Plenarprotokoll 18/101 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 101. Sitzung Berlin, Freitag, den 24. April 2015 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 25: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren Drucksache 18/4684 9653 D b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: 100. Jahresgedenken des Völkermords an den Armenierinnen und Armeniern 1915/1916 – Deutschland muss zur Aufarbeitung und Versöhnung beitragen Drucksache 18/4335 9654 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Cem Özdemir, Claudia Roth (Augsburg), Peter Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gedenken an den 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern – Versöhnung durch Aufarbeitung und Austausch fördern Drucksache 18/4687 9654 A Präsident Dr. Norbert Lammert 9653 A  Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) 9654 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) 9655 B Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) 9656 C Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9657 D Frank Schwabe (SPD) 9659 C Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) 9660 C Dietmar Nietan (SPD) 9661 D Erika Steinbach (CDU/CSU) 9663 A Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU) 9664 B Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Jutta Krellmann, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Programm für gute öffentlich geförderte Beschäftigung auflegen Drucksache 18/4449 9665 C Heike Werner, Ministerin (Thüringen) 9665 C Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) 9667 D Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) 9669 D Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) 9670 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9670 D Daniela Kolbe (SPD) 9672 B Kai Whittaker (CDU/CSU) 9674 B Dr. Matthias Bartke (SPD) 9676 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9677 D Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) 9678 B Dr. Matthias Bartke (SPD) 9678 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 9679 A Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) 9679 C Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU) 9680 B Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) 9681 D Jutta Eckenbach (CDU/CSU) 9683 A Markus Paschke (SPD) 9684 B Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) 9685 C Tagesordnungspunkt 23: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes Drucksache 18/4654 9686 D b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über den Umsetzungsstand der Empfehlungen des 2. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages in der 17. Wahlperiode (NSU-Untersuchungsausschuss) Drucksache 18/710 9686 D c) Antrag der Abgeordneten Petra Pau, Jan Korte, Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wirksame Alternativen zum nachrichtendienstlich arbeitenden Verfassungsschutz schaffen Drucksache 18/4682 9686 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian Ströbele, Irene Mihalic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine -Zäsur und einen Neustart in der deutschen Sicherheitsarchitektur Drucksache 18/4690 9687 A Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMI 9687 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9689 B Petra Pau (DIE LINKE) 9690 B Burkhard Lischka (SPD) 9691 B Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9692 B Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) 9693 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9695 C Dr. André Hahn (DIE LINKE) 9696 C Uli Grötsch (SPD) 9697 D Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9699 B Tankred Schipanski (CDU/CSU) 9700 B Wolfgang Gunkel (SPD) 9702 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9704 A Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) 9705 A Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9705 C Dr. André Hahn (DIE LINKE) 9706 B Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Die NVV-Überprüfungskonferenz zum Erfolg führen Drucksache 18/4685 9708 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die europäische Sicherheitsstruktur retten – Übereinkommen in Gefahr Drucksache 18/4681 9708 C Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) 9708 C Inge Höger (DIE LINKE) 9709 D Dr. Andreas Nick (CDU/CSU) 9710 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9711 D Wolfgang Hellmich (SPD) 9712 D Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) 9713 D Dr. Katja Leikert (CDU/CSU) 9714 B Tagesordnungspunkt 27: Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gute Versorgung am Lebensende sichern – Palliativ- und Hospizversorgung stärken Drucksache 18/4563 9715 C Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9715 D Emmi Zeulner (CDU/CSU) 9717 A Pia Zimmermann (DIE LINKE) 9718 B Helga Kühn-Mengel (SPD) 9719 B Erwin Rüddel (CDU/CSU) 9720 A Bettina Müller (SPD) 9720 D Dr. Roy Kühne (CDU/CSU) 9721 D Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Bestimmungen des Rechts des Energieleitungsbaus Drucksache 18/4655 9722 D Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär BMWi 9722 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) 9723 B Karl Holmeier (CDU/CSU) 9724 B Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9725 C Johann Saathoff (SPD) 9726 C Tagesordnungspunkt 29: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes Drucksache 18/4683 9727 C Johann Saathoff (SPD) 9727 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) 9729 B Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU) 9730 A Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9731 C Nächste Sitzung 9732 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 9733 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen 9733 D 101. Sitzung Berlin, Freitag, den 24. April 2015 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zu dieser Plenarsitzung, insbesondere auch die zahlreichen Gäste, die zum ersten Tagesordnungspunkt erschienen sind. Dieser Tagesordnungspunkt behandelt ein herausragendes historisches Ereignis mit nachhaltigen Folgen nicht nur für das Nachbarschaftsverhältnis zwischen der Türkei und Armenien. Schon die Vereinbarung dieser Debatte im Deutschen Bundestag hat große öffentliche Aufmerksamkeit gefunden. Völkermord ist ein Straftatbestand im Völkerrecht für Taten mit der Absicht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord. Er ist nicht der letzte im 20. Jahrhundert geblieben. Umso größer ist unsere Verpflichtung, im Respekt vor den Opfern und in der Verantwortung für Ursachen und Wirkungen die damaligen Verbrechen weder zu verdrängen noch zu beschönigen. Wir Deutsche haben niemanden über den Umgang mit seiner Vergangenheit zu belehren. Aber wir können durch unsere eigene Erfahrung andere ermutigen, sich ihrer Geschichte zu stellen, auch wenn es schmerzt: Das selbstkritische Bekenntnis zur Wahrheit ist Voraussetzung für Versöhnung. Dazu gehört, die Mitverantwortung des Deutschen Reiches an den Verbrechen vor 100 Jahren zu benennen. Obwohl die Reichsleitung umfassend informiert war, nutzte sie ihre Einflussmöglichkeiten nicht. Das Militärbündnis mit dem Osmanischen Reich war ihr wichtiger als die Intervention zur Rettung von Menschenleben. Diese Mitschuld einzuräumen, ist Voraussetzung unserer Glaubwürdigkeit gegenüber Armenien wie der Türkei. Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Gäste, Geschichte erzwingt jenseits der historischen Fakten eine Deutung. Sie ist damit zwangsläufig politisch. Diesen Streit mag man beklagen. Aber er ist unvermeidlich, und er gehört ins Parlament. Seit den beispiellosen Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass es keinen wirklichen Frieden geben kann, solange nicht den Opfern, ihren Angehörigen und Nachkommen Gerechtigkeit widerfährt, im Erinnern an das, was tatsächlich geschehen ist. Auch heute werden Menschen Opfer von Verfolgung, aus politischen, ethnischen und auch aus religiösen Gründen, darunter Tausende Christen. Die Türkei leistet mit der Aufnahme von weit über 1 Million Flüchtlingen eine immense, zu selten gewürdigte und manchen in Europa beschämende humanitäre Hilfe. Diese Bereitschaft, Verantwortung in der Gegenwart zu übernehmen, vergessen wir ausdrücklich nicht, wenn wir an das Bewusstsein auch der Verantwortung für die eigene Vergangenheit appellieren. Die heutige Regierung in der Türkei ist nicht verantwortlich für das, was vor 100 Jahren geschah, aber sie ist mitverantwortlich für das, was daraus wird. Dass sie in einer eigenen Zeremonie einen Schritt auf die Nachfahren und den Nachbarn zugeht, würdigen wir ausdrücklich, vor allem aber die vielen mutigen Türken und Kurden, die sich zusammen mit Armeniern bereits seit Jahren um eine ehrliche Aufarbeitung dieses finsteren Kapitels der gemeinsamen Geschichte bemühen: Schriftsteller, Journalisten, Bürgermeister, religiöse Führer. Ich denke an den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und an den Journalisten Hrant Dink, der seinen Einsatz für die historische Wahrheit mit dem Leben bezahlte. Sie verdienen unsere Unterstützung, und sie brauchen sie auch. Dazu wollen wir mit unserer heutigen Debatte beitragen. Vielen Dank. (Beifall im ganzen Hause) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und b sowie den Zusatzpunkt 5 auf: 25 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren Drucksache 18/4684 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 100. Jahresgedenken des Völkermords an den Armenierinnen und Armeniern 1915/1916 – Deutschland muss zur Aufarbeitung und Versöhnung beitragen Drucksache 18/4335 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cem Özdemir, Claudia Roth (Augsburg), Peter Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gedenken an den 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern – Versöhnung durch Aufarbeitung und Austausch fördern Drucksache 18/4687 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu gibt es offensichtlich Einvernehmen. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Gernot Erler für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am heutigen 24. April, an dem 100. Jahrestag des Beginns der Vertreibung und Massaker an den im Osmanischen Reich lebenden Armeniern, verneigen wir uns vor den Opfern, und wir trauern mit ihren Nachkommen. Wir tun dies in anhaltender Erschütterung über das Massenhafte und Wahllose des damaligen Tötens und Vernichtens und im Wissen darum, dass heute nicht nur in Jerewan und ganz Armenien, sondern an vielen Orten der weltweiten armenischen Diaspora an das tragische Schicksal der Opfer erinnert wird. Im gleichen Atemzug bekennen wir uns aber auch zur deutschen Mitverantwortung für das Geschehen. Und Mitverantwortung heißt hier auch historische Mitschuld, die wir rückhaltlos einräumen. Denn längst steht fest – es ist gut belegt –, dass deutsche Diplomaten über die Ausrottung und Vernichtung der christlichen Armenier nach Hause berichteten, dass deutsche Offiziere in türkischen Diensten beteiligt waren, die Reichsregierung aber mit Rücksicht auf die Türkei als Weltkriegsverbündeten keinerlei Einwände gegen die genozidale Vertreibungspolitik geltend machte, sondern ihr durch Wegschauen und Stillschweigen Deckung verschaffte. Was Deportation damals bedeutete, das hat Armin Theophil Wegner aus dem Stab des berühmten im Ottomanischen Reich eingesetzten Feldmarschalls Colmar von der Goltz uns in einem nachträglich verfassten Bericht überliefert. Ich zitiere: Die Armenier wurden auf dem Weg in die Wüste von Kurden erschlagen, von Gendarmen beraubt, erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt, von Seuchen verzehrt, ertränkt, sie erfroren, verdursteten, verhungerten, verfaulten, wurden von Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euphrat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte starben sie. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gedenktage sind dazu da, dass man innehalten kann, dass man Trauerarbeit leistet. Sie dienen gerade bei einem in der Diaspora zerstreuten Volk der Identitätsstiftung. Aber sie mahnen auch, sich um eine bessere Zukunft zu bemühen. Vorgestern erreichte uns eine Botschaft des armenischen Präsidenten Sersch Sargsjan. Darin wird er wie folgt zitiert: Es geht um ein wichtiges geschichtliches Datum für das armenische Volk und die internationale Gemeinschaft. Dabei wolle Armenien aber „nicht nur zurückschauen und über historische Fakten nachdenken“. „Niemals wieder“ müsse die Botschaft lauten. Dieser Ansatz verdient Unterstützung. Er will ganz offensichtlich das traditionelle armenische Opfervolk narrativ aufbrechen und den engen Rahmen des Memory War verlassen. „Nicht nur zurückschauen“ heißt in der Konsequenz, sich für eine bessere Zukunft Armeniens einzusetzen und dabei das immer noch verbissen geführte Ringen um die Völkermordfrage in einen wirklich von beiden Seiten getragenen Versöhnungsprozess münden zu lassen. Ohne einen solchen tatsächlich von beiden Seiten ehrlich geführten Versöhnungsprozess wird das Leiden an der Vergangenheit, die Fesselung in den historischen Traumata in beiden Ländern nicht aufhören können. Im Oktober 2010 schien der Einstieg in die Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern zum Greifen nahe. Die beiden Züricher Protokolle – Produkt zweijähriger über die Schweiz vermittelter Geheimverhandlungen – sahen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, die Öffnung der seit 1993 geschlossenen Grenzen und den Ausbau der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen vor, einschließlich einer gemeinsamen Beschäftigung mit der Vergangenheit. Die Züricher Dokumente wurden nicht ratifiziert. Sie zerschellten am Widerstand nationalistischer Kräfte in beiden Ländern. Eine Tragödie! Was wäre angemessener, als dass der große Gedenktag heute zum Ausgangspunkt eines neuen Normalisierungs- und Aussöhnungsprozesses wird? Nichts anderes will der hier vorliegende Antrag der Koalition, der die Bundesregierung nachdrücklich auffordert, einen solchen Prozess zu unterstützen. Dasselbe Ziel hat ein am 15. April beschlossener Antrag des Europäischen Parlaments. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch auf türkischer Seite positive Signale. Schon im vergangenen Jahr hat Präsident Erdogan sein Mitleid mit den armenischen Opfern bekundet und von unmenschlichen Vertreibungen gesprochen. In einem Schreiben von Ministerpräsident Davutoglu heißt es – ich zitiere –: Wir gedenken der unschuldigen osmanischen Armenier, die ihr Leben ließen, mit Respekt. Wir sprechen ihren Nachkommen unser Mitgefühl aus. Das sind Anknüpfungspunkte. Sich zu Mitverantwortung, ja zur Mitschuld zu bekennen, reicht nicht aus. In Deutschland stehen wir in der Pflicht, unsere Beziehungen zu beiden Ländern zu nutzen, um bei der Suche nach Auswegen zu helfen. Wir wissen aber auch um die schwierige Situation der kleinen Republik Armenien: mit den geschlossenen Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan, mit dem ungelösten Konflikt in Nagornij Karabach, an dessen Grenze im Jahr 2014 mehr Verluste an Menschenleben zu verzeichnen waren als in allen Jahren zuvor, mit den besonderen Abhängigkeiten, die deutlich geworden sind, als Armenien erst mit der EU ein Assoziierungsabkommen ausgehandelt hat, dann aber im Herbst 2013 den Entschluss fasste, Mitglied der von Russland geführten Zollunion und heute der Eurasischen Wirtschaftsunion zu werden, und mit der Ausdehnung von Armut im eigenen Land. Die friedliche Lösung des Karabach-Problems und die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Jerewan und Ankara sind die beiden Schlüsselfragen für die 3 Millionen Menschen in Armenien. Das Land braucht gerade an einem Tag wie heute Hoffnung. Von unserer Debatte sollten eine solche Hoffnung und das klare Signal unserer Hilfsbereitschaft ausgehen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ulla Jelpke ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße die Gäste auf der Tribüne, insbesondere die Vertreterinnen und Vertreter der armenischen und assyrischen Verbände, die dieser historischen Debatte folgen. (Beifall) Meine Damen und Herren, wir gedenken heute der Opfer des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich. Diesem Verbrechen fielen 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. Hunderttausende Assyrer und andere Christen wurden damals ermordet. Die Armenier sprechen von „Aghet“, der Katastrophe; die Assyrer nennen diese Ereignisse „Sayfo“, das Schwert. Wir verneigen uns vor den Toten, und ihren Nachfahren drücken wir unser tief empfundenes Mitgefühl aus. Meine Damen und Herren, Völkermord wird von den Vereinten Nationen als Handlung mit der Absicht definiert – wir haben es eben schon gehört –, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Genau darum ging es den Jungtürken mit ihrem Geheimplan zur – so wörtlich – „Ausmerzung des armenischen Volkes in seiner Gesamtheit“. Ihr Ziel war die Schaffung eines ethnisch homo-genen Nationalstaates in Anatolien und der Raub ar-menischen Besitzes. Zuerst wurden im Februar 1915 armenische Soldaten der osmanischen Armee entwaffnet und erschossen, dann, am 24. April, die armenische Führungselite aus Konstantinopel deportiert. Anschließend wurden bei landesweiten Dorfrazzien die armenischen Männer von der jungtürkischen Sonderorganisation massakriert und Frauen, Kinder und Alte auf Todesmärsche getrieben. Die angeblich kriegsbedingten Deportationen waren Verbannungen ins Nichts – das hatte Innenminister Talaat Pascha offen eingestanden. Diejenigen Armenier, die Angriffe von kurdischen und kaukasischen Räuberbanden, Krankheiten, Hunger und Durst überlebt hatten, wurden im Sommer 1916 in der mesopotamischen Wüste von Todesschwadronen niedergemetzelt. Ohne jeden Zweifel handelte es sich um einen vorsätzlich geplanten und durchgeführten Völkermord. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich denjenigen Kolleginnen und Kollegen in den Fraktionen von Union und SPD danken, die in dieser Frage nie ein Blatt vor den Mund genommen haben. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Denn Ihrem Drängen ist es – gemeinsam mit den deutlichen Worten des Papstes, aber auch des Bundespräsidenten Gauck – zu verdanken, dass im Antrag der Koalition zumindest das Wort „Völkermord“ enthalten ist. Doch explizit als Völkermord benannt wird die Vernichtung der Armenier im Koalitionsantrag immer noch nicht. Dieses Verstecken hinter sprachlichen Spitzfindigkeiten ist einfach beschämend und diesem Anlass zutiefst unwürdig. Meine Damen und Herren, es geht hier keinesfalls darum, Millionen in der BRD lebende türkischstämmige Bürgerinnen und Bürger für die Verbrechen vor 100 Jahren in Kollektivhaftung zu nehmen. Doch Kenntnis und Eingeständnis historischer Wahrheiten sind die Voraussetzung für einen Aussöhnungsprozess zwischen Türken und Armeniern. Es soll hier auch nicht um eine selbstgerechte Belehrung der Türkei gehen. Denn wer über 1915/1916 spricht, der muss auch über unsere eigene Geschichte sprechen. Schließlich war das Deutsche Kaiserreich der engste Verbündete des Osmanischen Reiches. Ohne dieses Kriegsbündnis, das der türkischen Führung den Rücken freihielt, wäre der Völkermord so nicht möglich gewesen. Die Koalition verharmlost dies in ihrem Antrag als „unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches“, das nicht versucht habe, diese Verbrechen zu stoppen. Auch der Grünen-Antrag erkennt nur in diesem einen Punkt eine deutsche Mitverantwortung. Doch die verbrecherische Komplizenschaft ging weit über unterlassene Hilfeleistung hinaus. Es handelte sich vielmehr um Beihilfe zum Völkermord. Der Reichskanzler untersagte jede Kritik am türkischen Bündnis. Ich zitiere: Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Lediglich der sozialistische Abgeordnete Karl Liebknecht protestierte damals im Reichstag gegen die Ausrottung der Armenier. Hohe deutsche Offiziere und Diplomaten in der Türkei befürworteten sogar offen die Vernichtung der Armenier. So notierte der deutsche Chef der osmanischen Flotte, Admiral Souchon – ich zitiere –: Für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn sie den letzten Armenier umgebracht hat, sie würde dann die staatsfeindlichen Blutsauger los sein. Einige deutsche Offiziere unterzeichneten sogar Deportationsbefehle und ließen armenische Stadtviertel beschießen. Deshalb fordert die Linke heute die Bundes-regierung dazu auf, sich vorbehaltlos zur historischen Mitverantwortung des Deutschen Reiches zu bekennen. (Beifall bei der LINKEN) Der Bundestag muss – genauso wie das der Präsident heute bereits gemacht hat – bei den Armenierinnen und Armeniern um Verzeihung bitten. Lassen Sie mich noch ein paar Anmerkungen zur Gegenwart machen; denn wer Augenzeugenberichte aus den Jahren 1915/1916 über Massaker und Massenvergewaltigungen liest, dem kommen unweigerlich aktuelle Bilder aus der Region in den Sinn. Dort, wo vor 100 Jahren der Todesgang des armenischen Volkes in der syrischen Wüste endete, herrschen heute die Schlächter des sogenannten Islamischen Staates und der Al-Nusra-Front. Christen, deren Vorfahren als Überlebende des Genozids nach Syrien flohen, sind heute erneut auf der Flucht. Kirchen werden angezündet, Frauen werden versklavt. Die dschihadistischen Mörderbanden kommen ungehindert über die türkische Grenze. Sie erhalten logistische Hilfe, Munition und sogar Feuerschutz aus der Türkei. Die Bundesregierung weiß das, doch sie schweigt dazu. Ihr einziges Ziel scheint zu sein, den NATO-Partner Türkei an ihrer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Kurden oder Armenier zugrunde gehen. Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, mit -Erdogan und seiner Regierung über 1915 und über die Gegenwart endlich Klartext zu reden. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Christoph Bergner für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Gäste! Heute vor 100 Jahren hat auf Befehl der jungtürkischen Regierung eine Verhaftung der politischen und kulturellen Elite der Armenier in Istanbul stattgefunden. Sie sind verschleppt und ermordet worden. Dies war der Auftakt zu einer umfassenden Verschleppung und planmäßigen Vernichtung der armenischen Untertanen des Osmanischen Reiches. Mit dieser Debatte wollen wir uns in das Gedenken an diese schrecklichen Ereignisse einreihen. Ich möchte Sie einladen, der Opfer und der Verwüstungen dieses Geschehens zu gedenken, zu gedenken der Hunderttausenden Armenier, eingeschlossen zahlreiche aramäische, chaldäische und assyrische Christen, die brutal vertrieben, furchtbar misshandelt und mit planvoller Konsequenz und oft hemmungsloser Grausamkeit getötet wurden. Ich möchte Sie einladen, zu gedenken der jahrhundertealten armenischen Kultur Anatoliens, die infolge dieser Ereignisse weitgehend vernichtet wurde, einer Kultur, die sich in langer Koexistenz mit anderen Kulturen der Region entwickelt und entfaltet hat und deren Verlust für uns alle dauerhaft schmerzhaft bleibt. Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben eine besondere historisch-moralische Verpflichtung, uns an dem weltweiten Gedenken anlässlich des 100. Jahrestages dieser Ereignisse zu beteiligen und uns zu deutschen Fehlern und deutscher Schuld zu bekennen. Neben dem Osmanischen Reich war das Deutsche Kaiserreich der am tiefsten involvierte Staat. Aus Rücksicht auf seine militärischen Ziele im Ersten Weltkrieg machte er sich unterlassener Hilfeleistung gegenüber den der Vernichtung ausgesetzten Armeniern schuldig. Hierfür bitten wir um Entschuldigung. Wir stehen in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches, und wir haben deshalb hier mit besonderer Ernsthaftigkeit die Debatten zu führen, die seinerzeit den Mitgliedern des Reichstages wegen Zensurmaßnahmen der Reichsregierung nicht möglich waren. Vor zehn Jahren hat der Deutsche Bundestag mit einer einstimmig verabschiedeten Resolution endlich eine 90 Jahre dauernde Sprachlosigkeit der deutschen Politik zum Schicksal der osmanischen Armenier beendet. Ich erlebte damals die Erarbeitung und Einbringung dieses Antrages, der mit wissenschaftlicher Unterstützung des leider viel zu früh verstorbenen Hermann Goltz entstand. Ich erlebte damals einen vielfältigen türkischen Widerspruch zu dieser Initiative – von der türkischen Botschaft über Abgeordnete der AKP, aus dem türkischen Parlament bis hin zu CDU-Mitgliedern türkischer Herkunft. Ich erinnere mich besonders an die Worte eines CDU-Ortsvorsitzenden aus Berlin – ich führe ihn exemplarisch an –, der mir sagte: Ich werde meinem Sohn nie sagen, eine türkische Regierung habe Armenier vertrieben und getötet; das ist für mich eine Frage der Ehre. – Meine Damen und Herren, spätestens da habe ich begriffen, wie schwierig das Selbstverständnis ist, mit dem wir hier zu ringen haben. Das ist ein Ehrbegriff, der sich an dem Gründungsmythos des türkischen Staates orientiert. Damit haben wir uns auseinanderzusetzen. Ich möchte dazu einladen, dass wir dieser Auseinandersetzung nicht ausweichen (Beifall im ganzen Hause) und die Forderung ernst nehmen, die wir in unserem damaligen Antrag beschlossen haben: Deutschland muss zur Versöhnung von Armeniern und Türken beitragen. – Das ist eine Forderung, die nicht an Aktualität verloren hat. Der Versöhnungsauftrag, den wir uns gegeben haben, bezieht sich nicht nur, so wichtig das ist – Kollege Erler ist darauf eingegangen –, auf das Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien. Er bezieht sich auch und insbesondere auf die Diaspora, auf die Menschen armenischer und türkischer Herkunft in unserem Land. Er bezieht sich beispielsweise auf die Kinder türkischer und armenischer Familien; diese Kinder haben einen Anspruch darauf, in unseren Schulen ein Geschichtsbild vermittelt zu bekommen, das sich von den Ergebnissen der historischen Wissenschaft und dem Geiste der Aufklärung ableitet und durch seine Objektivität für Ausgleich sorgt. Der deutsche Staat muss ein Interesse daran haben, dass Konflikte, die Zuwanderer als Teil ihrer Identität in unsere Gesellschaft mitbringen, nicht durch beschwichtigende Zurückhaltung und Indifferenz deutscher Politik auf Dauer unbewältigt bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mir liegt ein Aufruf verschiedener türkischer Verbände zu einer Demonstration am morgigen Tag am Brandenburger Tor vor, in dessen Überschrift es heißt: „Der Völkermordlüge ein Ende! Nimm Deine Flagge und komm!“ Es ist das Recht dieser Verbände, für ihre Auffassung zu demonstrieren. Aber ist es nicht unsere Pflicht als frei gewählte Vertreter des deutschen Volkes, klar zu bekennen, welche Deutung der Ereignisse vor 100 Jahren uns angemessen und richtig erscheint? (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich habe Zweifel, dass wir, wenn wir in dieser Diskussion überzeugend auftreten und klar Stellung beziehen wollen, auf den Begriff „Völkermord“ verzichten können. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Wir haben in der Koalition um die Angemessenheit dieses Begriffes intensiv gerungen. Ich verstehe und re-spektiere das Anliegen derer, die um der Verständigung und um des Zieles der Versöhnung willen jede polarisierende Wortwahl vermeiden wollen. Aber die Berech-tigung dieses Anliegens endet dort, wo semantische Zurückhaltung zur faktischen Verharmlosung und Relativierung der Tragödie führt, die im Mittelpunkt unseres Gedenkens steht. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es ist richtig: Der Straftatbestand des Völkermordes, geschweige denn der Begriff, existierte vor 100 Jahren noch nicht. Seine Formulierung und Definition ist erst im Zuge der Erarbeitung der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Genoziden gefunden worden. Das war 1948, 33 Jahre nach der Vernichtung der osmanischen Armenier. Aber ist es ein Grund, die Verwendung des Begriffes „Völkermord“ für unangebracht zu halten? Ist es nicht normaler Ausdruck einer lebendigen Sprachentwicklung, wenn sich zur Beschreibung alter Sachverhalte auch jüngerer Begriffe bedient wird? Dies gilt umso mehr, als die Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren nachträglich zum zentralen Bezugspunkt der Erarbeitung der Völkermordkonvention wurden. Für Raphael Lemkin, den Schöpfer des Begriffes „Genozid“ und Initiator der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen, schien dies jedenfalls wichtig zu sein; denn er stellt rückblickend fest – ich zitiere Lemkin –: Die Leiden armenischer Männer, Frauen und Kinder, die in den Euphrat geworfen … wurden, haben den Weg für die Annahme der UN-Genozidkonvention vorbereitet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben vor zehn Jahren die Sprachlosigkeit angesichts des Schicksals der osmanischen Armenier überwinden können. Lassen Sie uns die Beratung dieser Anträge im Ausschuss zum Anlass nehmen, unsere Sprachfähigkeit weiter zu üben und fortzuentwickeln, und lassen Sie uns unter dem Auftrag handeln, den wir uns vor zehn Jahren gegeben haben: Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Armeniern und Türken beitragen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Cem Özdemir für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Ich möchte mich zunächst bei unserem Bundespräsidenten Gauck für seine klaren Worte gestern Abend aus Anlass des Gedenkgottesdienstes zum 100. Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern, Aramäern und Assyrern bedanken. Ich danke unserem Bundespräsidenten insbesondere für diese gewisse Portion Unbeirrbarkeit, die ihn auszeichnet, für die wir ihn schätzen und lieben. Ich füge nach der heutigen Rede des Bundestagspräsidenten hinzu: Das gilt natürlich in derselben Weise auch für Sie, Herr Bundestagspräsident. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Leider kann ich die Vertreter der Bundesregierung in dieses Lob nicht mit einschließen. Denn wäre es nach Ihnen gegangen, dann würden wir bis heute das türkische Narrativ wiederholen, dass es den Völkermord nicht gab. Ich verstehe das nicht; denn ich unterstelle Ihnen gute Absichten. Auch Sie wollen zur Versöhnung beitragen. Aber diese Haltung trägt nicht zur Versöhnung bei, sondern stützt diejenigen, die den Völkermord leugnen, und diejenigen, die Unterstützung brauchen, die Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft, werden im Stich gelassen. Da kenne ich mich, glaube ich, ganz gut aus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich war im März zusammen mit der Kollegin Ekin Deligöz in Armenien. Ich habe mit Vertretern der Regierung, der Opposition, der Zivilgesellschaft, mit vielen gesprochen. Niemand dort bemerkt, dass wir die Mittel für die Versöhnungsarbeit im Auswärtigen Amt deutlich erhöht haben. Auch unsere Diplomaten beklagen sich darüber, dass sie diese Mittel gar nicht einsetzen können; denn an Veranstaltungen, wo der Begriff Völkermord auftaucht, dürfen sie nicht teilnehmen. Das versteht niemand. Ich hoffe, dass sich das nach dem heutigen Tage ändern wird. Ich habe mich, als ich dort im Andenken an die Opfer des Völkermordes den Kranz niedergelegt habe, gefragt: In welcher Eigenschaft mache ich das? Natürlich als Abgeordneter des Deutschen Bundestages, als Vorsitzender einer deutschen Partei. Aber wenn man im Ausland unterwegs ist, zumal in Armenien, und Cem Özdemir heißt, dann reist die Herkunft logischerweise mit. In meinem Fall zeigt es die ganze Zerrissenheit der Türkei. Denn ein Teil meiner Vorfahren kommt aus dem Kaukasus; sie sind tscherkessischer Herkunft. Die Tscherkessen haben genauso wie die Muslime auf dem Balkan selber schrecklichstes Leid erfahren, sind vertrieben worden, sind Opfer von Mord und Vernichtung geworden. Und dieselben Tscherkessen haben sich in der Türkei zum Teil am Völkermord an den Armeniern beteiligt. Ich sage dies auch, weil es endlich Zeit ist, sich an die Opfer aller Völkermorde, aller Vernichtungen zu erinnern. Wir sind es den Opfern und ihren Hinterbliebenen schuldig, dass niemand ausgelassen wird und ab heute alles beim Namen genannt wird. (Beifall im ganzen Hause) Ich habe gelesen, dass es auch darum geht, dass wir den Versöhnungsprozess nicht unterbrechen. Ich kann Sie beruhigen. Ich war gestern in Istanbul. Ich habe an einer türkisch-armenischen Veranstaltung zum Andenken an die Opfer vom 24. April 1915 teilgenommen. An dieser Veranstaltung haben Vertreter der Zivilgesellschaft, auch türkische Abgeordnete und andere Personen teilgenommen. Alle waren sich einig in der Frage, die sie an mich gerichtet haben: Was wird der Deutsche Bundestag 100 Jahre nach dem Völkermord in dieser Frage machen? Ich habe dort Folgendes gesagt: Der Deutsche Bundestag wird mit all seinen Rednern, mit all seinen Fraktionen 100 Jahre danach aufhören, so zu tun, als ob wir nichts mit dem Völkermord zu tun gehabt hätten. Er wird ihn anerkennen, und er wird heute eine neue Seite aufschlagen. – Und wir sind heute Zeugen davon, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich habe noch etwas gesagt: Kein deutsches Außenministerium, kein deutsches Auswärtiges Amt wird mehr Formulierungen verwenden wie – ich zitiere – „Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/1916“, um die damals unterlassene Hilfeleistung und Mitverantwortung zu verleugnen. Auch das wird mit dem heutigen Tag der Vergangenheit angehören, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es ist aber auch für die Türkei selber wichtig, dass die Ereignisse von 1915 aufgearbeitet werden. Denn hätte die Türkei den Völkermord aufgearbeitet, dann hätte 1938 nicht das Massaker an den Aleviten in Dersim stattgefunden, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) dann hätten die Griechen am 6./7. September 1955 kein Pogrom erleben müssen, dann hätte vielleicht der schmutzige Krieg mit den Kurden nicht stattgefunden. Ich bin mir auch sicher: Hätte man sich nicht am Besitz der Armenier bereichert, wäre das Verständnis für die Normen der Rechtsstaatlichkeit stärker ausgeprägt worden. Wie sagte mein ermordeter türkisch-armenischer Freund Hrant Dink: Wären die Armenier heute noch am Leben, die osttürkische Stadt Van wäre heute so etwas wie das Paris des Ostens. – Es ist wichtig, zu verstehen, dass damals Geistliche, Ärzte, Verleger, Journalisten, Anwälte, Lehrer wie auch Politiker umgebracht worden sind. Manche haben sich für sie eingesetzt, beispielsweise der damalige US-Botschafter Henry Morgenthau, der immerhin durchsetzen konnte, dass der berühmte osmanische – nicht nur armenische, sondern auch osmanische – Komponist Komitas gerettet wurde. Er hat nach seiner Rettung nie wieder eine Note angerührt, nie wieder ein Wort geäußert angesichts des Leids, das er erfahren hat. Ich wünsche mir künftige türkische Schulbücher, in denen an das Leid dieser Menschen erinnert wird. Ich wünsche mir in der Türkei Schulbücher, in denen die Kinder etwas darüber erfahren, was dem Osmanischen Reich und der Türkei verlorengegangen ist. Ich wünsche mir, dass Kinder in der Türkei künftig lernen: Nicht Talaat Pascha und Enver Pascha sind die Helden für die Türken von heute, sondern es war der Gouverneur von Kütahya, der gesagt hat: In meinem Verwaltungsbezirk wird der Befehl aus Istanbul nicht angewendet. Kein einziger Armenier wird angerührt. – Das sollten die Vorbilder sein, über die unsere Kinder etwas lernen. Dann lernen sie nämlich auch, dass sich so etwas nie wiederholen darf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Um auch das klar zu sagen: Es geht hier nicht um Überheblichkeit. Es geht hier nicht darum, dass wir mit erhobenem Zeigefinger sprechen, sondern wir sprechen als Freunde zu Freunden. Wir wollen als Freunde der Türkei sagen: Es liegt auch im türkischen Interesse, dass sich die Grenze zu Armenien öffnet und sich eines Tages die Grenze zwischen der Türkei und Armenien so darstellt wie heute Gott sei Dank die Grenze zwischen Deutschland und Polen und zwischen Deutschland und Frankreich. Das muss geschaffen werden, das kann geschaffen werden, und dazu müssen wir alle unseren Beitrag leisten, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will ein Weiteres sagen: Das zweifelhafte Privileg des ersten Völkermordes in diesem Jahrhundert haben leider wir Deutsche. Denn das, was damals im sogenannten Deutsch-Südwestafrika, in unserer damaligen Kolonie, mit den Herero und Nama passierte, erfüllt ebenfalls den Tatbestand eines Völkermordes. Auch deshalb eignen wir uns nicht als Lehrer, sondern höchstens als Ratgeber, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) als diejenigen, die sagen können: Wer sich mit den dunklen Flecken der eigenen Geschichte beschäftigt, der wird daran nicht kleiner, sondern – im Gegenteil – wächst daran. Es ist darum höchste Zeit, dass wir den Opfern endlich unser Mitgefühl aussprechen und uns entschuldigen: bei den Armeniern, bei den Aramäern, bei all denen, die durch das Osmanische Reich damals Leid erfahren haben. Aber auch wir hatten eben ein Deutsches Kaiserreich, das nichts dafür getan hat, dass diese Menschen geschützt werden. Ich hoffe, dass künftige Generationen in Armenien und in der Türkei wieder die Chance bekommen, als Nachbarn, als Freunde, als Brüder und Schwestern aufzuwachsen. Heute leisten wir einen Beitrag dazu. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Frank Schwabe für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frank Schwabe (SPD): Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich habe gestern in der Süddeutschen Zeitung einen Hinweis auf ein faszinierendes Internetprojekt gelesen. Nicht mit dem Ziel der Wiederaneignung, sondern als Projekt der Aufklärung und Erinnerung werden dort das Leben und die Geschichte, die Kultur, die religiösen Riten, die familiären Gebräuche der 2 Millionen Armenier auf dem Gebiet der heutigen Türkei zu Beginn des 20. Jahrhunderts dargestellt. Man mag gar nicht aufhören, darin zu schmökern, weiterzuklicken und sich das anzusehen, weil es so faszinierend ist. Man bekommt in etwa ein Bild und einen Eindruck davon, wie das armenische Leben in der Türkei heute aussehen könnte, wenn es den Völkermord nicht gegeben hätte. Wir verneigen uns heute vor den armenischen Opfern des Völkermords und gedenken auch der Massaker an und der Vertreibung von Assyrern, Aramäern, osmanischen Griechen und anderen. Warum tun wir dies? Wir können niemandem das Leben zurückgeben; aber wir können versuchen, ein Stück der Würde zurückzugeben; vielleicht ist auch das eine Chance für armenische Familien und das armenische Volk, das Erlittene zu verarbeiten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Und wir warnen – deshalb sind wir es uns schuldig, die Geschehnisse so klar zu benennen –: Niemand auf der Welt, der Auslöschung oder Ausradieren von Bevölkerungsgruppen planen könnte – ich fürchte, es gibt solche Leute auch heutzutage auf der Welt –, niemand von denen wird, ohne Rechenschaft dafür ablegen zu müssen, davonkommen; das ist auch die Botschaft des heutigen Tages. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin Vorsitzender eines Deutsch-Griechisch-Türkischen Städtepartnerschaftsvereins, eines Dreierbündnisses, das dem Gedanken des Verständnisses, der Verständigung und der Aussöhnung verpflichtet ist. Nicht nur deshalb liegt mir die Freundschaft mit der Türkei und den Türkinnen und Türken besonders am Herzen. Ich versuche die tiefen Gefühle und die Verletzungen der Armenier zu verstehen; ich versuche aber auch zu verstehen, warum es eigentlich in der Türkei so schwierig ist und ihr so schwerfällt, das Ganze zu verarbeiten und auch als Völkermord zu bezeichnen. Ich habe eine Zuschrift bekommen von einem türkischstämmigen Mitbürger. Er hat geschrieben: Ich bin mir sicher, dass meine Vorfahren so nicht gehandelt haben. – Gestern Abend bin ich mit einem Fahrer unterwegs gewesen, der mir gesagt hat: Wenn Sie da morgen sprechen, denken Sie bitte auch an die Türken in Deutschland, die möglicherweise nicht verstehen werden, wie Sie die Dinge diskutieren und wie Sie sie benennen. Ich glaube, wir alle versuchen, diese Gefühle zu verstehen, wir versuchen, zu verstehen, wie sich Menschen fühlen, und wir versuchen, deutlich zu machen: Es geht nicht um persönliche Verantwortung – wie könnte es um persönliche Verantwortung gehen bei einem Völkermord, der 100 Jahre zurückliegt! –, aber es geht um eine Gesamtverantwortung der Türkei, und es geht um eine Verantwortung den Armeniern gegenüber. Deswegen ist es richtig, dass wir heute so breit der Aufforderung des Europaparlaments nachkommen und den Völkermord auch Völkermord nennen, und es ist gut, dass wir das in so großer Übereinstimmung der Institutionen nach einer durchaus intensiven Debatte in den letzten Wochen tun. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Wir kommen unserer Verantwortung auch nach, weil es – auch das ist angesprochen worden – ein ganz dunkles Kapitel deutscher Geschichte gibt. Deutschland trägt Mitverantwortung, mindestens durch Unterlassung, bis an die Spitze der Reichsregierung. Und Deutschland war auch eingebunden in die Kommandostrukturen des Osmanischen Reiches. Deswegen ist es gut – wir müssen dafür danken –, dass es mittlerweile Publikationen zu diesem Thema gibt – man kann das nachlesen – und dass dazu auch weiter geforscht wird. Wir benennen heute die Verbrechen der Vergangenheit, um in die Zukunft schauen zu können. Was mir dabei Hoffnung macht, ist, dass es in der Tat – auch das ist angesprochen worden – zarte Pflanzen von Verständigungsprozessen gibt. So hatten sich – auch das gehört zur Wahrheit – vor 100 Jahren auch Kurden an der Vertreibung von und an Massakern an Armeniern beteiligt. Mittlerweile, seit 2011, ist die armenische St.-Giragos-Kathedrale in Diyarbakir wieder renoviert und wurde auch wieder geweiht, mit Unterstützung der Kurden. Ich finde, das ist ein gutes Signal, wie Verständigung aussehen kann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme gerade von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg. Dort gibt es einen Plenarsaal wie hier, und vor dem Plenarsaal sind zwei Ausstellungen zu betrachten, ungefähr 20 Meter voneinander entfernt. Vielleicht ist es nicht ganz zufällig, dass es genau zwei Ausstellungen gibt. Die eine wird von Armenien ausgerichtet zum Thema „100 Jahre Völkermord“; Herr Jung nickt, wir waren gemeinsam da. Die von der Türkei ausgerichtete Ausstellung heißt: Safe Harbour Turkey, also Sicherer Hafen Türkei; dabei geht es darum, was die Türkei geleistet hat während des Holocaust, aber auch aktuell in der Syrien-Krise – es ist angesprochen worden –, um Menschen zu helfen, um Menschen bei sich zu beherbergen. Das ist eine wirklich beachtliche Leistung der Türkei. Ich wünsche mir – das ist, glaube ich, die Hoffnung von uns allen –, dass wir dort in einigen Jahren eine gemeinsame Ausstellung betrachten können, in der die beiden Länder sich gemeinsam der Verantwortung stellen, sich gemeinsam mit dieser Völkermordsituation auseinandersetzen und daraus Kraft schöpfen für sich selbst, für die Region, für Europa, aber auch für die gesamte Welt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte mich in meinem Beitrag auf die Frage konzentrieren, warum es so wichtig, ja warum es so notwendig ist, dass der Deutsche Bundestag in der heutigen Debatte und fortan über den und vor allen Dingen von dem Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren spricht. Ich glaube, dazu müssen wir uns bewusst machen bzw. bewusst zu machen versuchen, was eigentlich Völkermord ausmacht, gewissermaßen der Fragestellung nachgehen, worin das spezifische Unwesen von Völkermord liegt. Nach meiner Beobachtung geht es den Organisatoren von Völkermord regelmäßig darum, durch physische Vernichtung ein Volk für immer zum Schweigen zu bringen, es aus der Geschichte zu tilgen, sei es als Ganzes oder als Minderheit in einer Bevölkerung. Völkermord ist gewissermaßen die umfassende Negation des Rechts der physischen Existenz und der Erinnerung an ein Volk. Dieser umfassenden Negation dürfen wir nicht auch noch die Negation des Verbrechens als solches hinzufügen, meine Damen und Herren. Das dürfen wir nicht! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vielmehr ist es ein zwingendes Gebot der Solidarität mit den Opfern und ihren Nachfahren, von dem Verbrechen als einem Völkermordverbrechen zu sprechen. Das schulden wir den Opfern und ihren Nachfahren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Gemäß diesem Verständnis ist die Bezeichnung als Völkermord darum nicht eine Möglichkeit, angemessen von den damaligen Geschehnissen zu sprechen, sondern nach meiner Überzeugung die einzige Möglichkeit einer angemessenen Sprache über die historischen Geschehnisse. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In der Verwendung dieses Begriffes liegt keine Reduktion der Geschehnisse auf einen Begriff, sondern die Verwendung des Begriffes ist die Beschreibung der Dimension dessen, was stattgefunden hat. Es ist also genau andersherum. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn das so ist, dann gehört zu einer ehrlichen Debatte heute allerdings auch die Frage: Warum geschieht das, auch in Deutschland, erst 100 Jahre später, erst heute? (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, sehr gut!) Es gehört zur Ehrlichkeit, die wir uns selbst schulden, uns mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich glaube nicht, dass das in Polemik abgehandelt werden sollte. Allerdings liegt dem ein Argument zugrunde, das ich für falsch halte, und ich möchte es aussprechen und mich damit beschäftigen. Das Argument war, dass man abwägen müsse. Zwar lägen allen die Fakten vor Augen, doch wir müssten – so lautete das Gegenargument – abwägen, da wir, wenn wir in dieser Weise in die Identität und das Identitätsgefühl der Türken eingriffen, möglicherweise keinen Beitrag zu Aussöhnung und Aufarbeitung leisteten. Das lag und liegt bei manchen womöglich noch dem Argument der Abwägung zugrunde. Ich bin der Auffassung, dass Abwägung ein Wesens-prinzip demokratischer Politik ist. Dadurch unterscheidet sich demokratische Politik von extremistischen und populistischen Auffassungen. Aber, um es etwas untechnisch zu formulieren: Bei Völkermord hört die Abwägung auf, meine Damen und Herren! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Die Würde des Menschen ist unantastbar – das ist das universelle, nicht abwägungsfähige normative Grundbekenntnis unserer Verfassung. Es bindet uns politisch und normativ. Die Anerkennung von Völkermord ist eine Frage der Menschenwürde, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Es widerspricht jeder Erfahrung, dass durch fortgesetztes Verschweigen ein Beitrag zum Dialog geleistet werden könnte. Alle Erfahrung belegt das Gegenteil. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Auch wenn es der schwierige, schmerzhafte Schritt sein soll, wie auch wir aus unserer Erfahrung beitragen können: Mit dem Aussprechen dessen, was geschehen ist, ist die Chance auf Aussöhnung und Aufarbeitung gegeben. Dieser erste Schritt muss getan werden. Wir wissen, dass es schmerzhaft ist. Es ist nicht zu billigen, es nicht zu schildern; aber wir müssen verstehen, dass dieser Völkermord, genauer gesagt, das Bestreiten des Völkermordes für das nationale Empfinden und für die nationale Identität in der Türkei eine besondere Rolle spielt. Das macht die Schwierigkeit aus, aber wir dürfen die fehlende Aufarbeitung nicht durch Verschweigen fortsetzen, sondern müssen versuchen, einen Beitrag zu leisten. Ich will kurz noch aus meiner Sicht betonen: All das gilt prinzipiell, aber es gilt besonders für Deutsche und Deutschland, weil es von Anfang an deutsche Mitwisserschaft gegeben hat, weil das Deutsche Reich erheblich Einfluss hätte nehmen können, um dieses Verbrechen aufzuhalten, zu behindern, zu stoppen, und weil es von Anfang an – darauf hat Professor Wolfgang Seibel vor kurzem hingewiesen – eine Komplizenschaft auch des Deutschen Reiches und Deutschlands beim Verschweigen und Vertuschen gegeben hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Darum gibt es auch eine besondere deutsche Verantwortung. Es gab Verschweigen, Verdrängen und Vertuschen von Anfang an. Heute beenden wir das Verdrängen und Vertuschen, aber nicht mit dem Verständnis, dass damit ein Ende gesetzt wird, sondern in dem Bemühen, dass durch das Aussprechen ein Beitrag zu einem Anfang für Aufarbeitung und Versöhnung geleistet wird. Auch 100 Jahre danach ist es nicht zu spät. Es ist überfällig, und wir versuchen, einen Beitrag dazu zu leisten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Dietmar Nietan das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dietmar Nietan (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 27. Januar des Jahres 2000 hat hier, an diesem Rednerpult, der große Elie Wiesel zu uns gesprochen. Er hat uns damals, am Holocaust-Gedenktag, eine Mahnung mit auf den Weg gegeben. Er sagte – ich zitiere –: Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal. Heute sind wir hier in diesem Hohen Hause zusammengekommen, um den Opfern des Völkermords an den Armeniern vor 100 Jahren unsere Ehre zu erweisen. Dass nunmehr in den Entschließungsanträgen aller Fraktionen vom Völkermord gesprochen wird, geschieht nicht, um Hass zu schüren oder ein befreundetes Land wie die Türkei belehren oder gar beleidigen zu wollen. Vielmehr wollen wir heute deutlich machen – ganz im Sinne von Elie Wiesels Mahnung –, dass wir uns eben nicht dazu herbeilassen wollen, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln. Aus diesem Grund, weil wir den unschuldigen Opfern Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, haben wir uns dazu entschlossen, die vom damaligen jungtürkischen Regime befohlene systematische Vertreibung und Vernichtung der anatolischen Armenier wie auch die der Aramäer, Assyrer, der chaldäischen Christen und -Pontusgriechen als das zu bezeichnen, was diese Verbrechen ohne Zweifel waren: ein Völkermord. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern Abend hat unser Bundespräsident in einer sehr beeindruckenden Rede zu Recht gefordert, dass wir Deutsche uns insgesamt der Aufarbeitung unserer Mitverantwortung oder vielleicht sogar Mitschuld beim Völkermord an den Armeniern stellen müssen. Wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, sollten uns deshalb in aller Form gegenüber dem armenischen Volk für die damalige moralische Gleichgültigkeit des Deutschen Reiches entschuldigen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gott sei Dank sind heute viele Menschen in der Türkei in der Frage des Umgangs mit diesem Völkermord viel weiter als ihre eigene Regierung. Schauen wir uns nur an, welche wirklich guten zivilgesellschaftlichen Initiativen sich in der Türkei in den letzten zehn Jahren gegründet haben, die das Wort „Völkermord“ nicht aussprechen, um zu polarisieren, sondern weil eben die Wahrheit die Grundlage der Versöhnung sein muss. Hinter dieser beispielhaften, mutigen Arbeit der türkischen Zivilgesellschaft sollten wir als Bundestag nicht zurückbleiben. Was meine ich damit? Ich bin froh, dass die heute vorliegenden Anträge in die Ausschüsse verwiesen werden. Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag vorgelegt hätten. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich hoffe sehr, dass in der Ausschussberatung deutlich wird, dass wir die richtige Balance zwischen Eifer und Gleichgültigkeit finden. (Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD]) Es geht nämlich nicht darum, dass der Antrag der beste ist, in dem das Wort „Völkermord“ am häufigsten auftaucht. Es geht nicht darum, etwas zu unterstellen, weil wir eine andere Meinung haben, wie man das Wort auch im offiziellen diplomatischen Gebaren verwendet. Es geht auch nicht darum, der Bundesregierung zu unterstellen, dass sie bisher nicht alles getan hat, oft auch hinter den Kulissen, damit es zur Versöhnung kommt und damit sich auch die Türkei der Auseinandersetzung mit dem Völkermord stellt. Vielmehr geht es darum, dass wir eine verantwortungsvolle Arbeit leisten, die nur ein Ziel haben kann, nämlich Versöhnung, nicht Rechthaberei. Das geht nur, wenn wir dabei auch die türkischen Freunde mitnehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass es selbstverständlich zu begrüßen ist, wenn es jetzt und auch schon im letzten Jahr Aussagen türkischer Regierungsmitglieder gibt bzw. gegeben hat, die den Nachfahren der Opfer ihr Beileid aussprechen. Allerdings werden in diesen Erklärungen die Verbrechen an den Armeniern gleichzeitig weiter relativiert, indem sie als eine Art unvermeidliche, fast schon natürliche Begleiterscheinung des Ersten Weltkriegs dargestellt werden. Wir alle, aber auch die jetzige türkische Regierung wissen, dass die Armenier nicht zufällig irgendwelchen Kriegswirren, sondern einem eiskalt geplanten Verbrechen des damaligen türkischen Staates zum Opfer gefallen sind. Dazu muss sich die Türkei bekennen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Generationen von heranwachsenden Menschen in der Türkei wurde in den Schulbüchern ein Bild der Ereignisse eingepflanzt – so möchte ich es nennen –, mit dem versucht wurde, auch nicht den leisesten Verdacht aufkommen zu lassen, dass sich der türkische Staat an den Armeniern vergangen hat. Deshalb war es so leicht, Emotionen in der Türkei zu schüren, weil man den Menschen erzählt hat: All die, die innerhalb und außerhalb der Türkei von Völkermord sprechen, tun das, weil sie den Ruf unseres Landes beschädigen wollen. – Das ist falsch. Leider ist es genau umgekehrt; denn aus dem hinter diesem Geschichtsbild stehenden Zwang, die wahren Ausmaße der damaligen Verbrechen und ihre Urheber zu verleugnen, weil man glaubt, sonst die nationale Identität zu verlieren, erwächst am Ende nur erneutes Unrecht. Diesen Zyklus kann nur einer durchbrechen, nämlich die türkische Regierung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich deutlich machen, dass ich der festen Überzeugung bin, dass am Ende die Menschen in der Türkei selbst wissen wollen, wie ihre Geschichte war, und dass sie auch zu den dunklen Seiten ihrer Geschichte stehen wollen. Weil das so ist, bin ich fest davon überzeugt, dass es zu einer Versöhnung kommen wird. Immer mehr Menschen in der Türkei fragen nach ihrer Vergangenheit und entdecken dabei zum Beispiel ihre eigene verschüttete armenische Geschichte. Deshalb kann man sagen: Der 1915 gestartete Versuch, das westarmenische Volk und seine Kultur auszulöschen, ist gescheitert. Er musste scheitern, weil es einen uneinnehmbaren Ort gibt: Er nennt sich Erinnerung. Diesen Ort gibt es nicht nur in den Herzen der Nachfahren der Opfer, sondern auch in den Herzen einer wachsenden Zahl von Menschen, die nicht vergessen und vertuschen wollen. Das Großartige ist, dass die Zahl dieser Menschen wächst – in einem wunderbaren Land, welches wir Türkei nennen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Erika Steinbach ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Erika Steinbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns heute Vormittag hier versammelt, um Anteil an dem Schicksal der Opfer des Genozids im Osmanischen Reich zu nehmen. Wir haben uns nicht versammelt, um irgendjemanden an den Pranger zu stellen. Wir wollen derer gedenken, die Opfer geworden sind, und daraus auch die Lehren ziehen. Auf den Tag genau vor 100 Jahren begann der Völkermord an den Armeniern, den Aramäern, den Assyrern, den Chaldäern und auch den Pontosgriechen im Osmanischen Reich. Es waren alle dort ansässigen christlichen Religionsgemeinschaften davon betroffen. „Dieses schreckliche Geschehen sollte als das bezeichnet werden, was es war: ein Genozid“, stellte Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, mit Recht fest. Und er fügte an: „Hitler hat sich später den Völkermord an den Armeniern quasi zum Vorbild für die Vernichtung der Juden genommen“. Prophetisch hat Franz Werfel in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ die Todesmärsche als wandernde Konzentrationslager geschildert. Es kommt nicht von ungefähr, dass Peter Glotz und ich seinerzeit, vor 15 Jahren, den Menschenrechtspreis der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ nach Franz Werfel benannt haben, um damit einen Denkstein zu setzen. Der erste Preisträger im Jahr 2003 war Mihran Dabag, der Armenier, der sich mit der Genozidforschung beschäftigt hat. Aufarbeitung und Gedenken beginnen mit der Auseinandersetzung über das Geschehene. Es ist gut, dass Künstler, Intellektuelle und Teile der türkischen Bevölkerung längst über das Stadium der stillen innerlichen Artikulation hinaus sind. Die Reflektion erfolgt öffentlich. Man setzt sich mit dem Schicksal der früheren armenischen Mitbürger auseinander und nimmt Anteil daran. So haben im Jahr 2008 viele Menschen in der Türkei eine Erklärung veröffentlicht und das unerträgliche langjährige Schweigen durchbrochen. Das war ein wichtiger und mutiger Schritt. Denn Mut gehörte damals wie heute dazu, und diesen Mut sollten wir unterstützen. Das lässt sich schon daran ermessen, wie auch heute noch seitens der türkischen Regierung mit diesem Teil ihrer eigenen Geschichte umgegangen wird, wenn beispielsweise Botschafter nur deshalb abgerufen werden, weil eine Vokabel verwendet wurde, mit der man sich nicht auseinandersetzen möchte. Unverständlich und für mich unbegreiflich ist die Vehemenz, mit der heute noch auch bei uns in Deutschland in Teilen von Politik und Gesellschaft gegen eine ungeschönte und unrelativierende Benennung dieses Genozids als Genozid reagiert wird. Ich kann es nicht verstehen. In dem vorliegenden Antrag wird mit Fug und Recht die seinerzeitige viel zu große Rücksichtnahme der deutschen Reichsregierung auf den türkischen Bündnispartner im Ersten Weltkrieg angeprangert. Frau Kollegin Jelpke hat darauf hingewiesen: Karl Liebknecht war einer derjenigen, der das öffentlich angeprangert hat. Aber es gab noch jemanden, der das getan hat, und zwar der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger. Ganze zwei Politiker im Deutschen Reich haben sich öffentlich mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Angesichts der Zurückhaltung, etwas eindeutig zu benennen, das eindeutig ist, stellt sich die Frage, ob es nicht auch heute eine unangemessene Rücksichtnahme auf den NATO-Bündnispartner Türkei ist, die verhindern will, dass der Genozid im Osmanischen Reich ohne Umschweife und Verbrämung schlicht und wahrheitsgemäß Genozid genannt wird. Die vorangegangenen Diskussionen in den letzten Wochen haben das im Grunde genommen deutlich gemacht. Was ist denn die Folge daraus? Wir fallen damit den mutigen Kräften in der Türkei in den Rücken. Das kann nicht unser Anliegen sein. Was mit dem Genozid seinerzeit verbunden war, ist für uns unvorstellbar. Es war nicht nur die Tötung einer ganzen Gruppe von Menschen; es ging mit einer unglaublichen Brutalität vor sich. Man massakrierte die Menschen. Martin Niepage, von 1913 bis 1916 Lehrer an der Deutschen Schule in Aleppo, berichtete: Viel entsetzlichere Dinge erzählten die Ingenieure der Baghdad-Bahn, nachdem sie nach Hause zurückgekehrt waren. Sie berichteten, dass am Bahndamm bei Tel Abbait und Rasulain geschändete Frauenleichen massenhaft herumlagen. Vielen von ihnen hatte man Knüppel in den After hineingetrieben. Der deutsche Konsul aus Mosul, Herr Holstein, berichtete, er habe auf manchen Stücken des Weges von Mosul nach Aleppo so viele abgehackte Kinderhände liegen sehen, dass man damit den ganzen Weg hätte pflastern können. Ja, es war wohl wahr: Kinder und Frauen wurden auch in die Sklaverei geschickt. Die Zerstörung und die Entweihung unzähliger Kirchen und Klöster, die Vernichtung ganzer Dörfer gehörten zu dem perfiden Plan. Die Vertreibung geschah systematisch zur Vernichtung der Menschen. Opfer starben auf den Todesmärschen in der syrischen Wüste. Ein Beamter des deutschen Konsulats beschreibt die Lage im Juli 1916 in einem Schreiben an den Reichskanzler – die deutschen Diplomaten haben immer wieder darauf hingewiesen und gemahnt, aber es ist nichts erfolgt – wie folgt: … die Strecke von Sabkha über Hammam nach Meskene sei mit … Kleidungsstücken übersät; sie sähe aus, als ob dort eine Armee zurückgegangen wäre. Er schrieb weiter, dass allein in Meskene 55 000 Armenier begraben seien. Von mancher Seite kommt heute der Rat, die Armenier und andere Opfergruppen sollten sich auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren, statt Kraft darauf zu verwenden, die Staaten der Welt zur Anerkennung des Genozids am eigenen Volk aufzufordern. Die Frage drängt sich direkt auf, ob die Wirkung eines solchen Verbrechens an einem Volk alle Zukunftsorientierung über Generationen hinweg lahmlegt oder sie gar gänzlich nimmt. Ich glaube, dieses Leid zu teilen, es anzuerkennen, es beim Namen zu nennen, hilft den Nachfahren der Opfer, ihre eigenen Kräfte wieder zu stärken, zu bündeln und die Zukunft besser zu bewältigen. Man braucht Solidarität von anderen, die keine Opfer waren, oder von anderen, die auch Opfer waren und sich an die Seite stellen. Das hat Papst Franziskus sehr deutlich gemacht. Ihm zufolge ist das Gedenken eine unabdingbare Pflicht der Menschen; „… denn“, so Papst Franziskus, „wo es keine Erinnerung gibt, hält das Böse die Wunde … offen“. Deshalb ist es gut, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns heute gemeinsam erinnern und an der Seite der Nachfahren der Opfer stehen. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Zum Schluss dieser Aussprache erhält der Kollege Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geehrte Gäste! Lassen Sie es mich gleich beim Namen nennen: Wir gedenken heute des Völkermordes an den Armeniern, und wir beraten Anträge. Die abscheulichen und brutalen Ereignisse vor nunmehr 100 Jahren im Osmanischen Reich sind von meinen Vorrednern bereits beleuchtet worden. Nicht übersehen dürfen wir hier im Deutschen Bundestag die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das über die Vorgänge bestens informiert war und nichts dagegen unternommen hat. Daraus erwächst für uns Deutsche heute eine ganz besondere Verantwortung. Diese gebietet uns erstens, das geschehene Grauen niemals zu vergessen, zweitens, die bedrückende, aber unzweifelhafte historische Wahrheit zu fördern, drittens – und aus meiner Sicht am wichtigsten –, die Versöhnung zwischen Armenien und der Türkei voranzubringen. Grundlage jeder Versöhnung ist eine wahrheitsgetreue, kritische Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Geschichte, eine ungeschönte historische Wahrhaftigkeit. Das wissen gerade auch die deutschen Heimatvertriebenen sehr genau. Dazu gehört auch die zutreffende Einordnung der an den Armeniern verübten Verbrechen. Dabei geht es beileibe nicht um bloße juristische Kategorisierung. Davon zeugt allein schon die intensive Debatte der vergangenen Tage. Es geht um Anerkennung des Leides in seinem vollen Umfang. Der Vorwurf des Völkermordes wiegt schwer. Die völkerrechtliche Definition wurde heute schon mehrfach zitiert. Diese Definition hat übrigens keinesfalls eine zeitlich einschränkende Komponente, etwa erst ab Inkrafttreten der einschlägigen UN-Konvention im Jahr 1951. Diese regelt nämlich nur die Konsequenzen für einen schrecklichen Sachverhalt, der vor Inkrafttreten dieser Konvention nicht etwa weniger schrecklich gewesen ist. Es kommt auch niemand auf die Idee, andere Völkermorde vor 1951 mit dem gleichen Argument zu beschönigen. Mit einem solchen Vorwurf geht man nicht leichtfertig um. Wenn wir jedoch unserer Verpflichtung zur Wahrheitsförderung gerecht werden wollen, müssen wir aus meiner Sicht anerkennen: Die Vertreibung und Ermordung der Armenier vor 100 Jahren war Völkermord. Eine solche Feststellung ist schon allein deshalb so wichtig, weil sie die Opfer und deren Nachfahren vor der ständig präsenten Relativierung oder gar Leugnung des Erlittenen befreit und somit angemessenes – auch gemeinsames – Gedenken und Erinnern ohne Rechtfertigungsnot ermöglicht. Nicht nur aus diesem Grund bin ich froh, dass mit dem vorliegenden Koalitionsantrag ein Weg begonnen wurde, sich historischen Tatsachen zu nähern und diese beim Namen zu nennen. Ich verstehe auch den Ansatz hinter der gewählten Formulierung. Die Aufarbeitung des Geschehens und die Versöhnung zwischen Armeniern und Türken – unsere Hauptanliegen – können nicht bei uns in Deutschland erfolgen. Wir können dafür aber Impulse geben. Ich sage ganz aufrichtig: Eine klare Formulierung halte ich für unerlässlich, und dafür plädiere ich. Ob ein Völkermord als solcher bezeichnet wird oder nicht, macht das Geschehene um nichts besser. Beschönigungen hingegen perpetuieren Unrecht in die Zukunft. Schon deswegen ermuntere ich die Türkei, hier etwas mutiger zu werden. Gleichzeitig liegt mir viel daran, deutlich zu machen, dass sich die Bezeichnung der Verbrechen als Völkermord in keiner Weise gegen die Türkei oder gar ihre Bevölkerung richtet. Es ist kein Angriff auf das Ansehen der modernen Türkei, wenn wir an das Leid der Opfer des Völkermords an den Armeniern erinnern und das auch so nennen. Ganz im Gegenteil: Ein Staat, der auch zu den dunkelsten Seiten der eigenen Geschichte steht, zeigt Stärke und wahre Souveränität. Gerade wir Deutschen haben unsere Erfahrungen mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte gemacht. Vor Jahrzehnten hätte kaum jemand zu hoffen gewagt, dass Deutschland – nach der Schoah und den Verbrechen der Nazis – im Jahre 2015 nicht nur mit seinen Nachbarstaaten, sondern gerade auch mit Israel in enger Freundschaft verbunden sein würde. Wir haben gelernt, dass ein Prozess der Aufarbeitung auch schmerzhafte Erkenntnisse erfordert. Diese auszuhalten, macht aber stärker. Verzögerung wichtiger Aufklärungsarbeit oder gar Schönfärberei begangener Verbrechen hingegen ist sicher nicht der richtige Weg, um mit der eigenen Vergangenheit umzugehen. Bedauerlich finde ich, dass in der Türkei diesbezüglich eher das Muster „einen Schritt vor, zwei Schritte zurück“ zu beobachten war. Das den Armeniern zugefügte Leid wird dort inzwischen zwar offener diskutiert; ermutigenden Signalen aus der türkischen Zivilgesellschaft folgen jedoch allzu oft Rückschläge seitens der Regierung. Jenen, die es wagten, die Wahrheit offen auszusprechen – und Orhan Pamuk ist nur ein Beispiel –, wurden Strafen angedroht, und wenn der Papst, das Europäische Parlament oder der Europarat den Völkermord an den Armeniern als solchen benennen, reagiert die türkische Regierung mit wütenden verbalen Ausfällen und mit Drohungen. Die ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit wäre jedoch unabdingbare Voraussetzung für einen echten, nachhaltigen Versöhnungsprozess mit den armenischen Nachbarn. Von diesen erwarte ich Offenheit, Versöhnungsbereitschaft und den Verzicht auf verbale Rache. Die türkische Regierung fordere ich auf, sich offen mit der Vergangenheit des Osmanischen Reichs auseinanderzusetzen und eine systematische Aufarbeitung der Ereignisse vor 100 Jahren anzugehen. Das wäre letztlich auch im Interesse der Türkei selbst. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/4684, 18/4335 und 18/4687 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf der Drucksache 18/4335 zum Tagesordnungspunkt 25 b soll ebenfalls federführend beim Auswärtigen Ausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich möchte Sie dann noch darauf aufmerksam machen, dass sich der Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt hat, wegen des gesetzlichen -Feiertags am 1. Mai, den wir selbstverständlich nicht aufheben wollen, die Frist für die Einreichung von Fragen zur mündlichen Beantwortung, die üblicherweise freitagmittags endet, in der Sitzungswoche vom 4. Mai aus diesem Grund auf Donnerstag, den 30. April, 10 Uhr, zu verlegen, und frage, ob jemand dagegen Widerspruch anmeldet. – Das ist nicht der Fall. Dann haben wir auch das einvernehmlich so festgehalten. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 24: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Jutta Krellmann, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Programm für gute öffentlich geförderte Beschäftigung auflegen Drucksache 18/4449 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Einen Widerspruch dazu sehe ich nicht. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Landesministerin Heike Werner das Wort. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Heike Werner, Ministerin (Thüringen): Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Beschäftigungslage in Deutschland zeichnet sich durch drei Dinge aus: einen hohen Beschäftigungsgrad, einen hohen Anteil an niedrig entlohnter und unsicherer Beschäftigung und einen hohen Anteil dauerhaft erwerbsloser Menschen. Trotz der sogenannten Hartz-IV-Reformen und der derzeit guten Konjunkturlage stagniert die Zahl der Menschen, die länger als ein Jahr erwerbslos sind, seit 2011 bei über 1 Million. Sehr geehrte Damen und Herren, hinter dieser Zahl verbergen sich individuelle Biografien von Menschen, die über Jahre hinweg die Erfahrung machen müssen, dass sie in der Arbeitswelt nicht gebraucht werden, dass ihr Beitrag zum Wohlstand nicht benötigt wird. Das ist eine erniedrigende Erfahrung. Ich denke, darüber sind wir uns in diesem Haus alle einig. Ich gehe auch davon aus, dass wir darin übereinstimmen, dass wir deshalb mehr für diese Menschen tun müssen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Es mehren sich auch schon seit längerem die Stimmen, nicht nur in der Linken, die Zweifel an der Agenda 2010 äußern; denn, sehr geehrte Damen und Herren, es ist vollkommen richtig, dass nicht mehr Menschen deshalb eine Arbeit finden, weil man sie mit Leistungskürzungen zwingt, miese Jobs anzunehmen. Umgekehrt ist es ja wohl so, dass die Reformen mit schlecht bezahlter Arbeit gut bezahlte Arbeit verdrängt haben. (Beifall bei der LINKEN) Was also tun, wenn der einstige Heilsweg sich als Holzweg erweist? In den 90er-Jahren hatte sich die richtige Erkenntnis durchgesetzt, dass die Arbeitsmarktpolitik die kontinuierliche Anpassung der beruflichen Qualifikationen an die sich wandelnden Anforderungen der Arbeitswelt unterstützen muss. Zum Glück wurde mit Hartz IV diese aktive Arbeitsmarktpolitik nicht ganz aufgegeben, auch wenn ich hinzufügen muss, dass mit Hartz IV das Fordern eindeutig die Oberhand über das Fördern gewonnen hat. Dabei ist es erwiesen, dass die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik, also berufliche Qualifizierung, Einarbeitungszuschüsse, Umschulungen usw., in einer bestimmten Situation von Nutzen sein können. Wir wissen, dass davon vor allem diejenigen profitieren, die noch nicht lange erwerbslos sind oder unmittelbar von der Arbeitslosigkeit bedroht sind. Deshalb sollten wir an diesen Instrumenten festhalten. Aber wir müssen uns auch fragen: Was tun wir für diejenigen, die schon seit Jahren raus sind aus dem Job? Viele von ihnen haben Hunderte Bewerbungen geschrieben, haben sich weitergebildet oder umschulen lassen. Sie haben Bewerbungstrainings mitgemacht, haben sich in 1-Euro-Jobs verdingt, haben als Leiharbeiter gejobbt oder für ein, zwei Jahre in einem Beschäftigungsprojekt gearbeitet. Was sagen wir diesen Menschen? Erzählen wir ihnen weiterhin, dass nur die zweite Beschäftigungsmaßnahme, die dritte Schulung oder das vierte Bewerbungstraining durchlaufen werden muss und dann ganz bestimmt ein fester Arbeitsplatz da sein wird? Ich bitte Sie! Das kann nicht unser Ernst sein. Diese Menschen wissen ganz genau, genauso gut wie wir hier, dass ihnen eine weitere Maßnahme nichts nützen wird. (Beifall bei der LINKEN) Es ist gut gemeint, wenn es heißt, dass die Arbeitsmarktpolitik den Menschen eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt bauen soll. Aber in den Ohren derjenigen, die schon über viele dieser Brücken gegangen sind, ohne dass am anderen Ende ein Arbeitsplatz gestanden hat, sind das leere Worte. Ich sage Ihnen: Die Menschen haben damit recht. Sie haben recht, wenn sie sagen, dass sie einen anständigen Arbeitsplatz wollen, an dem sie zeigen können, was in ihnen steckt, an dem sie Bestätigung erfahren und wo ihre Leistung wertgeschätzt wird. (Beifall bei der LINKEN) Wenn es diese Arbeitsplätze weder in Unternehmen noch im öffentlichen Dienst gibt, dann sind wir dazu verpflichtet, anderswo ordentliche Arbeitsplätze zu schaffen. (Beifall bei der LINKEN) Manche mögen jetzt einwenden, dass das bereits geschieht. Richtig: Wir haben Bürgerarbeit, wir haben 1-Euro-Jobs. Aber ist das gute Arbeit? Sind das die Arbeitsplätze, die die Menschen brauchen? Von einem guten Arbeitsplatz erwarten die Menschen zu Recht, dass er anständig entlohnt ist, dass er voll sozialversicherungspflichtig ist, dass er auf Freiwilligkeit beruht und die Chance auf eine dauerhafte Beschäftigung bietet. All das bieten die diversen Modelle von Bürgerarbeit gerade nicht. Auch das neue Programm von Arbeitsministerin Nahles für 10 000 geförderte Arbeitsplätze, das wir grundsätzlich begrüßen, erfüllt diese Anforderungen leider nicht. Die zentrale Schwachstelle dieser Programme ist, dass sie denjenigen Menschen, die keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, keine dauerhafte Beschäftigungsperspektive bieten. Mit Beginn ihrer Beschäftigung kennen die Menschen schon das Datum, an dem sie wieder mit Hartz IV auf der Straße stehen werden. Das ist keine Perspektive. (Beifall bei der LINKEN) So sieht das im Übrigen auch der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise. Er sagte: „Wir müssen feststellen, dass für diese Menschen kein Angebot da ist.“ Eine wirkliche Perspektive – auch das hat Herr Weise in dieser Woche gesagt – besteht darin, öffentlich geförderte Arbeitsplätze zu schaffen, die prinzipiell auch von Dauer sein können. Genau dieser Aufgabe stellen wir uns in Thüringen. Ich möchte dabei eines klarstellen: Mir geht es nicht darum, Leistungen für Ausbildung, Qualifizierungen, Praktika usw. zurückzufahren. Das ist aber in den letzten Jahren im Bund geschehen, was ich ausdrücklich kritisiere. Wir müssen beides tun: die Vermittlung stärken und Arbeitsplätze für diejenigen schaffen, die anderweitig keine realistische Chance auf einen Job haben. Das sind nicht wenige Menschen. Nach Auffassung der Bundesagentur für Arbeit hat von den 1 Million Langzeit-arbeitslosen in Deutschland nur rund die Hälfte mithilfe von Qualifizierungs- und Schulungsangeboten eine Chance, auf dem regulären Arbeitsmarkt eine Stelle zu bekommen. Weitere 300 000 Langzeitarbeitslose bedürften Trainingsmaßnahmen und sind damit vielleicht auf mittlere Frist in eine Stelle zu vermitteln. Weitere 200 000 Menschen haben keinerlei Chance auf dem Arbeitsmarkt, darunter viele Ältere und Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. In Thüringen sind das 20 000 Menschen. Sie beziehen seit 2005 durchgängig Hartz IV. Dennoch haben viele dieser Menschen immer noch den starken Wunsch, sich über Arbeit in die Gesellschaft einzubringen. Das zeigt die große Nachfrage, die bereits die Ankündigung unseres geplanten Beschäftigungsprogramms für Langzeitarbeitslose ausgelöst hat. Wir müssen feststellen, dass unter denjenigen, die nachfragen, vor allem ältere Menschen sind, deren sogenanntes Vermittlungshemmnis einzig und allein ihr Alter ist. Wer mit 56 oder 57 Jahren erst einmal ein Jahr oder länger raus aus dem Job ist, dem helfen keine Qualifizierungsmaßnahmen. Kommen dann vielleicht noch gesundheitliche Probleme dazu – zum Beispiel der kaputte Rücken bei einem Handwerker oder einer Krankenschwester –, dann finden diese Menschen schlicht und einfach keinen Arbeitsplatz mehr, selbst dann nicht, wenn sie hochmotiviert und leistungsbereit sind. Diesen Menschen sollten wir mit öffentlich geförderter Beschäftigung eine Chance geben, sich produktiv einzubringen. (Beifall bei der LINKEN) Die Gesellschaft würde davon profitieren. Lassen Sie mich eines deutlich sagen: Das ist keine Beschäftigungstherapie, sondern das sind produktive Tätigkeiten, die erfüllt werden können, die unserem Gemeinwohl dienen. In diesem Sinne haben wir in Thüringen vor zwei Tagen gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit ein Programm für gemeinwohlorientierte Beschäftigungsförderung auf den Weg gebracht. In diesem Jahr fördern wir gemeinsam mit der Bundesagentur 500 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bei Kommunen, Vereinen, Kirchen, Umweltinitiativen und dergleichen. In den kommenden Jahren wollen wir die Zahl erhöhen. Der Bruttolohn liegt bei 1 100 Euro, und die Beschäftigungsdauer beträgt bis zu drei Jahre. Jetzt werden Sie sagen: Das ist nicht der große Wurf, und es entspricht auch nicht eins zu eins dem Antrag, den die Linke heute eingebracht hat. – Da kann ich nur antworten: Sie haben recht. Wir würden gern mehr Arbeitsplätze fördern, mit höheren Löhnen und längerer Laufzeit. Dazu braucht es aber Partner. Das gilt für Thüringen wie für jedes andere Bundesland. Wir haben in Thüringen das Glück, mit der Bundesagentur für Arbeit einen Partner zu haben, der unsere Sicht teilt. Es ist besser, für diejenigen, die keine Chance mehr auf eine Stelle haben, Arbeit zu finanzieren, als sie mit Hartz IV nach Hause zu schicken. (Beifall bei der LINKEN) Warum also nicht passive Leistungen aktiv in Löhne umwandeln? Ohne den Bund – das wissen wir alle ganz genau – kann kein Bundesland auf dem Arbeitsmarkt dauerhaft und substanziell etwas bewegen. Darum hatten wir uns über das positive Signal aus dem Bundesarbeitsministerium im Hinblick auf einen Passiv-Aktiv-Transfer gefreut. Jetzt heißt es leider: Finanzminister Schäuble zieht nicht mit. Und in der Tat: Es ist so. Frau Kipping hat im Finanzministerium nachgefragt und bekam eine entsprechende Antwort. Nach Auffassung des Staatssekretärs Kampeter lassen sich das Arbeitslosengeld II und die Kosten der Unterkunft nicht in Lohnkostenzuschüsse umwandeln, weil – ich zitiere – „eine belastbare Einschätzung über das Realisieren der Einsparungen durch Wegfall dieser Leistungen bei ausgewählten Leistungsempfängern nicht möglich ist“. Zwei Dinge an dieser Antwort sind bemerkenswert: erstens die Auffassung des Finanzministeriums, bei der Umwandlung von HartzIVLeistungen in Löhne gehe es um Einsparungen. Nein, meine Damen und Herren, es geht um Investitionen. Indem wir Löhne statt Hartz IV auszahlen, schaffen wir Arbeitsplätze. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Mit der Arbeit in Vereinen, in Kirchengemeinden und in Kommunen schaffen diese Menschen Werte, die der Gesellschaft zugutekommen. Es wäre schön, wenn das Bundesfinanzministerium einmal zur Kenntnis nehmen würde, dass Arbeit im Gemeinwohlbereich echte Wertschöpfung ist. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. In der Antwort – dieser Aspekt der Antwort ist beachtlich – heißt es sinngemäß, es sei recht kompliziert, die haushalterischen Auswirkungen der Umwandlung von Hartz-IV-Leistungen in Löhne zu bestimmen. Darauf kann ich nur antworten: Sie machen es sich ein bisschen einfach. Meine Damen und Herren, wir reden hier darüber, Zehntausenden Menschen eine für sie und die Gesellschaft sinnvolle Alternative zur Arbeitslosigkeit zu erschließen. Und der Finanzminister lässt mitteilen, es sei ihm zu aufwendig, die notwendigen Berechnungen anzustellen. (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unglaublich!) Sehr verehrte Damen und Herren, Ihnen liegt der Antrag der Linken vor, der die Grundzüge eines Programms für öffentliche Beschäftigung enthält. Darin machen wir einen konkreten Vorschlag, wie HartzIVLeistungen in Lohnleistungen umgewandelt werden können. Dazu müssten nicht einmal die Gesetze geändert werden. Mit einem Haushaltsvermerk über die gegenseitige Deckungsfähigkeit der verschiedenen Titel der Arbeitsmarktpolitik wäre es möglich, dass das bei den passiven Leistungen nicht ausgegebene Geld für aktive Leistungen – also die Bezahlung von Arbeit – verwendet werden kann. (Beifall bei der LINKEN) Die öffentlich geförderte Beschäftigung gemeinwohlorientierter Arbeit ist eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Die Kommunen könnten davon profitieren, zum einen durch die eingesparten Kosten der Unterkunft, zum anderen durch die Unterstützung ihrer so-zialen Infrastruktur. Sie profitieren auch, weil Kosten -gespart werden, die durch die Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit entstehen. Sehr geehrte Damen und Herren, ich bitte Sie sehr herzlich, dem Antrag der Linken zuzustimmen; denn gemeinwohlorientierte Arbeit über einen PassivAktiv-Transfer ist für einen Teil der Langzeitarbeitslosen der einzige Weg in Beschäftigung. Die soziale Infrastruktur wird durch die erbrachte Arbeitsleistung gestärkt, was uns allen zugutekommt. Schließlich werden die öffentlichen Haushalte nachhaltig von den Folgekosten der Langzeitarbeitslosigkeit entlastet. Es wäre also in unser aller Interesse, wenn sich die Union dieser Einsicht nicht länger verschließen würde. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht das erste Mal, dass wir aufgrund eines Antrags der Linken über öffentlich geförderte Beschäftigung reden; aber es ist das erste Mal, dass von der Fraktion der Linken zu einem eigenen Antrag niemand das Wort ergreift – ganz so, als ob sie sich des Antrags schämen würde. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Da kam das Leben daher! Eine Sozialministerin!) Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass die Ministerin offensichtlich keinerlei Anlass sah, über den Antrag zu reden, sondern im Wesentlichen über die Situation in Thüringen gesprochen hat. Das finde ich schon sehr seltsam. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das muss doch nicht sein! Stimmt gar nicht!) Nichtsdestotrotz: Ein solcher Antrag der Linken ermöglicht es natürlich, über die unterschiedlichen Grundphilosophien nachzudenken. Der Antrag der Linken verfolgt den Ansatz der öffentlichen Förderung von Beschäftigung. Wir in der Koalition hingegen sehen in der Förderung der Menschen den richtigen Weg. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das muss jetzt aber nicht sein!) Wir wollen die Stärken und Begabungen der Menschen in den Fokus nehmen und helfen, diese weiterzuent-wickeln. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Wie denn?) Wir haben, wie Sie selbst im Antrag schreiben, mehr als 500 000 Menschen, die länger als zwei Jahre keine Arbeit hatten. Vermutlich ist die Zahl höher. Sie ist sicherlich höher, wenn wir die Menschen einbeziehen, die ein Jahr oder länger arbeitslos sind. Nun wollen Sie öffentlich geförderte Beschäftigung im Umfang von 200 000 Stellen schaffen. Die Stellen sollen jedem offenstehen, der ein Jahr oder länger arbeitslos ist. Eingrenzungen oder Auswahlverfahren finden nicht statt. Ich stelle mir die Frage: Wie stellen Sie sicher, wenn sich 500 000 und mehr auf Ihr Programm bewerben, dass die 200 000 Stellen auskömmlich sind? Dazu schreiben Sie nichts in Ihrem Antrag. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zuruf von der LINKEN: Besser als 500 000 Arbeitslose!) – Ich merke schon aufgrund der Zwischenrufe, dass das Bedürfnis bei der Fraktion der Linken, zu diesem Tagesordnungspunkt zu reden, groß ist. Aber dann hätten Sie nicht die Ministerin reden lassen sollen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das müssen Sie sich nicht antun! Das ist wirklich lächerlich!) Also, meine Damen und Herren, ich vermute einmal, dass Sie, wenn die 200 000 Stellen nicht auskömmlich sind, ganz schnell 1 Million Stellen fordern. Es gibt aus Ihrer Sicht nämlich nichts, was man nicht mit mehr Geld regeln könnte. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben Sie echt nicht nötig, auf der Ebene zu argumentieren!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Zimmer, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann zu? Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Nein; denn sie hatte die Möglichkeit, selber zu sprechen, und hat die Ministerin sprechen lassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zurufe von der LINKEN) Meine Damen und Herren, hier wird die Differenz zwischen Ihrer und unserer Grundphilosophie deutlich. Die Linke will einfach 200 000 Stellen zur Verfügung haben. Darauf kann sich jeder bewerben. Die Fallmanager mit ihrer Qualifikation und Erfahrung sind nicht mehr gefragt, weil es gar nicht darum geht, Langzeitarbeitslosen zu helfen, passgenaue Maßnahmen zu finden. (Beifall der Abg. Jutta Eckenbach [CDU/CSU]) Der einzelne Mensch mit seinen Stärken und Schwächen ist egal – Hauptsache, öffentlich gefördert. Die Wahrheit aber ist: Sie fördern damit niemanden, sondern Sie verstecken Arbeitslosigkeit hinter öffentlich geförderter Beschäftigung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Hartz IV ist besser?) Sie machen alle Menschen gleich, weil Ihnen die Unterschiede egal sind. Mit der gleichen Grundphilosophie hat es schließlich und endlich auch in der DDR keine Arbeitslosen gegeben. (Beifall bei der CDU/CSU) Dann enthält Ihr Antrag viel linke Folklore, etwa dass wir nicht die Arbeitslosigkeit bekämpfen, sondern die Arbeitslosen, dass die Hartz-IV-Leistungen unter der -Armutsgrenze seien oder die 1-Euro-Jobs perspektivlos. Zu jedem dieser Punkte ließe sich trefflich etwas sagen. Ich versage es mir hier, weil mir schon klar ist: Folklore ist gegen Argumente immun. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh Mann!) Folklore wärmt das Herz, weniger den Verstand. (Sigrid Hupach [DIE LINKE]: Herz und Verstand!) Aber auf eines will ich schon einmal eingehen: Sie wollen von den Arbeitgebern eine zeitlich befristete Sonderabgabe zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit erheben. Angesichts solcher Forderungen – das ist nicht Ihre einzige Forderung – frage ich mich dann schon: Haben Sie denn keine Bedenken, dass Ihnen irgendwann das Geld anderer Leute ausgehen könnte? (Beifall bei der CDU/CSU) Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Insofern war die Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre erfolgreich. Aber auch hier zeigt sich Ihr kreativer Umgang mit Statistiken. Zwischen 2009 und 2014, so schreiben Sie, sei der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen von 33,3 auf 37,2 Prozent gestiegen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Stimmt doch!) Sie verschweigen aber zweierlei: Zum einen ist die Anzahl der Arbeitslosen deutlich gesunken, zum anderen auch die Anzahl der Langzeitarbeitslosen. Von beiden haben wir heute deutlich weniger als 2009. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 1 Million Langzeitarbeitslose sind 1 Million zu viel!) Lediglich das Verhältnis von Arbeitslosen zu Langzeitarbeitslosen hat sich geändert, aber auf niedrigerem Niveau. Ihre Zahlen hingegen unterstellen, die Zahl der Langzeitarbeitslosen sei irgendwie gestiegen. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. (Daniela Kolbe [SPD]: Aber sie sinkt nicht!) Richtig hingegen ist, dass es einen schwer zu vermittelnden Kern von Erwerbslosen gibt. Hier reichen die bisherigen Antworten vermutlich nicht mehr aus. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es interessant!) Daher ist es richtig, dass wir uns den Werkzeugkasten der Arbeitsmarktpolitik noch einmal genauer anschauen. Ich will drei Aspekte exemplarisch nennen, die wir innerhalb der Koalition in den kommenden Wochen intensiver zu erörtern haben. Ein erster Punkt betrifft die Förderung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Hier halte ich die Integration von Leistungen wie die sozialpädagogische Betreuung oder auch die Vermittlung von beruflichen Kenntnissen, also von Leistungen nach § 45 SGB III, in § 16 SGB II für sinnvoll, um Leistungen aus einer Hand für die Betroffenen zu ermöglichen. Dazu gehört, dass wir Maßnahme und Begleitung praxistauglich in einem Instrument zusammenfassen und aufeinander abstimmen. Der zweite Punkt betrifft die zeitliche Befristung der Förderung. Es macht meines Erachtens keinen Sinn, erfolgversprechende Fördermaßnahmen mit einer starren Grenze von zwei Jahren innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren zulasten der Betroffenen zu begrenzen. Stattdessen sollten wir über ein Jahresmodell nachdenken, bei dem die Fallmanager vor Ort jedes Jahr neu über die Maßnahme bzw. die Höhe der Förderung entscheiden, auch für eine Zeit von insgesamt mehr als zwei Jahren. Der letzte Punkt, den ich an dieser Stelle anregen mag: Wir sollten die Kriterien für Arbeitsgelegenheiten überdenken. Ich meine, dass Maßnahmen, die in erster Linie den Gedanken der Wettbewerbsneutralität und der Zusätzlichkeit und weniger dem Interesse der Langzeit-erwerbslosen entsprechen müssen, eher zu Beschäftigungstherapien pervertieren, als dass sie Menschen helfen, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Mein Plädoyer ist daher, diese Kriterien abzuschaffen oder zumindest so abzuschwächen, dass die Kompetenz der lokalen Akteure berücksichtigt wird. Ich höre übrigens, dass es in Berlin Fälle gibt, in denen die Beiräte weitgehend ignoriert werden. Das geht aus meiner Sicht nicht. Hier muss die Bundesagentur für Arbeit deutlich machen, dass eine erfolgreiche Leitung vor Ort auch ein gutes Verhältnis zu den lokalen Akteuren pflegt. Meine Damen und Herren, ich freue mich immer, wenn wir einen Antrag der Linken diskutieren. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Den Eindruck habe ich gerade nicht! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der beste Satz der ganzen Rede! – Weitere Zurufe von der LINKEN) – Ich sehe schon an der Unruhe, dass die Freude nur auf meiner Seite ist; ich dachte zumindest, dass die Freude auch bei Ihnen durchaus vorhanden ist. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Die halbsozialistische Folklore wärmt vielen das Herz, (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ist das langweilig!) und die Welt ist auf wundersame Weise einfach, ganz ähnlich wie in der bösen Karikatur, die einmal in der -Titanic gezeigt wurde. Der Untertitel war: „Endlich: Der Hunger in der Welt ist besiegt“. In der Zeichnung sah man einen älteren Mann, der lächelnd eine Schöpfkelle schwang und rief: „Einfach mehr essen“. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist aber ein bisschen zynisch!) So kommt mir Ihr Antrag auch daher. Er hilft keinem, weil er der Komplexität des Themas nicht gerecht wird. Er ist schädlich, weil er die Menschen gleichmacht, anstatt nach ihren Stärken zu fragen. Er beruht auf der falschen Idee, man könne mit anderer Leute Geld alle Probleme lösen. Das ist Grund genug, den Antrag zu diskutieren, aber auch Grund genug, ihn abzulehnen. Er ist nämlich auch irgendwie eine Karikatur. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Peinlich!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Zimmermann das Wort. Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Lieber Kollege Zimmer, ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört und muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin schon sehr enttäuscht, (Beifall der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) dass Sie das Thema Langzeitarbeitslosigkeit im Eingang und auch im Abgang Ihrer Rede so in die Lächerlichkeit gezogen haben. (Beifall bei der LINKEN) Das ist eine große Schweinerei – ich muss es Ihnen wirklich so deutlich sagen –, denn Ihre Fraktion hat die 1 Million langzeitarbeitslosen Menschen in diesem Land schon lange abgeschrieben. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Ach, komm! – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Ein weit hergeholtes Argument, Frau Kollegin!) Das ist die Realität, und der sollten Sie sich wenigstens einmal stellen. (Beifall bei der LINKEN) Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass die Landesministerin zum Thema, zu unserem Antrag, gesprochen hat (Max Straubinger [CDU/CSU]: Davon haben wir nichts gemerkt!) und damit gleichzeitig verbunden hat, darzustellen, wie es in der Praxis aussieht, was die Bundesregierung alles nicht tut, warum es im Land Thüringen und in allen anderen Bundesländern nicht zum Passiv-Aktiv-Transfer kommt und Langzeitarbeitslosigkeit nicht wirklich ernsthaft bekämpft werden kann. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist ein Redebeitrag der Linken, vorgefertigt!) Ich muss Ihnen sagen: Es haben hier auch schon CDU-Landesminister gesprochen; das ist nichts Neues. Das sollten Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der LINKEN: Da war er nicht da!) Sie sagten in Ihrer Rede, der Mensch stehe bei Ihnen im Mittelpunkt. Jawohl! Dazu muss ich sagen: Ministerin Nahles hat ein Programm für 43 000 Teilnehmer aufgelegt. Damit will sie die Langzeitarbeitslosigkeit von 1 Million Menschen bekämpfen. Ich muss Ihnen sagen: Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Bei Ihnen steht nicht der Mensch im Mittelpunkt; das sieht man hier ganz deutlich. (Beifall bei der LINKEN) Im Übrigen muss ich Ihnen sagen: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen geht seit 2012 wieder hoch. Die Zahlen sind vom Bundesministerium; sie werden sicherlich stimmen. Die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Bezieher ist nur um 9,2 Prozent zurückgegangen. Das Geld, das Sie in den letzten Jahren eingespart haben, steht dazu in gar keinem Verhältnis. Sie kritisieren, dass 200 000 Stellen geschaffen werden sollen. Angesichts der wenigen Arbeitsstellen und der vielen arbeitslosen Menschen – wir haben ein Missverhältnis von 1:3 – frage ich mich doch aber: Haben die arbeitslosen Menschen überhaupt eine Chance auf eine solche Stelle? Ihre Argumente sind doch Schwachsinn. Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen: Die Teilnehmerzahl ist von 2010 bis 2013 von 342 534 auf 110 000 zurückgegangen. Daran sehen Sie doch, dass das, was Sie für langzeitarbeitslose Menschen tun, ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Damit werden Sie die Langzeitarbeitslosigkeit in unserem Land nicht bekämpfen. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Zur Erwiderung Herr Kollege Zimmer. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Verehrte Frau Kollegin Zimmermann, für das Erfüllen Ihrer Erwartungen sind meine Reden sicherlich nicht zuständig. Wenn Sie da enttäuscht gewesen sind, dann liegt es vielleicht daran, dass ich Argumente vorgebracht habe, die Sie so noch nicht gehört haben. Insofern mag es Ihnen vielleicht auch gutgetan haben, der Rede zuzuhören. (Zuruf von der LINKEN: Die war grottenschlecht!) Allerdings habe ich jetzt auch festgestellt, dass Sie relativ gut vorbereitet gewesen sind. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben wir so drauf! – Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Bartke [SPD]: Alles abgelesen!) Ich frage mich schon, warum Sie nicht selber in die Bütt gegangen sind. (Sigrid Hupach [DIE LINKE]: Lächerlich!) Stattdessen haben wir einer Ministerin zuhören dürfen, die ganz im Sinne einer präventiven Immunisierung schon heute erklärt, warum das im Land Thüringen alles nicht funktionieren wird, nämlich weil am Ende der Bund schuldig ist. Dass Sie sich hergegeben haben, dafür eine parlamentarische Plattform zu bilden, das finde ich ausgesprochen schade. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ein bisschen peinlich war der Auftritt! – Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Sie hätten zuhören sollen! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie bleiben hinter Ihren Möglichkeiten zurück! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unterirdisch!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Zimmer, vielleicht zunächst ein Wort zu dem Begriff „kreative Statistik“. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist nach Ihrer Statistik seit 2010 um 7 Prozent zurückgegangen. Aber wenn Sie die Zahl derjenigen, die Sie schlicht und ergreifend ungerechtfertigterweise nicht mitzählen, zum Beispiel die 58-Jährigen, die ein Jahr lang kein Angebot bekommen haben, berücksichtigen – das sind über 166 000 Menschen –, dann sind Sie bei einem Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit von 0,6 Prozent. Herr Zimmer, wenn Sie an dieser Stelle wirklich eine Debatte über Statistik führen wollen, dann machen Sie sich erst einmal ehrlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Hören Sie auf, das Problem kleinzureden! (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja!) Ich weiß nicht, ob Sie manchmal auch Zeitung lesen. In der Süddeutschen Zeitung vom 22. April stand, dass selbst Herr Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, der Meinung ist, dass von den 1 Million Langzeitarbeitslosen 500 000 bis auf Weiteres und die Hälfte von diesen 500 000 auch langfristig keine Chance haben werden, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Er sagt, sie brauchen mindestens zum Übergang einen zweiten Arbeitsmarkt. Ich zitiere ihn: „Hier wurde in den vergangenen Jahren deutlich abgebaut“. Ich ergänze: Es wurde deutlich abgebaut, und zwar über 200 000 Stellen. Herr Zimmer, Sie wissen, ich schätze Sie, aber heute haben Sie wirklich nicht den richtigen Ton getroffen. Das war selbstgefällig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Sie bieten ein ESF-Programm mit 33 000 Plätzen an, das nur das einst von Frau von der Leyen initiierte Programm „Bürgerarbeit“ mit ebenfalls 33 000 Plätzen ersetzt. Damit schaffen Sie keinen einzigen zusätzlichen Platz für die Langzeitarbeitslosen. Dabei geht es hier um, ich wiederhole, 500 000 Menschen! (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!) Im Zuge des Teilhabeprogramms werden 10 000 Plätze geschaffen. Das Geld für dieses Teilhabeprogramm wird den Jobcentern aber vorher abgezogen. Das Programm, das hier aufgelegt wird, geht also zulasten von Plätzen in anderen Bereichen. Sie schaffen kein einziges zusätzliches Angebot. Was Sie hier heute angedeutet haben, wird der Größenordnung und der Dimension des Problems in keiner Weise gerecht. Das ist weder quantitativ noch qualitativ wirklich ein Angebot. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wir brauchen öffentlich geförderte Beschäftigung. Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt, und wenn wir den finanzieren wollen, dann brauchen wir einen Passiv-Aktiv-Transfer. Darüber sind sich wirklich alle Arbeitsmarktexperten und alle Akteure auf dem Arbeitsmarkt inklusive der BA einig. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur die CDU nicht!) Es gab Zeiten, in denen auch die SPD zu den kundigen Thebanern gehörte. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der CDU gibt es auch ein paar Aufgeklärte! Sogar da!) Ich glaube allerdings nicht – das will ich an dieser Stelle deutlich sagen –, dass die öffentlich geförderte Beschäftigung so umgesetzt werden könnte und sollte, wie die Linken das vorschlagen. (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Endlich mal ein vernünftiger Satz!) Ich finde, Sie fallen sehr weit hinter Erkenntnisse zurück, die wir längst haben. (Beifall der Abg. Daniela Kolbe [SPD]) Das Beharren auf dem Kriterium der Zusätzlichkeit führt dazu, dass sehr arbeitsmarktferne Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Verzicht auf jedes Kriterium bei der Frage, wer in dieses Programm aufgenommen werden soll, führt zu extremen Creaming-Effekten. Wir haben 1 Million Langzeitarbeitslose. Sie reden von 200 000 Plätzen. Die Gefahr ist sehr groß, dass ausgerechnet die, die das Programm am dringendsten brauchen, hinten herunterfallen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Bei einer Fokussierung auf die gemeinwohlorientierte Arbeit werden eben nicht die positiven Effekte berücksichtigt, die zum Beispiel Baden-Württemberg durch die Einbeziehung privater Unternehmer erzielt. Richtig katastrophal finde ich aber Ihren Vorschlag, allen über 55-Jährigen einen Rechtsanspruch zu geben. Das heißt, Sie halten diese Menschen in einem Sonderarbeitsmarkt. Damit entlasten Sie die Unternehmen von ihrer Verantwortung, auch für diese Gruppe etwas zu tun. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie einen besseren Vorschlag?) Ich habe also viel Kritik im Detail. Aber, Herr Zimmer, Ihre Kritik wäre glaubwürdiger, wenn Sie selbst etwas anzubieten hätten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie sagen – ich halte das für einen Treppenwitz der Weltgeschichte –, bei Ihnen stehe die Förderung von Menschen im Fokus. Seit dieser Legislaturperiode, seit Beginn der Amtszeit von Frau Nahles haben sich die Chancen der Langzeitarbeitslosen noch einmal verschlechtert. Die Aktivierungsquote ist 2014, in Ihrer Amtsperiode, mit 17,4 Prozent so niedrig wie seit 2010 nicht mehr. Ich finde wirklich, Sie sollten ein bisschen kleinere Brötchen backen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Sie lassen die Langzeitarbeitslosen wirklich im Stich und nehmen sehenden Auges in Kauf, dass das Teilhabeversprechen für Langzeitarbeitslose nicht mehr gilt. Das BMAS hat neulich auf einer Tagung der Hans-Böckler-Stiftung auf die Forderung der Länder nach zusätzlichen Instrumenten, insbesondere des sozialen Arbeitsmarktes, gesagt, eine Instrumentenreform würde zu viel Unruhe in die Jobcenter bringen. (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Wissen Sie, was die Länder dem BMAS geantwortet haben? Unruhe bringt das ständige Programmhopping. Zitat: Hören Sie endlich auf, uns mit Sonderprogrammen zu überfallen. – Ja, hören Sie damit endlich auf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich habe diese Woche mit einem Mitarbeiter aus einem Jobcenter in Bad Segeberg telefoniert. Er hat mir gesagt, mit wie viel Engagement sie das Programm „50 plus“ aufgebaut haben. Dieses Programm läuft überaus erfolgreich, aber jetzt wird es einkassiert, weil Sie mit den Aktivierungszentren um die Ecke kommen. Ich finde, Sie sollten sich einmal fragen, welchen Sinn Modellprojekte haben, wenn man sie, sobald sie erfolgreich laufen, wieder einkassiert und eben nicht in die Regelförderung übernimmt. Das macht doch keinen Sinn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Richtig verzweifelt sind die Jobcenter übrigens, wenn es um den bürokratischen Aufwand für das ESF-Programm geht. Der Aufwand ist offenbar so groß, und zwar nicht nur bei der Beantragung, sondern auch bei der Bewilligung, dass wir immer noch nicht wissen, was aus diesem Nahles-Programm geworden ist, obwohl die Prüfungen bis Ende März abgeschlossen sein sollten. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir haben jetzt eine Menge Erfahrung gesammelt und wissen, welche Konsequenzen wir ziehen sollten und wie wir mit Langzeitarbeitslosen umgehen sollten. Dazu will ich Ihnen drei Punkte nennen: Erstens. Die Strategie der schnellen Vermittlung ist gescheitert. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin Pothmer, das wird ein bisschen schwierig. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wird schwierig? – Dann sage ich noch ein Letztes und zitiere Frau Mast, die eine kluge Kollegin ist: Unterstützung für Menschen, die am Rand stehen, gibt es nicht zum Nulltarif. Wir müssen ausreichend Geld in die Hand nehmen, um Langzeitarbeitslose zu fördern. – Ich kann nur sagen: Das war in der letzten Legislaturperiode richtig, und das ist auch in dieser Legislaturperiode richtig. Aber es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Daniela Kolbe (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist außerordentlich gut. Wir alle freuen uns über eine sehr stabile wirtschaftliche Situation, und auch der Arbeitsmarkt zeigt sich erstaunlich robust. Wir sehen gute Tarifsteigerungen, und wir haben einen gesetzlichen Mindestlohn, der sehr viele Menschen aus dem Hilfebezug holt. Es gäbe also einige gute Argumente für Partylaune – zumindest theoretisch. Gleichzeitig sehen wir praktisch, dass sich in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarktes, gerade im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit, seit einigen Jahren de facto nichts bewegt. Es ist offenkundig, dass die sehr gute konjunkturelle Lage Hunderttausenden Menschen in Deutschland nicht hilft, ebenjenen Menschen, die sehr lange arbeitslos sind; sie können auch unter diesen tollen Rahmenbedingungen nicht ohne Weiteres zurück auf den Arbeitsmarkt finden. Jetzt gibt es verschiedene Strategien, damit umzugehen. Es gibt die Strategie der Vorgängerregierung, deren Fokus auf schönen Arbeitsmarktzahlen und guten Nachrichten lag. Man vertraute darauf, dass sich dadurch von alleine etwas bewegen würde, dass es dadurch leichter würde, die Arbeitslosen zu vermitteln, und dass in der Folge die aktive Arbeitsmarktförderung reduziert werden könnte. Diese Bundesregierung mit Andrea Nahles als Ministerin für Arbeit und Soziales verfolgt eine ganz andere Strategie. Sie sagt: Uns ist es ganz besonders wichtig, hinzuschauen. Wir anerkennen, dass es eine große Herausforderung ist, die Menschen, die sehr lange aus dem Erwerbsleben heraus sind, zurückzuholen in die Gesellschaft, ihre Teilhabe zu organisieren und sie im besten Fall im ersten Arbeitsmarkt unterzubringen. Das ist Andrea Nahles und der SPD ein Herzensanliegen. Wir werden nicht zuschauen, wie 1 Million Menschen und ihre Familien zu Hause sitzen, hinter ihren Gardinen verschwinden und weitgehend vom sozialen Leben ausgeschlossen sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss man auch was tun!) Das zeigt sich auch daran, dass Andrea Nahles eigentlich bei jeder Grundsatz- oder Haushaltsrede in diesem Hohen Hause das Thema Langzeitarbeitslosigkeit als eine ihrer Topprioritäten benennt und deutlich macht, was sie diesbezüglich plant. Es gibt 1 Million gute Gründe und sehr viele objektive Fakten, die zeigen, dass wir mit Blick auf die Gesellschaft bei diesem Thema etwas unternehmen müssen. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann macht doch mal endlich!) Da ist natürlich die materielle Armut der Langzeit-erwerbslosen. 84 Prozent der Langzeiterwerbslosen leben unter der Armutsrisikogrenze. Erwerbsarbeit ist in Deutschland Grundlage für soziale Teilhabe. Arbeit zu verlieren bedeutet den Verlust sozialer Beziehungen, den Verlust des sozialen Status, und für viele Menschen ist es auch subjektiv ein ganz massiver Schicksalsschlag. Langzeitarbeitslosigkeit hat gesundheitliche Auswirkungen. Der Gesundheitszustand der Betroffenen ist objektiv und subjektiv schlechter. 64 Prozent der Betroffenen haben schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen. Das ist kein Henne-Ei-Problem, sondern das bedingt sich gegenseitig. Wer langzeiterwerbslos ist, wird kränker, und wer kränker wird, hat größere Probleme, aus der Langzeiterwerbslosigkeit herauszukommen. Es gibt familiäre Probleme, seelische Probleme, körperliche Probleme. Die Menschen werden stigmatisiert. Langzeiterwerbslosigkeit hat auch schwerwiegende gesellschaftliche Folgen. Wir sehen, dass Kinder in Familien groß werden, in denen die Eltern langzeiterwerbslos sind. Wir erleben sozialräumliche Effekte. Ganze Stadtteile sind massiv von Langzeiterwerbslosigkeit betroffen und auch geprägt. Außerdem verursacht Langzeiterwerbslosigkeit massive gesellschaftliche Kosten: fehlende Steuereinnahmen, hohe Kosten der Arbeitslosigkeit, hohe Gesundheitskosten usw. Das sind genügend Gründe, dies anzugehen und auch mit dem Klischee aufzuräumen, dass Langzeiterwerbslose nicht arbeiten wollen. Ich kenne in meinem Wahlkreis sehr viele Betroffene. Sie sagen: Ich will raus. Ich will etwas Sinnvolles tun. Ich will wieder Sinn und Struktur in meinem Leben haben. Ich will nicht stigmatisierende, sondern würdevolle Beschäftigung. – Das ist es, was ich von den Betroffenen höre. Dabei müssen wir sie unterstützen. (Beifall bei der SPD) Die Mittel des Bundes für aktive Arbeitsmarktförderung sind von der Vorgängerregierung massiv gekürzt worden. Erst diese Regierung hat das Thema wieder ganz weit nach oben auf die Agenda gesetzt. Dafür gebührt Ministerin Andrea Nahles ein großes Lob. (Beifall bei der SPD) Andrea Nahles reagiert mit einem differenzierten Ansatz und hat damit dem Antrag der Linken, von wem auch immer er präsentiert wurde, einige Denkschritte voraus. Denn es gibt nicht die eine Gruppe Langzeiterwerbslose, die man mit öffentlich geförderter Beschäftigung beglückt, und dann ist das Problem gelöst. Wir können doch nicht dem Anfang 20-Jährigen, der ein Drogenpro-blem hat und den Anfang seiner Berufskarriere verstolpert, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht da ausdrücklich drin!) mit der Diplom-Ingenieurin vergleichen, die mit Mitte 50 durch eine Insolvenz des Unternehmens keine Arbeit mehr hat und keinen Fuß mehr in die Tür bekommt. (Beifall bei der SPD – Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also wirklich, lies mal den Antrag! Da steht ausdrücklich etwas anderes drin!) – Ich komme gleich dazu, Brigitte, keine Sorge. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ich muss jetzt schon die Linken verteidigen!) Alleinerziehende mit kleinen Kindern und ohne soziales Umfeld haben doch ganz andere Probleme als jemand, der keine Berufsausbildung gemacht hat oder bei dem sie ewig lange her ist. Deswegen hat Andrea Nahles Ende letzten Jahres ein ganzes Bündel von Maßnahmen vorgestellt und eben nicht eine Lösung für alle. Diese Vielfalt der Maßnahmen wird auch der Vielfalt der Gruppe gerecht. Es wird das ESF-Programm „Perspektive in Betrieben“ für Langzeitarbeitslose ohne verwertbaren Berufsabschluss geben. Es wird ein Bundesprogramm für sehr arbeitsmarktferne Langzeiterwerbslose geben. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Zu wenig! Viel zu wenig! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was kommt dann?) Darüber hinaus wird es eine viel bessere Betreuung in Aktivierungszentren geben. Darüber ist hier überhaupt noch nicht gesprochen worden. (Beifall bei der SPD) Wir wollen diejenigen 46 Prozent mit gesundheitlichen Einschränkungen in den Fokus nehmen und natürlich auch der Situation der Alleinerziehenden viel mehr gerecht werden. Dazu haben Sie schon einiges von dieser Regierung gehört. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) So sehr wir als Sozialdemokraten öffentlich geförderte Beschäftigung als wichtigen Aspekt sehen und uns da auch mehr vorstellen und mehr wünschen, an einem Punkt widersprechen wir den Aussagen im Antrag der Linken fundamental. Sie wollen den Zugang zu diesem Programm einfach so, ohne Kriterien gewähren. Das ist ja schön und gut gemeint, kann aber im Zweifel mehr Schaden anrichten als nutzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum?) Wir reden über eine sehr teure Maßnahme. Ohne Zugangskriterien würde es Creaming- und Lock-in-Effekte geben. Dadurch würden Personen in das Programm kommen, denen mit Weiterbildung, mit einer guten Vermittlung, mit einer guten Kinderbetreuung viel mehr geholfen wäre. Schlussendlich diskreditieren Sie mit dem gutgemeinten Ansatz, immer noch eine Schippe drauflegen zu wollen, ein wirklich sinnvolles Projekt. Schauen Sie sich bitte Ihren Antrag und die Konzepte, die schon auf dem Tisch liegen, noch einmal an. Über Passiv-Aktiv-Tausch wollen wir als Sozialdemokraten natürlich sehr gerne reden. Das wollen wir gerne verfolgen. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen!) Aber dieser Gut-gemeint-Ansatz, den Sie hier in typischer Linken-Manier vorbringen, geht an der Zielgruppe vorbei, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen Sie das mal den Betroffenen! ) die viel diverser ist, als Sie es hier darstellen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Aber jetzt müssen Sie bitte zum Schluss kommen, Frau Kollegin Kolbe. Daniela Kolbe (SPD): Das tue ich. Das Thema bleibt ja sowieso auf der Agenda. – Jedenfalls werden wir Sozialdemokraten weiter dafür sorgen, dass Langzeiterwerbslose in unserem Land eine Chance bekommen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die brauchen keine Chance, die brauchen einen Job!) Bis zum nächsten Mal zu diesem Thema. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Der Kollege Kai Whittaker ist jetzt für die CDU/CSU-Fraktion der nächste Redner. (Beifall bei der CDU/CSU) Kai Whittaker (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Linksfraktion, Sie kennen sich ja bestens mit dem Thema Langzeitarbeitslosigkeit aus. Das ist kein Wunder; denn Sie befinden sich ja in einer Art politischen Langzeitarbeitslosigkeit. Seit zehn Jahren sind Sie in der Opposition, und Besserung ist nicht in Sicht. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn für eine Aussage? – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Was ist das denn für ein demokratisches Verständnis?) Wer Ihren Antrag liest, sieht auch keine Perspektive für eine Vermittlung in die Regierung. Deshalb lautet mein Vorschlag an Sie: Lassen Sie uns uns gemeinsam Gedanken machen, woran das liegen könnte. Welche Vermittlungshemmnisse liegen bei Ihnen offenkundig vor? (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wie bei der CDU in Baden-Württemberg!) Schon in meiner ersten Rede hier im Deutschen Bundestag habe ich bedauerlicherweise feststellen müssen, dass es mit Ihren volkswirtschaftlichen Kenntnissen nicht allzu weit her ist. Ihr heutiger Antrag ist der Beweis, dass Sie auch mit der Lebenswirklichkeit nicht allzu viel anfangen können. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ihre Rede heute ist genauso schlecht wie Ihre erste!) Sie fordern, alle Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, sollen sich auf einen sozialen Arbeitsplatz bewerben können; das sind mehr als 1 Million Menschen in Deutschland. Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem Antrag, dass es – nur – 200 000 solcher Arbeitsplätze geben soll. Was ist mit den anderen 800 000 Menschen? Wer soll diese 200 000 Arbeitsplätze überhaupt bekommen? Gerade die Antwort auf die letzte Frage bleiben Sie schuldig; denn Sie grenzen die Zielgruppe nicht ein. Damit erreichen Sie eben nicht diejenigen, die am weitesten vom Arbeitsmarkt entfernt sind, sondern Sie helfen ausgerechnet denjenigen, die diese Hilfe nicht brauchen. Da wollen Sie uns immer in das gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen, führen, und dann bleiben Sie mitten in der Wüste Sinai stecken. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die haben doch Laktoseintoleranz!) Aber in der politischen Wüste sind Sie ja zu Hause. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Sagen Sie auch mal etwas zum Thema?) Tragischerweise machen Sie in Ihrem Antrag genauso weiter. Sie verlangen für die sozialen Arbeitsplätze einen Bruttolohn von 1 500 Euro. Das entspricht für den Steuerzahler einem Betrag von fast 2 000 Euro. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: 1 700!) Bei 200 000 Arbeitsplätzen sind das pro Jahr sage und schreibe 4,7 Milliarden Euro, die Sie zusätzlich ausgeben wollen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Tragen Sie mal die Refinanzierungseffekte vor!) Das ist ein Viertel dessen, was der Bund jedes Jahr für das Arbeitslosengeld II ausgibt. Damit nicht genug: Sie schaffen es mit Ihrem Antrag auch noch, ein Zweiklassensystem von Arbeitslosen zu installieren. Die 800 000 Menschen, die es nicht in Ihr Programm schaffen, bekommen weiterhin Hartz IV. Die anderen 200 000 Menschen, die in Ihrer Soziallotterie gewonnen haben, bekommen doppelt so viel. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Und was bekommen sie bei Ihnen? – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Bei Ihnen kriegen sie Hartz IV!) Somit schafft die Linke das, was sie der FDP immer vorgeworfen hat: eine Umverteilung von unten nach oben im Hartz-IV-System. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Alle kriegen bei uns Mindestsicherung?) Man könnte meinen, das sei genug. Aber Sie setzen noch eins drauf: Sie schlagen eine Sonderabgabe von 0,5 Prozent der Lohnsumme vor. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Genau! Die ist gut!) Selbstverständlich sollen die Arbeitgeber sie bezahlen; etwas anderes haben wir von Ihnen auch nicht wirklich erwartet. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Genau!) Bei Ihrem Vorschlag bleiben Sie aber seltsam vage. Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entweder wollen Sie sich ganz dreist an der Arbeitslosenversicherung bedienen. Denn die Arbeitgeber und die Versicherten bezahlen jedes Jahr einen 3-prozentigen Beitragssatz an die Arbeitslosenversicherung – das sind ungefähr 30 Milliarden Euro im Jahr –, und Ihre 0,5 Prozent Sonderabgabe ergäbe – oh Wunder, oh Wunder! – genau die 5 Milliarden Euro, die Sie brauchen. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist Zufall! Die können doch gar nicht rechnen!) Nur: Dieses Geld gehört den Versicherten und nicht Ihrem aufgeblähten Steuerstaat. (Beifall bei der CDU/CSU – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Da machen wir einen Finanzierungsvorschlag, und dann ist es auch wieder nicht richtig! Was wollen Sie denn nun? – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Mensch, Sie müssen sich richtig damit beschäftigen!) Oder aber – das ist die Alternative – Sie wollen eine Strafsteuer für Arbeitgeber einführen; Sie nennen sie eben Sonderabgabe. Für eine solche Abgabe aber muss es eine ganz spezifische Verbindung zwischen dem Zahler und dem Zweck geben; das schreibt unsere Verfassung vor. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Ach, wirklich?) Aber die schließen Sie ja aus, weil private Arbeitgeber die sozialen Arbeitsplätze gar nicht anbieten dürfen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die können ja richtige Arbeitsplätze anbieten! Sie können über 50-Jährige einstellen!) Kommen wir zu einem weiteren Vermittlungshemmnis bei Ihnen: zum logischen Denken. In meiner ersten Rede im Bundestag ging es um Ihren Antrag im Hinblick auf einen Mindestlohn von 10 Euro die Stunde. Damals fand ich Ihren Antrag irgendwie süß. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Süß fanden Sie den? Aha!) Denn wir haben uns in der Großen Koalition auf einen Mindestlohn von 8,50 Euro verständigt; (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil wir Sie zum Jagen getragen haben!) seitdem ist Ihnen dieses Thema ja abhandengekommen. Da Sie den flächendeckenden Mindestlohn von 10 Euro nicht einführen konnten, haben Sie sich wahrscheinlich gedacht: Jetzt probieren wir es durch die Hintertür, nämlich bei den Arbeitslosen. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wie kann man nur so über dieses Thema reden?) Denn Sie fordern für die sozialen Arbeitsplätze ja einen Mindestlohn von 10 Euro. Sie fordern in Ihrem Antrag auch eine 35-Stunden-Woche. Aber darüber möchte ich mich gar nicht beschweren; das wäre nämlich ein höheres Arbeitspensum als bei Ihnen üblich. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Linke, nachdem ich Ihr Vermittlungshemmnis jetzt anschaulich beleuchtet habe, möchte ich Ihnen etwas an die Hand geben. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist alles peinlich hier! Ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit beim Thema Arbeitslosigkeit wäre nicht schlecht!) Schließlich ist es ja unser gemeinsames Ziel, Vermittlungshemmnisse abzubauen, also auch Ihre. Worum geht es der Union bei der Integration der Langzeitarbeitslosen? Ich habe es schon in meiner letzten Rede hier im Deutschen Bundestag gesagt – ich wiederhole es –: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie oft wollen Sie von dieser Rede denn noch reden?) nicht Integration durch Beschäftigung, sondern Integration durch Arbeit. So bringen wir die Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt hinein. Wir dürfen die Menschen nicht vernachlässigen, wir dürfen sie nicht in irgendwelchen sozialen Arbeitsmärkten parken, und wir dürfen sie auch nicht aufgeben, sondern wir müssen ihre Stärken in den Mittelpunkt stellen. Das Ziel ist ganz klar, sie an den ersten Arbeitsmarkt heranzubringen. Dafür gibt es meiner Meinung nach fünf Ansatzpunkte: Wenn wir die Langzeitarbeitslosen wieder in die Nähe des ersten Arbeitsmarktes bringen wollen, brauchen wir bessere Konzepte statt Maßnahmen. Der Mehrwert der meisten Maßnahmen geht gegen null. Was diese Menschen eigentlich brauchen, sind Fähigkeiten, die am ersten Arbeitsmarkt gefragt sind. Ein Beispiel wären, glaube ich, die sogenannten Sozial- und Integrationsfirmen; dieses Konzept haben wir im SGB IX bei den Menschen mit Behinderung bereits verankert. Einer der Hauptunterschiede zwischen den bestehenden Instrumenten im SGB II und diesen Sozialfirmen ist die Stellung der Langzeitarbeitslosen: In einer Maßnahme sind sie nur Teilnehmer; aber in einer Sozialfirma sind sie Beschäftigte. Ein weiterer Vorteil ist meiner Meinung nach, dass die Sozialfirmen Betreuung aus einer Hand anbieten können, und sie bieten insbesondere arbeitsmarktnahe Beschäftigung. Dadurch können die Übergänge in den ersten Arbeitsmarkt besser gestaltet werden. Wie können wir diese Übergänge noch erleichtern? Damit wären wir beim zweiten Punkt: Ausbildung fördern. Über 40 Prozent der ArbeitslosengeldII-Bezieher haben keinen Berufsabschluss. In der Vergangenheit haben wir den Fokus zu sehr auf die schnelle Vermittlung gelegt. Wir wollen nicht, dass Langzeitarbeitslose in Zeit- und Leiharbeit vermittelt werden, um sich in wenigen Monaten wieder einen neuen Job suchen zu müssen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was ist der Unterschied zwischen Zeit- und Leiharbeit, Herr Kollege?) Deshalb muss der Vorrang von Ausbildung vor Vermittlung konsequent in die Praxis umgesetzt werden. Ein dritter Ansatzpunkt sind die Jobcenter. Es ist die Aufgabe der Jobcenter, individuelle und passgenaue Möglichkeiten für Langzeitarbeitslose zu finden. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Dann brauchen Sie mehr Personal bei den Jobcentern!) Diesem Anspruch können die Jobcenter nicht immer gerecht werden. Deswegen sollten wir an dieser Stelle auch darüber diskutieren, wie wir die freie Förderung reformieren, sie flexibler gestalten können. Dies würde den Jobcentern die Freiheit geben, eine ganzheitliche Betreuung anzubieten. Ein weiterer Aspekt ist die Verbesserung des Arbeitgeberservices. Die Jobcenter müssen ihren lokalen Arbeitsmarkt viel besser kennen, um passgenau vermitteln zu können. Als Letztes möchte ich noch die Notwendigkeit von Evaluierungen ansprechen. Meiner Meinung nach müssen wir alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente nach ihrer Einführung regelmäßig überprüfen. Dadurch können wir schneller feststellen, was wirkt und was nicht wirkt und wo wir nachsteuern müssen. Werte Kollegen, in der Arbeitsmarktpolitik verfolgen wir alle das gleiche Ziel: Wir möchten Menschen wieder in Arbeit bringen. Unsere Wege sind jedoch höchst unterschiedlich. Leider werden viele Anträge von den Linken immer noch von ideologischen Blaupausen dominiert, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Langzeitarbeitslosen zu helfen ist ideologisch? Das merken wir uns! Ich werde in meinem Wahlkreis erzählen, was Sie hier gesagt haben! So ein Unsinn!) wie wir heute mehr als einmal festgestellt haben. Darin liegt, denke ich, die Krux der ganzen Sache. Der Schweizer Aphoristiker Paul Schibler hat einmal sehr treffend und passend formuliert: „Ideologie ist ein Syn-onym für Begrenztheit.“ Ihr Antrag, liebe Linke, ist ein Synonym für Begrenztheit. Deshalb lehnen wir ihn ab. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Denken Sie heute Abend noch einmal nach über den Spruch!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächster hat der Kollege Matthias Bartke, SPD-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Matthias Bartke (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass ich finde, dass wir heute einem bemerkenswerten parlamentarischen Schauspiel beiwohnen dürfen: Die Linkspartei hat einen Antrag geschrieben und ihre gesamte Redezeit an eine Landesministerin aus Thüringen gegeben. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Warum denn nicht?) Nachdem die Redezeit verbraucht war, wurde eine Kurzintervention – eher eine Langintervention – gemacht, die vorbereitet war. (Widerspruch bei der LINKEN) Man kann so etwas als Missbrauch parlamentarischer Bräuche beschreiben. Das nur vorab. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist ja albern!) Meine Damen und Herren, es ist jedes Mal wieder eine hervorragende Nachricht: Die Arbeitslosenzahlen sinken. Dieser Trend setzt sich nun schon seit langem fort. Gleichzeitig – das ist natürlich auch wahr – müssen wir uns aber eingestehen: Bei den Langzeitarbeitslosen hat sich bislang leider zu wenig getan. Auch wenn es anderslautende Stimmen gibt: Die Zahlen bleiben seit langem auf gleichem Niveau, nämlich bei etwa 1 Million stehen. Sorgen machen muss uns dabei vor allem die Mischung aus strukturellen Bedingungen und persönlichen Einschränkungen, die dahintersteckt. Diese Mischung macht aus Lebenssituationen Vermittlungshemmnisse, lässt aus Menschen Langzeitarbeitslose werden und führt zur Ausgrenzung aus unserer Gesellschaft. Meine Damen und Herren, wir stellen uns dieser Realität. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat bereits im vergangenen Jahr ein umfassendes Konzept zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit vorgelegt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Umfassend?) Es ist völlig klar: Die Chance von Langzeitarbeitslosen, im nächsten Monat eine Beschäftigung zu haben, ist momentan viel zu niedrig. Diejenigen, die weniger als ein Jahr arbeitslos sind, haben eine sechsmal höhere Chance, einen Job zu bekommen. Das macht erschreckend deutlich, wie gering die Chancen Langzeitarbeitsloser sind. Dieses Problem werden wir angehen. Das ist auch dringend notwendig; denn Langzeitarbeitslosigkeit bedeutet nicht nur, kein Geld zu verdienen. Im schlimmsten Fall bedeutet sie auch fehlendes Selbstwertgefühl, fehlende Anerkennung und fehlende Teilhabe an der Gesellschaft. Viel zu häufig begegnen wir auch Vorurteilen gegenüber Arbeitslosen, die deren mangelndes Selbstwertgefühl dann noch verstärken. Natürlich gibt es immer den einen oder anderen, der keinen Job haben will und sich in der Arbeitslosigkeit scheinbar gut eingerichtet hat. Aber die überwiegende Mehrheit der Langzeitarbeitslosen möchte gern arbeiten. Manche – das ist leider auch die Wahrheit – trauen sich reguläre Arbeit nicht mehr zu, auch wenn sie durchaus noch arbeiten könnten. Die konjunkturelle Entwicklung in unserem Land ist momentan vielversprechend, aber auch ihre Wirkung hat Grenzen. Langzeitarbeitslose sind manchmal nicht mehr arbeitsmarktfähig. Das heißt aber nicht, dass sie arbeitsunfähig sind. Für ihre Probleme gibt es kein Patentrezept. Vielmehr brauchen wir Angebote, die helfen, die spezifischen Probleme zu bewältigen. Genau dieser Ansatz findet sich in dem Konzept von Arbeitsministerin Andrea Nahles zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit wieder. In den geplanten Aktivierungszentren – meine Kollegin Kolbe hat schon darauf hingewiesen – werden Leistungsberechtigte gebündelt Unterstützungsleistungen erhalten. Hier wird auf soziale, psychische und gesundheitliche Vermittlungshemmnisse eingegangen. -Genauso wird auch an die Bewältigung von Bildungs-defiziten und Alltagsproblemen herangegangen; „maßgeschneidertes Betreuungsprogramm“ ist hier das Stichwort. Die Aktivierungszentren werden noch in diesem Jahr vorbereitet. Anfang nächsten Jahres werden sie arbeitsfähig sein. Ebenfalls Bestandteil des Konzepts ist das ESF-Programm zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Leistungsberechtigter. Dessen Umsetzung ist bereits gestartet. Die Unterscheidung zwischen nicht arbeitsmarktfähig und arbeitsunfähig wird hier unmittelbar gelebt. Arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose ohne verwertbaren Berufsabschluss werden bei der Integration in den Arbeitsmarkt unterstützt. Dabei sind Arbeitnehmercoaching auch nach Beginn der Beschäftigung und Lohnkostenzuschüsse zentrale Elemente; dazu kommt – ganz wesentlich im Programm – die gezielte Ansprache und Beratung der Arbeitgeber, auch wenn das in manchen Ohren banal klingt. Fakt ist aber leider, dass nur jeder dritte Betrieb bereit ist, Langzeitarbeitslosen im Einstellungsprozess überhaupt eine Chance zu geben. Dabei -bewertet etwa die Hälfte der Betriebe, die Langzeit-arbeitslose berücksichtigen, deren Motivation und Zuverlässigkeit als gut oder sogar sehr gut. Denjenigen, die auch nach intensiver Förderung nicht in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können, bietet das Programm „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ eine neue Chance. Der Name ist dabei Programm: Vorderstes Ziel ist die soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben. Durch Zuschüsse bis zu 100 Prozent sollen sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse gefördert werden. Auch dieses Programm startet noch in diesem Jahr. (Beifall bei der SPD) Darüber hinaus befürworten wir Sozialdemokraten auch die Einführung eines sozialen Arbeitsmarktes über den Passiv-Aktiv-Transfer; das ist kein Geheimnis. (Beifall bei der SPD – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Aber ihr tut nichts!) Wir wollen auch kein Geheimnis daraus machen, dass dies vom Finanzminister derzeit verhindert wird. Es gibt Dinge, die man schlicht nicht versteht: Meine Heimatstadt Hamburg hat angeboten, bei einem Passiv-Aktiv-Transfer die Finanzierung eventuell notwendiger Restmittel zu übernehmen. Also null Kostenrisiko für den Bund! Das ist mit dem Finanzminister trotzdem nicht zu machen. Ich frage mich, ob man im Alter wirklich immer weiser wird. (Heiterkeit bei der SPD) Aber, verehrte Frau Ministerin Werner, Ihren Rezepten kann ich auch nur begrenzt etwas abgewinnen. Mit Ihrer Situationsanalyse gehe ich in weiten Teilen mit, bei der Therapie aber nicht. Sie fordern 200 Stellen in einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, auf die sich alle Langzeitarbeitslosen (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mit 200 geben wir uns nicht zufrieden!) – 200 000 Stellen – bewerben können. Es ist hier eben schon gesagt worden: Sie sagen nichts über die Auswahlkriterien für die Vergabe dieser Stellen. Dabei ist doch klar, dass bei einem solchen Konzept ein Creaming stattfinden wird. Das heißt, die mit den besten Ver-mittlungsaussichten bekommen die Stellen, und die Schwächsten der Schwachen gucken wieder einmal in die Röhre. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Bartke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer? Dr. Matthias Bartke (SPD): Ja, gern. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bitte schön, Frau Kollegin. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Bartke, Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass der Erste Bürgermeister der Hansestadt Hamburg das Angebot gemacht hat, zur Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarktes eventuell sogar zusätzlich Geld zur Verfügung zu stellen, und Sie haben den Bundesfinanzminister – wie ich finde, zu Recht – kritisiert. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass Herr Scholz auch einmal Bundesarbeitsminister war und in seiner Amtszeit den Passiv-Aktiv-Transfer seinerseits abgelehnt hat? (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das Sein bestimmt das Bewusstsein!) Dr. Matthias Bartke (SPD): Das ist schon längere Zeit her. Herr Scholz ist derzeit Erster Bürgermeister in Hamburg. Die Diskussion um den Passiv-Aktiv-Transfer hat es damals in dieser Intensität ja noch gar nicht gegeben. (Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Das kann man ja heute gut sagen!) Unser Wunsch ist es – das ist ja bekanntermaßen auch bei Teilen der CDU so –, den Passiv-Aktiv-Transfer durchzuführen. Wenn wir das in dieser Legislaturperiode nicht tun, dann werden wir uns bemühen, das in der nächsten Legislaturperiode zu machen. Gute Sachen soll man tun, und wenn man sie nicht heute macht, dann macht man sie morgen. (Beifall bei der SPD – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was machen Sie in der übernächsten Legislaturperiode?) Das Konzept des sozialen Arbeitsmarktes und die soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt richten sich an die Schwächsten der Schwachen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schätzt diese Gruppe auf 100 000 bis 200 000 Personen. Für diese eingegrenzte Gruppe der ganz Schwachen sollte eine öffentlich geförderte Beschäftigung geschaffen werden. Sie erhalten dann eine öffentlich finanzierte Beschäftigung, damit sie überhaupt wieder am sozialen Leben teilnehmen können, der Tag strukturiert wird und sie Anerkennung finden. Die Integration auf den allgemeinen Arbeitsmarkt steht dabei durchaus nicht im Vordergrund. Das Konzept von Andrea Nahles ist ein gutes Konzept. Bei der Umsetzung dieses Konzepts haben wir ein gutes Stück harte Arbeit zu bewältigen, aber am Ende lohnt es sich. Aber auch hier gilt die alte Weisheit von Marie Curie, die einmal gesagt hat: Man merkt nie, was schon getan wurde; man sieht immer nur das, was noch zu tun bleibt. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Merci Curie!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, erteile ich der Kollegin Sitte das Wort, die Gelegenheit zu einer Kurzintervention hat. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Was ist jetzt schon wieder?) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Recht schönen Dank, Frau Präsidentin. – Ich muss jetzt doch einmal etwas klarstellen, damit sich das bei den Zuhörerinnen und Zuhörern nicht falsch einschleift: Erstens. Kurzinterventionen – ob vorbereitet oder unvorbereitet; das schreibt die Geschäftsordnung nicht vor – sind gängiges Mittel hier im Bundestag. (Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herrn Zimmers sonstige Beiträge in diesem Bundestag haben bei uns nicht den Wunsch ausgelöst, eine vorbereitete Kurzintervention zu bieten. Auch die heutige war unvorbereitet. Gerade als Vertreter der CDA haben Sie hier schon ziemlich kluge Beiträge zum Thema Arbeitslosigkeit und dazu geleistet, wo die Verantwortung der Gesellschaft liegt. Ihren heutigen Beitrag dazu fand ich suboptimal, um es einmal so zu beschreiben. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Zweite, was ich als Parlamentarische Geschäftsführerin gerne anmerken möchte, weil es der Kollege der SPD für notwendig befunden hat, noch einmal Bezug darauf zu nehmen: Unser Vorgehen ist übliche Praxis im Deutschen Bundestag. Artikel 43 Absatz 2 des Grundgesetzes gibt den Mitgliedern des Bundesrates und der Bundesregierung sowie ihren Beauftragten nämlich das Recht, sowohl in den Ausschüssen als auch im Plenum des Deutschen Bundestages zu sprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine Fraktion, die das hier nicht schon praktiziert hat. Im Gegenteil: Das ist auch eine Begegnung mit dem Leben von Landesministerien. Unser Antrag beschreibt die Probleme auf Bundesebene. Die Diskussion darüber wurde hier um das ergänzt, was man in Thüringen tun kann. Das ist doch eine wirklich gute Verbindung; das muss man nicht beklagen. Wenn man die Chance dazu hat, dann sollte man sie nutzen, und wir hatten die Chance. Da wir die Landesministerin von Thüringen selbstverständlich nicht für einen sechsminütigen Redebeitrag herholen wollten, hat sie natürlich unsere zwölf Minuten Redezeit bekommen. Danke. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Bartke. Dr. Matthias Bartke (SPD): Das Bemerkenswerte an dieser Sache ist doch, dass Sie selber einen Antrag geschrieben haben, zu dem es in der Kernzeit eine 96-minütige Debatte gibt, und Ihre gesamte Redezeit weggeben und selbst nicht dazu reden. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist kein Missbrauch!) – Formalrechtlich ist das, was Sie gemacht haben, natürlich total zulässig, aber ich habe das als einen Missbrauch bezeichnet, und Sie müssen mir auch freistellen, so etwas zu tun. Danke. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das kann man hier sagen!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Zur allgemeinen Verständigung: Generell darf jeder Parlamentarier hier im Saal das sagen, was er gerne sagen möchte, solange er andere nicht beleidigt. Da der amtierende Bundestagspräsident zu der Zeit auch als oberster Hüter der Geschäftsordnung hier gesessen hat, gehe ich davon aus, dass er sich voll bewusst darüber gewesen ist, dass die Geschäftsordnung so ausgelegt werden kann, wie Frau Sitte das gerade gesagt hat. Jetzt hat der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema ist in der Tat viel zu ernst, als dass man hier mit solchen merkwürdigen Scharmützeln arbeiten sollte. Ich fand den Stil in manchen Reden von Vertretern der Koalition etwas unangemessen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ansonsten bin ich den Linken für ihren Antrag sehr dankbar, weil damit auf ein zentral wichtiges Thema hingewiesen wird. Außerdem gibt er uns noch einmal die Möglichkeit, die unterschiedlichen Ansätze von Linken und Grünen klar darzustellen. Die Linken machen in ihrem Antrag sehr deutlich, dass sie zentrale Merkmale unseres Ansatzes eines grünen sozialen Arbeitsmarktes ablehnen. Darauf werde ich jetzt eingehen. Das Ziel der Grünen ist eine Gesellschaft, an der alle Menschen selbstbestimmt teilhaben können. Wir streben eine Gesellschaft an, in der niemand ausgegrenzt wird. Die Umsetzung der Forderungen im Antrag der Linken würde in der Tat eher das Gegenteil bewirken, was ich an ein paar Punkten ausführen möchte. Der erste Punkt ist die Frage: Wer ist eigentlich die Zielgruppe? Da sagen Sie: alle Langzeitarbeitslosen. Alle Langzeitarbeitslosen – so schimmerte es sowohl in der Rede von Frau Werner als auch in Ihrem Antrag durch – hätten überhaupt keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Das ist eine Stigmatisierung der Langzeitarbeitslosen, die wir unterlassen sollten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Es ist mitnichten so, dass alle Langzeitarbeitslosen überhaupt keine Chance haben. Viele Langzeitarbeitslose sind gut qualifiziert und verfügen über besondere Fähigkeiten. Mit einer guten Förderung eröffnen wir ihnen viele Möglichkeiten. Viele Menschen finden auch nach mehr als einem Jahr Arbeitslosigkeit wieder aus der Arbeitslosigkeit heraus. (Abg. Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Frau Präsidentin. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Genau das, was ich dachte: Keine Redezeit, aber laufend Zwischenfragen stellen! – Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das würden wir sonst auch machen! – Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ach so!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Strengmann-Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann? (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Er wartet schon darauf! – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Jetzt Nein sagen!) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich gestatte sie sehr gerne. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bitte schön. Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Ich habe mich vorbereitet; das wollte ich vorweg sagen. – Vielen Dank, Kollege Strengmann-Kuhn. Ich will einfach nur etwas klarstellen. In unserem Antrag steht: Qualifizierung und Weiterbildung haben Vorrang. – Wenn jemand auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden kann, ist das gut. Deswegen möchte ich einfach klarstellen, dass nicht alle Langzeitarbeitslosen in den öffentlichen Sektor hinein sollen, sondern für uns steht die Vermittlung auf dem ersten Arbeitsmarkt wirklich an erster Stelle. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie schreiben aber in Ihrem Antrag, dass sich auf die 200 000 Plätze alle Langzeitarbeitslosen bewerben können, und zwar ohne Einschränkungen. Das gilt dann auch für diejenigen, die Chancen auf eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt hätten. Das führt dazu, dass diejenigen, die keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, auch keine Chance auf einen ihrer 200 000 Arbeitsplätze haben. Das heißt, die Ausgrenzung an dieser Stelle, die wir mit dem sozialen Arbeitsmarkt angehen wollen, besteht in Ihrem Konzept weiterhin. Die 200 000 Menschen, die langzeitarbeitslos sind und mehrere Vermittlungshemmnisse haben, hätten auch in Ihrer öffentlich geförderten Beschäftigung keine Chance. Das führt zur Ausgrenzung. Das ist ein Punkt, den wir in Ihrem Vorschlag kritisieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der zweite Punkt ist: In welche Art von Beschäftigung kommen diese Menschen? Es ist für uns wichtig, dass Barrieren abgebaut werden und dass wir an die Sache inklusiv herangehen. Deswegen sprechen wir nicht von einem zweiten oder dritten Arbeitsmarkt mit einem hierarchischen Aufbau, sondern wir sprechen von einem sozialen Arbeitsmarkt ohne Barrieren und Hindernisse zum normalen Arbeitsmarkt. Die Grenzen zwischen sozialem Arbeitsmarkt und normalem Arbeitsmarkt sollen fließend sein. Genau diese Grenzen ziehen Sie in Ihrem Antrag wieder ein, indem Sie sagen: Die Beschäftigung muss zusätzlich sein. – Was heißt denn „zusätzlich“? Das heißt, es ist keine normale Beschäftigung. Das heißt also, die Beschäftigung besteht darin, einen Laubhaufen von einer Stelle zu einer anderen zu schieben. Das macht keinen Sinn. Wir brauchen normale Beschäftigung, die nicht zusätzlich ist, die allen offensteht und mit der die Menschen gefördert werden können, die geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Das Gleiche gilt für die Frage, ob es nur um öffentlich geförderte Beschäftigung gehen soll. Kollegin Pothmer hat schon auf das Modell in Baden-Württemberg verwiesen, wo explizit und vorrangig private Unternehmen angesprochen werden. Das ist genau der richtige Weg. Wir müssen mit dem sozialen Arbeitsmarkt auch Beschäftigung fördern, die der auf dem ersten Arbeitsmarkt entspricht und marktgängig ist. Nur dadurch bekommen wir es tatsächlich hin, dass die Menschen am sozialen Arbeitsmarkt nicht in einem Sondersystem sind und stigmatisiert und ausgegrenzt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt schon gute Beispiele (Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Welche denn?) wie Nordrhein-Westfalen, wo die Grünen an einer rot-grünen Regierung beteiligt sind, und das Baden-Württemberger Modell – dort koalieren die Grünen mit der SPD –, wo diese Kriterien enthalten sind. In Hessen haben sich die Koalitionspartner Grüne und CDU diese Woche auf einen Einstieg in einen sozialen Arbeitsmarkt geeinigt, der auch diesen Kriterien entspricht. Das zeigt: Da, wo Grüne regieren, geht es in die richtige Richtung. Grün wirkt! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist der SPD, die auch Sympathien für den sozialen Arbeitsmarkt hat, auf Bundesebene nicht gelungen, die CDU zu überzeugen. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schaffen wir auch noch!) Das haben wir, wie gesagt, in Hessen geschafft. Ich fordere die Regierungskoalition noch einmal auf, sich einen Ruck zu geben. Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Bundesländern, in denen die Grünen mitregieren! Denn nur dann, wenn wir es auf Bundesebene schaffen, den Passiv-Aktiv-Transfer umzusetzen, kann es einen flächendeckenden sozialen Arbeitsmarkt geben, bei dem die Dauerarbeitslosen nicht mehr ausgegrenzt werden. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich werde teilweise aus NRW-Sicht reden. Vieles wurde schon gesagt. Wiederholungen werden sich wohl nicht vermeiden lassen. Wir haben in Deutschland eine hervorragende Arbeitsmarktlage, und wir können hohe Beschäftigungszahlen vorweisen. In der Gruppe der Langzeitarbeitslosen in Deutschland bewegt sich zum Teil weniger, oder genauer gesagt: In diesem Bereich verfestigen sich bestimmte Personengruppen. Wenn wir gemeinsam feststellen, dass wir die Zielgruppe der Langzeitarbeitslosen mit den vorhandenen Vermittlungsstrukturen nicht oder nur unzureichend erreichen können, dann müssen wir die Vermittlungsstrukturen und den vorhandenen Instrumentenkasten prüfen und entsprechend anpassen. Ziel aller Maßnahmen und Programme muss es sein, den Übergang in den ersten Arbeitsmarkt und damit in die sozialen Sicherungssysteme zu ermöglichen. Ich glaube aber, dass wir gerade bei diesem Thema, das uns allen wichtig ist, verschiedene Aspekte beleuchten müssen. Ob Ihre Vorstellung, Kollegen der Fraktion Die Linke, die öffentlich geförderte Beschäftigung mit 200 000 Stellen auszubauen, die richtige Lösung für die Beseitigung von Langzeitarbeitslosigkeit ist, wage ich zu bezweifeln. Wir müssen uns dabei nämlich auch die Frage stellen, ob wir nicht mitunter diese Personengruppe in dem System sogar verfestigen. Es gibt nämlich nicht den Normalfall bei Langzeitarbeitslosen. Es ist Teil der Herausforderung, dass wir es bei den Langzeitarbeitslosen nicht mit einer homogenen Gruppe zu tun haben; es sind vielmehr Menschen, die häufig mehrere Vermittlungshemmnisse aufweisen und auch unterschiedlichen Unterstützungsbedarf haben. Die unterschiedlichen Erwerbslosenbiografien sind bereits angesprochen worden. Circa 1 Million Menschen sind schon länger als ein Jahr ohne Arbeit. Fast die Hälfte von ihnen ist länger als zwei Jahre arbeitslos. Dass 20 Prozent vier Jahre oder länger arbeitslos sind, ist nicht gut; dem müssen wir entgegenwirken. Wir müssen – die Bundesarbeitsagentur agiert bereits entsprechend – die individuellen Potenziale der Langzeitarbeitslosen verstärkt in den Blick nehmen und nach Talenten und Begabung fragen und den Betroffenen die Möglichkeit geben, diese weiterzuentwickeln. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Langzeitarbeitslosen vielfach soziale, gesundheitliche, schulische oder familiäre Probleme haben. Deshalb gehört es für uns in der Union dazu, dass wir die Rahmenbedingungen so gestalten wollen, dass sich Betreuungsintensität, Betreuungsqualität und auch Betreuungsdichte steigern lassen, wobei es einer Abstimmung zwischen den Akteuren, die an diesem Prozess beteiligt sind, bedarf. Sie wissen: Ich habe 30 Jahre im Gesundheits- und Sozialbereich gearbeitet. Ich bin der Meinung, dass Unterstützungsleistungen wie Schuldnerberatung, psychosoziale Beratung und anderes einen immensen Stellenwert bei der Begleitung von Langzeitarbeitslosen haben. Häufig scheitert diese Unterstützung aber an zu weiten Wegen. Dabei entscheidet sie oft über Erfolg oder Misserfolg von Maßnahmen für Langzeitarbeitslose. Wir müssen hier die Rahmenbedingungen so setzen, dass die räumliche Bündelung besser möglich wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir schaffen mit dem Instrument der assistierten Begleitung eine sinnvolle ergänzende Hilfe. Das ist schon angesprochen worden. Bei der Begleitung oder Beratung kommt es nicht darauf an, ob sie von einem Pädagogen oder einem Sozialpädagogen geleistet wird. Ich habe auch große Sympathien für Menschen, die lebens- und berufserfahren sind, die schon im Ruhestand sind, aber sagen: Ich bin fit, ich bringe meine Kenntnisse und Fertigkeiten ein, ich übernehme Patenschaften für Menschen, die arbeitslos sind – ob das nun junge oder ältere Leute sind –, und begleite sie. – Das sind erfolgreiche Instrumente. Deshalb glaube ich auch, dass wir mit diesem Instrument, das über den Zeitraum einer Maßnahme hinaus eingesetzt werden soll, auf dem richtigen Weg sind. Des Weiteren soll die Vereinbarung von Zwischenzielen möglich sein, und zwar im Sinne eines Stufensystems. Manches Training, ob in einer Berufsbildungsstätte oder in einem Verein, oder auch manches Praktikum, wo durch das Zusammensein mit anderen Menschen kommunikative Kompetenzen, Kritik- und Teamfähigkeit, aber auch einfache Alltagsstrukturen wie das Einhalten von Terminen und Regeln gelebt oder wieder erlernt werden, ist dabei hilfreich. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Hälfte der Langzeitarbeitslosen leider keinen Berufsabschluss hat. Also muss es unser Ziel sein, bei den Maßnahmen zu schauen, wie wir Langzeitarbeitslose ohne Berufsabschluss in eine Ausbildung vermitteln können, anstatt sie einfach irgendwie zu beschäftigen. Ich meine, dass wir bei der Gruppe der Alleinerziehenden ein gutes Beispiel finden, wie Instrumente, die schon auf den Weg gebracht worden sind, gut wirken. Ja, es gibt 120 000 Alleinerziehende in der Gruppe der Langzeitarbeitslosen. Für sie ist zum einen notwendig, dass Kinderbetreuungsmöglichkeiten vorhanden sind. Die haben wir mit dem Kitaausbau, mit Betreuungsplätzen und regionalen Netzwerken vor Ort geschaffen; wir haben sogar vielfältige Möglichkeiten geschaffen. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch die Arbeitgeber so einbinden, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf möglich ist. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer? Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU): Im Moment nicht. Ich würde gerne erst den Gedanken zu Ende führen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber später schon?) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wenn die Redezeit nicht zu Ende ist. Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU): Ein Umdenken wegen offener Azubistellen, die nicht besetzt werden können, findet bei den Arbeitgebern in unterschiedlichem Maße schon statt, auch angesichts des regionalen Fachkräftemangels. Ein Beispiel aus meinem Wahlkreis: Ein Bäcker, der ein Familienunternehmen betreibt, hat einer alleinerziehenden Mutter durch verkürzte Arbeitszeiten, angepasst an die Kitaöffnungszeit, die Möglichkeit geboten, eine Ausbildung als Bäckereifachverkäuferin zu machen. Das ist ein gutes Beispiel, das zeigt, dass Instrumente wirken und aufseiten der Arbeitgeber, der Handwerksbetriebe und auch der Gewerkschaften einiges im Fluss ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie wundern sich vielleicht, dass ich heute etwas milde bin, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Heiterkeit bei der LINKEN) Das Thema ist uns allen wichtig. Nur, jetzt muss ich folgenden Punkt erwähnen: die Finanzierung öffentlich geförderter Berufstätigkeit. Sie wollen den Eingliederungstitel durch eine Sonderabgabe der Arbeitgeber in Höhe von 0,5 Prozent der Lohnsumme deutlich erhöhen. Dazu kann ich nur ein Bild aus der Landwirtschaft nehmen und sagen: Wie lange wollen Sie eine Kuh melken? (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: So lange, wie sie Milch gibt!) Jeder von uns weiß: Eine gesunde Kuh kann man nur begrenzt melken. Auch unsere gesunde Kuh, die deutsche Wirtschaft und den Mittelstand, kann man nicht unbegrenzt melken. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unsere Kühe stehen sehr gut da!) Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Langzeitarbeitslosigkeit ist ein komplexes Problem, (Zurufe von der LINKEN) das – darf ich dies noch zu Ende ausführen? – nicht einfach mit neuen Arbeitsmarktprogrammen oder der Ausdehnung der öffentlich geförderten Beschäftigung zu lösen ist. Vielmehr ist ein Bündel von Maßnahmen in der Arbeitsmarktpolitik erforderlich. Es ist ferner nötig, im Bildungssystem Maßnahmen, die räumlich gebündelt und vernetzt sind, auf den Weg zu bringen. Ihr Antrag greift aus unserer Sicht zu kurz, und deshalb lehnen wir ihn ab. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Waltraud Wolff, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Letztes Jahr im August haben meine Kollegin Daniela Kolbe und ich die Forderung der ostdeutschen Bundestagsabgeordneten nach einem sozialen Arbeitsmarkt vorgestellt. Ganz ehrlich: Wir haben im letzten August nicht geglaubt, dass die Bundesarbeitsministerin in der Zwischenzeit mehrfach hier im Hohen Hause diese Forderung unterstützen und sagen würde, sie werde Lösungsmöglichkeiten vorstellen. Wir wissen ja, dass wir im Haushalt keine zusätzlichen Mittel haben. Meine beiden Kollegen, Herr Bartke und Frau Kolbe, haben schon dargestellt, welche die Zielgruppen sind und wie wichtig es ist, dass hier etwas passiert. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kollege Bartke hat gesagt, dass es ohne zusätzliche Mittel möglich ist!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist für uns oberstes Gebot, Brücken in den ersten Arbeitsmarkt zu bauen; das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass für Menschen, die sehr lange arbeitslos sind, die Angebote der Arbeitsmarktpolitik nicht passen. Richtig ist also auch, dass neben der Brücke auf den ersten Arbeitsmarkt die Teilhabe am Erwerbsleben und damit auch am gesellschaftlichen Leben ein wichtiges Ziel der Arbeitsmarktpolitik sein muss. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dieses Ziel wird uns gemeinsam immer wichtiger, weil wir die Dringlichkeit und die Not erkannt haben. Darüber, muss ich sagen, bin ich persönlich sehr froh. Ich bin auch deshalb sehr froh darüber, weil Arbeit mehr ist als Broterwerb. Arbeit ist Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe, und auf diese Teilhabe hat ein Teil der Menschen in unserem Land keine Chance mehr. Diesen Menschen – das haben wir in dieser Debatte schon breit diskutiert – können wir mit öffentlich geförderter Beschäftigung helfen. Das halte ich für sinnvoll und notwendig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im August 2014 haben wir als SPD unseren Vorschlag vorgestellt. Im Oktober 2014 hat eine Gruppe von Unionskollegen ihren Vorschlag zu öffentlich geförderter Arbeit gemacht. Heute diskutieren wir einen Antrag der Linken. Das heißt also, dass es eine breite Unterstützung für einen solchen Ansatz gibt. Die gute Nachricht ist: Es bleibt nicht nur bei Anträgen; es bleibt nicht nur bei Lippenbekenntnissen. Es wird auch die Umsetzung dieses Ansatzes geben. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann?) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird mit seinem Programm – darüber haben wir auch schon diskutiert – 10 000 Menschen einen Einstieg über das ESF-Programm ermöglichen. Das ist ein wichtiger Schritt. (Beifall bei der SPD) Es ist wichtig, einen Einstieg zu finden. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie haben in Ihrem Antrag deutlich gemacht, dass Ihnen das nicht weit genug geht. Ich habe dafür Verständnis. Auch mir persönlich und allen, die an dieser Debatte teilnehmen, reicht das nicht. Sie haben in Ihrem Antrag auch die Kosten für diesen Ansatz benannt. Wenn man die Zahlen einmal zusammenrechnet, sieht man: Es handelt sich um 6 Milliarden Euro. 6 Milliarden Euro! Das ist auch von meinen Kollegen aus der Union schon angesprochen worden. Auch die Sonderabgabe ist erwähnt worden. Ich sehe nicht, überhaupt nicht, dass diese Vorschläge durchsetzbar sind. Wenn wir keine zusätzlichen Mittel im Haushalt haben, ist der Einstieg, den Frau Nahles hier macht, das Beste, was uns überhaupt passieren kann; (Beifall bei der SPD) denn ohne zusätzliche Mittel im Haushalt hat Ministerin Nahles für dieses Jahr 75 Millionen Euro freigekämpft, und sie hat es möglich gemacht, für das nächste Jahr 150 Millionen Euro bereitzustellen. Ich sage noch einmal: ohne zusätzliche Haushaltsmittel. Ich glaube, dass es hier einen Anfang gibt, der wichtig ist und mit dem man soziale Teilhabe möglich machen kann. (Beifall bei der SPD) Warum ist der Konsens dazu derart breit? Weil nicht nur wir, sondern auch die Länder diesen Weg mitgehen! Sie haben das für Thüringen gesagt, Frau Ministerin Werner. Nordrhein-Westfalen, Hessen, alle haben sich hier schon geoutet. Dann schaue ich mal zu mir nach Hause, nach Sachsen-Anhalt. Ich freue mich, dass gerade daran gearbeitet wird, dieses Bundesprogramm von Frau Nahles um 1 000 Stellen aufzustocken. Sachsen-Anhalt ist nicht gerade ein Land, das mit Reichtum gesegnet ist. Aber wir nehmen 35 Millionen Euro ESF-Mittel zusätzlich in die Hand und schaffen für die nächsten drei Jahre für 1 000 Menschen eine Beschäftigungsmöglichkeit. Menschen brauchen das Gefühl, gebraucht zu werden. Die meisten wollen arbeiten. Sie wollen Teil der Gesellschaft sein. Sie brauchen die Kontakte, die über die Arbeit entstehen. Meine Damen und Herren, es gibt gleichzeitig viele Aufgaben, die überhaupt nicht wahrgenommen werden. Es heißt immer: Soziale Arbeit kann nur stattfinden, wenn keine ordentlichen Arbeitsplätze gefährdet werden. – Etliche Kommunen in Ostdeutschland schrumpfen. Nicht nur Wohnungen stehen leer, auch Kleingärten fallen brach. Die gemeinnützigen Gartenvereine können es nie im Leben schaffen, hier den Rückbau zu leisten. Da sehe ich eine gute Möglichkeit. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Langzeitarbeitslose als Kleingärtner?) In Krankenhäusern, in Pflegeheimen ist die Einsamkeit greifbar. Pflegekräfte haben nicht die Zeit, die notwendig ist. Das ist eine zusätzliche Aufgabe. In vielen Orten, in vielen Dörfern gibt es nicht einmal mehr Geschäfte, sodass Kommunen sagen: Wir müssen wenigstens einen Dorfladen schaffen. – Auch da sind Möglichkeiten vorhanden. Es gibt tausend Ideen. Die wenigen Beispiele sollen zeigen, dass im Rahmen von sozialer Arbeit sinnvolle und wichtige Beschäftigung möglich ist. Dafür müssen wir eine Unterstützung hinbekommen. Natürlich muss man das vor Ort entscheiden. Ich sage, dass die Beiräte bei den Jobcentern das am besten entscheiden sollten: Da sind Arbeitgeber. Da sind Gewerkschaften. Da ist Politik. Es fehlen zwar die Sozialverbände, aber das sollte keine unüberwindbare Hürde sein. Es heißt immer, meine Damen und Herren: Politik ist die Kunst des Möglichen. Uns eint das Ziel, soziale Teilhabe für alle Menschen zu gewährleisten. (Beifall bei der SPD) Lassen Sie uns diesen Weg doch gemeinsam gehen! Aber lassen Sie uns dabei auch immer im Blick behalten, was möglich ist! Dann, glaube ich, werden auf diesen ersten Schritt weitere Schritte folgen. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächste spricht die Kollegin Jutta Eckenbach, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Jutta Eckenbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als eine der letzten Rednerinnen und als eine, die heute in diesem Hohen Hause, im Bundestag, schon viele Reden gehört hat, will ich sagen: Eigentlich eint uns Sozialpolitiker vieles. Ich möchte die Unterschiede aber doch noch einmal deutlich machen. Bei den Linken ist es so: Sie wollen eigentlich den Arbeitsplatz, den Arbeitgeber mehr belasten. Ich habe das einmal ausgerechnet. Es handelt sich nicht um Milliardensummen. Aber wenn Sie das, was Sie fordern, auf einen Arbeitgeber beziehen, heißt das, dass er bei 35 Mitarbeitern einen Ausbildungsplatz weniger finanzieren kann. Da frage ich mich, inwiefern das sozial sein soll. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich will auch Ausbildungsplätze schaffen. Ihr Vorschlag läuft dem aber entgegen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie mal die Gewinne angeschaut?) Sie vertreten die Philosophie – das wurde ja hier schon mehrmals erwähnt –: Ich schaffe einen Arbeitsmarkt, packe die Menschen dort hinein und – wenn ich Frau Werner aus Thüringen richtig verstanden habe – gebe ihnen 1 100 Euro im Monat, lasse sie drei Jahre in einer öffentlich geförderten Beschäftigung; danach sind sie ein Jahr in der Arbeitslosenversicherung, und dann stecke ich sie wieder in ein Programm. – Wie lange wollen Sie das durchziehen? (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Deswegen wird das in Thüringen auch nie gut!) Es gibt ja kein Andocken an den Arbeitgeber. Sie schaffen einen öffentlich geförderten, geschützten Arbeitsraum für drei Jahre. Da frage ich mich: Was ist eigentlich mit dem, der psychosoziale Schwierigkeiten hat, der gar nicht acht Stunden arbeiten kann? Werden Sie den auch mit 1 100 Euro ausstatten? Das sind für mich ganz wichtige Fragen, wenn es um das Thema Passiv-Aktiv-Transfer geht. Sie wissen, dass auch ich das verfechte. Aber für mich sind noch nicht alle Fragen beantwortet. Ich bekomme nämlich aus diesem System nur denjenigen heraus, der voll arbeitsfähig ist. Bei demjenigen, der große Schwierigkeiten hat, bin ich sofort wieder bei der Aufstockung, weil er nicht aus dem System heraus ist. Uns kann es doch nur darum gehen, die Menschen herauszubekommen und an einen Arbeitgeber, in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Was ist dafür notwendig? Dafür sind nicht nur die Programme, die Frau Nahles jetzt auflegt, notwendig. Frau Nahles hat in der Tat die Programme alleine aufgelegt, liebe Kollegen der SPD; denn politisch haben wir diese hier im Hohen Hause noch nicht beraten. Insofern werden wir – da freue ich mich auf eine spannende Diskussion – diskutieren müssen, wie wir damit umgehen. Aber im Moment ist es ein Nahles-Programm und kein Programm der SPD, kein Programm der CDU. Es ist ein Programm der Ministerin. Wenn man sich einmal damit beschäftigt – das habe ich getan – und vor Ort schaut, wie das Programm läuft, dann kann man feststellen, dass wir momentan nicht alle Stellen besetzt bekommen. Wir haben eigentlich 33 000 Stellen, bekommen mit Mühe und Not aber nur 24 000 Stellen besetzt. Woran liegt das? Das liegt daran, dass wir die Arbeitgeber brauchen. Das liegt daran, dass wir Menschen befähigen müssen, genau dort, wo sie gebraucht werden, die Arbeit aufzunehmen. Dazu ist aber ein enormer Aufwand an Begleitung erforderlich. Deswegen ist es wichtig, dass wir darauf achten: Jede Region ist anders; jeder Mensch ist anders. Jeder Mensch muss die Fähigkeiten, die er besitzt, ausbauen. Ich habe das hier einmal mit „Wir müssen die Stärken stärken“ umschrieben. Genau das ist es doch, wofür wir bei dem Einzelnen zunächst einmal sorgen müssen. Meines Erachtens müssen wir in der Tat sehr flexibel sein. Wir werden für Hamburg andere Programme als für das Ruhrgebiet oder Bayern brauchen, wo ganz andere Probleme vorherrschen. Darüber werden wir zukünftig reden müssen. Vieles haben wir ja probiert. Frau Pothmer, gestatten Sie mir, da Sie behaupten, wir hätten in der letzten Regierung nichts getan, eine Bemerkung – ich habe gerade noch einmal nachgefragt –: Das ganze Programm einschließlich der Systematik, in die Langzeitarbeitslosigkeit zu kommen, ist ein Programm von Rot-Grün. Ich will das nur richtigstellen. Das Ganze ist letztendlich auf Hartz IV zurückzuführen, weil wir genau an dieser Stelle nicht die richtigen Instrumente eingeführt haben. Wir sollten also die gegenseitigen Schuldzuweisungen lassen. Wir sollten vielleicht auch diese Anträge lassen, die uns vorgaukeln, wir könnten das Ganze über einen Arbeitsplatz und mit viel Geld steuern. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das werden wir zum Glück noch selber entscheiden, Frau Kollegin! Sie spornen uns an!) Nein, wir brauchen Regionalität. Wir brauchen die Anerkennung dessen, was der einzelne Langzeitarbeitslose an unterschiedlichen Fähigkeiten braucht. Gerade vor dem Hintergrund, dass wir schon viele Langzeitarbeitslose in Arbeit gebracht haben und es heute mit einer Gruppe zu tun haben, die wirklich enorme Hilfe benötigt, wird uns das sehr schwerfallen. Wir haben in Essen – um das zum Schluss als Beispiel zu nennen – ganz früh eine Joborientierung – aber immer stufenorientiert, also ausstiegsorientiert – genau für diese Menschen angeboten. Wir wollen sie befähigen, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Ich glaube, dass dies Maßnahmen sind, die wir in der Tat benötigen. Ich kann für die CDU/CSU-Fraktion hier und heute sagen: Wir werden uns genau daran orientieren. Ich freue mich schon heute auf eine sehr interessante Debatte, die sich mit den Fragen beschäftigen wird: Wie beseitigen wir Langzeitarbeitslosigkeit? Wie bringen wir Menschen in Arbeit, die heute noch in der Langzeitarbeitslosigkeit sind? Was muss ich genau für diese Menschen tun? Wenn wir das alle gemeinsam machen, sind wir, glaube ich, auf einem richtigen Weg. Wir werden dabei Haushaltsdisziplin wahren müssen, und wir müssen dabei darauf achten, wie wir die Arbeitgeber mitnehmen können. Aber diese Ziele sollten uns Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker hier alle bewegen. Insofern freue ich mich auf die nächsten Debatten. Sie werden anstrengend genug sein. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Markus Paschke. (Beifall bei der SPD) Markus Paschke (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollegin Eckenbach, ich muss das, was Sie eben gesagt haben, doch ein bisschen korrigieren. Die Ministerin hat dieses Programm höchstpersönlich im Ausschuss vorgestellt. Wir haben intensiv darüber diskutiert. Es würde mich freuen – und ich lade Sie dazu ein –, wenn wir auf diesem Weg weitergehen würden und den Schwerpunkt, den wir gesetzt haben, nämlich für die Langzeitarbeitslosen etwas zu machen, noch stärker ausbauen und weitere Mittel dafür zur Verfügung stellen könnten. (Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit den nicht besetzten Stellen, von denen sie gesprochen hat?) Seit zwei Jahren erhalten wir fast monatlich Erfolgsmeldungen wie: „Bester Arbeitsmarkt seit der Wiedervereinigung“, „Arbeitslosigkeit geht weiter zurück“ oder auch „Viel Arbeit, die Arbeitslosenquote ist so niedrig wie seit langem nicht mehr“. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das Arbeitsvolumen ist gleich geblieben!) Ja, es liegt noch viel Arbeit vor uns. Denn wir hören zwar, dass die Arbeitslosenzahlen gesunken sind. Das verleitet einige auch dazu, zu denken, alles sei im grünen Bereich; es verleitet dazu, zu denken, am Arbeitsmarkt sei alles in Ordnung. Aber es ist nicht alles in Ordnung; denn die Joberfolge kaschieren Probleme. So schreibt es die Börsen-Zeitung, und sie steht wahrlich nicht im Verdacht, eine sozialdemokratische Hauspostille zu sein. Fakt ist: Viele Langzeitarbeitslose profitieren nicht von diesen Erfolgszahlen. Sie haben keinen Anteil an den guten Entwicklungen. Jeder von uns wünscht sich, dass jeder Mensch – ob Mann oder Frau, ob jung oder älter – seinen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt finden kann. Die Realität ist aber leider eine andere: Nicht wenige Menschen in Deutschland bekommen leider keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt. Es gibt definitiv einen Bedarf an individuellen Lösungen, die es jedem Menschen ermöglichen, Anteil am gesellschaftlichen Leben zu nehmen. Ein wichtiger Bestandteil dieses gesellschaftlichen Lebens ist bei uns die Erwerbsarbeit, das Gefühl, gebraucht zu werden und seinen Beitrag für die Gesellschaft leisten zu können. Wir brauchen Lösungen, die die Stärken, aber auch die Schwächen des Einzelnen berücksichtigen. Wir brauchen also Angebote für diejenigen, die heute die Chance auf einen Platz im ersten Arbeitsmarkt nicht haben. Diese Angebote müssen die derzeitige physische und psychische Situation sowie die Fähigkeiten des Einzelnen berücksichtigen. Die betroffenen Menschen brauchen wieder die Chance, Mut zu fassen und ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Und sie brauchen vor allen Dingen das Gefühl, wieder gebraucht zu werden. Das alles sollte immer mit dem Ziel vor Augen geschehen, irgendwann wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Das kann zwei, drei oder fünf Jahre oder auch länger dauern. Wir brauchen ganzheitliche Konzepte, die die Menschen in den Mittelpunkt stellen. Wir brauchen Konzepte, die dort, wo Hilfe benötigt wird, diese Hilfe auch sicherstellen. Dafür brauchen wir Geld. Denn auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu: Solche ganzheitlichen Konzepte sind nicht kostenlos zu haben. Schon das Wort „Langzeitarbeitslosigkeit“ signalisiert ja deutlich, dass häufig keine kurzfristigen Maßnahmen sinnvoll sind. Wir dürfen also nicht in Haushaltsjahren rechnen, sondern wir müssen die positiven Wirkungen mittel- bis langfristig betrachten. Deutschland ist schließlich kein DAX-Konzern, der seine Aktionäre befriedigen muss, sondern eine soziale und demokratische Gesellschaft. In diese Gesellschaft und ihren Zusammenhalt den einen oder anderen Euro mehr zu investieren, sollten wir ruhig bereit sein. (Beifall bei der SPD) Die meisten Menschen, die ich kenne, wollen arbeiten. Warum geben wir ihnen nicht die Chance? Warum finanzieren wir Arbeitslosigkeit statt Arbeit? (Zuruf von der LINKEN: Eine gute Frage!) Wie es gehen kann, zeigen Modellprojekte aus Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg. (Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Wo in Nordrhein-Westfalen?) Nehmen wir das Beispiel Baden-Württemberg. Dort wird als einer von fünf Bausteinen des Landesprogramms „Gute und sichere Arbeit“ der Passiv-Aktiv-Tausch, also ein sozialer Arbeitsmarkt, erprobt. Statt den sogenannten Regelbedarf und die Kosten für die Unterkunft zu finanzieren, können die verwendeten Gelder als Zuschuss für eine Beschäftigung eingesetzt werden. Baden-Württemberg erprobt das in einem Programm mit 562 Plätzen, die auch genutzt werden. Eine Evaluation ist für 2015, 2016 vorgesehen. Ich bin davon überzeugt, dass es uns Erkenntnisse liefern wird, die unsere Arbeit für nachhaltige Beschäftigungserfolge für Langzeitarbeitslose voranbringen wird. (Beifall bei der SPD) In der Bundesregierung ist die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit als ein wichtiger Schwerpunkt erkannt. Das Programm, das Bundesministerin Andrea Nahles vor einigen Monaten vorgestellt hat, weist in die richtige Richtung. Die wesentlichen Bestandteile sind heute mehrfach erwähnt worden. Angesichts der Zeit werde ich sie nicht wiederholen. Aus meiner Sicht sind es gute und wichtige Schritte. Ich danke der Bundesministerin ausdrücklich dafür, dass sie sich dieses Themas angenommen und es sich auf die Fahnen geschrieben hat. (Beifall bei der SPD) Wir sind also schon einen Schritt weiter, als Ihr Antrag suggeriert. Natürlich wäre mehr wünschenswert. Wir werden auch dafür kämpfen, mehr Geld für die Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt für Langzeitarbeitslose zur Verfügung zu haben. Das Programm der Bundesregierung mit seinen konkreten Vorschlägen ist im Gegensatz zu Ihrer Wünsch-dir-was-Liste gut angelegtes Geld. Es ist wichtig, dass wir mit den Steuergeldern und den Haushaltsmitteln ordentlich umgehen. Es ist mir zu einfach, zu leicht und zu billig, immer mehr zu fordern. Ich finde, die SPD macht eine gute Politik. Sie sagt nämlich: Im Mittelpunkt unserer Politik muss der einzelne Mensch stehen. Die, die es am schwersten haben, sind auf unsere Unterstützung und Solidarität angewiesen. Deshalb halten wir die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit für wichtig. Das Mögliche machen und weiter für das Wünschenswerte kämpfen, das ist gute sozialdemokratische Politik, meine Damen und Herren. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Mehr als 1 Million Menschen in unserem Land sind langzeitarbeitslos – mehr als 1 Million ganz unterschiedliche Schicksale. Oft sind sie langzeitarbeitslos, weil sie neben den Stärken, die selbstverständlich jeder Mensch hat, nicht nur ein Problem mitbringen, sondern gleich mehrere. Sie haben keinen Schulabschluss oder keine Berufsausbildung, sie sind krank oder müssen sich um jemanden kümmern, sie sind alleinerziehend oder nicht mehr ganz jung, sie haben Schulden, es gibt einfach nicht die passende Stelle, sie sind alkoholkrank oder nehmen Drogen, sie sprechen unsere Sprache nicht, sind nicht belastbar oder motiviert; manche haben Vorstrafen, und andere können oder wollen nicht umziehen. Wer erst einmal längere Zeit arbeitslos ist, bei dem wird die Langzeitarbeitslosigkeit an sich zum sogenannten Vermittlungshemmnis. Jeder Fall ist anders zu bewerten. Eines jedenfalls ist sicher nicht richtig, nämlich dass all diese Menschen für den ersten Arbeitsmarkt nicht mehr zu gebrauchen sind und von Haus aus für eine öffentlich geförderte Beschäftigung infrage kommen. Mit Ihrem Antrag fordern Sie groß angelegte Beschäftigungsprogramme. Sie stellen damit viele, viele Menschen auf das Abstellgleis. Das Gleis führt nämlich nicht weiter auf den ersten Arbeitsmarkt; da ist dann einfach Endstation. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Aber bei Ihnen ist bei den Jobcentern schon Schluss! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Andersrum wird ein Schuh draus!) Sie wissen gut, dass wir als Koalition die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit zu einem unserer obersten Ziele erklärt haben. Ihre Behauptung im Antrag, nicht die Arbeitslosigkeit sei bekämpft worden, sondern die Betroffenen seien bekämpft worden, ist deshalb reichlich verfehlt, liebe Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie denn mit denen mal geredet? Das sagen die Ihnen bei jedem Bürgergespräch!) Das Arbeitsministerium hat die verschiedenen Programme für Langzeitarbeitslose hier bereits vorgestellt, und wir haben auch schon öfter darüber diskutiert. Unsere Programme eint, dass sie auf eine intensive Beratung und Betreuung der einzelnen Betroffenen setzen, dass sie eben die individuelle Lebenssituation der eigenverantwortlich handelnden Menschen in den Mittelpunkt stellen und sie unterstützen, dass sie auf Stärken der Menschen aufbauen und sie dabei unterstützen, eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden und zu behalten. Öffentlich geförderte Beschäftigung kann in so guten Zeiten, wie sie unser Arbeitsmarkt momentan erlebt, immer nur für einen sehr kleinen Personenkreis sinnvoll sein. Dieser muss sehr genau definiert sein. Auch müssen die Tätigkeiten sehr genau definiert sein, damit keine regulären Jobs verdrängt werden. In Ihrem Antrag ist leider keiner dieser Punkte berücksichtigt. Um Ihnen das Problem deutlich zu machen, möchte ich mit Ihnen einen kurzen Ausflug in die Geschichte unternehmen. Schon im 19. Jahrhundert hatten Städte und Gemeinden versucht, Teile der erwerbslosen Bevölkerung mit sogenannten Notstandsarbeiten in Arbeit zu bringen. Wie der Name aber schon sagt, wurde diese Form der Beschäftigung nur in ganz besonders schlechten Arbeitsmarktsituationen eingeführt, zum Beispiel bei Missernten oder Konjunktureinbrüchen. Auch in der Weimarer Republik gab es solche Programme, weil breite Bevölkerungsschichten damals Gefahr liefen, aus der Gesellschaft ausgegliedert zu werden. Das betraf beispielsweise die vielen Kriegsveteranen und junge Menschen, die infolge der Wirtschaftskrise von 1923 ohne jede Chance auf Arbeit waren. Eine ganz besondere Bedeutung erlangte die öffentlich geförderte Beschäftigung mit der Wiedervereinigung. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden in den 90er-Jahren bekanntlich in außerordentlichem Maße eingesetzt. Sie sollten damals als Brücke fungieren. Das entstandene Arbeitsplatzdefizit in den neuen Bundesländern sollte damit verringert werden. Die Teilnehmer sollten neue Qualifikationen erlangen. Was aber hatten all diese Situationen in der Geschichte gemeinsam? Es waren extrem schwere Zeiten auf dem Arbeitsmarkt. Die öffentlich geförderte Beschäftigung war dafür da, die extremsten Folgen für die Menschen abzufedern. Sie war noch nie der Königsweg der Arbeitsförderung; sie war immer nur die Ultima Ratio. Das hat seine Gründe. Vor allem nach der letzten großen Welle öffentlich geförderter Beschäftigung wurde geschaut, was diese Maßnahmen denn eigentlich bringen, außer dass sie natürlich die Statistik verbessern. Je mehr man forschte, umso deutlicher wurde, dass die -positiven Erfahrungen recht begrenzt waren und die negativen Effekte überwogen. Da gab es Lockin-Effekte: Menschen, die in öffentlich geförderter Beschäftigung standen, nahmen seltener eine reguläre Arbeit auf, vor allem deswegen, weil sie weniger Zeit für Arbeitssuche und Bewerbungen hatten. Es gab auch Creaming-Effekte – sie wurden heute schon erwähnt –: Es kamen Menschen in öffentlich geförderte Beschäftigung, die auch so eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt gehabt hätten. Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, krankt Ihr Antrag. Aber Sie geben wenigstens zu, dass Ihr Vorschlag richtig teuer ist, mal eben ein paar Milliarden kosten würde. Weil Sie wissen, dass die Finanzierungsfrage zwangsläufig kommt, haben Sie vorgesorgt und schon einmal grob aufgezeigt, wie das Ihrer Meinung nach funktionieren könnte, zum Beispiel dadurch, die Arbeitgeber mit einer Sonderabgabe in Höhe von 5 Milliarden Euro zu belasten. Wenn das so einfach wäre! Der wichtigste Schlüssel zum Abbau von Arbeitslosigkeit ist die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft, die damit neue Arbeitsplätze schafft. Sie schreiben in Ihrem Antrag selbst, dass die Arbeitslosigkeit durch fehlende Arbeitsplätze entsteht. Nun wollen Sie aber die Unternehmen belasten und die Arbeit teurer machen? Das kann, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, nicht gut gehen. Arbeitslosigkeit können wir nur gemeinsam mit den Arbeitgebern abbauen, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das funktioniert ja nicht, so wie Sie das machen!) und sicher nicht, indem wir sie mit 5 Milliarden Euro zur Kasse bitten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4449 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 c sowie Zusatzpunkt 6 auf: 23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes Drucksache 18/4654 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Umsetzungsstand der Empfehlungen des 2. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages in der 17. Wahlperiode (NSU-Untersuchungsausschuss) Drucksache 18/710 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Pau, Jan Korte, Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wirksame Alternativen zum nachrichtendienstlich arbeitenden Verfassungsschutz schaffen Drucksache 18/4682 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian Ströbele, Irene Mihalic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine Zäsur und einen Neustart in der deutschen Sicherheitsarchitektur Drucksache 18/4690 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundesminister Thomas de Maizière für die Bundesregierung. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im November letzten Jahres haben wir des dritten Jahrestages – man scheut sich, das Wort „Jahrestag“ zu verwenden – der Aufdeckung der terroristischen Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds gedacht. Wir haben festgestellt und sind uns einig: Das waren nicht nur einzelne Pannen, das waren nicht nur einzelne Ermittlungsfehler, die dafür gesorgt haben, dass diese Mordserie so lange unentdeckt bleiben konnte. Nein, es waren auch Strukturen, es waren Haltungen von Sicherheitsbehörden, von Verantwortlichen, die dazu führten, dass die Ermittlungen so lange – zu lange – auf das Umfeld der Opfer begrenzt blieben, mit all den Folgen, die wir diskutiert haben und an denen wir noch arbeiten. Es ist deshalb unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass so etwas in unserem Land nicht mehr passiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Der Verfassungsschutz von Bund und Ländern stand damals stark in der Kritik. Das ging bis hin zu der Forderung, man solle Verfassungsschutzbehörden abschaffen. Ich halte das für falsch. Das würde die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger und unseres Landes schädigen. Die aktuelle Bedrohungslage unterstreicht die Bedeutung des Verfassungsschutzes für unseren Rechtsstaat, bei islamistischem Terrorismus ebenso wie bei massiven Gewaltanwendungen, bei Demonstrationen und den Erkenntnissen im Vorfeld dazu oder bei rechtsextremistischer Hetze zum Thema Flüchtlinge. Der Verfassungsschutz ist und bleibt ein wichtiger Teil unserer Sicherheitsarchitektur. Gerade deshalb aber muss er sich fortentwickeln, weiterentwickeln, sich zukunftsorientiert aufstellen. Die Aufklärungsarbeit zum terroristischen NSU, an der der Untersuchungsausschuss dieses Hauses in der letzten Legislaturperiode maßgeblich beteiligt war, und auch die Debatten in dieser Legislaturperiode haben das eindrücklich aufgezeigt. Der Verfassungsschutz hat diese Herausforderung seit 2012 angenommen, sowohl im Verbund der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern als auch beim Bundesamt, das seine Binnenreform in 230 Einzelprojekten konzentriert betrieben hat, weiter betreibt und weiter betreiben muss. Mit dem heute in erster Lesung zu behandelnden Gesetzentwurf der Bundesregierung setzen wir diesen Reformprozess nun auch legislativ um. Das ist richtig. Das haben wir uns in der Koalition vorgenommen, und das ist sorgfältig mit den Ländern abgestimmt. Auch damit folgen wir den Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses. Die zentralen Ziele dieses Gesetzentwurfs sind: Stärkung der Zentralstelle und des Verbundes, Verbesserung des Informationsflusses und Ausbau der Analysefähigkeit, Klarheit beim Einsatz von V-Leuten. Lassen Sie mich dazu im Einzelnen vortragen. Erstens: zur Stärkung der Zentralstelle. Für eine bessere Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund wird das Bundesamt für Verfassungsschutz in seiner Zentralstellenfunktion gestärkt. Es koordiniert das arbeitsteilige Zusammenwirken aller Verfassungsschutzbehörden. Ich sage dazu aber auch: Wichtiger als Paragrafen im Bundesgesetzblatt ist hier die echte Bereitschaft zu verstärkter Zusammenarbeit. Dieser Geist der Zusammenarbeit wird mit diesem Gesetz gefördert. Im Grunde muss er aber von jedem einzelnen Mitarbeiter gelebt werden. Hier ist, ehrlich gesagt, noch ziemlich viel zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das wird deutlich, wenn man die Bereitschaft zur Zusammenarbeit im Polizeibereich mit der im Verfassungsschutzbereich vergleicht. Mit dem Gesetzentwurf wird es jedenfalls ein gesetzlicher Auftrag des BfV, also des Bundesamtes, dieses Potenzial zu entwickeln. Zum anderen kann in Zukunft das Bundesamt, wo es nötig ist, bei lediglich regionalen, aber gewaltorientierten Bestrebungen im Benehmen mit dem Land selbst in die Beobachtung eintreten. Das haben manche Länder kritisiert, manchmal scharf. Dazu möchte ich hier sagen: Manches an dieser Kritik wundert mich, weil exakt dies Gegenstand eines Kompromisses mit zum Teil den Innenministern war, die das anschließend kritisiert haben. Gut, das mag in der Politik mitunter so sein. Ich will jetzt keine Namen nennen, aber doch sagen, dass mich das jedenfalls gewundert hat. Diese Regelung verdrängt die Länderzuständigkeit nicht. Sie hat vielmehr eine Auffangfunktion, die – das zeigen die Erfahrungen, die wir gemacht haben – aus fachlicher Sicht in der Sache geboten ist. In der Praxis wird schon aus Ressourcengründen nicht leichtfertig davon Gebrauch gemacht werden. Hinzu kommt: Das Bundesamt wird nur tätig, wenn es nach dem Benehmen mit dem Land gar nicht anders geht, zum Beispiel, wenn ein Land sich weigert, eine regional gewalttätige verfassungsfeindliche Organisation zu beobachten. Wollen wir wirklich, dass das Verfassungsschutzsystem in einem solchen Fall blind ist? Wir haben doch gelernt: Beim gewaltorientierten Extremismus darf es in Deutschland keine blinden Flecken geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Zweiter Punkt: Verbesserung des Informationsflusses. Der NSU-Untersuchungsausschuss hat gerade hier klare Mängel aufgezeigt. Die einen wussten nicht, was die anderen wussten, und haben nicht weitergegeben, was sie wussten, und vieles hätte vielleicht verhindert werden können. Bund und Länder haben zügig gehandelt, bereits im Dezember 2011, mit der Einrichtung des Gemeinsamen Abwehrzentrums gegen Rechtsextremismus. Mit diesem Gesetzentwurf vertiefen und verbreitern wir jetzt diesen zusammenführenden Ansatz im Verfassungsschutzverbund. Der NSU-Untersuchungsausschuss hat zum Verfassungsschutz an erster Stelle klipp und klar empfohlen – ich zitiere –: Informationen zentral zusammenführen und gründlich auswerten. – Das ist eigentlich selbstverständlich. Das ist jetzt wesentliches Kernelement des Gesetzentwurfs und trotzdem umstritten. Künftig müssen alle relevanten Informationen zwischen den Verfassungsschutzbehörden ausgetauscht werden. Ich wiederhole: Das ist eigentlich selbstverständlich. Nun wird das gesetzlich bekräftigt. Dazu gibt es das Verbundsystem NADIS, Nachrichtendienstliches Informationssystem. Es muss jetzt auch dafür genutzt werden. NADIS ist zugleich das Analysetool, um Beziehungen zwischen Personen und Ereignissen zu erkennen und gezielt Strukturen aufzuklären. Bislang war NADIS jedoch teils auf einen bloßen Aktennachweis beschränkt. Diese Beschränkung soll entfallen. So vermeiden wir gefährliche Informationsinseln und gewinnen einen verbesserten bundesweiten Überblick über extremistische Strukturen. Es wäre aus meiner Sicht unverantwortlich, weiter nur in regionaler Abschottung zu operieren. All das, worüber wir hier reden, nämlich die Nutzung von nachrichtendienstlichen Informationen innerhalb eines Landes, innerhalb der Verfassungsschutzbehörden eines Landes, ist dort längst selbstverständlich und vollständig unproblematisch. Die Analyse länderübergreifender Zusammenhänge erfordert aber eine zentrale Auswertung auf Basis der zusammengeführten Daten. Darum geht es bei NADIS, um nicht mehr und nicht weniger. Das hat der NSU-Untersuchungsausschuss gefordert, und das setzen wir jetzt um. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Uli Grötsch [SPD]) Diese Erweiterung ist auch datenschutzrechtlich eingebettet; denn wir haben einerseits die Zugriffs- und Abfragerechte derer, die darauf zugreifen können, beschränkt und andererseits eine Vollprotokollierung im Gesetz festgeschrieben. Es besteht also eine vollständige Kontrolle auch im Nachhinein, wer welche Information mit welcher Berechtigung nachgefragt hat. Dritter Punkt – das wird sicher gleich diskutiert werden; es ist auch ein schwieriger Punkt –: Einsatz von VLeuten. Wir schaffen hier bei einem wichtigen Punkt Klarheit. V-Leute – das will ich noch einmal unterstreichen – sind keine verdeckten Ermittler, keine Beamten. V-Leute sind mitunter Menschen, mit denen man eigentlich nicht so gerne zusammenarbeiten möchte. Sie leben in einer Szene, in der es szenetypisches Verhalten gibt, das wir politisch und häufig auch rechtlich missbilligen. Man braucht sie aber, um an Informationen zu gelangen. Für jeden Nachrichtendienst sind sie ein unverzichtbares Aufklärungsmittel. Bisher gab es zum Einsatz von VLeuten nähere Regelungen nur in Verwaltungsvorschriften. Das ändern wir jetzt, indem wir eine klare rechtsstaatliche Grundlage für den Einsatz von V-Leuten schaffen. Auch das hat der NSU-Untersuchungsausschuss gefordert. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Auswahl und Führung von V-Leuten erhalten jetzt erstmalig einen klaren gesetzlichen Rahmen und klare Grenzen. Bei der Auswahl gibt es Ausschlusskriterien, zum Beispiel Minderjährigkeit oder Vorstrafen. Es gilt der Grundsatz: Verurteilung wegen eines Verbrechens oder zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung schließen die Anwerbung eines V-Manns oder einer V-Frau aus. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Grundsatz!) Das ist der Grundsatz. Ausnahmen sind möglich, hier jedoch nur durch die Behördenleitung. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tja! Durch wen sonst?) Das ist, Herr von Notz, sicher diskussionswürdig, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) und auch mir ist es nicht leichtgefallen, das so zu regeln. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hätten Sie ja anders machen können!) Aber wenn wir durch eine solche V-Person Einblicke in die Szene bekommen und dadurch die Möglichkeit erhalten, Schlimmes zu verhindern, dann kann es unsere Verantwortung für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger unter wenigen einzelnen Umständen gebieten, auch eine solche Quelle zu nutzen. In der Strafprozessordnung gilt übrigens Ähnliches. Selbst Schwerverbrecher sind geeignete Kronzeugen, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht es nicht besser!) wenn sie zuverlässige Informationen bieten, die zur Aufklärung oder Verhinderung weiterer schwerer Straftaten führen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist etwas ganz anderes!) Ein gegenläufiger Rigorismus bei der nachrichtendienstlichen Informationsbeschaffung ist für mich sachlich nicht überzeugend und wäre im Vergleich dazu auch wertungswidersprüchlich. Dazu werden Sie sicher gleich vortragen. Damit hier kein Missverständnis entsteht, möchte ich ausdrücklich betonen: Ich habe von der Vorstrafenrelevanz für eine Anwerbung gesprochen. Im Einsatz selbst erhält die V-Person natürlich keine Befugnis, andere zu schädigen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Ausnahmen!) Wir legen im Gesetzentwurf konkret fest, was jemand als V-Mann darf und was er nicht darf; auch das gab es bisher nicht. Klar ist: Um strafbare und terroristische Vereinigungen von innen aufzuklären, muss die V-Person Mitglied einer solchen Organisation sein können oder sich im Unterstützungsumfeld betätigen dürfen. Daher enthält der Gesetzentwurf dazu eine entsprechende Befugnis. Wenn sich eine solche V-Person in der Szene bewegt, so muss sie sich szenetypisch verhalten können. Hierbei schaffen wir aber klare rechtliche Grenzen. Voraussetzung ist, dass das Verhalten zur Akzeptanz in der Szene unerlässlich und nicht unverhältnismäßig ist. In der rechtsextremistischen Szene kann das beispielsweise die Verwendung verbotener Nazisymbole sein, ein Hitlergruß oder Ähnliches. Das ist szenetypisch; das kann man noch akzeptieren. Klare Grenze ist jedoch: keine Eingriffe in Individualrechte. Sachbeschädigungen bleiben verboten, egal ob sie szenetypisch sind oder nicht; hier gibt es keine Ausnahmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wenn die V-Person also nicht nur an einer militanten Demonstration teilnimmt, sondern selbst Sachbeschädigung begeht, ist und bleibt das strafbar. Es bliebe dann nur, den situativen Bezug und den Einsatzzusammenhang bei der Frage einer Verfahrenseinstellung zu würdigen – das kennen wir im Strafprozessrecht auch –, und auch dafür setzt der Gesetzentwurf klare Grenzen. Alles in allem enthalten die Regelungen zu V-Leuten schwierige rechtsstaatliche Abwägungsentscheidungen. Sie sind im Gesetzentwurf meines Erachtens ausgewogen gelungen. Wir können in den Ausschussberatungen gerne weiter darüber diskutieren. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele? Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern: Bitte schön, sonst redet er hinterher sowieso. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Ströbele. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Minister, geben Sie mir recht, dass der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf in § 9 a – hier soll das Bundesverfassungsschutzgesetz geändert werden –, der auch in § 9 b Anwendung findet, folgende Regelung enthält: Sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Verdeckte Mitarbeiter rechtswidrig einen Straftatbestand von erheblicher Bedeutung verwirklicht haben, soll der Einsatz unverzüglich beendet werden; – jetzt kommt der entscheidende Satz – über Ausnahmen entscheidet der Behördenleiter oder sein Vertreter. Das heißt, das, was Sie hier so darstellen, als sei es Gesetz, hat auch wieder Ausnahmen. Wir wissen, wie von diesem Ausnahmerecht Gebrauch gemacht wird. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Interne Abreden!) Darauf kommen wir nachher noch zu sprechen. Geben Sie mir recht, dass das hier drinsteht? Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern: Ja, natürlich, ich habe das auch genauso vorgetragen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) Diese Ausnahme muss eng begrenzt sein. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo steht das?) – Das können wir da gerne hineinschreiben. Das ist gar kein Problem. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja bitte! – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht jetzt im Protokoll!) Tatsache ist, dass es eine Sollregelung und ein Grundsatz ist. Ein Grundsatz – unter uns Juristen gesprochen, Herr Kollege Ströbele – bedeutet immer, dass alles andere eine Ausnahme ist. Das ist bei jeder Sollregelung so. Deswegen kann man trotzdem „Ausnahmen“ hineinschreiben. Entscheidend ist nur, dass in diesen Fällen nicht der V-Mann-Führer alleine entscheiden kann, die Arbeit fortzusetzen, sondern das muss der Behördenleiter oder sein Stellvertreter entscheiden. Ich will in diesem Zusammenhang gerne noch etwas anderes sagen. Es geht nicht nur um die V-Leute, wo wir uns einig sind, dass wir vieles von dem, was sie tun, missbilligen, sondern es geht auch um den Schutz der Mitarbeiter – es sind überwiegend Beamte – in den Verfassungsschutzbehörden. Denn wenn ein V-Mann eine Straftat begeht und der V-Mann-Führer die Arbeit fortsetzt, dann könnte es sein, dass gegen diesen Beamten ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe eingeleitet wird. (Martina Renner [DIE LINKE]: Zu Recht!) Wenn das der Fall ist, dann, glaube ich, kann man das VMann-Geschäft insgesamt vergessen. Die Linke will dies natürlich: entweder den Verfassungsschutz ganz abschaffen oder keine V-Leute. (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) Das ist, wenn man so will, schlüssig, aber falsch. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Schlüssig und richtig!) – Nein, schlüssig, aber falsch. Konsistent ist das, was Sie vortragen; dem kann ich nicht widersprechen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist schon mal etwas!) Wenn man aber daran festhält, nicht weil diese Menschen besonders sympathisch sind oder weil man sie besonders schön findet, sondern weil wir ihre Informationen brauchen, um Schlimmeres von der Gesellschaft abzuwenden, wenn man diesen Grundsatz bejaht, dann muss man sich in den schwierigen Abwägungsprozess begeben: Was darf der V-Mann, was darf er nicht, und was bedeutet das für den V-Mann-Führer? Hierzu haben wir einen Vorschlag vorgelegt. Darüber sollten wir in den Ausschussberatungen weiter entscheiden. Meine Damen und Herren, wir ziehen mit diesem Gesetzentwurf die Lehren aus den festgestellten Mängeln bei der Arbeit unserer Sicherheitsbehörden. Wir entwickeln den kritisierten Rahmen fort. Wir stellen die Mängel ab, soweit das mit einem Gesetz geht. Der Reformprozess im Übrigen bleibt bestehen. Im Reformprozess des Verfassungsschutzes ist dieses Gesetz ein wichtiger Baustein, beileibe nicht der einzige. Ich bitte um gründliche und konstruktive Beratungen – dazu sind wir bereit – und dann um eine breite Unterstützung. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Petra Pau (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über ein Gesetz, das Schlussfolgerungen für den Verfassungsschutz aus dem NSU-Nazi-Mord-Desaster verheißt. Ich greife daraus jetzt nur einen Aspekt auf: das V-Mann-Unwesen. Ein Vorzug sei – das stellten Sie gerade wieder dar, Herr Bundesinnenminister –, dass die fragwürdige V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehörden nunmehr besser geregelt werde. Ich zitiere, was Sie kürzlich in einer Befragung der Bundesregierung gesagt haben: Wir haben … Klarheit bei den V-Leuten geschaffen. … Szenetypisches Verhalten einschließlich Straftaten ist zulässig. … Die Verletzung von Individualgütern wie Körperverletzung … nicht … Wenn es im Einzelfall einmal anders ist, muss darüber der Behördenleiter … entscheiden. Das klingt gut, ist es aber nicht; denn de facto bleibt alles beim Alten. Dazu eine exemplarische Geschichte aus dem NSU-Nazi-Mord-Desaster. Carsten S. war ein strammer Nazi aus Brandenburg. Gemeinsam mit rechtsextremen Kumpanen versuchte er, einen Nigerianer zu erschlagen, zu verbrennen, zu ertränken. Das Opfer entkam nur knapp dem Tod. Carsten S. wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Von da an wurde er für den Verfassungsschutz interessant, als V-Mann „Piatto“. Sein V-Mann-Führer vom Verfassungsschutz chauffierte „Piatto“ verlässlich aus dem Gefängnis zu Nazikonzerten. So blieb Carsten S. in der Szene und für sie aktiv. Später absolvierte Carsten S. ein Praktikum. Obendrein hatte er eine Festanstellung in Aussicht. Das beeindruckte offenbar auch eine Richterin. Er wurde vorzeitig entlassen, mit der klaren Auflage, sich künftig strikt von der Naziszene fernzuhalten. Der Richterin wurden allerdings zwei wesentliche Fakten verschwiegen: Das gelobte Praktikum hatte „Piatto“ in einem Naziszeneladen absolviert, und seine mögliche Festanstellung sollte in einer neuen Filiale desselben sein – alles von Verfassungsschutzes Gnaden, Täuschung der Justiz inklusive. Kurzum: Der Verfassungsschutz half, Verfassungsfeinde aufzubauen, anstatt die Verfassung zu schützen. Klarer kann sich das Amt nicht delegitimieren. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nun zum neuen Gesetz. Es besagt, dass Nazis, die sich schwerer Verbrechen gegen Leib und Leben schuldig gemacht haben, in aller Regel nicht mehr als V-Leute angeworben werden dürfen. Sind damit neue „Piattos“ ausgeschlossen? Nein; denn „in aller Regel“ bedeutet eben: Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel wenn das Informationsinteresse der Ämter für Verfassungsschutz schwerer wiege als die Straftaten von Nazis. In diesen Fällen werde die V-Leute-Frage zur Chefsache – Sie haben das eben ja auch noch einmal zitiert –, und diese Chefs müssten dann klug abwägen. Also zurück zu „Piatto“. Ich habe den damaligen VMann-Führer von Carsten S. gefragt: Wie sehen Sie das im Rückblick? Glauben Sie nicht auch, dass das ein fataler Fehler war? Seine Antwort war unmissverständlich: Nein. Wochen später wurde derselbe „Piatto“-Führer Präsident des Verfassungsschutzes im Freistaat Sachsen. Wenn sich Sachsen entschließen würde, Ihren Gesetzentwurf als Landesgesetz zu übernehmen, wäre er also heute der neue Chefentscheider. Sie sehen: Das Gesetz hält nicht, was es verspricht. Deshalb wird die Linke Nein sagen. Ich bleibe bei der V-Mann-Kontroverse. Der Thüringer Landtag gehört zu den wenigen Parlamenten, die sich intensiv mit dem NSU-Desaster auseinandergesetzt haben. Die rot-rot-grüne Regierung zog Konsequenzen: (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Die falschen!) Die V-Leute-Praxis soll radikal heruntergefahren werden. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Abgeschafft!) Dafür wird sie heftig als Sicherheitsrisiko beschimpft. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Zu Recht!) – Ich finde: zu Unrecht, Kollege Schipanski. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Eine Gefährdung der Bürgerinnen und Bürger!) Denn wer eine Praxis beendet, die Nazis verharmlost und letztlich stärkt, handelt rechtsstaatlich und humanistisch. Was sonst? Gestatten Sie mir noch ein, zwei Sätze zu dem Antrag, den die Linke als Alternative vorgelegt hat. Im Kern geht es um zwei Vorschläge: Die Ämter für Verfassungsschutz sollen als Geheimdienste aufgelöst und in eine transparente Politikberatung umgewandelt werden. Und: Die V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehörden ist umgehend zu beenden. Unser Vorschlag ist weitgehend, grundgesetzkonform und obendrein geeignet, gesellschaftliches Engagement für Demokratie und Toleranz zu stärken. Ich freue mich auf Ihre Neugier beim Studium dieses Antrags und auf Ihre kluge Zustimmung. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Burkhard Lischka das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Burkhard Lischka (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist kein normaler Gesetzentwurf, den wir heute beraten, und alltäglich ist der Gesetzentwurf erst recht nicht. Er ist eine Reaktion auf einen Skandal, der niemals in Vergessenheit geraten darf, einen Skandal, der übrigens nicht nur darin bestand, dass eine rechtsextremistische Terrorgruppe 13 Jahre lang unerkannt mindestens zehn Morde, zwei Bombenanschläge und zahlreiche Banküberfälle verüben konnte, sondern auch darin, dass dieser Terrorzug einherging mit einer Chronik des Versagens unserer Sicherheitsbehörden – aller Sicherheitsbehörden, aber eben auch des Verfassungsschutzes. Von Dummheit bis Sabotage: Alle Formen von Staatsversagen sind in den verschiedensten Abschlussberichten der NSU-Untersuchungsausschüsse festgehalten. Wir wissen heute: Möglicherweise könnten Menschen noch leben, wenn unsere Sicherheitsbehörden verantwortungsbewusst und untadelig gearbeitet hätten. Mit dieser Schuld müssen viele, müssen wir alle leben. Dieser Fall hat unserer Gesellschaft einen Spiegel ihrer schlechtesten Seiten vorgehalten. Dieser Fall ist zugleich Verpflichtung, alles dafür zu tun, dass es einen zweiten NSU-Fall nie wieder gibt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist ein kleiner, aber eben auch kein unwesentlicher Baustein, die richtigen Lehren aus dem NSU-Desaster zu ziehen. Die verschiedenen NSU-Untersuchungsausschüsse sind vor allen Dingen auch mit einer regelrechten Krankheit unserer Verfassungsschutzbehörden konfrontiert worden: dass man sich nicht austauscht, dass man Informationen für sich behält, dass man sie nicht weiterleitet. Wir wissen heute: Nur etwa 20 Prozent der Informationen, die seit 1998 zu dem NSU-Mördertrio in den Landesämtern für Verfassungsschutz vorlagen, wurden auch tatsächlich weitergeleitet. Das war fatal; denn so konnte nirgendwo ein Gesamtbild der Lage entstehen, noch konnte das Bundesamt für Verfassungsschutz seiner Koordinierungsfunktion nachkommen. Das NSU-Mördertrio musste nur von einem Bundesland in das nächste ziehen, und schon verlor sich die Spur. Dieses Neben- und Gegeneinander der Verfassungsschützer, das wir da erlebt haben, gefährdet unsere innere Sicherheit. 16 Schlapphutprovinzen, die alle vor sich hin werkeln, können wir uns nicht leisten; damit muss Schluss sein, meine Damen und Herren! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb ist für uns Sozialdemokraten von entscheidender Bedeutung, dass künftig die Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz deutlich -gestärkt wird durch einen verpflichtenden Informationsaustausch und, ja – da, wo notwendig –, auch mit eigenen Durchgriffsrechten. Gerade föderale Strukturen verlangen beim Antiterrorkampf klare Führung und Verantwortung sowie einen schnellen Daten- und Informationsaustausch auch über Ländergrenzen hinweg. Ich weiß, dass sich einige Bundesländer mit der Stärkung der Zentralstellenfunktion des Bundesamtes sehr schwertun. Aber ich sage auch: Für Behördenegoismen darf es nach dem NSU-Skandal keinen Platz mehr geben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der NSU konnte auch nur deshalb jahrelang mordend und raubend durch Deutschland ziehen, weil unsere Sicherheitsbehörden zu wenig miteinander geredet haben. Solche blinden Flecken darf es nicht mehr geben und Verfassungsschutzämter, die im eigenen Saft schmoren, erst recht nicht, meine Damen und Herren. Zweiter wichtiger Aspekt: Der NSU-Skandal ist auch ein V-Mann-Skandal. Frau Pau hat es angesprochen: Da wurde ein V-Mann angeworben, der wegen versuchten Mordes an einem Asylbewerber im Gefängnis einsaß. Da gab es Zahlungen an dubiose Informanten, die das Jahresgehalt eines Polizisten bei weitem übersteigen. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Gibt es doch immer noch!) All das ist eines Rechtsstaates unwürdig, und zwar ohne Wenn und Aber, meine Damen und Herren. Nun gibt es einige, die daraus folgern, man solle auf V-Leute künftig am besten ganz verzichten. Bei allem verständlichen Ärger, der da mitschwingt: Was diese Sicht vollkommen außer Acht lässt, ist der Umstand, dass gerade kriminelle und militante Gruppen ihre Aktivitäten und Planungen seit jeher nicht offen, sondern konspirativ und abgeschottet betreiben. Wer da komplett auf V-Leute verzichten will, nimmt zumindest billigend in Kauf, dass sie ungestört Anschläge und schwerste Verbrechen planen können, ohne dass der Staat auch nur den Hauch einer Chance hat, sie dabei zu stören. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Nein, meine Damen und Herren, ein Staat, der eben auch die Verantwortung für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger trägt, darf sich nicht vollkommen taub und blind machen, wenn es um feige Morde und Anschläge geht. Das kann nun wirklich nicht die Lehre aus dem NSU-Desaster sein. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Nur, wir dürfen dabei auch nicht den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen. Der Zweck heiligt in einem Rechtsstaat eben nicht jedes Mittel. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, eben drum!) Eine Zusammenarbeit mit vorbestraften Schwerstkriminellen darf es niemals geben und auch kein Hintertürchen im Gesetz, das das zulässt. Darauf werden wir Sozialdemokraten in den weiteren Beratungen achten, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) Insofern sind das wichtige Beratungen, die vor uns liegen, nämlich darüber, den Verfassungsschutz besser aufzustellen und klare rechtsstaatliche Grenzen ohne Hintertürchen zu markieren. Das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, denen wir uns jetzt akribisch widmen müssen. Das sind wir nicht zuletzt den Opfern des NSU-Terrors schuldig. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Innenminister guckt sehr erstaunt!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren hier die Zukunft des Verfassungsschutzes, aber eben auch den Innen- und Sicherheitsbereich dieses Landes, einstmals das vermeintliche Aushängeschild konservativer Politik. Und heute? Probleme, Baustellen und Skandale überall. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Trotz der von der Bundeskanzlerin versprochenen rückhaltlosen Aufklärung versuchen derzeit noch fünf Untersuchungsausschüsse in den Ländern – und wahrscheinlich bald auch wieder einer in diesem Hause –, die vollständige Aufklärung der NSU-Morde zu gewährleisten, die bisher leider ausgeblieben ist. Jede Woche gibt es neue Hiobsbotschaften bei den -Geheimdiensten, gestern beim BND. Es hat erst eines Beweisantrages des Untersuchungsausschusses NSA bedurft, um zutage zu fördern, was BND und Bundeskanzleramt jahrelang bestritten haben. Und es gibt eine weitreichende Verstrickung Deutschlands im völkerrechtswidrigen Drohnenkrieg, der eben auch vom deutschen Territorialgebiet aus geführt wird. Das ist der Istzustand nach zehn Jahren Verantwortung der CDU für die Innenpolitik, und so geht es nicht weiter, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Katastrophe!) Ihr Antragspotpourri hier heute ist die Fortsetzung dieser Planlosigkeit. Sie stehen hier ohne einen einzigen Vorschlag, Herr de Maizière, zur Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle, ohne jegliche Ansätze für einen besseren Daten- und Grundrechtsschutz und ohne eine einzige Idee, wie man im digitalen Zeitalter nachrichtendienstliche Aufklärung und Bürgerrechte besser mit-einander vereinbaren kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Stattdessen haben Sie angekündigt, hier demnächst die abwegige Weltraumtheorie in Gesetzesform gießen zu wollen. Nach NSU und NSA stocken Sie anlasslos massenhaft Stellen auf und wollen allen Ernstes die hochproblematische V-Leute-Praxis einfach legalisieren und ausbauen. Darum geht es im Kern bei allen schönen Worten, Herr de Maizière. Das Liken, Twittern und Chatten aller Bürgerinnen und Bürger in diesem Land soll in Echtzeit überwacht werden können, und das alles auch noch ohne eine konkrete gesetzliche Rechtfertigung. All das ist mit uns nicht zu machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Doch damit nicht genug. Gleichzeitig kommen Sie allen Ernstes in diesen Tagen wieder mit der Vorratsdatenspeicherung um die Ecke. Herr Innenminister, ich will die Gelegenheit für folgende Kritik nutzen: Sie haben gesagt, Ihr Kompromiss – in Anführungsstrichen – wäre eine Chance, einen jahrelangen, teilweise erbittert geführten Streit zu befrieden. Das wäre schön. Die Leitlinien, die Sie vorlegen, widersprechen den Vorgaben des EuGH und des Bundesverfassungsgerichts aber offensichtlich, und das befriedet leider niemanden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Noch vor der Sommerpause wollen Sie Ihren Gesetzentwurf ganz offenbar ohne Anhörung und mit dem Hinweis, dass es ja eh keine Änderungen mehr durch das Parlament geben dürfe, durch dieses Hohe Haus peitschen. Auch das ist ein Affront gegen den Deutschen Bundestag. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie legen seit Jahren – und die SPD macht jetzt fröhlich mit – einen verfassungswidrigen Gesetzentwurf nach dem anderen vor, und dann beschweren Sie sich, Herr Schipanski, in der letzten Woche aus der Union auch noch allen Ernstes über das Bundesverfassungsgericht, das seine verfassungsrechtliche Arbeit macht. Das Bundesverfassungsgericht wird beschimpft. Wo sind wir eigentlich? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Beschimpfen tun Sie die Regierung!) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, die Mechanismen unserer Verfassung sind Konsequenzen aus unserer Geschichte. Das Bundesverfassungsgericht anzugreifen, verfassungswidrige Gesetzentwürfe immer wieder billigend in Kauf zu nehmen und hier vorzulegen und das Parlament zu marginalisieren: Das geht einfach nicht, und wir widersprechen dem ausdrücklich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Alternative zu Ihrem ideenlosen und grundrechtsfeindlichen Weiter-so ist unser Entschließungsantrag. Als Konsequenz aus dem unsäglichen NSU-Skandal fordern wir eine Zäsur beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Das Amt muss aufgelöst und vollkommen neu durchsortiert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die bisherige V-Leute-Praxis mit all ihren Skandalen muss endlich ein Ende haben. Weder darf der Staat überzeugte Nationalsozialisten beschäftigen und finanzieren, Herr de Maizière, noch darf man mit schweren Straftätern vertrauensvoll zusammenarbeiten. Das ist völlig inakzeptabel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Burkhard Lischka [SPD]: Das werden wir auch nicht machen!) Statt des Ausbaus der strategischen Internetrasterfahndung brauchen wir effektive grundrechtsschonende Instrumente, eine gesetzliche Begrenzung der Überwachung der digitalen Kommunikation und ein völlig neues parlamentarisches Kontrollsystem. Die innere und öffentliche Sicherheit und die Menschen in Deutschland haben Besseres verdient als Ihren Gesetzentwurf. Ganz herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute in erster Lesung über die Novellierung des Bundesverfassungsschutzgesetzes und damit über einen wesentlichen Bestandteil, wenn es um die Umsetzung der insgesamt 47 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses aus der letzten Legislaturperiode geht. Bei einer Neujustierung der Sicherheitsarchitektur geht es auch um eine Verbesserung der Arbeit der Nachrichtendienste, aber nicht nur. Wir haben schon etwas getan, zum Beispiel, als es darum ging, die Position des Generalbundesanwaltes zu stärken. Ich sage hier aber auch in aller Deutlichkeit: Nicht nur der Bund ist gefordert, auch die Länder müssen ihre Hausaufgaben machen, wenn es darum geht, die Arbeit der Nachrichtendienste und der Polizeibehörden zu verbessern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Mit diesem Gesetzentwurf beheben wir Mängel in der Sicherheitsarchitektur Deutschlands. Eines sage ich hier aber auch in aller Deutlichkeit – gerade am heutigen Tag und gerade auch im Lichte der aktuellen Debatte über die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes –: Wir brauchen funktionsfähige und gut ausgestattete Nachrichtendienste. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen vor allen Dingen Kontrolle!) Es ist vielleicht nicht populär, sich für Nachrichtendienste auszusprechen, und es ist immer einfacher, angenehmer und bequemer, Nachrichtendienste zu kritisieren. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tatsächlich? Probieren Sie es einmal! Sie sind sich sonst für keinen Populismus zu schade, Herr Mayer! Probieren Sie es doch einmal! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch skandalös!) Gerade angesichts der aktuellen Debatte möchte ich aber Folgendes einmal deutlich machen: Der Bundesnachrichtendienst hat – selbst konservativ berechnet – mit seiner Arbeit in Afghanistan dazu beigetragen, 19 konkret geplante Anschläge auf Bundeswehrsoldaten zu verhindern. Das ist nun einmal die Krux bei der Arbeit der Nachrichtendienste: Sie fallen nicht auf, wenn sie gut arbeiten, weil sich dann Gott sei Dank kein Anschlag ereignet – sei es in Afghanistan gegenüber unseren Angehörigen der Bundeswehr, oder sei es auch im Inland, in Deutschland –, aber sie fallen dann auf, wenn vermeintlich etwas nicht so läuft, wie wir alle uns das wünschen. (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Vermeintlich“? – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist strafbar!) Ich sage das hier ganz deutlich auch an die Adresse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nachrichtendienste gerichtet und auch ganz bewusst in dem Wissen, dass dies derzeit vielleicht nicht populär ist: Wir stehen zu den Nachrichtendiensten. Wir brauchen gut qualifizierte, motivierte und kompetente Mitarbeiter in den Nachrichtendiensten. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es doch nicht!) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, darin unterscheiden wir uns als CDU/CSU-Fraktion diametral von den Linken und auch von den Grünen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Gott sei Dank!) Frau Kollegin Pau, Sie fordern ganz offen die Abschaffung des BfV, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das tun wir nicht!) die Einführung einer Bundesstiftung, einer politischen Beratung, (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir nicht!) die nur noch als Kontaktstelle für die Nachrichtendienste im Ausland dienen soll. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie nicht richtig gelesen, Herr Mayer!) – Ich spreche von dem Antrag der Linken, Herr Kollege von Notz. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach so! Zu uns kommen Sie hoffentlich noch!) – Zu Ihnen komme ich noch, Herr von Notz. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bitte darum!) Sie haben wenig zu unserem Gesetzentwurf gesagt. Sie haben sich wieder nur – Stichwort: l’art pour l’art – eher an der Oberfläche bewegt. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden ja auch nur über die Linken! Kommen Sie mal zur Sache!) Das zeigt offenbar, dass der Gesetzentwurf so schlecht nicht ist. Ganz konkret zum Antrag der Linken. Die Linken fordern die Abschaffung des Bundesamtes, die Einführung einer politischen Beratung, die nicht einmal öffentlich zugängliche Quellen auswerten darf. (Petra Pau [DIE LINKE]: Quatsch!) Wenn man diesem Weg folgen würde, würden wir die Sicherheit Deutschlands sehenden Auges gefährden. Das wäre ein enormes Risiko für die Sicherheitslage in unserem Land. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ein Wort an die Adresse der Länder. Ich finde es schade, dass kein Vertreter der Länder hier auf der Bundesratsbank Platz genommen hat. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wie immer!) Es geht doch um einen Gesetzentwurf, der von den Ländern, egal welcher Couleur, sehr offen und sehr deutlich kritisiert wurde. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist Bayern?) Ich bin der festen Überzeugung: Die Bedenken und Zweifel der Länder sind unbegründet. Ich möchte, auch wenn kein Vertreter anwesend ist, an die Adresse der Länder deutlich sagen: Dieser Gesetzentwurf wird nicht gegen die Länder, sondern er wird für die Länder gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Mit einer Stärkung der Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz ist mitnichten eine Schwächung der Landesämter verbunden. Die Landesämter profitieren von einem starken Bundesamt. Sie profitieren davon, wenn das Bundesamt als Dienstleister gestärkt wird. Ich hoffe, dass die weitere Debatte etwas sachlicher und objektiver erfolgt; (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach Ihrer Rede könnte das gelingen!) denn ich bin der festen Überzeugung, dass die Landesämter und damit auch die Landesregierungen von den im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen und der stärkeren Koordinierung der Arbeit durch das BfV enorm profitieren können. Es ist richtig, dass es dem BfV im Einzelfall ermöglicht wird, zu handeln, wenn sich nur regional engagierte und tätige Gruppierungen, die aber gewaltbereit sind, breitmachen. Man muss auch ganz offen sagen: Die Leistungsfähigkeit der Landesämter ist nun einmal sehr unterschiedlich. Deswegen bin ich der festen Überzeugung: Dieses Gesetz wird dem Verfassungsschutz insgesamt guttun, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene. Ein wichtiger Rückschluss aus den Erfahrungen der schrecklichen Mordserie des NSU-Trios muss sein, dass die Behörden offener miteinander kommunizieren. Wir brauchen einen offeneren Austausch zwischen den Landesämtern und mit dem Bundesamt. Ich sage hier ganz offen: Dafür ist mit Sicherheit auch auf Ebene der Mitarbeiter ein Mentalitätswechsel erforderlich. Wir brauchen auch eine Neuregelung des Zugangs zum Nachrichtendienstlichen Informationssystem, -NADIS. Ein Verfassungsschutz ohne ein vernünftiges Informationssystem macht definitiv keinen Sinn. Ich sage auch angesichts der Kritik bezüglich der Neuregelung des Zugangs zu NADIS ganz deutlich: Diese Neuregelung erfüllt höchste datenschutzrechtliche Anforderungen, zum einen, wenn es darum geht, die Befugnis derer, die auf die Daten zugreifen können, zu begrenzen, und zum anderen, wenn es darum geht, eine umfangreiche Protokollierungspflicht aufzuerlegen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ein wesentlicher Bestandteil dieses Gesetzentwurfes ist, wie schon im Vorfeld diskutiert wurde, die Neuregelung für den Einsatz von V-Leuten. Um dies klar zu sagen: Wir brauchen V-Leute in den Verfassungsschutzämtern. Die Arbeit ist ohne V-Leute nicht möglich. Das ist mit Sicherheit nicht angenehm. Das ist auch nicht immer appetitlich. Die V-Leute, mit denen man dabei zu tun hat, sind auch keine angenehmen Zeitgenossen. Aber es ist richtig, in der Frage, wer für die Arbeit als V-Mann infrage kommt, höhere qualitative Anforderungen gesetzlich festzulegen. Zur Erinnerung: Bisher war die Frage, wer V-Mann werden konnte, nur auf der Ebene der Verwaltungsvorschriften geregelt. Jetzt wird eine gesetzliche Normierung vorgenommen. Dies ist auch richtig so. Es ist klar, dass Minderjährige nicht in Betracht kommen, dass Parlamentarier nicht in Betracht kommen und dass diejenigen, die als V-Mann in Betracht kommen, nicht allein von den ihnen zugewendeten Geld- und Sachleistungen ihren Lebensunterhalt bestreiten dürfen. Es kommen auch keine Personen in Betracht, die in Aussteigerprogrammen sind. Und um es noch einmal klar zu sagen: Es dürfen auch definitiv keine Personen in Betracht kommen, die sich schwerer Straftaten schuldig gemacht haben. Frau Kollegin Pau, Sie haben den Fall „Piatto“ angesprochen. Dazu habe auch ich eine ganz klare Einschätzung: Wenn das Gesetz so das Licht der Gesetzeswirklichkeit erblicken würde, wie es heute im Entwurf vorliegt, wäre der Fall „Piatto“ – dessen bin ich mir definitiv sicher – nicht mehr möglich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist falsch!) Im rechts- und linksextremistischen Bereich wollen wir mit derartigen Straftätern nichts zu tun haben. Sie werden auch in Zukunft nicht mehr als V-Leute in Betracht kommen. Es gibt aber, offen gesagt, einen anderen Bereich, in dem man möglicherweise in ganz eng begrenzten Ausnahmefällen durchaus auch auf derart schwere Jungs zurückgreifen muss: Das ist der salafistische und islamistisch motivierte Bereich. Sie alle wissen, dass es bisher noch keinen einzigen bekannten Aussteiger aus der dschihadistischen Szene gibt. Ich glaube, wir täten insgesamt gut daran, wenn unsere Verfassungsschutzämter endlich jemanden fänden, der sich traut, aus dieser schwierigen Szene auszusteigen. Ich muss ganz offen sagen: Wenn er dann etwas mehr auf dem Kerbholz hat, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einer, der Köpfe abgeschnitten hat in Syrien, ja?) dann sind es mir die Sicherheit Deutschlands und die Verhinderung eines Anschlags in Deutschland wert, in einem derart eng begrenzten Ausnahmefall auch auf einen V-Mann zurückzugreifen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele? Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Selbstverständlich, sehr gerne. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bitte schön, Herr Kollege Ströbele. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Herr Kollege Mayer. – Ich lege immer Wert darauf, dass wir eng am Gesetz entlang diskutieren. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Ihnen vorhin schon nicht gelungen!) Sie haben gerade selber darauf hingewiesen, dass keine erheblich Vorbestraften eingesetzt werden dürfen. Im Gesetzentwurf steht aber ein ganz wichtiges Wort: „grundsätzlich“. „Grundsätzlich“ heißt: Es geht auch anders. Man muss auch die Begründung lesen. Wann sollen Ausnahmen möglich sein? Auch bei erheblichen Straftaten? Wenn die Personen als zuverlässig erscheinen? Wenn sie einen großen Wert für die Arbeit bedeuten? Danach wäre „Piatto“, von dem Frau Pau vorhin gesprochen hat und den der Verfassungsschutz im Gefängnis angeworben hat, nachdem er sich dazu bereit erklärt hat – aus Sicht des Verfassungsschutzes war er zuverlässig –, auch nach dem grauenhaften Mordversuch nach wie vor ein Kandidat, den Sie wieder einstellen können. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie legalisieren das!) Das heißt, der Gesetzentwurf geht völlig an dem vorbei, was Sie hier vortragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Herr Kollege Ströbele, ich danke Ihnen ganz herzlich für diese konkretisierende Nachfrage. Mir ist sehr wohl bewusst, wie das Wort „grundsätzlich“ auszulegen ist und dass es Ausnahmemöglichkeiten zulässt. Ich habe aber auch an die Adresse der Kollegin Pau deutlich gesagt, dass es in der links- und rechtsextremistischen Szene durchaus andere Möglichkeiten gibt, an V-Leute heranzukommen, sodass in diesem Bereich die Hürde für eine mögliche Ausnahme von der grundsätzlichen Bestimmung so hoch gelegt ist, dass man es in diesen Fällen auch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit Sicherheit nicht rechtfertigen kann, auf einen derart „schweren Jungen“, wie es Carsten S. alias „Piatto“ war, zurückzugreifen. (Martina Renner [DIE LINKE]: Das war doch kein schwerer Junge! Er war ein Mörder, kein schwerer Junge!) – Falls Sie nicht zugehört haben: Ich habe ganz bewusst den islamistischen Bereich und vor allem die dschihadistische Szene genannt. Wir sind beide im Parlamentarischen Kontrollgremium. Insofern sind wir zur Geheimhaltung verpflichtet, aber selbst der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Maaßen, hat diese Woche noch einmal öffentlich klargemacht, dass die salafistische Szene in Deutschland mittlerweile auf 7 300 Personen angewachsen ist. Sie hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt. Ich hoffe, dass wir uns einig sind, Herr Kollege Ströbele, dass es, wenn es gelänge – ich spreche bewusst im Konjunktiv –, einen der aus Syrien zurückkehrenden Dschihadisten – mittlerweile sind ungefähr ein Drittel bzw. etwa 200 Personen derer, die aus Deutschland nach Syrien gereist sind, zurückgekommen – dazu zu bewegen, sich als V-Mann zur Verfügung zu stellen, um die Szene besser aufklären zu können, in diesem konkreten Ausnahmefall unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit aus meiner Sicht angemessen und gerechtfertigt wäre, diese Person als V-Mann anzuwerben, selbst wenn er etwas mehr auf dem Kerbholz hat. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Auch einen Mord? – Martina Renner [DIE LINKE]: Was ist mit Mord?) Um es klar zu sagen: Ich beziehe mich nicht auf den links- oder rechtsextremistischen Bereich, sondern ich beziehe mich in aller Deutlichkeit auf den islamistischen Terrorismus, der nun einmal – das hat die Vergangenheit gezeigt – für Deutschland eine große Gefahr darstellt. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit diesem Gesetz wird ferner die Analysefähigkeit des Bundesamtes gestärkt und die Möglichkeit für die Länder geschaffen, gemeinsam Landesämter für Verfassungsschutz einzurichten. Ich glaube, die sollten sich überlegen, von dieser Öffnungsklausel Gebrauch zu machen. Wir schaffen eine gesetzliche Grundlage für die elektronische Akte und verbessern die Möglichkeit des Zugriffs auf justizielle Register und das europäische Visa-Informationssystem. Genauso konkretisieren wir in Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts die Befugnis des Bundesamtes für Verfassungsschutz hinsichtlich der Weitergabe von Informationen an Polizeibehörden. Uns liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, der intensiv mit den Ländern vorberaten wurde. Auch das ist ein Unikum. Noch kein Gesetzentwurf ist im Vorfeld, schon vor der Kabinettsbefassung, so intensiv mit den Ländern besprochen worden. Ich glaube, wir tun gut daran, mit sehr viel Sorgfalt diesen Gesetzentwurf zu erörtern. Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Gesetz eine gute Grundlage dafür ist, die Sicherheitsarchitektur in Deutschland zu stärken und insbesondere die qualitative Arbeit sowohl des Bundesamtes für Verfassungsschutz als auch der Landesämter für Verfassungsschutz zu heben. In diesem Sinne freue ich mich auf konstruktive und sachliche Beratungen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat André Hahn von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Dr. André Hahn (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch die Linke ist für den Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist etwas ganz Neues!) Wir sind aber anders als die übergroße Mehrheit in diesem Haus der Meinung, dass wir dafür weder eine Behörde mit geheimdienstlichen Befugnissen noch staatlich bezahlte V-Leute brauchen. (Beifall bei der LINKEN) Die von uns aus guten Gründen geforderte Auflösung des Verfassungsschutzes als Geheimdienst ist hier im Parlament derzeit nicht durchsetzbar. Deshalb müssen auch wir uns mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung auseinandersetzen, obwohl wir schon den Grundansatz für falsch halten. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Statt zu versuchen, den seit langem heftig umstrittenen Einsatz von V-Leuten oder von ihnen begangene Straftaten irgendwie auf rechtliche Grundlagen zu stellen, sollte der Bund vielmehr dem Beispiel von Thüringen folgen und die derzeit noch aktiven V-Leute schnellstmöglich abschalten, (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das wäre eine Katastrophe!) im Übrigen auch, um das laufende NPD-Verbotsverfahren nicht weiter zu gefährden. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das haben wir den Ländern schon gesagt!) Wir halten es für völlig falsch, dass im Gesetzentwurf Straftaten durch V-Leute legitimiert werden sollen. Das ist der falsche Weg und schon gar nicht die Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Eins zu eins!) Ich habe den Minister in der Fragestunde gebeten, doch einmal einen Fall zu nennen, bei dem V-Leute schwere Verbrechen verhindert haben. Er konnte keinen einzigen Fall hier im Bundestag nennen. Auch das ist bezeichnend für die Arbeit der V-Leute. Zurück zum Gesetzentwurf. Sie, Herr de Maizière, haben auf einige Punkte hingewiesen, zum Beispiel darauf, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Bundesamt und den Landesämtern verbessert werden soll. Das erscheint auf den ersten Blick sogar sinnvoll. Unklar aber bleibt, durch wen das künftig parlamentarisch kontrolliert werden soll; denn das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages erhält keine Auskunft über die Tätigkeit der Landesämter, und die Kontrollkommissionen der Länder erhalten keine Auskunft und keine Akten über den Bund. Das heißt, die Unterlagen über die geplante verstärkte Kooperation schweben quasi in einem kontrollfreien Raum. Im Gesetzentwurf der Regierung gibt es dazu keine Regelung. Problematisch ist für mich als Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums auch der Zeitpunkt, Herr de Maizière, zu dem die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf einbringt. Das Gremium hat zu Beginn der Legislaturperiode entschieden, nicht nur aktuelle Vorgänge zu prüfen, sondern auch präventiv zu arbeiten. Derzeit befasst sich eine Arbeitsgruppe mit der V-Leute-Praxis beim Verfassungsschutz und will noch in diesem Jahr Empfehlungen für die künftige Arbeit mit den sogenannten Vertrauenspersonen vorlegen. Das weiß die Bundesregierung, und sie hätte deshalb auch aus Respekt gegenüber dem Parlament die Ergebnisse abwarten und nicht vorschnell einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen sollen. (Beifall bei der LINKEN) Ich füge hinzu, Herr Kollege Lischka: Guter Stil sieht mit Sicherheit anders aus. Wieder zurück zum Gesetzentwurf. Obwohl gerade die Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern beim Thema NSU nahezu vollständig versagt haben und auch die V-Leute nichts gebracht haben oder deren Informationen aus Quellenschutzgründen zurückgehalten wurden, soll das Bundesamt nunmehr mit 261 zusätzlichen Planstellen de facto belohnt werden. Das kostet 17 Millionen Euro. Dem werden wir definitiv nicht zustimmen. (Beifall bei der LINKEN) Zudem – dies hatte hier schon eine Rolle gespielt – soll die Begehung von Straftaten von V-Leuten künftig offiziell ermöglicht und gegebenenfalls von der Verfolgung durch Staatsanwaltschaften freigestellt werden. Ich frage: Wo sind wir eigentlich hingekommen? Wir wissen aus dem NSU-Skandal – Frau Pau hat das erwähnt –, dass selbst wegen versuchten Totschlags verurteilte Personen vom Verfassungsschutz als Spitzel angeworben wurden. Die Bundesregierung will das nun auch noch per Gesetz zulassen. Herr Kollege Mayer, der Fall -„Piatto“ könnte sich aufgrund der von Ihnen vorgesehenen gesetzlichen Ausnahmeregelung betreffend den Behördenleiter wiederholen. (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Quatsch!) Natürlich soll die Zusammenarbeit bei schweren Straftaten beendet werden, wenn es um eine Haftstrafe von mehr als einem Jahr und ohne Bewährung geht. Das ist aber nur als Sollvorschrift festgehalten, und es gibt die besagte Ausnahme. Wenn man schon eine solche Regelung betreffend den Behördenleiter aufnimmt – was wir für falsch halten –, dann sollte man aber zumindest festlegen, dass das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages unterrichtet werden muss; denn das Behördenhandeln und die Entscheidungen des Behördenleiters müssen kontrolliert werden. Hier fehlt eine entsprechende Regelung. Das bedarf dringend der Korrektur. (Beifall bei der LINKEN) Die Redezeit reicht leider nicht, um alle Kritikpunkte anzuführen. Fazit: Das Gesetz löst keine Probleme, sondern schafft neue. Deshalb kann der Entwurf nicht unsere Zustimmung finden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege Uli Grötsch von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Uli Grötsch (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen Tagen gedenken wir alle der unzähligen Menschen, die den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen sind. In vielen Orten in Deutschland finden auch an diesem Wochenende Gedenkveranstaltungen anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager statt, so auch bei mir zu Hause in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Es ist mir wichtig, dies auch in dieser Debatte einleitend zu sagen: Wir alle haben die große Verantwortung und auch die Verpflichtung gegenüber den Opfern des Holocaust, dass sich so etwas niemals wiederholt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Um es mit den Worten von Max Mannheimer, einem Überlebenden des Holocaust und einem wichtigen Zeitzeugen, zu sagen: Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon. Im Jahr 2011 mussten wir mit unsagbarer Fassungslosigkeit feststellen, dass die Neonazi-Szene in Deutschland größer, besser vernetzt und viel brutaler ist, als wir alle es uns jemals hätten vorstellen können. Was aber mindestens genauso schlimm ist, ist die Tatsache, dass der Nationalsozialistische Untergrund erst so spät aufgedeckt wurde. Ich denke, alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, jeder hier in diesem Haus und im Besonderen die Mitglieder der Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse haben sich gefragt, wie das eigentlich passieren konnte. Schließlich haben wir gleich mehrere Behörden, die eben genau solche schrecklichen Gewalttaten wie die des NSU verhindern sollen. Gerade der Verfassungsschutz hat im Bund und in den Ländern an vielen Stellen ganz klar und auch unbestritten versagt. Und ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, da kann man sich schon fragen, ob der nachrichtendienstlich arbeitende Verfassungsschutzverbund aufgelöst werden sollte, so wie Sie es in Ihrem Antrag fordern. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss man sich fragen!) Ich sage aber: Wir brauchen das Bundesamt für Verfassungsschutz, gerade weil wir es in Deutschland mit immer mehr im Untergrund agierenden Organisationen der verschiedensten Strömungen und Ausprägungen zu tun haben, die wir in den Griff bekommen müssen. Eine Koordinierungsstelle, die lediglich die Aufgabe hat, Unterlagen zu sammeln, ohne handlungsfähig zu sein, reicht da nicht aus. Transparente Beratung allein wird nicht genügen. (Beifall des Abg. Burkhard Lischka [SPD]) Nein, die Lösungen, die Sie hier vorschlagen, führen nach unserer Überzeugung nicht zu einem effektiveren Verfassungsschutz. Das BfV hat sehr wohl seine Daseinsberechtigung. Ja, ich halte es in Deutschland für unverzichtbar, und ich halte es im Grunde für eine Behörde mit höchster Intelligenz. Schwarz-Weiß-Denken hilft uns auch in diesem Bereich nicht weiter. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber – das sage ich auch ganz deutlich – das BfV muss aus seinen Fehlern lernen und daraus Lehren ziehen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, die 47 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses noch in dieser Legislaturperiode umzusetzen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns dahin gehend auf einem sehr guten Weg befinden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die bereits umgesetzten Handlungsempfehlungen zeigen, wie ernst die Große Koalition und wie ernst alle Abgeordneten, die sich ernsthaft und sachlich mit dieser Materie befassen, die Ergebnisse aus dem Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses nehmen. Einer der wichtigsten Bausteine ist dabei meines Erachtens die Reform des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Deshalb begrüße ich ganz ausdrücklich den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes, um den es hier heute geht. Im NSU-Untersuchungsausschuss hat sich gezeigt, dass die einzelnen Behörden ungenügend oder schlichtweg gar nicht zusammengearbeitet haben. Fast täglich hören wir inzwischen aus den NSU-Untersuchungsausschüssen der Länder oder aus dem Gerichtsverfahren in München, wie schlecht der Austausch von Informationen tatsächlich abgelaufen ist und wie Berichtspflichten regelrecht ignoriert wurden. Erst vorgestern hat sich in München bei der Aussage des sächsischen Verfassungsschutzpräsidenten wieder einmal gezeigt, wie unzureichend der Informationsfluss zwischen den einzelnen Behörden war. Es ist also notwendig – und ich finde es auch richtig –, dass im Zuge der Reform die Zentralstellenfunktion des BfV gestärkt wird und ein effektiver Informationsaustausch unumgänglich wird. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Konkurrenzdenken und Eitelkeiten, wie sie der Untersuchungsausschuss zum Teil festgestellt hat, müssen endlich passé sein und dürften damit auch passé sein. Eine zweite zentrale Änderung wird beim Einsatz der V-Leute vorgenommen, oder, besser gesagt, der Einsatz wird überhaupt erst geregelt; meine Vorredner haben schon darauf hingewiesen. Im Gegensatz zu meinen Kolleginnen und Kollegen von den Grünen bin ich für den Einsatz von V-Leuten. Viele Informationen aus der Szene sind nur durch geheime Quellen, durch Insider also, zu erlangen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir ohne die V-Leute so direkte Einblicke in die Szene bekommen sollen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gehen Sie mal ins Antifa-Museum! – Gegenruf des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Lieber nicht!) Aber wie schon erwähnt, der Einsatz muss auf einer Rechtsgrundlage beruhen, und das wird zukünftig auch so sein. Es muss unmissverständlich klar sein, dass die angeworbenen Personen dem Staat dienen und sich dementsprechend verhalten müssen. Auch wenn es sich im ersten Moment vielleicht eigenartig anhören mag, sage ich: V-Personen müssen unter dem Strich innere Sicherheit produzieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ob und inwieweit die Regelungen zum Einsatz von V-Leuten im Gesetzentwurf ausreichen, das müssen wir jetzt im weiteren parlamentarischen Verfahren sehr genau prüfen. Ich danke Ihnen, Herr Bundesinnenminister de Maizière, dass Sie bereits heute weitere Gesprächsbereitschaft angekündigt haben. Ich persönlich hätte mir noch strengere Regelungen zur Einsatzbefugnis von VLeuten gewünscht. Die Einbindung der G 10-Kommission halte ich hier nach wie vor für sinnvoll. Ich wünsche mir mehr Transparenz und einen echten Mentalitätswechsel. Der Schlapphut, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss endlich im Kleiderschrank verstaut werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dazu gehört – auch wenn sich das bei einem Geheimdienst vielleicht etwas eigenartig anhören mag – eine verbesserte Öffentlichkeitsarbeit. Noch wichtiger ist, innerhalb des BfV für mehr Sensibilität und Kommunikation zu sorgen; denn bei den Fehlern rund um den NSU handelt es sich ja nicht nur um mangelnden Informa-tionsfluss zwischen den Behörden. Auch innerhalb der Behörden gab es – man muss es so offen sagen – ein echtes Problem der Wahrnehmung von gefährlichen Tätern. Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Verfassungsschutz wiederherzustellen, ist die geplante Reform natürlich nicht alles. Aber sie ist ein erster wichtiger Schritt. Ich möchte sagen: Das ist auf diesem Weg ein wahrer Meilenstein, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Zum Ende meiner Rede möchte ich sagen, dass wir die Reformprozesse, die im Bundesamt für Verfassungsschutz in den letzten Jahren in Gang gesetzt wurden, durchaus zur Kenntnis nehmen; auch das darf hier einmal gesagt werden. Aber sie dürfen nicht ins Stocken geraten. Das muss ein kontinuierlicher Prozess sein, bei dem der Deutsche Bundestag das Bundesamt für Verfassungsschutz im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle und der Gesetzgebung begleiten muss und auch begleiten wird. Wir Parlamentarier können nur einen gesetzlichen Rahmen schaffen, in dem sich das Bundesamt für Verfassungsschutz dann bewegen muss. Für ein echtes Umdenken, für einen Mentalitätswechsel im Denken und Tun ist das BfV selbst zuständig. Um am Ende nochmals auf das eingangs erwähnte Zitat von Max Mannheimer zurückzukommen: Auch das BfV ist vor allem selbst dafür verantwortlich, dass Derartiges wie in der Vergangenheit in Zukunft nie wieder passiert. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Irene Mihalic von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor drei Jahren hat die Bundeskanzlerin den Familien der NSU-Opfer versprochen, alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern würden mit Hochdruck an der Aufklärung arbeiten. Heute wissen wir, wie dieser Hochdruck aussieht. Fast jeden Tag tauchen neue Fragen und Widersprüche auf, aber nicht etwa weil sie von den Sicherheitsbehörden aufgedeckt wurden, sondern weil sie durch Untersuchungsausschüsse und den unabläs-sigen Einsatz von zivilgesellschaftlichen Initiativen, Journalisten, Wissenschaftlern und Vertretern der Nebenklage im Münchener NSU-Prozess aufgedeckt werden. Ihnen allen kann man gar nicht genug danken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber nicht nur bei der Aufklärung tritt die Bundesregierung auf der Stelle. Auch bei den Konsequenzen aus dem NSU-Skandal geht es einfach nicht voran. Deshalb waren wir alle sehr gespannt auf diese große Verfassungsschutzreform, die uns angekündigt wurde. Wir haben ja eigentlich nicht zu hoffen gewagt, dass Sie tatsächlich eine grundsätzliche Zäsur und einen Neustart wagen, so wie wir Grüne uns das eigentlich immer vorgestellt haben. Aber ein paar echte Reformanstöße hätte ich nach all den Erkenntnissen doch schon erwartet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das steht aber nicht in Ihrem Antrag!) Einer Ihrer wichtigsten Punkte ist die Stärkung der Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Was Sie dabei von den Reformen in den Ländern halten, haben Sie schon deutlich gemacht – das machen Sie auch mit dem Gesetzentwurf allzu deutlich –, nämlich gar nichts. Jedenfalls erschließt sich mir nicht, wie Sie die Länder für Ihren Ansatz gewinnen wollen. Inhaltlich finde ich es grundsätzlich richtig, dass der Bund versucht, das Handeln aller Verfassungsschutzämter, so gut es geht, zu koordinieren; (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr richtig! Sehr richtig! Gut erkannt!) denn der mangelnde Informationsaustausch war ja eines der zentralen Probleme beim NSU. Aber wenn ich nun in Gesprächen mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz höre, dass zum Beispiel in Sachen V-Leute-Register – auch einer der Reformschritte – nicht vorgesehen ist, die Klarnamen der V-Leute zentral zu erfassen, um auszuschließen, dass diese in den Ländern oder beim Bund doppelt abkassieren, und dass es bei diesem Register eigentlich nur darum geht, Quellenlücken zu schließen, dann muss ich ganz klar feststellen: Ihnen fehlt dabei jegliches Problembewusstsein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da müssen Sie genauer zuhören!) Denn das Problem des V-Leute-Einsatzes rund um den NSU war ja nicht etwa die mangelnde Quellendichte – V-Leute gab es ja reichlich –, sondern, dass dieser völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Nur, daraus ziehen Sie keinerlei Konsequenzen. (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Lischka, als Sie sich mit Frau Högl im Januar für eine echte Reform des Verfassungsschutzes ausgesprochen haben, hatte man noch etwas Anlass zur Hoffnung. Sie haben damals in Ihrem Papier immerhin ein paar ganz klare Kriterien für den V-Leute-Einsatz formuliert. Da Sie diese Regierung mittragen, habe ich gehofft, dass Sie die Erarbeitung dieses Gesetzentwurfs entsprechend beeinflussen werden. Doch offensichtlich hat sich der Bundesinnenminister für Ihr Papier überhaupt nicht in-teressiert; denn Regelungen für die Einsatzdauer von VLeuten findet man im Gesetzentwurf zum Beispiel nicht. Kriterien zur Führung von V-Leuten? – Fehlanzeige! Regeln, die wirksam verhindern, dass schwere Straftäter eingesetzt werden? – Fehlanzeige! Denn im Zweifelsfall entscheidet eben der Behördenleiter, und es gilt auch nur grundsätzlich. Herr Mayer, auch wenn Sie hier gebetsmühlenartig wiederholen, wie „grundsätzlich“ zu verstehen ist: Es steht so nicht im Gesetz, und das ist der Fehler. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Da muss ich einfach feststellen: Die Bundesregierung hat offensichtlich gar nichts aus den Fehlern gelernt, die bei den „Piattos“ und Tino Brandts dieser Welt sowie bei anderen V-Leuten gemacht wurden, und nicht verstanden, dass der Staat dadurch rechtsextreme Strukturen mindestens mitfinanziert und somit aufgebaut hat. Allen Kolleginnen und Kollegen hier im Haus, die intensiv an der NSU-Aufklärung mitgearbeitet haben und das noch heute tun, muss es doch in der Seele wehtun, dass die Bundesregierung an diesem Problem so völlig vorbeiläuft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ihr Antrag!) Deshalb bitte ich Sie dringend, jetzt im Gesetzgebungsverfahren nicht lockerzulassen. Lassen Sie sich mit diesem Gesetzentwurf nicht abspeisen! Sorgen Sie mit uns gemeinsam dafür, dass eine echte Reform des Verfassungsschutzes auf den Weg gebracht wird. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Tankred Schipanski von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Tankred Schipanski (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Debatte befassen wir uns mit der Um-setzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungs-ausschusses. Wir haben den tadellosen Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit des Verfassungsschutzes vor uns liegen. Ich bin ein ganzes Stück weit entsetzt über die Empörungsrhetorik, die hier vonseiten der Grünen und der Linken bei einem so sensiblen Thema dargeboten wird. Meine Damen und Herren, noch nie haben eine Bundesregierung und ein Parlament so planvoll und detailliert auf Ergebnisse eines Untersuchungsausschusses reagiert und seine Empfehlungen umgesetzt. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selbst nicht!) Lassen Sie mich einmal den Gesamtkontext und die Zeitenfolge in Erinnerung rufen. Am 26. Januar 2012 haben alle fünf Fraktionen dieses Hohen Hauses den NSU-Untersuchungsausschuss eingesetzt. Bereits als der Ausschuss tagte bzw. arbeitete, gab es erste gesetzgeberische Maßnahmen. Entsprechende Stichworte wurden heute in der Debatte schon genannt: Errichtung des Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums sowie die Errichtung der gemeinsamen Verbunddatei gegen Rechtsextremismus. Alle fünf Fraktionen dieses Hohen Hauses haben in der letzten Legislaturperiode – am 23. August 2013 – 50 Handlungsempfehlungen vorgelegt. Am 2. September 2013 debattierten wir dann über diese unter den Augen der Angehörigen der Opfer des NSU und des Bundespräsidenten. Unser Parlament hat die Handlungsempfehlungen in der 18. Legislaturperiode am 20. Februar letzten Jahres noch einmal bekräftigt. Der Schlüsselbegriff in der damaligen Debatte war „Änderung der Arbeitskultur unserer Sicherheitsbehörden“. Am 26. Februar 2014 legte die Bundesregierung ihren Umsetzungsbericht vor, der an Transparenz und Klarheit nicht zu überbieten ist. Dieser Umsetzungsbericht ist wie eine To-do-Liste gegliedert. Er stellt für uns ein hervorragendes parlamentarisches Monitoring dar. Am 5. November letzten Jahres gab es die Debatte zum dritten Jahrestag der Aufdeckung des NSU. Am 14. November letzten Jahres wurde der Gesetzentwurf des Justizministeriums – Kollege Mayer hat es angesprochen – mit den wesentlichen Änderungen vorgelegt, die wir vorgenommen hatten. Heute findet folgerichtig die Debatte über ein Gesetz statt, welches die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden optimieren wird und klare Standards für ihre Arbeit festsetzt. Das nenne ich vorbildliche Parlaments- und Regierungsarbeit. Dies hat nichts mit einem Peitschen durch das Parlament zu tun, sondern das ist Diskutieren und Debattieren, wie es sich für einen Deutschen Bundestag gehört. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich kann – genauso wie meine Kollegen – nur dazu aufrufen, dass sich alle Beteiligten bzw. Verantwortlichen – allen voran auch die in den Ländern – genauso vorbildlich verhalten, wie es Legislative und Exekutive im Bund tun. Der heute vorgelegte Gesetzentwurf betrifft meines Erachtens den Kernbereich – ich möchte sagen: das Herzstück – der Aufklärungsarbeit des Untersuchungsausschusses in der letzten Legislaturperiode. Bereits in der Sachverständigenanhörung zur deutschen Sicherheitsarchitektur am 29. März 2012 stellten wir uns die Frage, ob es nicht vielmehr eine Unsicherheitsarchitektur ist. Die Sachverständigen zeigten uns Zuständigkeitsvielfalt und Kompetenzkonflikte auf. Sie zeigten uns eine Informationskultur und Informationsverteilung der Nachrichtendienste auf, welche von einer Risiko-, Geheimnis- und Abschottungskultur geprägt war. Es ist umso dramatischer, dass sich all das, was in der Theorie bekannt war, dann wirklich bei der NSU-Verfolgung bestätigt hat. Mehr noch: Die Werthebach-Kommission stellte in ihrem Abschlussbericht mit dem Titel „Signale für eine neue Sicherheitsarchitektur“ im Dezember 2010 – also noch vor der Aufdeckung des NSU – fest: Eine erfolgreiche Sicherheitspolitik – insbesondere in einem föderal organisierten Staat – setzt eine intensive Kooperationsbereitschaft der Sicherheitsbehörden voraus. Diese spiegelt sich gerade in Informationspflichten auf allen Ebenen wider. Viele Defizite in der Zusammenarbeit der Behörden entstehen durch unzureichende Information und Kooperation. Meine Damen und Herren, genau diese Erkenntnisse der Werthebach-Kommission aus dem Jahr 2010 und die Erkenntnisse des NSU-Untersuchungsausschusses aus dem Jahr 2013 greift nun der Gesetzentwurf, über den wir in erster Lesung beraten, auf. Ich möchte jetzt nicht in die juristische Debatte einsteigen. Die juristischen Feinheiten können Sie – Kollege Ströbele hat das schon gemacht – in der Gesetzesbegründung nachlesen. Ich möchte einfach drei Schlüsselbegriffe herausgreifen. § 5 Bundesverfassungsschutzgesetz. Es gibt eine klare Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den Landesämtern für Verfassungsschutz und dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Wir haben jetzt eine Reservezuständigkeit – das wurde angesprochen –, und das BfV wird erstmalig als Zentralstelle bezeichnet, die eine Koordinierungsfunktion wahrnehmen kann. Erstmalig bekommt diese Zentralstelle auch eine Unterstützungsfunktion für die Landesämter als gesetzliche Aufgabe zugewiesen. Der Kollege von der SPD sagte es bereits: Das ist ein Meilenstein. § 6 Bundesverfassungsschutzgesetz. Dort werden gegenseitige Unterrichtungsregeln aufgestellt und zusammengefügt. Relevante Informationen müssen nunmehr zwischen den Verfassungsschutzbehörden ausgetauscht werden; das ist verpflichtend. Eine gemeinsame Datei, eine gemeinsame Software von allen Landesämtern und dem Bundesamt für Verfassungsschutz – der Name fiel schon –, NADIS, ist unerlässlich und wichtig. Ich habe mir das im Landesamt für Verfassungsschutz in Thüringen angesehen. Natürlich wird damit die Analysefähigkeit des Verfassungsschutzes stark und richtigerweise ausgebaut. Daher kann man das nur vollumfänglich begrüßen. Das ist wiederum ein Meilenstein, von dem die Polizei noch ein ganzes Stück entfernt ist. Die IMK hat 2012 beschlossen, auch für die Polizei einen Informations- und Analyseverbund namens PIAV einzurichten. Leider Gottes lässt er noch auf sich warten. Daher lautet meine herzliche Bitte in dieser Debatte, dieses Verbundsystem entschieden voranzutreiben. §§ 9 a und 9 b wurden schon angesprochen. Es geht um verdeckte Mitarbeiter und Vertrauensleute, ein wichtiges nachrichtendienstliches Mittel. Hier führen wir zum ersten Mal gesetzliche Mindeststandards ein. Die Vorgaben des NSU-Untersuchungsausschusses werden faktisch eins zu eins umgesetzt. Hier erhalten sie im Zusammenhang mit V-Leuten sogar Gesetzesrang. In anderen Bereichen unserer föderalen Ordnung wie dem Bildungsbereich sind wir davon noch weit entfernt. Die Kultusministerkonferenz diskutiert seit Jahrzehnten Standards, Koordinierung, Zentralstellen und verpflichtende Zusammenarbeit. All das verwirklicht dieses Gesetz für den Bereich der inneren Sicherheit. Das ist für unseren föderalen Staat sehr wichtig und sehr gut. Meine Damen und Herren, umso beunruhigter bin ich von dem – das wurde schon angesprochen –, was in einzelnen Bundesländern passiert. Einzelne Bundesländer leisten keinen Beitrag zur Sicherheitsarchitektur. Sie verstoßen im weitesten Sinne gegen den Grundsatz der Bundestreue und der Amtshilfe. Aus ideologischen Gründen werden V-Leute abgeschafft bzw. abgeschaltet. Somit wird im Freistaat Thüringen die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger gefährdet. Thüringen begibt sich in eine Isolation im gesamtdeutschen Sicherheitsverbund. Mich entsetzt auch, dass nach zwei Jahren -konsensualer Arbeit mit Blick auf die Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses die Grünen von diesem gemeinsamen Pfad abweichen, sich den Linken anschließen und erklären: V-Leute, das ist ganz furchtbar. – Sie wollen im weitesten Sinne sogar die Sicherheitsorgane abschaffen. Das ist schon sehr überraschend. Wir haben den V-Mann „Piatto“ in dieser Debatte angesprochen; die Kollegin Pau hat ihn erwähnt. Ich will einmal anführen, was der Zeuge Meyer-Plath im Untersuchungsausschuss gesagt hat: Im Jahre 1994 gab es in Brandenburg faktisch keine V-Leute. Die in Brandenburg vorhandenen Erkenntnisse waren nur Nebenprodukte anderer Behörden. Durch den Einsatz von V-Leuten eröffneten sich erstmals Einblicke in die extremistischen Strukturen, in Brandenburg, im Bund und international. Das Lagebild verbesserte sich. Es war ein Quantensprung. Ähnliches berichteten auch andere Zeugen. Durch den Einsatz von V-Leuten wurde man sehend, wo man vorher blind war. Natürlich war es katastrophal, für welchen V-Mann man sich entschieden hat; das ist völlig richtig. Aber warum? Weil man vorher überhaupt keine V-Leute hatte, war man darauf angewiesen, einen solchen Mann wie diesen Carsten S. zu nehmen. Das ist nicht richtig. Das jetzt vorliegende Gesetz – wir sollten daran denken, dass hier eine Ermessensausübung der Behördenleitung vorgesehen ist – würde das letztlich ein ganzes Stück weit verhindern. (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat damals auch die Behördenleitung beschlossen in Brandenburg!) Meine Kolleginnen und Kollegen, ich finde die Wortwahl, die die Grünen und die Linken heute in den Anträgen und in der Debatte mit Blick auf die VLeute wählen, unangemessen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind also Vertrauenspersonen?) – Nein, nein, Herr Ströbele. Ich kann nur sagen: Die Koalition setzt weiterhin die 50 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses eins zu eins um. Wir werden uns der sachlichen, notwendigen Arbeit weiter stellen und uns durch die von der Opposition vorgelegten Anträge nicht vom richtigen Weg abbringen lassen. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit zehn Jahren lassen Sie sich nicht davon abbringen, und jetzt sehen Sie ja, wo wir stehen!) Wir stärken die Sicherheitsarchitektur in unserem föderalen Bundesstaat. Ein herzliches Dankeschön geht an die Innenminister von Bund und Ländern, die auf der Innenministerkonferenz 2012 faktisch den Grundstein für dieses Gesetz gelegt haben. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen im Bundestag. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang Gunkel von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wolfgang Gunkel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als letzter Redner meiner Fraktion und als später Redner in der Debatte ist es natürlich unheimlich schwierig, nun nicht alles zu wiederholen, was die Vorredner schon gesagt haben. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geben Sie mir die Redezeit! Ich kann sie gut gebrauchen!) Herr Schipanski, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf ein Problem aufmerksam gemacht haben, was die Polizeibehörden anbelangt. Ich als ehemaliger Polizeibeamter habe natürlich großes Interesse daran, dass die Polizei nicht gegenüber dem zurücksteht, was andere Behörden für sich in Anspruch nehmen. Ich glaube aber auch – das hat der Minister in seiner Rede sehr schön gesagt –, dass nicht nur der Gesetzestext von entscheidender Bedeutung ist, sondern auch, was die Personen tun, wie sie das ausfüllen und wie das gehandhabt wird. Ich glaube nach wie vor: Der NSU-Skandal basiert in erster Linie auf einem riesigen Kommunikationsproblem beim Gedanken- bzw. Informationsaustausch zwischen Verfassungsschutz und Polizei. An dieser Stelle muss ich sagen: Die Bundesrepublik hat schon seit Jahren das Problem, dass diese beiden Behörden sehr häufig (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegeneinander arbeiten!) nebeneinanderher gearbeitet haben und ihr Verhältnis nicht gerade von gegenseitigem Vertrauen geprägt war. Das hat auch seine Gründe, warum das so ist. Ich nenne nur ein Beispiel: Wenn man als Polizeibeamter Verantwortung trägt, eine Einsatzbewältigung vor sich hat und dann am Freitagnachmittag um 15 Uhr irgendeine Horrormeldung präsentiert bekommt, die vom Verfassungsschutz stammt und die niemand mehr verifizieren kann, weil man nicht rückfragen kann, man also nicht nachvollziehen kann, was die Quelle ist, dann weiß man: Es ist dreimal besser, wenn die Polizei ihre eigene Aufklärung betreibt. Das hat mir dann immer weitergeholfen; denn ich habe dann die Informationen bekommen, die nötig waren, um eine Einsatzlage zu bewältigen. Nichtsdestotrotz: Was hier jetzt erarbeitet worden ist, ist Ausfluss und Umsetzung der Folgerungen, die der NSU-Untersuchungsausschuss gezogen hat; und das finde ich richtig. Ich kann also keineswegs erkennen, warum man die Informationsquelle Verfassungsschutz nun unbedingt abschalten muss oder außer Kraft setzen sollte. Mit den jetzt vorgesehenen Änderungen lehnt man sich ja auch ein bisschen an die Regelungen an, die das BKA-Gesetz vorsieht. Wir haben dem BKA in der 16. Legislaturperiode weitreichende Kompetenzen bei der Terrorismusbekämpfung eingeräumt, indem es erstmalig ermöglicht wurde, die Ermittlungen der Länder zusammenzufassen und zu leiten. Hier geschieht Ähnliches, jedoch nur auf dem Informationsweg, also indem Informationen zusammengefasst und über die Länder koordiniert werden. Was mich an dem Gesetzesentwurf ein klein wenig stört – Herr Minister, ich würde gerne darüber diskutieren –, ist die Frage der verdeckten Mitarbeiter, die im neuen § 9 a Absatz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes geregelt werden soll. Die verdeckten Mitarbeiter wären mit den verdeckten Ermittlern der Polizei vergleichbar. Deren polizeiliche Tätigkeiten sind sehr stark normiert und geregelt, nämlich im Zusammenhang mit der Strafverfolgung in § 110 a der Strafprozessordnung, wo klar festgelegt wird, zu welchem Zwecke verdeckte Ermittler eingesetzt werden sollen und dass Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft herzustellen ist. Das heißt, sie können nicht frei operieren. Als Vollzugsbeamte sind sie zusätzlich auch noch an § 163 StPO gebunden, sie müssen also Strafverfolgung betreiben und dürfen nicht selbst unbegrenzt Straftaten begehen; es ist ihnen nicht einmal gestattet, solche zu begehen. An dieser Stelle sieht man ganz deutlich, dass das ein begrenzter Auftrag ist. Was verdeckte Tätigkeiten im Verfassungsschutz bedeuten, ist mir nicht so ganz klar, insbesondere nicht, wo da die Grenzen liegen. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts heißt es, dass eine Trennung zwischen Nachrichtendienst und Polizei nach wie vor erforderlich ist und auch grundgesetzkonform ist. Die Polizei wäre durchaus in der Lage, verdeckte Ermittlungen zu erledigen, aber man ist an die entsprechenden Regelungen gebunden; und das wollen wir so beibehalten. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass das sonst zu sehr großem Behördenballast führt und dass die Befugnisse Einzelner dann weit über das hinausgehen, was unsere Rechtsordnung vorsieht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) – Danke für den Beifall. Die Begründung des Entwurfs ist aus meiner Sicht ein bisschen verschwurbelt, Herr Schipanski. An der Stelle würde ich gerne noch einmal nachforschen. Ich kann nicht erkennen, was im Einzelnen gemeint ist, und das stört mich ein wenig. Ansonsten kann ich den vorliegenden Gesetzentwurf nur unterstützen. Kommen wir zu den einzelnen Punkten. Die Linkspartei, die sonst relativ gute Vorschläge macht (Dagmar Ziegler [SPD], an Die Linke gewandt: Relativ!) – ich habe mir die Punkte aufgeschrieben, damit ich sie zitieren kann –, fordert die Umwandlung des BfV in eine „Koordinierungsstelle zur Dokumentation gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, die aber keine Ermittlungen führen oder sich irgendwo Informationen besorgen darf. Sie darf im Grunde nichts machen. Wir hätten dann noch mehr beamtete Zeitungsleser; davon haben wir aber schon genug. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind die Verfassungsschützer häufig aber auch!) Ich glaube, jeder Lagedienst kann diese Aufgabe übernehmen und die Ergebnisse entsprechend auswerten. Des Weiteren fordern Sie eine Bundesstiftung zur Beobachtung und Erforschung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Damit schaffen Sie eine weitere Behörde, die parallel zu der gerade genannten arbeitet. Diese könnte letzten Endes keinerlei Informationen liefern, die für die konkrete Arbeit der Verfassungsschutzämter und vor allen Dingen der Polizei, die ja nach wie vor Strafverfolgungsbehörde ist, wichtig wären. Das Ganze ist also, wie ich glaube, sehr abgehoben, und hat nur im Sinn, den Begriff Verfassungsschutz zurückzudrängen. In Thüringen bricht nun nicht gleich die Welt zusammen, weil Sie dort ein paar V-Leute abschalten, aber ich halte das nicht für richtig. Die Zukunft wird zeigen, wie sich das Ganze entwickelt. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Schlecht! Sehr schlecht!) – Das muss man abwarten. Ich will nicht vorwegnehmen, was da passiert. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ich lebe da!) Vielleicht machen sie es ja indirekt auf andere Art und Weise, etwa so wie das die Grünen formuliert haben. Die Grünen haben in ihrem Antrag sehr gute Anhaltspunkte herausgearbeitet, die ich durchaus teilen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte insbesondere einen Aspekt aus Ihrem Antrag aufgreifen: Die beste Voraussetzung für Terrorbekämpfung ist eine gut ausgebildete und ausgestattete Polizei. – Diesbezüglich haben Sie meine volle Zustimmung. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aber der Rest ist schlecht, der drinsteht!) – Moment, nicht alles. – Aber letztendlich kommen auch Sie zu dem Schluss – es erscheint mir ein bisschen sehr krampfhaft, wie Sie unbedingt dies sagen wollen –: Wir wollen den Verfassungsschutz nicht mehr. Sie wollen stattdessen eine „Inlandsaufklärung“, also eine Stelle, „die Spionageabwehr und die Aufklärung genau bestimmter gewaltgeneigter Bestrebungen“ leisten soll. Nun weiß ich nicht, was „genau bestimmte gewaltgeneigte Bestrebungen“ sind. Sie sollten einmal genauer erklären, was man darunter verstehen soll. Im Wesentlichen ist das, etwas abgespeckt, auch eine Tätigkeit, die man im Prinzip mit Aufklärung und nachrichtendienstlicher Gewinnung in Zusammenhang bringen kann; es wird nur etwas anders genannt. Wir als Regierungskoalition können also beiden Anträgen nicht zustimmen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist, unter Berücksichtigung der Ausnahmen, die ich genannt habe, meiner Ansicht nach im Großen und Ganzen gelungen. Der Minister hat angedeutet, dass darüber noch diskutiert werden kann. Ich hoffe, dass wir den einen oder anderen Punkt noch einarbeiten können. Ein letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte, sind die sogenannten V-Leute. Jeder weiß – die Landesgesetze geben es her –, dass auch die Polizei Vertrauensleute einsetzt. Ich befürchte, dass sich dann, wenn solche Einsätze im Übermaß gefördert werden, die V-Leute von Polizei und Verfassungsschutz gegenseitig umrennen. Man müsste schon dafür Sorge tragen, dass die eine Behörde von der anderen Behörde weiß, was jeweils die andere im Einzelnen beabsichtigt. Man kann in der Tat auf die V-Leute nicht verzichten, aber es darf zu keiner Doppelbelegung kommen und erst recht nicht dazu, dass die Arbeit der einen Behörde die Arbeit der anderen praktisch aufhebt. Ich denke, dass man diesen Punkt beachten sollte. Von daher: Information und Kommunikation sind eigentlich alles. Die Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, sollten eigentlich die Leistungsträger bei der Terrorismusbekämpfung sein. Da meine Zeit abläuft, möchte ich es dabei belassen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur die Redezeit!) Ich hoffe, dass die Gesetze, die demnächst beschlossen werden, zu dem Ergebnis führen, das wir alle uns erhoffen. Schönen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Die Redezeit war abgelaufen, aber nicht deine Zeit, lieber Wolfgang. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!) Hans-Christian Ströbele spricht als nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Frau Präsidentin. – Herr Minister, es stimmt, dass wir uns in der letzten Legislaturperiode in diesem Hause einig waren, dass man die Neonazis, die Nationalsozialisten, und zwar nicht nur die im Untergrund, bekämpfen muss. Wir hatten uns auch vorgenommen, vieles gemeinsam zu machen. Diesen Weg verlassen Sie jetzt, indem Sie hier einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem Sie, sofern Sie überhaupt etwas regeln, nur Regeln, die es bisher in Form von Verwaltungsvorschriften gab oder die in Übung waren, ins Gesetz schreiben. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) Damit werden diese Regeln aber nicht besser. Damit verhindern Sie so schreckliche Straftaten wie die, die hier zehn Jahre lang verübt worden sind, nicht. Vielleicht muss ich erst einmal mit dem Begriff aufräumen: Vertrauensleute sind nicht Leute, die Vertrauen verdienen. Sie haben gesagt, man müsse keine Sympathie für diese Leute empfinden. Kollege Lischka hat gesagt, das müssen keine sympathischen Leute sein. Aus den Reihen der SPD wurde dann aber sogar gesagt, man solle den V-Leuten die Sicherheit in diesem Staate anvertrauen. (Burkhard Lischka [SPD]: Was?) Darf ich Sie darauf hinweisen, dass es sich bei diesen V-Leuten, um die es hier geht, die diese schrecklichen Verbrechen mit möglich gemacht haben – auch das Versagen bei der Führung dieser V-Leute hat daran natürlich Anteil –, um Rechtsextreme, Rassisten, Neonazis und bekennende Nationalsozialisten gehandelt hat? Ich will doch die Sicherheit in diesem Land nicht solchen Leuten anvertrauen. Wo kämen wir denn da hin? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Sie dürfen ebenfalls nicht übersehen – das konnte man sogar im Fernsehen sehen –, dass Leute wie „Piatto“, Tino Brandt oder „Corelli“ nicht nur irgendwelche Informationen geliefert haben, sondern bei Demonstrationen und Kundgebungen auch die führenden Einpeitscher der Neonazis gewesen sind. Man konnte sehen, wie sie sich am Mikrofon aufgespielt und Leute aufgehetzt haben. Und denen wollen Sie die Sicherheit in diesem Lande anvertrauen? Das ist ein unmöglicher Gedankengang. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Jetzt komme ich zu den einzelnen Punkten. Hätte es geholfen, wenn das, was Sie jetzt vorgelegt haben, schon damals Gesetz gewesen wäre? (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ja! – Gegenruf der Abg. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) Tino Brandt – er ist ja jetzt wieder in Haft genommen worden – hat sich gerühmt, dass er die vielen Hunderttausend Euro für die Organisation, für den Thüringer Heimatschutz eingesetzt hat. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 800 000! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Staatsknete!) Wäre das durch so ein Gesetz verhindert worden? Nein! – Gegen Tino Brandt liefen 35 strafrechtliche Ermittlungsverfahren, von denen nicht ein einziges zu einem Prozess, geschweige denn zu einer Verurteilung geführt hat. Würde das jetzt anders sein? Nein! Mit diesem Gesetz schaffen Sie quasi eine gesetzliche Grundlage, um V-Leute, die während ihrer Einsatzzeit als V-Leute Straftaten begehen, dafür nicht strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen. Sie geben dem Staatsanwalt die Möglichkeit, das Verfahren einzustellen. Was bisher halblegal, im Verborgenen passiert ist, stellen Sie jetzt auf eine gesetzliche Grundlage. Nehmen Sie „Piatto“. „Piatto“ war nicht nur ein wegen eines grauenhaften Mordversuches Verurteilter. Er ist trotzdem nicht nur angeworben worden, sondern ihm wurde auch noch die Möglichkeit gegeben, aus dem Gefängnis in Brandenburg heraus Neonazi-Zeitschriften wie Der Weiße Wolf herauszugeben. Als die Gefängnisleitung eingeschritten ist, hat der Verfassungsschutz gesagt: Unser Mann muss weiterarbeiten können, (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das hat doch mit dem Gesetz nichts zu tun!) den holen wir weiter täglich mit dem Dienstwagen ab und fahren ihn zum nächsten Neonazi-Treff. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das hat mit dem Gesetz nicht das Geringste zu tun!) Wäre so etwas ausgeschlossen, wenn Ihr Gesetz in Kraft tritt? (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aber selbstverständlich!) Das wäre doch nicht ausgeschlossen, Herr Minister. Wie soll dieses Gesetz dagegen helfen? (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist eine Frage der Ermessensausübung der Verwaltung!) – Das ist keine Ermessensausübung, (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Natürlich! Abwägung!) sondern das ist die Ideologie, die dahintersteht: (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist Ihre Ideologie!) dass die Verfassungsschutzbehörden der Meinung sind, sie stünden außerhalb des Gesetzes und sie könnten machen, was sie wollen, Hauptsache, die Quelle sprudelt. Und denen ist völlig egal, welche Quelle da sprudelt. Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, so etwas zu ermöglichen. Deshalb kann man diesen Gesetzentwurf nur ablehnen. Er hilft nämlich überhaupt nicht gegen die Missstände, gegen die wir gemeinsam mit einschränkenden Gesetzen vorgehen wollten. Das vorliegende Gesetz ist aber kein einschränkendes Gesetz, das dieses Versagen in Zukunft verhindern würde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb sind wir dagegen. Ich kann nur dringend an Sie appellieren: Packen Sie das, was Sie uns hier vorgelegt haben, wieder ein, und treten Sie in vernünftige Diskussionen ein! Wir haben das ja eine ganze Legislaturperiode lang nach dem Motto praktiziert: Die Gemeinsamkeit der Demokraten muss sich auch in Gesprächen über das, was man in Zukunft macht, niederschlagen und entsprechend artikuliert werden. Das ist in dem von Ihnen vorgelegten Law-and-Order-Gesetz, das völlig daneben ist, nicht der Fall. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als letzter Redner in dieser Debatte hat Armin Schuster von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Ströbele, es ist der Debatte – das haben viele gesagt – nicht angemessen, wenn Sie hier von einem Law-and-Order-Gesetz sprechen. Ich glaube, wir sollten uns bei allen Unterschieden zwischen den Anträgen und unserem Gesetzentwurf bewusst machen, dass heute wieder einmal ein extrem positives Signal aus dem Plenarsaal des Deutschen Bundestages ins Land ausgesendet wird. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt das noch?) Die Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses haben im September 2013 hier ein dickes Papier abgeliefert, und wir lassen Taten folgen – bei aller Unterschiedlichkeit unserer Ideen. Aber wichtig ist: Dieser NSUUntersuchungsausschuss hat dazu geführt, dass wir in Deutschland Schritt für Schritt Reformen vornehmen, und auf diesem Weg ist der heute vorliegende Gesetzentwurf – das haben schon viele vor mir gesagt – ein großer Meilenstein. Drehen Sie uns bitte nicht das Wort im Mund herum. Niemand – nicht der Minister und auch sonst niemand – hat behauptet, dass die V-Leute für die Sicherheit in Deutschland verantwortlich wären. Das ist nicht fair. (Widerspruch des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Jetzt drehe ich einmal mein ganzes Manuskript um und fange mit den V-Leuten an – Dr. Hahn ist jetzt gerade leider nicht da –: Es ist auch ein bisschen unfair – – Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege Schuster, Sie sehen, dass der Wunsch nach einer Zwischenfrage besteht. Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Logo; dafür sind wir ja hier. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Gut. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Dafür sind wir hier“, sehr gut! Da Sie, Herr Schuster, Ihr Manuskript gerade sowieso umgedreht haben, ist es nett, dass Sie meine Frage zulassen. – Bitte sagen Sie einmal anhand von folgendem Beispiel etwas zu dem Thema – Beispiele werden ja oft bemüht –: Nehmen wir an, es kommt jemand zurück, der in Syrien schwere Straftaten begangen, der, um das einmal zuzuspitzen, enthauptet hat. Kann es allen Ernstes sein, dass der deutsche Staat mit solchen Leuten zusammenarbeitet? Kann es allen Ernstes sein, dass wir hier qua Gesetz legalisieren, dass solche Leute vom Staat Geld bekommen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass sie unsere Sicherheit herstellen sollen!) und wir mit diesen Straftätern zusammenarbeiten? Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Der Gesetzentwurf regelt ja, dass wir grundsätzlich mit solchen Leuten nicht zusammenarbeiten. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Grundsätzlich“, darum geht es ja!) Das heißt auch – ich bin nicht Jurist, aber das weiß auch ich –: Ausnahmen sind möglich. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steht sogar in der Begründung!) Es sind eng begrenzte Ausnahmen. Ich habe Vertrauen in die Menschen – im Gegensatz zu Ihnen; Sie versuchen das immer durch Regeln herzustellen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zehn Jahre wurde das Vertrauen missbraucht!) Ich habe ein großes Vertrauen auch in Menschen, die einmal Fehler gemacht haben. Ihre moralingeschwängerte Verurteilung des gesamten BfV geht mir einfach zu weit. (Beifall bei der CDU/CSU – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso regeln Sie es denn nicht?) Ich habe Vertrauen, dass ein BfV-Präsident in der Lage ist, in so einem Fall eine Güterabwägung vorzunehmen. Herr Dr. Hahn, Sie sind PKGr-Vorsitzender. Es war unfair, (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Was war unfair?) hier zu sagen, Sie hätten noch nie ein Beispiel für die Sinnhaftigkeit eines V-Leute-Einsatzes gehört. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ich habe den Minister zitiert!) – Der Minister kann Ihnen diese Frage nicht beantworten; Sie wissen doch, dass er darüber schweigen muss. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ach! Quatsch!) Sie haben in dieser Woche im PKGr live gehört – jetzt bewege ich mich dicht an der Grenze –, dass ein V-Mann zu weit über 20 hochgradigen Verurteilungen echter Terrorgefährder beigetragen hat. Aber hier tun Sie so, als ob es das nicht gäbe. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ob Verbrechen verhindert wurden, habe ich gefragt!) Meine Damen und Herren, es gibt handfeste Belege für die Wirkung von V-Leuten, über die wir hier leider oder Gott sei Dank nicht sprechen dürfen. Aber dass Sie verunglimpfen, dass mit diesen Leuten gearbeitet wird, ist ein Stück weit unfaire Verhandlungsführung. Das muss ich Ihnen sagen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Schuster, auch Herr Hahn möchte eine Zwischenfrage stellen. Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Herr Dr. Hahn. Dr. André Hahn (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Kollege Schuster, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass ich den Minister in der Fragestunde gefragt habe, ob er mir konkrete Beispiele für Verbrechen, die durch V-Leute, auch durch V-Leute, die strafbar geworden sind, verhindert worden sind, nennen kann? Er hat keinen Fall nennen können. Das hat nichts mit dem PKGr zu tun. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat nicht aus dem PKGr berichtet! Anders als Sie!) Im vorliegenden Fall ging es um Mitgliedschaften – das kann man ja sagen – in terroristischen Strukturen oder verbotenen Organisationen. Das war etwas anderes als das, was ich gefragt habe. Die Frage nach konkreter Tätigkeit von V-Leuten und der Verhinderung von Verbrechen hat der Minister nicht beantworten können, und das habe ich in meiner Rede kritisiert. Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das noch einmal klarstellen. Vielleicht auch für die Zuschauer: PKGr heißt Parlamentarisches Kontrollgremium. Herr Dr. Hahn ist im Moment der ehrenwerte Vorsitzende und weiß deshalb wahrscheinlich am besten in diesem Parlament, dass der Minister zu keiner Gelegenheit in einer Fragestunde einem Fragesteller – mag dieser noch so hochmögend sein – darauf antworten darf. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso denn?) Das darf er nicht. Ich bin Gott dankbar, dass er es nicht getan hat. Wo kämen wir denn hin, wenn wir jetzt im deutschen Parlament die V-Leute-Einsätze besprechen würden? Das wissen Sie ganz genau. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Es ging um verhinderte Dinge!) – Wenn Sie nicht aufhören, unfair zu sein, dann rede ich jetzt gleich noch viel schlimmer über Sie. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Meine Damen und Herren, vom heute vorgelegten Gesetzentwurf geht ein deutliches Signal aus, aber wir brauchen nicht nur Aktivitäten im Bund, sondern auch in den Ländern. Alleine schaffen wir das nicht. Im Fall des NSU-Terrors wären tiefere Einsichten in dem einen oder anderen Land hilfreich. Deshalb ist es nur zu begrüßen, dass Sachsen, Thüringen, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Hessen und endlich auch Baden-Württemberg in eigenen Untersuchungsausschüssen weiter aufklären. Herr Dr. von Notz, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja?) es ist mir völlig schleierhaft, wieso Sie sich hier hinstellen und mit extremer Hybris über uns herziehen, während man eine grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg zum Jagen tragen musste. Anfangs hatte man dort doch überhaupt keine Lust, diesen Fall aufzuklären. (Beifall bei der CDU/CSU) Entschuldigen Sie bitte, aber würde ich Ihre Rede jetzt nach Baden-Württemberg schicken, müsste Herr Kretschmann knallrot werden; denn das trifft alles auf ihn zu, aber nicht auf uns. Wir haben aufgeklärt. Er hat monatelang bestritten, dass das überhaupt notwendig sei, und stolpert jetzt von einer Krise in die nächste. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht darum, was wir hier machen! – Weiterer Zuruf der Abg. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich will Ihnen einmal eines sagen – ich beruhige mich wieder –: Das, was in Baden-Württemberg abläuft, zeigt uns, dass es durchaus eine interessante Idee sein kann, über einen NSU-Untersuchungsausschuss 2.0 im Bund nachzudenken. Es gibt jedenfalls genügend Kollegen, die dieser Meinung sind. Darüber müssen wir weiter diskutieren. Meine Damen und Herren, die Innenminister arbeiten schon seit der letzten Wahlperiode intensiv an dem Schritt-für-Schritt-Konzept. Wir wollen alles wahrmachen, was wir in den Katalog geschrieben haben. Wir schütten aber nicht das Kind mit dem Bade aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken und von den Grünen, unsere Sicherheitsbehörden zu reformieren heißt – jedenfalls wenn man regiert –: (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reformen zu machen!) Wir müssen unter akuter Terrorbedrohung für dieses Land und mit extrem hohen Belastungen der Sicherheitsbehörden, quasi unter vollen Segeln aller Behörden, (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer trägt denn seit zehn Jahren Verantwortung dafür, dass die unter vollen Segeln arbeiten müssen?) die Reformschritte vollziehen, die wir im NSU-Untersuchungsausschuss empfohlen haben. Das ist eine ganz schwierige Aufgabe. Sie ist aber garantiert nicht dadurch zu meistern, dass ich da jetzt etwas auflöse, hier Stiftungen schaffe und dort radikale Reformvorschläge mache. Das Land braucht jetzt funktionierende Sicherheitsbehörden. Uns gelingt es, in vernünftigen Schritten und in einer sinnvollen Dosis zu reformieren. Ich denke an das Terrorismusabwehrzentrum und an die Rechtsextremismusdatei. Ich danke dem Justizminister für ein umfangreiches Gesetzespaket, in dem er die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses umgesetzt hat. Heute danke ich dem Bundesinnenminister für vier klare und wichtige Schritte – das alles sind Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses –: Zentralstellenfunktion des Bundesamtes stärken, Informationsfluss verbessern, die Analysefähigkeit von NADIS ausbauen sowie den Einsatz von V-Leuten klarer regeln. Wir haben immer gesagt: Nicht das Ob, sondern das Wie muss geregelt werden. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbst das schaffen Sie nicht!) Das können Sie auch im Empfehlungskatalog nachlesen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ihrem Befund, Kolleginnen und Kollegen von Grünen und Linken, kann ich folgen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na immerhin!) Wir waren uns ja einig: Es gab strukturelle Defizite, Missstände, Versagen, allzu häufig kleinliches Kompetenzgerangel; manchmal meine ich, dass mir, wenn ich die Innenminister der Länder höre, da etwas im Ohr klingelt. Aber wir hatten diese Defizite bei allen Beteiligten: bei Staatsanwaltschaften, bei Gerichten, bei der Polizei, beim Verfassungsschutz; (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völlig richtig!) nicht einmal den Innenausschuss des Deutschen Bundestages hat dieser Fall jemals erreicht. Wollen Sie die eigentlich alle auflösen? (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Den Innenausschuss? Nein!) Diesen Vorschlag habe ich noch gar nicht gehört: Das hat nicht funktioniert, also lösen wir die auf. – Meine Damen und Herren, das ist doch nicht die Lösung. Wenn man Ihrem Vorschlag bzw. Ihrer Therapie konsequent folgen würde, dann müsste man sagen: Weg mit allen! – Das tun wir nicht. Man merkt, ich bin nachsichtig mit Ihnen. Sie haben ja – Gott sei Dank – noch nie ein Innenministerium in diesem Land geleitet; (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warten Sie einmal ab!) deswegen üben wir Nachsicht. Eigentlich müsste man Ihre Anträge als Sicherheitsrisiko bezeichnen; aber das tue ich natürlich nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-ordneten der SPD – Lachen des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Meine Damen und Herren, bei der Verfassungsschutzreform geht es um zwei Aspekte – eigentlich um drei, aber den dritten bekommen wir noch nicht hin –: Es muss besser kommuniziert werden, es muss vernetzter kommuniziert werden, und es muss koordiniert werden. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren doch schon drei!) Und – das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen –: Wenn man den NSU-Fall betrachtet und Kriminaldirektor Geier aus Bayern, dem Leiter der BAO, folgt, dann hätte es auch einer einheitlichen Führung bedurft. Wir haben in unserem Empfehlungskatalog aber nie gesagt, dass der Bund das tun soll – das muss man den Ländern vielleicht noch einmal zurufen –, sondern wir haben gesagt: In Ausnahmelagen wie Terrorserien, in solchen Fällen, in denen unsere föderale Struktur den Tätern in die Hände spielt oder in denen sie von ihnen gar bewusst genutzt wird, müssen wir eine zentrale Führung gewährleisten. Wir haben auch gesagt: Sichergestellt werden soll dies entweder durch ein Land – das hätte im NSU-Fall Bayern sein können; das hätte auf der Hand gelegen – oder durch den Bund, aber bitte einheitlich. Ich glaube nicht – da bin ich ganz ehrlich –, dass unser föderales System ins Wanken gerät, wenn wir in ex-tremen Ausnahmelagen wie im Fall von Terror die Führung in eine Hand legen. Wenn ich an die Ereignisse in Paris, Brüssel, Kopenhagen, Dresden, Braunschweig und Bremen denke – führen Sie sich die Kommunika-tionsprobleme, die es bei den Ereignissen in Braunschweig gab, mal vor Augen; das geschah ja an einem Wochenende; um Gottes willen! –, glaube ich nicht, dass der Verweis auf die Verfassung und die Polizeihoheit der Länder bei unseren Diskussionen der Weisheit letzter Schluss sein kann. Wir brauchen überregionale Verfahren für hochflexible Ermittlungsgruppen über Ländergrenzen hinweg. Damit will ich nicht im Ansatz das föderale System antasten; ich will es für Ausnahmesituationen krisenfest machen. Ich will Tätern nicht die Chance geben, uns vorzuführen, nur weil 16 Länder Verfassungsschutz und Polizei organisieren, wovon ich in Wirklichkeit ein großer Anhänger bin. Deshalb widerspreche ich den aktuellen Aussagen einiger Landesinnenminister, da ich sie für grenzwertig halte – Zitat –: Die Gefahrenabwehr in einem föderalen System ist Sache der Länder … Dass eine Bundesbehörde … eingreife oder gar den Einsatz übernehme, sei „völlig unvorstellbar“. Ich nenne den Namen und die Partei des Betreffenden nicht. Für mich war im Untersuchungsausschuss oft einiges unvorstellbar. Dabei ging es aber nicht darum, dass in diesem Land eigenartig geführt wird. Wo sind wir denn? (Beifall des Abg. Tankred Schipanski [CDU/CSU]) Deshalb, meine Damen und Herren, empfehle ich vor allen Dingen den Nicht-NSU-Tatortländern, sich endlich einmal mit diesem Fall zu beschäftigen und ihre eigene Leistungsfähigkeit an dem zu spiegeln, was wir dort festgestellt haben. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir in die Richtung – das ist für mich ein großer Schritt –, uns mit den Ländern enger abzustimmen, notfalls auch ohne deren Einverständnis. Ich weiß, das ärgert die. Allerdings ist dieser Kompromiss auf einmalige Art und Weise zustande gekommen. Ich habe an der Besprechung mit dem Bundesinnenminister, zu der auch die Länder eingeladen waren, teilgenommen. Ich fand, das war sehr kooperativ. Ein Landesinnenminister sagte vor einer Woche – Zitat –: „Das ist eine Aushebelung des Föderalismus“. Nein, das ist es nicht. Wer dem Föderalismus eine Zukunft geben will, der darf ihn nicht einmauern, sondern muss ihn weiterentwickeln und krisenfest machen, meine Damen und Herren. Ich glaube, wir dürfen deshalb dem Bundesinnenminister für all die Kämpfe, die er mit den Länderkollegen geführt hat, danken. Ich sehe noch die von diesem Fall Betroffenen vor mir, die im September 2013 oben auf der Tribüne gesessen haben. Wir haben ihnen zugerufen: Wir versprechen euch, dass wir Wort halten. – Durch das, was der Minister vorgelegt hat, können wir Wort halten. Dafür bedanke ich mich, und ich freue mich auf die Beratungen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/4654, 18/710, 18/4682 und 18/4690 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich frage Sie: Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe jetzt den nächsten Tagesordnungspunkt auf – das ist der Tagesordnungspunkt 26 – sowie den Zusatzpunkt 7: 26 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Die NVV-Überprüfungskonferenz zum Erfolg führen Drucksache 18/4685 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die europäische Sicherheitsstruktur retten – Übereinkommen in Gefahr Drucksache 18/4681 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen, und wir können mit der Aussprache beginnen; die Kollegen sitzen auch bereits. Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin Ute Finckh-Krämer von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribünen! Anlass der heutigen Debatte ist die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag, die am Montag beginnt und alle fünf Jahre stattfindet. Vor fünf Jahren gab es im Deutschen Bundestag einen fraktionsübergreifenden Antrag. Leider ist es diesmal nicht gelungen, wieder einen fraktionsübergreifenden Antrag zustande zu bringen. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass das nicht an den Kolleginnen und Kollegen aus dem Unterausschuss Abrüstung liegt. Die SPD wollte gerne konventionelle und nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung gemeinsam betrachten, auch über die Themen hinaus, die voraussichtlich bei der NVV-Überprüfungskonferenz behandelt werden. Das wurde leider von den Verantwortlichen in der Union abgelehnt. Nun hat interessanterweise die Deep Cuts Commission, die aus Wissenschaftlern aus Deutschland, aus Russland und aus den USA besteht, in ihrem zweiten Bericht, den sie rechtzeitig zur Überprüfungskonferenz vorgelegt hat, genau das vorgeschlagen: die eskalierenden Konflikte in Europa und konventionelle und nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle gemeinsam zu betrachten. Dass der Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, genau diesen Ansatz in seinem Vorwort zu diesem Bericht der Deep Cuts -Commission für richtig und wichtig erklärt, zeigt, dass die Arbeit der Deep Cuts Commission auch für die klassischen Sicherheitspolitiker in Deutschland interessant ist. Ischinger verweist darauf, dass die Beobachtungsflüge, die im Rahmen des Open-Skies-Vertrages, also unter dem OSZE-Regime, gemacht werden, in der Ukraine-Krise einen wichtigen Beitrag zur Deeskalation geleistet haben, was für uns wichtig werden wird, wenn wir in den Haushaltsberatungen über die Beschaffung einer deutschen Open-Skies-Plattform diskutieren werden. Das Problem, vor dem wir mit der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag stehen, ist, dass sich seit dem Inkrafttreten des New-START-Vertrages am 5. Februar 2011 im Bereich der nuklearen Abrüstung nicht viel getan hat. Allerdings ist – und das ist gut und richtig so – eine Debatte um die humanitären Konsequenzen des Einsatzes von Atomwaffen in Gang gekommen, eine erneute Debatte; denn wir wissen seit dem Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, wie katastrophal die Konsequenzen eines Atomwaffeneinsatzes sind. Alexander Kmentt, der Leiter der Abteilung für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Non-Proliferation im österreichischen Außenministerium, formuliert daher zu Recht – ich zitiere –: Die Schlussfolgerungen des humanitären Diskurses sollten zu einer tiefgreifenden Überprüfung der Abschreckungstheorie führen. Die Annahme über den Sicherheitsgewinn, den die Existenz von Atomwaffen mit sich zu bringen behauptet, kann angesichts der Erkenntnisse über die schwerwiegenderen Auswirkungen und größeren Risiken kaum aufrechterhalten werden. Das Beharren auf Nuklearwaffen ist ein letztlich unverantwortliches Glücksspiel, das auf einer Illusion von Sicherheit aufbaut. Das Vertrauen der „Abschreckungs-Realisten“ auf diese -Illusion ist daher die eigentliche „Utopie“, während ein klarer Fokus auf Prävention und nukleare Abrüstung als die einzig nachhaltige und „realpolitisch“ vernünftige Konklusion gelten muss. Die Ungeduld der Staaten, die auf ihrem Territorium keine Atomwaffen dulden, wächst daher zu Recht und ebenso die Ungeduld internationaler Organisationen wie der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen – ICAN –, der International Physicians for the Prevention of Nuclear War – IPPNW –, der Mayors for Peace, aber auch des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, die sich intensiv mit den Risiken des erneuten nuklearen Wettrüstens auseinandersetzen, oder auch der Global-Zero-Bewegung, die von hochrangigen Politikern und Diplomaten aufgrund ihrer Erfahrungen aus dem Kalten Krieg mit initiiert wurde. Ich möchte an dieser Stelle daher all denen danken, die sich in diesen und vielen weiteren Organisationen meist ehrenamtlich für eine Welt ohne Atomwaffen engagieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihr Engagement und ihre Fachkunde sind unverzichtbar für alle, die sich in Regierungen und Parlamenten für nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung einsetzen. Ebenso möchte ich denjenigen danken, die als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Vorschläge zu nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung erarbeiten. Die Verhandlungen um das iranische Nuklearprogramm zeigen, was geduldige und hartnäckige diplomatische Bemühungen bewirken können. Wir können stolz darauf sein, dass neben den fünf offiziellen Atommächten auch Deutschland daran beteiligt war und ist. Wenn – wie in den letzten Jahren – Konflikte eskalieren, werden Rüstungskontrolle und Abrüstung nicht überflüssig, sondern – im Gegenteil – notwendiger als zuvor. Das ist eine der Lehren, die Politikerinnen und Politiker in aller Welt aus dem Kalten Krieg gezogen haben. Ich hoffe, dass auf der Überprüfungskonferenz diejenigen Gehör finden, die sich im Sinne von Alexander Kmentt als Realpolitiker erweisen, also konstruktive Vorschläge machen, wie wir dem Ziel einer Welt ohne Atomwaffen näherkommen können. Ich bitte daher um Zustimmung zum gemeinsamen Antrag der SPD und der Union. Ich bin aber dafür, dass wir den Antrag der Linken ablehnen, der sich sehr viel stärker mit dem befasst, was von Politikern und Diplomaten in letzter Zeit an unsinnigen Forderungen aufgestellt worden ist, als mit dem, was konstruktiv zum Erfolg der Überprüfungskonferenz beitragen kann. Danke schön. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Inge Höger von der Linken das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Inge Höger (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 70 Jahre nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki gelingt es immer noch nicht, diese schrecklichen Massenvernichtungswaffen endlich abzuschaffen. Das liegt in erster Linie an den fünf offiziellen Atommächten. Es liegt an den USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China, die an ihren Bomben festhalten. Es liegt auch an den inoffiziellen Atomwaffenstaaten, die durch den Besitz dieser Bomben ihren Einfluss in der Welt vergrößern wollen. Es ist bezeichnend, dass die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag eine gemeinsame europäische Position einfordern. De facto bedeutet das nichts anderes, als dass man sich der Abrüstungsverweigerung der Regierungen Frankreichs und Großbritanniens anschließt. Da macht die Linke nicht mit, (Beifall bei der LINKEN) und wir sind uns da mit den Friedensbewegungen in Frankreich und England einig. Nun ist es leicht, von diesem Pult aus den mangelnden Abrüstungswillen anderer Staaten zu kritisieren. Doch Abrüstung beginnt vor der eigenen Haustür. (Beifall bei der LINKEN) Union und SPD erzählen in ihrem Antrag viel über Deutschlands Anstrengungen für Abrüstung, Rüstungskontrolle und andere hehre Ziele. Doch wenn es konkret wird, ist davon überhaupt nichts mehr zu sehen. Immer noch lagern in Büchel 20 US-Atomsprengköpfe. Sie haben jeweils eine Sprengkraft von 20 Hiroshima-Bomben. Anstatt sie endlich zu vernichten, werden sie in den kommenden Jahren modernisiert, um sie leichter einsatzfähig zu machen. Für den Ernstfall hält die Bundeswehr Tornado-Flugzeuge vor, die Atomwaffen transportieren und abwerfen können. Bundeswehrsoldaten werden eigens für den Zweck eines Atomkrieges ausgebildet. Solange die Bundesregierung auf diese Art und Weise den USA Beihilfe zu einem potenziellen Atomkrieg leistet, so lange bleiben Ihre rhetorischen Anstrengungen, die Sie hier oder in New York ableisten, pure Heuchelei. Sorgen Sie endlich dafür, dass alle Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden! (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) In den Feststellungen des Koalitionsantrages singen Sie das schon oft gehörte Lied von den Bösen und den Guten – und natürlich von der ganz besonders guten Bundesregierung, die sich überall in der Welt fleißig für Abrüstung einsetzt. Dass davon wenig zu halten ist, habe ich eben skizziert. Aber auch Ihre Geschichte von den bösen Russen und der guten NATO fällt typischerweise sehr einseitig aus. Zur Eskalation gehören immer zwei Seiten. Bitte vergessen Sie nicht, dass die NATO durch ihre Osterweiterung und aktuell durch die Stationierung von Truppen im Baltikum maßgeblich zur gespannten Situation in Osteuropa beiträgt. Den Antrag der Koalitionsfraktionen lehnen wir ab. Frieden und Abrüstung erreicht man nur durch konkrete Abrüstungsschritte. Es ist schon interessant: CDU/CSU und SPD weisen in ihrem Antrag darauf hin, dass die Ukraine 1994 nur gegen die Garantie ihrer territorialen Integrität auf ihre Atomwaffen verzichtet hat. (Niels Annen [SPD]: Auf die territoriale Integrität scheinen Sie ja nicht viel Wert zu legen!) – Ich lege großen Wert darauf. – Ich kann mich noch gut erinnern, dass das Geschrei groß war, als Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner 1998 anmerkten, die NATO würde Belgrad vielleicht nicht bombardieren, wenn Jugoslawien Atombomben hätte. So ändern sich die Zeiten. Auf eines ist allerdings Verlass: Die Linke lehnt jeden Völkerrechtsbruch ab und setzt sich auch weiterhin für die Abschaffung aller Atomwaffen ein. (Beifall bei der LINKEN) Es freut mich, dass die Koalition die massenvernichtungswaffenfreie Zone im Nahen Osten voranbringen will. Aber auch hier würde ich mir statt der bisherigen Sprechblasen ein beherztes Handeln von der Bundesregierung wünschen. Für einige Staaten – das wissen Sie alle – hängt der Fortbestand des Atomwaffensperrvertrages von Fortschritten bei diesem Thema ab. Es wird bei der Überprüfungskonferenz in New York von zentraler Bedeutung sein, ob es im Nahen und Mittleren Osten zu einer atomwaffenfreien Zone kommt. Ein echtes Zeichen für Deeskalation und Abrüstung ist es, wenn Sie gleich für den Antrag der Fraktion Die Linke stimmen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das wird nichts!) Wir bleiben dabei: Atomwaffen gehören auf den Müllhaufen der Geschichte. Es wäre wünschenswert, wenn die New Yorker Konferenz in den nächsten Wochen einen Schritt in diese Richtung macht. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Dr. Andreas Nick von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor fast genau 70 Jahren, im August 1945, beendete der erstmalige Einsatz von Atomwaffen in Hiroshima und Nagasaki auch in Asien den Zweiten Weltkrieg. Hundertausende Menschen starben; viele leiden teilweise bis heute unter den Folgen. Vier Jahre später zündete auch die Sowjetunion ihre erste Atombombe. Das Gleichgewicht des Schreckens der folgenden 40 Jahre zwischen den beiden atomaren Supermächten, der nukleare Friede, beruhte letztlich auf der glaubhaften Androhung wechselseitiger Vernichtung, der Mutual Assured Destruction, deren Kürzel „MAD“ wohl nicht zufällig dem englischen Wort für „verrückt“ entspricht. Spätestens mit der Kuba-Krise 1962 wurde deutlich, wie nah sich die Welt am Abgrund einer atomaren Vernichtung bewegte. Die Atommächte trugen damit eine besondere Verantwortung. Trotz aller Gegensätze war ein hohes Maß an Berechenbarkeit und Vertrauensbildung auf beiden Seiten gefordert. In der Folge – nicht zuletzt der Kuba-Krise – kam es 1968 dann zum Abschluss des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen mit drei zentralen Pfeilern: Erstens. Die Zahl der Nuklearmächte sollte weltweit nicht weiter ansteigen und auf die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates begrenzt bleiben. Zweitens. Im Gegenzug wurde den atomwaffenfreien Staaten das uneingeschränkte Recht auf friedliche Nutzung der Kernenergie eingeräumt. Drittens. Die Atommächte selbst verpflichteten sich, Verhandlungen mit dem Ziel einer vollständigen nuklearen Abrüstung zu führen. Die Abrüstungsverträge über nukleare Mittelstreckenraketen INF und über strategische Trägersysteme START waren wichtige Meilensteine in der Beendigung des Kalten Krieges. Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen. In einer multipolaren Welt mit einer Vielzahl von Akteuren ist die Gefahr regionaler nuklearer Rüstungswettläufe deutlich angestiegen. Inzwischen gibt es mindestens vier zusätzliche Staaten, die über Atomwaffen verfügen. Insbesondere der indische Subkontinent mit den beiden rivalisierenden Atommächten Indien und Pakistan, aber auch Ostasien mit Nordkorea und nicht zuletzt der Mittlere Osten bergen ein großes Konflikt- und Eskalationspotenzial. Mit der Verfügbarkeit sogenannter taktischer Nuklearwaffen droht eine Absenkung der Einsatzschwelle mit der Gefahr, dass ein vermeintlich begrenzter nuklearer Krieg führbar erscheinen könnte. Umso bedenklicher ist, dass mit Russland auch eine der Atommächte in jüngster Zeit seine substrategischen Nuklearwaffen modernisiert und Drohungen mit nuklearen Waffen offenbar wieder Teil der russischen Außenpolitik zu werden scheinen. Vor allem aber ist die Entwicklung in der Ukraine ein massiver Rückschlag für das Ziel der Nichtverbreitung von Kernwaffen. Im Gegenzug zur Abgabe der früheren sowjetischen Atomwaffen war der Ukraine im Budapester Memorandum von 1994 die Achtung ihrer territorialen Integrität sowie die Wahrung ihrer politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit zugesichert worden, auch unmittelbar durch Russland. Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem militärischen Vorgehen im Osten der Ukraine hat Russland diese Vereinbarung in eklatanter Weise verletzt. Meine Damen und Herren, wenn aber internationale Vereinbarungen wie das Budapester Memorandum keinen verlässlichen Bestand mehr haben, dann ist doch kaum zu erwarten, dass künftig noch irgendein Staat auf der Welt freiwillig auf den einmal erreichten Besitz von Atomwaffen verzichten wird. Im Gegenteil: Wenn sich der Eindruck weiter verstärkt, nur dies würde sie in die Lage versetzen, ihre staatliche Souveränität und territo-riale Integrität dauerhaft zu sichern, dann werden insbesondere kleinere Staaten mehr und mehr versucht sein, Kontrolle über Atomwaffen zu erlangen. Nuklearwaffen wären quasi die ultimative Währung nationaler Souveränität. Dies verdeutlicht einmal mehr: Nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung von Kernwaffen können nicht isoliert erreicht werden, sondern nur, wenn sie in eine verlässliche globale Friedensordnung und in ein robustes System regionaler Sicherheitsstrukturen eingebettet sind. Es gibt aber auch ermutigende Entwicklungen. Dazu gehört zweifelsohne, dass nach langjährigen Bemühungen in Lausanne eine Einigung über die Eckpunkte einer Vereinbarung im Hinblick auf das iranische Atomprogramm erzielt werden konnte, nicht zuletzt auch durch den beharrlichen Einsatz unserer Bundesregierung, der wir dafür ausdrücklich unseren Dank aussprechen. Wenn damit der Anreiz zu einem nuklearen Wettlauf in der Region erheblich gesenkt werden kann, wäre dies ein wichtiger Schritt zu der vorgeschlagenen Errichtung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren Osten. Zusammen mit unseren Partnern in der EU und der Nichtverbreitungs- und Abrüstungsinitiative NPDI werden wir auf die baldige Umsetzung hinarbeiten. Die Vereinbarungen von Lausanne zeigen aber auch die zentrale Bedeutung der internationalen Atomenergiebehörde IAEO bei der Überwachung der zivilen Nutzung der Kernenergie. Dabei geht es gar nicht nur um die Nichtverbreitung von Atomwaffen, sondern insbesondere auch um die Überwachung des Verbleibs spaltbaren Materials; denn es muss uns klar sein: Auch eine mit nuklearem Material versetzte sogenannte schmutzige Bombe könnte in den Händen von Terroristen oder anderen nichtstaatlichen Akteuren verheerende Folgen haben. Meine Damen und Herren, die von Nuklearwaffen ausgehenden Bedrohungen für den Fortbestand der Menschheit sind weiterhin gewaltig. Eine weltweite vollständige nukleare Abrüstung, das auch von Präsident Obama eingeforderte Global Zero, muss deshalb unser langfristiges Ziel bleiben. Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen ist dafür ein wichtiger Meilenstein der internationalen Ordnung. Gemeinsam mit unseren Partnern wird sich Deutschland daher aktiv für einen positiven Abschluss der Überprüfungskonferenz im kommenden Mai einsetzen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Agnieszka Brugger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In vier Tagen beginnt die Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag. Es ist das wichtigste Regime in der internationalen Abrüstungspolitik. Die Verhandlungen stehen leider unter keinem guten Stern, und die Erwartungen sind mehr als bescheiden. Man hofft darauf, dass man das, was man vor fünf Jahren erreicht hat, noch einmal festschreiben kann und dass es überhaupt zu einer Einigung kommt. Liebe Kollegin Höger, ich meine, man kann an diesem Koalitionsantrag zu Recht viel kritisieren, aber die Forderung, dass sich die EU mit Blick auf diese so wichtige Konferenz um eine gemeinsame Position bemühen solle, ist richtig und unterstützenswert. Ich finde, es wäre ein Drama, wenn die Europäische Union in dieser wichtigen Frage keine einheitliche Haltung hätte. Das wäre ein großer Rückschritt für die internationale Abrüstungspolitik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass sich die internationalen Rahmenbedingungen für Abrüstung in den letzten Jahren – gerade im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise – verschlechtert haben, dann sollte man nicht so darauf reagieren wie die Bundesregierung und nur lethargisch die Achseln zucken. Genau das machen Sie von der Koalition mit Ihrem Antrag. Vielmehr sollte man sagen: Gerade weil die Lage so schlecht ist, muss man Ausschau halten, wo es neue Ideen und Initiativen gibt und wo neue Dynamik entsteht. Es gibt beispielsweise, aus der Zivilgesellschaft angestoßen, die Humanitäre Initiative, die die fatalen ökologischen, aber auch humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes kritisiert. Mittlerweile sind 155 Staaten dieser wichtigen Initiative beigetreten, die viel Dynamik und Hoffnung in die Debatte gebracht hat. Deutschland war aber mit Verweis auf seine NATO-Mitgliedschaft bisher nicht dazu bereit. Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, fordern jetzt in Ihrem Antrag, dass Deutschland sich weiter an den Diskussionen beteiligen soll. Kleiner geht es wohl nicht mehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wie weitere konkrete Ideen aussehen könnten und was Deutschland selbst tun könnte, um neue Bewegung in das Thema hineinzubringen, haben wir schon vor Wochen in unserem grünen Antrag deutlich aufgezeigt. Es wäre gut gewesen, wenn Sie ihn noch einmal gelesen und sich ein bisschen daraus bedient hätten. Denn Ihre lustlose und ideenlose Haltung zur Humanitären Initiative ist nur ein Beispiel, warum Ihr Antrag wenig überzeugend ist. Ihr Antrag bedeutet auch einen Rückschritt. Vor fünf Jahren hat sich der gesamte Bundestag nach langen Verhandlungen auf eine gemeinsame Position verständigen können. Es war ein sehr wichtiges Zeichen, das von diesem Parlament aus auch bis in die Verhandlungen der Überprüfungskonferenz hineingestrahlt hat, was international sehr breit wahrgenommen wurde. Wir waren zu Verhandlungen bereit. Es gab auch erste Gespräche. Sie sind ausgestiegen. Ich finde das parteipolitisch kleinkariert. Das ist die Arroganz dieser Großen Koalition. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie hätten noch einmal den alten, guten Antrag lesen sollen. Wir haben uns damals auf die Forderung geeinigt, dass die 20 US-amerikanischen Atombomben, die sich derzeit noch in Büchel in Rheinland-Pfalz befinden, abgezogen werden sollen. Ein atomwaffenfreies Deutschland ist doch ein wichtiges Ziel, gerade wenn man auf internationaler Ebene glaubwürdig für nukleare Abrüstung streiten will. Das ist, finde ich, das Schlimmste an Ihrer Initiative: In dem von Ihnen vorgelegten Antrag findet sich diese Forderung nicht mehr. Sie haben sich damit offensichtlich von diesem Ziel verabschiedet. Das ist völlig falsch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihr Antrag wirft uns damit um Jahre zurück. Ich kann auch nicht verstehen, wie eine Partei wie die SPD, die den Anspruch an sich hat, Friedens- und Abrüstungspartei zu sein, so etwas unterstützt. Das ist mir wirklich schleierhaft. Ebenso schleierhaft ist mir auch, warum der Kollege Carsten Müller aus der Union in der letzten Debatte zu unserem grünen Antrag vom „sicheren Schoß der nuklearen Teilhabe der NATO“ gesprochen hat. Das ist in doppelter Hinsicht Humbug: Diese Waffen haben keinen militärischen Zweck, und Atomwaffen bzw. Massenvernichtungswaffen machen die Welt nicht sicherer. Nur Abrüstung bringt am Ende des Tages mehr Frieden und Sicherheit für alle. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, es wäre besser gewesen, wenn Ihre ideenlose und mutlose Initiative den Bundestag nicht erreicht hätte. Denn sie revidiert eine zentrale Position und bringt uns keinen Schritt weiter in der Forderung nach einem Deutschland, das frei ist von Atomwaffen. Wer so wenig Engagement in dieser Frage zeigt, kann sich zwar den Erfolg der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag wünschen. Er muss sich aber auch fragen lassen, was er selbst dazu beigetragen hat. Wir Grüne werden weiter dafür streiten, dass Deutschland der Humanitären Initiative beitritt und sich für die weltweite Ächtung der Atomwaffen einsetzt und dass die Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden. Wir werden auch weiter gegen einen gefährlichen Modernisierungskurs bei diesen Massenvernichtungswaffen streiten. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang Hellmich von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wolfgang Hellmich (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass der Bundestag in vielen Debatten immer wieder die gemeinsame Position deutlich gemacht hat: Wir wollen eine Welt ohne Atomwaffen. Ich denke, diese Aussage eint uns. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir waren in dieser Frage schon einmal wesentlich weiter. Ich denke an das Jahr 2010, in dem dieser Bundestag einen gemeinsamen Beschluss – ich glaube, damals ohne die Linken – gefasst hat, in dem eine gemeinsame Position für die Überprüfungskonferenz formuliert wurde. Das hat die Konferenz im Jahr 2010 vorangebracht. Wir sollten uns darum bemühen, dass wir durch einen gemeinsamen Beschluss dieses Parlaments auch zu der jetzt anstehenden Konferenz Ideen einbringen und dem Prozess einen Schub verleihen, damit die Konferenz, die in der Tat – mehrere haben es hier beschrieben – unter einem nicht gerade guten Stern steht – sie steht vielmehr unter einem schlechten Stern; ich erinnere an die verschärfte internationale Lage –, trotzdem zu guten Ergebnissen in einem Abschlussdokument kommt, die die Konferenz weiterbringen und die das System von Abrüstungsverträgen als Kern einer weltweiten Friedensordnung am Leben erhalten bzw. weiterbringen. Wir leben in einem Jubiläumsjahr. Es ist daran erinnert worden: Vor 70 Jahren gab es den ersten Abwurf von Atombomben, vor 100 Jahren die erste Anwendung von Giftgas im Ersten Weltkrieg. Wir leben in einem Jahr, in dem viele schreckliche Ereignisse ihren Jahrestag haben. Wir können in diesem Jahr aber auch deutlich machen: Ohne internationale Verträge und ohne das gemeinsame Formulieren gleicher Ziele, ohne den Willen, zu Abrüstungsschritten zu kommen, werden wir aus der Rüstungsdynamik nicht herauskommen. Wir müssen eine Dynamik hin zu mehr Abrüstung erreichen. In diesem Zusammenhang spielt die Überprüfungskonferenz eine wichtige Rolle. Es müssen dort Schritte vereinbart werden, damit der gemeinsame Wille zur Abrüstung deutlich wird. Die Kernaufgabe liegt bei den Großen in dieser Welt, bei denjenigen, die entscheidend über die Frage von Atomwaffen verhandeln. Von denen erwarten viele Staaten gerade im Zuge der Konferenz, dass man bei den Verhandlungen weiterkommt. Das betrifft auch die Verhandlungen über den Abzug von Atomwaffen aus -Europa. Das ist keine unilaterale Veranstaltung, sondern das ist eine bilaterale Frage, die in den Verhandlungen zwischen Russland und den USA geklärt werden muss. Das muss im Mittelpunkt der Gespräche auch dieser Konferenz stehen, damit klar ist, wo die Verantwortung liegt. Es geht auch darum, den Staaten, die auch Unterzeichner des NVV sind und die keine Atomwaffen haben, aber vielleicht danach streben, deutlich zu machen, dass wir auf dem Weg zur Abrüstung atomarer Waffen klare und deutliche Fortschritte erzielen wollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist richtig: Gespräche über atomwaffenfreie Zonen im Nahen Osten und in anderen Regionen der Welt zu führen, muss auch das Bestreben der Bundesregierung sein. Wenn ich die Gespräche, auch die Beratungen im Unterausschuss, richtig verstanden habe, ist es nicht so, dass unsere Regierung die Hände in den Schoß legt; vielmehr bemüht sie sich in vielen Gesprächen und auf vielen internationalen Konferenzen, in dieser Frage ein Stück weit weiterzukommen. Sie setzt sich dafür ein, die Finanzierung der Internationalen Atomenergie-Organisation so zu gestalten, dass sie auch als Verifikationsorgan gestärkt wird. Sie bemüht sich – das ist ein wesentlicher Punkt –, den NVV nicht isoliert zu betrachten, sondern ihn in andere Abrüstungs- und Vertragssysteme einzubeziehen, den Atomteststoppvertrag CTBT weiterzuentwickeln und weitere Unterzeichner für diesen Vertrag zu gewinnen. Wir müssen in der Tat zu einem gemeinsamen europäischen Standpunkt kommen. Ich denke, im Kern der europäischen Strategie, die zu formulieren ist, wird auch die Frage der atomaren Abrüstung und der Weiterentwicklung der Abrüstungsregime eine zentrale Rolle spielen müssen. Auch in dieser Hinsicht bemüht sich die Bundesregierung, die Diskussion weiterzubringen. Berichte liegen auf dem Tisch. Ich denke, das ist ein Punkt, wo die Bundesregierung unter Beweis stellt, dass sie sich aktiv dafür einsetzt, dass es zu weniger atomarer Rüstung kommt. Es gibt aber einen Zusammenhang, den wir sehen und den wir diskutieren müssen. Wir können den NVV und andere Verträge nicht losgelöst von der konventionellen Rüstung sehen. Wenn in der Militärdoktrin der Russischen Föderation steht, Russland behalte sich das Recht vor, als Antwort auf den Einsatz von Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen gegen sie und/oder ihre Verbündeten sowie bei einer Aggression gegen die Russische Föderation unter Einsatz konventioneller Waffen Atomwaffen einzusetzen, dann sieht man den Zusammenhang zwischen dieser Strategie und den Atomwaffen. Ich komme zum Schluss: Die Fortsetzung des KSE-Prozesses, die Aufnahme weiterer Gespräche, die Bekräftigung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Plattform zur Rüstungskontrolle im Rahmen des Wiener Dokumentes – das sind die richtigen Signale. Damit leisten wir auf der europäischen Ebene die Beiträge, die wir dringend brauchen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Stimmen Sie bitte diesem Antrag zu. Ich fordere alle, die in New York bei den Diskussionen dabei sein werden, auf, dies aktiv zu vertreten. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Hans-Peter Uhl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Am kommenden Montag kommen die Teilnehmer zur neunten Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag in New York zusammen. Die Bilanz ist aus heutiger Sicht durchwachsen. Die letzte Überprüfungskonferenz im Jahr 2010 sendete noch positive Signale aus. Erstmals seit 2000 konnte man sich wieder auf ein Abschlussdokument verständigen. Zudem wurde ein Aktionsplan verabschiedet. Die Vorbereitungen für diese Konferenz im Jahr 2015 zeigen jedoch: Trotz der positiven Signale aus dem Jahr 2010 ist es nicht zu einer stärkeren Annäherung der Teilnehmer gekommen. Bei vielen Themen liegen die Positionen diametral auseinander. Die aktuelle weltpolitische Lage belastet die Konferenz in der Tat zusätzlich. Die Annexion der Krim durch Russland bedeutet einen schweren Rückschlag für den Bereich der nuklearen Abrüstung. Russland verletzt mit der Annexion das Völkerrecht. Das wird allgemein so gesehen. Insbesondere aber der Bruch des Budapester Memorandums von 1994 ist ein schwerer Schlag. In diesem Memorandum wurden der Ukraine die Unabhängigkeit und die politische Integrität garantiert. Im Gegenzug verpflichtete sich Kiew, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten und die Rückführung aller Atomwaffen nach Russland durchzuführen. Russlands Vertragsbruch ist fatal. Sein Verhalten ist kontraproduktiv für die weltweiten Bemühungen, eine neue Dynamik nuklearer Aufrüstung zu vermeiden. Hinzu kommt, dass Moskau in jüngster Zeit seine Nuklearwaffen nicht abrüstet, sondern modernisiert und deren Einsatzschwelle absenkt. Drohungen mit nuklearen Mitteln gehören wieder zur russischen Rhetorik. Umso erfreulicher sind die positiven Signale aus Lausanne von Anfang April. Die Verhandlungen zu einem geordneten Atomprogramm mit dem Iran sind auf einem guten Weg. Die Verständigung über Eckpunkte ist auch dem unermüdlichen Einsatz des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier zu verdanken, und das sollte hier erwähnt werden. Alle Unterstützung muss nun einem erfolgreichen Verhandlungsabschluss mit dem Iran bis zum Sommer gelten. Der Atomwaffensperrvertrag ist als Stabilitätsanker heute wichtiger denn je. Deutschland ist bereit, mehr außenpolitische Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört auch, dass wir international weiterhin eine wichtige und aktive Rolle bei Abrüstung und Nichtverbreitung von Atomwaffen einnehmen. Deshalb muss die deutsche Delegation ihr ganzes diplomatisches Verhandlungsgeschick nutzen, um trotz schwieriger Bedingungen vernünftige Abrüstungsvereinbarungen zu erreichen. Ich bedanke mich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Dr. Katja Leikert, ebenfalls von der CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es ein internationales Rüstungskontrollregime gibt, für das wir uns starkmachen sollten, dann ist das allen voran das Nichtverbreitungsregime. Durch seine klaren Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren hat der NVV die Spielregeln zwischen den Staaten mit Blick auf Erwerb und Entwicklung von Kernwaffen sowie die zivile Nutzung von Nukleartechnologie unmissverständlich festgelegt. Für mich steht fest, dass er in den letzten 45 Jahren unsere Welt sicherer gemacht und erheblich zu mehr Vertrauen zwischen den Staaten beigetragen hat. Beachtliche 190 Staaten haben das Vertragswerk mittlerweile unterzeichnet. Lediglich Indien, Israel, Pakistan und Südsudan sind keine Mitglieder, und Nordkorea zähle ich nicht mehr dazu. Iran gehörte hingegen zu den ersten Unterzeichnerstaaten im Jahr 1968. In wenigen Tagen beginnt die Überprüfungskonferenz zu diesem sogenannten Atomwaffensperrvertrag, und es liegt an uns, dass wir uns für ein erfolgreiches Gelingen einsetzen; denn es bestehen weiterhin große Herausforderungen, bis wir die Global Zero, also eine Welt ohne Atomwaffen, erreichen. So verfügen heute Indien, Pakistan und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Nordkorea über Atomwaffen. Neben dem Problem der Weiterverbreitung ist auch das Thema „Abrüstung bei Kernwaffenstaaten“ nach wie vor aktuell. Immerhin ist die Zahl der weltweit stationierten Atomsprengköpfe in den letzten fünf Jahren um mehr als ein Viertel gesunken: von 22 000 auf 16 000. Aber erstens sind das natürlich immer noch viel zu viele Sprengköpfe, und zweitens arbeiten die Atomwaffenstaaten nach wie vor an der Modernisierung ihrer Nuklearsysteme, allen voran Russland. Gerade mit Blick auf die unverhohlenen Drohungen mit dem Einsatz nuklearer Mittel durch Russland kann ich die Putin-Versteher einmal weniger verstehen. Wer sich über sämtliche Bestimmungen des Völkerrechts hinwegsetzt, ist nicht im 21. Jahrhundert angekommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dagmar Ziegler [SPD]: Jawohl, recht hat sie!) Da manche Staaten zur Sicherung ihres Überlebens nach wie vor auf Realpolitik der alten Schule setzen wie Aufrüstung und Expansion, bleibt die Bemühung um internationale Regeldurchsetzung gerade in dem hochsen-siblen Bereich der Kernwaffen für mich so aktuell wie vor 45 Jahren. Jetzt steht die nächste Überprüfungskonferenz zum NVV an. Wir von der schwarz-roten Koalition nehmen dies zum Anlass, die Bundesregierung aufzufordern, verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, damit eine neue Dynamik nuklearer Aufrüstung und eine Weiterverbreitung von Atomwaffen vermieden werden. Es wäre jetzt natürlich leicht, angesichts dieser globalen Dimension zu sagen: Die Herausforderungen sind zu groß. Man sollte die Erwartungen an die Überprüfungskonferenz so niedrig wie möglich hängen. – Da ist es natürlich wie immer im Leben: Wenn man keine Erwartungen hat, dann kann man auch nicht enttäuscht werden. So einfach können wir uns das nicht machen. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist eine tolle Logik!) Bei allen Schwächen eines internationalen Regimes gibt es auch sehr viel Positives. Iran ist das beste Beispiel. Ich bin überzeugt davon, dass überhaupt nur durch die offenen Kommunikationskanäle, die das NV-Regime bietet, der aktuelle Verhandlungserfolg erzielt werden konnte. Natürlich waren wir alle skeptisch. Ich denke jedoch, dass angesichts der Verhandlungen Optimismus nun umso mehr begründet ist. Dank der auch von deutscher Seite so engagiert geführten Verhandlungen ist der Weg Irans zur Atombombe nun langfristig ausgeschlossen. Teheran verpflichtet sich ganz konkret, in den kommenden zehn Jahren mehr als zwei Drittel der bestehenden Urananreicherungskapazitäten stillzulegen. Über 95 Prozent des bereits angereicherten Urans sollen entweder verdünnt oder außer Landes gebracht werden. Was die kommenden Jahre angeht, so sollen die Anreicherung und Forschung ausschließlich zu zivilen Zwecken und nur in engen Grenzen erlaubt sein – bei engmaschigen Kontrollen durch die IAEO. Der Hebel, mit dem die E3+3 den Durchbruch bei den Nuklearverhandlungen erzielt haben, sind ganz klar die wirtschaftlichen Anreize. Dazu werden die Sanktionen schrittweise gelockert. Wir sehen also ein ganz realpolitisches Geben und Nehmen. Vielleicht ist das auch eine Blaupause für all diejenigen Staaten, die bisher dem NVV noch nicht viel abgewinnen konnten. Was wir aus den E3+3-Verhandlungen ebenfalls mitnehmen können: Deutschland kommt seiner internationalen Verantwortung als westlicher Nichtnuklearwaffenstaat erfolgreich nach und sollte dies weiterhin verstärkt tun. Ich finde, wir haben eine besondere Vermittlerrolle zwischen den Nuklearwaffenstaaten und den Nichtnuklearwaffenstaaten. Ich sage dies ganz bewusst mit Blick auf die anstehende Überprüfungskonferenz und auch vor dem Hintergrund der hier im Hause geführten Diskussionen der vergangenen 25 Jahre über Deutschlands Rolle in der Welt: Es gibt keinen Grund für eine Zurückhaltung mit unseren Positionen. Der multilaterale Kurs in sämtlichen Bereichen unserer Außenpolitik, auch in der Abrüstungspolitik, ist richtig. Die umsichtige und zugleich unmissverständliche Art und Weise unseres Außenministers, der hier schon öfter zu Recht gelobt wurde, verkörpert diesen Ansatz sehr treffend. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Das Ziel „Eine Welt ohne Atomwaffen“ ist kein politisches Pathos. Es ist aber nur durch gemeinsames politisches Handeln erreichbar. Hier liegt es an uns, sich immer wieder für dieses Ziel einzusetzen. Daher freuen wir uns über die Unterstützung für unseren Antrag. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/4685 mit dem Titel „Die NVV-Überprüfungskonferenz zum Erfolg führen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4681 mit dem Titel „Die europäische Sicherheitsstruktur retten – Übereinkommen in Gefahr“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition und von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt worden. Damit ist dieser Tagesordnungspunkt abgeschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 27: Beratung des Antrags der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gute Versorgung am Lebensende sichern – Palliativ- und Hospizversorgung stärken Drucksache 18/4563 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das auch so beschlossen. Wir beginnen mit der Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Viele Menschen haben große Angst vor der letzten Lebensphase. Diese ganz natürliche Angst vor dem Sterben verstärkt sich noch durch die Angst, einsam zu sterben: einsam in einem Krankenhaus, einsam in einem Pflegeheim. Wir alle haben Angst davor, vielleicht der Familie zur Last zu fallen oder sogar der ganzen Gesellschaft. Wir haben Angst davor, Schmerzen ertragen zu müssen, Schmerzen, die vielleicht niemand lindern kann. Natürlich können wir, das Parlament, diese Ängste hier nicht einfach auf Knopfdruck beseitigen. Wir können aber dafür sorgen, dass sich jeder schwerstkranke und auch jeder sterbende Mensch auf eine gute und würdige Versorgung am Lebensende verlassen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dabei darf es keine Rolle spielen, ob ein Mensch in der Stadt oder auf dem Land lebt. Es darf keine Rolle spielen, ob es sich um ein Kind oder um eine Bewohnerin in einem Pflegeheim handelt. Zum Glück für uns alle ist die Palliativ- und Hospizversorgung in unserem Land in den letzten Jahren viel besser geworden. Problematisch ist aber, dass diese Versorgung nicht allen Menschen zugänglich ist. Deshalb ist es grundsätzlich gut, dass Gesundheitsminister Gröhe vor kurzem einen Referentenentwurf für ein Hospiz- und Palliativgesetz vorgelegt hat. Wir Grüne im Bundestag bringen heute unsere Vorschläge dazu ein. Ich werde gleich auf die Inhalte eingehen. Zuerst habe ich aber noch eine Bitte an die Vorstände der Koalitionsfraktionen. Ich bitte Sie ganz herzlich: Gehen Sie dieses für uns alle so wichtige Thema doch bitte etwas vorsichtiger und sensibler an. In Ihrem Vorstandsbeschluss zur Hospiz- und Palliativversorgung vom 16. April 2015 vermengen Sie dieses Thema mit der sogenannten aktiven Sterbehilfe. Das ist nicht sonderlich hilfreich. Das stiftet nur Verunsicherung bei den Menschen. Das Thema „aktive Sterbehilfe“ hat weder etwas mit Palliativ- und Hospizversorgung noch mit der Debatte um den assistierten Suizid zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Die Debatte zur Hospiz- und Palliativversorgung ist von hoher symbolischer Bedeutung. Wir alle müssen hier unsere Worte sehr gut wählen. Ganz besonders wichtig ist: Wir dürfen uns nicht darauf zurückziehen, nur schöne, empathische Worte zu finden. Es darf nicht nur bei symbolischen Maßnahmen bleiben! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diesen Eindruck habe ich aber leider bei manchen Regelungen, die im Entwurf von Herrn Gröhe vorgesehen sind. Es gibt in dem Entwurf einiges, das wir sofort unterschreiben können. Darin ist zum Beispiel auch von der Stärkung der allgemeinen ambulanten Palliativversorgung, der sogenannten AAPV, die Rede. Es gibt darin aber auch einige Allgemeinplätze. Die zentralen Fragen umschiffen Sie. Sie unternehmen nichts gegen den dramatischen Personalmangel in der Pflege, und Sie tun nichts zur Verbesserung der leider rückständigen deutschen Forschung in diesem Bereich. Ebenfalls nichts tun Sie zur Verbesserung der Aus-, Fort- und Weiterbildung. (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt nicht!) Wir Grüne wünschen uns von der Großen Koalition hier weniger Kleinmut und mehr Weitblick. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dabei geht es nicht nur um mehr Geld, sondern auch um Dinge, die erst einmal ganz unerheblich wirken, vermeintlich kleine Dinge, die dann aber am Ende des Tages eine ganz große Wirkung haben. Wir müssen die Angehörigen sterbender Menschen viel besser unterstützen. Dazu sagen Sie kaum etwas. Wir fordern in unserem Antrag, dass die Krankenkassen künftig auch Angebote der Trauerbegleitung für Angehörige mitfinanzieren. Das wird übrigens nicht viel Geld kosten. Viele Angehörige fühlen sich schon während einer Sterbebegleitung alleine gelassen. Für viele kommt aber die richtig harte Zeit erst danach. Dann gibt es Einsamkeit und Erschöpfung, und dann gibt es natürlich auch die Ängste vor dem eigenen Sterben. Das kann krank machen. Häufig leiden Trauernde in der Folge an Depressionen. Hier ist eine gezielte Prävention enorm hilfreich, und Trauerbegleitung ist ein Teil davon. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ein ganz elementarer Punkt ist die Personalsituation in der Pflege. Sie schreiben in Ihrem Entwurf, Ziel sei es, die Versorgung Sterbender vor allem in stationären Pflegeeinrichtungen zu verbessern. Dieses Ziel ist richtig. Häufig aber ist das weder fachlich noch kulturell noch finanziell zu stemmen. Es fehlt oft an allen Ecken und Enden an Personal. So können Pflegekräfte einfach keine würdige Pflege für die Sterbenden leisten. Die Pflegekräfte selbst leiden doch auch sehr unter dieser Situation. Viele Einrichtungen haben einfach nicht genügend Leute, um eine gute Pflege sowie eine gute Palliativ- und Hospizversorgung zu leisten. Darauf geben Sie im Moment noch keine Antwort. Das dürfen wir aber nicht länger so laufen lassen! Deswegen fordern wir in unserem Antrag die Einführung von „verbindlichen Personalbemessungsinstrumenten“. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich weiß, „Personalbemessungsinstrument“ ist ein sperriges Wort. Es geht hierbei darum, in Pflegeheimen und Krankenhäusern objektiv festzustellen, wie viel Personal für welche Tätigkeit gebraucht wird. Uns allen hier ist doch klar: Schon für die Pflege an sich, aber auch für die Palliativ- und Hospizversorgung brauchen die Einrichtungen einfach viel mehr Hände, als derzeit da sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das wird Geld kosten. Wir Grüne sagen schon seit vielen Jahren: Für eine bessere Pflege darf der Einsatz von mehr Finanzmitteln kein Tabu sein. Das gilt genauso für die Palliativ- und Hospizversorgung. Gute Pflege kostet Geld. Wir werden sie nicht zu Dumpingpreisen bekommen. So denken nicht nur wir hier im Parlament. Die breite Mehrheit der deutschen Bevölkerung sieht das doch genauso. Uns muss wirklich noch einmal deutlich werden: Gute Pflege geht uns alle an! Meine Damen und Herren, genau jetzt ist der Zeitpunkt, genau jetzt kann die Hospiz- und Palliativversorgung verbessert werden! Wir Grüne wirken sehr gerne konstruktiv daran mit. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Emmi Zeulner von der CDU/CSU das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Emmi Zeulner (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich freue mich, dass Sie uns heute einen Anlass geben, über die Stärkung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland zu diskutieren. Die Verantwortlichen in Ihrer Fraktion haben einen sehr guten Antrag ausgearbeitet. Viele Ihrer Vorschläge finden sich in unserem Eckpunktepapier wieder. Auf der Grundlage dieser Eckpunkte werden wir in Kürze einen Gesetzentwurf einbringen. Bei der Erarbeitung dieses Entwurfs haben wir eng und konstruktiv mit dem Ministerium zusammengearbeitet. Ich möchte mich ausdrücklich bei Minister Hermann Gröhe und Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz für die vertrauensvolle und zielorientierte Zusammenarbeit bedanken. Es ist unser Anspruch, schwerstkranken und sterbenden Menschen die Errungenschaften der Hospiz- und Palliativversorgung unabhängig von ihrem Wohnort und ihrem Versichertenstatus zugänglich zu machen. Gerade vor dem Hintergrund der Debatte um die Suizidbeihilfe ist eine Stärkung so wichtig. Denn egal wie die Gesetzgebung dort ausfällt: Für eine selbstbestimmte Entscheidung am Lebensende gilt, zuerst alle Möglichkeiten der Hospiz- und Palliativversorgung ausschöpfen zu können. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb ist die Aufklärung in diesem Bereich so wichtig. Mit dem Gesetz werden wir die Krankenkassen in die Pflicht nehmen, ihre Versicherten über entsprechende Leistungen zu informieren. Zudem werden wir Versorgungsplanungen für die letzte Lebensphase in Pflegeheimen auch erstattungsfähig machen. Das ist eine Antwort auf die berechtigte Sorge von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen, dass bei den heutigen medizinischen Möglichkeiten eine Übertherapie stattfindet. Gerade dies konterkariert den Gedanken der Hospiz- und Palliativversorgung. So ist es mir auch ein großes Anliegen, dass wir bei der Finanzierung der Palliativstationen nachbessern. Das Fallpauschalensystem, wie es in Krankenhäusern üblich ist, belohnt ein Mehr an Leistung mit mehr Geld. Das passt einfach nicht für Palliativstationen. Tagesgleiche Pflegesätze hingegen machen die Vergütung unabhängig von erbrachter Therapie. Wenn ein Sterbenskranker keine Musiktherapie mehr haben möchte, dann sollte das ohne einen finanziellen Nachteil für die Station möglich sein. Zukünftig wollen wir eine echte Wahlmöglichkeit zwischen den Systemen schaffen. Es wird Krankenhäusern per Gesetz das Recht zugesprochen, gegenüber den Kassen die Abkehr vom DRG-Entgeltsystem auf Palliativstationen zu erklären, wenn sie es wollen. Des Weiteren halte ich es wie Sie für unbedingt notwendig, die Hospizbewegung mit ihren Einrichtungen noch mehr zu unterstützen; denn dort wird unschätzbar wertvolle Arbeit erbracht, vieles davon ehrenamtlich. So werden künftig Erwachsenenhospize bei den zuschussfähigen Kosten mit Kinderhospizen gleichgestellt, und der kalendertägliche Mindestzuschuss wird von 7 auf 9 Prozent angehoben. Auf ambulante Hospizdienste kommt eine Vielzahl von Aufgaben zu, zum Beispiel die Betreuung von Angehörigen. Ihre Aufgaben umfassen zudem zum einen die palliativpflegerische Beratung, zum anderen die Gewinnung, Schulung, Koordination und Unterstützung der ehrenamtlich tätigen Personen, die für die Sterbebegleitung zur Verfügung stehen. Auch die Netzwerkarbeit zwischen den vielen Akteuren wird von den Hospizdiensten bewältigt. Bei der Erfüllung dieser vielfältigen Aufgaben stoßen die Dienste oftmals an ihre Kapazitätsgrenzen. Es ist uns ein Anliegen, diese bei ihrer wertvollen Arbeit weiter zu unterstützen. Deshalb werden wir alles daransetzen, Finanzierungslücken, die es tatsächlich gibt, zu schließen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch Ärzte, die besonders qualifiziert sind und interprofessionell mit anderen Leistungserbringern kooperieren, sollen künftig eine Zusatzvergütung erhalten. Damit schaffen wir Anreize für eine Weiterbildung der bereits praktizierenden Mediziner. Dass die Kooperation und Vernetzung zwischen den einzelnen Akteuren weiter ausgebaut werden muss, ist als dringendes Handlungsfeld erkannt. Nicht nur in Pflegeheimen, auch in Krankenhäusern möchten wir ambulanten Hospizdiensten die Möglichkeit eröffnen, Sterbebegleitung zu leisten. Zudem soll die ärztliche Versorgung in Pflegeeinrichtungen ausgebaut werden. Schließlich gilt es, den Ausbau der SAPV weiter zu forcieren. Gerade in ländlichen und strukturschwachen Regionen gibt es noch weiße Flecken. Insbesondere die Möglichkeit, schwerstkranke Kinder und Jugendliche zu Hause zu versorgen, ist heute noch ungenügend. Den Abschluss von SAPV-Verträgen wollen wir durch Einführung eines Schiedsverfahrens künftig erleichtern. Ich stimme schließlich mit Ihnen überein, liebe Fraktion Die Grünen, dass die Forschung im Bereich der Hospiz- und Palliativversorgung ausgebaut werden muss. Wir brauchen mehr Evidenzbasierung, auch im Bereich der Trauerbegleitung. Um dem Anspruch einer hochwertigen Palliativversorgung gerecht zu werden, müssen wir im Bereich der Forschung noch deutlich mehr tun. Aber dazu stehen wir auch im Austausch mit dem Forschungsministerium und dem Parlamentarischen Staatssekretär Müller sowie den Vertretern der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen. Wenn wir uns anschauen, woher wir kommen – von der Hospizbewegung zu den Hausärzten, die schon immer Begleiter sterbender Menschen waren und sind, zur spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, die erst 2007 als Leistungsbestandteil in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen wurde, bis hin zum Festschreiben der Palliativmedizin als Pflichtfach im Medizinstudium im Jahr 2009 –, dann sind wir schon einen langen Weg gegangen. Die von unten gewachsene Struktur umfasst sehr viel Qualität und sehr viel Engagement und Einsatz der Beteiligten. Es ist uns ein Anliegen, diese weiter zu fördern und zu unterstützen. Ich würde mich freuen, wenn wir miteinander an den bestmöglichen Lösungen arbeiten könnten. Denn es ist – wie auch Sie, liebe Kollegin Scharfenberg, gesagt haben – ein Thema, das jeden von uns ganz persönlich betrifft. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Pia Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Pia Zimmermann (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Würde des Menschen ist unantastbar, und das gilt für alle Menschen in diesem Land. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Alle Menschen, unabhängig von Alter, Lebenslage und Lebensverlauf, müssen ein gesetzlich und praktisch gesichertes Anrecht darauf haben, frei zu wählen, ob sie in der letzten Phase ihres Lebens zu Hause, im Hospiz oder in einer Pflegeeinrichtung ihren Bedürfnissen entsprechend palliativmedizinisch versorgt und palliativ gepflegt werden wollen. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, es geht hier um ein Menschenrecht; es geht um die „Dreieinigkeit“, die staatliche Pflicht, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Aus den Erfahrungen meiner langjährigen Tätigkeit in der Pflege kann ich bestätigen: Der vorliegende Antrag der Grünen bietet Ihnen von der Großen Koalition ein gutes Angebot, Ihre bisherigen Positionen zu überprüfen, zu erweitern und die bestehenden Ungleichheiten aufzuheben. Ihr Antrag, geschätzte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ist in einigen Fragen allerdings noch ausbaufähig. Angesprochen haben Sie zum Beispiel die Hospiz- und Palliativversorgung in stationären Pflegeeinrichtungen. Wir sind der Auffassung, dass sichergestellt werden muss, dass in allen Einrichtungen eine fachlich hochwertige palliative Pflege- und Hospizarbeit angeboten werden kann. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wir sagen auch, dass dies nicht zu zusätzlichen Kosten für die Menschen mit Pflegebedarf führen darf. Gute Pflege darf auch hier nicht vom Geldbeutel abhängig sein. (Beifall bei der LINKEN) In deutschen Pflegeeinrichtungen – das ist noch ein Knackpunkt – leben 764 000 Menschen; viele von ihnen sind chronisch krank, schwerbehindert oder erkranken in der letzten Phase ihres Lebens schwer. Genau diese Menschen haben aber so gut wie gar keinen Anspruch auf Hospizversorgung. Denn in der Rahmenvereinbarung zu § 39 a Absatz 1 SGB V steht Folgendes – ich zitiere –: Die Notwendigkeit einer stationären Hospizversorgung liegt grundsätzlich nicht bei Patientinnen und Patienten vor, die in einer stationären Pflegeeinrichtung versorgt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das heißt, wir haben in Deutschland eine gravierende Ungleichbehandlung von Menschen in der letzten Lebensphase. Diese Zweiklassenbetreuung ist nicht hinnehmbar. (Beifall bei der LINKEN) Eine ähnliche strukturelle Ungleichbehandlung gibt es bei der palliativmedizinischen Versorgung von Schmerzpatienten in Pflegeeinrichtungen, und das trotz des bestehenden Rechtsanspruchs auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Das liegt an der fachärzt-lichen und palliativmedizinischen Unterversorgung in Alten- und Pflegeheimen und daran, dass diese Einrichtungen noch immer nicht ausreichend Schmerzmittel für Akutsituationen vorhalten dürfen. Hier setzt der Antrag von den Grünen wiederum die richtigen Akzente. Meine Damen und Herren, in den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Ehrenamtlichen in der Hospiz- und Palliativversorgung auf 100 000 verdoppelt. Dieses Engagement ist nicht hoch genug zu bewerten. An dieser Stelle gilt den Ehrenamtlichen mein besonderer Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber das Ehrenamt muss eine Ergänzung bleiben. Bürgerschaftliches Engagement ist kein Ersatz für fehlende Fachkräfte und aufsuchende Pflege. Bürgerschaftliches Engagement darf nicht missbraucht werden, um vorhandene strukturelle Defizite zu verschleiern. Wir benötigen eine verbindliche Personalbemessung in gesetzlicher Form. (Beifall bei der LINKEN) Ich teile daher diese Forderung im Antrag der Grünen ausdrücklich, vermisse aber konkrete Vorschläge. Einig sind wir darin, dass die Hospiz- und Palliativversorgung eine besonders professionalisierte Pflegearbeit ist und dass es mehr Beratung, hospizliche Sterbebegleitung, Palliativteams und Pflegezeit geben muss. Das gilt sowohl für Kliniken als auch für Pflegeeinrichtungen. Dafür braucht es aber eine konkrete Personalbemessung. Wir fordern mindestens zwei Vollzeitstellen pro 100 Bewohnerinnen und Bewohner zusätzlich. Doch das darf nicht zu höheren Kosten für die Bewohnerinnen und Bewohner führen. Auf den Punkt gebracht heißt das: Wer wirklich allen Menschen in Deutschland die Hospiz- und Palliativversorgung zugänglich machen will, muss den Einrichtungen den finanziellen Spielraum dafür bieten, muss das Personal, welches dafür benötigt wird, besser kalkulieren und die Ungleichheiten zwischen stationärer und ambulanter Pflege sowie den Hospizen aufheben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Helga Kühn-Mengel von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Helga Kühn-Mengel (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie legen heute einen Antrag vor, den wir in vielen Punkten unterstützen können. An vielen Stellen sind seine Forderungen deckungsgleich mit denen der SPD. Das Entscheidende ist aber: Wir werden einen Gesetzentwurf vorlegen, den wir in der nächsten Zeit behandeln, vertiefen und sicherlich an manchen Stellen auch noch verändern werden. (Beifall bei der SPD) Wir tun das – es ist schon mehrfach gesagt worden –, weil die Menschen Sorge darüber haben, was Selbstbestimmung, Würde und Wertschätzung auf der letzten Wegstrecke des Lebens bedeuten. Wir müssen uns mit der Angst der Bürger und Bürgerinnen auseinandersetzen, im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung genau diese zu verlieren. Sie haben Angst davor, Schmerzen zu haben, allein zu sein und womöglich anderen – auch dies ist schon gesagt worden – zur Last zu fallen. Die hospizliche und die palliative Versorgung kann mit der Besonderheit, dass dort haupt- und ehrenamt-liche Kräfte tätig sind, vieles leisten. Wir wissen von -jenen, die dort arbeiten, dass durch Schmerz- und -Symptomkontrolle, durch Zuwendung und durch Begleitung der Wunsch nach Sterben häufig in den Hintergrund tritt, dass der Suizidgedanke aufgegeben wird – das ist nicht nur durch Erfahrung, sondern auch durch Studien belegt – und dass manche – so paradox es klingt – sogar wieder Lebensmut schöpfen. Deshalb muss man – ich betone das ausdrücklich – zu den aktuellen Äußerungen der Strafrechtslehrerinnen und -lehrer zu diesem Thema etwas sagen – ich will nicht vertieft darauf eingehen, weil ich nur wenige Minuten Redezeit habe –; denn diese haben den Kern der hospizlichen und palliativen Versorgung überhaupt nicht verstanden. (Michael Brand [CDU/CSU]: So ist es!) Sie differenzieren nicht, sie vermischen die Begrifflichkeiten, sie kritisieren die wirklich hervorragende Arbeit der Menschen in den Hospizen und auch im ambulanten Bereich, und sie vernebeln das, was sie wirklich wollen. In den letzten Jahren wurden viele Verbesserungen erreicht: die Förderung der ambulanten und stationären Hospizarbeit, die Stärkung des Ehrenamtes – natürlich als Ergänzung und nicht als Ersatz –, die Weiterentwicklung der Schmerztherapie, die Einführung der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung mit einhergehender Qualifizierung der Ärzte und nicht zuletzt – auch das ist ganz wichtig – ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine ganz andere Auseinandersetzung mit diesem Thema. Jetzt müssen wir mit den guten Angeboten und den richtigen Weichenstellungen in die Fläche gehen. Der Gesetzentwurf setzt Schwerpunkte bei der Weiterentwicklung der ambulanten palliativen Versorgung, bei der Vernetzung und Koordination in der Region, gerade im ländlichen Raum, bei der Verbesserung der Finanzierung ambulanter und stationärer Hospize, bei der Finanzierung der Palliativstationen, bei der Patientenberatung und bei Informationen zu Fragen der hospizlichen Versorgung und Begleitung. Durch das Gesetz würde ein neuer Rechtsanspruch geschaffen. Dieser neue Rechtsanspruch – die Kollegin hat es schon erwähnt – ist ein großer Fortschritt für die Versicherten; denn eine bessere Aufklärung und Information der Betroffenen und ihrer Angehörigen ist wichtige Voraussetzung für einen gerechten Zugang zu diesen Versorgungsangeboten, unabhängig vom sozioökonomischen Status und unabhängig von dem Ort, an dem die Menschen in ihrer letzten Lebensphase versorgt werden. Es gibt Hinweise darauf, dass nur ein Fünftel der Patienten und Patientinnen Zugang zu diesen Angeboten hat. Viele wissen gar nichts darüber. Es ist wichtig, dass die Finanzierung der stationären und ambulanten Hospize verbessert wird und Zuschüsse angehoben werden. Wichtig ist aber auch, dass keine Vollfinanzierung vorgenommen wird, weil über das Ehrenamt und über die Spenden das Thema in die Gesellschaft getragen werden soll. Wir werden ausreichend Gelegenheit haben, den Gesetzentwurf vertiefend zu behandeln und noch einmal einen Blick auf die palliativpflegerische Versorgung in stationären Einrichtungen wie Pflegeheimen zu werfen. Vor allem werden wir noch einmal den Bereich der ambulanten Krankenhausversorgung beleuchten. Das ist nämlich auch ein ganz wichtiger Punkt. Wir wissen, dass 46,6 Prozent der Menschen, also knapp die Hälfte, in Krankenhäusern sterben. Wir müssen diesen ganzen Diskussionsprozess mit dem Charta-Prozess verbinden. Zum Schluss will ich zitieren, was ich auf einer Veranstaltung gehört habe: Hospiz ist kein Ort, Hospiz ist eine Haltung. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Erwin Rüddel (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Einführung der Pflegeversicherung hat die Pflegepolitik noch nie so viel Aufmerksamkeit erfahren wie in dieser Legislaturperiode. Ich denke an die beiden Pflegestärkungsgesetze, an den Bürokratieabbau, an die Neugestaltung des Pflege-TÜVs oder die Reform der Pflegerausbildung. Aber auch das Versorgungsstärkungsgesetz und sogar das Präventionsgesetz kann man im Kontext der Pflegeversicherung sehen. Die laufende Legislaturperiode steht im Zeichen der Pflege. Es gibt kein Gesetz im Gesundheitsbereich, das nicht direkt oder mittelbar die Pflege in Deutschland verbessert. Das ist eine wirklich gute Sache. Der Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung gehört folgerichtig ebenfalls zu unserer Pflegegesetzgebung. Union und SPD haben im Koalitionsvertrag ja verbindlich vereinbart, die Hospize weiter zu unterstützen und die Versorgung mit Palliativmedizin auszubauen. Ich gehe davon aus, dass der entsprechende Gesetzentwurf der Koalition bald den Weg ins Plenum finden wird. Wir werden dann selbstverständlich auch die Vorschläge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in die Beratung einbeziehen. Es liegt auf der Hand, dass die Aufgaben der Palliativ- und Hospizversorgung, das Thema Patientenverfügung und die Diskussion über die Sterbehilfe sich wechselseitig berühren und teilweise überschneiden. Der Debatte über die Sterbehilfe möchte ich nicht vorgreifen. Es geht heute um die Belange schwerstkranker und sterbender Menschen, und deren Belange sind ein eigenständiges Anliegen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die besondere Bedeutung von Patientenverfügungen hinweisen. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass wir den gesetzlich Versicherten zusammen mit der Information zur Organspende künftig ab dem 50. Lebensjahr auch eine entsprechende Information über Patientenverfügungen zukommen lassen. Ich persönlich bin ein entschiedener Anhänger und Verfechter der Patientenverfügung. Sehr viele Menschen in unserem Land – wahrscheinlich die meisten – lehnen eine medizinische Überversorgung dezidiert ab. Sie wollen nicht gegen ihren Willen künstlich am Leben erhalten werden. Diesen Wunsch nach einem Sterben in Würde haben wir zu respektieren. Das entspricht einer humanen Gesellschaft. Umgekehrt gilt: Niemand sollte sich den Tod wünschen, um anderen nicht zur Last zu fallen. Und niemand sollte dies müssen, weil er unter unerträglichen Schmerzen leidet. Deshalb ist der Ausbau der modernen Palliativmedizin so wichtig und ein zentrales Ziel unserer Gesundheitspolitik. Die Antwort auf die Nöte Schwerstkranker und Sterbender muss in einer umfassenden ärztlichen, pflegerischen und psychosozialen Begleitung bestehen. So sehen das übrigens auch die beiden großen Kirchen, die gerade in diesen Tagen die „Woche für das Leben“ proklamiert haben und unter dem Motto „Sterben in Würde“ zur Stärkung der Palliativ- und Hospizversorgung aufrufen. Mir liegt vor allem am Herzen, auch im ländlichen Raum das Leistungsangebot auszubauen, die palliative Pflege in Heimen und in der häuslichen Umgebung nachhaltig zu stärken sowie insbesondere die Vernetzung und Kooperation zwischen den Akteuren voranzubringen. Es ist gut und richtig, wenn es hier mehr Geld für Ärzte und Kliniken geben wird. Wünschenswert erscheint mir darüber hinaus aber auch, zusätzliche Mittel für die eigentliche Pflegearbeit bereitzustellen. Meine Damen und Herren, wir wollen das Versprechen des Koalitionsvertrags einlösen und den Menschen in Deutschland Zugang zu einer spürbar besseren Hospizarbeit und einer flächendeckenden Palliativversorgung verschaffen. Wir möchten eine Kultur der Hilfe im Sterben anbieten, die es erlaubt, die letzte Lebensphase selbstbestimmt und bestmöglich begleitet zu verbringen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Nun hat die Kollegin Bettina Müller für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Bettina Müller (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die Versorgung schwerkranker und sterbender Menschen wird in diesem Jahr viel diskutiert. Die Stärkung der Hospiz- und Palliativversorgung ist für die Koalition ein wichtiges Anliegen. In diesem Bereich gibt es bereits viele Angebote, -sowohl in Form der allgemeinen als auch in Form der speziellen ambulanten Palliativversorgung. Aber viele Menschen sind immer noch sehr schlecht über die vorhandenen Strukturen informiert. Zudem reichen die Angebote bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken. Gründe dafür sind die demografische Entwicklung, die Auflösung der Familienverbände, Singlehaushalte und der Wunsch der Menschen nach adäquater Versorgung am Lebensende, möglichst in der häuslichen Umgebung. Daher hat sich die Koalition entschlossen, einen Gesetzentwurf noch vor dem Sommer ins Parlament einzubringen. Es ist gut, dass auch die Grünen die Notwendigkeit des Ausbaus der Palliativversorgung sehen. Wir müssen hier fraktionsübergreifend arbeiten. Beim Sterben geht es nicht um Parteizugehörigkeit. Als Signal nach außen möchte ich jedoch deutlich machen: Der beste gesetzliche Rahmen reicht nicht aus, wenn er nicht durch Akteure vor Ort mit Angeboten und Verträgen ausgestaltet wird. Zum Wohle der Patienten muss auch auf dieser Ebene mit allen Beteiligten zusammengearbeitet werden. Es kommt also auf die Krankenkassen, die Ärzte, die Kassenärztlichen Vereinigungen, die SAPV-Vertreter, die Kommunen, die Kreise, die Einrichtungsträger und die vielen Ehrenamtlichen an, um die Versorgung sinnvoll und zielgerichtet zu stärken. Konkurrenzdenken, wie es an manchen Stellen noch vorhanden ist, ist hier völlig fehl am Platz. Wichtig ist: Bei der Versorgungsplanung darf nicht nach Schema F vorgegangen werden. Die regionalen Besonderheiten, die schon vorhandenen Strukturen, die Aktivitäten von Ärzten und Kassen und die Zahl der Ehrenamtlichen sind nämlich von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich. Hier gilt es, funktionierende Versorgungsstrukturen nicht zu zerschlagen, sondern vorhandene Netze zu stärken und weiter auszubauen. Palliative Versorgung sollte zudem immer wohnortnah möglich sein, damit die Betroffenen so oft wie möglich von ihren Angehörigen und von ihren Freunden besucht werden können. Zurzeit ergeben sich Probleme bei SAPV und AAPV, also der allgemeinen ambulanten Palliativversorgung, vor allem im ländlichen Raum. Gründe dafür sind zu geringe Bevölkerungszahlen und zu große Flächen, sodass die SAPV nicht kostendeckend arbeiten kann. Darüber hinaus sind die Strukturanforderungen von SAPV und Palliativstationen im Krankenhaus in ländlichen Regionen die gleichen wie in Ballungsge-bieten, obwohl dort natürlich viel weniger Patienten zu versorgen sind. Für onkologische Zentren und Krankenhäuser in größeren Städten ist es viel leichter, die Einrichtung einer Palliativstation mit mindestens fünf Betten zu organisieren. In ländlichen Regionen mit deutlich weniger Patienten kann eine eigenständige Abteilung hingegen nicht kostendeckend betrieben werden. Ein wichtiges Ziel der Koalition ist deshalb, im ländlichen Raum Anreize für den Ausbau des Leistungsangebotes zu schaffen. Ein wesentliches Thema ist hierbei die Erhaltung und der Ausbau der hausärztlichen palliativen Versorgung. Abgesehen davon, dass es in vielen Bereichen bereits einen Ärztemangel gibt, ist die Versorgung durch weite Wege sowie häufige und nicht lukrative Bereitschaftsdienste viel aufwendiger als in Ballungsgebieten. Gerade die Hausärzte, die oft einen jahrelangen und sehr intensiven Kontakt zu den schwerkranken Menschen haben, sollten aber eine wesentliche Rolle in der Versorgung von Palliativpatienten spielen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wichtig ist hier, nicht zu hohe Hürden und zu teure Strukturen zu basteln, die in der Praxis zu Problemen führen. Angesichts des rasant steigenden Bedarfs werden wir ganz schnell ganz viele Ärzte und Pflegende brauchen, die auch in Alteneinrichtungen und Kliniken eingesetzt werden können. Ein gelungenes Beispiel stellt in meinen Augen das Modell in Westfalen-Lippe dar, bei dem Hausärzte in enger Zusammenarbeit mit SAPV-Teams eine flächendeckende palliative Versorgung gewährleisten. Für Patienten, aber auch für Leistungserbringer müssen der Zugang und die Teilnahme zur Versorgung niedrigschwellig sein. Wer mithelfen will, Sterbenden ein gutes und erträgliches Lebensende zu bereiten, muss es auch tun können. Dazu müssen die Akteure miteinander handeln und nicht gegeneinander. Platzhirschdenken und Versorgungswettbewerb am Sterbebett wären fatal. (Beifall bei der SPD) Umsetzung und Verträge brauchen aber viel Zeit, die die schwerkranken Menschen sehr oft nicht haben. Daher gilt es, die Beratungen jetzt zügig durchzuführen und die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Versorgungsstruktur zu schaffen. Machen wir uns an die Arbeit! Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Roy Kühne für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Roy Kühne (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir debattieren heute Nachmittag über ein ganz wichtiges Thema, das in den letzten Minuten einen sehr großen Raum bekommen hat und das in unserer Gesellschaft eines noch größeren Raums bedarf. Ich begrüße den Vorschlag der Grünen, und ich denke, dass es dringend notwendig ist, über Palliativversorgung zu reden, bedarfsgerechte Strukturen zu definieren und eine bessere finanzielle Ausstattung zu organisieren. Es geht darum, dass wir Menschen bis ans Ende ihres Lebens würdevoll begleiten. Die Auseinandersetzung mit lebensbedrohenden Krankheiten und mit dem Sterben ist aber nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für viele Angehörige, für das familiäre und berufliche Umfeld eine sehr schwere Angelegenheit und verlangt viel Kraft. Die Gesellschaft sollte an dieser Stelle verantwortungsvoll damit umgehen und Mittel und Strukturen bereitstellen, um die damit verbundenen Belastungen aufzufangen. Niemand sollte in der letzten Phase des Lebens allein sein, weder derjenige, der jemanden begleitet, noch derjenige, der sich in der selbigen Situation befindet. Wir haben in Deutschland ein weltweit anerkanntes gutes Gesundheitssystem. Ich denke, es ist wertvoll, dass wir genau diese Versorgungsstandards, die wir pflegen, wirklich bis zum Ende des Lebens beibehalten. Damit erweisen wir Respekt und Würde bis zum Tod. Eine Befragung des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes aus dem Jahre 2012 hat aber leider ergeben, dass nur rund die Hälfte der Deutschen den Begriff „Palliativmedizin“ überhaupt kennt und nur etwa ein Drittel weiß, was sich dahinter ungefähr verbirgt. In vielen Gesprächen, die ich mit Bürgerinnen und Bürgern geführt habe, wurde des Öfteren klar und deutlich gefragt: Was ist das eigentlich? Genau hier liegt unsere Herausforderung: Wir wollen mit dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung erarbeitet, einen weiteren Beitrag zur wertvollen Hospiz- und Palliativversorgung leisten. Ich denke, dass gerade diesem Gesetzentwurf eine große Bedeutung zukommt. Wir wollen damit die Versorgung derjenigen verbessern, die eine Begleitung der Schmerztherapie und am Lebensende benötigen, und vor allen Dingen das Wissen der Bevölkerung um den Wert dieser Maßnahmen stärken. Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sind viele gute Punkte enthalten, die auch von der Koalition bereits aufgegriffen wurden. Ich denke, es herrscht großer Konsens, dass hier Einigkeit erzielt wird; auch die bereits gehaltenen Reden machen dies deutlich. Wir wollen Änderungen herbeiführen, und wir müssen Änderungen herbeiführen. Sie müssen genau dort ankommen, wo sie gebraucht werden: bei den Menschen. Wie die Erkenntnisse des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes zeigen, muss eine Verbesserung der Transparenz, der Information und der Beratung stattfinden. Es gibt Versorgungsangebote, die wesentlich dazu beitragen, dass es besser wird. Diese müssen kommuniziert werden. Natürlich müssen am Schluss auch die Krankenkassen die entsprechenden Kapazitäten dafür schaffen. Wir werden in einem nächsten Schritt sicherlich die Vernetzung der Teilnehmer verbessern müssen. Wir alle wissen, dass gerade die Zusammenarbeit im Gesundheitssystem ein ganz wichtiger Faktor ist, um erfolgreich zu sein. Wir müssen Kooperationen fördern und die Vergütung spezifisch qualifizierter Vertragsärzte anpassen. Darüber hinaus werden wir die Bedeutung der häuslichen Krankenpflege für die Palliativversorgung herausstellen – sie wurde bereits angesprochen – und durch eine bessere finanzielle Ausstattung die Hemmnisse für die ambulanten Hospizdienste abbauen. Es ist nach meiner Meinung sehr wichtig, dass wir die multiprofessionelle Arbeit – ich betone das noch einmal –, also die Zusammenarbeit der Menschen, die sich mit diesem Sachgebiet auseinandersetzen, was sicherlich nicht einfach ist, stärken, sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich. Zudem werden wir die Sterbebegleitung – sie wurde vom Kollegen schon angesprochen – in den stationären Hospizen finanziell fördern und die ambulante Hospizarbeit in stationären Pflegeeinrichtungen ebenfalls stärker berücksichtigen. Weiterhin geht es darum, die Finanzierung von Maßnahmen im Hinblick auf die ambulante Versorgung in der Fläche bereitzustellen. Wir sind in Deutschland oftmals so aufgestellt, dass wir in vielen Bereichen eine Flächenversorgung gewährleisten müssen. Auch da sind wir gefordert. Gerade in strukturschwachen und ländlichen Regionen sind regionale Initiativen zu fördern. Wir brauchen sie vor Ort. Mit dem kommenden Gesetzgebungsverfahren werden wir in diesem Jahr die Weichen dafür stellen, die Folgen der demografischen Entwicklung für die -Gesundheitsversorgung – sie ist nicht aufzuhalten – abzumildern. Wir müssen auch auf die zukünftigen Bedarfe reagieren. Besonders in Verbindung mit dem -Pflegestärkungsgesetz, dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz und dem Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativmedizin werden wir, so denke ich, einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung in Deutschland machen. Damit können wir auch im Hinblick auf die letzte Phase des Lebens einen würdevollen Beitrag leisten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4563 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Bestimmungen des Rechts des Energieleitungsbaus Drucksache 18/4655 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Uwe Beckmeyer. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Akzeptanz ist ein entscheidendes Stichwort, wenn es um den dringend notwendigen Ausbau unserer Strom- und Gasnetze geht. Wir wollen Planern und Behörden mehr Möglichkeiten geben, Erdkabel unter bestimmten Voraussetzungen auf Pilotstrecken in technisch und wirtschaftlich sinnvollen Abschnitten zu testen. Durch eine maßvolle Erweiterung der Möglichkeiten zur Teilerdverkabelung wollen wir mehr Erfahrung mit dieser Technologie sammeln. Neben den bisherigen Pilotvorhaben, zu denen auch die geplanten neuen Strom-autobahnen in Nord-Süd-Richtung gehören, werden nun weitere Pilotverfahren und -vorhaben eingeführt. Zudem erweitern wir die Kriterien dafür, wann ein Erdkabel verlegt werden darf: Neben dem Abstand zu Siedlungen, der durch eine Freileitung nicht gewahrt würde, kommen nun Naturschutzgründe und die Querung von großen Bundeswasserstraßen wie Rhein oder Elbe in Betracht. Damit die Möglichkeiten weit vorangeschrittener Projekte nicht gebremst werden, kann der Vorhabenträger bei laufenden Verfahren wählen, ob er von der neuen Regelung Gebrauch macht oder nicht. Diese Übergangsregelung für bereits beantragte Planfeststellungsverfahren betrifft vor allem die EnLAG-Vorhaben. Wir wollen dafür sorgen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger künftig stärker in den vielschichtigen Prozess der Netzplanung einbringen und die damit einhergehenden Entscheidungen besser einordnen können. Mit dem Gesetz soll der bisher jährliche Turnus der Neufassung der Netzentwicklungspläne im Strom- und Gasbereich durch einen zweijährigen Planungszeitraum abgelöst werden. Mit dieser von vielen Akteuren und auch Umweltverbänden geforderten Veränderung des Rhythmus sollen die komplizierten parallelen Planungsprozesse der Vergangenheit künftig vermieden werden. Darüber hinaus haben alle Beteiligten, vor allen Dingen auch die Bürgerinnen und Bürger, ausreichend Zeit für die Konsultation der jeweiligen Entwürfe. Damit erhöht die Bundesregierung die Transparenz und auch die Nachvollziehbarkeit der Verfahren zur Ermittlung des Bedarfs für den Aus- und Umbau der Strom- und Gasnetze. Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Ausbau der Stromnetze ist für eine erfolgreiche Energiewende dringend erforderlich. Wir wollen hier vorankommen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein dafür. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung will jetzt die Bedingungen für die Erdverkabelung lockern, unter anderem um Akzeptanz zu schaffen. Das klingt erst einmal nicht schlecht; aber wenn man sich das genau anschaut, muss man feststellen: Auch die Erdverkabelung ist nicht ganz unproblematisch: Erstens eröffnete dieses Gesetz die Möglichkeit, Trassen durch empfindliche Naturräume zu legen, die dafür bislang nicht infrage kamen. Unter Naturschutzgesichtspunkten, Stichwort „Biodiversität“, ist es ganz wichtig, auf diesen Punkt zu achten. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens gibt es die falsche Vorstellung, Erdkabel wären naturverträglich. Doch man muss bedenken, was mit der Erdverkabelung auch zusammenhängt: alle 900 Meter ein Zugangsschacht, eine kaum nutzbare Schneise und 40 Tonnen schwere Kabelrollen, die irgendwie zur Baustelle im sensiblen Gebiet gelangen müssen. Drittens bekomme ich ein ungutes Gefühl, wenn bei einer kritischen Infrastruktur wie dem Übertragungsnetz von technischer Erprobung die Rede ist. Trotzdem sehen wir auch Vorteile der Erdverkabelung: wenn es um den Landschaftsschutz geht. Aber bevor jetzt alle „Hurra!“ zur Erdverkabelung rufen, wäre es wichtig, über den Sinn und Zweck des Netzausbaus generell nochmals nachzudenken. Was wissen wir eigentlich über die Notwendigkeit des Netzausbaus? Wir wissen, was die Übertragungsnetzbetreiber als Bedarf ausgerechnet haben. Wir wissen, dass der marktwirtschaftliche Rahmen dafür auf unbestimmte Zeit so bleiben soll wie heute. Wir wissen, dass sie von einem wachsenden und ungehemmten Stromhandel in Europa ausgehen. Und wir wissen, dass ihre Modellrechnungen die Emissionsziele der Bundesregierung verfehlen. Was wir aber auch wissen, ist, dass die Bundesregierung nichts weiß. (Beifall der Abg. Pia Zimmermann [DIE LINKE]) Wie will die Bundesregierung der Bevölkerung glaubhaft machen, dass der Netzausbau genau so vonstattengehen muss, wenn sie die bestehenden Netzkapazitäten nicht einmal beziffern kann und keine Ahnung hat, in welchem Zustand sich das bestehende Netz befindet? – Das hat sie zumindest auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion geantwortet. Alles, womit die Bundesregierung argumentiert, ist das Ergebnis einer Modellrechnung, die Geschäftsgeheimnis der Übertragungsnetzbetreiber ist und zweifelhafte Annahmen für die Zukunft zugrunde legt. Wenn wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Bedingungen für die Erdverkabelung lockern und den Netzentwicklungsplan auf einen Zweijahresturnus umstellen, dann lassen Sie uns doch noch mehr beschließen: Sorgen wir dafür, dass die Bevölkerung, wir Abgeordnete und auch die Bundesregierung wissen können, womit der Netzbedarf überhaupt errechnet wird. (Beifall bei der LINKEN) Die Netzbetreiber sollen ihre Lastflussdaten und ihre Berechnungsmethodik öffentlich machen. Dann kann man das nachvollzeihen, und wir können auch besser streiten. Die Linke begrüßt es, den Netzbetreibern mehr Zeit für die Erstellung der Netzentwicklungspläne einzuräumen. Die Netzbetreiber sollten diese zusätzliche Zeit nutzen, um Szenarien auszurechnen, mit welchen Maßnahmen der Netzausbau minimiert werden könnte. Das ist wichtig. (Beifall bei der LINKEN) Dann könnten wir den Rahmen an die Erfordernisse anpassen und müssten nicht – wie jetzt – einen Netzausbau für eine überholte Energiepolitik voller Fehlallokationen vorsehen. Denn das möchten die Bürgerinnen und Bürger nicht – vor allem die in Bayern nicht –, und deshalb bekommt die Bundesregierung auch keine Akzeptanz für ihre Mammuttrassen. Eine sinnlose Stromtrasse kann man zwar verlegen – lieber am Nachbarort vorbei oder durch ein anderes Bundesland führen, man kann sie oberirdisch führen oder auch vergraben –, das ändert aber nichts daran, dass sie weiterhin sinnlos ist. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Karl Holmeier für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Karl Holmeier (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Energiewende ist eines unserer größten energiepolitischen Projekte und zugleich eine große Herausforderung. Wir werden sie bewältigen, aber der Erfolg der Energiewende hängt ganz wesentlich auch von der Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern, den Menschen in unserem Land, ab. Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie und der starke Ausbau der erneuerbaren Energien führen dazu, dass Strom vermehrt dezentral und damit fernab der Verbrauchsstellen erzeugt wird. So erfordern die Energiewende und der wachsende europäische Stromhandel in den kommenden Jahren einen umfassenden und beschleunigten Ausbau des deutschen Höchstspannungsnetzes. Auch hinsichtlich der Gasfernleitungsnetze stehen erhebliche Veränderungen an. Ein zentraler Bestandteil der Energiewende ist natürlich die Versorgungssicherheit; sie ist notwendig. Diese kann durch neue Höchstspannungsnetze erreicht werden. Hier gilt, meine sehr verehrten Damen und Herren: So wenig Netzausbau wie möglich, so viel wie nötig. Beim Leitungsausbau stehen Optimierung und Nutzung von Bestandsnetzen vor einem Neubau. Maßstab der Union ist: was Deutschland nutzt, was unsere Wirtschaft braucht und was den Menschen im Land hilft. Energiepolitik ist Mittel zum Zweck und kein Selbstzweck. Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie ist beschlossene Sache. Wir haben die Weichen in Richtung klimafreundliche Energieversorgung gestellt und müssen den Weg nun konsequent fortsetzen. Dazu bedarf es allerdings einer Anpassung der Leitungsinfrastruktur. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf beim gezielten Ausbau der Energieleitungen. Beim Umstieg zu einer umweltschonenden, bezahlbaren und sicheren Energieversorgung müssen wir vor allem eines im Auge behalten: die Akzeptanz bei den Bürgern. Es ist daher richtig und wichtig, dass der Deutsche Bundestag mit den vorliegenden Änderungen des Energieleitungsausbaugesetzes verstärkt auf die Information der Menschen setzt. Wie schon gesagt: Wir werden die Energiewende nur mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes schaffen. Der Bau eines modernen und leistungsfähigen Energieleitungsnetzes muss den Anforderungen und Bedürfnissen der nahen Zukunft entsprechen und angepasst werden. Da gibt es noch einiges zu tun. Um den Netzausbau schneller zu realisieren, müssen wir zum einen die Akzeptanz in der Öffentlichkeit für den Ausbau erhöhen und zum anderen die Errichtung des Netzes durch den Einsatz neuer Technologien erleichtern und damit beschleunigen. Eine verstärkte Erdverkabelung ist dabei ein zentrales Element zur Erhöhung dieser Akzeptanz und erleichtert den erforderlichen Netzausbau. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung von Bestimmungen des Rechts des Energieleitungsbaus leiten wir diese Schritte nun ein. Konkret sieht der vorliegende Gesetzentwurf zum Beispiel folgende wesentliche Änderungen vor: Erstens. Bereits angesprochen wurde ein Turnuswechsel der Netzentwicklungsplanung für den Strom- und für den Gasbereich. Insgesamt hat sich das System der Netzentwicklungsplanung bewährt. Bei der Bedarfsermittlung in der Praxis zeigt sich allerdings, dass es zu zeitlichen Überschneidungen bei der Entwicklung des Szenariorahmens und des Netzentwicklungsplans kommt. Das wollen wir in Zukunft vermeiden, weshalb wir den Turnus für den Strom- und Gasbereich von einem Einjahresrhythmus auf einen Zweijahresrhythmus umstellen. Das führt positiv dazu, dass die Komplexität der Bedarfsermittlung verringert wird. Zudem werden die Verfahren für alle Beteiligten generell transparenter – insbesondere für die Bürgerinnen und Bürger. Die Übertragungs- und Fernleitungsnetzbetreiber werden verpflichtet, in den Kalenderjahren, in denen kein Netzentwicklungsplan vorzulegen ist, einen Umsetzungsbericht vorzulegen. Der Umsetzungsbericht soll im Wesentlichen eine Fortschreibung der Umsetzungsberichterstattung aus den Netzentwicklungsplänen sein. Mit diesen Änderungen werden Anregungen aus der Öffentlichkeitsbeteiligung und von der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden in Europa aufgegriffen. Zweitens. Wir erleichtern die Möglichkeiten zur Teil-erdverkabelung. Bisher wurde der Einsatz von Erdkabeln nur auf einige Pilotprojekte beschränkt. Die restriktive Zulassung der Erdverkabelung wurde zu Recht kritisiert. Aktuell ist eine Teilerdverkabelung bei vier Pilotprojekten von insgesamt 23 im EnLAG genannten Leitungsprojekten möglich – und dies auch nur „auf technisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnitten“. Dies ist zu wenig. Bislang erfolgte die Genehmigung für eine Erdverkabelung nur unter der Voraussetzung einer Siedlungsannäherung auf 200 bis 400 Meter. Eine Ergänzung der Kriterien ist erforderlich. Erdkabel sollen künftig in den Fällen vorgesehen werden können, in denen eine Freileitung gegen bestimmte Bestimmungen des Naturschutzes verstoßen würde. Dies dient dem Arten- und dem Gebietsschutz. Zudem soll eine Erdverkabelung möglich sein, wenn die Leitung eine große Bundeswasserstraße überqueren soll. Es sollten darüber hinaus weitere geeignete Projekte bezüglich einer möglichen Erdverkabelung geprüft werden. In dem heutigen Gesetzentwurf werden noch zu wenige Projekte zur Erdverkabelung vorgesehen. Die Erdverkabelung muss bei allen Trassen möglich sein – zum Schutz von Mensch, Tier und Natur. Neben der Erweiterung der Kriterien sollen weitere Vorhaben als Pilotstrecken für die Erdverkabelung festgelegt werden. Hier sollte vor allem die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, die Erdverkabelung auf einem technisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnitt vorzunehmen. Das sollte auch im Fall eines Ersatzneubaus von Stromtrassen möglich sein und gelten. Daher geht der Gesetzentwurf in die richtige Richtung, da er darauf abzielt, die Erdverkabelung auf technisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnitten auch auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse weiterzuentwickeln und zu erleichtern. Zudem ist es sehr erfreulich und ein wichtiger Fortschritt, dass es künftig grundsätzlich möglich sein soll, auch auf einer längeren Strecke – zum Beispiel von bis zu 20 Kilometern – ein Erdkabel zu verlegen. Ob dies nur als Pilotvorhaben im Rahmen einer 10 bis 20 Kilometer langen Teststrecke getestet werden soll, werden wir im parlamentarischen Verfahren zu klären haben. Weiterhin wird durch eine Erweiterung des Erdkabelbegriffs zukünftig die Möglichkeit geschaffen, im Rahmen der vorgesehenen Pilotvorhaben für Teilverkabelung auch Erfahrungen hinsichtlich anderer technischer Lösungen zur unterirdischen Verlegung von Höchstspannungsleitungen zu sammeln. Ziel der Bemühungen ist eine Beschleunigung des Netzausbaus insgesamt. Bereits weit fortgeschrittene Verfahren sollen durch Umplanungen nicht beeinträchtigt werden. Für bereits laufende Planungsverfahren ist daher eine Übergangsregelung vorgesehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung arbeitet zielstrebig an der Energiewende. Wir werden Deutschland nachhaltig stärken und den Menschen und der Wirtschaft in unserem Land Versorgungssicherheit geben. Ich freue mich daher auf die anstehenden parlamentarischen Beratungen und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Holmeier, Sie haben in Ihrer Redezeit von zehn Minuten vieles Richtige gesagt; da will ich gar nicht widersprechen. Sie haben auch viel Grundsätzliches gesagt. Da Sie schon grundsätzlich über den Netzausbau sprechen, hätte mich die Antwort auf die Fragen, die die ganze Debatte bewegen, interessiert: Wie geht es in Bayern mit der Formel „2 minus x“ weiter? (Karl Holmeier [CDU/CSU]: Wir sind auf einem gute Weg! – Ulrich Freese [SPD]: Fragen Sie mal die Grünen in Bayern!) Ist das, was Sie hier vorgetragen haben, die Position der Union? Sonst redet ja niemand von der Union. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir haben nicht so viel Redezeit!) Die Antworten auf diese Fragen fände ich spannend. Aber um die Antwort drücken Sie sich herum. Man muss sich nichts in die Tasche lügen. Aber es ist doch so: Wir hatten – da muss man in der Vergangenheitsform sprechen – mit dem Bundesbedarfsplangesetz hier einen großen Konsens über den Netzausbau erzielt, und zwar trotz aller Unzulänglichkeiten, die das haben mag. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Den haben wir immer noch!) Aber diesen Konsens gab es, und er war grundsätzlich. Nun wird er infrage gestellt. Man kann sich hier über viele Detailfragen unterhalten. Aber solange diese grundsätzliche Frage nicht gelöst ist, wird im Rahmen des Netzausbaus wenig oder fast gar nichts gelingen. (Ulrich Freese [SPD]: Lesen Sie mal die Süddeutsche Zeitung von heute!) Das ist Ihre Verantwortung als Große Koalition. Darum müssen Sie sich insgesamt kümmern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe hier im Jahr 2012 gestanden und gesagt: Wir brauchen Erdkabel nicht nur für Pilotstrecken, sondern wir brauchen sie im Bundesbedarfsplangesetz, und wir brauchen sie auch im EnLAG. Man kann die Erdverkabelung nicht auf Pilotstrecken beschränken. Das kann man den Menschen nicht erklären. Für diese Forderung bin ich damals beschimpft worden: von allen, auch von euch. (Klaus Mindrup [SPD]: Wirklich? – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Zu Recht! – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Es hieß damals, diese Forderung wäre unverantwortlich. Ich bin froh, dass ein Kollege der CSU hier wörtlich sagt: Wir brauchen überall die Möglichkeit der Erdverkabelung. – Das ist ein Erkenntnisfortschritt. Wenn Sie das schon 2012 erkannt hätten, dann hätten wir uns viele Auseinandersetzungen sparen können, und es hätte viele Akzeptanzverluste beim Netzausbau nicht gegeben. Das sollten Sie sich an dieser Stelle einmal merken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielleicht sind Sie aber mit Ihren Erkenntnissen insgesamt etwas spät dran. Jetzt legen Sie Ihren Gesetzentwurf vor. Darin steht manches Richtige. Ich will mich aber auf die Erdkabel konzentrieren. Anstatt es so zu machen, wie es der Kollege Holmeier vorschlägt, also zu sagen: „Bei jedem -EnLAG-Projekt, das nicht schon in Bau ist, führen wir die Möglichkeit der Erdverkabelung ein“, machen Sie das nur an drei Teilstrecken. Das führt zu folgendem Sachverhalt. Ich nenne einmal ein Beispiel: EnLAG-Projekt Nr. 16 in Gütersloh. Dort soll ein Teilbereich erdverkabelt werden können. Das ist okay. Aber im nächsten Teilabschnitt soll das nicht so sein. Deswegen haben wir alle Post vom Landrat bekommen, der uns fragt: Warum macht ihr das nicht auch im nächsten Teilabschnitt? – Eine Begründung dafür finden Sie im Gesetzentwurf nicht. Sie finden auch keine Begründung dafür, warum es aber bei anderen Leitungen gemacht wird. Ich will jetzt gar nicht vom Wahlkreis von Sigmar Gabriel reden. (Klaus Mindrup [SPD]: Das wäre interessant!) Das ist eine andere Debatte. Aber warum nur bestimmte Strecken für die Erdverkabelung ausgewählt werden, statt zu sagen: „Wir geben diese Möglichkeit allen“, das kann ich nicht nachvollziehen. Völlig irrsinnig wird es dann im schönen Hürth bei Köln. Da gibt es die Leitung Nr. 15: Osterath-Weißenthurm. Auch dieses EnLAG-Projekt ist kein Pilotprojekt. Es handelt sich bei dieser Gegend um eine extrem dicht besiedelte Region, in der keine Erdverkabelung möglich ist. Selbst der Netzbetreiber sagt, er würde das gerne machen. Aber nach den gesetzlichen Regelungen geht das nicht. Stattdessen wird dort jetzt eine Freileitung gebaut. Hinzu kommt die Bundesbedarfsplanleitung. Nach der Rechtslage wäre jetzt prinzipiell eine Erdverkabelung möglich. Das geht aber nicht, weil da schon die EnLAG-Leitung als Freileitung gebaut wird. Meine Damen und Herren, diese Dinge können Sie den Menschen vor Ort nicht mehr erklären. Ich nehme wahr, dass das auch die Abgeordneten der Großen Koalition vor Ort nicht mehr erklären können und sich teilweise dagegen aussprechen. Deshalb werden wir uns mit diesen Fragen auseinandersetzen müssen. Ich sage Ihnen: Das, was Sie in diesem Gesetzentwurf vorgelegt haben, ist keine Antwort auf diese Frage. Wenn Sie das anpacken, dann möchte ich den Kollegen Holmeier beim Wort nehmen. Das heißt in der Konsequenz: Wenn wir uns für die Erdverkabelung entscheiden, dann sollten wir sie für alle EnLAG-Projekte ermöglichen. Das wäre ein Beitrag zur Akzeptanz für den Netzausbau. Da könnten wir vorankommen. Ich bin gespannt, ob das in den Ausschussberatungen vorgeschlagen wird. Wir stehen für konstruktive Debatten zur Verfügung. Sie können an dieser Stelle beweisen, ob Sie es mit dem Netzausbau ernst meinen oder ob Sie sich weiter hinter Paragrafen verstecken und vor Ort eine ganz andere Politik als hier in Berlin machen. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Johann Saathoff das Wort. (Beifall bei der SPD) Johann Saathoff (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Krischer, heute beraten wir den Gesetzentwurf in erster Lesung. Es ist also nicht so, dass wir heute darüber abstimmen müssen, sondern wir sind noch in der Entscheidungsfindung. Ich nehme Ihr Angebot eines konstruktiven Dialogs gerne auf, und ich denke, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten sicherlich noch sehr viel darüber sprechen werden. Klar ist: Wer die Energiewende will, muss auch den Leitungsausbau wollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist untrennbar miteinander verbunden und wird überall anerkannt. Es geht also nicht darum, ob wir die Leitungen ausbauen, sondern darum, wie. Frau Kollegin Bulling-Schröter, wenn Sie von einer sinnlosen Leitung sprechen – ich weiß nicht, ob ich es richtig verstanden habe, dass Sie damit SuedLink meinen –, dann macht mir, ehrlich gesagt, die Allianz in Bayern langsam Sorge. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Das ist gut so! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Koalition CSU/Linke!) Egal von welcher Fraktion es kommt: Von sinnlosen Leitungen zu sprechen und gleichzeitig die Energiewende zu fordern, ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung. Ich habe auch etwas anderes nicht richtig verstanden. Sie sagten, Erdkabel seien nicht wirklich sinnvoll, Stichwort: 40-Tonnen-Schwerlaster. Wenn wir keine Kabel legen und keine Überlandleitungen bauen dürfen, dann müssen Sie mir erklären, wie wir den Strom aus der Nordsee zu Ihnen nach Bayern bringen sollen. Was genau soll geregelt werden? Das hätte ich gerne noch einmal deutlich gemacht, aber ich glaube, das haben wir heute schon dreimal gehört. Deswegen will ich mich auf die zentralen Punkte beschränken. Die zentralen Punkte im Artikelgesetz sind erstens die Erweiterung der Strecken – sie ist für die Energiewende dringend notwendig – und zweitens die breitere Möglichkeit des Einsatzes von Erdverkabelung. Ich habe in den letzten Wochen eine ganze Menge Gespräche mit Bürgerinitiativen geführt. Ob Sie es glauben oder nicht: In diesen Gesprächen kam immer heraus, meist gleich im ersten Satz: Wir akzeptieren, dass durch Deutschland Leitungen gelegt werden müssen; aber bitte akzeptieren Sie dann auch, dass wir diese Leitungen so verlegt haben wollen, dass wir gut damit leben können. – Das ist die Forderung nach Erdkabeln. Die Erdkabel sind eine wesentliche Voraussetzung für die Bürgerakzeptanz. Das ist mittlerweile, glaube ich, allenthalben bekannt. Der Gesetzentwurf schlägt den Weg zu einer Verlegung von mehr Erdkabeln ein. Das ist die richtige Richtung. Die Gründe dafür sind bekannt: gesundheitliche Auswirkungen von Stromleitungen, Wert-erhalt der Grundstücke, Erhalt der Wertschöpfung der Regionen, insbesondere für den Tourismus, und Erhalt des Landschaftsbildes. Dass die Verlegung von Erdkabeln kein großes Problem ist, kann ich am Beispiel meiner Heimat Ostfriesland deutlich machen. Dort werden derzeit viele Erdverkabelungen aus den Offshorewindparks durchgeführt. Dazu gibt es null negative Resonanz aus der Bevölkerung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn man den Erhalt des Landschaftsbildes, der Wertschöpfung beim Tourismus und des Wertes der Grundstücke in die Diskussion um die Mehrkosten der Verkabelung einbezieht, dann, denke ich, wird es eine faire Diskussion. In Ostfriesland würde man sagen: De een hett Knippke, un de anner hett dat Geld. Folglich sollten wir prüfen, ob nicht noch weitere Kriterien für die Erdverkabelung aufgenommen werden sollen. Vielleicht sollten wir sogar – ich weiß, dass ich mich dabei ein bisschen auf dünnem Eis bewege – zumindest bei HGÜ über ein Primat der Erdverkabelung als möglicherweise besseren Weg nachdenken. (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das wäre ein Schritt weiter!) Das wäre jedenfalls bei der Gesamtbetrachtung aller Kosten, angesichts einer möglichen Verzögerung der Umsetzung, die sich ergeben kann, wenn Menschen vor Ort die Leitung nicht wollen, und in Bezug auf die Verfügbarkeit zu überlegen. Wir sollten uns zwischen der ersten und der zweiten Beratung die Zeit nehmen, uns in einer öffentlichen Anhörung die Sicht vor Ort vor Augen zu führen und über die weiteren Entscheidungen nachzudenken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Energiewende wird von den Bürgerinnen und Bürgern getragen. Sorgen wir also dafür, den Leitungsausbau so zu gestalten, dass er von den Bürgerinnen und Bürgern auch akzeptiert werden kann! Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/4655 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes Drucksache 18/4683 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe wiederum dem Kollegen Johann Saathoff für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Johann Saathoff (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nun wissen Sie auch, warum ich gerade nicht schon ein schönes Wochenende gewünscht habe. Seien Sie gewiss: Für mich ist es genauso ungewöhnlich wie für Sie, zwei Reden hintereinander zu halten. Wir versuchen es, und wir bekommen es miteinander hin. Die Energiewende ist ein Projekt, das man nicht einfach einmal per Gesetz beschließt, und dann wird alles gut. Das erzähle ich immer wieder, wenn wir Besuch von ausländischen Delegationen bekommen, die teils sehr euphorisch zu uns in den Wirtschaftsausschuss kommen. Erst fragen sie: Meint ihr das eigentlich ernst mit der Energiewende? – Wenn wir das bejahen, dann fragen sie: Wie bekommt ihr das eigentlich hin? – Die Euphorie wird leicht gebremst, wenn man darüber berichten muss, dass es nicht reicht, ein Gesetz zu verabschieden, damit die Energiewende stattfindet, sondern dass man während des Prozesses der Energiewende ständig nachjustieren muss. Wir haben es bei der Energiewende ganz oft mit Anpassungsbedarfen zu tun, aber nicht deshalb, weil das Gesetz etwa schlecht wäre, was man ab und an hört, sondern weil sich die Rahmenbedingungen auch aufgrund des guten Gesetzes, das vorher verabschiedet wurde, verändern. Was soll in diesem Rahmen neu geregelt werden? Wir werden zwei Branchen in die Besondere Ausgleichsregelung wieder aufnehmen, nämlich solche, die sich mit der Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, also der Wärmebehandlung von Stahl, befassen. Das betrifft insbesondere die Unternehmen der Umformung, zum Beispiel den in Deutschland wichtigen Karosseriebau. Diese Branchen erfüllen nