzfristig um 0,1 Prozentpunkte entlasten. Na bravo; das sind bei durchschnittlich Verdienenden gerade einmal 2,90 Euro. Ein Cappuccino! Schön! Aber Sie denken dabei nicht an die Zukunft der Versicherten. Eine sichere Rente wollen sich die Menschen erarbeiten und nicht 3 Euro weniger in diesem Jahr und 5 Euro mehr in fünf Jahren bezahlen. Genau deshalb fordert die Linke: erstens, den unsinnigen Mechanismus zu streichen, der die Bundesregierung dazu zwingt, ab einer Rücklage in Höhe von 1,5 Monatsausgaben den Beitragssatz zu senken. Zweitens fordern wir, die Mindestreserve auf eine halbe Monatsausgabe anzuheben. Die Deutsche Rentenversicherung hatte sich in der Ausschussanhörung im Februar genau für eine solche Mindestreserve von einer halben Monatsausgabe ausgesprochen. Wir müssen den Deckel oben lüften und den Boden unten anheben. Das wäre nachhaltig. Beides würde Versicherten und Arbeitgebern stabile Beiträge garantieren und wilde Sprünge des Beitragssatzes vermeiden. Die Versicherten könnten planen, und wir könnten uns langfristig daranmachen, die Zukunftsprobleme der Rente anzupacken. Zuallererst müssen wir das Problem zu niedriger Renten und das Problem der Altersarmut angehen. Dafür brauchen wir jeden Cent in der Rentenkasse. Angesichts der Herausforderungen müssen wir den Beitragssatz stabilisieren und moderat anheben. Das wäre nachhaltig. Das wäre vorausschauend. Und das wäre zukunftssicher. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie wollen stattdessen Versicherte in die Riester-Rente schieben oder dazu zwingen, auf Lohn zu verzichten und den in die Betriebsrenten zu stecken. Ich sage Ihnen: Wer sich das leisten kann, okay, aber auf den Arm nehmen lassen sich die Menschen nicht so leicht. Die Zinsen der Riester-Verträge sind im Keller: Christoph Rybarczyk vom Hamburger Abendblatt schrieb am Dienstag: „Gleichzeitig bleibt die gesetzliche Rente bei einer Rendite von 3,2 bis 3,8 Prozent. Das wirft ein neu abgeschlossener Riester-Vertrag nur ab, wenn man 100 Jahre alt wird.“ Kluger Mann! Deshalb: Wenn Sie aus der Finanzkrise lernen wollen, dann vergessen Sie Riester, und kümmern Sie sich um die gesetzliche Rentenversicherung. Streichen Sie endlich die Kürzungsfaktoren aus der Rentenanpassungsformel, und kehren Sie wieder zu einem Rentenniveau vor Steuern von 53 Prozent zurück. Das würde in den kommenden Jahren die Renten der Älteren stabilisieren und die Jüngeren wieder davon überzeugen, dass die gesetzliche Rente sicher ist. Dafür brauchen wir die Rentenbeiträge, und deshalb darf der Beitragssatz nicht gesenkt werden. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist erfreulich, wenn sich die Finanzsituation der Rentenversicherung besser als erwartet entwickelt. Die gute Konjunktur, ein hoher Beschäftigungsstand und das Ab-sinken des Rentenniveaus führten in der jüngeren Vergangenheit sowohl zu niedrigeren Beitragssätzen als auch zu einer Rekordrücklage der Rentenversicherung. Eine Beitragssatzsenkung zum jetzigen Zeitpunkt, wie von der Großen Koalition geplant, wäre trotzdem falsch. Sie mindert die Einnahmen und erhöht die Ausgaben der Rentenkasse. Genau das können wir uns vor dem Hintergrund gewaltiger Aufgaben nicht leisten. Allein in dieser Wahlperiode wird das Rentenpaket rund 32 Milliarden Euro verschlingen. Der demografische Wandel und nicht zuletzt die konjunkturelle Unsicherheit kommen hinzu. So gehen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute für 2014 nur noch von einem Wirtschaftswachstum von 1,2 Prozent anstatt von 1,8 Prozent aus. Auch 2015 fällt die Wachstumsprognose von 2,0 auf 1,3 Prozent. Der Internationale Währungsfonds, IWF, warnt in seinem Weltwirtschaftsausblick vor den Abwärtsrisiken. Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist im Oktober zum sechsten Mal in Folge gefallen. Und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung spricht von einem merklichen Stottern des Konjunkturmotors mit einem Nullwachstum im Schlussquartal. Dies alles ist zwar noch kein Anlass zur Panik. Anlass für Vorsicht sollte es aber schon sein. Denn eine Senkung des Beitragssatzes im kommenden Jahr wird zu noch kräftigeren Beitragssatzerhöhungen in den Folgejahren führen. Hinzu kommt, dass die voraussichtliche Beitragssatzsenkung nur mithilfe eines statistischen Tricks ermöglicht wird. Weil die Bundesagentur für Arbeit die Beschäftigtenstatistik verändert hat, fallen die Rentenerhöhung und somit die Ausgaben der Rentenversicherung im kommenden Jahr geringer aus. Ohne diesen Effekt, der dann im Jahr 2016 wie ein Bumerang auf die Ausgabenseite der Rentenkasse zurückkommt, wäre eine Senkung der Beiträge heute nicht in der Diskussion. Bündnis 90/Die Grünen wollen keine Absenkung des Rentenbeitragssatzes. Zum einen ist auch langfristig mit weiter steigenden Beiträgen zu rechnen. Für diesen absehbaren Beitragsanstieg sollte schon heute Vorsorge getroffen werden, um die Auswirkungen für die Wirtschaft und auch für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler abzufedern. Im Sinne der Planungssicherheit der Unternehmen und Betriebe darf es kein „Beitrags-Jojo“ geben. Deswegen sollte eine höhere Nachhaltigkeitsrücklage gebildet werden. So offenbarte eine öffentliche Anhörung zum Beitragssatzgesetz 2014 am 17. Februar 2014 im Arbeits- und Sozialausschuss, dass zehn von zwölf Sachverständigen die Obergrenze der Nachhaltigkeitsrücklage von 1,5 Monatsausgaben als zu niedrig einschätzen. Für eine gänzliche Abschaffung der Obergrenze – wie es die Linke in ihrem Gesetzentwurf fordert – gab es indes keine Mehrheit. Wir lehnen den Gesetzentwurf der Linken ab, da wir – ähnlich wie die meisten Sachverständigen – eine gänzliche Abschaffung der Obergrenze der Nachhaltigkeitsrücklage für nicht sinnvoll erachten. Eine Obergrenze gibt Orientierung und schafft eine Systematik für die Beitragssatzfestsetzung. Vollkommen richtig ist es indes, die Mindestrücklage von 0,2 auf 0,5 Monatsausgaben zu erhöhen. Hiervon ist im Übrigen auch die Deutsche Rentenversicherung überzeugt. Zugleich steht die Rente auch auf der Leistungsseite vor großen Herausforderungen. Bei den beitragsfinanzierten Leistungen sind vor allem Verbesserungen bei Erwerbsminderung und Rehabilitation notwendig. Die von Schwarz-Rot verabschiedeten Maßnahmen zur Verbesserung der Erwerbsminderungsrente gehen in die richtige Richtung, reichen aber nicht aus. Die Abschläge auf Erwerbsminderungsrenten sollten abgeschafft werden, wenn der Zugang allein aufgrund medizinischer Diagnose und Prüfung erfolgt. An den Abschlägen auf Erwerbsminderungsrenten hält die Bundesregierung aber ausdrücklich fest. Aktuell stehen zudem nicht ausreichend Mittel zur Rehabilitation zur Verfügung. Wird das Rehabudget nicht umgehend bedarfsgerecht ausgestaltet, wird die Zahl der Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner absehbar steigen. Eine Bundesregierung, die gestern das Rentenpaket verabschiedet hat, heute die Beitragssätze senken will und morgen kräftigste Beitragssatzsteigerungen in Kauf nehmen wird, handelt kurzsichtig. Gerade in der Altersversorgung aber lohnt es sich, für nachhaltige und stabile Rentenfinanzen zu sorgen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Umsatzsteuerbetrug bekämpfen (Tagesordnungspunkt 17) Fritz Güntzler (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag verfolgt das richtige Ziel, Umsatzsteuerbetrug in Deutschland zu bekämpfen. Er unterstellt aber, hier sei bisher so gut wie nichts geschehen. Das ist aber falsch. Das Umsatzsteueraufkommen betrug im Jahr 2013 knapp 200 Milliarden Euro. Die Umsatzsteuer ist damit eine der wichtigsten Finanzierungsquellen des Staates. Sie ist mit einem Anteil von rund 32 Prozent an den gesamten Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Kommunen die mit Abstand bedeutendste Steuer. Die Sicherung des Umsatzsteueraufkommens ist also von großer Bedeutung. Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung sind sich dessen bewusst. Wir arbeiten fortlaufend daran, Umsatzsteuerbetrug zu bekämpfen und aufkommende Probleme zu beseitigen. Denn eines ist klar: Steuerhinterziehung schadet der Allgemeinheit, muss verfolgt und entsprechend geahndet werden, am besten aber unmöglich gemacht werden. Das tun wir nicht nur, um das Steueraufkommen zu gewährleisten, sondern auch, um die vielen steuerehrlichen Unternehmer nicht zu benachteiligen. Der Antrag der Grünen liest sich aber so, als hätten wir es in Deutschland mit unzähligen (Umsatz-)Steuerbetrügern zu tun, für deren Bekämpfung der Steuerverwaltung keine wirksamen Instrumente zur Verfügung stehen. Das Gegenteil ist der Fall. Beim Umsatzsteuerbetrug geht es um Einzelfälle, die zugegeben oft hohe Summen betreffen. Aber nicht jeder Unternehmer verkürzt seine Umsatzsteuerschuld. Ein Generalverdacht ist gefährlich und wird schnell peinlich, wenn der Beweis nicht geführt werden kann. Das musste auch der NRW-Finanzminister erleben. Er hat erst vor kurzem medienwirksam dem angeblich massenhaft stattfindenden Umsatzsteuerbetrug mit Regis-trierkassen den Kampf angesagt. Nach Rücksprache mit seinem Ministerium musste er feststellen, dass dazu keine Zahlen vorliegen, die diesen Verdacht erhärtet hätten. Seither habe ich von der Initiative nie wieder etwas gehört. Zuvor hatte er aber einen ganzen Berufsstand pauschal verurteilt. 2012 gab es laut der offiziellen Umsatzsteuerstatistik knapp 370 000 Einzelhandelsbetriebe – ohne Kfz-Handel und Tankstellen – sowie rund 225 000 Betriebe des Gastgewerbes. Selbst wenn es also bundesweit jeweils 10 000 Betriebe in beiden Wirtschaftszweigen gäbe, die sich illegal verhielten, wären dies gerade einmal 2,7 bzw. 4,4 Prozent aller Betriebe. Sollten aber tatsächlich 20 000 Betriebe systematisch Umsatzsteuer hinterziehen, würde es doch wohl gerichtsfeste Zahlen darüber geben. Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Jeder Umsatzsteuerbetrug muss verhindert werden, aber wir sollten das Problem nicht größer reden, als es tatsächlich ist. Wir müssen das Umsatzsteuerrecht ständig weiterentwickeln. Das ist ein laufender Prozess, der auch die Steuerverwaltung bei der Ahndung von Steuerhinterziehungen unterstützt. Der vorliegende Grünen-Antrag ist dagegen ein Schrotschuss, bei dem sie mit vielen Forderungen alles irgendwie ein wenig ansprechen: alles wenig konzeptionell. Sie wissen, dass unser Mehrwertsteuersystem auf europäischem Recht beruht, das uns als Gesetzgeber einen strengen Handlungsrahmen vorgibt. Unsere Bemühungen, das System zu verbessern, finden daher sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene statt. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Ein wichtiges Instrument zur Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung ist und könnte das Reverse-Charge-Verfahren im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern sein, wie auch von Ihnen im Antrag angesprochen. Umsatzsteuerschuldner ist in diesen Fällen dann nicht der Leistende, sondern der Leistungsempfänger. Ist der Leistungsempfänger zum Vorsteuerabzug berechtigt, gleichen sich geschuldete Reverse-Charge-Umsatzsteuer und Vorsteuerabzug aus. Das verringert zwar die Gefahr von Umsatzsteuerbetrug. Das Verfahren an sich ist aber selbst wiederum nicht unproblematisch. Mit dem Verfahren soll ungerechtfertigte Geltendmachung des Vorsteuerabzugs erschwert werden. Bisher ist das Reverse-Charge-Verfahren in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie nur als Ausnahme vorgesehen. Die Bundesregierung hat sich schon während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2007 für die Verankerung eines generellen Reverse-Charge-Verfahrens auf europäischer Ebene eingesetzt. Aufgrund massiver politischer Vorbehalte einer Reihe von Mitgliedstaaten der Europäischen Union war dies jedoch bisher nicht durchsetzbar. Die Kommission hat damals entschieden, dass nur Ausnahmen, auf einzelne Branchen beschränkt, zulässig seien. So wurde das Reverse-Charge-Verfahren ab Juli 2011 auch für die Lieferung von Mobilfunkgeräten und integrierten Schaltkreisen eingeführt. Mit dem Kroatien-Gesetz haben wir das Reverse-Charge-Verfahren zum Beispiel bei edlen und unedlen Metallen eingeführt. Der Fall zeigt ehrlicherweise auch, dass Betrugsbekämpfung massive bürokratische Auswirkungen haben kann. Zum Beispiel eine gesplittete Rechnung beim Kauf von Alufolie im Baumarkt an einen Unternehmer. Daher denken wir gegenwärtig über die Einführung einer Bagatellgrenze und Korrekturen nach. Außerdem sieht die Mehrwertsteuersystemrichtlinie mittlerweile vor, dass die Mitgliedstaaten der Union den sogenannten Schnellreaktionsmechanismus einführen können. Mit dem Zollkodex-Anpassungsgesetz wollen wir das umsetzen. Es geht darum, das Bundesministerium der Finanzen dazu zu ermächtigen, in dringenden Fällen den Leistungsempfänger zum Schuldner der Umsatzsteuer bestimmen zu können. Damit steht ein weiteres wirksames Instrument zur Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung bereit. Die EU-Kommission will Überlegungen zu einem umfassenden Umbau der Mehrwertsteuersystemrichtlinie anstellen. Das Ziel sei ein einfacheres, wirksameres und betrugssicheres Mehrwertsteuersystem für den Binnenmarkt. Wir würden das sehr begrüßen. Ich bin sicher, dass sich auch die Bundesregierung erneut konstruktiv in diese Debatte einbringt. Sie fordern gleiche Zugriffsrechte von Bund und Ländern auf Datenbanken und Steuerstatistiken. Sie wissen doch, dass es schon eine beim Bundeszentralamt für Steuern angesiedelte Stelle zur Koordinierung der Prüfungsmaßnahmen der Länder gibt. Diese ist gerade für die Fälle, in denen mehrere Bundesländer oder andere EU-Mitgliedstaaten eingebunden werden müssen, eingerichtet worden. Diese Koordinierungsstelle beschränkt ihre Arbeit nicht nur auf die Koordination der betroffenen Behörden, sondern sammelt selbst Informationen über Betrugsmuster und gibt diese an die Behörden weiter. Die Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug ist wichtig, und ich habe ausgeführt, dass wir viel dafür getan haben und tun werden. Bei allen Maßnahmen gilt es, das richtige Maß zwischen Betrugsbekämpfung und unnötiger Bürokratie zu finden. Auch ist klar: Es wird immer Leute geben, die geltende Gesetze umgehen. Die Bundesregierung ist bei der Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug auf einem guten Weg. Ihres Antrages bedarf es daher nicht, insbesondere weil einige Punkte, die dort angesprochen sind (Gelangensbestätigung, Reverse-Charge bei Metallen), bereits umgesetzt worden sind. Gern können wir die einzelnen Maßnahmen noch im Ausschuss diskutieren. Wichtig ist aber: Der Umsatzsteuerbetrug muss bekämpft werden. Das wird eine ständige Aufgabe sein, der wir uns stellen. Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Umsatzsteuerbetrug bekämpfen“ adressiert ein altbekanntes Problem. Durch Umsatzsteuerbetrug entgehen dem deutschen Fiskus nach Schätzungen des Ifo-Instituts 14 bis 15 Milliarden Euro im Jahr. Ein großer Teil dieser Summe geht dabei auf die Aktivitäten krimineller Organisationen zurück, die staatenübergreifend sogenannte Karussellgeschäfte praktizieren. Aber auch durch geplante Insolvenzen, die Berechnung falscher Steuersätze, nicht korrekte Erfassung von Privatentnahmen oder manipulierte Registrierkassen werden jährlich erhebliche Beträge an Umsatzsteuer hinterzogen. Der Bundesrechnungshof hat im September 2012 zusammen mit den Kollegen aus Belgien und den Niederlanden einen Bericht vorgelegt, in dem auf zwei EU-Schätzungen aus dem vergangenen Jahrzehnt verwiesen wird, wonach sich der Schaden in der EU auf 100 Milliarden Euro im Jahr belaufe. Der Umsatzsteuerbetrug kann aber auch für ehrliche Unternehmer zu einem ernsten Problem werden. Die ungewollte Verwicklung in Umsatzsteuerbetrugsaktivitäten kann fatale Konsequenzen für Unternehmen und deren Mitarbeiter haben. Denn nach der Rechtsprechung des BFH trägt der Unternehmer die Feststellungslast für den Vorsteuerabzug. Der EuGH hat zwar mittlerweile in verschiedenen Urteilen festgestellt, dass die Finanzbehörden die objektiven Umstände dafür darlegen müssen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der von ihm bezogene Eingangsumsatz in eine Steuerhinterziehung einbezogen war. Dennoch besteht für den ehrlichen Unternehmer immer noch ein erhebliches Risiko, auch wenn er unwissentlich in einen Umsatzsteuerbetrug verwickelt wird. Unternehmer müssen nach der Rechtsprechung des EuGH die vernünftigerweise von ihnen zu erwartenden Maßnahmen gegen die Einbeziehung in eine Umsatzsteuerhinterziehung treffen. Deshalb muss sich der Unternehmer durch geeignete organisatorische Maßnahmen im Unternehmen davor schützen. Umsatzsteuerbetrugsgeschäfte tauchen verstärkt bei hochpreisigen sowie schnell handelbaren Wirtschaftsgütern auf. Ein besonders dreister Fall war vor einigen Jahren der Betrug beim Handel mit Verschmutzungsrechten, in den auch die Deutsche Bank einbezogen war. Hier sind binnen kürzester Zeit Hunderte von Millionen Euro durch Umsatzsteuerbetrüger ergaunert worden. Besonders gefährdet sind Branchen, die nicht unter das Reverse-Charge-Verfahren im Sinne von § 13 b Absatz 2 UStG in Verbindung mit § 13 b Absatz 5 UStG fallen. Im Rahmen des Kroatien-Gesetzes haben wir hier für bestimmte Produkte eine Umkehr der Steuerschuldnerschaft festgelegt, beispielsweise für die Lieferung von Edelmetallen wie Gold, Silber und Platin sowie aller unedlen Metalle und für bestimmte Elektronikartikel wie Spielekonsolen und Tablet-PCs. Soweit erforderlich, wird eben sehr schnell auf erkannte Betrugsfälle auch vonseiten des Gesetzgebers reagiert. Auch durch das Zollkodexanpasssungsgesetz wird eine weitere Möglichkeit zur Bekämpfung von Betrügereien geschaffen. Die Finanzverwaltung bekämpft ganz systematisch den Umsatzsteuerbetrug. Dazu verwendet die Finanzverwaltung Checklisten, die entsprechende Verdachtsmomente bzw. Auffälligkeiten auflisten. Das BMF hat gemäß einem Artikel in der Zeitung PStR Praxis Steuerstrafrecht einen mehr als 100 Punkte zählenden Katalog von Verdachtsmomenten zusammengestellt. Ebenso enthält, wie in dem Artikel ausgeführt wird, das bundeseinheitliche Handbuch für die Umsatzsteuer-Sonderprüfung eine eigene Passage betreffend Umsatzsteuerkarussellgeschäfte. Hier sind Leitlinien und Hinweise für das Erkennen, die Aufdeckung und die -Behandlung von Umsatzsteuerbetrugsgeschäften niedergelegt. Darüber hinaus arbeitet die Finanzverwaltung sehr eng mit den entsprechenden Behörden im In- und Ausland zusammen, um auch den Betrug über die Grenze hinweg zu verfolgen. Es gäbe sicherlich noch eine ganze Reihe von Möglichkeiten, den Umsatzsteuerbetrug einzudämmen. Aber vieles davon lässt sich eben nicht so einfach verwirklichen. In den vergangenen Jahren wurde beispielsweise von Deutschland aus der Versuch unternommen, zur Eindämmung des Umsatzsteuerbetruges das Reverse-Charge-Modell für die Umsatzbesteuerung einzuführen. Leider scheiterte das aber an den anderen Ländern in der EU, die sich nicht dazu durchringen konnten, dem deutschen Vorstoß zuzustimmen. Das ist das Dilemma. Das Umsatzsteuerrecht ist weitgehend durch europäisches Recht geprägt. Veränderungen im Umsatzsteuerrecht sind deshalb alleine auf nationaler Ebene nur noch sehr eingeschränkt möglich. Deshalb muss zur Eindämmung von Betrügereien auf jeden Fall auf eine gesamteuropäische Lösung gesetzt werden. Derzeit bereitet die EU-Kommission anscheinend einen weiteren Anlauf vor, das europäische Mehrwertsteuersystem weiter zu vereinheitlichen und dadurch die Betrugsanfälligkeit des Systems zu verringern. Wir berücksichtigen schon heute alle Möglichkeiten, soweit Handlungsbedarf auf diesem Gebiet erforderlich ist, durch gesetzgeberische Maßnahmen, wie das Kroatien-Gesetz gezeigt hat. Dabei gilt es ganz allgemein, einen ausgewogenen Mix von Vermeidung von Betrügereien, personellen Ressourcen und zumutbarem Bürokratieaufwand zu finden. Bevor wir deshalb weitere Maßnahmen ergreifen, sollten wir die Wirkungen der bisher schon eingeleiteten Maßnahmen abwarten. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. Frank Junge (SPD): Jeder Euro, der unserem Staat durch Steuerhinterziehung oder Steuerbetrug verloren geht, schwächt ihn in seiner Fähigkeit, Aufgaben und dringend benötigte Leistungen für seine Bürgerinnen und Bürger zu übernehmen. Insofern vergehen sich Hinterzieher und Betrüger in puncto Steuern doppelt an der Allgemeinheit: rechtlich, weil sie gegen das Gesetz verstoßen, und moralisch, weil sie die gleichen infrastrukturellen Leistungen des Staates nutzen und in Anspruch nehmen, die Kosten dafür jedoch anderen aufbürden. Und dann meist sogar noch denen, die finanziell wesentlich schlechter gestellt sind als sie selber. Für uns Sozialdemokraten ist das eine mordsmäßige Sauerei, die wir mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln konsequent bekämpfen, verfolgen und bestrafen müssen. Wenn wir also heute über Ihren Antrag zum Thema Umsatzsteuerbetrug reden, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, dann freue ich mich grundsätzlich sehr darüber, dass Sie dieses Thema auf die Tagesordnung gehoben haben. Es zeigt mir nämlich, dass Ihnen das Problem und die Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs genauso am Herzen liegen wie meiner Fraktion. Auf der anderen Seite wird mir jedoch nicht klar, an welcher Stelle Ihr Antrag heute neue Aspekte oder Ansatzpunkte bietet, an denen wir andocken sollten. Oder wollten Sie den Inhalt eines diesbezüglichen Antrages von Ihnen aus der letzten Wahlperiode hier einfach nur noch einmal mit uns erörtern? So oder so kann ich Ihnen sagen, dass wir uns bei der Widerspiegelung der Bedeutung und der Tragweite des Problems für unser Land allem Anschein nach einig sind. Wir Sozialdemokraten setzen uns daher entschieden gegen jede Form von Steuerhinterziehung ein. Wir werden es nicht hinnehmen, dass unserem staatlichen Gemeinwesen jährlich Milliarden von Steuern vorenthalten werden. Wir haben daher im Koalitionsvertrag ein entschiedenes Vorgehen gegenüber Steuerhinterziehern vereinbart und konkrete Maßnahmen dafür bereits einge-leitet. National werden wir die Regelungen zur steuerbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung deutlich verschärfen. Zudem hat Deutschland – Sie erinnern sich an unsere Debatte vom heutigen Vormittag hier im Deutschen Bundestag – ein Abkommen zum automatischen Informationsaustausch in Steuersachen unterzeichnet, das es uns zukünftig leichter machen wird, Steuerhinterzieher zu enttarnen. Dass 50 Staaten diesen hohen Steuerstandard anwenden wollen, ist aus Sicht der SPD-Fraktion ein großer Erfolg. Diesen Stand der Dinge habe ich selbst vor noch nicht allzu langer Zeit für unmöglich gehalten. Ich möchte daher von hier aus gern einen Dank an Bundesfinanzminister Schäuble senden, der sich für dieses Abkommen eingesetzt hat. Ich unternehme das jedoch nicht, ohne mit gewissem Stolz darauf hinzuweisen, dass wir heute nicht an diesem Punkt stehen würden, wenn das geplante schwarz-gelbe Steuerabkommen mit der Schweiz aus der letzten Legislatur nicht gestoppt worden wäre. Aber kommen wir zurück zum Umsatzsteuerbetrug, dem eigentlichen Thema Ihres Antrages. Dessen Bekämpfung ist naturgemäß eine Daueraufgabe, die sich faktisch seit der Einführung des europäischen Mehrwertsteuersystems stellt. Für den Staat ist die Umsatzsteuer eine der wichtigsten Einnahmequellen überhaupt. Allein im Jahr 2013 betrug das Umsatzsteueraufkommen 196 Milliarden Euro. Nach Schätzungen des ifo-Instituts von 2007 entgehen der Bundesrepublik Deutschland 14 bis 15 Milliarden Euro jährlich durch Hinterziehung. Sie haben daher recht, wenn Sie in Ihrem Antrag von der Betrugsanfälligkeit bei der Umsatzsteuer sprechen. Diese ist allerdings systembedingt. Eine grundsätzliche Lösung kann es deshalb nur auf internationaler Ebene, in Zusammenarbeit mit unseren Partnerländern in der Europäischen Union, geben. Gerne gehe ich nachfolgend noch konkreter auf verschiedene Punkte aus Ihrem Antrag ein. Sie schreiben, dass Sie eine bessere Bund-Länder-Zusammenarbeit wünschen, um Kompetenzen zu bündeln und schneller bei Betrugsdelikten aktiv zu werden. Da sind wir ganz bei Ihnen. Lassen Sie uns das ausführlich im dafür zuständigen Finanzausschuss tun und dort gemeinsam prüfen, an welchen Stellen man Verbesserungen erreichen kann. Sie fordern, dass die Hinweise auf Betrug mit manipulierten Registrierkassen ernst genommen werden müssen und dazu ein Gesetzentwurf vorgelegt werden soll. Sorry, da müssen Sie nicht aufgepasst haben. Bereits knapp zwei Monate vor Ihrem Antrag, am 7. Mai 2014, hat meine Fraktion dieses Anliegen im Finanzausschuss thematisiert. Hierzu erklärte der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister, dass sich das Finanzministerium derzeit in Gesprächen mit den Ländern befinde und alle Länder diesbezüglich einen Handlungsbedarf erkennen. Ob der Gesetzgeber oder die Verwaltung tätig werden muss, bleibt abzuwarten. Diesen Punkt hätten Sie sich in Ihrem Antrag also sparen können, bzw. es wäre meines Erachtens konstruktiver gewesen, zunächst die gewonnenen Erkenntnisse aus den diesbezüglichen Gesprächen des Bundesfinanzministeriums mit den Ländern abzuwarten. Einig sind wir uns allerdings wieder bei der Eindämmung von Umsatzsteuerbetrugsgestaltungen durch das sogenannte Reverse-Charge-Verfahren. Mit dem Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften haben wir die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers für betrugsanfällige Branchen eingeführt, unter anderem für die von Ihnen angesprochenen Lieferungen von unedlen Metallen und Edelmetallen. Im Rahmen des Zollkodex-Anpassungsgesetzes führen wir außerdem den Schnellreaktionsmechanismus ein. Wie im Koalitionsvertrag angekündigt, kann die Verwaltung künftig umgehend und gezielt auf Betrugsfälle reagieren. Und das ist natürlich richtig so! Sie sprechen zudem davon, dass die Bundesregierung auf EU-Ebene weiter auf einen Systemwechsel hin zu einem generellen Reserve-Charge-Verfahren drängen soll. Ich sage Ihnen: Auch hier vertreten wir die gleiche Position. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass diesbezügliche Initiativen bisher geplatzt sind. Im Jahr 2007 haben wir uns fraktionsübergreifend für einen solchen Systemwechsel auf europäischer Ebene eingesetzt. Damit sind wir krachend am Widerstand der Kommission und zahlreicher Mitgliedstaaten gescheitert. Es gab nicht ansatzweise genügend politische Unterstützung für unser Vorhaben. Gleichwohl können Sie sich sicher sein, dass wir – und das gilt selbstverständlich auch für die Bundesregierung – alle formellen und informellen Wege nutzen, um das Thema in den zuständigen Gremien der EU anzusprechen und für einen Systemwechsel zu werben. Er läge im Interesse der Wirtschaft wie der Finanzverwaltung, da punktuelle Ausnahmen das Steuerrecht natürlich verkomplizieren und bürokratischen Aufwand erzeugen. Wir brauchen den generellen Systemwechsel. Solange wir den aber nicht haben, soll die Verwaltung den Schnellreaktionsmechanismus mit Augenmaß einsetzen. Zum Schluss meiner Rede will ich meine Worte kurz zusammenfassen: Erstens. Inhaltlich, liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, bringt Ihr Antrag heute überhaupt nichts Neues. Zweitens. Uns eint offensichtlich der Wille, unsere Kräfte zu bündeln, um noch wirkungsvoller gegen Umsatzsteuerbetrüger vorzugehen. Lassen Sie uns deshalb genau das tun und uns im Finanzausschuss weiter mit dem Thema auseinandersetzen. Richard Pitterle (DIE LINKE): Wir diskutieren heute Abend einen Antrag mit dem Titel „Umsatzsteuerbetrug bekämpfen“. Wie wir alle wissen, ist der Betrug besonders bei der Umsatzsteuer hoch – und das schon seit Jahren. Die Europäische Kommission schätzt die Steuerausfälle allein für Deutschland auf rund 27 Milliarden Euro jährlich. Das bestreitet zwar die Bundes-regierung pflichtgemäß, aber man braucht bloß die einzelnen Beträge nachzurechnen, und dann sieht man, dass es ungefähr hinkommt. 27 Milliarden Euro – das ist mehr als die Bundesregierung pro Jahr für Bildung, Forschung und Gesundheit ausgibt. Warum ist das so? Manipulierte Kassen in Geschäften und Restaurants, Abzug von Umsatzsteuer, ohne dass sie vorher bezahlt wurde – also Vorsteuerabzug –, Schwarz-arbeit, unterschiedliche EDV-Systeme in den Finanzverwaltungen der Bundesländer und so weiter – die Liste der Ursachen ist lang. International werden Betrügereien durch unterschiedliche gesetzliche Rahmenbedingungen erleichtert. Welcher Mehrwertsteuersatz in einem europäischen Land gilt, ist nicht ohne Weiteres sofort zu erkennen – unterliegt der Umsatz der vollen Mehrwertsteuer, oder ist einer der ermäßigten Umsatzsteuersätze anzuwenden? Das nutzen manche Unternehmen aus und berechnen oft weniger Umsatzsteuer als vorgeschrieben. Warum ist Umsatzsteuerbetrug in Deutschland so leicht möglich? Das liegt daran, wie hier die Umsatzsteuer abgerechnet wird. Üblicherweise muss der Verkäufer, also der Lieferant, für seine verkauften Waren die von dem Käufer erhaltene Umsatzsteuer an das Finanzamt zahlen. Diese also von dem Käufer gezahlte Umsatzsteuer kann der Käufer gegenüber dem Finanzamt geltend machen, als sogenannte Vorsteuer, sofern er Unternehmer ist und die übrigen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug gegeben sind. Der Käufer holt sich also die von ihm an den Verkäufer gezahlte Umsatzsteuer direkt vom Finanzamt zurück. Er weiß aber nicht, ob der Verkäufer die von ihm, dem Käufer, erhaltene Umsatzsteuer tatsächlich an das Finanzamt gezahlt hat. Hier eröffnen sich zahlreiche Betrugsmöglichkeiten. Denn das Finanzamt kann nicht sofort überprüfen, ob das der Verkäufer auch tatsächlich so gemacht hat, sondern muss sich erst mal auf die Umsatzsteuererklärungen und die Einhaltung der Gesetze verlassen – dass also alles gezahlt wurde wie vereinbart. Besser wäre es, wenn der Käufer der Ware die von ihm an den Lieferanten gezahlte Umsatzsteuer selbst verrechnen würde. Der Käufer zahlt also die Umsatzsteuer selbst an das Finanzamt und der Lieferant berechnet erst gar keine Umsatzsteuer. Das würde nicht nur den Umsatzsteuerbetrug erheblich reduzieren, sondern auch für die Finanzämter vieles vereinfachen. Außerdem müssten die Käufer die an den Lieferanten gezahlte Umsatzsteuer nicht bis zur Erstattung durch das Finanzamt finanzieren. Fachlich spricht man von einer Umkehrung der Steuerschuldnerschaft vom Leistungserbringer auf den Leistungsempfänger – Fachausdruck „Reverse Charge“. Dadurch, dass nur der Käufer seine gezahlten und seine erhaltenen Umsatzsteuern verrechnen kann und die Differenz an das Finanzamt abführen muss, werden die sogenannten Karussellgeschäfte verhindert, mit denen Steuerbetrügereien durchgeführt werden. Bei den Karussellgeschäften zahlen einige (Schein-)Unternehmen in einer längeren Lieferkette die erhaltene Umsatzsteuer nicht an das Finanzamt. Das Finanzamt erstattet zwar die Vorsteuer an den Käufer, hat die Umsatzsteuer vom Verkäufer aber gar nicht erhalten. Bei der Umkehr der Steuerschuldnerschaft müsste das Finanzamt nicht mehr die Vorsteuer auszahlen, sondern bräuchte sie nur noch zu verrechnen. Diese Umkehrung vom bisherigen Ablauf ist in Deutschland aber nichts grundsätzlich Neues; denn bereits jetzt gibt es zahlreiche Ausnahmen, zum Beispiel in der Bauwirtschaft, bei Grundstücksgeschäften oder Unternehmenspleiten (§ 13 b UStG). Daher wäre eine Umkehrung der Steuerschuldnerschaft also nicht komplett neu. Obwohl wir also wissen, wo die Probleme liegen, obwohl wir wissen, dass viel Steuergeld verloren geht, wird wenig dagegen getan. Zwar haben sich die EU-Kommission und andere -europäische Staaten bisher nicht kooperativ gezeigt und sowohl eine entsprechende Änderung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie als auch den Weg über eine Ermächtigung zur Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens als Sondermaßnahme abgelehnt. Aber in anderen Fällen übt die Bundesregierung doch auch Druck auf die Kommission und auf EU-Länder aus, um ihre Ziele durchzusetzen. Hier aber hält sie sich vornehm zurück, obwohl jedes Jahr Milliarden an Steuereinnahmen verloren gehen. Mit denen könnten Sie, Herr Schäuble, Ihre „schwarze Null“ im Bundeshaushalt problemlos erreichen, ohne auf Investitionen in Bildung und Infrastruktur zu verzichten. Die Linke fordert seit längerer Zeit die Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens als ein wesentliches Element zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs, und daher fordern wir die Bundesregierung nachdrücklich auf, sich verstärkt auf europäischer Ebene für die Einführung der Steuerschuldumkehr einzusetzen. Es gibt eine neue EU-Kommission, und damit sind die Chancen gestiegen, jetzt zu einer neuen Regelung zu kommen. Daher können wir auch dem Antrag der Grünen zustimmen. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Beim Thema Umsatzsteuerbetrug – so sollte man meinen – können wir hier im Deutschen Bundestag leicht Übereinstimmung aller Fraktionen erzielen. Es gehört ja mittlerweile zum politischen Alltag, dass Steuerausfälle durch Betrug oder Gestaltung von allen politischen Seiten angeprangert werden, übrigens egal ob von uns in der Opposition oder seitens der Bundesminister Gabriel oder Schäuble. Und natürlich ist das in der Sache auch richtig, zumal wir ja auch aufgelistet haben, dass schon die benennbaren Umsatzsteuerausfälle 9 Milliarden Euro betragen. Nur gehören zu den schönen Worten auch Taten, meine Damen und Herren in der Bundesregierung! Das gilt insbesondere dann, wenn man wie die Union seit 2009 den Finanzminister stellt. In der Realität muss man leider sagen, dass genau an dieser Stelle steuerpolitisch, insbesondere was die Umsatzsteuer betrifft, Leistungsverweigerung betrieben wird, und das schließt dann auch das Thema Umsatzsteuerbetrug ein. Konkret zur Sache: Wir reden an dieser Stelle später noch über das Zollkodex-Gesetz aus dem BMF und werden in diesem Zusammenhang auch die Einführung eines nationalen Schnellreaktionsmechanismus gegen Umsatzsteuerbetrug debattieren. Insofern kann man dem BMF keine Untätigkeit vorwerfen, aber man muss feststellen, dass wir beim Thema Umsatzsteuerbetrug langsam an die Grenze des national Möglichen und Sinnvollen stoßen. Wir haben in der jüngeren Vergangenheit immer wieder die sogenannten Reverse-Charge-Tatbestände, also die Fälle in denen Umsatzsteuerzahlung und -erstattung in einer Hand liegen, erweitert. Dies will ich an dieser Stelle nicht infrage stellen, sondern weise ausdrücklich darauf hin, dass uns erst Hinweise aus den Finanzämtern gezwungen haben, zu handeln, um Steuerausfälle durch Betrug zu vermeiden. An dieser Stelle sind wir uns in der Bewertung der Sache sicher auch einig. Das schließt auch den fünften Punkt unseres Antrags ein, den die Bundesregierung auf Initiative der Bundesländer mittlerweile umgesetzt hat. Dennoch sollten wir uns an dieser Stelle eingestehen, dass wir nicht unbegrenzt neue Sonderregelungen schaffen können, weil dadurch das Umsatzsteuerrecht noch sehr viel unübersichtlicher und schwerer handhabbar wird, als es heute schon ist. Und hier ist der Finanzminister gefordert, das Thema endlich europäisch stärker zu thematisieren. Während die alte EU-Kommission einen Vorstoß mit ihrem Grünbuch zur Reform der Mehrwertsteuer gestartet hat, verharren Herr Schäuble und das BMF hier in einer nicht nachvollziehbaren Lethargie und bremsen eher, als dass sie sich beispielsweise weiter für einen generellen Übergang zu einem Reverse-Charge-Verfahren einsetzen würden. Dabei ist genau das der Schlüssel, um Umsatzsteuerbetrug wirksam zu begrenzen und Unternehmen ein administrierbares Steuerrecht zu bieten. Und wenn es nicht zu einer gesamteuropäischen Regelung kommen kann, weil einzelne Mitgliedstaaten eine Reform blockieren, sollte dennoch darüber nachgedacht werden, ob nicht Sondergenehmigungen für eine vollständige Umstellung einzelner Nationalstaaten auf das Reverse-Charge-Verfahren angestrebt werden sollten, zumal dies den innereuropäischen Warenverkehr nicht beeinflussen würde. Hier ist es an der Bundesregierung, Lösungen zu entwickeln. Aber auch national müssen wir mehr und vor allem schneller handeln. Wir befinden uns in der Situation, dass wir im Deutschen Bundestag auf Hinweise aus den Ländern angewiesen sind, wenn es um Steuerbetrug geht. Das BMF verweigert den Mitgliedern des Bundestags stets konkrete Aussagen und zieht sich auf den Standpunkt zurück, dass Steuervollzug eben Ländersache ist und es keine konkreten Informationen zu Betrugsfällen gibt. So stehen wir vor einer bizarren „Friss-oder-Stirb“-Situation ohne die konkreten Hintergrund-informationen einer geplanten Gesetzesänderung zu kennen. Das schließt auch Reaktionen auf Betrugsfälle ein, und deswegen müssen wir die Entscheidungsgrundlage für den Bundestag als legislatives Organ unserer Verfassung stärken; dazu gehören auch mehr und bessere Informationen für Steuerdaten und Betrugsfälle. Und wenn man Betrug bekämpfen will, dann sollte man es auch schnell und richtig machen: Beispiel Gelangensbestätigung: Das BMF denkt sich per Verordnung einen neuen Nachweis zur Bestätigung eines EU-Exports aus und begründet das mit Bürokratieerleichterungen für Unternehmen und der Notwendigkeit, Betrug besser Einhalt gebieten zu können. Im -Ergebnis fürchten Unternehmen aktuell neue Rechts-unsicherheiten. Zudem ist die Fälschungssicherheit einer Gelangensbestätigung schlicht nicht gegeben, sondern im Zweifel sogar größer als bei anderen gängigen Ausfuhrbelegen. Nehmen wir das Beispiel Betrug mit manipulierten Registrierkassen: Nordrhein-Westfalen hat Belege geliefert, dass an dieser Stelle hohe Steuerausfälle entstehen, unter anderem durch fehlende Umsatzsteuereinnahmen. Hier ziert sich das BMF, eine einfache und schnelle Lösung zu beschließen. Vorschläge dazu gibt es, etwa die Einführung manipulationssicherer Kassen. Die entstehenden Kosten dazu halten sich im Rahmen. Nehmen wir das Beispiel Betrug bei differenzbesteuerten Waren. Hier schlug der Bundesrechnungshof eine Ergänzung bei der Umsatzsteuererklärung um eine Angabe vor. Der bürokratische Aufwand wäre gering, aber die Finanzämter könnten Betrug potenziell sehr viel schneller erkennen. Was ist passiert? Nichts! Die Bundesregierung muss dem Thema Umsatzsteuerbetrug endlich international eine höhere Bedeutung beimessen und sich innerhalb der EU für handhabbare Lösungen einsetzen, sie muss national mit Augenmerk auf Betrugsfälle reagieren, und sie darf auf keinen Fall bestehenden Betrug weiter durch Nichthandeln dulden. Herr Schäuble muss seinen steuerpolitischen Winterschlaf endlich beenden. Gerade bei diesem Thema verkennt er die Bedeutung und wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings (Tagesordnungspunkt 18) Matthias Hauer (CDU/CSU): Mit der heutigen Verabschiedung des Ratinggesetzes machen wir einen weiteren wichtigen Schritt zu einer wirksamen Regulierung der Finanzmärkte. Wir haben uns im Koalitionsvertrag klar festgelegt und gehen mit dem Ratinggesetz direkt in die Umsetzung: Wir reduzieren die Bedeutung externer Ratings; wir fördern die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Ratingagenturen; wir bauen Regelungen ab, die eine Einschaltung der drei großen Ratingagenturen vorschreiben; wir verbessern die Aufsicht; wir führen harte Sanktionen bei Verstößen ein. Das Ratinggesetz steht somit für strengere Regeln auf den Finanzmärkten – und dafür stehen auch CDU und CSU. Bevor ich auf die Details zu sprechen komme, lassen Sie uns gemeinsam noch einen Blick zurück werfen. Die Wurzeln der Ratingagenturen reichen über 150 Jahre zurück – bis in die Zeit des Wilden Westens: In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Amerika die Vorläufer der ersten Ratingagenturen gegründet. Die voranschreitende Besiedlung und größere Distanzen zwischen den Kaufleuten erzeugten Anonymität und schürten Misstrauen. Bald wurden Informanten dafür bezahlt, Profile über Geschäftsleute und über einzelne Geschäfte zu erstellen. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden die ersten modernen Ratingagenturen gegründet. Es war eine Zeit der Pioniere: Neue Territorien in den USA wurden besiedelt, Eisenbahnstrecken wurden gebaut – der Finanzbedarf war extrem hoch. Die Finanzierung über Banken reichte nicht aus: Einige Banken hatten nicht genug Geld – andere scheuten die Kreditvergabe gerade an die vielen neu gegründeten Unternehmen. Neue Lösungen mussten her: Die Unternehmen beschafften sich das Kapital fortan durch die Emission von Wertpapieren. Eisenbahnanleihen, aber auch Staatsanleihen bildeten seitdem den Kern des neu entstandenen Kapitalmarkts der Vereinigten Staaten von Amerika. Solche Wertpapiere amerikanischer Eisenbahnfirmen genauer zu analysieren und zu bewerten, diese Idee legte damals den Grundstein für die Entwicklung der modernen Ratingagenturen. Die Agenturen – damals gegründet als Stifter von Transparenz, Vergleichbarkeit und Vertrauen – entwickelten sich über die Jahrzehnte hinweg zu vermeintlich allwissenden und unfehlbaren Instanzen. Drei von ihnen etablierten sich besonders stark. Viele lauschten den Verkündungen dieser drei großen Ratingagenturen wie einst den Weissagungen des Orakels von Delphi. In der Finanzkrise ab dem Jahre 2008 sind die Probleme mit Ratingagenturen sehr deutlich geworden – der Hauch von Allwissenheit ist der Klarheit gewichen, dass die Agenturen erheblich zur Entstehung der Krise beigetragen haben. Finanzprodukte, Unternehmen und Staaten wurden unrealistisch positiv bewertet, ein zu niedriges Risiko wurde suggeriert und Ausfallrisiken wurden unterschätzt. Als sich die Krise dann zuspitzte, erfolgte die Anpassung der Ratings viel zu spät. Gerade die Länderratings verwandelten den Sturm der Finanzkrise in einen wirtschaftlichen Orkan. Hinzu kamen massive Interessenkonflikte: Nicht selten wurde eine Agentur von demselben Unternehmen ausgewählt und bezahlt, das sie auch bewerten sollte. Ratingagenturen konzipierten oft sogar selbst Finanzprodukte, die sie dann später bewerteten. Und diese Produkte wurden anschließend von den Muttergesellschaften der Ratingagenturen im großen Stil gehandelt. Sowohl der europäische als auch der nationale Gesetzgeber haben auf diese Missstände reagiert: Mit -Unterstützung der unionsgeführten Bundesregierungen leistete die Europäische Union 2009 mit der Ratingverordnung und der ersten Novelle 2011 bereits einen wichtigen Beitrag zur strengeren Beaufsichtigung von Ratingagenturen. Seit 2009 besteht für Ratingagenturen eine Registrierungspflicht. Dazu gehören umfangreiche Prüfungs- und Genehmigungsverfahren und eine laufende Beaufsichtigung. Dies waren erste wichtige Schritte, um die Transparenz des Bewertungsprozesses von Ratingagenturen zu erhöhen, Interessenkonflikte zu vermeiden und Regelverstöße mit Bußgeldern zu ahnden. Im Jahr 2011 wurde dann mit der ersten Novelle der Ratingverordnung die Aufsicht an die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde, ESMA, übertragen. Zusätzlich wurde die Transparenz für Ratings strukturierter Finanzprodukte erhöht. Diesen richtigen Weg führen wir mit der zweiten Novelle der Verordnung, der Richtlinie und schließlich dem vorliegenden Ratinggesetz nun konsequent weiter. Zunächst müssen wir aber noch deutlich machen: Wir brauchen auch weiterhin externe Ratings. In einer globalisierten Welt mit Millionen von Finanzierungsentscheidungen sind Bonitätsbewertungen unerlässlich. Dafür muss es jedoch einen geordneten Rahmen geben – mit klaren Regeln für alle Beteiligten. Daher hat die EU mit deutscher Unterstützung in der zweiten Novelle der Ratingverordnung die Regulierung der Ratingagenturen verschärft: Die Transparenz von Länderratings wird verbessert. Es gibt nun klare Regeln hinsichtlich Inhalt, Zeitpunkt und Anzahl der Veröffentlichungen. Jede Ratingagentur darf nur noch dreimal im Jahr nicht angeforderte Länderratings abgeben und muss die Termine der Veröffentlichungen vorher bekannt geben. Sie müssen zudem die wesentlichen Faktoren erläutern, die ihren Ratings zugrunde liegen. Auch dürfen Ratingagenturen in Zukunft keine Empfehlungen mehr für die Finanzpolitik von Staaten abgeben. Die Interessenkonflikte bei Ratingagenturen werden reduziert. Zum einen haben wir mit den Höchstlaufzeiten für vertragliche Beziehungen nun ein Rotationsprinzip. Der regelmäßige Wechsel verringert die Abhängigkeit der Agenturen von den Marktteilnehmern. Zugleich erleichtert die Rotation kleineren Ratingagenturen den Zugang zum Markt und erlaubt es gerade spezialisierten Agenturen, sich breiter aufzustellen. Zum anderen wurden klare Regeln aufgestellt, dass Anteilseigner und Mitglieder einer Ratingagentur keine Kontrolle oder einen beherrschenden Einfluss auf eine andere Ratingagentur ausüben können. Die Ratingagenturen werden für Fehler zur Verantwortung gezogen. Die Grundlage für eine zivilrechtliche Haftung wurde geschaffen. Wenn Agenturen gegen die Regeln verstoßen, sollen sie auch effektiv gegenüber Anlegern und Emittenten haften und Schadensersatz leisten müssen. Mit dem vorliegenden Ratinggesetz stärken wir die Aufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin. Damit erhält diese die Befugnis, insbesondere die Einhaltung der folgenden Pflichten zu überwachen, die ebenfalls in der Verordnung angelegt sind. Zudem geben wir der BaFin mit dem Ratinggesetz Sanktionsmöglichkeiten an die Hand, um Pflichtverstöße mit Bußgeldern zu ahnden. Marktteilnehmer werden in Zukunft auch eigene Risikoanalysen vornehmen müssen. Eine unkritische Übernahme von externen Ratings führte in der Vergangenheit häufig zu falschen Einschätzungen der Ausfallrisiken. Ein ausschließlicher oder automatischer Rückgriff auf Ratings ist daher nicht mehr zulässig. Die „Ratinggläubigkeit“, der viele Marktteilnehmer in der Vergangenheit mit schwerwiegenden Folgen verfallen sind, wird so eingedämmt. Bei strukturierten Finanzinstrumenten wird es künftig mindestens zwei Bewertungen geben müssen – nämlich durch zwei voneinander unabhängige Ratingagenturen. Auch kleine Agenturen mit einem Marktanteil von unter 10 Prozent sollen in Zukunft einbezogen werden. Dadurch werden europäische Ratingagenturen deutlich gestärkt. Das kann auch dazu beitragen, das über die Jahre aufgebaute Oligopol der drei großen Agenturen aufzubrechen. Transparenz, Vergleichbarkeit und Vertrauen: Mit diesen Zielen wurden Ratingagenturen im 19. Jahrhundert gegründet. Einige von ihnen sind in der Zwischenzeit vom Pfad dieser Tugenden abgekommen. Wir müssen verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt und Ratingagenturen eine Krise mit auslösen oder deren Verlauf negativ beeinflussen. Unser Ratinggesetz wird das Handeln von Ratingagenturen transparenter machen. Es wird kleine, europäische Agenturen am Markt etablieren und stärken. Und es wird einen Teil dazu beitragen, langfristig und nachhaltig für mehr Stabilität auf den Finanzmärkten zu sorgen. Andreas Schwarz (SPD): Wir können uns heute hier alle gemeinsam über einen guten Tag für Deutschland und für Europa freuen. Wir kommen nämlich entscheidend voran. Schon die letzte Große Koalition hat unter der Führung des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück das Schiff Bundesrepublik Deutschland in ruhigen Fahrwassern durch die steife Brise der welt-weiten Wirtschafts- und Finanzkrise geführt. Die Krise führte uns allen vor Augen, dass sich insbesondere die Finanzmärkte mehr und mehr von der Realwirtschaft und damit auch von der Realität entfernt hatten. Das Agieren der Finanzmärkte, das in weiten Teilen in einer Parallel- oder Schattenwelt stattfand, brachte nahezu alle wichtigen Volkswirtschaften ins Schwanken, teilweise ins Fallen. Es war das Verdienst von Peer Steinbrück und Angela Merkel, dass Deutschland so gut durch diese Krise -gekommen ist. Ein Umstand, um den uns viele Staaten beneiden. Es war die wohldurchdachte und maßvolle Politik dieser Jahre, die uns vor Schlimmerem bewahrte. An dieser Stelle möchte ich nicht unerwähnt lassen: häufig mit der Unterstützung von Bündnis 90/Die Grünen. Es widerspricht aber dem sozialdemokratischen Naturell, sich auf dem Erreichten auszuruhen. Wir haben uns lang genug damit auseinandergesetzt, die Symptome der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise zu bekämpfen. Nun geht es aber seit geraumer Zeit darum, sich den -Ursachen zu widmen und somit dafür Sorge zu tragen, dass Krisen eines solchen Ausmaßes künftig verhindert werden und Risiken aus solchen Krisen vermieden bzw. auch anders verteilt werden. Erst heute Morgen haben wir in diesem Hohen Hause dafür einen weiteren wichtigen Schritt unternommen und das Fundament der europäischen Einigung noch weiter gestärkt. Mit der Bankenunion schaffen wir aber nicht nur ein Mehr an Europa, sondern sichern auch die Bürgerinnen und Bürger Europas deutlich stärker vor künftigen Folgekosten von Finanzkrisen. Damit stärken wir das Vertrauen in Europa. Wie wichtig dieses Vertrauen ist, können wir gerade von Ungarn bis zum Baltikum beobachten. Aber wir haben heute nicht nur über die Bankenunion abgestimmt, sondern gehen auch mit der jetzigen -Abstimmung einen weiteren und wichtigen Schritt – zugegeben, nicht ganz so prominent in der medialen Berichterstattung vertreten. In der Finanzkrise wurden Staaten, aber auch weite Teile der Finanzwirtschaft zum Spielball der Urteile der Ratingagenturen, teilweise selbst verschuldet. Hier liegt auch noch ein langer Weg vor uns. Das will ich klar sagen. Trotzdem freue ich mich, dass wir heute mit dem Gesetz zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings einen weiteren von vielen Schritten gehen. Wie bereits erwähnt: Wir – die Staatengemeinschaft und die Finanzwelt selbst – haben uns in den letzten Jahrzehnten in eine unkritische Abhängigkeit der -Ratingagenturen ergeben, die uns mit in die Abwärtsspirale der letzten Jahre hinabzog. Vergessen hat man dabei, wer eigentlich die Akteure hinter den Ratingagenturen sind. Es sind eben keine selbstlosen Finanzanalysten, nicht nur neutrale Institutionen oder unabhängige Marktbeobachter. Nein, es sind Akteure am Finanzmarkt, die an selbigem partizipieren und von selbigem profitieren wollen. Peer Steinbrück hat einst vollkommen zu Recht die Frage gestellt, wer in Europa den Taktstock des Geschehens in der Hand halten soll. Die SPD-Bundestagsfraktion ist sich da sehr sicher: nicht die Ratingagenturen! Und deshalb hat die SPD im vergangenen Bundestagswahlkampf richtigerweise gefordert, dass das Primat der Politik endlich wiederhergestellt werden muss. Diese Forderung haben wir erfolgreich in den Koalitionsvertrag geschrieben. Ich darf die weisen Worte des Koalitionsvertrages zitieren: Die Bundesregierung wird sich für eine effektive Anwendung der zivilrechtlichen Haftungsregelungen für Rating-Agenturen einsetzen und die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Rating-Agenturen fördern. Wir wollen die Rechtsnormen reduzieren, die eine Einschaltung der drei großen Rating-Agenturen vorschreiben. Wir wollen auch die Bedeutung externer Ratings reduzieren. Weiter heißt es: In Zukunft muss noch stärker gelten: Gemeinschädliches Handeln von Unternehmen und Managern muss -angemessen sanktioniert werden. Wir unterstützen die Aufnahme strenger Vorschriften in den maßgeblichen europäischen Rechtsakten, welche insbesondere den Rahmen für Geldsanktionen auf ein angemessenes -Niveau anheben und die Verhängung spürbarer Sanktionen gegen Unternehmen vorsehen, die gegen regulatorische Vorgaben verstoßen, und werden für deren Umsetzung ins deutsche Recht Sorge tragen. Sie sehen also, dass wir uns durchaus etwas vorgenommen haben, was noch gar nicht alles in diesem Gesetzentwurf vollzogen werden kann. Aber mit diesem Gesetzentwurf gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt in die richtige Richtung: Ziel muss es sein, die Abhängigkeit der Finanzbranche von den Bewertungen der Ratingagenturen zu reduzieren. Wenn Sie so wollen, geht es in diesem Gesetzentwurf um die Hilfe zur Selbsthilfe. Mit dem Gesetz verhelfen wir der Wirtschaft zu einer größeren Eigenständigkeit und auch zu einem Mehr an Unabhängigkeit von den Bewertungen der großen Ratingagenturen. Die Unternehmen der Finanzbranche werden künftig verpflichtet sein, stärker eigene und unabhängigere Einschätzungen in der Bonitätsprüfung durchzuführen. Daraus resultieren künftig belastbarere Urteile, die nicht nur dem Staat, sondern vor allem den Unternehmen von großem Nutzen sein werden. Ihre Risikobewertungen stehen nunmehr auf festerem Fundament. Die unkritische und oftmals schematische Übernahme der Ratings der Ratingagenturen – etwa zur Einstufung der Bonitätsgewichtung der Kreditnehmer und Wert-papiere – führte häufig zu erheblichen Fehleinschätzungen von Ausfallrisiken. Die Folgen konnten wir alle -miterleben. Dieses Gefahrenpotenzial werden wir mit dem vorliegenden Gesetz deutlich eindämmen. Denn das ist eine der klaren Lehren aus den Geschehnissen an den Finanzmärkten seit 2008. Die Finanzbranche muss in ihren eigenen Bewertungen und Urteilen endlich wieder viel stärker eigene Einschätzungen in der Bonitätsprüfung vornehmen, um unabhängiger Ausfallrisiken beurteilen zu können. Es darf nicht sein, dass der eine einfach das übernimmt, was der andere bereits vorformuliert hat. Die Gefahr von Kettenreaktionen war und ist somit viel zu groß. Oftmals wurden in der Vergangenheit Risiken viel zu positiv eingeschätzt, häufig durch Interessenkonflikte -innerhalb der Finanzmärkte selbst. Von diesen Interessenkonflikten, die fast logischerweise aus den engen Verflechtungen am Finanzmarkt resultieren, machen wir die Finanzbranche nun unabhängiger. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem heute zu beschließenden Gesetz ein gutes Stück vorankommen. Mit den mittlerweile drei CRA-Verordnungen haben wir auf europäischer und nationaler Ebene die Beaufsichtigung der Ratingagenturen verstärkt, mehr Transparenz in den Ratings geschaffen, Interessenkonflikte deutlich gemildert. Jetzt sorgen wir endlich für noch mehr Unabhängigkeit von den Urteilen der Ratingagenturen! Ich will nicht verhehlen, dass auch wir uns sehr mit dem Gedanken einer großen europäischen Ratingagentur anfreunden konnten. Man muss sich aber auch eingestehen, dass die Schaffung einer solchen Agentur bisher nicht gelang. Übrigens nicht nur politisch. Auch die Wirtschaft selbst vermochte es nicht, zu einer Lösung zu kommen. Hier sollten wir den Gesprächsfaden nicht -abreißen lassen und langfristig weiter an dem Ziel festhalten. Es hilft aber nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. Wir müssen über andere Wege mehr Nachvollziehbarkeit, Transparenz und Unabhängigkeit in das Geflecht der Finanzbranche bringen. Ich denke, im Rahmen der sehr gut funktionierenden großkoalitionären Zusammenarbeit tragen wir mit dem heutigen Gesetz genau dafür Sorge. Deshalb wird die SPD-Bundestagsfraktion diesem Gesetz zustimmen. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Mit der Entfesselung der Finanzmärkte haben Ratingagenturen in den letzten Jahrzehnten eine immer größere Bedeutung gewonnen. Ihr Urteil beeinflusst, zu welchen Konditionen ein Unternehmen oder ein Staat an Kredite kommt. In vielen Gesetzen ist geregelt, dass sich bestimmte Anleger nur an Produkte mit einem bestimmten Rating halten dürfen, etwa bei Versicherungen. Die Zentralbanken berufen sich ebenfalls auf externe Ratings, wenn sie Finanzprodukte bewerten, die sie als Sicherheiten hineinnehmen. In der Finanzkrise hat sich deutlich gezeigt, dass die Ratingagenturen vielfach versagt haben. Dies gilt in besonderem Maß für sogenannte strukturierte Produkte, also extrem komplizierte Finanzprodukte. Diese lassen sich nicht seriös bewerten. Da die Ratingagenturen dafür bezahlt wurden, haben sie es trotzdem gemacht, sich damit eine goldene Nase verdient und Anleger in Scharen in die Irre geführt. Als die Blase schließlich platzte, wurden angeblich hochsichere Papiere praktisch wertlos. Aus diesem und anderen Beispielen ist bekannt, dass bei den Agenturen die Zufriedenheit der Kunden an oberster Stelle steht, nicht ein möglichst treffsicheres Urteil. Bei Entwicklungsländern zeigte sich beispielsweise auch, dass die entsprechenden Ratings von schlechter Qualität waren – weil sich die Bewertung aus privatwirtschaftlicher Perspektive sonst zu wenig rentiert hätte. Ratings sind, so die Ratingagenturen, im Grunde genommen private Meinungsäußerungen, die man schlecht verbieten kann bzw. soll. Sie sind aber weit mehr als das, denn die Verankerung von Ratings in Gesetzen verleiht ihnen einen regulativen Charakter. Es ist leicht möglich, den Markt für Ratings konsequenter zu regulieren und vor allem die Verankerung von Ratings in Gesetzen zu verringern. Die diesem Gesetz zugrunde liegende -Verordnung ist ein Schritt in diese Richtung. Weitere Schritte sind nötig, denn viele starke Maßnahmen haben den EU-Gesetzgebungsprozess nicht überlebt. Die drei großen Ratingagenturen besitzen einen riesigen Marktanteil und haben eine entsprechend große Macht. Sie haben alle drei Wurzeln in den USA. Es gab in den vergangen Monaten Versuche, ihnen eine große private europäische Ratingagentur entgegenzusetzen. Dies ist gescheitert, weil sich dafür nicht genügend Geldgeber fanden. Wir waren immer schon der -Mei-nung, dass dies der falsche Ansatz gewesen ist. Denn für den Aufbau einer neuen großen Agentur braucht man einen langen Atem, und zudem ist nicht gesichert, warum eine private europäische Ratingagentur sich nicht genauso verhalten wird wie die vielfach kritisierten großen Drei. Deswegen halten wir die Gründung einer öffentlichen europäischen Ratingagentur für den deutlich vielversprechenderen Weg. Wir kennen viele öffentliche Finanz-unternehmen, etwa die deutschen Sparkassen oder die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die sich sehr gut mit -Finanzgeschäften auskennen und entsprechend behaupten. Dazu muss man auch Risiken bewerten können. Mit der dafür notwendigen Ausstattung wird auch die öffentliche Ratingagentur kompetente Urteile treffen können. Sie böte den Vorteil, dass sie aus dem jetzigen System der privatwirtschaftlichen Ratings ausbrechen und unter Zugrundelegung anderer Kriterien bewerten könnte. Weitere stärkere Maßnahmen wären etwa das Verbot von weiteren Übernahmen durch die großen Drei oder stärkere Haftungsregeln. All dies steht unter dem Ziel, die Dominanz der Finanzmärkte zu brechen und das Primat der Politik wiederherzustellen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In der Theorie sind Ratingagenturen objektive Dritte: Der Emittent entwickelt ein Produkt, die Ratingagentur bewertet es, und der Investor wählt aus – unter angemessener Zuhilfenahme der objektiven Bewertung. Die Re-alität sieht freilich völlig anders aus: Die Ratingagentur arbeitet häufig eng mit dem Emittenten zusammen, wird von ihm bezahlt, verlässt sich auf die von ihm bereitgestellten Daten und hilft unter Umständen sogar bei der Entwicklung der Produkte, die sie bewertet. Manche Ratingagenturen bewerten Unternehmen, an denen sie oder die an ihnen Anteile besitzen, oder Investoren besitzen Anteile an der Ratingagentur und die von dieser Agentur bewerteten Unternehmen. Investoren waren offenbar nicht willens oder nicht in der Lage, diese engen Beziehungen und die Interessenkonflikte, die dadurch entstehen, zu unterbinden. Trotz der Schwächen im Prozess haben sie ihre Investitionsentscheidungen – zuweilen automatisch und oftmals ohne eigene Prüfung des Produkt-risikos – auf Basis dieser Ratings getroffen. Nun greift der Gesetzgeber ein, um die offensichtlichsten Probleme abzuschwächen: Unter anderem darf eine Ratingagentur nicht länger als vier Jahre am Stück für einen bestimmten Emittenten restrukturierter Finanzprodukte tätig sein und unterliegt dann einer Sperrfrist. Strukturierte Finanzprodukte müssen von mindestens zwei Ratingagenturen bewertet werden. Anteile, die Investoren, zu bewertende Unternehmen und Ratingagenturen aneinander halten, sogenannte Cross-Holdings, sind auf bis zu 10 Prozent begrenzt. Diese Schritte sind positiv zu bewerten, in ihrer Reichweite aber stark eingegrenzt: Cross-Holdings sind nicht grundsätzlich verboten, wichtige Regelungen beziehen sich nur auf das Rating strukturierter oder restrukturierter Finanzprodukte. Das grundsätzliche Prinzip, dass der Emittent für die Bewertung zahlt, wurde nicht infrage gestellt. Darüber hinaus werden regulatorische Anreize gesetzt, um den Wettbewerb auf dem Ratingmarkt zu erhöhen. Ob diese ausreichen, um die Marktmacht der drei größten Ratingagenturen zu beschränken, wird sich zeigen müssen. Skepsis ist hier angebracht, denn ihr Reputationsvorteil ist enorm. Auch die Effektivität von Haftungsansprüchen, die Investoren in Zukunft bei grober Fahrlässigkeit der Ratingagenturen geltend machen können, wird sich erst mit der Zeit zeigen. Doch selbst wenn aufgrund dieser Regelungen Ratings tatsächlich realistischer würden, bliebe es ein Problem, wenn Investoren weiterhin einseitig auf externe Ratings setzten. Es begünstigt Herdenverhalten und hat in Krisenzeiten eine prozyklische Wirkung, wenn alle sich auf dieselben wenigen Bewertungen beziehen. Hier wird durch die Richtlinie und Verordnung auf europäischer Ebene vorgeschrieben, dass bestimmte Investoren auch interne Modelle zur Risikobewertung entwickeln müssen, externe Ratings nicht mehr automatisch die Investitionsentscheidung bestimmen dürfen und ihre Benutzung bis 2020 auch nicht mehr regulatorisch vorgeschrieben sein darf. Die Regulierungsbemühungen sind zu begrüßen, aber ihre Wirkung wird begrenzt sein. Tritt man einen Schritt zurück, kann man sich fragen, warum der Gesetzgeber sich der Ratingproblematik überhaupt annehmen muss. Müssten nicht Investoren das größte Interesse daran haben, dass die Ratings, die sie für die Bewertung des Risikos ihrer Investitionen zurate ziehen, auf nachvollziehbare und sinnvolle Weise zustande kommen? Aus Investorensicht ist es eine feine Sache, sich auf externe Ratings zu verlassen: Diejenigen sollen das Risiko einer Investition beurteilen, die es aufgrund ihrer Erfahrung vermeintlich besonders gut beurteilen können; erweist sich die Beurteilung im Nachhinein als falsch, kann der Investor auf die falsche Bewertung durch die Agentur verweisen, und haben seine Peers sich auf dieselbe Ratingagentur verlassen, steht er im Vergleich auch nicht schlechter da. Hier ist auch ein Umdenken bei Investoren erforderlich, denn die Qualität des Bewertungsprozesses sollte ihnen deutlich stärker am Herzen liegen, als sie es bisher getan hat. Eigene Bewertungsmodelle zu entwickeln und die Abhängigkeit von Ratingagenturen zu verringern, ihre Haftungsansprüche bei Fahrlässigkeit geltend zu machen und im Zweifelsfall lieber eine über jeden Interessenkonflikt erhabene Ratingagentur zu wählen – auch wenn sie unbekannt ist –, sollten Investoren nicht nur aufgrund der neuen Regelungen auf europäischer und nationaler Ebene erwägen, sondern auch aus Eigeninteresse. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen (Tagesordnungspunkt 19) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Dass uns ausgerechnet die Fraktion Die Linke hier einen Antrag zur -Dopingbekämpfung vorlegt, kann nicht ohne einen grundlegenden Widerspruch hingenommen werden. Wir verfolgen in diesen Wochen aus Anlass der Regierungsbildung in Thüringen ein peinliches Schauspiel um die Frage, ob die Linke gerade angesichts von 25 Jahren Mauerfall bereit ist, die DDR als das zu bezeichnen, was sie war, nämlich ein Unrechtsstaat. Zu diesem Unrechtsstaat hat auch ein staatlich verordnetes Doping gehört, dem bis heute Menschen zum Opfer fallen, wenn man allein nur an das traurige Schicksal des Gewichthebers Gerd Bonk erinnert. Deswegen sage ich: Wer nicht klar als Partei seine eigene Geschichte aufarbeitet und die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet und sich insofern auch nicht klar vom staatlich verordneten Doping der DDR distanziert, der hat jede Glaubwürdigkeit verloren, uns hier mit Belehrungen zu kommen, wie ein Anti-Doping-Gesetz aussehen sollte. Es ist völlig richtig: Auch in Westdeutschland hat es Doping gegeben, vor allem gesteuert durch Sportmediziner der Freiburger Uniklinik. Deswegen ist dort eigens eine Kommission zur Geschichte der Freiburger Sportmedizin eingesetzt worden. Und hier kommen wir nun zur zweiten Oppositionsfraktion, den Grünen. Das hat auch mit einer entschlossenen Aufarbeitung bundesdeutscher Dopingvergangenheit wenig zu tun, was sich die zuständige Wissenschaftsministerin der Grünen in Baden-Württemberg, Frau Bauer, da gerade erlaubt. Ich finde es abenteuerlich, dass sie sich dazu verstiegen hat, der Kommissionsvorsitzenden, Letizia Paoli, einer anerkannten Expertin, vorzuwerfen, die Veröffentlichung der Kommissionsergebnisse zu konterkarieren. Bevor uns die Grünen hier gleich mit Belehrungen zum Anti--Doping-Kampf kommen, sollten sie erst einmal in den eigenen Reihen für entschlossenes Handeln sorgen. Das ist umso bemerkenswerter, als ja auch unser früherer Kollege aus dem Sportausschuss, Winfried Hermann, Mitglied der Landesregierung in Baden-Württemberg ist, der sich zu seinen Bundestagszeiten als oberster -Dopingjäger geriert hat. In der Opposition dicke Backen machen und, wenn man in Regierungsverantwortung ist, aus dem letzten Loch pfeifen, das ist keine überzeugende Sportpolitik. Der Antrag der Linken zeichnet auch ein Zerrbild des Sports in Deutschland. Natürlich müssen wir entschlossen gegen Doping kämpfen, weil es blauäugig wäre, zu leugnen, dass Doping auch heute noch für den Sport in Deutschland eine Bedrohung darstellt. Aber es sind nun nicht – wie Sie das in Ihrem Antrag schreiben – kriminelle Netzwerke oder sogar die organisierte Kriminalität im großen Stil am Werk. Gleichwohl: Jeder Einzelfall, bei dem es zu Doping kommt, ist einer zu viel. Das gilt umso mehr, als wir doch immer stärker spüren, dass dem Sport in Deutschland und einzelnen Sportlern eine große gesellschafts-politische Bedeutung zukommt. Wir haben erst vor -kurzem im Sportausschuss ausführlich darüber gesprochen, welche vielfältige Integrationskraft der Sport hat. Das gilt sowohl für Menschen mit Migrationshintergrund wie auch für Menschen mit Behinderungen. Sportliche Großveranstaltungen wie Fußballweltmeisterschaften oder Olympische Spiele versammeln wie sonst kaum ein gesellschaftliches Ereignis Arm und Reich, Männer und Frauen, Ältere wie Jüngere vor dem Fernseher oder in den Stadien. Für viele Jungen und Mädchen sind Sportidole Vorbilder, denen sie nacheifern, die zum Teil auslösendes Moment dafür waren, im Verein wettkampfmäßig Sport zu betreiben. Diese jungen Menschen glauben an die Integrität des Sports. Es würde die Bereitschaft, Sport zu betreiben, damit zum Beispiel auch Gesundheitsvorsorge zu leisten, nachhaltig erschüttern, wenn wir in Deutschland immer wieder Fälle von prominenten Sportlern hätten, die des Dopings überführt würden. Angesichts dieser überragenden gesellschaftlichen Bedeutung des Sports hat sich die Koalition entschieden, Doping auch mit den Mitteln des Strafrechts zu bekämpfen. Dazu werden der Bundesjustiz- und der Bundesinnenminister in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen, den wir dann ausführlich mit allen Betroffenen aus dem Sport hier im Parlament eingehend beraten werden. -Jeder, der sich mit der Materie auskennt, weiß um die Abläufe und kennt die ersten Formulierungen des Referentenentwurfs. Auch deshalb hätte es des Antrags der Linken nicht bedurft, weil die Dinge bereits alle auf -einem guten Weg sind. Guter Weg heißt vor allem, dass wir durch die Entscheidung, auch mit den Mitteln des Strafrechts gegen Dopingsünder vorzugehen, auf keinen Fall die vorgelagerte Sportgerichtsbarkeit schwächen dürfen. Wenn -Dopingvergehen vorliegen, dann muss schnell gehandelt werden, um auch schnell die Integrität des sportlichen Wettbewerbs wiederherzustellen. Das kann nur durch die Sportgerichtsbarkeit und den Grundsatz der „strict liability“, also der verschuldensunabhängigen Haftung, im Sport geschehen. Wer im Sport Dopingsubstanzen im Körper hat, wird gesperrt. Dieser Grundsatz muss weiter gelten, und es muss auch eine Rechtsgrundlage für entsprechende Athletenvereinbarungen geben. Im Strafrecht muss dann die Absicht hinzukommen, sich durch den Einsatz von Dopingmitteln im sportlichen Wettbewerb einen Vorteil verschaffen zu wollen. Diese Absicht müssen Polizei und Staatsanwaltschaft dem -Täter nachweisen. Das kann dauern, und es wäre ein -unhaltbarer Zustand, dass der Sport möglicherweise langjährige staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Verfahren abwarten müsste, bevor er einen gedopten Sportler aus dem Wettbewerb nehmen dürfte. Man muss auch ganz klar betonen, dass es durchaus Fälle geben kann, in denen eine sportrechtliche Strafe ausgesprochen wurde, es für eine strafrechtliche Verurteilung aber nicht ausreicht, weil zwar die Verwirklichung des objektiven, nicht aber des subjektiven Tatbestands nachgewiesen werden kann. In solchen Fällen darf es natürlich nicht dazu kommen, dass ein Sportler etwa Schadensersatzansprüche geltend machen kann. Aus generalpräventiven Gründen setzt der Staat hier lediglich das scharfe Schwert des Strafrechts ein, um vorsätzlich verübte Straftaten tatangemessen zu bestrafen. Bei der Einnahme von Dopingmitteln aus Unkenntnis, etwa über die Zusammensetzung von Nahrungsergänzungsmitteln, wird man zwar zu einer sportrechtlichen Sperre kommen, wahrscheinlich aber eine strafrechtliche Sanktion nicht verhängen können. Auf diesen Unterschied wird man die Öffentlichkeit immer wieder aufmerksam machen müssen. Wir müssen außerdem sehr präzise benennen, wer Adressat einer Strafnorm sein soll. Das kann vor dem Hintergrund, dass wir das Rechtsgut der Integrität des sportlichen Wettbewerbs schützen wollen, natürlich nur der sein, der in diesen Wettbewerb auch tatsächlich eingreifen kann. Das bedeutet konkret, dass natürlich nicht jeder Teilnehmer am Berlin-Marathon Normadressat sein kann. Sondern es macht Sinn, etwa die Teilnehmer am Testpool der NADA oder solche Sportler als mögliche Täter zu identifizieren, die in erheblichem Umfang ihren Lebensunterhalt durch Einnahmen aus dem Sport finanzieren. Am Ende brauchen wir ein Gesetz, das etwas bringt, und nicht ein Gesetz, das nur gut klingt. Insofern müssen wir uns gerade im Bereich des Selbstdopings auf Tat-bestandsmerkmale und entsprechende Formulierungen verständigen, die dazu führen, dass die sportrechtliche und die strafrechtliche Sanktion nicht zu sehr auseinanderfallen. Das würde die Glaubwürdigkeit unseres Gesetzes nur unnötig relativieren. Gestatten Sie mir am Ende eine persönliche Anmerkung: Wenn wir die Integrität des sportlichen Wett-bewerbs umfassend schützen wollen, dann dürfen wir uns nicht allein auf die Bekämpfung des Dopingmissbrauchs konzentrieren. In einem ernstzunehmenden -Umfang erreichen uns aus dem Sport immer wieder -Hinweise, dass auch die Spielmanipulation geeignet ist, den fairen Wettbewerb auszuhebeln. Insofern würde ich mich persönlich freuen, wenn wir uns in einem Gesetz zum Schutz der Integrität des Sports nicht nur den Kampf gegen Doping, sondern auch den Kampf gegen die Spielmanipulation vornehmen würden. Johannes Steiniger (CDU/CSU): Zu dem Antrag der Fraktion Die Linke „Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen“ lässt sich zuallererst einmal sagen: Fakt ist: Wie im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD vereinbart, wird derzeit gerade ein solches Gesetz zur Bekämpfung von Doping im Sport auf den Weg gebracht. Es stellt sich daher für mich die Frage, ob Ihr Antrag, wie Sie ihn hier vorstellen, nur dem Schaufenster dient. Denn ein entsprechender Referentenentwurf aus den Bundesministerien für Inneres und Justiz liegt bereits vor. Hierüber wird im Sport derzeit schon beraten. Die positive Presseresonanz und die ersten Bewertungen durch Athletinnen und Athleten sind ein gutes Signal für die breite Akzeptanz des geplanten Gesetzes. Ein solches Gesetz, sehr geehrte Damen und Herren der Fraktion Die Linke, darf allerdings kein Schuss aus der Hüfte sein; es muss vielmehr sorgfältig abgewogen und umfassend beraten werden. Das gilt vor allem deshalb, weil es wichtig ist, den Sport selbst zum Gesetzentwurf maßgeblich zu hören. Und der organisierte Sport, vertreten durch den Deutschen Olympischen Sportbund, besteht alleine schon aus 62 olympischen und nicht-olympischen Spitzenverbänden. Die politische Willensbildung ist daher komplex. Ziel muss sein, dass die „große deutsche Sportfamilie“ ein Gesetz zur Bekämpfung von Doping mit seinen weitgehenden Regelungsbereichen – auch im Zusammenspiel mit der Sportgerichtsbarkeit – nachhaltig trägt. Gerade dieses Spannungsfeld darf nicht ignoriert werden. Hier gilt also, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Dennoch gibt es für die Gesetzesinitiative der Bundesregierung einen ambitionierten, klaren Fahrplan: Im nächsten Jahr genau um diese Zeit soll die jetzige Initiative bereits im Gesetzblatt stehen. Kern des geplanten Gesetzes ist es, Doping als eigenen Straftatbestand zu führen. Zum Arzneimittelgesetz und zur Arbeit der Sportgerichte wäre das eine wichtige Ergänzung. Ziel ist es, die Integrität des Sports zu gewährleisten und nachhaltig zu sichern. Denn gerade der Sport hat eine hohe Strahlkraft. Sport steht für Fairness, Chancengleichheit und Wettbewerb. Und Sport bedeutet, dass große Erfolge durch Anstrengung und Leistung erzielt werden. Ganz wichtig ist dabei die Vorbildfunktion der Spitzenathletinnen und -athleten für den Nachwuchs. Wenn hier Doping im Spiel ist, hat es fatale Wirkungen. Darüber hinaus kann durch Doping eine ganze Sportart kaputtgemacht werden. Schauen wir uns nur die Probleme im Radsport an. Eine Tour de France war einmal ein Megaevent; heute hat der Radsport große Mühen, sich vom Dopingimage zu erholen. Bei Betrachtung einer Studie der Deutschen Sporthilfe und der Deutschen Sporthochschule vom Januar 2013 wird klar, dass Handlungsbedarf besteht. Die Ergebnisse der Studie, basierend auf einer anonymen Befragung, sind erschreckend: So gaben 6 Prozent der befragten Kaderathleten an, regelmäßig zu dopen. Wir erwarten uns als CDU/CSU-Fraktion vor dem Hintergrund dieser alarmierenden Zahlen durch den Gesetzentwurf und die hohe Strafandrohung, mit Haftstrafe bis zu drei Jahren, eine stärkere Drohkulisse. In diesem Zusammenhang kann ich es nicht nachvollziehen, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, zwar zu einer ähnlichen Problemanalyse kommen, aber beim Thema Belegung mit Strafe lediglich „vorrangig Geldstrafen“ fordern. Gerade eine mitunter hohe Strafandrohung soll schließlich abschrecken. Sie begründen das Absehen von härteren Strafen unter anderem mit „viel Unkenntnis über die Gefahren von Doping“, was aus unserer Sicht schlicht falsch ist. Bei Spitzensportlern und Profis dreht sich schließlich der gesamte Tagesablauf um Sport und Ernährung. Vielmehr ist Doping noch immer viel zu verlockend. Das Risiko, erwischt zu werden, ist für viele offenbar überschaubar. Durch eine Aufhängung von Doping im Strafgesetz wird es weitaus stärkere Möglichkeiten der Handhabe gegen Dopingsünder geben. Es lassen sich bei Ermittlungen alle Möglichkeiten der Strafprozessordnung ausschöpfen. Breitensportler sind bewusst ausgenommen. Ziel des Gesetzes ist es ausdrücklich nicht, den Sport zu kriminalisieren. Dabei sind zwei Kriterien wichtig, nämlich dass es sich im Anwendungsbereich um Kaderathleten handelt oder nennenswerte Einnahmen mit dem Betreiben des Sports erzielt werden. Dieser Punkt ist deshalb von Bedeutung, da auch die immer beliebter werdenden sportlichen Großereignisse jenseits des organisierten Sports, etwa ein Stadtmarathon mit hohen Preisgeldern, in besonderem Maße fair bleiben müssen. Es ist richtig, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, wenn Sie sagen, das gesamte Umfeld der Athleten muss beim Thema Doping in die Pflicht genommen werden. Die Gesetzesinitiative von BMI und BMJV sieht dies auch vor, sodass etwa Trainer und Betreuer bei aktiver Unterstützung strafbar handeln. Besonders mit Blick auf die deutsche Olympiabewerbung halte ich das geplante Gesetz für sehr wichtig. Bei internationalen Sportgroßereignissen ist die mediale Aufmerksamkeit bei einem konkreten Dopingfall enorm. Im Lichte dieses Scheinwerfers ist die Integrität des Sports insgesamt schnell gefährdet. Es geht in der Gesetzesinitiative der Bundesregierung genau um diese so zentrale Integrität des Sports. Es ist wichtig, dass der Gesetzgeber zu seinem schärfsten Schwert, nämlich dem Strafrecht, greift, um bei Regelverstoß ein klares Zeichen zu setzen und den sauberen Sport zu schützen. Michaela Engelmeier (SPD): Wir beraten heute also den Antrag der Linken, und ich muss zugeben: Als ich den Titel des Antrags, „Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen“, zum ersten Mal las, da musste ich schon schmunzeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, seien Sie versichert: Das läuft! Wissen Sie auch, warum? Weil viele Mitglieder dieses Hohen Hauses – ganz besonders aus der SPD, die es im Koalitionsvertrag verankert hat – ausdauernd und erbittert für ein solches Gesetz gekämpft haben. Ein Gesetz, das genau jene Ziele erfüllt, die Sie in Ihrem Antrag aufgeschrieben haben: Sie wollen „Sportlerinnen und Sportler sowie den freien Wettbewerb im Sport vor unlauteren Mani-pulationen in Form von Doping ... schützen“, und Sie wollen „die Autonomie des Sports“ berücksichtigen. Als sportpolitische Sprecherin meiner Fraktion kann ich Ihnen sagen: Ja, das wollen wir auch. Mir fallen da einige Kolleginnen und Kollegen ein, die – schon länger als ich – hier im Haus genau dafür eintreten, ja regelrecht kämpfen. Und nicht nur in der Politik, auch in der Gesellschaft treffen diese Ziele auf eine breite Zustimmung. Doch geht es eben nicht nur darum, was wir wollen, sondern auch darum, wie wir es erreichen möchten. Die Werte des Sports – und das ist für mich als Sportlerin keine Floskel – sind Fairness, Respekt und Toleranz. Aber die Werte sind auch das Bewusstsein für und die Achtung vor Gesundheit. Um diese Werte zu schützen, bedarf es einer leidenschaftlichen Kraftanstrengung. Es ist die Aufgabe der Politik, dies zu leisten. Sport und Politik sind sich dabei sehr ähnlich. Im Sport muss man konzentriert und leidenschaftlich für das Team und die Ziele, die man verfolgt, eintreten. Geduld und Ehrgeiz sind dazu ebenso notwendig wie Sachkenntnis und der Wille, sich weiterzuentwickeln. Und Politik? Der berühmte Soziologe Max Weber meinte: „Politik bedeutet ein starkes und langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und -Augenmaß zugleich.“ Das gilt meines Erachtens auch für den Sport und ganz besonders für die Sportpolitik. Das harte Brett – das Anti-Doping-Gesetz – kann nur durch leidenschaftlichen Einsatz und mit zuverlässiger Sachkenntnis gebohrt werden. Doch leider fehlt dem Antrag der Linken genau das: Augenmaß und Leidenschaft. Denn einige Forderungen sind teilweise etwas realitätsfern: Da soll die NADA eine Zusammenfassung der negativen Auswirkungen von Arzneimitteln zum Muskelaufbau herausgeben. Und alle Sportvereine, Sporteinrichtungen und Fitnessstudios werden verpflichtet, Ausdrucke dieser Zusammenfassungen anzubringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, wie darf ich mir das denn in der Praxis vorstellen? Wer bezahlt das, und vor allem wer soll das denn kontrollieren – macht das Herr Gysi persönlich? Im besten Fall kommt dabei so etwas heraus wie bei den Jugendschutzgesetz-tafeln; die hängen in üblen Spelunken, übrigens gerne einmal in der Ecke hinter dem Feuerlöscher. Es ist die Aufgabe der Sportpolitik, den Sport kon-struktiv und kritisch zu begleiten. Nicht den Sport zu -regeln, sondern einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der es dem Sport überhaupt erst ermöglicht, seine Autonomie und seine Integrität zu wahren. Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ist einiges nötig von dem, was Sie in Ihrem Antrag schreiben. Und – hören Sie genau hin – ich teile Ihre Ziele! Doch muss ich Ihnen leider sagen: Wir setzen diese Ziele besser um. Ich möchte heute nichts vorwegnehmen, doch ich kann Ihnen versichern, da kommt etwas auf Sie zu. Sie fordern die Definition von Doping, Dopingmitteln und Dopingmethoden. Das regeln wir! Man kann das -übrigens recht aktuell gestalten, indem die Definition einfach aus dem Internationalen Übereinkommen gegen Doping im Sport übernommen wird. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen. Sie fordern ein gutes Anti-Doping-Gesetz, das den genauen Adressatenkreis benennt und die Straftatbestände festlegt. Das regeln wir! Wir wollen aber noch mehr. Wir möchten ein Gesetz, das die konkrete Anwendung von Doping unter Strafe stellt und eine Dopingprävention ermöglicht. Darüber hinaus müssen aber auch die Produktion und der Handel von Dopingmitteln beachtet werden. Leidenschaft und Augenmaß, nur so werden die -dicken Bretter der Politik gebohrt, nur so kommen wir zu einem differenzierten und ausgewogenen Anti--Doping-Gesetz. Für ein solches Gesetz streitet die SPD-Bundestagsfraktion schon lange mit Leidenschaft und Augenmaß. Und dieses Gesetz, das wird kommen! Dr. André Hahn (DIE LINKE): Über die Dopingpraktiken im Leistungssport der DDR ist in den Jahren nach 1990 umfänglich berichtet worden, und daran, dass es in vielen, insbesondere den olympischen Sportarten ein organisiertes und politisch gestütztes Dopingsystem gegeben hat, gibt es heute keine ernsthaften Zweifel mehr. Dieser Teil der deutschen Sportgeschichte wurde in den letzten zwei Jahrzehnten sehr intensiv aufgearbeitet – was notwendig war –, er wurde aber leider häufig auch politisch instrumentalisiert. Ja, in der DDR wurde gedopt, aber dennoch wurde die Mehrzahl der sportlichen Erfolge ostdeutscher Athleten – nach allem, was bisher bekannt ist – nicht mit unlauteren Mitteln erzielt. Gedopt wurde – und auch das wird heute niemand mehr leugnen – auch in Westdeutschland, wenn auch vielleicht nicht im gleichen Umfang. „Wie nah war die BRD der DDR?“ So titelte der Berliner Tagesspiegel im Mai 2007 seinen Bericht über systematisches Doping im westdeutschen Radsport und die darin nach Aussagen des Olympia-Arztes Georg Huber offenbar verwickelten Sportmediziner der Universitätsklinik in Freiburg. Der heutige Bundesfinanzminister Schäuble soll laut der früheren ARD-Sendung Kontraste schon 1977 hinsichtlich der damals längst verbotenen Anabolika geäußert haben: „Wir wollen solche Mittel nur eingeschränkt und unter ärztlicher Verantwortung einsetzen, weil es offenbar Disziplinen gibt, in denen heute ohne den Einsatz dieser Mittel der leistungssportliche Wettbewerb in der Weltkonkurrenz nicht mehr mitgehalten werden kann.“ Bei der Einweihung des Medizinischen Zentrums 1976 in Freiburg machte auch der damals für den Leistungssport zuständige Vertreter im Bundesinnenministerium, Gerhard Groß, im Südwestfunk brisante Aussagen. An den Sportmediziner Joseph Keul gewandt, sagte der damals unter Minister Maihofer tätige Groß: „Wenn keine Gefährdung oder Schädigung der Gesundheit herbeigeführt wird, halten Sie leistungsfördernde Mittel für vertretbar. Der Bundesminister des Inneren teilt grundsätzlich diese Auffassung. Was in anderen Staaten erfolgreich als Trainings- und Wettkampfhilfe erprobt worden ist und sich in jahrelanger Praxis ohne Gefährdung der Gesundheit der Athleten bewährt hat, kann auch unseren Athleten nicht vorenthalten werden.“ Das hören heute manche nicht gern, die offenbar noch immer in Zeiten des Kalten Krieges verhaftet sind und in erster Linie eine Abrechnung mit der DDR betreiben wollen; aber die Fakten sprechen eine klare Sprache. 2013 kam dann auch eine Studie der Berliner Humboldt-Universität zu dem Schluss: Doping mit wissenschaftlicher Unterstützung und aus politischen Motiven hat es auch in Westdeutschland gegeben. Die sogenannte Steiner-Kommission hat diesen Befund bestätigt. Namen und Fakten, Ross und Reiter wurden allerdings nicht geliefert, während Verantwortliche aus DDR-Zeiten in den 90er-Jahren nicht nur benannt, sondern zum Teil auch strafrechtlich verfolgt wurden. Von wirklich gleichberechtigter Aufarbeitung kann also keine Rede sein, und leider fehlt ja auch noch immer eine ganz wichtige Untersuchung, nämlich die des Zeitraums seit 1990. Wir als Linke plädieren ganz nachdrücklich dafür, dass die Studie der Humboldt-Universität noch um diesen Komplex ergänzt wird. Ich habe eingangs die Uni in Freiburg erwähnt. Die heutige Debatte kann logischerweise auch nicht losgelöst von der derzeit tobenden Auseinandersetzung um die Fortführung der Arbeit der dort eingesetzten Aufklärungskommission und die Versuche der Universitätsleitung, deren vollständigen Abschluss zu be-, wenn nicht gar zu verhindern, geführt werden. Dabei wird offenbar sogar in Kauf genommen, dass die in den letzten Jahren akribisch zusammengetragenen Daten und Akten womöglich sogar vernichtet werden. Für die Linke sage ich hier klar und deutlich: Das darf nicht passieren! Die Kommission muss ihre Arbeit geordnet zu Ende führen und die Ergebnisse öffentlich präsentieren können. Und wenn das Gremium erst vor wenigen Tagen neue Unterlagen im Umfang von über 18 000 Seiten über das Wirken einer zentralen Figur der mutmaßlichen Dopingaktivitäten der Freiburger Medizinfakultät erhalten hat, dann müssen die Mitglieder diese natürlich auch auswerten und in den Abschlussbericht einarbeiten können. Alles andere wäre ja geradezu absurd. Wenn nun seitens des Rektorats ein unverzüglicher Abschluss der Überprüfung gefordert wird, dann drängt sich der Verdacht auf, dass hier etwas vertuscht werden soll. Ich bin insofern der baden-württembergischen Wissenschaftsministerin Bauer sehr dankbar, dass sie sich klar für eine gründliche Aufarbeitung ohne Druck ausgesprochen hat. Der Blick zurück ist wichtig. Noch wichtiger aber ist die Auseinandersetzung mit Dopingpraktiken heute und mit präventiven Maßnahmen für morgen. Diesem Ziel dient der von meiner Fraktion vorgelegte Antrag. Seit 1990 hat es diverse Initiativen und Maßnahmenkataloge gegen Doping im Sport gegeben. Sie alle waren letztlich nur mäßig erfolgreich. Deshalb muss aus Sicht der Linken nun endlich entschlossen gehandelt werden. Das hat ja offenbar auch die die Regierung tragende Mehrheit erkannt, weshalb im Koalitionsvertrag die Verabschiedung eines Anti-Doping-Gesetzes ausdrücklich verankert ist. Innenminister de Maizière hatte im Sportausschuss avisiert, dass ein entsprechender Gesetzentwurf bis zur Sommerpause vorliegen würde. Geliefert hat er nicht. Bislang kursiert lediglich ein Referentenentwurf, der viele vernünftige Punkte enthält, bei dem aber völlig unklar ist, ob er in der Koalition und insbesondere in der CDU/CSU-Fraktion auch nur ansatzweise mehrheitsfähig ist. Deshalb stellen wir nunmehr hier im Bundestag einen eigenen Antrag zur Diskussion. Für uns steht fest: Doping gefährdet die Gesundheit und ist eine Gefahr für den Sport als solchen und die Werte, die durch ihn in die Gesellschaft transportiert werden. Es besteht dringender Handlungsbedarf, um Doping im Sport noch deutlich wirksamer als bisher zu bekämpfen. Zu den Vorschlägen der Linken gehören die Einführung eines neuen Straftatbestandes „Sportbetrug“ in das Strafgesetzbuch, die Erweiterung bestehender Strafvorschriften für den Handel mit Dopingmitteln sowie der Entzug der Approbation für Ärztinnen und Ärzte, die nachweislich an Dopinganwendungen beteiligt waren. Pharmazeutische Unternehmen sollen verpflichtet werden, bei Produkten, welche zum Doping geeignet sind, entsprechende Warnhinweise auf den Verpackungen anzubringen. Für den Schutz von Whistleblowern wollen wir bereichsspezifische Regelungen schaffen. Mit unserem Antrag werden auch deutlich verschärfte Sanktionen für Spitzensportlerinnen und Spitzensportler vorgeschlagen, welche Eigendoping mit dem Ziel betreiben, sich einen unlauteren Vorteil im sportlichen Wettbewerb zu verschaffen. Für diesen Sportbetrug sollen bei Wiederholungstätern auch Freiheitsstrafen verhängt werden können. Die Geldbußen sollen sich jeweils an der Höhe der direkt oder mittelbar durch den Sport erzielten Einnahmen orientieren, können also wie Gehalt, Siegprämien und Werbeverträge von Sportart zu Sportart durchaus unterschiedlich sein. Der Besitz nicht geringer Mengen an Dopingmitteln soll künftig unter Strafe gestellt werden. Bereits vorhandene Regelungen, zum Beispiel aus dem Arzneimittelgesetz, AMG, sollen zusammengefasst und angepasst werden. Anders als manche Skeptiker sehen wir in einem Anti-Doping-Gesetz keine Beeinträchtigung oder Aushöhlung der Sportgerichtsbarkeit. Beides kann problemlos nebeneinander funktionieren. Die Verbände können bei Dopingvergehen weiterhin die in ihren Satzungen vorgesehenen Wettkampfsperren aussprechen. Bei gravierenden Verstößen gegen Dopingbestimmungen oder bei Wiederholungstätern kann aber künftig auch die Staatsanwaltschaft tätig werden. Das ist im Übrigen auch keine unzulässige Doppelbestrafung, denn schon heute wird ein Fußballprofi gemäß Regelwerk nach einer Tätlichkeit vom Platz gestellt und entsprechend gesperrt, und darüber hinaus kann es dennoch ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung geben. Bei Sportlern am Ende ihrer Karriere können Sperren sogar gänzlich ins Leere gehen, wenn sie einfach ihre Laufbahn beenden. Gerade auch hier erhöht eine Strafbarkeit von Doping die Hürde, sich entsprechender Mittel zu bedienen. Darüber hinaus muss aus unserer Sicht die Unabhängigkeit und angemessene finanzielle Förderung der Nationalen Anti Doping Agentur, NADA, dauerhaft sichergestellt werden, damit auch die Kontrolldichte erhöht werden kann. Zu den Präventionsmaßnahmen sollen Aufklärungsaktivitäten im Jugend- und Nachwuchssport sowie im Fitnesssport sowie die Aus- und Weiterbildung der in diesem Umfeld tätigen Personen über die Wirkungen von anabolen Steroiden, Nahrungsergänzungsmitteln und sporttypischen Aufbaupräparaten sowie die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle gehören. Der vorliegende Antrag zielt hinsichtlich der strafrechtlichen Maßnahmen ganz bewusst auf die Dopinganwendung im Hochleistungssport, nicht aber auf gesundheitliche Gefährdungen durch die Einnahme verbotener Substanzen, wie zum Beispiel von Anabolika in Fitnessstudios. Das kann weder in einem Gesetz geregelt noch wirksam kontrolliert werden. Mit unserem Antrag wollen wir als Linke konstruktive Vorschläge für ein Anti-Doping-Gesetz unterbreiten und freuen uns auf die Debatte im Fachausschuss. Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin mir sicher, dass wir über alle Fraktionen hinweg übereinstimmen: Der Kampf gegen Doping ist eines der zentralen Themen im Sport. Gleichzeitig bestimmt Doping auch viele Diskussionen im Spitzensport. Schauen Sie auf den internationalen Radsport, wo trotz der Dopingskandale und der gefallenen Radsporthelden wie Armstrong munter weitergedopt wird. Mitte Oktober standen 112 Profifahrer auf der Sperrliste des Weltverbandes UCI und die Dunkelziffer wird weit höher sein. Und mit dem Rugby kommt ganz aktuell eine weitere Mannschaftssportart in Frankreich und Kanada in die Diskussion. Vielleicht sollten wir uns auch den Fußball genauer anschauen. Jedenfalls ist ein Anti-Doping-Gesetz überfällig. Auch in diesem Bereich hat die Bundesregierung viel angekündigt, hier warten wir auf die Lieferung. Es ist doch mehr als peinlich, sich vom Chef der US-Antidopingbehörde Trevis Tygart belehren lassen zu müssen, wie der Kampf gegen Doping in Deutschland geführt werden müsste. Das Schlimme ist doch, dass er in der Analyse recht hat und dass unsere Anstrengungen nicht weit genug gehen. Dieser mangelnde Wille in Deutschland zeigt sich zum Teil auch im Umgang mit der Dopingvergangenheit unseres Landes. Die Opfer des systematischen Dopings in der DDR werden weiterhin mit den gesundheitlichen Folgen alleinegelassen, und es gibt keine Anzeichen, dass sich etwas grundsätzlich an dieser Haltung ändert. Aktuelles Beispiel Freiburg: Hier scheint die Arbeit einer wichtigen Kommission zur Aufarbeitung der Dopingforschung in Westdeutschland durch die betroffene Universitätsklinik behindert zu werden. Das darf nicht hingenommen werden. Also, wo bleibt die Initiative der Bundesregierung in der Anti-Doping-Gesetzgebung? Ich bin gespannt, ob sich bis zum Ende der Wahlperiode etwas tut – nötig ist es längst. Inhaltlich möchte ich dafür werben, den Zweck eines Anti-Doping-Gesetzes auf den Schutz der Sportlerinnen und Sportler und des Wettbewerbs im Sport vor unlauteren Manipulationen auszurichten. Die Einführung einer Besitzstrafbarkeit und die Ausrichtung des Gesetzeszwecks auf die Gesundheit der Sportlerinnen und Sportler sind nicht auf der Höhe der Zeit. Vor allem ist es auch höchst fragwürdig, der mit der Einnahme von Dopingmitteln verbundenen Eigengefährdung mit den Mitteln des Strafrechts zu begegnen. Und bezüglich der Meldepflichten der Sportlerinnen und Sportler braucht es eine eindeutige Rechtsgrundlage. Dabei darf es nicht nur um die Verpflichtung der Sportlerinnen und Sportler gehen, jederzeit ihren Aufenthaltsort der NADA mitzuteilen, sondern dies auch datenschutzrechtlich abzusichern. Denn wenn wir schon auf der einen Seite die Strafbarkeit deutlich verschärfen, müssen wir wenigstens diskutieren und Wege aufzeigen, wie im Gegenzug das Recht der Sportlerinnen und Sportler auf Privatsphäre gestärkt werden müsste. Wir sind nicht der Auffassung, dass Sportlerinnen und Sportler völlig rechtlos gestellt werden dürfen. Wir sollten uns aber auch fragen, ob wir nicht auch die Fördermechanismen des Leistungssports und die wieder stärker diskutierte Ausrichtung auf Medaillen überdenken müssen. Denn wenn wir davon ausgehen – und meiner Einschätzung nach müssen wir dies –, dass im internationalen Spitzensport Doping leider nicht die absolute Ausnahme, sondern eher die Regel ist, wird eine einseitige Ausrichtung der Sportförderung auf Medaillen nicht für weniger Doping im Sport sorgen. Ich freue mich auf unsere kommenden Diskussionen. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes (Tagesordnungspunkt 20) Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU): Im letzten Jahr mussten zahlreiche Betriebsleiter den Ämtern Auskunft über Ihre Betriebs- und Produktionsstrukturen erteilen. Für den einzelnen Landwirt ist die Agrarstrukturerhebung zunächst ein bürokratischer Akt, den man über sich ergehen lassen muss. Statistik und Zahlen, ein Thema, das vielfach auf Desinteresse stößt. Ähnlich wie bei Mathematik und Ökonomie sehen Unbedarfte in der Statistik eine Übung, die der Praxis weit unterlegen ist und nur eine Berechtigung hat, wenn es darum geht, den eigenen Standpunkt zu bekräftigen. Für Verwaltung, Verbände und Wissenschaft liefert sie jedoch wertvolle Erkenntnisse. Denn nur auf Grundlage belastbarer Zahlen kann ein verlässliches Bild der deutschen und europäischen Landwirtschaft gezeichnet werden. Schließlich geht es um nicht weniger als die Nutzung von 18,6 Millionen Hektar Agrarland; das sind mehr als 50 Prozent der Fläche unseres Landes. Mithilfe der Ergebnisse kann zum Beispiel der Erfolg von Agrar- und Marktpolitiken eingeordnet werden. Hat ein spezielles Förderprogramm tatsächlich seine Wirkung erzielt? Oder haben Marktmaßnahmen zum gewünschten Erfolg geführt? Ein Vergleich der Statistiken gibt Aufschluss. Nehmen wir ein Beispiel: Das Jahr 2014 wurde von den Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der familienbetriebenen Landwirtschaft ausgerufen. Anhand der Daten der Agrarstrukturerhebung 2013 können wir für Deutschland feststellen, dass rund 90 Prozent der Betriebe in Deutschland familiengeführt sind. Das entspricht 256 000 Betrieben. Allerdings hat die Zahl der Familienbetriebe gegenüber der Landwirtschaftszählung aus 2010 um 6 Prozent abgenommen. Was können wir für Schlüsse aus dieser Entwicklung ziehen? Die Antwort bestimmt das Auge des Betrachters: Aus Sicht der Verwaltung kann die Effizienz von Fördermaßnahmen in diesem Bereich beurteilt werden. Die Wissenschaft kann mit aktuellen Zahlen Zukunftsszenarien berechnen und konkretisieren. Wir Politiker hingegen müssen uns entscheiden: Geht die Entwicklung in die gewünschte Richtung? Um das zu entscheiden, braucht es zunächst ein gemeinsames Ziel – oder vielmehr ein gemeinsames -Leitbild. Je breiter die Mehrheiten für dieses Ziel sind, desto effektiver können passende Maßnahmen durch-gesetzt werden. Bleiben wir beim Beispiel der Familienbetriebe: -Familiengeführte Agrarunternehmen sind das Markenzeichen des ländlichen Raums in Deutschland – und sie bringen viele Vorteile. Denn landwirtschaftliche Familienunternehmen erzielen eine hohe Wertschöpfung, die in der Regel im ländlichen Raum verbleibt. Sie wirtschaften meist nachhaltiger und mit mehr Arbeitskräften als zum Beispiel anonyme Kapitalgesellschaften. Durch Diversifizierung und Eigentumsstreuung wird strukturschwacher ländlicher Raum lebenswert gehalten. Nicht zuletzt sei erwähnt, dass das soziale und gesellschaftliche Engagement der Familien – etwa in Kirchen, Vereinen oder Feuerwehren – ein Garant für lebendige Dörfer ist. Dass Landwirtschaft und ländlicher Raum auch anders aussehen können, ging aus dem Bericht der Dele-gationsreise des Landwirtschaftsausschusses in die USA hervor. Dort können Sie mehrere Hundert Kilometer über Land fahren, ohne an einem Haus, einem landwirtschaftlichen Betrieb, geschweige denn an einem Dorf vorbeizukommen. Einmal davon abgesehen, dass wir es nicht mit dem Flächenpotenzial der Vereinigten Staaten aufzunehmen brauchen, stellt sich für mich vor allem die Frage: Welche Agrarstruktur möchten wir in Deutschland haben, und wie können wir diese fördern und begleiten? Meiner Ansicht nach ist der landwirtschaftliche Familienbetrieb das passende Leitbild für die Agrarpolitik. Dabei ist es unerheblich, ob der Betrieb konventionell oder ökologisch bewirtschaftet wird. Wichtig erscheint mir, dass die Verbindung von Eigentum, Arbeit und -Kapital in den ländlichen Regionen erhalten bleibt. Auch wenn mehrheitlich noch die landwirtschaftlichen Betriebe für Arbeit und Vitalität im ländlichen Raum sorgen, können wir uns dem Wandel in den -Dörfern nicht verschließen. Gerade auslaufenden Landwirtschaftsbetrieben müssen wir Chancen eröffnen, um zum Beispiel über Tourismus oder Umweltdienstleistungen weiterhin im ländlichen Raum wirtschaften zu -können. Natürlich lassen sich durch die Statistik Tatsachen verstärkt oder abgeschwächt darstellen, doch eins ist sicher: Die Zahl der landwirtschaftlichen Unternehmen geht stetig zurück. Mit der heutigen Dritten Änderung des Agrarstatistikgesetzes werden Erhebungsmerkmale für verschiedene Bereiche der Agrarstatistik angepasst und konkretisiert. In der Geflügelhaltung wird zum Beispiel der Geflügelbestand nicht mehr zu einem Stichtag erfasst, sondern über die Zahl der Haltungsplätze ermittelt. Das schafft eine aussagekräftigere Datengrundlage, wodurch die strukturelle Entwicklung der Branche besser interpretiert werden kann. Im Zuge der Agrarstrukturerhebung 2016 wird eine Produktionsgartenbauerhebung durchgeführt. Allerdings werden zusätzliche Angaben abgefragt, die nicht Teil der Agrarstrukturerhebung sind. Das sind zum Beispiel Daten zum Energieverbrauch nach Energieträgern oder zur Beheizung. Dadurch könnten Maßnahmen zur energieeffizienten Produktion im Gartenbau abgeleitet und gefördert werden. Landwirtschaft ist Vielfalt. Dies sehen wir bestätigt, wenn wir den Gesetzentwurf einmal durchblättern. -Hennenhaltungsplätze, Mostgewicht, Aquakulturstatistik, Gartenbausämereien, Bodenbearbeitungsverfahren, Rebsorten – das sind nur einige Stichworte, die im Text enthalten sind. Und Landwirtschaft entwickelt sich; neue Techniken, neue Verfahren, neue Züchtungen kommen ständig dazu. Gerne wird der landwirtschaftliche Berufsstand in Pressemeldungen einzig auf Ertragszahlen reduziert. Doch unsere Bauern wissen um die Mehrdimensionalität ihrer Tätigkeit. Saatgut, Energieverbrauch, Produktqualität, Bodenbeschaffenheit und die Gestaltung von Kulturräumen sind längst integrale Bestandteile des Berufsfeldes. Die Agrarstatistik bildet all diese Entwicklungen ab, macht sie zugänglich, erlaubt Interpretationen, und nicht zuletzt zeichnet sie ein Bild des Wandels in der Landwirtschaft. Der Gesetzentwurf, über den wir heute abstimmen, trägt den Veränderungen im Agrarbereich Rechnung. In erster Linie geht es um die Anpassung an EU-Vorschriften. Schließlich – so heißt es in der Begründung –: „Die Betriebsstrukturerhebungen sind für die Europäische Kommission von großer Bedeutung als Grundlage für die Entwicklung und Bewertung von Maßnahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik sowie zur Förderung der ländlichen Entwicklung.“ Bei einem Gesamtetat der EU von 57,8 Milliarden Euro für den Agrarsektor ist Transparenz über Verwendung dieser öffentlichen Mittel oberstes Gebot. Das -Agrarstatistikgesetz schafft entsprechende Voraussetzungen und fördert die Kooperation zwischen den öffentlichen Institutionen als Fördermittelgeber und den Landwirten als Empfänger. „Die Zahl ist das Wesen aller Dinge.“ Dieses Zitat, das dem Griechen Pythagoras zugeschrieben wird, tröstet zwar nicht über die Mühen um Umstände ordentlicher Buchführung hinweg. Trotzdem mahnt es auch uns Landwirte zu Sorgfalt und Einsicht um die Bedeutung statistischer Maßnahmen. Die Agrarstatistik liefert wertvolle Daten, die uns Politikern als Entscheidungsgrundlage dienen. Nutzen wir die Fakten, um strukturelle Entwicklungen in der deutschen Landwirtschaft zu erkennen und zu hinterfragen. Marlene Mortler (CDU/CSU): Ein bekannter Automanager sagte einmal: „Ich will Sie nicht mit Statistiken quälen – sondern ganz ohne!“ Auch ich will Sie heute nicht mit Statistikdetails quälen. Deswegen werde ich auch nicht über die hier zu beschließenden Änderungen des Agrarstatistikgesetzes im Einzelnen reden – nicht über die Baumobstanbauerhebung, die Rebflächenerhebung, die Agrarstrukturerhebung, die Gartenbauerhebung, die Erhebung in den Betrieben der Holzbearbeitung. Hier geht es in erster Linie um Anpassungen an europäisches Recht. Das müssen wir einfach machen, und zwar so schlank und so geschickt wie möglich. Ja, geschickt – weil davon, wie wir Anforderungen zur Datenerhebung ausgestalten, viel ab-hängt. Davon können die Bauern in diesem Land ein Lied singen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Wenn wir wirklich etwas für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe machen wollen, dann sollten wir sie, wo es geht, von Pflichten entlasten, die der Landwirt oder die Landwirtin nicht auf dem Acker oder im Stall erfüllen muss, sondern im Büro. Ich weiß, dass sich das immer so platt anhört, und mir ist auch klar, dass es nicht einfach die bösen Ministerien sind, die sich neue Anforderungen ausdenken. Meist geht es einfach darum, das gut zu vollziehen, was wir hier im Parlament beschließen und was sich die Politik in Brüssel überlegt. Für den Landwirt im Betrieb bleibt das Ergebnis dennoch das Gleiche. Deswegen möchte ich exemplarisch ein konkretes, ein brandaktuelles Beispiel ansprechen, bei dem noch völlig offen ist, wie ernst es Bund und Länder mit dem Thema Bürokratieab-bau nehmen – die Antibiotikaübertragung. Sie wissen: Das neue Arzneimittelgesetz ist zum 1. April 2014 in Kraft getreten. Danach müs-sen alle Antibiotika, die für Masttiere angewendet oder abgegeben werden, an eine staatliche Antibiotikadatenbank gemeldet werden. Das ist ein Riesenaufwand – vor allem, wenn man dieses System neu aus dem Boden stampft, statt Bestehendes zu nutzen. Es gibt ein bestehendes und bestens funktionierendes System, das wirtschaftsgetragene sogenannte QS-System, das bereits in vielen Betrieben zum Einsatz kommt, gerade in der Schweinemast. Wenn man das nutzt, liegt der Mehraufwand fast bei null. Nutzen wir es nicht, ist er gewaltig. Mir wurde gerade berichtet, dass QS jetzt die technischen Voraussetzungen für eine direkte Datenübermittlung geschaffen hat. Die Meldungen zur Abgabe von Antibiotika an Mast-schweine, Mastgeflügel, Mastkälber und Mastrinder könnten also von QS jederzeit automati-siert weitergeleitet werden. Ich danke dem BMEL hier ausdrücklich für seinen großen Einsatz in den Gesprächen mit QS. Aber Sie werden es nicht glauben: Die Daten werden dennoch nicht übermittelt. Weil sie nicht von den Behörden der Länder angenommen werden. Ich frage mich und Sie: Warum? Vor allem deshalb, weil eine Reihe von Ländern Anforderun-gen an die Datenerhebung stellen, die weder das AMG selbst noch die entsprechende Durch-führungsverordnung vorsehen, nämlich die taggenaue Information über jeden Zu- und Abgang. Ich möchte einmal beschreiben, was das bedeutet: Da soll ein Betrieb mit, sagen wir, 200 000 Puten jeden Tag jede einzelne Bestandsveränderung durchgeben, jedes einzelne gestorbene Tier den Behörden melden. Und wofür? Als ob es für die Bemessung der Antibiotikamenge auf einen Zweihunderttausendstelwert heruntergerechnet ankäme. Das ist wirklich absurd! Deshalb an dieser Stelle mein Appell an die Länder: Bitte leisten nach dem BMEL und QS auch Sie Ihren Beitrag zu einer verantwortungsvollen, halbwegs bürokratiearmen Lösung der Anti-biotikameldung im AMG. Denken bei allem auch Sie einen Moment lang an die Bauern und daran, wo wir deren Zeit wirklich brauchen: im Stall bei ihren Tieren zum Beispiel. Deshalb meine Botschaft: Statistiken sollten nicht quälen, schon gar nicht ohne vernünftigen Grund. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Heute debattieren wir über die Änderung eines Gesetzes, das im Grundsatz schon seit 1989 existiert, 2009 neu gefasst wurde und die Basis für statistische Auswertungen und damit für unsere Politik im Agrarbereich ist. Schon Galileo Galilei wies mit seinen Worten „Alles messen, was messbar ist – und messbar machen, was noch nicht messbar ist“ darauf hin, wie bedeutsam statistische Erhebungen sind. Das Agrarstatistikgesetz in seiner aktuellen Fassung regelt bereits die Durchführung von elf Einzelstatistiken im Rahmen der Bundesstatistik. Es ist damit die Grundlage für Erhebungen über Ernte, Bodennutzung, Viehbestände, Strukturen in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben, Geflügel, Wein, Holz usw. Beispielsweise führt das Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel (Max Rubner-Institut) im Rahmen der „Besonderen Ernte- und Qualitätsermittlung“ jährliche Untersuchungen durch. Die Qualität unserer landwirtschaftlichen Produkte und letztendlich die Sicherheit unserer Lebensmittel kann so besser beurteilt werden. Dazu werden auf bis zu 10 000 Feldern unserer landwirtschaftlichen Betriebe Ernteproben gezogen, analysiert und ausgewertet. Das Gesetz schafft damit wesentliche Entscheidungshilfen für Politik und Wirtschaft. Der Boden ist der wichtigste und ein knapper Produktionsfaktor unserer Landwirtschaft. Er ist nicht vermehrbar. Darum ist die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit -eines der wichtigsten Ziele im Agrarbereich. Die Bodenfruchtbarkeit ist Grundlage der Ertragsfähigkeit unserer Landwirtschaft. Auch darüber liefert das Agrarstatistikgesetz wichtige Informationen und Entscheidungshilfen. Die Erhebung zur Bodenerhaltung stellt Informationen über die Bodenbedeckung im Winter und zur Größe des Ackerlandes ohne Fruchtwechsel zur Verfügung. Zusätzlich werden im Rahmen der Bodennutzungshaupterhebung Angaben zu angebauten Kulturarten, Pflanzengruppen, Pflanzenarten und Kulturformen erfragt. Das vorliegende Gesetz ist zum einen notwendig, um die Vorschriften des Unionsrechts umzusetzen, und zum anderen, um die Inhalte einiger Erhebungen im Agrarbereich an den aktuellen Datenbedarf anzupassen. Mit diesem Gesetz kommen wir auch einer wichtigen Forderung des Bundesrates nach, eine Gartenbauerhebung durchzuführen. Mit einer Bruttowertschöpfung von über 19 Milliarden Euro und einem Anteil von etwa 11 Prozent am Produktionswert der deutschen Landwirtschaft leistet der Gartenbau einen wichtigen Beitrag im Agrarbereich. Zukünftig können wir auch in diesem Bereich auf verlässliche Zahlen zurückgreifen. Im Bereich der Geflügelhaltung ist eine Anpassung der Erfassung an den aktuellen Datenbedarf sinnvoll. So wird neben der Zahl der Tiere auch die Zahl der Haltungsplätze erfasst. Damit lassen sich strukturelle Entwicklungen zukünftig besser interpretieren. Außerdem sollen Legehennenhalter monatliche Angaben zur Haltungsform machen. In der Landwirtschaft besteht die Möglichkeit der Umsatzsteuerpauschalierung, um den Landwirten die Arbeit mit der Umsatzsteuer zu erleichtern. Dieses Merkmal der Form der Umsatzbesteuerung wurde seit der Änderung des Agrarstatistikgesetzes 2009 nicht mehr regelmäßig erhoben. Für die Arbeit in unseren Ausschüssen ist es aber von großer Bedeutung, dass diese Angaben aktuell sind. Der Bundesrechnungshof stellte 2013 fest, dass ein nichtangepasster Umsatzsteuersatz für Pauschallandwirte zu erheblichen Steuerausfällen führen kann. Die Anpassung des Durchschnitt-satzes um 1 Prozentpunkt entspricht bereits einem Umsatzsteuerbetrag von jährlich 150 Millionen Euro. Deshalb begrüßen wir sehr, dass die Form der Umsatzbesteuerung zukünftig wieder regelmäßig erfasst wird. Sehr zu begrüßen ist die Straffung von Verwaltungsaufgaben. Die Erhebung der weniger als 400 auskunftgebenden holzverarbeitenden Betriebe soll zukünftig durch das Statistische Bundesamt durchgeführt werden. Das ist ein Beispiel für eine sinnvolle Entlastung von Behörden bei gleichzeitig schnellerer Datenverfügbarkeit. Mit den beschlossenen Änderungen wird außerdem ein wichtiger Einwand des Bundesrates umgesetzt. Natürlich ist es notwendig, den Energieverbrauch nicht für einen Berichtszeitpunkt, sondern für einen Berichtszeitraum zu erheben. Aus unserer Sicht ist nur schwer zu verstehen, wie dieser Punkt im Gesetzentwurf übersehen und erst durch Mitwirkung des Bundesrates angepasst wurde. Diesen Fehler konnten wir noch rechtzeitig mithilfe des beschlossenen Änderungsantrages korrigieren. Die Gesetzesänderung sieht auch Ergänzungen im Betriebsregister Landwirtschaft vor. Beispielsweise können befragte Ökolandwirte durch die Verlagerung der Aufgaben auf das Betriebsregister Landwirtschaft deutlich entlastet werden. Gleichzeitig ist sichergestellt, dass wir Biobetriebe eindeutig und effizient identifizieren können, und das kostenneutral. Zusätzlich wird zukünftig die Angabe zur ökologischen Wirtschaftsweise auch bei Baumobstanbauern erhoben. Damit erreichen wir, dass auch im Bereich Obst verlässliche Informationen und Zahlen zum Ökolandbau zur Verfügung stehen. Insgesamt können regionale landwirtschaftliche Strukturen in Deutschland besser dargestellt werden. Das begrüßen wir besonders vor dem Hintergrund der Stärkung ländlicher Räume sowie des ökologischen Landbaus. Als Vertragsstaat der Klimarahmenkonvention hat sich Deutschland verpflichtet, in jährlichen Emissionsinventaren auch Angaben zu Treibhausgasemissionen aus der Landwirtschaft zu machen. Gerade mit Blick auf Strategien und Maßnahmen im Bereich der Klimaschutzpolitik und des Umweltschutzes sind diese Angaben von grundlegender Bedeutung. Ich begrüße deshalb die zusätzliche Erhebung von Merkmalen bei der Ausbringung von Wirtschaftsdüngern sehr. Nur so können wir die erforderlichen Daten bei der Emissionsberichterstattung sowie den steigenden Bedarf bei der Evaluierung des Düngerechts sicherstellen. Mit dem gestern beschlossenen Änderungsantrag -unserer Koalition wird mit dem neuen Artikel 2 das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch, LFGB, rechts-technisch geändert. Die ab 13. Dezember dieses Jahres geltende EU-Lebensmittelinformationsverordnung machte es zwingend notwendig, allgemeine Täuschungsschutzvorschriften des LFGB anzupassen. Nur so ist auch gewährleistet, dass den Ländern mit Geltungsbeginn der Verordnung eine angepasste Täuschungsschutzvorschrift sowie darauf abgestimmte Straf- und Bußgeldvorschriften zur Verfügung stehen. Insgesamt ist die Änderung des Agrarstatistikgesetzes ein wichtiger Schritt, um auch langfristig die wissenschaftliche Grundlage für die Politik im Agrarbereich zu gewährleisten. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Das Agrarstatistikgesetz ist die einheitliche Rechtsgrundlage für den Agrarteil der Bundesstatistik. Das Gesetz wurde zuletzt im Jahr 2012 geändert und muss nun erneut an EU-Vorschriften angepasst werden. Das bezieht sich vor allem auf das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch. Es geht aber auch um die Aktualisierung der Agrarstrukturerhebung aus Sicht der Agrarumweltpolitik. Die Erhebung des Baumobstanbaus soll vereinfacht und die Rebflächenerhebung angepasst werden. Die Vorschläge des Bundesrats hat der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen größtenteils aufgegriffen. Hört sich also gut und wenig spannend an und ist auch so. Eigentlich. Denn einige überfällige Änderungen zeigen, wie schnell scheinbar harmlose Regelungsdetails zu grobem Unfug und falschen statistischen Aussagen führen. Ein Beispiel: Bisher wurde beim Mastgeflügel der Tierbestand an einem Stichtag erhoben. Falls genau an diesem Tag der Stall wegen der Reinigung vor Neuein-stallung nach dem „Alles-rein-alles-raus-Prinzip“ leer stand, entfiel für diesen Betrieb nicht nur die aktuelle Berichtspflicht, sondern er fiel komplett aus der Statistik. Wegen statistischer Nichtexistenz wurde er auch nicht mehr kontrolliert. Diese Absurdität wird jetzt korrigiert durch die Erfassung der Haltungsplätze, egal ob sie aktuell besetzt sind oder nicht. Dieses Beispiel zeigt, dass Statistik alles andere ist als irrelevant und dröge. Leider hat die Statistik als Wissenschaft ein schlechtes Image. Sie ist vielen suspekt, weil sie ihr Regelwerk nicht durchschauen. Das gilt zwar für viele Wissenschaftsdisziplinen, aber hier nährt es Misstrauen, weil sie gleichzeitig als manipulierbar gilt und in der Realität ja auch nicht selten missbraucht wird. Das untergräbt in der Summe ihre Autorität und den Wert statistischer Analysen. Das wiederum ist fatal, denn gerade in der Politik sind wir auf objektive Bewertungen von Daten dringend angewiesen, sollen sie nicht auf Datenfriedhöfen landen und ihre Erfassung damit Alibi bleiben. Wir brauchen verlässliche statistische Analyseergebnisse, um Problemsituationen und ihre Ursachen exakt erkennen oder die Folgen politischer Entscheidungen bewerten zu können. Voraussetzung für belastbare Ergebnisse ist aber zwingend, dass erstens geeignete Daten erhoben und dass sie zweitens mit geeigneten Methoden analysiert werden. Beides ist leider oft nicht der Fall und deshalb sind auch immer wieder politische Entscheidungen auf dieser Basis falsch. Ein Beispiel. Wir wollen und müssen aus Klima- und Artenschutzgründen das Grünland erhalten. Wer aber Durchschnittswerte zum Grünlandanteil für große Zeiträume und große Regionen zur Bewertung der Situation nutzt, wird dramatische Entwicklungstendenzen innerhalb dieses Zeitraums oder in Teilregionen übersehen. Ein anderes Beispiel. Wir wollen die biologische Vielfalt in der Agrarlandschaft erhalten. Wer auf positive Bestandsentwicklung der Kraniche schaut, wird beruhigt sein. Gleichzeitig senden dramatische Verluste bei bis-herigen Allerweltsarten wie Sperling oder Feldlerche Alarmsignale. Aus Sicht der Linksfraktion ist die Agrarstatistik also ein wichtiger und fahrlässig unter- oder absichtsvoll überschätzter Baustein der Agrarpolitik. Der Bundestag beschäftigt sich eher zu selten als zu oft mit statistischen Analysen. Selbst der Agrarbericht erscheint nur noch alle vier Jahre, weil das die Union-FDP-Koalition so beschlossen hat. Deshalb steht er auch im Parlament nur noch einmal pro Wahlperiode auf der Tagesordnung. Die Linke war für einen zweijährigen Turnus, um auf Pro-blemsituationen schnell reagieren zu können. Ich halte das nach wie vor für richtig. Und leider werden in ihm auch längst nicht alle aus linker Sicht agrarpolitisch interessanten Daten erhoben. Aktuelle Tendenzen der Umverteilung des Bodeneigentums in immer weniger Hände mit schwarzen Geldkoffern ahnen wir bestenfalls. Aber politisch so brisante Entwicklungen sollten wir genau kennen. Auch über die Zusammensetzung landwirtschaftlicher Einkommen wissen wir zu wenig. Spannend wäre auch die Analyse der Entwicklung von Agrargenossenschaften und ihrer Funktion in den Dörfern. Sie werden absichtsvoll in der Kategorie „juristische Personen“ versteckt. Sonst würden sie noch als soziale, ökologische und demokratische Alternative zur Enteignung von Familienbetrieben durch den Markt entdeckt. Deshalb: Statistik wird zum spannenden Krimi, wenn man mit der Frage beginnt: Wem nutzt sie? Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In unserem Land werden viele Tiere gehalten, sehr viele sogar. Das Agrarstatistikgesetz soll unter anderem dafür Sorge tragen, dass regelmäßig erfasst wird, über wie viele Tiere wir hier sprechen. Denn schon lange ist die konventionelle, intensive Tierhaltung indoor in große Hallen verlegt. So kann es passieren, dass man durch die Region mit der europaweit höchsten Viehdichte fährt und außer ein paar Reitponys kein einziges Tier zu Gesicht bekommt. Dabei ist natürlich die Anzahl der genehmigten Haltungsplätze ausschlaggebend, nicht die aktuell eingestallte Tierzahl. Man stelle sich nur mal folgendes Szenario vor: Aus seuchenhygienischen Gründen beschließen Geflügelmäster einer Region, die Ställe frühzeitig zu leeren und eine freiwillige Stallruhe einzurichten, um den Keimdruck zu reduzieren. So geschehen kürzlich beim Auftreten der Virusinfektion der Infektiösen Laryngotracheitis – ILT– im Emsland. Dann sinkt die Anzahl der gehaltenen Tiere ganz schnell um einige 100 000 auf wenigen Quadratkilometern. Daher ist die Änderung, dass beim Geflügel Haltungsplätze statt Tierzahlen erfasst werden, ein kleines, aber ungemein wichtiges Detail, das wir sehr begrüßen. Natürlich hätte die Bundesregierung noch weiter gehen können, um für noch mehr Transparenz und Vertrauenswürdigkeit zu sorgen: Bei der Geflügelmast wäre es nämlich durchaus sinnvoll, die Häufigkeit der Erhebungen zu erhöhen. Denn kein anderer Zweig der sogenannten Veredelungsbranche wächst in so rasantem Tempo. Will der Schlachthof in Wietze seine Kapazitäten voll auslasten, müssen alleine hierfür noch 400 neue Hähnchenmastanlagen gebaut werden. Was die Bundesregierung durch einen Änderungsantrag kurzfristig noch angepackt hat, ist eine Änderung im Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch, das der ab 13. Dezember 2015 geltenden Lebensmittelinformationsverordnung angepasst werden muss. Diese Änderung ist im Prinzip vor allem technisch und entspricht der Regelung in der Lebensmittelinformationsverordnung, ist also tatsächlich eine Umsetzung und daher unproblematisch. Schade ist allerdings schon, dass nun diese rein technische LFGB-Änderung vorgenommen wird, ohne sie mit anderen notwendigen Verbesserungen im Täuschungsschutz zu verknüpfen. Mir würde da zum Beispiel eine Mitteilungspflicht der Unternehmer im Fall von schwerwiegenden Verstößen bei Täuschung einfallen. Eine solche Mitteilungspflicht könnte bei schwerwiegenden Verstößen wie dem Pferdefleischskandal verhindern, dass die Unternehmen mit stillen Rückrufen reagieren, ohne Behörden oder Verbraucher zu informieren. Aber dass die Bundesregierung wider alle Bekundungen nichts aus dem Pferdefleischskandal gelernt hat, haben wir ja gerade beim Thema Separatorenfleisch gemerkt. Wieder hat die Bundesregierung also eine Chance verstreichen lassen, systematische oder größere Betrugsfälle schneller entdecken und verfolgen zu können. Man hätte diese LFGB-Änderung außerdem mit der längst überfälligen Novellierung des § 40 1 a verknüpfen können. Damit könnte die Bundesregierung erwirken, dass die Veröffentlichung von Rechtsverstößen im Internet rechtssicher ist und die Länder wieder auf ihren Internetseiten über Verstöße informieren können. Warum soll bei uns nicht möglich sein, was in Österreich schon längst praktiziert wird? Diese LFGB-Novellierung ist schon lange angekündigt. Im Sommer war im Ausschuss die Rede von „in den nächsten Wochen“, zuletzt war der Entwurf für November angekündigt. Frau Aigner galt zu ihrer Amtszeit als Ankündigungsministerin. Es scheint sich so zu entwickeln, dass Minister Schmidt zumindest in diese Fußstapfen seiner Vorgängerin tritt. Ob er damit gut beraten ist, wage ich zu bezweifeln. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 21) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Mit der heutigen abschließenden Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes bringen wir eine über mehrere Legislaturperioden geführte Debatte zu Ende. Wir werden heute die Regelung über die Nutzung von urheberrechtlich geschützten Werken in Unterricht und Forschung endgültig entfristen. Damit schaffen wir Rechtssicherheit für Verlage auf der einen und Bildungs- und Forschungseinrichtungen auf der anderen Seite. In den Beratungen im Rechtsausschuss sowie in der Fraktion ist deutlich geworden, dass auch die beiden jüngsten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes bezüglich der Definition der zulässigen Länge von Werkteilen zur Nutzung in Unterricht und Forschung sowie insbesondere zur Regelung der Zugänglichmachung zu dieser Rechtssicherheit für die Beteiligten beitragen. Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion wäre es sicherlich wünschenswert gewesen, das Ergebnis der höchstrichterlichen Entscheidungen zur Klarstellung daher auch in den Gesetzestext aufzunehmen. Dies betrifft insbesondere den Vorrang eines angemessenen Lizenzangebots eines Verlages an eine Wissenschaftseinrichtung vor der Zugänglichmachung durch eine Universität oder andere Forschungseinrichtung. Da der Bundesgerichtshof diesen Vorrang von vertraglichen Lizenzen in einem Urteil im vergangenen Jahr festgestellt hat, ist § 52 a UrhG auch nach der Entfristung in diesem Sinne auszulegen, sodass materiell-rechtlich eine solche Aufnahme in den Gesetzestext entbehrlich ist. Die Rechtsprechung stärkt somit insbesondere die Position der Rechteinhaber und der Urheber. Die Verlage und damit die Rechteinhaber sind zur Refinanzierung ihres Angebots auf die Einnahmen aus Lizenzverträgen nicht nur angewiesen: Es liegt in der Natur des Urheberrechts, dass die Rechte an einem Werk zunächst bei seinem Schöpfer liegen und alle Beschränkungen dieses Rechts, zu denen auch die Zugänglichmachung von Werken oder Werkteilen für Unterricht und Forschung gehören, daher zuallererst als Beschränkung des Eigentums verstanden werden müssen. Dabei ist das geistige Eigentum, das beim Urheberrecht betroffen ist, nach dem Grundgesetz ebenso schützenswert wie materielles Eigentum. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass es aufseiten der Rechteinhaber auch einige Vertreter gibt, die unter dem Stichwort Schutz des Eigentums teils illusorische Preisvorstellungen durchsetzen wollen. Ein solches Verhalten bedauern wir natürlich, denn es schadet dem deutschen Rechtsstaat und widerspricht auch in erheblichem Maße dem berechtigten Anliegen derjenigen Verleger, die selbstverständlich dem Prinzip des ehrbaren Kaufmanns, das wir aus dem Handelsrecht kennen, verpflichtet sind. Gerade für die deutsche Verlagslandschaft als mittelständisch geprägtem Wirtschaftszweig gilt dies besonders. Dennoch haben die Urteile des Bundesgerichtshofs aus dem vergangenen Jahr bestätigt, dass der § 52 a des Urheberrechtsgesetzes eine bewährte Regelung ist, die daher im Grundsatz nicht überarbeitet werden muss. Aus diesem Grund werden wir den Gesetzestext ohne Änderungen in die entfristete Regelung überführen. Die Diskussion um die urheberrechtlichen Schranken für Bildung und Wissenschaft wird mit der heutigen Perpetuierung der im § 52 a des Urheberrechtsgesetzes enthaltenen Regelung jedoch nicht beendet sein. Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, eine allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke einzuführen, die sowohl den Belangen der Forschung als auch den berechtigten Belangen der Verlage gerecht wird. Die Einführung dieser allgemeinen Schranke für das Urheberrecht in Bildung und Wissenschaft wird eine umfassende rechtspolitische Diskussion und Bewertung erfordern, um die bestehenden Schrankenregelungen sinnvoll zusammenzufassen. Eine neue einheitliche Bildungs- und Wissenschaftsschranke darf dabei nicht den Inhalt der derzeit geltenden Schranken ad absurdum führen. Vielmehr muss gewährleistet sein, dass auch in einer zusammengefassten Schranke ein angemessener Interessenausgleich zwischen den Beteiligten – Verlage, Wissenschaftsinstitutionen und ihre Nutzer – gegeben ist. Die zukünftige Regelung einer einheitlichen Bildungs- und Wissenschaftsschranke muss sich in die bestehende Systematik des Urheberrechts einfügen und den Urheber mit seinen Rechten als Ausgangspunkt sehen. Dies werden wir Rechtspolitiker in der anstehenden Diskussion mit den Kollegen aus der Bildungspolitik intensiv diskutieren. Heute erreichen wir das Ende einer über viele Jahre geführten Debatte über die Geltung des § 52 a des Urheberrechtsgesetzes. Wir wissen, dass es nur das vorläufige Ende sein wird. Daher freue ich mich auf die kommenden Diskussionen im Rahmen der weiteren Umsetzung des Koalitionsvertrages im Bereich des Urheberrechts. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes wollen wir die bis Ende die-sen Jahres geltende Befristung des § 52 a UrhG aufheben und die bisherige Sonderregelung für die öffentliche Zugänglichkeit urheberrechtlich geschützter Werke für Unterricht und For-schung in eine neu gefasste, dauerhafte Urheberrechtsschranke überführen. Zum Hintergrund: § 52 a des Urheberrechtsgesetzes (UrhG) ist durch das erste Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vom 10. September 2003 in das UrhG eingefügt worden. Diese Regelung erklärt es für zulässig, kleine Teile eines Werkes, Werke geringen Umfangs sowie einzelne Beiträge aus Zeitungen oder Zeitschriften zur Ver-anschaulichung im Unterricht an Schulen, Hochschulen und weiteren Einrichtungen einem eingegrenzten Kreis von Personen für Unterrichtszwecke oder für Forschungszwecke öffent-lich zugänglich zu machen. Dies gilt nur, soweit dies zu dem jeweiligen Zweck geboten und zur Verfolgung nicht kommerzieller Zwecke gerechtfertigt ist. Bei Werken, die für den Unterrichtsgebrauch an Schulen bestimmt sind, ist dies nur mit Einwilligung des Berechtigten zu-lässig; auch Filmwerke dürfen vor Ablauf von zwei Jahren nach Beginn der üblichen regulären Auswertung in Filmtheatern nur mit Einwilligung des Berechtigten genutzt werden. Für diese Nutzung ist eine angemessene Vergütung zu zahlen. Um den Befürchtungen der wissenschaftlichen Verleger vor unzumutbaren Beeinträchtigungen durch die neue Regelung Rechnung zu tragen, wurde die Regelung durch § 137 k UrhG zunächst befristet. Nach insgesamt drei Evaluierungen über die Auswirkungen der Norm in der Praxis soll § 52 a UrhG nun endgültig entfristet werden, nachdem auch die Rechtsprechung im vergangenen Jahr endgültig entschieden hat, dass es sich hierbei um eine für die Praxis handhabbare Regelung handelt, die einen ausgewogenen Interessenausgleich zwischen Rechteinhabern und nutzenden Instituti-onen ermöglicht. In einem Verfahren ging es um Reichweite und Grenzen des Tatbestands sowie um die Frage der Zulässigkeit von Sekundärnutzungen wie das Herunterladen, Abspeichern und Ausdrucken. Danach darf eine Universität oder eine andere Forschungseinrichtung ihren Studierenden ein urheberrechtlich geschütztes Werk in Teilen nur dann elektronisch zu-gänglich machen, wenn diese Teile nicht mehr als 12 Prozent oder 100 Seiten in der Summe ausmachen. In dem anderen Verfahren ging es im Kern um die Klärung der Frage der nach § 52 a UrhG angemessenen Vergütung für Nutzungen an Hochschulen. Hier hat der BGH fest-gestellt, dass diese Zugänglichmachung nicht geboten ist, wenn der Rechteinhaber eine an-gemessene Lizenz für die Nutzung angeboten hat. Das heißt, der BGH geht ganz klar davon aus, dass vertragliche Regelungen Vorrang vor der Anwendung der Schranke haben. Die Rechtsprechung räumt also einem angemessenen Lizenzangebot eines Verlages den Vorrang ein. Den Urteilen lassen sich im Ergebnis keine Hinweise entnehmen, die eine Überarbeitung des Wortlauts der Regelung nahelegen. Nach über zehn Jahren schaffen wir mit der Entfristung Rechtssicherheit für alle Beteiligten und geben jungen Menschen zeitgemäßen Zugang zu Bildung und Lehrmaterialien. Zugang ist dabei das Schlüsselwort. Denn Wissenschaft und Bildung leben neben dem Austausch von Informationen auch vom Zugang zu diesen. Da ein Großteil der Informationen oftmals in Wer-ken eingebunden ist, die urheberrechtlich geschützt sind, bietet § 52 a UrhG hier die entspre-chende Nutzungserlaubnis und gleichzeitig eine vergütungspflichtige Schranke. Damit wahrt er die Interessen der Urheber und ermöglicht zum anderen einen einfachen Weg für Bildung und Wissenschaft. Im Koalitionsvertrag haben wir darüber hinaus vereinbart, dass wir den wichtigen Belangen von Wissenschaft, Forschung und Bildung stärker Rechnung tragen und eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke einführen. Die Entfristung ist da ein kleiner Schritt in die richtige Rich-tung. Die Perpetuierung der Regelung des § 52 a UrhG präjudiziert aber nicht gleichzeitig die Einführung einer einheitlichen Bildungs- und Wissenschaftsschranke. Klar ist aber auch, dass durch die Digitalisierung die Zahl der Ausgleichsschranken an verschiedenen Stellen im Ur-heberrechtsgesetz gestiegen ist, welche zum Teil unübersichtlich, wenig transparent und teilweise technisch überholt sind. Dieser Flickenteppich an Regelungen kann so nicht bleiben. Wir wollen daher die Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag zügig umsetzen und die Schran-kenregelungen im Bereich Bildung und Wissenschaft praktikabler und für alle Anwender ver-ständlicher gestalten. Wir sollten uns aber bei allen Veränderungen und bei allem Veränderungsbedarf im Urheber-recht immer bewusst machen, dass Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt des Urheberrechts Ar-tikel 14 unseres Grundgesetzes ist. Artikel 14 garantiert und schützt das Eigentum, sei es materielles oder geistiges Eigentum. Beschränkungen dieses Eigentumsrechts, also auch die sogenannten Schranken des Urheberrechts, sind daher immer als Ausnahme zu verstehen und lassen sich nur durch die Interessen des Allgemeinwohls begründen. Vor diesem Hinter-grund müssen wir gesetzliche Änderungen im Urheberrecht immer betrachten, und vor diesem Hintergrund müssen sich auch diejenigen messen lassen, die eine Schrankenregelung für sich in Anspruch nehmen. Die umfassende Umgestaltung aller Schrankenregelungen in diesem Bereich erfordert daher eine intensive rechtspolitische Diskussion, die voraussichtlich nicht vor Ende der Befristung des § 52 a UrhG abgeschlossen werden kann. In den beiden vergan-genen großen Urheberrechtsreformen hat der Gesetzgeber bereits umfassende Privilegien für den Bereich Wissenschaft geschaffen. Mit dem Anfang diesen Jahres vorgelegten Gutachten von Frau Professor de la Durantaye, welches vom BMBF in Auftrag gegeben worden ist, ha-ben wir eine gute Grundlage für die kommenden Debatten. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird ein zeitgemäßes und nutzerfreundliches Urheberrecht zu schaffen und dabei die Interessen der Urheberinnen und Urheber zu wahren und im Interesse der Allgemeinheit die Nutzung von urheberrechtlich geschützten Werken in bestimmtem Umfang für Zwecke von Bildung und Wissenschaft zu ermöglichen. Christian Flisek (SPD): Wir haben es endlich geschafft! Nach elf Jahren fortwährender Befristung verabschieden wir heute ohne weitere Einschränkungen den Gesetzentwurf zur Entfristung des § 52 a und übernehmen diesen in den urheberrechtlichen Normenbestand. Damit wird sichergestellt, dass die Lehrkräfte von Schulen und Hochschulen eine zukünftig dauerhafte Rechtssicherheit bekommen, wenn sie ihren Schülerinnen und Schülern Lehrmaterial zur Verfügung stellen, das von ihnen selbst digitalisiert wurde. Es freut mich daher außerordentlich, dass die bisherige Befristung zum Ende dieses Jahres hinfällig wird und wir den § 52 a des Urheberrechtgesetzes in dieser und der folgenden Dekade in diesem Parlament nicht mehr zu verhandeln haben. Zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen der Union haben wir uns darauf verständigt, diesen Paragrafen im Urheberrechtsgesetz in seinem Inhalt unangetastet und ohne weitere Befristung zu übernehmen. Auch mit so scheinbar kleinen Gesetzesänderungen kann man manchmal Weitreichendes bewirken. Wie bereits angedeutet, ist dieser Paragraf außerordentlich relevant, wenn es um einen angemessenen und zeitgemäßen Zugang junger Menschen zu Bildung und Lehrmaterialien geht. Ich gebe Ihnen ein kurzes Beispiel dazu: Eine Lehrkraft scannt entsprechende Seiten der Unterrichtsmaterialien ein und stellt sie den Schülern und Studenten im Intranet der Schule oder der Universität zur Verfügung. Die Schüler und Studenten laden sich dann das Unterrichtsmaterial einfach herunter. Exakt dieses erlaubt der § 52 a des Urheberrechtsgesetzes. Das hört sich wie ein alltägliches Beispiel an, und das ist es tatsächlich auch. Warum wurde der § 52 a nicht schon viel früher entfristet? Auch ich habe mich das gefragt. Die Träger von Schulen und Hochschulen, also letztlich die Bundesländer, erhalten mit dieser Entfristung Planungssicherheit, um entsprechende Infrastrukturen für ihre Institutionen aufzubauen, wo bisher Unsicherheit herrschte. Ich bin froh, dass sich meine in der letzten Debatte formulierten Hoffnungen zu diesem Gesetzentwurf erfüllt haben: Ohne weitere Aufregung ging der vorliegende Entwurf in die heutige Schlussabstimmung. Dafür danke ich ausdrücklich der Opposition. Dies ist ein gutes Zeichen für uns als Verantwortliche und für alle Bildungsträger, Lehrkräfte, Schüler und Studenten in unserem Land. Die Entfristung steht aber auch für das, was meiner Fraktion in allen urheberrechtlich relevanten Fragen besonders wichtig ist. Es geht darum, die Rechte der kreativen Urheber und auch ihrer Verwerter in einem digitalen Umfeld zu stärken. Es geht auch darum, die Rechte der Nutzer auf eine legale Nutzung digitaler Inhalte in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. In diesem Dreieck von Kreativen, Verwertern und Nutzern solch einen angemessenen Ausgleich herzustellen, erfordert in vielen Detailfragen oft urheberrechtliches Fingerspitzengefühl, sehr viel Arbeit und sehr oft auch Geduld. Alle, die sich im parlamentarisch-politischen Umfeld mit Urheberrecht beschäftigen, wissen das und können das sicherlich bestätigen. Stimmen Sie mit mir für ein fortschrittliches Urheberrecht, für die digitale Bildung unserer Kinder und für diesen Gesetzentwurf! Saskia Esken (SPD): Die bisherige Regelung des § 52 a – also die Erlaubnis der elektronischen Nutzung kleiner Teile eines urheberrechtlich geschützten Werkes für Lehrveranstaltungen – war durch die Geschichte einer fortgesetzten Befristung eng verbunden mit der Angst vor der eigenen Courage. Dreimal wurde diese für den Bildungs- und Wissenschaftsbereich so wichtige Erlaubnis wider besseres Wissen neu befristet, und nie gab es wirkliche Klarheit, Rechts- und Planungssicherheit für Schulen, Hochschulen und andere Lehreinrichtungen. Der Wegfall der Entfristung löst nun endlich diese Unsicherheit und auch die Investitionsblockade der Schulen und Hochschulen. Mit der Rechtssicherheit entsteht eine Planungssicherheit für Investitionen in die technischen Infrastrukturen, die an den Einrichtungen für die Nutzung erforderlich sind. Bislang wurden diese Investitionen, beispielsweise zur Erstellung eines Intranet an Schulen und Hochschulen, wegen der Befristung immer wieder verschoben oder in Gänze vermieden. Die endgültige Entfristung des § 52 a ist daher ein kleiner, aber sehr wichtiger Schritt im Bereich des Urheberrechts. Sie schafft endlich Rechtssicherheit über die genehmigungsfreie Verwendung von durch das Urheberrecht geschützten Objekten in Lehrveranstaltungen, und zwar für alle Beteiligten. Sowohl die Evaluation des Gesetzes und seiner Befristung durch das Bundesjustiz-ministerium als auch die Überprüfung durch den Bundesgerichtshof sind übrigens zu derselben Auffassung gelangt. Ganz klar bekennt sich auch die SPD darüber hinaus zu einer zeitgemäßen Weiterentwicklung des Urheberrechts. Mit der Entfristung des § 52 a sind bei weitem nicht alle bildungs- und wissenschaftspolitischen Probleme im Urheberrecht gelöst. Zahlreiche Formulierungen des Gesetzes sind ungenau und auch für Experten oft strittig. Für einen offenen, freizügigen Umgang mit -Wissen und Information in einer digitalen Welt stellt die derzeitige Gesetzeslage eine unangemessene Beschränkung dar. Wissenschaftler, Lehrkräfte und Lernende sind durch die Angst vor teuren Abmahnungen stark verunsichert und nutzen die Chancen der Digitalisierung für eine vernetzte und kollaborative Bildungslandschaft deshalb nur mit angezogener Handbremse. Für eine Modernisierung des Urheberrechts ist die endgültige Entfristung der Bildungs- und Wissenschaftsschranke daher nur ein erster Schritt. SPD und Union haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass das Urheberrecht an die Erfordernisse und Herausforderungen des digitalen Zeitalters angepasst werden muss. Dieses Vorhaben wurde mit der Digitalen Agenda der Bundesregierung nochmals bestätigt. Wir brauchen ein bildungs-, forschungs- und wissenschaftsfreundliches Urheberrecht. Hierzu zählt insbesondere die vereinbarte Einführung einer allgemeinen und zeitgemäßen Bildungs- und Wissenschaftsschranke, die den wichtigen Belangen einer offenen und vernetzten Wissenschaft, Bildung und Forschung Rechnung trägt. Keinesfalls dürfen die bestehenden Schranken für Bildung, Wissenschaft und Forschung in irgendeiner Form eingeengt werden. Eine Neuregelung des Urheberrechts muss endlich ein zeitgemäßes Forschen, Lehren und Lernen ermöglichen. Für die SPD ist daher ein weiterer Novellierungskorb für die Belange von Bildung, Wissenschaft und Forschung unverzichtbar. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Wege im Labyrinth des Urheberrechts sind unergründlich. Nehmen wir an, Sie sind Astronaut und filmen sich in der Raumstation beim Singen eines Liedes, das ein bekannter Mann geschrieben hat und dessen Rechte einer Plattenfirma gehören. Sie wollen das Video ins Internet stellen. -Danach beginnt eine sehr komplizierte rechtsphilosophische Debatte, in der sogar die Herkunft der Teile der Raumstation, ihre Flughöhe und die Länder, die sie überfliegt, eine Rolle spielen. Fast so kompliziert wie diese Debatte gestaltet es sich für eine Hochschullehrerin hierzulande, einen Reader mit Unterrichtsmaterial über das Internet an die eigenen Studierenden zu verteilen. Laut § 52 a UrhG dürfen „kleine Teile eines Werkes, Werke geringen Umfangs sowie einzelne Beiträge aus Zeitungen oder Zeitschriften“ aber auch nur „zur Veranschaulichung“ und auch nur einem „bestimmt abgegrenzten Kreis von Unterrichtsteilnehmern“ zugänglich gemacht werden. Zusätzlich muss laut Gesetz jedes Mal die Einwilligung des Berechtigten, also des Inhabers der Nutzungsrechte, Verlage, Medienunternehmen oder Sendeanstalten, eingeholt und eine „angemessene Vergütung“ gezahlt werden. Mit diesem Gesetz fingen die Fragen erst an: Was sind kleine Teile, was Werke geringen -Umfangs, was ist ein begrenzter Kreis, wer ist der Berechtigte, was ist eine angemessene Vergütung? Diese Fragen sind für unsere Hochschullehrerin nicht zu beantworten. Damit war diese Urheberrechtsschranke im Prinzip unbrauchbar. Es bedurfte einer Kette von Grundsatzurteilen, bis die Umrisse des Regelungsgehaltes einigermaßen klar zu erkennen waren. Zu dieser Klarheit gehört seit dem bisher letzten -Urteil zur Sache auch, dass die kleinen Werkteile nur dann zugänglich gemacht werden dürfen, wenn die -Verlage selbst kein entsprechendes elektronisches Angebot -vorhalten. Bevor unsere Hochschullehrerin also ihren Seminarreader aus dem zusammenstellt, was ihre Unibibliothek so bietet, muss sie nun die E-Book- und E-Learning-Angebote der Verlage durchforsten und, falls sie fündig wird, die Lizenz zur Nutzung der benötigten Teile einkaufen. Der § 52 a ist in der Praxis deshalb keine Einschränkung des Urheberrechtsschutzes zugunsten von Bildung und Wissenschaft, sondern eher ein Schrankennutzungsverhinderungsparagraf. Wenn dieser nun auf Dauer gestellt werden soll, kann man das nicht als Fortschritt, sondern bestenfalls als Vermeidung von Rückschritt bezeichnen. Wir werden deshalb seit Jahren nicht müde, zu wiederholen: Wirklich helfen würde den Kitas, Schulen und Hochschulen, wenn die Koalition einen Blick in den eigenen Vertrag würfe: „Wir werden den wichtigen Belangen von Wissenschaft, Forschung und Bildung stärker Rechnung tragen und eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke einführen.“ Ein unmissverständlicher Auftrag. Die Frage ist, wann diese allgemeinverständliche und hoffentlich praktikable Pauschalregelung denn nun endlich kommen soll. Im heute zu behandelnden Entwurf steht nämlich, dass die Entfristung des § 52 a nicht die Einführung einer einheitlichen Bildungs- und Wissenschaftsschranke präjudiziere. Diese Debatte über eine Umgestaltung der Schrankenregelungen, so schreiben die Fraktionen von Union und SPD, erfordere eine intensive rechtspolitische Diskussion, die nicht in der Kürze der Zeit zu führen sei. Nur: Wenn Sie so lange für die Vorbereitung einer Bildungs- und Wissenschaftsschranke brauchen, wann wollen Sie denn damit anfangen? Unsere Fraktion hat eine solche Regelung bereits in der letzten und in der vorletzten Legislaturperiode eingefordert. Es liegen – auch das muss für die Große Koalition offenbar mehrfach gesagt werden – bereits konkrete Vorschläge für eine solche Regelung vor – unter anderem einer von Frau Professor Durantaye von der Humboldt-Universität im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Es wird Zeit, dass sich die Anwältinnen und Anwälte für einen freieren Umgang mit Wissen in den Koalitionsfraktionen durchsetzen und wir hier im Bundestag endlich über fortschrittliche Regelungen auf der Grundlage eines Regierungsentwurfes diskutieren können. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Reformbedarf beim Urheberrecht besteht seit Jahren. Denn durch die zunehmende Digitalisierung haben sich Nutzerverhalten, Verbreitung urheberrechtlich geschützter Inhalte und viele Geschäftsmodelle komplett gewandelt. Gerade der Zugang zur wichtigsten Ressource des 20. Jahrhunderts, Wissen, muss durch das Urheberrecht für das digitale Zeitalter geregelt werden. Aber Ihr jetzt vorgelegter Gesetzentwurf zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes ist bei weitem kein Glanzstück Ihrer Regierungsarbeit, denn er besteht leider nur aus der Entfristung der Wissenschaftsschranke. Dabei ist eine Entfristung ja durchaus richtig, aber diese Detailregelung ist bei weitem nicht des Rätsels -Lösung zur Modernisierung des Urheberrechts, und sie war darüber hinaus längst überfällig. Wir Grünen fordern sie schon lange, denn nur durch eine Entfristung der Wissenschaftsschranke kann der wichtige Ausbau von netzgestützten Lehr- und Forschungsstrukturen in Schulen, Universitäten etc. sichergestellt werden. Bildung und Wissenschaft leben von einem freien Austausch von Informationen und von einem freien Zugang zu Informationen. Da viele Werke jedoch urheberrechtlich geschützt sind, können sie nicht ohne Weiteres im Bildungs- und Wissenschaftsbereich genutzt werden. Deshalb ist eine diesbezügliche Erlaubnis in § 52 a des Urheberrechtsgesetzes inhaltlich ebenfalls richtig. An eine weitere kleine, aber sinnvolle Detailänderung haben Sie sich beim Thema Wissenschaftsschranke schon nicht mehr herangetraut. Aufgrund der sprachlichen Ungenauigkeiten und der Unstimmigkeiten bei der Rechtsprechung gibt es immer wieder neuen Streit bezüglich des Umfangs der Wissenschaftsschranke. Um diese Widersprüche und auslegungsfähigen Ungenauigkeiten zu beheben, hätte es nur einer kleinen Neuformulierung bedurft, wie „zur Veranschaulichung für alle Zwecke des Unterrichts“ statt der derzeitigen „zur Veranschaulichung im Unterricht“. Denn für die Lehre ist es immens wichtig, dass digitale Inhalte auch unterrichtsbegleitend und zum Selbststudium vorgehalten werden können. Außer der Entfristung enthält Ihr Gesetz leider keine weiteren Neuausrichtungen. Das Urheberrecht zu novellieren, ist sicherlich keine einfache Aufgabe. Denn dem berechtigten Schutz der Rechte der Urheberinnen und Urheber stehen die Anforderungen an eine digitale Realität und neue Nutzungsgewohnheiten gegenüber. Diese in Einklang zu bringen, ist eine große Herausforderung. Aber die Reform, die sowohl den Kreativen als auch den Nutzerinnen und Nutzern entgegenkommt, ist seit Jahren überfällig. Trotz zahlreicher Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission „Internet und Gesellschaft“ und Ihren jahrelangen Ankündigungen bezüglich eines dritten Korbes zur Reform des Wissenschaftsbereichs legen Sie mit den jetzigen Minimaländerungen noch immer keine konkreten und visionären Vorschläge vor. Und auch Ihre Digitale Agenda bleibt an dieser Stelle alle Antworten schuldig. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (Tagesordnungspunkt 22) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Am 9. Oktober 2014 wurde ohne Debatte der Gesetzesentwurf zum Dritten Zusatzprotokoll vom 20. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 in erster Lesung beraten. Vorliegend geht es um die deutsche Umsetzung des Zusatzprotokolls. Das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (BGBl. 1964 II S. 1369, 1371) soll durch das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 in bestimmten Punkten ergänzt werden, um das Auslieferungsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, wenn die verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt und auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet hat. Durch das Dritte -Zusatzprotokoll soll im Interesse der verfolgten Person die Dauer der Inhaftierung verkürzt und die Effizienz der Strafjustiz in den Vertragsstaaten erhöht werden, so wird in dem Gesetzentwurf ausgeführt. Im Folgenden werde ich einzelne Regelungen der Umsetzung näher vorstellen. Diese sind von besonderer Relevanz, da sie das Auslieferungsverfahren genauer beschreiben . Artikel 1 des 3. ZP-EuAlÜbk beschreibt die Verpflichtung zur Auslieferung im vereinfachten Verfahren. Danach verpflichten sich die Vertragsparteien, einander die Personen, nach denen gemäß Artikel 1 des Übereinkommens gesucht wird, in dem vereinfachten Verfahren, wie es in diesem Protokoll vorgesehen ist, auszuliefern, sofern diese Personen und die ersuchte Vertragspartei hierzu ihre Zustimmung gegeben haben. Von dieser Verpflichtung gibt es eine Ausnahme. Nach Artikel 6 Absatz 2 des 3. ZP-EuAlÜbk kann der ersuchte Staat in Ausnahmefällen entscheiden, das normale Verfahren nach dem EuAlÜbk anzuwenden. Er ist lediglich verpflichtet, dies dem ersuchenden Staat so rechtzeitig mitzuteilen, dass dieser die Frist zur Vorlage eines Auslieferungsersuchens einhalten kann. Die -Verpflichtung geht damit nicht über die Regelung des deutschen Rechtes hinaus. § 29 IRG sieht vor, dass die Generalstaatsanwaltschaft die Akte trotz des Einverständnisses der verfolgten Person dem Oberlandes-gericht zur Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung vorlegen kann. In Artikel 2 des 3. ZP-EuAlÜbk wird sodann das -Verfahren geregelt, dann in den folgenden Artikeln die Unterrichtung der betroffenen Person, die Zustimmung zur Auslieferung und der Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität. Das Verfahren der vereinfachten Auslieferung nach den Artikeln 2, 3 und 4 des 3. ZP-EuAlÜbk entspricht dem des § 41 IRG: Ein Auslieferungsverfahren wird nach den Regelungen des IRG durch ein Fahndungsersuchen, ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme oder ein Auslieferungsersuchen vorbereitet. Wird die verfolgte Person aufgegriffen, ist sie unverzüglich einem Richter vorzuführen (§§ 21, 22 IRG). Im Rahmen der Vernehmung ist die verfolgte Person über die Möglichkeit der vereinfachten Auslieferung und deren Rechtsfolgen zu belehren. Der Richter nimmt die Erklärung der verfolgten Person zu Protokoll (§ 21 Absatz 6, § 22 Absatz 3, § 28 Absatz 2, § 41 Absatz 4 IRG, Nummer 40 Absatz 2 der Richtlinien über den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten, RiVASt). Zudem kann die verfolgte Person entscheiden, ob sie auf den Spezialitätsschutz verzichtet (§ 41 Absatz 2 IRG). Die Einverständniserklärung kann auch zu einem späteren Zeitpunkt im Auslieferungsverfahren zu Protokoll eines Richters abgegeben werden. Sie ist nicht widerruflich (§ 41 Absatz 3 IRG). Nach der Vernehmung übersendet die Generalstaatsanwaltschaft die Verfahrensakte an das Oberlandesgericht, das über den Erlass eines Auslieferungshaftbefehls entscheidet, falls dieser noch nicht vorliegt (§ 17 Absatz 1 IRG). Über die Zulässigkeit der Auslieferung kann -anschließend die Generalstaatsanwaltschaft entscheiden, ohne das Oberlandesgericht damit zu befassen (§ 29 Absatz 1 IRG). Gemäß § 29 Absatz 2 IRG bleibt der Generalstaatsanwaltschaft bei komplexen Verfahrensgegenständen oder Zweifeln an der Wirksamkeit des Einverständnisses die Möglichkeit, die Entscheidung des Oberlandesgerichts herbeizuführen und so das übliche Auslieferungsverfahren anzuwenden. Die gemäß § 74 IRG zuständigen Behörden bewilligen anschließend die Auslieferung. Die unverzichtbaren materiellen Auslieferungsvoraussetzungen, die in den §§ 1 bis 9, 10 Absatz 2, § 73 IRG aufgezählt sind, sind in jedem Fall einzuhalten. Wird jedoch ein Einverständnis mit der Auslieferung erteilt, so ist es nicht mehr erforderlich, dass der ersuchende Staat ein förmliches Auslieferungsersuchen nach § 12 IRG übersendet; zumindest ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme nach § 16 IRG muss jedoch vorliegen. Artikel 5 des 3. ZP-EuAlÜbk sieht ferner die Möglichkeit des Verzichts auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität vor. Nach diesem Grundsatz darf eine Person nach der Auslieferung nur wegen der Taten verfolgt werden, die Gegenstand des Auslieferungsersuchens waren. Die Verfolgung wegen weiterer Taten setzt gemäß Artikel 14 EuAlÜbk eine Zustimmung des ausliefernden Staates oder eine freiwillige Rückkehr in den ersuchenden Staat voraus. Verzichtet die verfolgte Person auf diesen Schutz, kann sie auch wegen anderer Taten verfolgt werden und damit die Verfahren im ersuchenden Staat beschleunigen und erreichen, dass alle anhängigen Verfahren auf einmal erledigt werden. Der ersuchte Staat ist auch nach Abgabe einer -Zustimmungserklärung der verfolgten Person nicht verpflichtet, ein vereinfachtes Verfahren durchzuführen, sondern kann am normalen Auslieferungsverfahren festhalten. Zur weiteren Beschleunigung sehen die Artikel 6, 7 und 9 des 3. ZP-EuAlÜbk Fristen für Mitteilungen und Entscheidungen vor. An deren Nichteinhaltung sind keine Rechtsfolgen, insbesondere keine Sanktionen, -gebunden. Durch die Fristsetzung soll gewährleistet werden, dass die übliche mehrmonatige Verfahrensdauer bei Zustimmung der verfolgten Person zur Auslieferung erheblich verkürzt wird. Der Anwendungsbereich des 3. ZP-EuAlÜbk erstreckt sich auf Fälle, in denen die verfolgte Person ihre Zustimmung bis zum Eingang der Unterlagen im Sinne von Artikel 12 des 3. ZP-EuAlÜbk erteilt hat. Anschließend ist es entsprechend bis zur Übergabe der verfolgten Person anwendbar. Artikel 12 des 3. ZP-EuAlÜbk fordert als formale Voraussetzung einer Auslieferung die Vorlage eines Auslieferungsersuchens, dem eine Reihe von Unterlagen beizufügen sind. Das 3. ZP-EuAlÜbk sieht eine Möglichkeit zur Vereinfachung des Auslieferungsverfahrens durch Verzicht auf Vorlage des Ersuchens nach Artikel 12 des 3. ZP- EuAlÜbk vor, wenn die verfolgte Person der Auslieferung zustimmt. Für diesen Fall sind in Artikel 3 und 4 des 3. ZP-EuAlÜbk besondere Regelungen zum Schutz der verfolgten Person aufgenommen worden. Diese besonderen Regelungen sind erstens eine umfassende Belehrung, zweitens eine Protokollierung der Erklärungen der verfolgten Person nach dem Recht der ersuchten -Vertragspartei, drittens die Möglichkeit der Beiziehung eines Rechtsbeistandes und letztens die Hinzuziehung eines Dolmetschers. Die verfolgte Person wird gemäß Artikel 4 des 3. ZP-EuAlÜbk weiterhin dadurch geschützt, dass die Einwilligung freiwillig, bewusst und im Wissen der rechtlichen Tragweite zu erfolgen hat. Letztlich folgen noch allgemeine Ausführungen zur Geltung des Zusatzprotokolls wie Geltungsdauer, Kündigung und Notifikation. Ziel des 3. ZP-EuAlÜbk ist es, das EuAlÜbk in bestimmten Punkten zu verbessern und zu ergänzen. Das EuAlÜbk und damit auch das 3. ZP-EuAlÜbk sind im Verhältnis zu Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht anwendbar. Hier haben die Regelungen zum Europäischen Haftbefehl Vorrang (§ 78 IRG). Das 3. ZP--EuAlÜbk greift nur im Verhältnis zu Staaten, die das -EuAlÜbk und das 3. ZP-EuAlÜbk ratifiziert haben -(Artikel 12 Absatz 2, Artikel 14 Absatz 1 des 3. ZP--EuAlÜbk). Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 effektiv in das nationale Recht um. Dabei wird ein guter Ausgleich zwischen den europäischen Verpflichtungen einerseits und nationalen Anforderungen des Strafverfahrensrechts andererseits geschaffen. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit dem Gesetzentwurf zum Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, 3. ZP-EuAlÜbk, geht es um die deutsche Umsetzung des Zusatzprotokolls mit dem Ziel, das EuAlÜbk in bestimmten Punkten zu verbessern und zu ergänzen. Am 9. Oktober 2014 wurde der Gesetzentwurf bereits ohne Debatte in erster Lesung beraten. Zum Hintergrund: Das vereinfachte Auslieferungsverfahren nach deutschem Recht ist in § 41 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, IRG, normiert. Im Jahr 2009 hat in Deutschland mehr als die Hälfte der verfolgten Personen ihrer vereinfachten Auslieferung zugestimmt. Auch die Regelungen zum Europäischen Haftbefehl sehen die Möglichkeit eines vereinfachten Verfahrens vor. In diesen Verfahren verkürzte sich im Jahr 2012 die durchschnittliche Zeitspanne zwischen Festnahme und Auslieferungsentscheidung von durchschnittlich 38,4 Tagen im Normalfall auf 15,2 Tage bei Zustimmung der verfolgten Person. Der Europarat hat mit dem 3. ZP-EuAlÜbk das Mutterübereinkommen (BGBl. 1964 II S. 1369, 1371) ergänzt, um das Auslieferungsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, wenn die verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt und auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet hat. Es dient damit einerseits den Interessen der verfolgten Person, indem es die Dauer des Freiheitsentzuges im Ergreifungsstaat reduziert und eine zeitnahe Verteidigung im Staat, der um Auslieferung ersucht hat, ermöglicht. Andererseits wird damit die Effizienz der Strafjustiz in den beteiligten Staaten erhöht. Deutschland hat sich während der Verhandlungen zum 3. ZP-EuAlÜbk für eine die Grundrechte schonende Gestaltung des Auslieferungsverfahrens eingesetzt. Der Gesetzentwurf steht darüber hinaus im Einklang mit den Leitgedanken der Bundesregierung zur nachhaltigen Entwicklung im Sinne der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, weil die Kriminalitätsbekämpfung und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Vertragsstaaten auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung verbessert werden. Das EuAlÜbk und damit auch das 3. ZP-EuAlÜbk sind allerdings im Verhältnis zu Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht anwendbar. Hier haben die Regelungen zum Europäischen Haftbefehl Vorrang (§ 78 IRG). Folgend möchte ich Neuerungen durch das Übereinkommen vorstellen, welches das Auslieferungsverfahren näher beschreibt: Artikel 1 des 3. ZP-EuAlÜbk verpflichtet den ersuchten Staat zur Durchführung des vereinfachten Auslieferungsverfahrens, wenn die verfolgte Person damit einverstanden ist. Von dieser Verpflichtung gibt es allerdings eine Ausnahme. Nach Artikel 6 Absatz 2 des 3. ZP-EuAlÜbk kann der ersuchte Staat in Ausnahmefällen entscheiden, das normale Verfahren nach dem EuAlÜbk anzuwenden. Er ist lediglich verpflichtet, dies dem ersuchenden Staat so rechtzeitig mitzuteilen, dass dieser die Frist zur Vorlage eines Auslieferungsersuchens einhalten kann. Artikel 2 ff. des 3. ZP-EuAlÜbk legen das Grundprinzip des vereinfachten Verfahrens, die Unterrichtung der betroffenen Person, die Zustimmung zur Auslieferung und den Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität fest. Das Verfahren der vereinfachten Auslieferung entspricht dem des § 41 IRG: Ein Auslieferungsverfahren wird nach den Regelungen des IRG durch ein Fahndungsersuchen, ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme oder ein Auslieferungsersuchen vorbereitet. Wird die verfolgte Person aufgegriffen, ist sie unverzüglich einem Richter vorzuführen (§§ 21, 22 IRG). Im Rahmen der Vernehmung ist die verfolgte Person über die Möglichkeit der vereinfachten Auslieferung und deren Rechtsfolgen zu belehren. Der Richter nimmt die Erklärung der verfolgten Person zu Protokoll (§ 21 Absatz 6, § 22 Absatz 3, § 28 Absatz 2, § 41 Absatz 4 IRG, Nummer 40 Absatz 2 der Richtlinien über den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten, RiVASt). Zudem kann die verfolgte Person entscheiden, ob sie auf den Spezialitätsschutz verzichtet (§ 41 Absatz 2 IRG). Die Einverständniserklärung kann auch zu einem späteren Zeitpunkt im Auslieferungsverfahren zu Protokoll eines Richters abgegeben werden. Sie ist nicht widerruflich (§ 41 Absatz 3 IRG). Nach der Vernehmung übersendet die Generalstaatsanwaltschaft die Verfahrensakte an das Oberlandesgericht, das über den Erlass eines Auslieferungshaftbefehls entscheidet, falls dieser noch nicht vorliegt (§17 Absatz 1 IRG). Über die Zulässigkeit der Auslieferung kann anschließend die Generalstaatsanwaltschaft entscheiden, ohne das Oberlandesgericht damit zu befassen (§ 29 Absatz 1 IRG). Gemäß § 29 Absatz 2 IRG bleibt der Generalstaatsanwaltschaft bei komplexen Verfahrensgegenständen oder Zweifeln an der Wirksamkeit des Einverständnisses die Möglichkeit, die Entscheidung des Oberlandesgerichts herbeizuführen und so das übliche Auslieferungsverfahren anzuwenden. Die gemäß § 74 IRG zuständigen Behörden bewilligen anschließend die Auslieferung. Die unverzichtbaren materiellen Auslieferungsvoraussetzungen, die in den §§ 1 bis 9, 10 Absatz 2 und § 73 IRG aufgezählt sind, sind in jedem Fall einzuhalten. Wird jedoch ein Einverständnis mit der Auslieferung erteilt, so ist es nicht mehr erforderlich, dass der ersuchende Staat ein förmliches Auslieferungsersuchen nach § 12 IRG übersendet; zumindest ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme nach § 16 IRG muss jedoch vorliegen. Die verfolgte Person wird gemäß Artikel 4 des 3. ZP-EuAlÜbk dadurch geschützt, dass die Einwilligung freiwillig, bewusst und im Wissen der rechtlichen Tragweite zu erfolgen hat. Artikel 5 des 3. ZP-EuAlÜbk sieht ferner die Möglichkeit des Verzichts auf den Schutz des Grundsatzes der Spezialität vor. Nach diesem Grundsatz darf eine Person nach der Auslieferung nur wegen der Taten verfolgt werden, die Gegenstand des Auslieferungsersuchens waren. Die Verfolgung wegen weiterer Taten setzt gemäß Artikel 14 EuAlÜbk eine Zustimmung des ausliefernden Staates oder eine freiwillige Rückkehr in den ersuchenden Staat voraus. Verzichtet die verfolgte Person auf diesen Schutz, kann sie auch wegen anderer Taten verfolgt werden und damit die Verfahren im ersuchenden Staat beschleunigen und erreichen, dass alle anhängigen Verfahren auf einmal erledigt werden. Dabei ist der ersuchte Staat auch nach Abgabe einer Zustimmungserklärung der verfolgten Person nicht verpflichtet, ein vereinfachtes Verfahren durchzuführen, sondern er kann am normalen Auslieferungsverfahren festhalten. Zur weiteren Beschleunigung sehen die Artikel 6, 7 und 9 des 3. ZP-EuAlÜbk Fristen für Mitteilungen und Entscheidungen vor. An deren Nichteinhaltung sind keine Rechtsfolgen, insbesondere keine Sanktionen, gebunden. Durch die Fristsetzung soll gewährleistet werden, dass die übliche mehrmonatige Verfahrensdauer bei Zustimmung der verfolgten Person zur Auslieferung erheblich verkürzt wird. Im Ergebnis lässt sich durch das vereinfachte Verfahren der Auslieferungsverkehr im Kreis der Staaten des Europarats insgesamt effektiver gestalten und beschleunigen. Es wird kein neues Verfahren eingeführt, sondern das 3. ZP-EuAlÜbk führt dazu, dass die übrigen Vertragsstaaten bei Auslieferungen nach Deutschland das vereinfachte Verfahren anwenden können. Ich bin zuversichtlich, dass wir dadurch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zur Kriminalitätsbekämpfung verbessern können. Dirk Wiese (SPD): Die Hindernisse für die Strafverfolgung und -vollstreckung durch Staatsgrenzen haben in den letzten Jahren durch verschiedene Abkommen deutlich abgenommen. Meilensteine auf dem Weg zu einer besseren Zusammenarbeit sind das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, das mehrmals durch Zusatzprotokolle ergänzt wurde, und der europäische Haftbefehl. Gleichwohl besteht immer noch Optimierungsbedarf, und so liegt uns heute ein Gesetzesentwurf vor, mit dem die Ratifikation des Dritten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 nach Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes vorbereitet werden soll. Das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 ergänzt hierbei das Mutterübereinkommen sowie die beiden Zusatzprotokolle vom 15. Oktober 1975 bzw. vom 17. März 1978. Ziel des Dritten Zusatzprotokolls ist vor allem die Vereinfachung und Beschleunigung der Auslieferungsverfahren. Es profitieren davon sowohl der Beschuldigte als auch der Staat, in dem die Person ergriffen wurde: So wird einerseits das Freiheitsinteresse der verfolgten Person gewürdigt, indem die Dauer des Freiheitsentzuges im Ergreifungsstaat deutlich reduziert und eine zeitnahe Verteidigung in dem Staat, der um Auslieferung ersucht hat, ermöglicht wird. Andererseits wird damit die Effizienz der Strafjustiz in den beteiligten Staaten erhöht. Besonders betonen möchte ich an dieser Stelle, dass Deutschland sich während der Verhandlungen zum Dritten Zusatzprotokoll für eine die Grundrechte schonende und wahrende Gestaltung des Auslieferungsverfahrens eingesetzt hat. Voraussetzung für die Vereinfachung und Beschleunigung der Auslieferungsverfahren ist allerdings, dass die verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt und auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet hat. Nach diesem Grundsatz darf eine Person nach der Auslieferung nur wegen der Taten verfolgt werden, die Gegenstand des Auslieferungsersuchens waren. Um Missbrauch zu verhindern, bieten Artikel 3 und 4 des Dritten Zusatzprotokolls der verfolgten Person in diesen Fällen besondere Regelungen zum Schutz an. So muss die Einwilligung freiwillig, bewusst und im Wissen der rechtlichen Tragweite erfolgen; ferner wird die Erklärung der verfolgten Person nach dem Recht der ersuchten Vertragspartei protokolliert, die Person wird umfassend -aufgeklärt und vor allem auf die Möglichkeit der Beiziehung eines Rechtsbeistandes und/oder eines Dolmetschers hingewiesen. Anzumerken ist, dass die strafrechtliche Verfolgung wegen weiterer Taten eine Zustimmung des ausliefernden Staates oder eine freiwillige Rückkehr in den ersuchenden Staat voraussetzt. Verzichtet die verfolgte Person auf diesen Schutz, kann sie auch wegen anderer Taten verfolgt werden und damit die Verfahren im ersuchenden Staat beschleunigen und erreichen, dass alle anhängigen Verfahren auf einmal erledigt werden. Sie -sehen, wie effektiv die Möglichkeit der Verfahrensbeschleunigung hier ist. Zu beachten ist außerdem, dass das Europäische Auslieferungsabkommen und damit auch das Dritte Zusatzprotokoll im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der EU nicht anwendbar sind. Hier haben gemäß § 78 IRG die Regelungen zum Europäischen Haftbefehl Vorrang. Ferner greift das Zusatzprotokoll nur gegenüber Staaten, die sowohl Auslieferungsübereinkommen als auch das Zusatzprotokoll ratifiziert haben. Einer weiteren gesetzlichen innerstaatlichen Ausführungsbestimmung bedarf es in Deutschland übrigens nicht. Eine Regelung der vereinfachten Auslieferung im Falle des Einverständnisses der verfolgten Person enthält bereits § 41 IRG. Die Ratifizierung des Dritten Zusatzprotokolls wird die internationale Strafvollstreckung und -verfolgung weiter optimieren, und zwar sowohl im Sinne der verfolgten Personen als auch der beteiligten Staaten, in denen die Effizienz der Strafjustiz deutlich erhöht wird. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf, um die Ratifizierung des Abkommens möglichst schnell auf den Weg zu bringen. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir reden heute über das Gesetz zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957. Dieses Auslieferungsübereinkommen ist durch das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 in bestimmten Punkten ergänzt worden, um das Auslieferungs-verfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, wenn die verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt und auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet hat. So soll die Inhaftierungsdauer im ausliefernden Staat verkürzt werden, und es sollen Verwaltungs- und Haftkosten gespart werden. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung sollen die Voraussetzungen nach Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG für die Ratifikation des Übereinkommens geschaffen werden. Aus Sicht der Linken ist das Dritte Zusatzprotokoll aus verschiedenen Gründen problematisch. Es kann zwar ausnahmsweise auch im Interesse des Beschuldigten liegen, nach seiner Festnahme kein längeres Auslieferungsverfahren abzuwarten und alsbald in den die Auslieferung ersuchenden Staat zu gelangen, allerdings überwiegen regelmäßig die Nachteile eines vereinfachten Verfahrens. Eine Auslieferung ist immer ein schwerer Eingriff in Rechte von Beschuldigten und kann mit Artikel 16 Absatz 2 GG in Konflikt geraten, der ein grundsätzliches Auslieferungsverbot eigener Staatsbürger und Staatsbürgerinnen enthält und nur wenige Ausnahmefälle zulässt. Eine Auslieferung soll nun aber ohne die Vorlage eines Auslieferungsersuchens und der Unterlagen nach Artikel 12 des Protokolls möglich sein (Artikel 2 Drittes Zusatzprotokoll). Konkret heißt das, dass unter anderem statt der Urschrift oder beglaubigten Abschrift eines vollstreckbaren Haftbefehls (Artikel 12, 2. a des Übereinkommens) das Bestehen eines solchen ausreicht (Artikel 2 Absatz 1 c des Zusatzprotokolls). Statt der genauen Darstellung der vorgeworfenen Hand-lungen, inklusive Zeit und Ort ihrer Begehung, ihrer rechtlichen Würdigung unter Bezugnahme auf die anwendbaren Gesetzesbestimmungen sowie deren Mitübersendung (Artikel 12, 2. b, c des Übereinkommens) soll nun allgemein die Art und die rechtliche Würdigung der Straftat ausreichen (Artikel 2 Absatz 1 d des Zusatzprotokolls). Hier wird der Grundsatz verletzt, dass Menschen wissen müssen, -weshalb der Staat wie in Bezug auf ihre Person handelt – auch um sich gegebenenfalls verteidigen zu können. Das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Auslieferungsverpflichtung Deutschlands kann so nicht gründlich und umfassend geprüft werden. Gerade die Angabe der gesetzlichen Bestimmungen sind für die hiesige Prüfung wichtig, aber auch eine genaueste Tatbeschreibung sowie die Möglichkeit der Einsichtnahme in den Haftbefehl. Das Protokoll geht implizit davon aus, dass in allen Unterzeichnerstaaten (Staaten des Europarats) ähnliche Standards im Strafverfahren herrschen; davon kann aber selbst innerhalb der EU noch nicht gesprochen werden und schon gar nicht im Rahmen der Europaratsstaaten. Eine Auslieferung wäre so innerhalb weniger Wochen möglich. In dieser kurzen Zeit und mit den niedrigen -Informations- und Übermittlungsanforderungen an den die Auslieferung ersuchenden Staat ist ein gleicher-maßen gründliches und rechtsstaatliches Verfahren im sensiblen Bereich des Strafrechts nicht zu gewährleisten. Wir lehnen deshalb dieses Gesetz ab. Nun könnten Sie sagen: Die Einwände sind gut und schön, aber sie laufen ins Leere, denn der Beschuldigte muss ja zustimmen. Doch die Zustimmung zu diesem vereinfachten Verfahren durch den Beschuldigten ändert nichts an unserer Kritik. Er soll sich innerhalb von zehn Tagen entscheiden (Artikel 6 Absatz 1 des Zusatzprotokolls), was schon einen gewissen Druck entfacht. Diese Zeit reicht häufig nicht aus, alle notwendigen Informationen für eine freiwillige Entscheidung zu erhalten und zu prüfen. Zwar sollen die Staaten sicherstellen, dass die Zustimmung und der Verzicht auf den Spezialitätsgrundsatz freiwillig erfolgen und ein Rechtsbeistand beigezogen werden kann, bei Bedarf soll auch ein Dolmetscher hinzugezogen werden müssen, aber in der Praxis sieht es dann doch häufig anders aus. Denn der bzw. die Betreffende befindet sich in einer Druck- und eventuell Schocksituation nach der Festnahme. In einer solchen Situation sind unüberlegte oder eben nicht ganz freiwillige Entscheidungen nicht selten. Die Folgen der Auslieferung werden häufig nicht überblickt. Ein Rechtsbeistand oder Dolmetscher wird in dieser Situation nicht immer vom Beschuldigten eingefordert. Und ob ein Bedarf für einen Dolmetscher besteht, liegt letztlich im Ermessen der Behörde, die im Zweifel – vor allem, wenn nicht unmittelbar einer zur Verfügung steht – eher davon ausgehen wird, dass ein solcher nicht erforderlich ist. Um einen Anwalt seines Vertrauens um Rat zu ersuchen – in einem dem Beschuldigten eventuell fremdem Staat – und die Entscheidung mit allen Vor- und vor allem Nachteilen in Ruhe abzuwägen, bedarf es wesentlich mehr als zehn Tage. Das Zustimmungserfordernis kann die Bedenken im Hinblick auf ein gründliches und faires Verfahren daher nicht ausräumen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stellen Sie sich vor, Sie wurden in, sagen wir Albanien aufgrund eines internationalen Haftbefehls festgenommen. In Deutschland werden Ihnen verschiedene Taten zur Last gelegt, deshalb verlangt Deutschland Ihre Auslieferung. Bis das Verfahren geklärt ist, sitzen Sie in Albanien in Untersuchungshaft. Sicher nicht das Angenehmste. Durch das Dritte Zusatzprotokoll, 3. ZP, vom 10. November 2010 zum Europäischen Übereinkommen vom 13. Dezember 1957 soll das Auslieferungsverfahren vereinfacht und beschleunigt werden. Um bei meinem Beispiel zu bleiben: Ihre Inhaftierungszeit in dem Staat, in dem Sie festgenommen wurden, also Albanien, würde verkürzt und Sie könnten wesentlich schneller in den Staat, der um Auslieferung ersucht – also nach Deutschland – gelangen und sich dort um Ihre Verteidigung kümmern. Reguläre Auslieferungsverfahren hingegen können sich mehrere Monate hinziehen; insofern ist die Möglichkeit eines verkürzten Verfahrens durchaus positiv zu bewerten. Allerdings ist dies an einige Voraussetzungen gebunden: Zunächst müssen Sie als Verfolgter dem vereinfachten Verfahren zustimmen; das steht in Artikel 4. Außerdem können Sie auch noch auf den Grundsatz der Spezialität verzichten. Damit Sie die Auswirkungen dieser Entscheidung besser einschätzen können und sichergestellt ist, dass Sie die Entscheidung völlig freiwillig treffen, ist vorgesehen, dass Sie umfassend belehrt werden und Anspruch auf einen Rechtsbeistand sowie Dolmetscher haben. Das klingt alles ganz wunderbar. Trotzdem möchte ich an diesem Punkt auf ein paar Probleme hinweisen: Kann das denn so tatsächlich gewährleistet werden? Reichen Rechtsbeistand und Dolmetscher dafür aus? Wer garantiert, dass der Rechtsbeistand, der möglicherweise gestellt wird, völlig neutral in dieser Frage ist? Sinnvoller erscheint mir, ein Gericht übernähme diese Belehrung. Im Zusatzprotokoll in Artikel 4 Absatz 1 steht, dass Zustimmung und/oder Verzicht von der „zuständigen Justizbehörde“ der ersuchten Vertragspartei entgegenzunehmen sind. Die Zuständigkeit richtet sich nach den nationalen Rechtsvorschriften der jeweiligen Vertragsparteien. Nach deutschem Recht ist das Gericht für die Entgegennahme der Erklärung zuständig (§ 21 Absatz 6, § 22 Absatz 3, § 28 Absatz 3, § 41 Absatz 4 IRG). Aber wie sieht es in anderen Ländern aus? Diese Frage habe ich am Mittwoch auch im Rechtsausschuss gestellt, wo uns das Gesetz zur Behandlung vorlag. Dabei antwortete die Bundesregierung, dass die „zuständige Behörde“ wohl in der Regel auch in anderen Ländern ein Gericht sein wird. Dem Punkt sollte man aber nochmals genauer nachgehen. Eindeutiger wäre wohl gewesen, man hätte im Dritten Zusatzprotokoll festgelegt, dass in jedem mitzeichnenden Staat grundsätzlich das Gericht für Anhörung, -Belehrung und Entgegennahme der Zustimmung zum vereinfachten Verfahren und/oder des Verzicht des Spezialitätsgrundsatzes zuständig sein soll. So gäbe es hierzu keine Unklarheit. Die Möglichkeit des vereinfachten Auslieferungsverfahrens an sich ist nichts Neues und bereits in § 41 IRG geregelt. Für Deutschland muss aufgrund des Dritten Zusatzprotokolls – so geht es auch aus der Denkschrift der Bundesregierung zum Gesetzentwurf hervor – ein neues Verfahren nicht eingeführt werden. Die Ratifikation führt hier „nur“ dazu, dass die übrigen Vertragsstaaten bei Auslieferungen nach Deutschland das vereinfachte Verfahren anwenden können. Insofern haben wir dem Gesetzentwurf auch schon im Rechtsausschuss unsere Zustimmung geben können. Zu dem genannten Problempunkt – Zuständigkeit der Gerichte für die Entgegennahme der Zustimmung zum vereinfachten Verfahren oder des Verzichts auf den Grundsatz der Spezialität, auch in anderen Ländern – werde ich mich eingehender informieren. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen – Beschlussempfehlung und Bericht: Kurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversicherung ermöglichen (Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b) Sebastian Steineke (CDU/CSU): Bereits im Jahr 2009 hat die Europäische Union das Haager Übereinkommen vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen gezeichnet. Die Ratifizierung und die damit einhergehende Verbindlichkeit für die EU-Mitgliedstaaten werden zeitnah erfolgen. Das heute vorliegende Gesetz dient der Durchführung des Übereinkommens in unser nationales Recht. Das Haager Übereinkommen regelt im Wesentlichen die internationale Zuständigkeit für Streitsachen mit ausschließlicher Gerichtsstandsvereinbarung sowie die Anerkennung und Vollstreckung der betroffenen Gerichtsentscheidungen. Um die Änderungen so sinnvoll wie möglich in unsere bislang vorhandenen Vorschriften einzubetten, haben wir auf ein eigenständiges Gesetz verzichtet. Folgerichtig werden die Neuregelungen daher weitgehend in das Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetz aufgenommen. Ziel des Übereinkommens ist die Harmonisierung und Vereinfachung der Gerichtszuständigkeitsregelungen bei grenzüberschreitenden Rechtssachen. Ausgenommen sind Verbraucher- und Arbeitsverträge und Versicherungssachen. Besonders unsere mittelständischen Unternehmen werden davon profitieren. Als Wirtschaft einer Exportnation kann unsere Wirtschaft in überdurchschnittlich vielen Fällen regelmäßig mit grenzüberschreitenden Streitfällen in Berührung kommen. Daher ist eine Vereinheitlichung des Rechts der Gerichtsstandsvereinbarungen und die Anerkennung und Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen im Ausland insbesondere aus Sicht der deutschen Unternehmen zwingend geboten. Dem Übereinkommen kommt zudem eine weitere erhebliche praktische Bedeutung zu. So kann nach Ratifizierung durch die USA die Zuständigkeit amerikanischer Gerichte per Vereinbarung ausgeschlossen werden. Dies ist im Hinblick auf die bisweilen außergewöhnliche amerikanische Schadensersatzrechtsprechung aus Sicht der Wirtschaft ein wichtiger Aspekt. Zum Inhalt: Zunächst liegt die Zuständigkeit einer Rechtssache bei dem Gericht, das in der ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung bezeichnet ist. Gerichte, die dort nicht benannt sind, erklären sich für unzuständig. Die Entscheidung des zuständigen Gerichts wird in den anderen Vertragsstaaten des Übereinkommens automatisch anerkannt und dort auch vollstreckt. Ein weiterer Vorteil: Gläubiger können entsprechende gerichtliche Bestätigungen aus dem Ursprungsstaat über Vollstreckbarkeiten von Entscheidungen sowie Auskunft über den Inhalt des Verfahrens einholen. Die Regeln der in diesem Jahr bereits auf den Weg gebrachten Umsetzung der Brüssel-1 a-Verordnung bleiben durch den Gesetzentwurf unberührt, solange keine Partei ihren Aufenthalt in einem Vertragsstaat außerhalb der EU hat. Neben der Umsetzung des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auch notwendige Anpassungen im Gerichts- und Notarkostengesetz und im Rechtspflegergesetz vornehmen. Im Gerichts- und Notarkostengesetz führen wir eine Regelung über die Gebühr bei vorläufiger Betreuerbestellung ein, um die gebotene Gleichstellung mit der Bestellung eines Betreuers im Hauptsacheverfahren herzustellen. Bei einer Dauerbetreuung fallen Gerichtskosten in Form einer Jahresgebühr an, deren Höhe sich nach dem Vermögen des Betreuten richtet. Ob diese Gebühr auch bei der Bestellung eines vorläufigen Betreuers im Rahmen einer einstweiligen Anordnung fällig ist, bleibt in der gerichtlichen Praxis umstritten. Auf die Bestellung eines vorläufigen Betreuers kann prinzipiell eine Entscheidung in der Hauptsache fallen, mit der die vorläufig angeordnete Betreuung in eine endgültige übergeleitet oder aufgehoben wird, weil sich herausgestellt hat, dass sie zu Unrecht angeordnet wurde. In der Praxis kommt es häufig aber nicht zu dieser Hauptsacheentscheidung, zum Beispiel wenn der Betreute stirbt. Der Betreute wird hierbei kostenrechtlich oft schlechter gestellt als ein Betroffener, für den ein Betreuer im Hauptsacheverfahren bestellt und von dem die Jahresgebühr und nicht die übliche Wertgebühr erhoben wird. Die Änderungen sollen die Bestellung des vorläufigen Betreuers gerichtskostenrechtlich der Bestellung eines Betreuers im Hauptsacheverfahren gleichstellen. Die Neuregelung des Rechtspflegergesetzes erfolgt im Rahmen einer notwendigen Korrektur der Verordnungs-ermächtigung für die Länder hinsichtlich der Übertragung von Geschäften der Verfahrenskostenhilfe auf den Rechtspfleger. Die bisherige Vorschrift überträgt dem Rechtspfleger die Verfahrenskostenhilfe, die den ihm übertragenen Aufgaben in Verfahren über die Prozesskostenhilfe entsprechen, zum Beispiel die Ermittlungen zu persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Antragstellers, wenn der Vorsitzende dies dem Rechtspfleger überträgt. Das Rechtspflegergesetz enthält für die Prozesskostenhilfe eine Verordnungsermächtigung für die Landesregierungen, die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers vom Rechtspfleger vornehmen zu lassen, wenn der Vorsitzende das Verfahren dem Rechtspfleger überträgt. Das Gesetz enthält die Möglichkeit, diese Ermächtigung auf die Landesjustizverwaltungen zu delegieren. Im Gesetz fehlt bislang allerdings der Verweis auf diese Delega-tionsmöglichkeit. Die jetzige Fassung ist nicht eindeutig und birgt die Gefahr einer zu weit gefassten Übertragung von Aufgaben auf den Rechtspfleger. Der jetzige Verweis, dass die „entsprechenden Geschäfte übertragen“ werden, impliziert, dass die in § 20 Absatz 2 des Rechtspflegergesetzes aufgeführten Geschäfte durch die bundesrechtliche Regelung direkt vom Richter auf den Rechtspfleger übertragen werden, ohne dass noch der Erlass einer entsprechenden Verordnung durch die Länder gemäß § 20 Absatz 2 Rechtspflegergesetz erforderlich wäre. Diese Rechtslücke wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf geschlossen. Die mit dem Entwurf vollzogene Umsetzung des Haager Übereinkommens sowie der notwendigen Anpassungen im Gerichts- und Notarkostengesetz und im Rechtspflegergesetz ist aus unserer Sicht zielführend und sachgerecht. Daher bitte ich um Ihre Zustimmung. Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Es gibt einfach Situationen, in denen muss man Regelungen nur verlängern, und man tut damit trotzdem etwas Gutes und Richtiges. Diese Situation hier ist eine solche. Mit den Änderungen im Dritten Buch Sozialgesetzbuch und im Altersteilzeitgesetz, die an diesem Gesetz mit dem wunderschönen Namen dranhängen, verlängern wir auslaufende Regelungen, die für die betroffenen Menschen sehr hilfreich sind. Da geht es zum Beispiel um ältere Arbeitsuchende. Zwar hat sich die Beschäftigungssituation in dieser Gruppe in den vergangenen Jahren verbessert. Dennoch ist der Anteil der Arbeitsuchenden bei den über 50-Jährigen überproportional hoch. Und auch der demografische Wandel wird dazu führen, dass das Problem nicht verschwindet. Um die Eingliederung von älteren Arbeitsuchenden in Beschäftigung fördern zu können, wurden befristet besondere Eingliederungszuschüsse für ältere Arbeitnehmer eingeführt. Diese Befristung soll bis Ende des Jahres 2019 verlängert werden. Damit setzen wir weiterhin an den richtigen Stellen Anreize, um älteren Menschen, die es sonst sehr schwer auf dem Arbeitsmarkt haben, eine Beschäftigung zu ermöglichen. Auch die berufliche Weiterbildungsförderung für Arbeitnehmer unter 45 Jahren in kleinen und mittleren Unternehmen wird bis Ende 2019 ausgedehnt. Mit dieser Regelung unterstützen wir den Mittelstand in Deutschland bei der so wichtigen Frage der Fachkräftesicherung. Weitere Sonderregelungen betreffen die Gewährung von Zuschuss-Wintergeld für das Gerüstbauerhandwerk und die Verlängerung einer Übergangsvorschrift in der Altersteilzeitregelung. Beides sind keine allgemeinen Regelungen, sondern betreffen nur einen kleinen Personenkreis. Für diesen sind sie aber umso wichtiger. Mir als Kulturpolitikerin liegt die Sonderregelung zur Anwartschaftszeit von überwiegend kurz befristet Beschäftigten besonders am Herzen. Diese Regelung soll speziellen Erwerbsbiografien, die geprägt sind von vielen kurz befristeten Arbeitsverhältnissen, Rechnung tragen. Das kommt vor allem in der Kunst- und Kulturbranche häufig vor, bei Filmschaffenden und den darstellenden Künstlern. Sie zahlen in die Arbeitslosenversicherung ein, haben durch ihre kurzen Beschäftigungsverhältnisse aber fast nie die Chance, die Leistung in Anspruch zu nehmen. Sozialversicherungsrechtlich sind das strukturelle Nachteile. Ihnen wird der Zugang zum Arbeitslosengeld I durch die Sonderregelung erleichtert, ja eigentlich überhaupt ermöglicht. Sie haben danach Anspruch auf Arbeitslosengeld I, wenn sie innerhalb von zwei Jahren sechs statt der üblichen zwölf Monate Anwartschaftszeit erfüllen. Auch diese Regelung würde Ende des Jahres auslaufen. Nun wird sie um ein Jahr verlängert. Diese Verlängerung ist erst einmal positiv. Sie ist allemal besser als ein Auslaufen ohne Nachfolgeregelung. Denn dann würden die Betroffenen faktisch nie die Voraussetzungen für ALG-I-Bezug erfüllen können. Das ist also erst einmal ein gutes Zeichen für alle Betroffenen. Wir haben sie aber nur um ein Jahr verlängert, weil wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben, diese Regelung inhaltlich weiterzuentwickeln. Das wollen wir nun im kommenden Jahr tun. Denn wenn nur 200 Menschen im Jahr von dieser Sonderregelung profitieren, müssen wir uns fragen, ob wir die Zielgruppe, die wir mit dieser Regelung erreichen wollten, auch wirklich erreichen. Im Koalitionsvertrag ist deshalb angedacht, für die Sonderregelung die Rahmenfrist auf drei Jahre zu erhöhen. So vergrößert sich die Chance, trotz sehr kurzfristiger Arbeitsverhältnisse Arbeitslosengeld I beziehen zu können. Wir bleiben aber dabei: Wir wollen nur da eine Ausnahme machen, wo es tatsächlich strukturelle Nachteile auszubessern gilt, und nicht, wie Sie von der Linken es in Ihrem Antrag fordern, die gesamten arbeitsmarktpolitischen Reformen der vergangenen Jahre infrage stellen. Die Ausnahme darf nur da gemacht werden, wo sie gerechtfertigt ist und wo sie notwendig ist. Deshalb ist eine Definition der Kurzfristigkeit der Arbeitsverhältnisse bei etwa zehn Wochen genauso richtig wie eine Verdienst-obergrenze. Unser Arbeitsmarkt und unsere Sozialversicherungen stehen sehr gut da. Das wollen wir nicht aufs Spiel setzen. Wir verlängern deshalb die bewährten Regelungen und drehen die Arbeitsmarktpolitik nicht in das vergangene Jahrtausend zurück, wie die Linke das fordert. Dr. Matthias Bartke (SPD): Als am 30. Juni 2005 das Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen geschlossen wurde, dachte vermutlich niemand an Altersteilzeit und das Dritte Buch Sozialgesetzbuch. Und doch werden Änderungen in diesen beiden Bereichen gemeinsam mit dem Haager Übereinkommen in einem Gesetz geregelt. So wichtig das Haager Übereinkommen ist, so dringend notwendig sind die Änderungen im Altersteilzeitgesetz und im Arbeitsförderungsrecht. Konkret handelt es sich um fünf Änderungen. Die erste Änderung ist eine Übergangsregelung der Versicherungspflicht für Beschäftigte in Altersteilzeit. Hintergrund dieser Regelung ist die Anhebung der Geringfügigkeitsgrenze von 400 Euro auf 450 Euro. Vorher war die Altersteilzeitarbeit in diesem Bereich versicherungspflichtig. Nun ist die Geringfügigkeitsgrenze aber angehoben. Versicherungspflicht besteht damit erst ab 450,01 Euro. Für all jene, die sich in Altersteilzeit befinden, ist das ein gehöriger Unterschied. Die Voraussetzung für Altersteilzeitarbeit ist nämlich eine versicherungspflichtige Beschäftigung. Daher wurde eine Übergangsvorschrift geschaffen, die jedoch nur bis zum Ende dieses Jahres gilt. Das ist aber nicht ausreichend. Es gibt noch immer Altersteilzeitbeschäftigte, die von einem Auslaufen der Übergangsvorschrift hart getroffen würden. Für den Einzelnen bedeutet das ein Ende der Altersteilzeitarbeit vor dem Eintritt in die Altersrente. Was heißt das genau? Das heißt: zurück in die Vollzeitarbeit oder Arbeitslosigkeit! Für die Betroffenen ist weder das eine noch das andere attraktiv. Aus diesem Grund wird die Übergangsregelung fortgeführt. Die zweite Änderung verlängert die Regelung zum Eingliederungszuschuss für ältere Arbeitnehmer. Der Eingliederungszuschuss ist normalerweise auf zwölf Monate beschränkt. Arbeitsuchende, die älter als 50 Jahre sind, können hingegen 36 Monate gefördert werden. Das ist dreimal so lang! Damit bedeutet diese Förderung für ältere Arbeitsuchende eine ganz besondere Chance. Eine Chance, die wir ihnen geben müssen. Fast jeder dritte Arbeitslose ist 50 Jahre und älter. Das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit ist für sie deutlich höher. Die Neueinstellung eines älteren Arbeitsuchenden ist daher von ganz besonderer Bedeutung. Aus diesem Grund wird die längere Förderdauer fünf weitere Jahre fortgeführt. Die dritte Änderung verlängert die Sonderregelung für das Gerüstbauerhandwerk. Winterbauförderung funktioniert nur, wenn Arbeitslosigkeit der Gerüstbauer auch im Winter vermieden wird. Zu diesem Zweck bekommen Gerüstbauer auch in Zeiten von Überbrückungsgeld einen Winterzuschuss. Ohne diese Regelung ist die Winterbauförderung in Gefahr. Aus diesem Grund wird die Sonderregelung bis März 2018 fortgeführt. Die vierte Änderung verlängert die Weiterbildungsförderung für Jüngere in kleinen und mittleren Unternehmen. Durch die Förderung wurden in den letzten Jahren deutlich mehr Weiterbildungen nachgefragt. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Fachkräftesicherung. Aus diesem Grund wird die Förderung bis Ende 2019 fortgeführt. Die fünfte und damit letzte Änderung verlängert die Sonderregelung zur verkürzten Anwartschaftszeit. Kurz befristet Beschäftigte erfüllen ihre Anwartschaftszeit nicht mit zwölf, sondern schon mit sechs Monaten Versicherungszeit. Wir sprechen hier vor allem von Erwerbsbiografien in der Kultur. Für diese Gruppe werden wir eine Anschlussregelung finden. Der Diskussionsprozess dazu braucht jedoch Zeit. Aus diesem Grund wird die Sonderregelung bis Ende 2015 fortgeführt. Die Verlängerung der Fristen bedeutet Förderung, Unterstützung und Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Die Verlängerung der Fristen bedeutet eine Fortsetzung erfolgreicher Arbeitsmarktpolitik. Dirk Wiese (SPD): Der uns heute vorliegende -Gesetzentwurf beinhaltet die notwendigen nationalen Vorschriften, die zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen – dem Haager Übereinkommen – erforderlich sind. Worum geht es genau? Das Haager Übereinkommen enthält für internationale Sachverhalte, in denen eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung geschlossen worden ist, Zuständigkeitsregeln sowie Regeln über die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen. So sperrig das klingen mag, vereinfacht es doch den internationalen Handelsverkehr immens, indem es rechtlich stabile Rahmenbedingungen schafft. In Zukunft herrscht in Ländern, die Vertragspartei des Abkommens sind, damit nun Klarheit über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen. Das heißt in der Praxis vor allen Dingen mehr Rechtssicherheit für europäische Unternehmen, die außerhalb der EU tätig sind; denn sie können darauf vertrauen, dass ihre Gerichtsstandsvereinbarungen und die entsprechenden gerichtlichen Entscheidungen in den Ländern, die das Übereinkommen ratifiziert haben, beachtet, anerkannt und vor allem vollstreckt werden. Damit fällt für viele europäische Unternehmen, die international expandieren wollen, ein entscheidendes Rechtsrisiko weg, das in vielen Fällen bislang auch zum konkreten Investi-tionshindernis wurde. Gerade für uns in Deutschland ist dies also ein entscheidender Schritt zur Stärkung unserer internationalen Rolle als Vize-Exportweltmeister. Kurz ein paar Worte zum Aufbau des Abkommens. Es basiert auf drei Grundsätzen: Erstens. Nur das von den Beteiligten vereinbarte Gericht soll den Rechtsstreit entscheiden. Zweitens. Alle anderen Gerichte müssen sich für unzuständig erklären. Drittens. Die Entscheidung des vereinbarten Gerichts soll in den anderen Vertragsstaaten anerkannt und vollstreckt werden. Sie sehen also, dass hier sehr eindeutige und einfach umsetzbare Voraussetzungen geschaffen wurden. Kurz gesagt: Dieses Maßnahmenbündel sorgt für Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit. Kurz ein paar Sätze zum Ursprung des Abkommens: Das Gerichtsstandsübereinkommen geht auf eine Initiative von Ländern zurück, die alle Mitglieder der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht sind. Die USA, Japan, China, Russland und Kanada seien an dieser Stelle als Beispiele genannt. Gerade der Ursprung in dieser Initiative, also von Mitgliedern der Haager Konferenz, die international mit 76 teilnehmenden Staaten breit gefächert ist, kann wegweisend sein, und ich sehe ich hier das Potenzial, dass das Abkommen sich in Zukunft zu einer weltweiten Rechtsgrundlage für die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen entwickeln kann. Wichtig ist dafür natürlich, dass möglichst viele Staaten das Übereinkommen ratifizieren. Deshalb sollten wir als europäische Mitgliedstaaten mit gutem Beispiel vorangehen und ein starkes Signal an die Mitglieder der Haager Konferenz senden, die noch nicht unterzeichnet haben. Deshalb bitte ich Sie hier und heute um Ihre Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzesentwurf. Ich bin sicher, dass nach der Zustimmung aller europäischen Mitgliedstaaten auch die Zustimmung des Europäischen Parlaments erfolgen wird und damit der Beschluss des Rates endgültig erlassen und in der Europäischen Union in Kraft treten wird. Damit schaffen wir dann in Europa ein deutliches Mehr an Rechtssicherheit im internationalen Handelsverkehr, von der auch gerade wir in Deutschland deutlich profitieren werden. Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Es gibt Hunderttausende Beschäftigte mit kurzfristigen Arbeitsverträgen. Viele zahlen in die Arbeitslosenversicherung ein, erhalten aber im Falle des Jobverlustes kein Arbeitslosengeld. Die Vorschläge unseres vorliegenden Antrags zielen darauf ab, dieses Problem anzugehen und mehr Beschäftigten den Zugang zur Arbeitslosenversicherung zu eröffnen. Viele der Betroffenen erhalten kein Arbeitslosengeld I, weil sie in der gesetzlich vorgeschriebenen Rahmenfrist von zwei Jahren nicht die erforderliche Versicherungszeit von zwölf Monaten erreichen. Zwar gibt es eine Sonderregelung für kurzzeitig Beschäftigte; diese ist aber so gestaltet, dass sie einen Großteil der Betroffenen ausschließt. Denn die Sonderregelung gilt nur für Arbeitslose, deren einzelne Beschäftigungszeiten mehrheitlich nicht auf mehr als zehn Wochen angelegt waren. Um das an einem Beispiel deutlich zu machen: Ein Leiharbeiter, eine Beschäftigte in der Gastronomie oder dem Handel hatte in den zurückliegenden zwei Jahren drei Jobs. Einmal waren sie oder er für eine Zeit von einem Monat beschäftigt, zweimal für vier Monate. Insgesamt ergibt das eine Versicherungszeit von neun Monaten. Das reicht nicht, um normales Arbeitslosengeld zu erhalten, denn dafür wären zwölf Versicherungsmonate notwendig. Aber weil zwei der drei Jobs länger als zehn Wochen dauerten, sind sie auch vom Bezug des Arbeitslosengeldes nach der Sonderregelung ausgeschlossen. Gleiches gilt auch für kurzzeitig Beschäftigte, deren Bruttoverdienst eine bestimmte Grenze überschreitet. Im Jahr 2014 liegt diese in den alten Bundesländern bei 2 765 Euro im Monat, in den neuen Bundesländern bei 2 345 Euro. Diese Einschränkungen sind ein wichtiger Grund dafür, dass es bisher jährlich nur gut 200 Arbeitslosengeld-I-Beziehende nach der Sonderregelung gibt. Dem gegenüber stehen knapp 700 000 kurzzeitige Beschäftigte im Jahr 2010. Neuere Zahlen liegen nicht vor. Wie aus einer Kleinen Anfrage der Linken zu dem Thema hervorgeht, sind von dem Problem kurzzeitiger Beschäftigung überdurchschnittlich viele junge Menschen, Migrantinnen und Migranten und Teilzeitarbeitende betroffen. Ursprünglich wurde die Sonderregelung für kurzzeitig Beschäftigte für die Berufe der Kulturbranche geschaffen. Diese nutzen die Regelung auch am stärksten. Mit der ausufernden befristeten Beschäftigung reicht das Problem inzwischen jedoch weit über den Kulturbereich hinaus. Bezogen auf die Branchen trifft man auf das Problem der kurzfristigen Beschäftigung vor allem in der Leiharbeit, im Einzelhandel, in der Gastronomie sowie im Garten- und Landschaftsbau und in der Landwirtschaft. Die Große Koalition hatte in ihrem Koalitionsvertrag eigentlich vereinbart, die 2014 auslaufende Sonderregelung durch eine Anschlussregelung zu ersetzen, und angekündigt, die Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre zu erweitern. Aber sie hat nicht ihre Hausaufgaben gemacht und will nun die bestehende Regelung lediglich um ein Jahr verlängern. Es gibt also keine längere Rahmenfrist, geschweige denn eine Änderung der restriktiven Zugangsbedingungen. Wir als Linke haben rechtzeitig einen Antrag vorgelegt, der heute zur Abstimmung steht. Wir fordern, die Rahmenfrist, innerhalb derer Versicherungsansprüche aufgebaut werden können, von zwei Jahren auf drei Jahre zu erweitern. Wir wollen die notwendige Versicherungszeit auf sechs Monate verkürzen. Das heißt, mit sechs Monaten Versicherungszeit würde man bereits einen Anspruch auf drei Monate Arbeitslosengeld erwirken. Und wir wollen die restriktiven Zugangsbedingungen aufheben, also keine Vorbedingungen für die Dauer der einzelnen Beschäftigungszeiten oder die Verdienstgrenze nennen. Wäre unser Antrag bereits in Gesetzesform umgesetzt, hätten in der Vergangenheit bis zu 200 000 Beschäftigte mehr Zugang zur Arbeitslosenversicherung erhalten. Das hat das Wissenschaftliche Institut der Bundesagentur für Arbeit errechnet. Die Regierung hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Ich fordere die Abgeordneten von Union und SPD auf, im Sinne der Betroffenen dann wenigstens unserem Antrag zuzustimmen. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Justizminister der EU-Mitgliedstaaten haben am 10. Oktober 2014 den Beitritt der EU zum Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen beschlossen. Das Übereinkommen vom 30. Juni 2005 regelt die Anwendung von ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen bei internationalen Rechtsstreitigkeiten. Unternehmen können künftig im Rechtsverkehr darauf -vertrauen, dass ihre Gerichtsstandsvereinbarungen in Staaten, die das Abkommen ratifiziert haben, auch Anwendung finden. Andere als die vereinbarten Gerichte müssen sich für unzuständig erklären. Außerdem können Urteile aus einem Vertragsstaat nun leichter in einem anderen Vertragsstaat vollstreckt werden. Verbraucher- und Arbeitsverträge werden davon zu Recht nicht erfasst. Wer einem stärkeren Vertragspartner gegenübersteht, soll nicht gezwungen werden können, auf seinen gesetzlichen Richter verzichten zu müssen. Es fragt sich natürlich, inwieweit dies nicht auch für kleinere Unternehmen im Verhältnis zu großen Konzernen gelten kann. Zumindest wird man bei international tätigen Unternehmen eine ausreichende Rechtskenntnis zugrunde legen dürfen. Ein positiver Aspekt dieses Abkommens ist insbesondere, dass die staatliche Justiz gegenüber der privaten Schiedsgerichtsbarkeit gestärkt wird. Ein gern verbreitetes Argument für Schiedsgerichte ist häufig die leichtere Vollstreckbarkeit der Urteile. An dieser Stelle wird das Haager Übereinkommen die Situation zugunsten der staatlichen Justiz verbessern. Das Übereinkommen schafft Klarheit über die gerichtliche Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen. Die Ratifikation des Übereinkommens und die jetzt bevorstehende Vereinheitlichung sind daher zu begrüßen. Allerdings dürfen wir uns auch nichts vormachen: Ausreichen wird das nicht. Wir sollten uns bemühen, den Einfluss von Schiedsgerichten, soweit es geht, einzudämmen und nicht durch neue Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA weiter zu fördern. Schiedsgerichte formen im Hinterzimmer neues Recht, das der Allgemeinheit weitgehend unbekannt bleibt. Die Rechtsfortbildung von Schiedsgerichten ist dem kritischen Blick von Öffentlichkeit und -Wissenschaft nahezu vollständig entzogen. Das schafft dauerhaft keine Rechtssicherheit und ist daher auch nicht im langfristigen Interesse der Unternehmen. Es geht heute jedoch nicht nur um die Umsetzung des Haager Übereinkommens, sondern wir stimmen über ein sogenanntes Omnibusgesetz ab. Dabei werden mittels eines Änderungsantrages dem Gesetz im Ausschuss noch weitere sachfremde Regelungen angehängt. Auch wenn wir diesen Regelungen am Ende zustimmen, möchte ich doch zum Verfahren grundsätzliche Kritik äußern: Das Omnibusverfahren ist unter Transparenzgesichtspunkten schwierig zu rechtfertigen; es sollte nur in Ausnahmefällen angewandt werden. Bei diesem Omnibus geht es überwiegend nicht um plötzlich auftretende, sondern vielmehr um leicht planbare Fristverlängerungen für auslaufende Gesetzte. Ob der Griff zum Omnibus hier wirklich notwendig gewesen ist, ziehe ich in Zweifel. Weihnachten kommt für die meisten von uns ja auch nicht überraschend. In der Sache geht es um Folgendes: Im Koalitionsvertrag haben die Regierungsparteien Verbesserungen beim Zugang zu ALG-I-Leistungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer versprochen, die häufig hintereinander auf kurze Zeiträume befristete Arbeitsverhältnisse eingehen und daher Schwierigkeiten haben, die Anwartschaftszeiten innerhalb der Rahmenfrist zu erfüllen, obwohl sie in der Zeit ihrer Beschäftigung regulär in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. Wir begrüßen dieses Ziel, halten aber den im Koalitionsvertrag vorgegebenen Weg für falsch. Danach soll es unter anderem für die Beschäftigten eine von zwei auf drei Jahre verlängerte Rahmenfrist geben, innerhalb derer die Anwartschaftszeit für den Bezug von Arbeitslosengeld I erfüllt werden muss. Eine solche Ausweitung der Rahmenfrist innerhalb der Sonderregelung macht es aber für die Antragstellerinnen und Antragsteller im Zweifel schwerer, einen Anspruch zu erwerben. Gutachten haben für einen Dreijahreszeitraum das erhöhte Risiko belegt, dass Beschäftigungsverhältnisse zu lang sind für die Sonderregelung, aber auch nicht ausreichen, um einen regulären Leistungsanspruch zu erwerben. Die Betroffenen würden dann direkt in Hartz IV landen. Wir halten es daher für besser, wenn Sie Ihren Koalitionsvertrag so nicht umsetzen, sondern vielmehr die bereits bestehende Ausnahmeregelung um ein weiteres Jahr verlängern. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes (Tagesordnungspunkt 24) Andrea Lindholz (CDU/CSU): Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Mikrozensusgesetzes und des Bevölkerungsstatistikgesetzes stieß sowohl im Bundestag als auch im Internet auf Skepsis. Das ist verwunderlich, denn weder der Bundesrat noch die Bundesdatenschutzbeauftragte noch die Datenschutzbeauftragten der Länder haben Kritik daran geäußert. Die Skepsis gegenüber diesem Gesetzentwurf zeugt für mich von einem diffusen Misstrauen gegenüber jeglicher Datenerhebung durch den Staat. Inhaltliche und somit ernst zu nehmende Kritik hat niemand an den konkreten Gesetzesänderungen vorgebracht. Deswegen möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass die minimalen Gesetzesänderungen, die wir heute für das Mikrozensusgesetz und das Bevölkerungsstatistikgesetz beschließen wollen, keinen Anlass zur Sorge bieten. Die Änderungen haben weder die Tragweite noch das Gewicht, um darüber in eine Grundsatzdebatte zum Datenschutz zu verfallen. Die hohen Datenschutzstandards in Deutschland bleiben vollkommen unberührt. Auch die inhaltliche Ausgestaltung des Mikrozensus und der Bevölkerungsstatistik wird durch die Novellierung nicht tangiert. Die Neuerungen sind rein technischer bzw. redaktioneller Natur. Wenn man sich näher damit beschäftigt, wird deutlich, dass die Änderungen ziemlich unspektakulär sind. Gerne erläutere ich sie noch einmal: Für den Mikrozensus werden insgesamt circa 830 000 Personen in rund 370 000 Haushalten in Deutschland ausgewählt. Das entspricht 1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Auswahl der Personen basiert auf einer mathematisch berechneten repräsentativen Stichprobe. Im Gegensatz zum großen Zensus werden die Teilnehmer des Mikrozensus innerhalb von fünf aufeinanderfolgenden Jahren bis zu viermal befragt. Pro Jahr gibt es maximal eine Befragung. Die zentrale Gesetzesänderung ist nun die Einführung einer Experimentierklausel, dank der alternative Erhebungsmethoden unter realen Bedingungen getestet werden können. Vor allem sollen sogenannte unterjährige Befragungen, also mehrfache Befragungen innerhalb eines Jahres, getestet werden. Grund für die Erprobung dieser unterjährigen Befragungen ist eine anstehende Reform der EU-Verordnung (EG) Nr. 577/98 von 1998, welche die Erhebung der -europäischen Arbeitskräftestichprobe regelt. Diese Arbeitskräftestichprobe wird in Deutschland zusammen mit dem Mikrozensus erhoben. Während des Experiments sollen die ausgewählten Personen und Haushalte nun innerhalb eines Jahres in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen befragt werden. Insgesamt bleibt es aber auch für die Teilnehmer des Experiments bei maximal vier Befragungen. Diese alternativen Befragungsmethoden werden an maximal 2,5 Prozent aller für den Mikrozensus ausgewählten Personen getestet. Das Experiment betrifft also rund 8 500 Haushalte. Belgien und Deutschland sind die einzigen EU-Staaten, die bisher keine unterjährigen Befragungen einsetzen. Es freut mich, feststellen zu können, dass den Teilnehmern durch das Experiment insgesamt kein Mehraufwand entsteht. Mehrere Befragungen kurz hintereinander können den Zeitaufwand sogar verringern, da sich Fragen schneller beantworten lassen, wenn die Antworten gleich bleiben. Zudem sollen anstelle der bisherigen Fragebögen und persönlichen Interviews nun Befragungen auch per Telefon und Internet ausprobiert werden. Die Nutzung dieser neuen Befragungsinstrumente geschieht auf freiwilliger Basis. Auch eine Befragung per Telefon kann eine Zeitersparnis gegenüber dem Ausfüllen eines Fragebogens sein. Mit der Änderung des Mikrozensusgesetzes wollen wir vor allem unseren Statistikern die Möglichkeit geben, die neuen Anforderungen seitens der EU methodisch frühzeitig vorzubereiten. Im Bevölkerungsstatistikgesetz werden die Anschrift der Betroffenen sowie das Ordnungsmerkmal der Meldebehörde als Hilfsmerkmal in das Bevölkerungsstatistikgesetz aufgenommen. Damit sollen die Plausibilitätsprüfungen verbessert werden. Wesentliches Ziel dieser Neuerung ist es, die Qualität der Statistik insbesondere im Hinblick auf die Einwohnerzahl und deren Fortschreibung zu erhöhen. Zudem wird die Übermittlung von Daten zur Nebenwohnung eingeschränkt, da nicht alle Daten erforderlich sind. Dieser Punkt stellt genau genommen eine kleine datenschutztechnische Verbesserung dar, da die Informationsflut eingeschränkt wird. Zuletzt soll im Bevölkerungsstatistikgesetz hinsichtlich der eingetragenen Lebenspartnerschaften eine klarstellende Änderung vorgenommen werden. Nicht nur wir Politiker, sondern alle Teile der Gesellschaft sind auf valide und zuverlässige Daten angewiesen, um die gesellschaftlichen Realitäten zutreffend analysieren zu können. Der Mikrozensus als maßgebliche Referenzgröße in der deutschen Statistik schafft eine unverzichtbare Basis für die Erhebung zahlreicher anderer Statistiken. Die aktuelle Diskussion um den großen Zensus zeigt, welche entscheidende Rolle Statistik in einem demokratischen Rechtsstaat spielen kann. Wenn die Einwohnerzahl einer Kommune kleiner oder größer gerechnet wird, als sie tatsächlich ist, werden Gelder falsch verteilt. Von der korrekten Berechnung der Einwohnerzahlen im Rahmen der Volkszählung hängt ab, ob eine Kommune im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs das Geld erhält, was ihr tatsächlich zusteht. Wir müssen daher unsere Statistiken konsequent prüfen und weiterentwickeln. Das gilt für den Zensus wie für den Mikrozensus. Die Änderungen, die wir heute beschließen wollen, sind ein Beitrag dazu. Der Änderungsantrag der Grünen ist aus drei Gründen abzulehnen. Erstens gilt das Mikrozensusgesetz 2005 nur noch bis Ende 2016. Die Gesetzesnovellierung umfasst ausschließlich kleine technische Änderungen, um das noch zu entwickelnde Mikrozensusgesetz 2017, das andere europarechtliche Bedingungen erfüllen muss, methodisch vorzubereiten. Es macht daher keinen Sinn, kurz vor dem Auslaufen des Gesetzes noch inhaltliche Änderungen vorzunehmen. Zweitens ist der implizierte Vorwurf, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften würden im Mikrozensus nicht abgebildet, nicht korrekt. In Frage 9 und Frage 14 des aktuellen Fragebogens zum Mikrozensus werden Lebenspartnerschaften explizit abgefragt. Entsprechend detailliert lassen sich heute schon Rückschlüsse ziehen. Drittens kann nicht abgefragt werden, was rechtlich nicht möglich ist. Ein gemeinsames Sorgerecht gleichgeschlechtlicher Lebenspartner bei Geburt gibt es nach geltendem deutschem Recht nicht. Ein Kind kann erst nach der Sukzessivadoption zwei gleichgeschlechtliche Elternteile haben. In der Gesetzesbegründung heißt es wörtlich: „Ziel ist es, die Haushaltsbefragungen so zu organisieren, dass sie den steigenden Anforderungen an Datenproduktion und -bedarf gerecht werden, die Bürgerinnen und Bürger so wenig wie möglich zusätzlich belasten und möglichst wenig zusätzliche Kosten verursachen.“ Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Bei aller Notwendigkeit einer verlässlichen Datengrundlage dürfen wir nicht übersehen, dass die Erhebung der Daten eine nicht unerhebliche Belastung für die Betroffenen darstellen kann. Ab 2017 benötigen wir ein neues Mikrozensusgesetz, das die Grundlage für ein statistisches Gesamtsystem schaffen soll. Ziel dieses Systems ist es, die Interessen der Befragten zu wahren, die Datenerhebung effizienter zu gestalten und den neuen statistischen Anforderungen seitens der EU rechtzeitig zu begegnen. Vier statistische Erhebungen, die bisher weitgehend getrennt voneinander erfolgen, sollen dazu zusammengeführt werden. Das ist erstens der Mikrozensus und zweitens die europäische Arbeitskräfteerhebung, die bereits zusammen erhoben werden. Das System soll drittens die Gemeinschaftserhebungen über Einkommen und Lebensbedingungen in Europa, EUSILC, und über die private Nutzung von Informationstechnologien, IKT, sowie viertens die Freiwilligenstichpobe nach § 7 des Bundesstatistikgesetzes umfassen. Dieses System steht aber heute nicht zur Diskussion. Erst wenn substanzielle Ergebnisse über die Weiterentwicklung des Gesamtsystems vorliegen, können wir darüber beraten und sie bewerten. Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Heute kommen unsere Beratungen zum Mikrozensusgesetz und zum Bevölkerungsstatistikgesetz zum Ende. Wir beschließen damit wichtige und notwendige Änderungen, die einen Fortschritt für die amtliche Statistik bedeuten. Die Geschichte der amtlichen Statistik reicht weit zurück und ist vor allen Dingen eines: eine Geschichte der Optimierung. Ganz frühe Erfassungen zur Bevölkerung gab es bereits in der Antike. Die Bibel beschreibt sie an prominenter Stelle. Im Mittelalter waren es vor allen Dingen Klöster und Stifte, in denen sich Daten befanden. Sie waren jedoch zu dieser Zeit noch wenig verlässlich. Erst im 18. Jahrhundert erfuhr die Datensammlung eine Professionalisierung und wurde auch in Preußen zu einem wichtigen Instrument der Staatsführung. „Populations-“ und Wirtschaftstabellen sowie Todesursachenstatistiken entstanden, die dem preußischen König einen Überblick über Bevölkerung und Ressourcen gaben. Das war nicht nur in Kriegszeiten unentbehrlich. Diese Daten waren zumeist streng geheim. Nur der preußische König und seine „Cabinet-Minister“ hatten Zugang. Regelmäßige und vollständige Volkszählungen wurden in vielen europäischen Ländern erst im 19. Jahrhundert vorgenommen. So sollte 1810 in Berlin ein Zensus stattfinden, da man der Meinung war, dass die Bevölkerungstabellen nicht mehr stimmten. Die Volkszählung konnte nur mit großen Verzögerungen durchgeführt werden, da dem Berliner Magistrat Personal dafür fehlte. Man könnte sich an heutige Zeiten erinnert fühlen. 1861 folgte ein weiterer Zensus in Berlin, und dieser verlief bereits deutlich strukturierter. In 40 Polizeirevieren wurden Zählbezirke gebildet. In Gegenwart von Distriktkommissaren mussten die Formulare ausgefüllt werden. Da gab es kein Lamentieren. Die Daten, die erfasst wurden, waren schon qualifizierter. So wurden auch soziale Daten zu den Wohnverhältnissen erhoben, aus denen die ersten Wohnstatistiken entstanden. Auch die Methoden waren inzwischen wissenschaftlich verfeinert. Die Daten nahmen erheblich zu, was sich an ersten statistischen Jahrbüchern zeigte. 1872 wurde dann das „Kaiserliche Statistische Amt“ gegründet, das fortan viele weitere Statistiken, wie die Landwirtschafts-, die Verkehrs- und sogar eine Bautätigkeitsstatistik, betreute. Volkszählungen gehörten mit der Reichsgründung 1871 zur festen statistischen Grundlage in Deutschland. 1910 wurde die letzte vor dem Ersten Weltkrieg und 1917 eine sogenannte Kriegszählung vorgenommen, um die Lebensmittelkarten zu planen. Angestrebt war eigentlich ein Fünfjahresrhythmus, der aber immer wieder durch politische Entwicklungen durchbrochen wurde. Während Volkszählungen in der dunklen Zeit des Nationalsozialismus menschenverachtenden Maximen folgten, wurden sie in der Nachkriegszeit wieder zum wichtigen Barometer der Bevölkerungsentwicklung. In DDR und Bundesrepublik waren Volkszählungen fester Bestandteil der Verwaltungshoheit. Die Verfahren waren sehr aufwendig und erfolgten bis 1970 noch mit Lochkartentechnik. Die Volkszählung 1987 war in der Bundesrepublik mit heftigen Diskussionen verbunden. Einige von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden sich an die Boykottaufrufe erinnern. Ich selber war als Volkszähler unterwegs. Mit Papier und Bleistift ausgestattet, habe ich in vielen Haushalten geholfen, die umfangreichen Fragen zu beantworten. Allerdings wurde mir auch so manche Tür regelrecht vor der Nase zugeschlagen. Die erste gesamtdeutsche Volkszählung folgte dann erst 2011. Es war eine registergestützte Erhebung, bei der auf Daten aus der Verwaltung, also auf Register, zurückgegriffen wurde. Zuvor wurde die Erhebung nochmal um weitere Angaben erweitert – zum Beispiel um die Zahl der lebend geborenen Kinder. Der Gesetzentwurf dazu kam 2007 von der damaligen Großen Koalition, und auch er qualifizierte die Statistik. Nun wurden Rückschlüsse auf die Anzahl von Kindern pro Frau, auf die Geburtenfolgen und auf den Geburtenabstand möglich. Die Daten lieferten eine wichtige Grundlage für eine gezielte Sozial- und Familienpolitik. Die Geschichte der Statistik ist eine Geschichte von Optimierungen. Das wurde durch diesen kurzen historischen Rückblick deutlich. Und diese Geschichte wollen wir heute fortschreiben. Es geht in dem vorliegenden Gesetzentwurf darum, das Mikrozensusgesetz zu ergänzen, womit wir einer EU-Vorgabe folgen. Auf Basis einer Experimentierklausel können neue Erhebungsverfahren erprobt werden, um die Qualität der Statistik zu verbessern. Ziel der Erprobung ist auch, die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten. Darüber hinaus wollen wir eine Korrektur in der Bevölkerungsstatistik vornehmen – auch das mit dem Ziel der Optimierung. Lassen Sie mich das kurz erläutern: Nach Inkrafttreten des Bevölkerungsstatistikgesetzes am 1. Januar 2014 wurden einige „handwerkliche Mängel“ offenkundig, die mit dem Gesetzentwurf wieder korrigiert werden müssen. So hat das Fehlen der Anschrift zur Folge, dass zum Beispiel Wanderungsbewegungen in der Kommune nicht mehr nachvollzogen werden können. Damit fehlen elementare Daten, und das ist natürlich zurückzunehmen. Das tun wir heute und leisten damit einen weiteren Beitrag zur Fortentwicklung unserer Statistik. Es sind kleine Änderungen mit viel Gewicht, die uns wie vielen anderen Stellen die Arbeit erleichtern. „Statistik ist das Informationsmittel der Mündigen“, hatte die Gründerin des Allensbacher Instituts für Demos-kopie, Elisabeth Noelle-Neumann, gesagt. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Lassen Sie uns das Mikrozensusgesetz und das Bevölkerungsstatistikgesetz heute zu einem guten Abschluss bringen. Jan Korte (DIE LINKE): In der ersten Lesung gab die Kollegin Lindholz zur Erläuterung, worum es bei -Ihrem Gesetzentwurf überhaupt geht, für die Unionsfraktion zu Protokoll, dass „mit der vorliegenden Gesetzesänderung […] nun auch mehrmalige Befragungen -einer Person innerhalb eines Jahres eingeführt [werden]. Diese sogenannten unterjährigen Befragungen können einen nicht unerheblichen zeitlichen Mehraufwand für die Teilnehmer bedeuten.“ Damit steht die CSU-Kollegin im Widerspruch zu der Behauptung im Gesetzentwurf, wonach die Änderungen nämlich keinen Mehraufwand für die Befragten bedeuten würden. Diesen Mehraufwand in einem Jahr, den im Übrigen auch die Interviewer der Landesämter für Statistik haben, gibt es eben tatsächlich. Und sie versuchen diesen ja eben -dadurch zu entkräften, indem künftig auf „einfachere Befragungsmethoden“ mittels Telefon und Internet ausgewichen wird und die Bürgerinnen und Bürger durch Nutzung eines sogenannten „modular aufgebauten, -kohärenten Systems der Haushaltsstatistiken“ entlastet würden. Wie so ein modular aufgebautes, kohärentes System konkret aussehen soll, können sie allerdings noch nicht sagen. Ich halte das für unprofessionell, reichlich problematisch und zudem, was die Ausweitung elektronischer Erhebungsformen angeht, für ziemlich riskant. Doch dazu später mehr. Was kommt also auf uns zu? Beim vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich auf den ersten Blick nur um eine unbedeutende Änderung des bis Ende 2016 geltenden Mikrozensusgesetzes 2005. Durch Ihren Gesetzentwurf soll „nur“ eine kleine Experimentierklausel eingefügt werden, mit der andere Erhebungsverfahren getestet werden sollen. Die Einführung dieser Experimentierklausel führt zwar vermutlich tatsächlich nicht zu einem umfangreicheren Fragebogen, bedeutet für die Auskunftspflichtigen aber, dass diese in einem kürzeren Zeitraum mehrfach befragt werden. Dies betrifft in der Experimentierphase erst einmal nur 8 500 Haushalte, künftig sollen es aber 50 Prozent der zwangsweise am Mikrozensus Teilnehmenden, also mehr als 400 000 Personen sein. Die Bundesdatenschutzbeauftragte hatte angeregt, dass die relativ kleine Testgruppe vollständig freiwillig an der unterjährigen Befragung teilnimmt. Doch selbst diese minimale Freiwilligkeit ging dem Bundesinnenministerium offenkundig schon zu weit. So können die auskunftspflichtigen Probanden entweder das verkürzte Befragungsverfahren durchlaufen oder die elektronischen Auskunftswege nutzen. Eine unterjährige Erhebung bedingt gegenüber dem bisherigen Verfahren gravierende Veränderungen, die vor allem die Erhebungs- und Ablauforganisation der Statistischen Landesämter betreffen. Die Testerhebung im Rahmen der Mikrozensuserhebung 2000 hatte bereits gezeigt, dass durch den mehr-maligen Interviewereinsatz in einem laufenden Erhebungsgeschäft verstärkt mit krankheitsbedingten oder sonstigen Ausfällen bei den Interviewern zu rechnen ist. Die Interviewer-Ausfallquote bewegt sich demnach in einem Rahmen von rund 15 Prozent bis etwa 30 Prozent. Angesichts der Erfahrungen aus der Organisationsuntersuchung erscheint eine jährliche Fluktuationsrate der -Interviewer/-innen von durchschnittlich 25 Prozent in -einem laufenden Erhebungsgeschäft realistisch. Dies macht es erforderlich, dass die Statistischen -Landesämter eine ausreichend große Anzahl von Reserveinterviewern einplanen, was offensichtlich relativ schwierig ist. Darüber hinaus ist nach allem, was man dazu liest, damit zu rechnen, dass für ausfallende Interviewerinnen und Interviewer nicht immer Ersatz gefunden werden kann und die noch ausstehenden Auswahlbezirke mit großen Problemen sowie hohem Aufwand, vor allem in den Flächenländern, vom jeweiligen Statistischen Landesamt aus bearbeitet werden müssen. Insgesamt muss also mit einem erheblichen Mehraufwand in den Statistischen Landesämtern gerechnet werden. Auf grund der durch die Unterjährigkeit bedingten starken regionalen Streuung ist in ländlichen bzw. schwach -besiedelten Gebieten der ganzjährige Dauereinsatz der Interviewer/-innen von der Bereitschaft abhängig, große Wegstrecken zu bewältigen. Inwieweit eine ausreichend große Zahl von qualifizierten Interviewern gewonnen werden kann, ist ebenfalls zweifelhaft. Um eben diese massiven Probleme zu umgehen, soll künftig verstärkt auf elektronische Befragungsmethoden gesetzt werden. Diese Zusammenhänge werden aber gezielt verschwiegen. Wie ist es denn nun um die Datensicherheit bei den elektronischen Befragungsmethoden bestellt? Die Internetbefragungen sollen analog zu den Onlineerhebungen beim Zensus 2011 durchgeführt werden. Dies hatte der damalige Bundesdatenschutz-beauftragte geprüft und als ausreichend abgesichert angesehen. Nun sind wir aber einige Jahre später und nicht zuletzt durch Edward Snowden etwas schlauer, sodass ich davon ausgehe, dass es durchaus angebracht wäre, das Konzept noch einmal grundsätzlich zu überdenken. Nur weil bislang, vielleicht ja auch aufgrund der noch nicht so großen Anzahl an Erhebungen, die auf diesem elektronischen Weg erhoben werden, noch kein Datendiebstahl bekannt geworden ist, bedeutet dies ja keineswegs, dass sich dies nicht künftig bei größeren Datenmengen ändern könnte. Auch ist für mich unklar, wie sichergestellt werden soll, dass Fehler bei der Datenerhebung vermieden und Missbrauch ausgeschlossen wird. Und mir leuchtet es auch überhaupt nicht ein, wieso es im Jahr eins nach Snowden nicht Standard sein kann, dass sensible Datenerhebungen – zumal von solchem Ausmaß! – anonymisiert erfolgen. Erklären Sie doch bitte einmal, warum lediglich eine Pseudonymisierung erfolgt und wieso sie das für ausreichend halten? Aus unserer Sicht steht eine Zwangserhebung wie der Mikrozensus auch im Widerspruch zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Bis jetzt sind sie jedenfalls eine befriedigende Antwort auf die Frage, wieso Staat und Statistikämter nicht endlich auf die Mittel Auskunftszwang, Zwangsgelder und Drohbriefe verzichten können, wenn sie Informationen für bestimmte Projekte brauchen, schuldig geblieben. Positiv in den Beratungen war immerhin, dass Sie sich auf den Druck der Opposition hin nun endlich dazu bequemt haben, einmal Zahlen zu Zwangsgeldverfahren in den Ländern vorzulegen. Die nun auf die Schnelle aus vier Bundesländern beschafften Zahlen zeigen zumindest, dass so eine Abfrage schon viel früher möglich gewesen wäre, aber eben politisch nicht gewollt war. Leider bleibt auch jetzt unklar, um welche Bundesländer es sich dabei eigentlich handelt. Aber das können Sie ja vielleicht demnächst noch einmal im Zuge einer Aufstellung aller 16 Länder nachholen. Wenn Ihre Zahlen stimmen, dann verweigern bis zu 2,3 Prozent der Befragten die Auskunft. Das ist vielleicht in Ihren Augen nicht sonderlich viel, meines Erachtens angesichts von bis zu 5 000 Euro Bußgeldern aber auch kein Pappenstiel. Dass die „Datenqualität“ bei einer Mikrozensuserhebung auf Freiwilligkeit nicht aufrechterhalten werden könnte, konnte bislang auch vor dem Hintergrund, dass 17 von 28 EU-Staaten ihre Erhebungen auf freiwilliger Basis durchführen, nicht schlüssig dargelegt werden. Selbst wenn es bei Freiwilligkeit dazu käme, dass keine validen Ergebnisse erzielt würden und sich dort, wie auch bei Wahlen, der sogenannte „Mittelstands-Bias“ zeigte, sodass die prekären Ränder am oberen und unteren Rand der Gesellschaft unterdurchschnittlich in die Ergebnisse einflössen, wäre dies doch kein generelles Argument gegen das Prinzip der Freiwilligkeit. Das wäre nur ein Grund mehr, sich endlich innovativ mit dem Problem fehlender demokratischer Beteiligung auseinanderzusetzen. Auch auf meine Frage, ob die Bundesregierung mir auch nur einen einzigen politischen Bereich nennen könne, in dem es in letzter Zeit wegen fehlender „Daten“ zu problematischen Entscheidungen gekommen sei, ist sie die Antwort schuldig geblieben. Das ist aber auch nicht wirklich überraschend, denn es fehlt ja eben nicht an Daten, sondern am politischen Willen, bestimmte Probleme, wie beispielsweise die große Zahl nach wie vor fehlender Kitaplätze, zu lösen. Ich zitiere hier erneut Thilo Weichert, den Landesdatenschutzbeauftragten in Schleswig-Holstein: „Politische Fehlplanungen basieren nicht auf fehlenden Daten, sondern auf der falschen Bewertung vorhandener Daten.“ Kurz noch ein paar Worte zu den Kosten: Bislang sind Sie die Antwort auf die Frage, wie hoch die jährlichen Mehrkosten beim Bevölkerungsstatistikgesetz ausfallen werden, schuldig geblieben. Im Gesetzentwurf heißt es dazu nur: „Für die nach Landesrecht -zuständigen Stellen, die durch dieses Gesetz zu Datenlieferungen verpflichtet werden, entstehen für die -Anpassung von vorhandenen Softwarelösungen gegebenenfalls einmalige Kosten, die angesichts der unterschiedlichen Gestaltung der jeweiligen Fachverfahren nicht beziffert werden können.“ Das ist ja nun nicht gerade sehr informativ. Ich kann mir nicht vorstellen, dass nicht wenigstens interne Kostenhorizonte existieren. Alles andere wäre ja noch unverantwortlicher als gedacht. Ein letztes Wort zum ganz nebenbei mitveränderten Bevölkerungsstatistikgesetz: Finden Sie es eigentlich vertrauenerweckend, dass das Bevölkerungsstatistikgesetz, welches in dieser Form ja erst zum 1. Januar 2014 in Kraft getreten ist, nun durch die vorgesehene eilige Nachbesserung – und hier gibt es zusätzliche Datenerhebungen! – geändert werden muss? Ich nicht. Ich komme also zum Schluss: Meine Fraktion hatte das Mikrozensusgesetz 2005 abgelehnt, weil aus unserer Sicht und nach Auffassung vieler Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, seine Notwendigkeit nicht konkret nachgewiesen, der Umfang der Datenabfrage ausufernd und teilweise unverständlich bis diskriminierend gewesen ist. Auch dieser Gesetzentwurf reiht sich in die voranschreitende Katalogisierung des Bürgers ein. Er setzt auf die Herrschaft der Zahl statt auf Qualitätspolitik. An dieser grundsätzlichen Kritik halten wir fest. Aus unserer Sicht öffnet die Experimentierklausel den Weg zu einer Ausweitung der Erhebungen. Wir wollen aber das Gegenteil, nämlich weniger Datenhalden und vor allem weniger Zwangserhebungen. Meine Fraktion plädiert entschieden für das Prinzip der Freiwilligkeit bei Volkszählungen jeder Art und für den konkreten Nachweis der Erforderlichkeit von Zahlen für nachvollziehbare Zwecke. Nur so werden sie die nötige Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern bekommen. Deshalb lehnen wir auch heute Ihre Gesetzesänderung ab. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Zensus 2011 ist gerade erst ausgewertet. Er hat durchaus äußerst kontroverse Reaktionen ausgelöst. Nun steht für fast eine Million Bundesbürgerinnen und -bürger der nächste Zensus bereits vor der Tür. Gerade weil der präventive, der vorsorgende und auch auf Nachhaltigkeit und komplexe Steuerungskonzepte setzende Staat nur effektiv sein kann, wenn er über laufend aktuelle Zahlen zur Bevölkerung verfügt, gewinnt das Statistikwesen laufend an Bedeutung. Wer wie die Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren mit den Folgen einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung, der zunehmenden Alterung der Bevölkerung und einem anhaltendem Kinderschwund zu rechnen hat, kann auf die Statistik nicht verzichten. Darüber besteht Einigkeit. Wir haben uns bereits im vergangenen Jahr hinlänglich im Rahmen der Debatte um den Zensus 2011 darüber austauschen können. Der Mikrozensus stellt die Grundlage unserer Erkenntnisse dar, er ist gewissermaßen der kleine Bruder der bei uns nur selten erfolgenden großen Zensen und von zentraler Bedeutung unter anderem für die Forschung. Alljährlich sehen sich circa eine Million Bundesbürger, eine durchaus beachtliche Anzahl, mit den umfänglichen Fragenkatalogen der Statistikbehörden konfrontiert, denen sie nicht ausweichen können. Denn die Teilnahme an den Interviews oder die wahlweise Ausfüllung der -Fragebögen ist aufgrund einer Auskunftspflicht bußgeldbewehrt. Die oft besonders weit das Privatleben der Befragten berührenden Fragen etwa nach dem Einkommen, nach den familiären Verhältnissen oder der Ausbildung stellen ohne Zweifel – völlig unabhängig von ihrer konkreten Weiterverarbeitung – aufgrund der Zwangslage der Auskunftspflicht einen schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz dar. Und genau dieser Konflikt hat die Volkszählungsproteste der 1980er-Jahre ausgelöst. Viele Grüne haben diese Bewegung mitgetragen, und sie zählt sicherlich als bürgerrechtliches Großereignis bis heute zu einer der Wurzeln der Bürgerrechtsbewegung in Deutschland. Im Kern geht es dabei um die Sicherung der informationellen Selbstbestimmung des Einzelnen. Selber wissen und soweit als möglich auch mitentscheiden zu können, wer was wann über einen erfährt und was dann mit diesem Wissen gemacht werden darf, das zählt bis heute zu einer Vorstellung des Datenschutzes, wie ihn auch meine Partei gemeinsam mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Gruppen erstritten hat. Dank des tatsächlich wegweisenden Volkszählungsurteils von 1983 wurden genaue Vorgaben gemacht, die den Gesetzgeber bis heute beschäftigen und binden. Das Mikrozensusgesetz basiert auf diesen Vorgaben; es dient dazu, diese Vorgaben zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger gegen eine überbordende staatliche Datenerhebung, und sei sie auch nur zu statistischen Zwecken, sicherzustellen. Die Aufsichtsbehörden für den Datenschutz in den Ländern berichten alljährlich von Bürgerinnen und -Bürgern, die sich mit Beschwerden auch gegen den -Mikrozensus an sie wenden. Das derzeit in Kraft befindliche, wie seine Vorgänger zeitlich befristete Mikrozensusgesetz von 2005 enthält zwar nicht mehr sämtliche Einzelfragen im Gesetz selbst, sondern Fragenkomplexe, die dann im späteren Verordnungswege konkretisiert werden dürfen. Gleichwohl besteht an dieser Verfahrensweise trotz der teilweisen Zurücknahme des strikten -Gesetzesvorbehalts ein berechtigtes Interesse der Flexibilisierung, um eben möglichst aktuelle, besonders zielgerichtete Fragenkomplexe entwerfen zu können. Lassen Sie mich klarstellen: Das Mikrozensusverfahren zählt insgesamt zu den bislang weitgehend geregelten und überwiegend zufriedenstellend verlaufenden -Datenerhebungen unseres Staates. Allerdings gibt es auch weiterhin eine beständig hohe Zahl von Betroffenen, die über die umfassenden Fragebögen so empört sind, dass sie förmlich Beschwerde einlegen oder sich zum Beispiel an die Datenschutzbehörden oder ihre Abgeordneten wenden. Dies war einer der Gründe, warum wir auf die Durchführung eines erweiterten Berichterstattergesprächs gedrungen haben. Die Ergebnisse des kurzen Termins haben die zahlreichen aufgeworfenen Fragen nicht zur Gänze klären können: Zwar wurden uns dankenswerterweise Einschätzungen einiger Bundes-länder vorgelegt, wie viele Bürgerinnen und Bürger einen Mahnbescheid riskieren, wir würden es aber für sinnvoller erachten, dass die Akzeptanz dieses Verfahrens systematischer und bei allen Bundesländern ab-gefragt würde. Dies geschieht bislang nicht. Noch weitgehend ungeklärt blieb auch die Frage nach den zugrunde liegenden Rechenverfahren. Wir haben derzeit eine Situation, in der eine sehr große Zahl von Kommunen Gerichtsverfahren gegen die Ergebnisse des Zensus 2011 aufgenommen hat. Im Rahmen dieser Verfahren wurden bereits erste eingehende gutachterliche Stellungnahmen bekannt. Diese werfen, ganz unabhängig von der Differenz zwischen den Zwecksetzungen und -Durchführungsverfahren des Zensus 2011 und des Mikrozensus, grundlegende Fragen nach den mathematisch-statistischen Verfahren der Statistikämter auf, bei denen nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese auch Folgen für den Mikrozensus haben werden. Hier wird es einer weiteren, intensiven Beobachtung der Entwicklung auch seitens des Deutschen Bundestages bedürfen. Auch wegen der Eingriffstiefe der bußgeldbewehrten Auskunftspflicht dürfen wir nicht nachlassen zu fragen, auf welche Weise die Anzahl der Betroffenen und der Umfang der Fragen weiter reduziert werden können, -damit das Ausmaß der Grundrechtsbeeinträchtigung weiter reduziert werden kann. Der uns jetzt vorliegende Entwurf gibt dazu bedauerlicherweise kaum Antworten. Die Experimentierklausel scheint vielmehr noch weniger Rechtssicherheit für Betroffene zu bieten als zuvor, soweit es um die beabsichtigte Reduzierung der Grundrechtseingriffe geht. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, zukünftig werde sich der Mikrozensus über das ganze Jahr verteilen und immer wieder auskunftspflichtige Situationen erzeugen. Die unterjährige Kontaktaufnahme der Verpflichteten bedeutet erneute pflichtige -Zugriffe auf die Privatheit. Es war deshalb richtig, diese Kontaktaufnahmen unter die Bedingung der Freiwilligkeit für die Betroffenen zu stellen. Gleichwohl ist die insgesamt weiter gefasste und damit in ihren Auswirkungen nicht vollständig determinierte Experimentierklausel angesichts des gerade für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung geltenden Bestimmtheitsgebotes eine durchaus problematische Vorgehensweise. Vor dem Hintergrund der nach wie vor offenen -Fragen und der rechtsstaatlich problematisch gewählten Lösung einer Experimentierklausel, bei der gleichwohl versucht werden soll, die Anzahl der Betroffenen und den Umfang möglichst gering zu halten, werden wir uns bei der heutigen Abstimmung enthalten. Das Versprechen der Bundesregierung, in 2017 eine endgültige gesetzliche Klärung zum Mikrozensusverfahren vorzulegen, werden wir erinnern. Wir erwarten dann allerdings eine erneute, eingehende parlamentarische Auseinandersetzung über Zukunft und Inhalt dieses Verfahrens. Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäische Schutzanordnung, zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und zur Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Tagesordnungspunkt 25) Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Der vorliegende Gesetzentwurf dient in erster Linie der Umsetzung der Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung sowie der Durchführung der Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen. Bereits heute gibt es in allen EU-Staaten Opferschutzmaßnahmen. Diese können bislang aber nur in dem Mitgliedstaat durchgesetzt werden, in dem sie erwirkt worden sind. Derartige Maßnahmen können erwirkt werden, wenn das Leben der zu schützenden Person, ihre körperliche oder psychische Unversehrtheit, ihre Freiheit, Sicherheit oder sexuelle Integrität in Gefahr sind. Die gerichtlich festzustellenden Schutzmaßnahmen können beispielsweise die Verpflichtung beinhalten, sich der gefährdeten Person nicht weiter als bis auf eine bestimmte Entfernung zu nähern oder bestimmte Orte nicht zu betreten oder – heute ganz wichtig – nicht mit ihr in einen wie auch immer gearteten medialen Kontakt zu treten. Aufgrund der Richtlinie und der Verordnung kann in Zukunft jeder, der seinen Wohnort in ein anderes Mitgliedsland verlegt, einen ähnlichen Schutz beantragen, den er bereits in seinem Heimatland erstritten hat. Es findet keine erneute Sachprüfung statt, sodass hier eine wesentliche Erleichterung für die Betroffenen zu verzeichnen ist. Der entscheidende Unterschied zwischen der Richtlinie und der Verordnung besteht in der Entstehungsart der Schutzmaßnahmen. Die Richtlinie ist nur auf Schutzmaßnahmen in Strafsachen anwendbar. Diese Schutzmaßnahme muss also nach einer strafrechtlichen Entscheidung bzw. in einem Strafverfahren angeordnet worden sein. Ausschlaggebend für die Anordnung einer nationalen Schutzmaßnahme ist ausschließlich, dass nach dem nationalen Recht strafbares Verhalten vorliegt. Das deutsche Recht kennt jedoch nur Gewaltschutzanordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz, die auf zivilrechtlicher Grundlage ergehen. Das Opfer von Gewalttaten ist berechtigt, einen Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz zu stellen. Dies kann sowohl in einem Verfahren der einstweiligen Anordnung als auch in einem Hauptsacheverfahren geschehen. Die strafrechtlichen Schutzmaßnahmen sind folglich dem deutschen Recht fremd und können auf diese Weise nicht erlassen werden. Aufgrund der Richtlinie kommt Deutschland daher lediglich als vollstreckender Staat in Betracht. Die Verordnung hingegen vervollständigt die Richtlinie und regelt die Übertragbarkeit der zivilrechtlichen Gewaltschutzanordnungen, sodass die in Deutschland erlassenen Maßnahmen in anderen Mitgliedsländern einen ähnlichen Schutz genießen. Am 13. Dezember 2011 verabschiedete die Europäische Union die Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung. Am 12. Juni 2013 beschloss sie die Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen. Diese Rechtsakte sollen sich gegenseitig vervollständigen und gemeinsam einen effektiven, europaweiten Schutz der Opfer vor Gewalt gewährleisten. Diese Richtlinie ist bis zum 11. Januar 2015 umzusetzen. Ab diesem Tag gilt ebenfalls die Verordnung. Für die Umsetzung der Richtlinie sowie Durchführung der Verordnung bedarf es nationaler Umsetzungs- bzw. ergänzender Durchführungsvorschriften, die dieser Gesetzentwurf beinhaltet. Diese Vorschriften werden aufgrund der besonderen Bedeutung in einem eigenständigen Gesetz, namentlich EU-Gewaltschutzverfahrensgesetz, normiert. Durch die Richtlinie sollen Schutzmaßnahmen für Opfer von Straftaten gewährleistet bleiben, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen und ihren Wohnort in einen anderen EU-Mitgliedstaat verlegen. Durch das Recht auf Freizügigkeit dürfen den Unionsbürgern keine Nachteile durch möglichen Verlust des Schutzes entstehen. Die Gewährleistung des Schutzes für die Opfer soll wie folgt geregelt werden: Die Behörde eines EU-Staates ordnet eine Schutzmaßnahme nach dem nationalen Recht an. Im zweiten Schritt erlässt die Behörde des entsprechenden Staates eine Europäische Schutzanordnung. Nach dem Umzug des EU-Bürgers in einen anderen EU-Staat erkennt dieser Staat die bereits erlassene Schutzanordnung an und erlässt eine nach dem nationalen Recht in einem vergleichbaren Fall vorgesehene Maßnahme. Die Verordnung vervollständigt die Richtlinie, indem sie die Übertragbarkeit der angesprochenen zivilrechtlichen Gewaltschutzanordnungen regelt. Die Verordnung betrifft ebenfalls den Gewaltopferschutz, der in einem Mitgliedstaat durch die Justiz- oder eine andere Behörde angeordnet wurde und in einem anderen Mitgliedstaat anzuerkennen ist. Diese Verordnung beseitigt also das bisher erforderliche Exequaturverfahren, in dem die Voraussetzungen der Anerkennung der Vollstreckbarkeit im Inland geprüft werden. Um eine Schutzmaßnahme in einem anderen EU-Mitgliedstaat geltend zu machen, benötigt die zu schützende Person eine Bescheinigung, die auf Antrag durch die Entscheidungsbehörde des Heimatstaats ausgestellt wird. Mit dieser Bescheinigung kann die gefährdete Person in dem Mitgliedstaat ihres Aufenthaltes die Anerkennung und gegebenenfalls Vollstreckung der Schutzmaßnahme beantragen. Entscheidend ist, dass keine erneute Sachprüfung stattfindet. Die zeitgerechte Umsetzung der Richtlinie und der Verordnung ist zu begrüßen. Hierdurch schaffen wir Rechtssicherheit und erhöhen das Vertrauen in den grenzüberschreitenden Schutz der EU-Bürger. Körperliche und seelische Gewalt bedeutet für das Opfer immer einen enormen Einschnitt in das eigene Leben. Besondere Bedeutung hat diese Gewalt, wenn sie im engen sozialen Umfeld stattfindet. Daher gilt es, die Opfer solcher Taten effektiv und schnell schützen zu können. Meine langjährige anwaltliche Tätigkeit verdeutlichte mir, dass die meisten Gewaltschutzverfahren emotional belastend und entsprechend aufwendig für die Beteiligten waren. Aus diesem Grund sollte der Schutz der gefährdeten Person im Vordergrund stehen. Sie sollte deshalb das Verfahren im Falle eines Umzugs in einen EU Mitgliedstaat nicht erneut durchlaufen. Die Anerkennung und Vollstreckung der Schutzmaßnahmen dürfen keine wiederholte Belastung für das Opfer darstellen. Um diesem notwendigen Schutz der EU Bürgerinnen und Bürger gerecht zu werden, wird die Erleichterung beim Anerkennen und Vollstrecken der Schutzmaßnahmen durch die Richtlinie und die Verordnung von unserer Fraktion befürwortet. Im vorliegenden Entwurf wird ferner eine Änderung des FamFG aufgenommen, die das Scheidungsverbundverfahren betrifft. Für einen ganz speziellen Fall sollen den Beteiligten im Ehescheidungsverbundverfahren Rechtsmittel abgeschnitten werden. Damit soll eine mögliche Doppelehe vermieden werden. Da aber auch ein wirtschaftliches Ungleichgewicht entstehen kann, habe ich Bedenken. Dieser Teil unterliegt im Übrigen nicht der bereits genannten Umsetzungsfrist zum 11. Januar 2015. Das Verbundprinzip soll eine gleichzeitige und abschließende Regelung aller Folgen einer Ehescheidung ermöglichen. An diesem Verfahren wird der Versorgungsträger im Rahmen des Versorgungsausgleichverfahrens ebenfalls beteiligt. Durch diese Beteiligung im Verfahren erlangt der Versorgungsträger ein Beschwerderecht, wenn er materiell in seinen Rechten verletzt ist. Wird dennoch der Versorgungsträger fälschlicherweise nicht beteiligt oder einem beteiligten Versorgungsträger die Entscheidung nicht bekannt gegeben, hat er die Möglichkeit, auch nach vermeintlichem Eintritt der Rechtskraft Rechtsmittel einzulegen, da für ihn nach den allgemeinen Rechtsgedanken keine Fristen laufen. Hat nun nach vermeintlichem Eintritt der Rechtskraft einer der ehemaligen Eheleute erneut geheiratet, besteht die Gefahr der Doppelehe, da die alte Ehe nicht rechtskräftig geschieden worden ist. Dies will der Gesetzentwurf verhindern. Wenn nun allerdings, wie es der Gesetzentwurf vorsieht, die Anschlussrechtsmittel der Beteiligten für diesen speziellen Fall abgeschnitten werden, wird zwar die Gefahr der Doppelehe vermieden; das Gesamtkonstrukt des Verbundes Ehescheidung bestehend aus Versorgungsausgleich, Zugewinnausgleich, Kindes- und Ehegattenunterhalt könnte aber in Schieflage geraten. Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Die Beteiligten haben eine Gesamtvereinbarung getroffen, in der ein ausgeglichenes Verhältnis der zuvor genannten Folgesachen besteht. Da nun aber der Versorgungsträger die Möglichkeit hat, einen Baustein des Konstruktes, nämlich den Versorgungsausgleich, zu ändern, kann das Gesamte unausgeglichen werden. Für den Fall der nachträglichen Einlegung eines Rechtsmittels des Versorgungsträgers müssen die Beteiligten also die Möglichkeit haben, die anderen Folgesachen auch zu ändern. Sie müssen daher die Möglichkeit der Anschlussbeschwerde behalten. Die Rechtskraft der Ehescheidung soll unangetastet bleiben. Sie sehen, die Sache ist kompliziert. Es besteht aus unserer Sicht weiterer Diskussionsbedarf, den wir innerhalb der Umsetzungsfrist der Gewaltschutzanordnung nicht sachgerecht bewältigen können. Deshalb hält es meine Fraktion für notwendig, den Artikel 5 des Gesetzentwurfs abzutrennen. Dennis Rohde (SPD): Der heute in erster Lesung beratene Gesetzentwurf dient der Umsetzung einer europäischen Richtlinie. Es wäre aber ein Fehler, zu glauben, dass uns dies sozusagen unvermittelt von außen hereinschneien würde. In diesem Hause wurde schon in der letzten Wahlperiode über die Europäische Schutzanordnung debattiert; schon damals hat sich die SPD-Fraktion mit deutlichen Worten für diese neue Richtlinie ausgesprochen. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament haben tatkräftig an ihrer Ausgestaltung mitgewirkt. Nun, da es um die Umsetzung in deutsches Recht geht, gehen wir diesen Kurs weiter. Das Prinzip der Europäischen Schutzanordnung ist einfach: Es gibt nun ein unkompliziertes, unbürokratisches Verfahren, mit dem gesetzliche Maßnahmen zum Schutz vor Gefährdung grenzübergreifend anerkannt werden können. Ich will ein Beispiel nennen: Man stelle sich vor, eine Frau in Frankreich wird Opfer von Nachstellung. Es gelingt ihr, zu erwirken, dass ihr Stalker sich ihr nicht mehr nähern darf. Damit ist ein gewisser Schutz geschaffen. Wenn sie nun aber eine neue Arbeit in Berlin annimmt und deswegen nach Deutschland zieht, so geht sie das Risiko ein, dass die gefährdende Person ihr nachzieht und sie in Deutschland ungeschützt ist. Sie musste nach bestehender Rechtslage entsprechende Maßnahmen wieder von Grund auf beantragen, sozusagen bei null beginnen. Das ist eine reelle Einschränkung der Freizügigkeit gerade für schutzbedürftige Personen. Künftig hingegen soll die Anwendung ausländischer Schutzmaßnahmen in Deutschland ganz einfach werden: Die geschützte Person stellt einen Antrag beim für sie zuständigen örtlichen Familiengericht. Daraufhin wird eine europäische Schutzanordnung erlassen, mit der die Vorkehrungen des ersten Landes, in unserem Beispiel also Frankreich, nun auch in Deutschland gelten. Dies kann das Familiengericht ausschließlich aus formellen Gründen ablehnen, weil beispielsweise wichtige Informationen fehlen oder es gar keine Schutzmaßnahme im ersten Land gibt. Ist dies nicht der Fall, so soll die Anpassung zügig erfolgen. Gegenüber den Vorschlägen, mit denen sich dieses Haus zuletzt im Jahr 2010 befasst hat, erhält die jetzt umzusetzende Richtlinie erhebliche Verbesserungen. Sollte damals noch die geschützte Person in ihrem eigenen Land den Antrag stellen, so geschieht dies nun am neuen Wohnort und wird vom örtlichen Familiengericht behandelt; es sind damit allerlei Zwischenschritte, die dem Prinzip „schnell und unbürokratisch“ zuwidergelaufen wären, entfallen. Zudem haben die Fraktionen der SPD und der CDU/CSU beantragt, dass die gefährdende Person nicht mehr angehört werden muss, ehe die Anpassung erfolgt. Der Schutz des Opfers muss hier deutlich vorgehen. Die europäische Einigung muss sich auch und gerade daran messen lassen, was sie für schutzbedürftige Menschen erreicht. Solange beispielsweise Frauen bei einem Umzug in ein anderes europäisches Land befürchten müssen, ihr gesetzlicher Schutz vor Nachstellung falle weg, so lange gibt es eben noch reale Hindernisse, die der Freizügigkeit im Wege stehen. Um es klar zu sagen: Eine europäische Einigung, die nur der Wirtschaft und dem Handel dient, verdient ihren Namen nicht. Erst die Sicherung der Freiheiten des Einzelnen über die Staatengrenzen hinaus – und das schließt den europaweiten Schutz vor Nachstellung und Gewalt ein – macht die europäische Einigung zu einer wirklichen, zu einem Zusammenwachsen, bei dem der einzelne Mensch an erster Stelle steht. Ursprünglich sollte mit diesem Gesetz eine Änderung in § 145 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, FamFG, verbunden werden. Es geht dabei darum, eine Lücke im Scheidungsrecht zu schließen, bei der durch Verwaltungsfehler Ehescheidungen potenziell nicht rechtskräftig werden und so die Gefahr einer Doppelehe entsteht. Wir nehmen diesen Abschnitt per Änderungsantrag aus dem Gesetzentwurf heraus – nicht etwa, weil wir die Gesetzesänderung für unnötig hielten, sondern vielmehr, um Zeit für weitere Beratungen zu gewinnen, sodass am Ende auf jeden Fall eine gute, wasserdichte Lösung erarbeitet wird. Gründlichkeit vor Schnelligkeit: Das ist eine Maxime der SPD-Bundestagsfraktion, die wir in die große Koalition getragen haben. Wir in der SPD-Bundestagsfraktion begrüßen es ausdrücklich, dass die europäische Schutzanordnung nunmehr deutsches Recht wird. Wir sorgen damit dafür, dass das europäische Versprechen der Freizügigkeit, Gleichheit und Sicherheit weiter verwirklicht wird. Es entspricht unserem Selbstverständnis, dass wir reelle Hindernisse der Freizügigkeit erkennen und gesetzliche Abhilfe schaffen. In diesem Sinne freue ich mich auch über den breiten Konsens, den die europäische Schutzanordnung erfahren hat, und die konstruktive Kritik, mit der auch der Bundestag erhebliche Verbesserungen bewirkt hat. Ich würde mich – und dies richte ich auch an die Oppositionsfraktionen – darüber freuen, wenn diese sachorientierte konstruktive Zusammenarbeit auch in Bezug auf andere Gesetzesvorhaben zum Regelfall werden könnte. Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Die Europäische Union hat 2011 die Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung und 2013 die Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen verabschiedet. Beide Rechtsakte sollen sich gegenseitig ergänzen und zusammen einen effektiven, europaweiten Schutz der Opfer von Gewalt gewährleisten. Zu diesem Zweck sehen sowohl die Richtlinie als auch die Verordnung Systeme vor, wonach sowohl strafrechtliche als auch zivilrechtliche Gewaltschutzanordnungen der Mitgliedstaaten auch in den anderen Mitgliedstaaten der EU anerkannt und die den Opfern gewährten Schutzmaßnahmen auf einen anderen Mitgliedstaat ausgedehnt werden können. Für die Umsetzung der Richtlinie und für die Durchführung der Verordnung bedarf es Umsetzungs- bzw. ergänzender Durchführungsvorschriften. Die Richtlinie ist bis zum 11. Januar 2015 umzusetzen. Ab diesem Tag gilt auch die Verordnung. Der vorliegende Entwurf beinhaltet die erforderlichen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie und zur Durchführung der Verordnung. Die Vorschriften werden danach in einem eigenständigen Gesetz zusammengefasst. Die gemeinsame Umsetzung und Durchführung erscheint angezeigt, weil beide Rechtsakte sich gegenseitig vervollständigen sollen und dieselbe Zielsetzung haben. Außerdem erfolgt sowohl die Umsetzung der Richtlinie als auch die Durchführung der Verordnung im Zivilrecht anknüpfend an das Familienverfahrensrecht und das materielle Gewaltschutzrecht. Eine VO dieser Vorschriften in einem bereits bestehenden Gesetz erscheint dagegen nicht sachgerecht, da insbesondere im FamFG bisher keine Vorschriften zur Umsetzung bzw. Durchführung internationaler Rechtsakte enthalten sind. Der Gesetzentwurf beinhaltet zum einen Regelungen, die die Anerkennung von Schutzmaßnahmen ermöglichen, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU in Strafsachen erlassen worden sind. Zum anderen regelt er die Ausstellung der Bescheinigung über inländische Gewaltschutzanordnungen, die in anderen Mitgliedstaaten ohne Vollstreckbar-Erklärungsverfahren vollstreckt werden sollen. Darüber hinaus enthält er Vorschriften zur Anerkennung und Vollstreckung von zivilrechtlichen Gewaltschutzanordnungen aus anderen Mitgliedstaaten. Außerdem wird eine Änderung des FamFG aufgenommen, die das Scheidungsverbundverfahren betrifft. Mit einer Änderung im Rechtsmittelrecht in Ehesachen sollen falsche Rechtskraftzeugnisse zur Ehescheidung vermieden werden. Da Intention und Inhalt sowohl der Richtlinie als auch der Verordnung zu begrüßen sind und eine EU-rechtliche Pflicht zu deren Umsetzung bzw. Durchführung besteht, ist die Gesetzinitiative grundsätzlich zustimmungsfähig. Da zudem nach bisheriger Prüfung auch keine gravierenden handwerklichen oder inhaltlichen Kritikpunkte offensichtlich erkennbar sind, dürften sich die Beratungen dazu im Ausschuss als nicht sonderlich konträr erweisen. Mit anderen Worten: sachlich und rechtlich geprüft und bislang für gut befunden. Erforderliche marginale Änderungen, die sich möglicherweise noch als notwendig erweisen, können in den anstehenden Beratungen durchgeführt werden. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Gewaltschutzgesetz war ein Meilenstein rot-grüner Rechts- und Frauenpolitik. Heute sprechen wir über eine europäische Dimension des Themas. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben in ihren Rechtsordnungen unterschiedlich ausgeprägte Schutzmechanismen gegen häusliche Gewalt. Bei der Europäischen Schutzanordnung geht es darum, den Schutz aus dem Heimatland gewissermaßen mit über die Grenze nehmen zu können. Dafür war ein Instrument gegenseitiger Anerkennung nötig. Hierzu ist eine EU-Richtlinie beschlossen worden. Diese Richtlinie ist jetzt in nationales Recht umzusetzen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht dazu einige Anpassungen vor. Die Koalition hatte ursprünglich vorgesehen, diesen Gesetzentwurf ohne Debatte in die erste Lesung zu geben. Das wird dem Thema aus unserer Sicht allerdings nicht gerecht, zumal sich doch einige Fragen stellen hinsichtlich der gesetzlichen Änderungen. Eine dieser Fragen betrifft die vorgesehene Verkürzung des Rechtsschutzes im Scheidungsverfahren. Wenn ein Träger der Altersvorsorge Rechtsmittel einlegt gegen die Entscheidung des Familiengerichts, sollen die geschiedenen Ehegatten künftig kein Anschlussrechtsmittel mehr einlegen können, damit die Rechtskraft der Verbundentscheidung und damit der Ehescheidung nicht nachträglich aufgehoben werden kann. § 145 FamFG – Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit – bedeutet damit eine teilweise Aufhebung des Verbundes zwischen der Ehesache und dem Versorgungsausgleich. Dieser Verbund hat aber eine Schutzfunktion gerade gegenüber dem wirtschaftlich schwächeren Ehegatten. Deswegen sehen unter anderem der Deutsche Anwaltverein und die Bundesrechtsanwaltskammer die Aufhebung an dieser Stelle sehr kritisch. Hier würde mich schon interessieren, wie die Bundesregierung zu diesen Bedenken steht? Ein anderer Aspekt betrifft das Gewaltschutzgesetz selbst. Der Deutsche Juristinnenbund hält es für falsch, in dem Gesetzentwurf eine mit § 4 Gewaltschutzgesetz parallel laufende Strafvorschrift – § 23 des neuen EU-Gewaltschutzverfahrensgesetzes – einzufügen, ohne dabei das Gewaltschutzgesetz selbst zu ändern. Eine Dopplung von gleichlautenden Strafvorschriften entspricht sicherlich nicht der Rechtsklarheit. Ich möchte daher die Chance dieses Gesetzgebungsverfahrens nicht ungenutzt lassen, um darauf hinzuweisen, dass wir in der Tat über Reformbedarf beim Gewaltschutzgesetz diskutieren sollten. Man kann sich beispielsweise fragen, ob wir nicht eine strafrechtliche Schutzlücke haben, wo keine gerichtliche Anordnung nach § 1 Gewaltschutzgesetz erging, weil sich die Parteien auf einen Vergleich geeinigt haben, dieser Vergleich aber nicht eingehalten wird. Diese und weitere Fragen sollten wir in der Ausschussberatung gründlich beraten. Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Ihnen liegt heute der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäische Schutzanordnung, zur Durchführung der Verordnung (EU) Nummer 606/2013 über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und zur Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vor. Mit dem Gesetzentwurf sollen zwei EU-Rechtsakte umgesetzt werden, die die grenzüberschreitende Wirkung von nationalen Gewaltschutzanordnungen innerhalb der EU gewährleisten sollen. Diese Rechtsakte sind im Kontext der Bestrebungen des Rates und der Europäischen Kommission zu sehen, EU-weit einen besseren Schutz der Opfer von Gewalt zu bewerkstelligen. Deutschland hat dieses Bestreben stets unterstützt, und die Bundesregierung schlägt daher vor, die Richtlinie jetzt umzusetzen und dafür Sorge zu tragen, dass auch die durch die Verordnung bedingten nationalen Durchführungsvorschriften bis zu dem Tag, ab dem die Verordnung gilt, also bis zum 11. Januar 2015, in Kraft sind. Dieses Ziel soll mit dem vorliegenden Entwurf erreicht werden. Kernstück des Entwurfs ist dabei Artikel 1, der das Gesetz zum Europäischen Gewaltschutzverfahren, kurz EU-Gewaltschutzverfahrensgesetz, einführt. In Deutschland ist der Gewaltschutz durch das Gewaltschutzgesetz zivilrechtlich geregelt. Wer sich Nachstellungen, Belästigungen oder tätlichen Angriffen ausgesetzt sieht, kann eine gerichtliche Anordnung erwirken, die es dem Täter zum Beispiel verbietet, sich dem Opfer auf einen geringeren als den in der Anordnung vorgesehenen Mindestabstand anzunähern, oder die es ihm untersagt, das Opfer telefonisch oder auf andere Weise zu belästigen. Bislang reicht die Wirksamkeit einer solchen Anordnung geografisch bis zu Deutschlands Grenzen. Im Ausland entfaltet sie keine Wirkung, Umgekehrt gilt dies für vergleichbare Gewaltschutzanordnungen aus dem Ausland. Die durch eine solche Anordnung geschützte Person kann sich, wenn sie sich außerhalb der Grenzen des Anordnungsstaates aufhält, nicht auf den Schutz der Anordnung berufen. Für den Bereich der EU wird dies jetzt mit der Umsetzung der Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung und der neuen Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen verbessert. Künftig wird die „Reisefähigkeit“ nationaler Gewaltschutzanordnungen in der gesamten Europäischen Union gewährleistet sein, dies insgesamt mit Ausnahme Dänemarks und teilweise mit Ausnahme Irlands. Es bedurfte hierfür auf europäischer Ebene zweier Rechtsakte. Denn das Gewaltschutzrecht innerhalb der Europäischen Union ist nicht einheitlich zivilrechtlich geregelt. Etwa in Spanien und Portugal ergehen Gewaltschutzanordnungen als Nebenfolge im Strafverfahren. Die Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung betrifft allein solche, dem deutschen Recht zunächst fremde Schutzanordnungen. Demgegenüber erfasst die Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen solche Anordnungen wie die nach dem deutschen Gewaltschutzgesetz, nämlich zivilrechtliche Schutzanordnungen. Richtlinie und Verordnung ergänzen sich also und sorgen gemeinsam für einen umfassenden EU-weiten Opferschutz im Bereich des Gewaltschutzrechts. Es ist nun aber nicht so, dass die Richtlinie uns zwingen würde, in Zukunft auch in Deutschland ein strafrechtlich ausgestaltetes Gewaltschutzsystem vorzuhalten. Und demgemäß bleibt es auch zukünftig dabei, dass Gewaltschutz in Deutschland allein zivilrechtlich erfolgt. Der vorliegende Entwurf ändert hieran nichts. Dies bedingt aber ein rechtstechnisches Novum, nämlich die Transformation strafprozessualer Anordnungen aus dem Ausland in unser zivilrechtliches System. Der vorliegende Entwurf enthält die hierzu erforderlichen gesetzlichen Maßgaben in den §§ 1 bis 11. Danach erlässt das angerufene deutsche Gericht auf der Grundlage der ausländischen Ausgangsmaßnahme eine vergleichbare Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz, aus der das Opfer dann in Deutschland vollstrecken kann. Darüber hinaus und für Deutschland von größerer Bedeutung führt der Entwurf die zivilrechtliche Verordnung durch. Ein sehr wesentlicher Gesichtspunkt ist hier die Abschaffung des sogenannten Exequaturverfahrens. Nach der Verordnung können EU-Bürger dann im EU-Ausland unmittelbar aus jeder nationalen zivilrechtlichen Gewaltschutzanordnung vollstrecken, ohne dass es dort noch eines zwischengeschalteten Anerkennungsverfahrens bedürfte. Dies gilt auch umfassend für alle Gewaltschutzanordnungen nach dem deutschen Gewaltschutzgesetz. Ein deutscher Bürger kann sich etwa bei spanischen Behörden unmittelbar auf die Geltung einer solchen deutschen Anordnung berufen, aus der dann nach spanischem Recht vollstreckt und Opferschutz hergestellt wird. Die Artikel 2 bis 4 enthalten notwendige Folgeänderungen in bereits bestehenden Gesetzen, so insbesondere im Kostenrecht. Ich bitte Sie nun um Ihre Zustimmung. Anlage 16 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen (Tagesordnungspunkt 26) Anja Karliczek (CDU/CSU): Mit der heutigen Lesung beginnt die Umsetzung der europäischen Richtlinie Solvency II in nationales Recht. Der Entwurf der Bundesregierung für das Gesetz zur Modernisierung der Finanzaufsicht liegt vor. Im März kommenden Jahres werden die Beratungen im Plenum und den Ausschüssen abgeschlossen sein. Dann haben wir ein Mammutprojekt bewältigt, denn mit Solvency II wird die Versicherungsaufsicht in Europa grundlegend reformiert. Die einheitliche europäische Aufsicht über Versicherungsunternehmen ist für uns hier in Deutschland ein Wechsel der Aufsichtsphilosophie und damit eine Herausforderung, die nur mit gemeinsamen Anstrengungen bewältigt werden kann. Sie trägt veränderten Rahmenbedingungen in der Finanzindustrie Rechnung und führt in einer hochregulierten Branche Entscheidung und Verantwortung weiter zusammen. Worüber reden wir im Detail? Das Gesetz zur Modernisierung der Finanzaufsicht in der Versicherungswirtschaft besteht aus drei Säulen: einer quantitativen, einer qualitativen und einer aufsichtsrechtlichen. Die quantitativen Anforderungen legen eine Eigenmittelunterlegung der Anlagen nach Risikoaspekten fest. Die qualitativen Anforderungen fordern den Nachweis der Unternehmen, dass Schlüsselpositionen funk-tionell vorhanden und mit der notwendigen fachlichen Qualifikation besetzt sind. Drittens legen die aufsichtsrechtlichen Anforderungen erhöhte Berichtspflichten an die BaFin fest. Die Zusammenarbeit der Unternehmen mit der Aufsicht wird gestärkt und schafft dadurch Möglichkeiten einer engeren Kontrolle. Schon im Jahr 2009 hat die EU-Kommission die Richtlinie verabschiedet. Die Arbeiten daran hatten schon vor der Finanz- und Währungskrise begonnen. Dennoch hat die Krise der Richtlinie in ihrer Entwicklung ihren Stempel aufgedrückt. Solvency II wird heute in einem Atemzug genannt mit den europäischen -Finanzmarktreformen von Basel II und III. Die Finanzkrise hatte weitaus weniger Auswirkungen auf die Versicherungswirtschaft als auf den Bankensektor. Die Versicherungskonzerne haben aus der Er-fahrung vergangener Zeiten eine sehr konservative Anlagestrategie gefahren. Dies hat dazu geführt, dass heute viele Versicherer überwiegend Anleihen in ihren Depots haben. Eine einseitige Anlagestrategie ist aber auch eine Form von hohem Risiko, da Marktveränderungen voll auf die komplette Anlage durchschlagen. Dieses Risiko wird unter Solvency II neu bewertet werden können. Mit der Risiko- und Prinzipienbasiertheit des novellierten Aufsichtsgesetzes werden diese Schwächen der heutigen Anlageverordnung ausgemerzt. Deswegen ist es richtig, mit Solvency II analog zu den Banken auch die Versicherer zu verpflichten, sich mit den zukünftigen Risiken ihrer Bilanzen stärker auseinanderzusetzen. Die Perspektive verändert sich. Solvency II fordert die Versicherungsunternehmen auf, ihre Bilanzen mit Blick darauf zu betrachten, was zukünftige Marktveränderungen für ihre Kapitalanlage bedeuten. Wir wollen mit Solvency II für die Versicherungsunternehmen mehr Stabilität schaffen; denn Versicherungen als Kapitalsammelstellen sind für unsere Volkswirtschaft von immenser Bedeutung. Allein die Lebensversicherer haben im letzten Jahr 900 Millionen Euro Anlagevermögen eingesammelt. Die Versicherungswirtschaft insgesamt hat 2013 fast 1,4 Billionen Euro an Kapital angelegt. Dies erklärt auch den hohen Regulierungsgrad der Branche durch das Versicherungsaufsichts- und Versicherungsvertragsgesetz. Er ist Ausdruck des gesamtgesellschaftlichen Stellenwertes der Branche für unsere Volkswirtschaft. Neben den wirtschaftlichen und finanzpolitischen Aspekten hat diese Reform aber auch eine gesellschafts-politische Aufgabe: Wir wollen sicherstellen, dass die Versicherten Vertrauen haben in die Garantien, die ihnen seitens der Versicherungsunternehmer gegeben wurden. Fast jeder Bürger hat eine Versicherung. Sie dienen der Absicherung von Lebensrisiken oder der Vorsorge auf das Alter. So sollen über 90 Millionen Lebensversicherungsverträge auch dafür sorgen, dass Einkünfte in der Zeit nach dem Erwerbsleben gesichert bleiben. Die Menschen werden glücklicherweise immer älter. Die Absicherung im Alter erhält damit aber eine immer größer werdende Bedeutung. Die Finanz- und Schuldenkrise hat Vertrauen in Kapitalanlagen zerstört. Mit Solvency II machen wir nun weitere Schritte, dieses Vertrauen wiederherzustellen. Wir tun dies, indem wir mit Solvency II den Fokus auf die langfristige Tragfähigkeit von Risiken durch Versicherungsunternehmen legen. Solvency II ist ein völlig neues Modell. Wurden die Eigenmittelanforderungen der Versicherer bislang pauschal bestimmt und die Risiken begrenzt, so folgt Solvency II einem risiko- und prinzipienorientierten Ansatz. Die Versicherer werden künftig frei entscheiden können, worin sie investieren. Sie müssen aber im Gegenzug alle eingegangenen Anlagerisiken adäquat mit Eigenmitteln unterlegen. Zudem müssen sie regelmäßig prüfen, ob sie ihr Risiko auch angemessen abbilden. Das ist ein grundsätzlich neues Modell der Versicherungsaufsicht. Natürlich bedeuten die neuen Eigenmittelvorschriften für die Unternehmen eine große Herausforderung. Auch die qualitativen Anforderungen sind nicht einfach umzusetzen. Gleiches gilt für die neuen Berichtspflichten. Mit ihnen ist viel Aufwand verbunden. Doch ich bin sicher: Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Große, weltweit agierende Versicherungsunternehmen brauchen stabile Strukturen. Deshalb führt an diesen Maßnahmen kein Weg vorbei. Welche Ziele verfolgen wir im Einzelnen mit Solvency II? Grundsätzlich wollen wir mit Solvency II den Schutz der Versicherten in Europa stärken. Wir wollen einheitliche Regeln für den Wettbewerb und für die Aufsicht schaffen. Die aufsichtsrechtlichen Bestimmungen werden erweitert, um Risiken und Missstände frühzeitig zu erkennen und gegen sie einschreiten zu können. Strengere Anforderungen an das Risikomanagement der Versicherer erhöhen die Sicherheit. Anlagen werden künftig nach ihrem Risiko bewertet und die Versicherungskunden erhalten mehr Transparenz. Zurück zu den drei Säulen: Säule I regelt die quantitativen Anforderungen. Die Kapitalausstattung eines Versicherungsunternehmens wird nach mathematischen Kriterien über die Risikostruktur errechnet und damit dessen Risikotragfähigkeit ermittelt. Die Bewertung von Aktiva und Passiva orientiert sich künftig am Markt und dessen Risiken und nicht mehr an der HGB-Bilanz. So ist eine Anleihe – wie wir in der Vergangenheit festgestellt haben – ja nicht immer risikolos. Andersherum ist ein kleines Investment einer großen Kapitalanlagegesellschaft in einen Investmentfonds junger Unternehmen kein unüberschaubares Risiko. Auf die Diversifizierung der Anlage kommt es an. Wir wissen, dass diese grundlegende Änderung in der Bewertung von Bilanzpositionen einhergehend mit den daraus entstehenden Kapitalbedarfen eine Herausforderung ist, die nicht mal eben hopp, hopp zu erfüllen ist. Deshalb sieht das Gesetz eine Übergangszeit von 16 Jahren vor, um diese Anforderungen zu erfüllen. Die neuen Anforderungen – das betone ich ausdrücklich und gehe davon aus, dass Sie es genauso sehen – sind ein wichtiger Beitrag zur Stabilität der Finanzbranche insgesamt. Mit den qualitativen Anforderungen der zweiten Säule erhält die Geschäftsorganisation der Unternehmen neue Regeln. Bestimmte Schlüsselfunktionen wie Risikocontrollingfunktionen, Compliance-Funktionen, versicherungsmathematische Funktion und interne Revision sind von den Unternehmen einzurichten und zu unterhalten. Dazu zählt auch ein adäquates Risikomanagementsystem. Kern des Riskomanagementsystems ist die Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung der Unternehmen, kurz ORSA. Durch die Kalkulation des eigenen Risikos werden Risiko- und Kapitalmanagement miteinander verknüpft. Die Inhaber der entsprechenden Schlüsselfunktionen werden ihre Eignung mit der Einführung von Solvency II nachweisen müssen. Säule III schließlich umfasst die Berichtspflichten gegenüber der Versicherungsaufsicht und der Öffentlichkeit. Einmal pro Jahr erhält die Aufsicht im sogenannten Regular Supervisory Report, RSR, qualitative und quantitative Informationen zur Geschäftstätigkeit, Governance und Risikolage des Unternehmens. In einem Solvenz- und Finanzbericht, dem Solvency and Financial Condition Report, SFCR, wird außerdem die Öffentlichkeit über die Risikosituation und das Kapitalmanagement sowie zur Geschäftstätigkeit informiert. Dies alles steht detailliert auf den vor uns liegenden 362 Seiten. Die werden wir nun in die Ausschüsse überweisen. Bis zum März des kommenden Jahres liegen damit intensive Beratungen vor uns, in denen die noch offenen Fragen erörtert werden. Die Versicherungswirtschaft ist ein tragender Teil des Finanzsystems unserer Volkswirtschaft. Gute Lösungen für eine moderne Aufsicht sind deshalb im Sinne jedes einzelnen Bürgers. Der Aspekt der Altersvorsorge treibt mich in diesem Zusammenhang sehr um. Die neue Aufsicht ist ein komplexes Gesetzeswerk. Deshalb wünsche ich mir eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten. Uns alle eint das Ziel, die Stabilität der Versicherungsunternehmen und damit das Vertrauen der Versicherten zu stärken. Ich denke, das ist aller Mühe wert. Manfred Zöllmer (SPD): Wir haben heute Vormittag das BRRD-Umsetzungsgesetz verabschiedet, das eine wichtige Säule der Bankenunion mit seinem Restrukturierungs- und Abwicklungsregime darstellt. Die europäische Bankenunion ist ein Quantensprung, was Aufsicht und Abwicklung angeht, und Ergebnis einer Lehre aus der globalen Finanzkrise. Die Lehren aus der Finanzkrise haben uns aber auch gezeigt, dass nicht nur von Banken eine Gefahr ausgeht, wenn sie im Zweifel zu groß sind, um zu scheitern, sondern auch von Versicherungsunternehmen. Es gibt auch in Europa systemrelevante Versicherungsunternehmen. „Too big to fail“ gilt auch für sie. Wir erinnern uns, dass nicht nur Banken durch den Steuerzahler gerettet werden mussten, sondern der amerikanische Steuerzahler musste mit 182 Milliarden Dollar für den Versicherungsgiganten American International Group, AIG, einspringen. Die Schulden hat dieser Versicherungskonzern zwar inzwischen zurückgezahlt, aber die Grundproblematik einer wirksamen und auch strengeren Finanzaufsicht für Versicherer bestand. Vor uns liegt nun ein Gesetzentwurf, der eine Verschärfung der nationalen Versicherungsaufsicht vorsieht. Damit wird die sogenannte Solvency-II-Richtlinie der EU in nationales Recht gegossen. Jahrelang ist über -Details intensiv diskutiert worden. Nun liegt ein über 360 Seiten starkes Mammutwerk vor uns. Die wichtigste Neuregelung im Gesetzentwurf ist eine Verschärfung der Eigenmittelvorschriften für Versicherungen. Diese orientieren sich nicht mehr allein an der Größe eines Versicherers, sondern berücksichtigen auch andere Risikofaktoren wie etwa Kapitalmarkt- und Kreditrisiken, die ebenfalls die Existenz eines Unternehmens bedrohen könnten. Diese neuen Eigenkapitalvorschriften sollen das „operationelle Risiko“ eines Versicherungsunternehmens berücksichtigen. Das ist das Verlustrisiko, das sich aus der Unangemessenheit oder dem Versagen von internen Prozessen, Mitarbeitern oder Systemen oder durch externe Ereignisse ergeben kann. Die Versicherungen werden mit dem Gesetz zukünftig verpflichtet sein, auch für diese Risiken Kapital bereitzuhalten. Dies ist ein sehr wichtiger Schritt zur Stabilität innerhalb der Versicherungsbranche. Ferner erfolgt im Gesetz eine Überarbeitung der Bewertungsvorschriften. Vermögenswerte und Verbindlichkeiten der Versicherungen sollen stärker an Marktwerten gemessen werden. Die Tochterunternehmen von großen Versicherern werden sich zusätzlichen Aufsichtspflichten unterziehen müssen, bei denen die Finanzlage der gesamten Versicherungsgruppe berücksichtigt wird. Mit dem Gesetz wird auch eine bessere Zusammenarbeit mit anderen nationalen Aufsichtsbehörden der EU auf den Weg gebracht. Das Aufsichtsrecht im europäischen Binnenmarkt wurde harmonisiert. Damit wird berücksichtigt, dass viele Versicherer grenzüberschreitend tätig sind. Beispielsweise müssen Erstversicherer zukünftig ihre gebuchten Prämienbeträge, die Höhe der Erstattungsleistungen und Rückstellungen nach Mitgliedstaaten aufgeschlüsselt mitteilen. Mit dem Gesetz soll auch eine gewisse Abhängigkeit von Ratings zurückgedrängt werden, um letztlich weitere Gradmesser für die Solvenz eines Unternehmens zu finden. Wie bei jedem Gesetzentwurf gibt es auch beim aktuellen bereits jetzt einige Kritikpunkte, die wir uns im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens genauer anschauen und die Gegenstand der Sachverständigenanhörung Anfang Dezember sein werden. Dabei geht es etwa um Aspekte der Testierfähigkeit der Solvabilität, die Umsetzung von Leitlinien der EIOPA oder Übergangsfristen. Manche Kritik scheint berechtigt, bei mancher scheint die Idee vorzuherrschen, mit Einführung von Solvency II würden langjährig etablierte nationale Standards komplett aufgegeben. Man wird nicht langgehegte Regelungswünsche quasi durch die Hintertür verwirklichen können. Andererseits scheint manche Befürchtung größer zu sein als die tatsächliche gesetzgeberische Auswirkung. Insgesamt werden wir darauf achten müssen, dass Maß und Mitte, also in diesem Fall insbesondere Verhältnismäßigkeit und Proportionalität, gewahrt bleiben. Neue Anforderungen sollten beispielsweise kleine Unternehmen nicht überlasten, weil etwa Berichtspflichten einen kaum zu erfüllenden bürokratischen Aufwand bedeuten. Die Größe der Versicherer und ihre jeweiligen Risiken müssen wir beachten und entsprechend bewerten – vergleichbar der Systemrelevanz bei den Banken. Die neuen Regelungen sollen zum 1. Januar 2016 in Kraft treten. Bis 31. März 2015 muss die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt sein. Dies ist ehrgeizig aber zu schaffen. Mit diesem Gesetzesvorhaben wird die Regulierung der Versicherungsbranche harmonisiert, die Branche risikofester gemacht, und insgesamt schaffen wir damit mehr und notwendiges Vertrauen. Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Mit der vorliegenden Novelle des Versicherungsaufsichtsgesetzes, VAG, geht die Umsetzung des neuen europäischen Aufsichtsrechts, Solvency II, in die vorerst letzte Runde. Es wird zweifelsohne ein Epochenwechsel eingeleitet. Aber dieser muss auch zwingend eingeleitet werden, damit der Versicherungsmarkt nicht zum Ursprung der nächsten großen Finanzkrise wird. Umso unverständlicher ist, dass die Versicherungsbranche und ihre Lobby schon wieder das große Klagelied anstimmen. Rechtzeitig dafür hat ja der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, GDV, seine Medienabteilung entsprechend aufgerüstet. Das wäre aber gar nicht nötig gewesen. Denn ohne Zweifel gibt es für die Versicherungsbranche viel zu tun, es wird ihr schon einiges abverlangt. Vielleicht wird an einigen Stellen auch zu viel abverlangt, wenn man zum Beispiel an die umfänglichen formalen Anforderungen, die Berichtspflichten denkt, die Kosten mit sich bringen. Gerade kleinere Versicherungen kann dies vor größere Herausforderungen stellen, weswegen man über geringere formale Anforderungen nachdenken sollte, solange weder die angestrebte systemische Risikobegrenzung gelockert wird noch der Verbraucherschutz bzw. Versichertenschutz leidet. Dies sind zugleich die beiden Begriffe, die nach Auffassung der Linken als Fixpunkte zur Beurteilung der VAG-Novelle herangezogen werden sollten. Aus dieser Perspektive bleiben dann doch einige Unklarheiten und Kritikpunkte bestehen. Ich möchte im Folgenden exemplarisch auf ein paar Probleme eingehen: Zum einen enthält der Gesetzentwurf nun die Regelungen, die bereits vor einiger Zeit mit dem Lebensversicherungsreformgesetz an den Start gebracht wurden. Insbesondere habe ich die §§ 139 und 145 des Entwurfs zu der Überschussbeteiligung vor Augen. Sie können nun sagen, dass es da doch gar nicht um die Aufsicht gehe, dass dies doch kalter Kaffee sei, aber dennoch ist für die Versicherten an dieser Stelle ein nochmaliger Hinweis wichtig: Mit dieser Regelung können ihnen die Bewertungsreserven gekürzt werden. Vertraglich zustehende Ansprüche an Überschüssen verbleiben so in den Versicherungsunternehmen. Die Versicherten sind die Gelackmeierten. Dass dies ungerecht ist, kann man nicht oft genug wiederholen. An dieser Stelle muss man zudem die freien Rückstellungen für Beitragsrückerstattung, freie RfB, erwähnen. Sie gehören zu dem großen Überschusstopf, aus dem an die Versicherten ausgeschüttet werden soll. Doch der vorliegende Gesetzentwurf verfestigt, dass diese freien RfB als Eigenmittelersatz missbraucht werden. Eigenmittel werden schlichtweg durch Kundengelder ersetzt, dadurch sinkt zugleich die Überschussbeteiligung der Versicherten. Auch dies ist höchst ungerecht. Taschenspielertricks sind aus meiner Sicht absolut fehl am Platze, wenn es darum geht, den Versicherungssektor auf Jahre zu stabilisieren und risikofester zu machen. Während die beiden eben genannten Fälle eher den Verbraucher- bzw. Versichertenschutz betreffen, beziehen sich folgende Punkte auf die Frage, ob im Gesetzentwurf tatsächlich für eine ausreichende systemische Risikobegrenzung gesorgt wird. Kritisch ist, dass sich durch die angestrebten Neuregelungen der Derivatehandel ausweiten kann, weil aufgrund der Risikosensitivität von Solvency II die Nachfrage nach Derivaten zur Absicherung eben dieser Risiken steigen wird. In § 15 Absatz 1 und § 124 Absatz 1 Nummer 5 VAG-E ist eine Begrenzung des Derivatehandels kaum gegeben, wenn derartige Finanzinstrumente schon zur „Erleichterung einer effizienten Portfolioverwaltung“ in großem Umfang Verwendung finden dürfen. Die Finanzkrise hat gezeigt, wozu der blauäugige Umgang mit Derivaten führen kann. Hier sollten also aus Sicht der Linken noch Regelungen eingebaut werden, um die gesamtwirtschaftliche Stabilität nicht zu gefährden. Des Weiteren sind die internen Modelle nicht unproblematisch, welche von Versicherungen anstelle eines Standardmodells zur Berechnung der aufsichtsrechtlichen Eigenmittelanforderungen – in Abhängigkeit vom Risiko der Vermögensanlagen – genutzt werden dürfen. Der Grundsatz bei Solvency II lautet: „Mehr Risiko erfordert mehr Sicherheiten“. Doch dieser Grundsatz wird öfter durchbrochen. Nicht nur dadurch, dass Staatsanleihen aus dem europäischen Wirtschaftsraum per se als risikolos angesehen werden. Gerade interne Modelle sind problematisch, weil sie die Möglichkeit bieten, eigene Risiken klein zu rechnen. Erst recht, wenn aufgrund sehr langer Übergangsfristen genug Zeit zum kreativen Tricksen bleibt. Ferner werden Kontrolle sowie Vergleichbarkeit zwischen den Versicherungen erschwert, wenn zig Modelle zur Berechnung der Solvenzkapitalanforderungen nebeneinander existieren. Dies erschwert letztlich die Arbeit der Aufsicht, was insgesamt die Finanzmarktstabilität beeinträchtigen kann. Hier setzt nun gleichsam eine grundsätzliche Kritik an: Die Eigenmittelanforderungen sind schon von der Versicherungslobby in Brüssel Stück für Stück nach unten gedrückt worden. Dadurch behalten die Versicherungsunternehmen höhere ausschüttungsfähige Gewinne – zulasten ihrer Kunden. Alles in allem werden die in Solvency II zugrunde gelegten Eigenmittelanforderungen die Versicherungen nicht schützen und festigen können, wenn es mal zu einem wilden Sturm statt zu einem lauen Lüftchen kommt. Es besteht aus unserer Sicht tatsächlich die Gefahr, dass derart Versicherungen zu einem Ursprung für eine kommende Finanzkrise werden können. Auch weil die Regulierungsvorschriften gleichgerichtet zu denen im Bankensektor wirken, was im Krisenfall verstärkend wirken kann. Die Gelackmeierten wären dann nicht nur die Versicherten, sondern gleich alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, wenn sie zur Rettung maroder Institute herangezogen werden. Ganz zu schweigen von den immensen Gefahren für die Altersvorsorge der Menschen, was uns Linke nur darin bestärkt, die Altersvorsorge von den Risiken des -Kapitalmarktes zu entkoppeln und statt Versicherungsunternehmen durch die Propagierung privater, kapitalgedeckter Altersvorsorge zu mästen, endlich wieder die gesetzliche Rente entscheidend zu stärken. Es führt kein Weg daran vorbei, aus Gründen der gesamtwirtschaftlichen Stabilität und des Versichertenschutzes beim Gesetzentwurf nachzubessern. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit Solvency II betreten wir bei der Regulierung der Versicherungen eine neue Welt. Der Systemwechsel -ähnelt dem des Übergangs von Basel I zu Basel II im -Bereich der Bankenregulierung. Wie bei den Regeln von Basel II den Banken wird nun den Versicherungsunternehmen die Möglichkeit eingeräumt, ihre Anlagerisiken mit mehr Eigenverantwortung selbst einzuschätzen und diese Einschätzungen als Grundlage für die Berechnung ihres regulatorischen Eigenkapitals zu verwenden. Beide Systemwechsel lehnen wir ab. Im Bankbereich hat sich inzwischen gezeigt, dass ein höheres Maß an Komplexität der Regeln keineswegs zu mehr Effizienz führt, wie anfangs behauptet wurde, und schon gar nicht zu mehr Stabilität. Im Gegenteil: In der Summe führte der Systemwechsel dazu, dass die Banken weniger -Eigenkapital vorgehalten haben. Es ist nicht erkennbar, warum die gleichen Hoffnungen im Versicherungssektor nun erfüllt werden sollten. Mehr Freiheiten zur Selbstregulierung durch das selbstständige Einschätzen der Risiken, sogenanntes ORSA: Own Risk Solvability Assessment, führen nicht zu stabileren Unternehmen und schon gar nicht zu stabileren Finanzmärkten. Doch damit nicht genug: Versicherungsunternehmen haben auch mehr Freiraum, zu entscheiden, in welche Anlagen sie investieren. Die Begrenzung auf bestimmte Anlageformen wird aufgehoben, die Anlageverordnung fällt ersatzlos weg. Es müssen lediglich Prinzipien der unternehmerischen Vorsicht eingehalten werden und die Anlage-risiken angemessen berücksichtigt werden. Was angemessen ist, so befürchte ich, wird in Hinterzimmern der Aufsichtsbehörden ausgehandelt. „Prinzipienbasiert -anstatt regelbasiert“ ist das Stichwort. Im Sinne einer einfachen, transparenten und nachvollziehbaren Regulierung ist das garantiert nicht, und ob es im Sinne der Versicherungsnehmer ist, muss sich erst noch zeigen, es darf jedoch zumindest bezweifelt werden. Schon die zahlreichen Auswirkungsstudien zur vermeintlich richtigen Kalibrierung der Modellparameter sowie die wiederholte Verschiebung des Inkrafttretens des neuen Aufsichtssystems zeigen, wie komplex dieses System ist. Schon die Rechtssetzung auf europäischer Ebene hat sich immer wieder verschoben. Dann sollte Solvency II 2012 in nationales Recht umgesetzt werden. Auch daraus wurde nichts. Inzwischen sind fünf Auswirkungsstudien durchgeführt, die Parameter wurden unter Lobbyeinfluss immer wieder verändert, und Solvency ist Ende 2014 immer noch nicht in Kraft. Einfache Regulierung sieht anders aus. Da die Bewertung der Anlagen zwingend dem Fair-Value-Prinzip folgt, bringt das neue Regulierungssystem zudem erhebliche Risiken prozyklischer Wirkungen mit sich. Das gesamte Finanzsystem wird in der Folge -dadurch noch volatiler. Denn wenn im Finanzmarkt die Kurse fallen, werden die Versicherungen nun mehr davon betroffen sein. Versicherungen, die ja in der Regel ein sehr langfristiges Geschäftsmodell haben, werden künftig eher im Gleichlauf mit den Banken handeln und ihr Verhalten den Risikomodellen anpassen. Für den -Finanzmarkt als Ganzen sind solche parallelen Entscheidungen im Versicherungs- wie im Bankbereich fatal. Eine mögliche Abwärtsspirale verschärft sich schneller und tiefer. Zwar werden Unternehmen weitgehend freie Hand haben, ihren Kapitalbedarf selbst zu ermitteln. Allerdings legt der Gesetzgeber wichtige Parameter, Rahmendaten und Aufsichtsprozesse fest. Hier stellt sich die Frage, welche Rolle dem Parlament zukommt. Die -entscheidenden Fragen und Kennzahlen der künftigen Regulierung werden auf die Fachebene delegiert. Im deutschen Umsetzungsgesetz gibt es zu diesem Zweck insgesamt 14 Verordnungsermächtigungen. Wir werden als Parlament lediglich über die leere Hülle Versicherungsaufsichtsgesetz abstimmen. Die diese Hülle ausfüllenden Normen und Vorschriften werden von der BaFin bzw. dem BMF und auf europäischer Ebene von -Kommission oder EIOPA erlassen. Nicht selten unter erheblichem Einfluss von Lobbygruppen, aber jeweils ohne Diskussion im Parlament. Das Parlament ist aus diesen Diskussionen, die letztendlich entscheidend für die Regulierungsziele sind, komplett ausgeschlossen. Die Struktur des deutschen Versicherungsmarkts ist traditionell sehr kleinteilig. Dies muss sich auch in der Regulierung widerspiegeln. Auch die kleinen Unternehmen müssen zwar strengen Regeln unterliegen in Bezug auf ihre Solvabilität. Allerdings dürfen sie nicht durch überzogene regulatorische Anforderungen wie Berichtspflichten oder Organisationserfordernisse überfordert werden. Wie bereits bei Basel II profitieren von den schönen neuen Freiheiten in erster Linie die großen Versicherungsunternehmen. Als besonderes Schmankerl können sie sogar wählen, für welche Risikoklassen sie ein internes Modell verwenden und für welche sie ihre Risiken mit dem Standardmodell bewerten. Eine Einladung zum Rosinenpicken, um die Kapitalanforderungen noch weiter herunterzurechnen. Kleine Unternehmen kommen zwar in den Genuss aller Nachteile einer überkomplexen Regulierung, sie können sie jedoch nicht in dem Maße nutzen, wie es die Großunternehmen tun -können. So müssen nach dem aktuellen Entwurf des Versicherungsaufsichtsgesetzes auch kleine Unternehmen ihre Solvabilitätsübersicht von einem Wirtschaftsprüfer testieren lassen. Die Solvabilitätsübersicht ist eines der Kernstücke der neuen Aufsicht. Die Prüfung dieses Kernstücks sollte eigentlich Sache der Aufsicht sein. Es ist schon falsch, dass die BaFin diese Kernaufgabe an private Wirtschaftsprüfungsgesellschaften auslagert. Noch falscher ist es allerdings, dass es für kleine Unternehmen keine Ausnahmen von der Vorschrift der Zertifizierung gibt. Hier könnte die BaFin ohne Probleme ihren Job selbst erledigen. Am Ende will ich einen positiven Punkt setzen: Aus unserer Sicht ist es gut, dass weiterhin an dem deutschen Konzept der Missstandsaufsicht festgehalten wird. Dies geht zwar über eine reine eins-zu-eins-Umsetzung hinaus, lässt der Aufsicht aber den nötigen Entscheidungsspielraum zum Eingreifen, wenn sie Missstände erkennt. Gut ist auch, dass künftig das Hauptziel der Beaufsichtigung durch die BaFin der „Schutz der Versicherten und der Begünstigten von Versicherungsleistungen“ sein wird. Dieses Ziel muss die BaFin erfüllen und die Aufgabe der Missstandsaufsicht endlich ernst nehmen! Derzeit scheint es allerdings so zu sein, dass die BaFin ihren gesetzlichen Auftrag, Missstände bei Versicherungsunternehmen zu vermeiden oder zu beseitigen, nicht erfüllt. Dafür gibt es viele Beispiele wie Debekas jahrzehntelangen illegalen Kauf von Daten, Ergos Lustreisen, Infinus’ Insolvenz oder den Fall Mehmet Göker mit seiner MEG. Nach den Bankenskandalen waren sich alle einig, dass es eine Neuaufstellung der Bankenaufsicht braucht. Eine solche Neuausrichtung muss es nun auch für die Versicherungsaufsicht geben. Wir haben als Gesetzgeber die Aufgabe, die umfassende Reform des Versicherungsaufsichtsgesetzes zu nutzen, um neben der Einführung der neuen Regeln auch dafür zu sorgen, dass diese adäquat umgesetzt werden. Dafür werden wir Grüne im Parlament uns mit aller Kraft einsetzen. Anlage 17 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Tagesordnungspunkt 27) Olav Gutting (CDU/CSU): Wir beraten heute in erster Lesung das Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften. Auch wenn der sperrige Titel etwas anderes suggerieren will, maßgeblich ist, dass mit diesem Gesetz überwiegend steuerrechtliche Anpassungen und einige technische Änderungen vorgenommen werden sollen, die in der Vergangenheit jeweils mit Jahressteuergesetzen geregelt wurden. Wir sind verpflichtet, mit diesem Gesetzentwurf insbesondere die betroffenen Regelungen der Abgabenordnung rechtzeitig an den neuem Zollkodex der Union anzupassen. Warum dies in diesem Jahr nicht in einem einzigen einheitlichen Gesetzentwurf erfolgen konnte – welcher vor allem zeitlich weit genug vor dem vorgesehenen Inkrafttretenszeitpunkt beraten und abgeschlossen werden kann –, müssen wir im Rahmen der Gespräche nochmals genauer eruieren. Für die Beraterbranche und die Steuerpflichtigen ist es sehr unbefriedigend, dass ein Gesetz mit wichtigen steuerrechtlichen Anpassungen nur wenige Tage nach seiner Verkündung in Kraft treten soll. Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden uns daher dafür einsetzen, nur diejenigen Regelungen zum 1. Januar 2015 in Kraft treten zu lassen, die absolut notwendig sind. Alle weiteren Regelungen sollten wir im Interesse der Genauigkeit und auch im Interesse der Steuerpflichtigen und deren Berater nochmals auf den Prüfstand stellen. Ob die zwischenzeitlich vorgelegten weiteren Maßnahmen, welche die Empfehlungen des Bundesrechnungshofes aufgreifen und der Sicherung des Steueraufkommens oder der Verfahrensvereinfachung im Besteuerungsverfahren dienen, unbedingt jetzt mit diesem Gesetz in dieser verfahrenstechnischen Eile beschlossen werden müssen, ist fraglich. Inhaltlich sind insbesondere folgende steuerliche Änderungen hervorzuheben: Erster Punkt: Mit der Erweiterung der Mitteilungspflichten der Finanzbehörden an die zuständigen Verwaltungsbehörden wollen wir die Geldwäsche weiter bekämpfen. Zweiter Punkt: Wir definieren mit diesem Gesetz den Begriff der Erstausbildung. Mit der Neuregelung liegt eine – bis zu einem Betrag von maximal 6 000 Euro im Kalenderjahr – als Sonderausgabe absetzbare Erstausbildung nur dann vor, wenn die Ausbildung mindestens 18 Monate in Vollzeit dauert und mit einer Abschlussprüfung abschließt. Wir wollen mit dieser Maßnahme Rechtsklarheit schaffen und verhindern gleichzeitig erhebliche Steuermindereinnahmen. Dritter Punkt: Geldwerte Vorteile, die ein Arbeitgeber seinem Arbeitnehmer im Rahmen von Betriebsveranstaltungen, zum Beispiel durch Weihnachtsfeiern gewährt, bleiben bis zu einem Betrag von 150 Euro steuer- und sozialversicherungsfrei. Die bisher geltende Verwaltungsvorschrift wird insoweit in Gesetzesform übernommen und der Betrag von 110 Euro auf 150 Euro angehoben. Auch mit dieser Regelung wollen wir Gestaltungsmöglichkeiten entgegenwirken, indem alle Aufwendungen des Arbeitgebers anteilig beim Arbeitnehmer berücksichtigt werden müssen. Vierter Punkt: Wir erweitern den Kindergeldanspruch während einer Zwangspause von höchstens vier Monaten, die zwischen einem Ausbildungsabschnitt und Zeiten der Ableistung des freiwilligen Wehrdienstes liegen. Fünfter Punkt: Besonders erwähnenswert ist die Einführung einer Verordnungsermächtigung als Schnellreaktionsmechanismus zur vorübergehenden Einführung neuer Tatbestände in das Reverse-Charge-Verfahren zur Vermeidung von Umsatzsteuerbetrug. Diese Maßnahme ist als Umsetzung von Unionsrecht zunächst auf einen Zeitraum von neun Monaten beschränkt. Auch bei der Steuergesetzgebung gilt der bekannte Satz, dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es eingebracht worden ist. Allein die Bundesländer werden – das zeigen die Erfahrungen aus den vorangegangenen Steuergesetzen – eine Vielzahl von Forderungen, teils technischer Natur, aber auch politisch umstrittene Regelungen in das Verfahren einbringen wollen. Ein Punkt, den wir bei den Beratungen nochmal aufgreifen sollten, ist das mit dem Kroatiengesetz eingeführte Reverse-Charge-Verfahrens bei Metalllieferungen. Hier haben sich in der Praxis erhebliche Abgrenzungsprobleme ergeben, die in der Folge auch auf andere Branchen abstrahlen. In den Beratungen können wir auch die vielfältige Kritik, vor allem der Familienunternehmen, an der Änderung der Wegzugsbesteuerung nach § 50 i EStG aufgreifen. Ich freue mich auf eine aufschlussreiche Sachverständigenanhörung und auf gute Beratungen in den nächsten Wochen. Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Mit dem Gesetzentwurf zum Zollkodexanpassungsgesetz werden vornehmlich die notwendigen Anpassungen der Abgabenordnung an die EU-Verordnung zur Festlegung des Zollkodex der Europäischen Union umgesetzt. Außerdem werden weitere steuerliche Regelungen getroffen, die unser Steuerrecht an Recht und Rechtsprechung der Union anpassen und Empfehlungen des Bundesrechnungshofes und Verfahrensvereinfachungen im Besteuerungsverfahren umsetzen. Vonseiten der Länder wurden bisher weitere 72 Regelungen gefordert, die rein technischer Natur sind, aber auch politisch umstrittene Sachverhalte umfassen. Ich halte es aber für mehr als bedenklich, wenn eine solche Vielzahl von Steueränderungen kurz vor Jahresende verabschiedet werden soll, sind doch die bereits jetzt vorgesehenen Gesetzesänderungen sehr umfangreich und von weitreichender Bedeutung. Den Steuerpflichtigen und ihren Beratern entsteht dadurch ein -erheblicher Mehraufwand, der so kurz vor dem Jahreswechsel wirklich unzumutbar ist. Wir sollten uns als Gesetzgeber im Interesse unserer Bürger dagegen wehren, Gesetze, insbesondere auf dem Gebiet des Steuerrechtes, zu verabschieden, deren Anwendung in der Praxis zu diesen Belastungen führt. Sowohl der einzelne Steuerpflichtige wie auch sein Berater sollten ausreichend Zeit im Kalenderjahr haben, um sich mit den durch das jeweilige Gesetz veränderten Verhältnissen ausführlich zu beschäftigen und vertraut zu machen. Von besonderer Bedeutung erscheint mir, dass wir unter anderem neben einigen Erleichterungen und Vereinfachungen im Einkommensteuerrecht, Änderungen in der Abgabenordnung und bei der Grunderwerbsteuer, eine Verordnungsermächtigung zur Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug mit diesem Gesetzentwurf einführen. Mit der Einfügung einer Ermächtigungsklausel zum § 13 b UStG erhält Deutschland die Möglichkeit, schnell auf erkannte Betrugsmaschen im Bereich der Umsatzsteuer zu reagieren. Mit diesem Schnellreaktionsmechanismus, der auf der Grundlage einer EU-Richtlinie -beruht, kann das Bundesfinanzministerium mit Zustimmung des Bundesrates schnell einen neuen Tatbestand in den § 13 b UStG einfügen und damit in der gebotenen Kürze Umsatzsteuerbetrug in bestimmten Fällen unterbinden. Im Rahmen der Beratung des Gesetzentwurfs besteht die Möglichkeit, auch noch weitere, wichtige Änderungen im Steuerrecht vorzunehmen. Ich denke hier insbesondere an den § 50 i EStG, der dringend einer Änderung bedarf. Wir haben diese Vorschrift durch das Kroatien-Gesetz vor kurzem geändert. Leider stellt sich nun heraus, dass nicht nur diese Änderung, sondern bereits die ursprüngliche Fassung das deutsche Steuerrecht wieder einmal wesentlich komplizierter macht, und darüber hinaus auch noch die Umwandlung von Unternehmen im In- und Ausland dramatisch erschwert bzw. ganz verhindern wird. Faktisch wird durch diese Vorschrift nun auch noch ein wesentlicher Teil des Umwandlungssteuerrechts ausgehebelt. Wirtschaftlich notwendige unternehmensinterne Umstrukturierungen und Übertragungen sind in vielen Fällen nur noch unter Aufdeckung und Versteuerung der stillen Reserven möglich. Dies trifft in erster Linie Familienunternehmen, deren Mitglieder zumindest teilweise im Ausland, hier in Staaten mit Doppelbesteuerungs-abkommen, wohnen, zum Beispiel wegen der Ausbildung der schon geringfügig beteiligten – mindestens 1 Prozent – Kinder oder aber auch, um ausländische Aktivitäten des Betriebes zu leiten. Das betrifft auch Schenkungen und Erbschaften, selbst bei einem inländischen Nachfolger. Die Tragweite der Gesetzesänderung, die letztlich auf einer Regelung zur Lösung eines Einzelfalles beruht, ist bei den damaligen Beratungen wohl übersehen worden. Deshalb sollten wir jetzt die Gelegenheit nutzen und diesen Fehler korrigieren. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner die notwendigen Schritte bei der Beratung dieses Gesetzentwurfes vornehmen würden und die dringend notwendige Korrektur des § 50 i EStG im Zuge der Beratungen dieses Gesetzentwurfes beschließen könnten. Ich wünsche uns bei diesem Gesetzentwurf noch weitere gute Ideen und kluge Beratungen in allerdings sehr kurzer Zeit. Dr. Jens Zimmermann (SPD): Wir beraten heute in erster Lesung das Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften, das nichts anderes ist als das Jahressteuergesetz 2015. Ich freue mich, als -Berichterstatter für die SPD-Bundestagsfraktion das Zollkodexanpassungsgesetz im Gesetzgebungsverfahren begleiten zu dürfen. Wie das Jahressteuergesetze so an sich haben, finden wir hierin eine Reihe an redaktionellen Änderungsvorschlägen quer durch das deutsche Steuerrecht, die politisch unstrittig sind. Es ist deshalb nicht erforderlich, auf jeden einzelnen Änderungsvorschlag einzugehen. Viele Änderungen sind nötig, um das deutsche Steuerrecht an Recht und Rechtsprechung der Europäischen Union anzupassen. Weitere Änderungen berücksichtigen Empfehlungen des Bundesrechnungshofes oder dienen dazu, die Besteuerungsverfahren zu vereinfachen. Gleichwohl möchte ich betonen, dass es sich hierbei vielleicht um unstrittige, aber keineswegs um unwichtige Änderungen handelt. Wir sind uns hier mit unserem Koalitionspartner einig: Diese Änderungen erleichtern den Finanzbeamtinnen und Finanzbeamten in den Finanzbehörden für ihre immens wichtigen Aufgaben ihre tägliche Arbeit. Auch wenn wir in den Beratungen noch ganz am Anfang stehen: Es zeichnet sich ab, dass es neben vielen technischen Änderungen durchaus auch einige wichtige inhaltliche Punkte gibt, über die im Gesetzgebungsprozess diskutiert werden wird. Lassen Sie mich also die Gelegenheit nutzen, einige dieser Punkte anzusprechen. Ich denke hier unter anderem an den Vorschlag, der den Begriff einer Erstausbildung gesetzlich definieren soll. Bisher waren die Kriterien einer Erstausbildung nicht gesetzlich geregelt. Von der Frage, ob jemand eine Erstausbildung abgeschlossen hat, hängt allerdings ab, ob die Kosten einer weiteren Ausbildung steuerlich als Werbungskosten oder Betriebsausgaben absetzbar sind. Der Bundesfinanzhof hat die bisherige Verwaltungspraxis in einem Urteil von 2013 kritisiert. Eine klare gesetzliche Definition, wann eine Erstausbildung vorliegt, ist durchaus sinnvoll. Für die Betroffenen und die Finanzbehörden gleichermaßen. Denn eine Skilehrer-Lizenz ist nicht das Gleiche wie eine dreijährige Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker. Die jetzt im Entwurf vorgesehene Mindestdauer von 18 Monaten, die für eine Einstufung als Erstausbildung vorliegen muss, scheint allerdings zu lang. Wir werden uns hier gemeinsam mit unserem Koalitionspartner für eine Verkürzung der Mindestdauer einsetzen. Gleichzeitig werden wir in den Beratungen im Finanzausschuss intensiv prüfen, ob für bestimmte Berufsgruppen Ausnahmen sinnvoll sein können. Ich freue mich außerdem, dass eine Änderung in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde, bei der es um den 2013 eingeführten INVEST-Zuschuss geht. Momentan wird der aus Bundesmitteln gezahlte Zuschuss besteuert. Der Zuschuss verliert damit natürlich einen Teil seiner Wirkung. Es ist deshalb nur sinnvoll und konsequent, dass hier eine Steuerbefreiungsvorschrift verabschiedet wird, die rückwirkend auch für 2013 gilt. Die SPD-Bundestagsfraktion möchte die Gründerszene in Deutschland stärken und die Rahmenbedingungen für Beteiligungskapital verbessern. Noch zu klären ist hierbei allerdings, ob diese Regelung in diesem Gesetzentwurf gut aufgehoben ist. Der Bundeswirtschaftsminister hat in letzter Zeit oft deutlich gemacht, dass er die deutsche Gründerszene mit einem umfassenden Maßnahmenpaket beleben möchte. Es wird deshalb noch zu diskutieren sein, ob sich die rückwirkende Steuerbefreiung für den INVEST-Zuschuss nicht noch besser in einen kommenden Gesetzentwurf des Bundeswirtschaftministeriums für ein Venture-Capital-Gesetz fügt, in dem ein ganzes Bündel an ähnlichen Maßnahmen enthalten sein wird. Natürlich werden wir bei dieser Regelung auch die Verbesserungsvorschläge aus den Ländern aufmerksam prüfen. Als Berichterstatter der SPD-Bundestagsfraktion für das Thema Geldwäscheprävention begrüße ich ausdrücklich eine Regelung, die bereits im Entwurf zum Kroatien-Gesetz enthalten war, den Weg in das Gesetz -allerdings nicht gefunden hat. Die vorgesehene Änderung des Paragrafen 31b der Abgabenordnung soll die Mitteilungspflichten der Finanzbehörden zur Bekämpfung der Geldwäsche erweitern. Ein effizienterer -Austausch zwischen den Finanzbehörden und den Ermittlungsbehörden ist ein richtiger Schritt und ein wichtiges Zeichen gegen Geldwäsche. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehört seit Jahrzehnten zum Markenkern der SPD. Als Bundestagsfraktion begrüßen wir deshalb selbstverständlich die Maßnahme im Gesetzentwurf, die bestimmte Serviceleistungen des Arbeitgebers und kurzfristige Betreuungskosten für Pflegebedürftige und Kinder bis zu einem bestimmten jährlichen Betrag steuerfrei stellen soll. Die Regelung im Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung. Sie muss aber jenen nützen, die es wirklich brauchen. Wir begrüßen deshalb die Empfehlung der fachlich zuständigen Ausschüsse des Bundes-rates, durch die die Steuerbefreiung auf Kindergärten und Horte eingegrenzt werden soll. Wir werden uns aber mit einigen Vorschlägen im Gesetzentwurf auch kritisch auseinandersetzen müssen. Dies betrifft unter anderem die Anhebung der Förderhöchstgrenze von 20 000 auf 24 000 Euro bei der Basisversorgung im Alter. Uns erscheinen nicht nur die berechneten Mindereinahmen von 20 Millionen Euro jährlich als zu niedrig. Wir sehen hier außerdem eine Ungleichbehandlung der Rentensysteme, weil beispielsweise der Förderhöchstbetrag der Riesterrente unverändert bleibt. Wir teilen hier die Auffassung der Länder: Der bestehende Höchstbetrag von 20 000 Euro reicht völlig aus, um eine angemessene Förderung der Altersvorsorge bei Selbstständigen herbeizuführen. Zumal diese Regelung nur einen Bruchteil aller Versicherten beträfe. Wir begrüßen deshalb die Empfehlung der Länder, diese Regelung aus dem Gesetzentwurf zu streichen. Wir haben bereits in den Verhandlungen zum Kroatienanpassungsgesetz (dem Jahressteuergesetz 2014) und in den aktuellen Verhandlungen zur strafbefreienden Selbstanzeige gezeigt, dass wir es auch bei einem anderem Thema ernst meinen: Wir wollen den Missbrauch des Steuerrechts verhindern und der Ausnutzung von Regelungslücken im – bekanntermaßen sehr komplexen – deutschen Steuerrecht einen Riegel vorschieben. Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich für eine faire und leistungsgerechte Besteuerung ein, die für Privatpersonen ebenso gelten muss wie für Unternehmen. Hierbei gibt es drei Punkte, die in den Verhandlungen zu diesem Gesetz eine wichtige Rolle für uns spielen werden. Denn solche fragwürdigen Steuersparmodelle kosten nicht nur den Staat Steuereinnahmen und schaden damit der Gemeinschaft: Jeder einzelne ehrliche Steuerzahler wird damit verhöhnt. Ein Paradebeispiel für solche Steuervermeidungsstrategien ist der im Jahre 2012 abgelaufene „Porsche-Deal“. Im Jahre 2012 hat Volkswagen den Automobilhersteller Porsche übernommen. Erworben hat die Volkswagen AG die Porsche Holding SE dadurch, dass sie eine einzelne Stammaktie auf die Porsche Holding SE übertragen hat. Der Erwerb wurde durch das Finanzamt Stuttgart nicht als Kauf bewertet, bei dem die -üblichen Steuern angefallen wären. Stattdessen wurde dies als Umstrukturierung nach dem Umwandlungsgesetz eingestuft, mit der Folge, dass eine Steuerbefreiung eingesetzt hat. Diese Konstruktion war nach geltendem Recht zwar legal, gewünscht ist sie allerdings nicht. Denn hierbei handelt es sich ohne Frage um eine zielgerichtete Steuervermeidung, die dem Staat geschätzte Steuereinnahmen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro vorenthalten hat. Wir als SPD-Fraktion begrüßen deshalb ausdrücklich, dass die Länder mit SPD-Regierungsbeteiligung in den Empfehlungen der damit befassten Fachausschüsse des Bunderates zum Zollkodexanpassungsgesetz einem -Antrag der Länder Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz zugestimmt haben, der diese unglückliche Regelungslücke schließen soll. Meine Erwartung ist, dass es bei der Änderung des Umwandlungssteuerrechts nur um Detailfragen gehen wird, die hier mit unserem Koalitionspartner CDU/CSU zu klären sind. Ich gehe davon aus, dass wir uns mit der CDU/CSU in der Sache einig sind. Deshalb haben wir auch im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir prüfen werden, wie ein solcher Anteilstausch nicht mehr systemwidrig steuerfrei gestaltet werden kann. Ich freue mich in dieser Frage auf konstruktive Verhandlungen. Denn wir können hier – Bund und Länder gemeinsam – ein weiteres wichtiges Zeichen gegen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung setzen. Je früher, desto besser. Wir als SPD-Fraktion unterstützen außerdem zwei weitere Äntrage, die die gleiche Stoßrichtung haben. Ein Antrag widmet sich der Verhinderung sogenannter Hybrider Finanzierungen. Was mysteriös klingt, ist eigentlich ganz einfach: Es gibt global agierende Unternehmen, die bewusst die Unterschiede in der steuerlichen Einstufung von Unternehmensformen oder Finanzierungsinstrumenten in verschiedenen Staaten ausnutzen, um davon zu profitieren. Steuern können dadurch gespart werden, dass es entweder zu einer doppelten Nichtbesteuerung oder zu einem doppelten Betriebsausgabenabzug kommt. Der Bundesrat hat hier die Bundesregierung bereits im Mai aufgefordert, beides unmöglich zu machen. In der Sache stimmen wir innerhalb der Bundesregierung überein. Der Bundesregierung möchte ich für ihren Einsatz auf internationaler Ebene im Rahmen der sogenannten BEPS-Initiative der OECD ausdrücklich danken. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, den -Abschluss an den Arbeiten zur BEPS-Initiative im nächsten Jahr abzuwarten, bis wir hier konkrete gesetzgeberische Maßnahmen ergreifen. Der Bundesrat aber argumentiert, dass die Arbeiten in dem Bereich Hybrider Finanzierungen weitgehend abgeschlossen sind. Wir teilen die Auffassung der Länder im Wesentlichen; denn auch hier gilt die Devise: Je früher und schneller wir diese Lücke internationaler Steuervermeidung schließen, desto besser. Ein weiteres Abwarten können wir uns in beiden Fällen eigentlich nicht leisten. Wir werden deshalb hier in den Verhandlungen mit den Unionskollegen die Argumente für und gegen die Aufnahme dieser Regelungen in den Gesetzentwurf intensiv diskutieren. Einen weiteren Prüfauftrag aus den Ausschüssen des Bundesrates, bei dem es um die Besteuerung von Streubesitzdividenden geht, sehen wir positiv. Die Umsetzung eines EuGH-Urteils 2011, mit dem die vorherige Steuerfreistellung von Streubesitzdividenden eingeschränkt wurde, hat zu einer Ungleichbehandlung von Dividenden und Veräußerungsgewinnen aus Streubesitzbeteiligungen geführt. Die Folge: Seither werden Erträge aus der Veräußerung gegenüber Dividenden bevorzugt, was zu unerwünschtem steuerlichem Gestaltungsspielraum geführt hat. Wir wollen aber Anpassungen vermeiden, die zu Steuerausfällen führen. Hier wird zu diskutieren und zu prüfen sein, ob diese Regelung in dieses Gesetz aufgenommen wird. Ich glaube, obige Aufzählung hat deutlich gemacht, dass es einigen Gesprächsbedarf in den Verhandlungen geben wird. Ich jedenfalls freue mich auf eine Beratung des Gesetzentwurfs und der Länderempfehlungen im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages und hoffe auf eine gute Zusammenarbeit mit allen Berichterstattern der anderen Fraktionen. Richard Pitterle (DIE LINKE): Wir diskutieren heute Abend das „Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“. Einfacherer Titel war nicht zu finden. Wie wäre es einfach mit „Jahressteuergesetz 2014 – Teil 2“? Warum dieser Etikettenschwindel? Das erste Jahressteuergesetz hieß Kroatiengesetz, das zweite heißt jetzt Zollkodexanpassungsgesetz. Aber was in diesen beiden Gesetzen steht, hat wenig mit der Überschrift zu tun. Warum darf denn ein Jahressteuergesetz nicht Jahressteuergesetz heißen, Herr Schäuble? Was ist daran Verwerfliches, meine Damen und Herren? Jedes Jahr gibt es Änderungen und Anpassungsbedarf im Steuerrecht, sei es aufgrund der Rechtsprechung der Gerichte, sei es aufgrund geänderter EU-Vorgaben oder sei es wegen entdeckter Steuerlücken. Selbst die Regierung spricht in ihrem Gesetzentwurf von einem fachlich notwendigen Gesetzgebungsbedarf in verschiedenen Bereichen des Steuerrechts. Das reicht doch für ein eigenständiges Jahressteuergesetz und zwar auch dann, wenn man berücksichtigt, dass die Regierungskoalition steuerpolitischen Stillstand bis 2017 vereinbart hat. Doch auch wenn die Bundesregierung in den nächsten drei Jahren steuerpolitisch in ihrem Koalitionsvertrag nichts geplant hat, dreht sich die Erde trotzdem, und das Steuerrecht schreitet weiter voran. Gerade bei Jahressteuergesetzen, egal wie sie von Ihnen auch genannt werden mögen, gibt es im parlamentarischen Ablauf viele Änderungen. Das wird auch bei diesem Gesetz so sein. Wir haben auch eine längere Liste an Änderungswünschen, zum Beispiel bei der kleinlichen Regelung der Obergrenze von 150 Euro pro Jahr, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Betriebsveranstaltungen teilnehmen. Mit den vorgesehenen steuerfreien Serviceleistungen des Arbeitgebers wird das Problem der Rückkehr von Beschäftigten nach der Elternzeit oder der Unterstützung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die pflegebedürftige Angehörige betreuen, nicht wirklich adressiert. Ein Freibetrag von 600 Euro je Kalenderjahr und Arbeitnehmer, also monatlich durchschnittlich 50 Euro, wird den hohen Belastungen nicht gerecht. Die behauptete bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss woanders ansetzen. Die Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben gesellschaftliche und ökonomische Ursachen. Einige Ihrer geplanten Änderungen werden unter der Überschrift „Steuervereinfachungen“ verkauft. Doch der Arbeitsaufwand für die Steuerzahlerin und den Steuerzahler bleibt bestehen, denn er wird genau nachrechnen müssen, ob er mit seinen Ausgaben unter der Pauschalgrenze bleibt oder doch nach Einzelbelegen abrechnen muss. Interessant ist aber auch, was nicht im Gesetzentwurf steht beziehungsweise wieder nicht angegangen wird. Aber das ist bei einer Bundesregierung, die erklärtermaßen in der Steuerpolitik nichts ändern will, nicht überraschend. Schon aus dem Vorschlag des Bundesrates ist sehr viel herausgestrichen worden. Die Frage nach der Verzinsung von Steuernachzahlungen hat die Bundesregierung nicht aufgegriffen, obwohl das höchste Gericht, der Bundesfinanzhof, den derzeitigen Zinssatz von 6 Prozent nur bis zum März 2011 für rechtens erklärt hatte. Die Europäische Zentralbank hat mitgeteilt, dass sie auch in den nächsten Jahren eine absolute Niedrigzinspolitik verfolgt. Daran zweifelt auch keiner. Inzwischen müssen Banken sogar Strafzinsen zahlen, wenn sie bei der Europäischen Zentralbank Geld deponieren – erst waren es 0,1 Prozent, das ist inzwischen aber verdoppelt worden auf 0,2 Prozent. Viele Unternehmen müssen ebenfalls ihren Banken Zinsen zahlen, wenn sie ihr Geld kurzfristig bei ihnen stehen lassen. Inzwischen hat die erste Bank auch ihren Sparern einen negativen Einlagenzinssatz für Tagesgeldkonten aufgedrückt. Der Staat finanziert sich zu fast 0 Prozent, greift aber trotzdem bei Steuernachzahlungen mit 6 Prozent gierig zu. Hier hätte ich von Ihnen eine Reaktion erwartet, zumal wir Ihnen im Rahmen unserer Kleinen Anfrage Anfang Oktober dieses Problem bereits detailliert erläutert hatten. Existenzgründern, die voraussichtlich nicht mehr als 17 500 Euro Bruttoumsatz im ersten Geschäftsjahr erwirtschaften werden, also Kleinunternehmer sind, -wollen wir eine Alternative bei ihren Umsatzsteuervoranmeldungen eröffnen. Sie müssen jetzt ihre Umsatzsteuervoranmeldungen monatlich abgeben, statt wie sonst üblich je nach Umsatzhöhe quartalsweise. Diese Ausnahme von der Regel hat nicht zu einer Verringerung des Umsatzsteuerbetruges beigetragen, wie vom Gesetzgeber ursprünglich gedacht. Wir schlagen alternativ daher vor, Existenzgründern die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Umsatzsteuererklärung auf Wunsch quartalsweise abgeben zu können. Über die seit fast 50 Jahren unveränderte Betragsgrenze für geringwertige Wirtschaftsgüter, das sind 410 Euro, könnte man auch mal nachdenken – in Verbindung mit dem Wahlrecht zur Bildung eines Sammelpostens für alle Wirtschaftsgüter mit Anschaffungs- oder Herstellungskosten zwischen 150 und 1000 Euro. Wie bereits gesagt: Gerade bei Jahressteuergesetzen gibt es besonders viele Änderungen im parlamentarischen Prozess. Ich freue mich auf die Diskussionen mit Ihren Fachpolitikern. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unsere Bundesregierung weigert sich beharrlich, ein Jahressteuergesetz vorzulegen, und denkt sich für ihre Gesetze möglichst trivial klingende unpolitische Namen aus. Nun also zunächst einmal Glückwunsch an die Öffentlichkeitsarbeit des BMF zur tollen Wortschöpfung: „Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“ und zu dem Debattenbeitrag um drei Uhr nachts im Deutschen Bundestag. Das ist aber auch die einzige Anerkennung an die Regierung, die ich hier zollen kann. Denn mit der Vorlage dieses Gesetzes beweisen Herr Schäuble und die Regierungsfraktionen, welchen Stellenwert sie ihrer Steuerpolitik beimessen – nämlich gar keinen. Das ist eine nicht akzeptable, verantwortungslose Verweigerungshaltung! Denn es gibt steuerpolitisch durchaus Handlungsbedarf. Ich will hier nur zwei Beispiele aufführen: Nach wie vor gibt es vollkommen irrationale Regelungen beim verminderten Mehrwertsteuersatz. Nach wie vor haben wir mit der bürokratielastigen Abschreibungsvorschrift für geringwertige Wirtschaftsgüter eine Regelung, die gerade für den Mittelstand dringend einer Überarbeitung bedarf. Würde die Bundesregierung ihre Verantwortung wahrnehmen, würden wir heute ein Jahressteuergesetz beraten, das zum Beispiel diese beiden Fehlregulierungen in der Steuergesetzgebung korrigiert. Das hätte dann eine Bedeutung, und wir würden heute zu prominenterer Zeit die Debatte führen. Aber ein wichtiges Thema wird doch in dem Gesetzentwurf angesprochen: Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel erwähnt in jedem zweiten Statement die Bedeutung der Förderung von Wagniskapital, und in diesem Gesetz befindet sich seine zentrale -Maßnahme, mit der er dies erreichen will, nämlich die Freistellung der Zuschüsse aus dem INVEST-Programm von der Einkommensteuer. Ich finde es richtig, dass sich die Bundesregierung des Themas Wagniskapitalfinanzierung annimmt. Aber dann muss man doch fragen, ob mit der vorgeschlagenen Maßnahme, mit einem Entlastungsvolumen von 10 Millionen Euro, überhaupt ein Effekt erzielt werden kann. Zudem wirft der Vorschlag bei mir einige Fragen auf. Zuschüsse sind grundsätzlich steuerpflichtige Einkünfte, und die Steuerfreistellung eines einzigen Zuschussprogramms ist ordnungspolitisch zumindest fragwürdig. Eine ordnungspolitisch saubere Lösung wäre, das Förderprogramm aufzustocken und so die Steuerpflicht zu kompensieren. Diese Maßnahme hätte zudem die Wirkung, dass finanziell nicht so erfolgreiche Beteiligungen ihre Risiken stärker abgefedert bekommen, weil bei ihnen die Steuerpflicht schlicht geringer ist, sie aber potenziell höhere Zuschüsse erhalten würden. Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir an dieser Stelle gemeinsam im Gesetzgebungsprozess den Vorschlag der Bundesregierung nochmals kritisch hinterfragen. Die Stellungnahme der Fachausschüsse des Bundesrates untermauert meine Einschätzung, zumal hier vorgeschlagen wird, auch -andere Zuschussprogramme ähnlich dem INVEST--Zuschuss von Wagniskapital steuerfrei zu stellen und das vorher vom Wirtschaftsministerium bescheinigen zu lassen. Mein Credo wäre hier: Nein, wir brauchen keine Ausnahmen, sondern müssen ordnungspolitisch sauber arbeiten und so Bürokratie vermeiden. Auch würden wir die Intransparenz von Förderprogrammen weiter erhöhen, wenn wir steuerfrei gestellte Zuschüsse von anderen Förderungen unterscheiden müssten. Das Thema Bürokratie ist auch für die Vorschläge zur Betrugsbekämpfung bei der Umsatzsteuer von hoher Bedeutung. Die Bundesregierung will einen nationalen Schnellreaktionsmechanismus zur punktuellen Einführung neuer Reverse-Charge-Tatbestände einführen und die monatliche Umsatzsteuervoranmeldung auch bei -Firmenübernahmen einführen. Diese Pflicht hatten bisher nur neu gegründete Unternehmen. Letztlich ist eine wirklich objektive Bewertung beider Maßnahmen kaum möglich, schlicht weil der Bundestag als Legislative über keinerlei Informationen über aufgetretene Betrugsfälle und Umfang dieses Betruges verfügt. Wenn ich -davon ausgehe, dass Betrug in relevantem Maß stattgefunden hat und weiter stattfindet, dann sind beide Änderungen wohl geboten. Dennoch sehe ich beim nationalen Schnellreaktionsmechanismus, wie er vom BMF vorgeschlagen wird, Nachbesserungsbedarf. Das BMF will sich selbst dazu ermächtigen, mit Zustimmung des Bundesrates neue -Reverse-Charge-Tatbestände per Verordnung zu erlassen. Dabei wird der Deutsche Bundestag völlig übergangen und kann nur zusehen, welche Regelungen per BMF-Schreiben verkündet werden. Erst nach einer Genehmigung durch die EU-Kommission für den neuen Ausnahmetatbestand soll der Bundestag für einen normalen Gesetzesänderungsprozess beteiligt werden. Der Bundestag sollte schon früher in den Entscheidungs-prozess eingebunden werden, dies schon allein deshalb, um die hinter einer solchen Entscheidung stehenden -objektiven Daten öffentlich zu machen. Die Praxis, dass per BMF-Schreiben Steuerrecht materiell geändert wird, ist generell höchst fragwürdig und sollte nicht weiter befördert werden. Die Bundesländer haben in ihrer ersten Stellungnahme über den Bundesrat deutlich gemacht, dass sie anders als Herr Schäuble und die Bundesregierung durchaus Bedarf an größeren steuerlichen Änderungen sehen. Dabei haben sie insbesondere Steuervereinfachungen und den Schluss bestehender Steuergestaltungsoptionen im Visier. Hier müssen Sie sich in den Regierungsfraktionen und in der Bundesregierung schon fragen lassen, warum Sie nicht selber tätig werden. Die vom Bundesrat vorgelegten Vereinfachungsvorschläge verdienen zumindest eine kritische Würdigung. Letztlich soll insbesondere durch höhere Pauschal-beträge und der Einschränkung von Mitnahmeeffekten an anderer Stelle eine aufkommensneutrale Vereinfachung des Steuerrechts erreicht werden. Natürlich müssen wir uns genau ansehen, wer von diesen Vorschlägen potenziell schlechter- und bessergestellt wird. Aber eine substanzielle Vereinfachung des Steuerrechts wäre eine ausgiebige und ernsthafte Prüfung sicher wert. Da die Bundesregierung sich hier schon mehrfach verweigert hat, bin ich aber eher skeptisch. Darüber hinaus haben die Ausschüsse des Bundes-rates einige Vorschläge im Unternehmensteuerbereich gemacht. Ich begrüße, dass man sich mit der Besteuerung von Veräußerungsgewinnen aus Streubesitz befasst. Hier war schon im Gesetzgebungsprozess 2013 klar, dass ein Steuerschlupfloch offengelassen wird, wenn -Dividenden aus Streubesitz besteuert werden, Veräußerungsgewinne aber nicht. Deswegen hätten wir Grünen uns damals auch eine andere Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes gewünscht; leider konnte sich dieser Vorschlag bisher nicht durchsetzen. Die beste Lösung für die Besteuerung von Streubesitzdividenden wäre gewesen, eine Veranlagungsoption für ausländische Gesellschaften in Deutschland zu schaffen. Schon bei anderen Verstößen gegen die Grundfreiheiten im Binnenmarkt hat Deutschland Regelungen getroffen, die es dem Ausländer erlauben, sich voll wie ein Inländer besteuern zu lassen, zum Beispiel bei der Erbschaftsteuer. Eine analoge Regelung wäre auch bei der Dividendenbesteuerung möglich. In Deutschland würden die ausländischen Gesellschaften mit ihren Dividenden von Inländern dann zu Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer veranlagt. Damit würde in Deutschland die gleiche Steuerbelastung hergestellt wie bei einer inländischen Gesellschaft. Ich begrüße ebenfalls, dass der Bundesrat konkrete Vorschläge macht, wie hybride Steuergestaltungen noch besser einzudämmen sind. Hier muss man sich die -Details sicher nochmal ansehen, aber die grundsätzliche Richtung stimmt. Das Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften steht an der Stelle eines Jahressteuergesetzes, das an vielen Stellen dringend notwendige Korrekturen an der bestehenden Gesetzgebung hätte vornehmen müssen. Die Bundesregierung hat sich dieser Verantwortung nicht gestellt. Ich kann nur hoffen, dass es im Zuge der jetzt anstehenden Beratungen in den Ausschüssen und im Bundesrat gelingen wird, doch noch dringende Änderungen in das Gesetz einzubringen. Anlage 18 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurf eines Gesetzes von der Bundesregierung zu dem Europäischen Überein-kommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern (revidiert) (Tagesordnungspunkt 28) Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Am 23. Mai dieses Jahres hat Deutschland das revidierte europäische Übereinkommen über die Adoption von Kindern unterzeichnet. Ziel des Übereinkommens ist die Vereinheitlichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten des Europarats bezüglich der Adoption von Kindern. Nach Artikel 59 Absatz 2 des Grundgesetzes ist die Mitwirkung oder Zustimmung an völkerrechtlichen Verträgen durch Bundesgesetz erforderlich. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen nun also die Voraussetzungen geschaffen werden, dieses Übereinkommen ratifizieren zu können. Ich möchte besonders darauf hinweisen, dass unser deutsches Recht dafür nur in einem einzigen Punkt an das Übereinkommen angepasst werden muss: Die Frist zur Aufbewahrung der Vermittlungsakten ist anders zu berechnen, als es der § 9 b des Adoptionsvermittlungsgesetzes derzeit vorsieht. Dieser geringe Anpassungsbedarf zeigt: Die Bundesrepublik Deutschland hat hohe Standards, wenn es um die Adoption von Kindern geht. Mit der Zeichnung und Ratifikation unterstützt Deutschland nun auch die Durchsetzung dieser Standards in den Mitgliedsländern des Europarats. Deutschland wäre damit das achte Land innerhalb der Runde der Mitgliedstaaten des Europarats, welches das Übereinkommen umsetzt. 17 Mitgliedstaaten haben das Übereinkommen bislang unterzeichnet. Das revidierte Übereinkommen ersetzt das Europäische Übereinkommen von 1967 über die Adoption von Kindern, das bereits früh, insbesondere durch die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen Ende der 60er-Jahre, nicht mehr als zeitgemäß anzusehen war. Um diesem Umstand Abhilfe zu verschaffen, wurde das Übereinkommen durch mehrere Übereinkommen erweitert. Die Rechte der Kinder sind unter anderem durch das Europäische Übereinkommen von 1975 über die Rechtstellung der unehelichen Kinder, das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom November 1989 über die Rechte des Kindes, das Haager Übereinkommen von 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption und das Europäische Übereinkommen von 1996 über die Ausübung von Kinderrechten gestärkt worden. Geändert hat sich auch die Rechtsposition des nichtehelichen Vaters. Sie hat sich deutlich verbessert. In vielen Ländern ist nicht mehr nur die Ehe die rechtliche Verbindung zwischen zwei Menschen, die zusammen leben, füreinander Verantwortung übernehmen und sogar eine Familie gründen wollen. In Deutschland können zwei gleichgeschlechtliche Partner seit 2001 eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründen. Vor diesem Hintergrund wurde es zwangsläufig notwendig, das Adoptionsübereinkommen aus dem Jahr 1967 im Rahmen des Europarats unter Federführung des Europäischen Ausschusses für rechtliche Zusammenarbeit zu überarbeiten. Nach Annahme des Übereinkommens durch das Ministerkomitee des Europarats wurde es 2008 zur Zeichnung aufgelegt. Wo liegen nun die Unterschiede? Die Kinderrechte und das Kindeswohl werden noch stärker in den Mittelpunkt gestellt als in der Fassung von 1967. So ist nach der neuen Fassung nach Artikel 5 Absatz 1 b nunmehr die Zustimmung des Kindes zur Adoption notwendig, wenn dieses hinreichend verständig ist. Andernfalls – das regelt der Artikel 6 des revidierten Übereinkommens – ist das Kind dennoch, soweit möglich, anzuhören, und seine Meinung und Wünsche sind zu berücksichtigen. Die Rechtsposition nichtehelicher Väter wird ebenfalls verbessert, da nun auch ihre Zustimmung zur Adoption erforderlich ist. Im Übereinkommen von 1967 war die Zustimmung des Vaters beim „nichtehelichen“ Kind überhaupt nicht erforderlich. Dies widerspricht unter anderem der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die Rechtstellung des Vaters eines nichtehelichen Kindes im deutschen Adoptionsrecht wurde bereits im Zuge der Kindschaftsrechtsreform von 1997 wesentlich gestärkt. Weitere zentrale Neuerungen des revidierten Übereinkommens beziehen sich auf die in Artikel 7 geregelten Bedingungen für die Adoption. In der „neuen“, revidierten Fassung des Übereinkommens ist etwas vorgesehen, das uns in Deutschland fremd erscheint: Auch heterosexuelle Paare, die nicht verheiratet sind, sondern in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, können Kinder adoptieren. Dies kann selbstverständlich nur dort gelten, wo das nationale Recht die Möglichkeit der Eingehung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft für Heterosexuelle vorsieht. Wie gesagt, das gibt es in Deutschland nicht. Wie Sie, meine Damen und Herren, sicher schon vermuten, gestattet das „alte“ Übereinkommen von 1967 nur heterosexuellen Ehepaaren die Adoption. Im neuen Abkommen sollen nun auch homosexuelle Partner, die entweder verheiratet sind oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben – die Regelungen sind innerhalb der Mitgliedstaaten des Europarats sehr verschieden –, Kinder adoptieren dürfen. Das ist auch eine entscheidende Änderung des revidierten Übereinkommens. Es wird den Mitgliedstaaten nunmehr freigestellt, die Sukzessivadoption durch Paare, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft, gleich welchen Geschlechts, leben, zuzulassen. In Deutschland ist das Gesetz zur Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner vom 20. Juni 2014 am 27. Juni desselben Jahres bereits in Kraft getreten. Zudem besteht nunmehr die Möglichkeit im revidierten Übereinkommen, fakultativ im jeweiligen Adop-tionsrecht der Mitgliedstaaten auch die gemeinsame Adoption durch Lebenspartner zuzulassen. So weit geht der hier vorliegende Gesetzentwurf nicht. Das dürfte auch für niemanden, der die erst vor wenigen Monaten geführte Debatte zur Sukzessivadoption verfolgt hat, eine große Überraschung sein. Die Diskussionsgrundlage hat sich seitdem nicht entscheidend verändert. Im vorliegenden, durch die Bundesregierung eingebrachten Entwurf wird von der Option, im nationalen Adoptionsrecht die gemeinsame, simultane Adoption durch eingetragene Lebenspartner zuzulassen, kein Gebrauch gemacht. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt dies. Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Eines vorweg: Wir, die Sozialdemokraten, wollen endlich die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften auch bei uns. Bei uns in Deutschland. Alles, was auf diesem Weg erreicht werden kann, ist gut. Auch das Europäische Übereinkommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern bringt uns diesem Ziel einen wichtigen Schritt näher. Mit einer Verzögerung von sechs Jahren – spät, aber es kommt. Das revidierte Übereinkommen überlässt es den Mitgliedstaaten, die Voll-adoption für gleichgeschlechtliche Paare zuzulassen, was sein Vorgänger von 1967 noch ausschloss. Unser Ziel ist es, die Unterschiede zwischen eingetragener Partnerschaft und Ehe zu beseitigen; so steht es im Koalitionsvertrag, und so ist es auch gut. Schön, dass wir diese Aufgabe nun angehen. Zugegeben, nicht alle ganz freiwillig und noch nicht alle frohen Herzens. Doch das EU-Übereinkommen und die Entscheidung unseres Bundesverfassungsgerichtes vom 19. Februar 2013 stärken uns. Sie sind nicht nur ein klares Signal, sondern ein Handlungsauftrag. Durch den Entwurf des Vertragsgesetzes soll das Übereinkommen ratifiziert werden. Damit kommen wir der Gleichstellung näher. Die rechtliche Grundlage für ein gemeinsames Adoptionsrecht für eingetragene Lebenspartnerschaften schaffen wir damit leider noch nicht. Denn wir haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption zwar umgesetzt, mehr jedoch leider noch nicht. Die gemeinsame Adoption durch die Lebenspartner ist immer noch verwehrt. Und dies nicht aus Gründen des Kindeswohls, wie uns die öffentliche Anhörung dazu bestätigt hat. Daher ist es längst überfällig, dass wir Kindern die Rechte, die ihnen zustehen – Eltern zu haben, gleich welchen Geschlechts –, nicht länger verwehren. Oder einfach gesagt: Die sogenannte Volladoption muss endlich Gesetz werden. Warum sollen konkurrierende Elternrechte bei Lebenspartnern eine Gefahr für das Kindeswohl sein, bei Ehepartnern jedoch nicht? Sind das nicht vorgeschobene Argumente, Rechte zu verwehren? Eine Adoption durch den eingetragenen Lebenspartner unterscheidet sich nicht von der durch den Ehepartner. Wo soll also der Unterschied liegen? Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist, wie die Ehe, auf Dauer angelegt und durch eine verbindliche Verantwortungsübernahme geprägt. Sie bedeutet, ebenso wie die Ehe, Solidarität und Zusammenhalt. Werte, die gut sind, die wir in unserem Land brauchen. Das Recht des Kindes auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung, das Elterngrundrecht und das Familiengrundrecht werden gestärkt. Was will man mehr? Eine dem Bundesverfassungsgericht vorgelegte Klage zur gemeinsamen Adoption eines fremden Kindes wurde im Januar 2014 wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung angenommen. Es ist allerdings zu erwarten, dass auch über das generelle Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften früher oder später durch das Bundesverfassungsgericht entschieden werden wird. Dem müssen wir doch zumindest in der politischen Debatte zuvorkommen und uns nicht ständig im Kreis drehen. Sehr verehrte Damen und Herren, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Lassen Sie uns nicht wieder warten, bis das Bundesverfassungsgericht die Richtung vorgibt. Lassen Sie uns diesen wichtigen Schritt in Richtung absolute Gleichstellung tun. Die Eltern, die Kinder, ja unser Land haben es verdient! Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Das Europäische Übereinkommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern (revidiert) ist am 1. September 2011 in Kraft getreten. Es ersetzt und modernisiert das Europäische Übereinkommen vom 24. April 1967 über die Adoption von Kindern, dessen Vertragsstaat auch die Bundesrepublik Deutschland ist, unter stärkerer Berücksichtigung des Kindeswohls und insbesondere im Hinblick auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes, das Haager Übereinkommen vom 29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption und das Europäische Übereinkommen vom 25. Januar 1996 über die Ausübung von Kinderrechten. Durch das Zustimmungsgesetz sollen die erforderlichen Voraussetzungen gemäß Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz für die Ratifikation des revidierten Übereinkommens geschaffen werden. Ziel des revidierten Übereinkommens ist, in den Unterzeichnerstaaten – unter anderem Mitgliedstaaten des -Europarats – gemeinsame Grundsätze hinsichtlich des -Adoptionsrechts zu schaffen und so auch grenzüberschreitende Adoptionen und deren Anerkennung zu ermöglichen. Anpassungsbedarf im deutschen Recht besteht laut Bundesregierung nur insoweit, als die Frist zur Aufbewahrung der Vermittlungsakten anders zu berechnen sei, als es § 9 b des Adoptionsvermittlungsgesetzes, AdVermiG, derzeit vorsieht. Dem Vertragsgesetz ist zuzustimmen. Das Übereinkommen ist recht progressiv und leistet einen Beitrag zu hohen Standards bei der Adoption im Sinne des Kindeswohls in den Unterzeichnerstaaten. Vor allem begrüßenswert ist der Artikel 7 Absatz 2 des Übereinkommens. Danach steht es den Staaten frei, den Anwendungsbereich des Übereinkommens „auf gleichgeschlechtliche Paare zu erstrecken, die miteinander verheiratet oder eine eingetragene Partnerschaft miteinander eingegangen sind. Es steht den Staaten auch frei, den Anwendungsbereich dieses Übereinkommens auf verschiedengeschlechtliche Paare und gleichgeschlechtliche Paare zu erstrecken, die in einer stabilen Beziehung zusammenleben.“ Auch wenn eine Verpflichtung dazu nicht durchsetzbar war, ist schon allein die Einräumung dieser Möglichkeit ein deutlicher Fortschritt. Und wenn Mitgliedstaaten diese Möglichkeit regeln, müssen die anderen Unterzeichnerstaaten dies anerkennen, was ebenfalls ein Fortschritt ist. Leider führt die Bundesregierung zur Beschwichtigung konservativer Kreise, eingeschlossen sie selbst, in der Gesetzesbegründung aus: „Von der in dem Übereinkommen eröffneten Möglichkeit, im nationalen Adop-tionsrecht die gemeinsame Adoption durch Lebenspartner zuzulassen, wird die Bundesregierung keinen Gebrauch machen.“ Hier will die Regierung nach wie vor bestehende Familienstrukturen nicht entsprechend akzeptieren und anerkennen und Kindern dieser Familien gesicherte Rechtspositionen, was nur beispielsweise das Erbrecht betrifft, verweigern. Aber für diese Gleichberechtigung und verbesserte Rechtsposition von Kindern wird die Linke weiter kämpfen, notfalls auch wieder mit Unterstützung des Bundesverfassungsgerichts. Schauen wir mal, wie lange die Regierung an ihrer Position festhalten will, kann oder darf. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine Fraktion hat bereits zu Jahresbeginn einen Gesetzentwurf zum Europäischen Übereinkommen über die Adoption von Kindern eingebracht. Zu dem Zeitpunkt hat die Koalition den Gesetzentwurf allerdings noch abgelehnt. In dem Übereinkommen ist festgehalten, dass grundsätzlich allen verheirateten und gegebenenfalls verpartnerten Paaren, auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaften sowie Alleinstehenden ein Adoptionsrecht eröffnet wird. Die Adoption für gleichgeschlechtliche, verpartnerte Paare ist allerdings als Opt-Out-Option formuliert, das heißt, es bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, ob sie diese Möglichkeit nutzen. Neben verheirateten und verpartnerten Paaren besteht auch die Möglichkeit, informell lebenden Paaren, die sich in stabilen und langfristigen Beziehungen befinden, das gemeinschaftliche Adoptionsrecht einzuräumen. Das Übereinkommen in der Fassung von 1967 sah die gemeinschaftliche Adoption für Verheiratete und durch Ehegatten vor. Es war Ausrede für SPD und Union, eine gemeinschaftliche Adoption durch eingetragene Lebenspartner zuzulassen. Schweden und das Vereinigte Königreich haben aus diesem Grund das Übereinkommen vor einigen Jahren gekündigt, um nicht gegen diese Passage zu verstoßen. Seit 2008 ist nun die revidierte Fassung verabschiedet und seit 2011 in Kraft, und es wird Zeit, dass auch Deutschland das Abkommen endlich ratifiziert. Jetzt fragt man sich also, ob die Bundesregierung in der Sache zur Einsicht gekommen ist und einen längst notwendigen Schritt in Sachen Gleichberechtigung machen will. Der Haken findet sich dann aber in der Begründung, in der die Bundesregierung ihre vorgestrigen Ansichten deutlich werden lässt. Dort heißt es: „Von der in dem Übereinkommen eröffneten Möglichkeit, im nationalen Adoptionsrecht die gemeinsame Adoption durch Lebenspartner möglich zu machen, wird die Bundesregierung keinen Gebrauch machen.“ Der Bundestag sollte der Bundesregierung in ihrer -gesetzgeberischen Apathie nicht folgen und sich den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu Herzen nehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat klar gesagt, dass es keine relevanten Unterschiede zwischen Ehe und Lebenspartnerschaften gibt, die es rechtfertigen würden, Adoptionsmöglichkeiten unterschiedlich auszugestalten. In der Urteilsbegründung hält das Gericht wortwörtlich fest: „Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestaltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen könnten, bestehen nicht.“ Genau das wird hier allerdings – mal wieder – ignoriert. Das ist nicht nur falsch und beschämend, sondern auch gleich doppelt verfassungswidrig. Nicht nur werden Menschen in Lebenspartnerschaften benachteiligt, sondern auch die betroffenen Kinder. Während Ehepaare gemeinschaftlich adoptieren können, bleibt das Lebenspartnerinnen und Lebenspartnern verwehrt. Den Kindern fehlt es dadurch an Sicherheit: Sie leben nicht in einer rechtlich anerkannten Familie, und sie werden im Unterhalts- und Erbrecht benachteiligt. Dabei sind die Bedenken, dass es Kindern in Regenbogenfamilien weniger gut gehe, längst ausgeräumt. Sämtliche Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen, keinen Nachteil davon haben. Wenn also sowohl Studien zu Regenbogenfamilien und Anhörungen von Experten immer wieder zu dem Schluss kommen, dass das Kindeswohl in Regenbogenfamilien nicht gefährdet ist, sondern gefördert wird, dann ist es doch absurd, dass CDU/CSU immer wieder diesen ideologischen Zombie aus der Argumentekiste holen. Ganz offensichtlich ist das Kindeswohl für CDU/CSU immer noch zweitrangig. Ihnen geht es darum, Ressentiments zu bedienen, und um die Zustimmung von homophoben Stammtischen. Aus Angst vor den Rechts-populisten der AfD wird hier auf dem Rücken von Kindern verfassungsfeindliche Politik gemacht! Ginge es wirklich um den Schutz der Familie und um das Kindeswohl, dann würden Sie sich dafür einsetzen, diese Eltern-Kind-Beziehungen rechtlich abzusichern. Christian Lange, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbaucherschutz: Am 23. Mai dieses Jahres hat Deutschland das revidierte Europäische Übereinkommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern unterzeichnet. Endlich, möchte ich hinzufügen. Sechzehn andere Mitgliedstaaten des Europarates hatten das Übereinkommen schon vor uns unterzeichnet. Sie wissen, warum Deutschland mit der Unterzeichnung so zögerlich war: Das revidierte Übereinkommen gestattet den Vertragsstaaten erstmals, in ihrem nationalen Adoptionsrecht die Adoption durch Personen gleichen Geschlechts zuzulassen. Die Sukzessivadoption durch Lebenspartner ist in Deutschland inzwischen zulässig. Das allein ist Grund genug, das revidierte Übereinkommen zu ratifizieren: Es gilt, den völkerrechtswidrigen Zustand zu beenden, der darin besteht, dass die jetzige – durch das Bundesverfassungsgericht gestaltete und nunmehr auch gesetzlich geregelte – Rechtslage dem „alten“ Übereinkommen von 1967 widerspricht, an das Deutschland derzeit noch gebunden ist. Das Übereinkommen von 1967 erlaubte die Sukzessivadoption nur Ehegatten. Das Übereinkommen von 2008 erlaubt die Sukzessivadoption auch für Lebenspartner. Die gemeinsame Adoption bleibt in Deutschland dagegen Ehegatten vorbehalten, und ich möchte eines sehr deutlich klarstellen: Das revidierte Übereinkommen zwingt uns keineswegs, diese Rechtslage zu ändern! Es eröffnet den Vertragsstaaten im Wege einer Öffnungsklausel nur Spielraum, den sie nutzen können, aber nicht müssen. Ich möchte daher nicht weiter auf die Frage eingehen, ob Deutschland die gemeinsame Adoption durch Lebenspartner zulassen sollte oder nicht. Die unterschiedlichen Ansichten hierzu sind hinreichend bekannt. Wichtig ist mir, darauf hinzuweisen, dass der Schwerpunkt des revidierten Europäischen Adoptionsübereinkommens nicht in der soeben angesprochenen Öffnungsklausel liegt. Das Übereinkommen von 1967 ist in mehrfacher Hinsicht veraltet und musste deshalb grundlegend überarbeitet werden. Die Neufassung berücksichtigt diverse internationale Übereinkommen, wie zum Beispiel das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes. Entsprechend wird die Rechtsstellung der Kinder verbessert, unter anderem dadurch, dass sie im Adoptionsverfahren grundsätzlich anzuhören sind. Das Kind wird damit zum selbstständigen Verfahrensbeteiligten. Das ist für unsere Rechtstradition selbstverständlich. Für andere Staaten des Europarates ist das aber Neuland. Die Rechtsstellung nichtehelicher Väter wird ebenfalls verbessert, da nach der Neufassung nun auch ihre Zustimmung zur Adoption erforderlich ist. Damit werden für Deutschland schon vorhandene Standards übernommen. Anpassungsbedarf im deutschen Recht besteht nur im Hinblick auf die Frist zur Aufbewahrung der Vermittlungsakten für die Adoption. Der Blick auf unser eigenes Adoptionsrecht würde aber zu kurz greifen: Außerhalb Deutschlands wird das revidierte Übereinkommen zu einer Stärkung der Kinderrechte beitragen. Wir sollten durch die Ratifizierung ein gutes Beispiel geben und andere Staaten ermutigen, mit der Ratifizierung des Abkommens die Kinderrechte in ihrem Land zu stärken. Anlagen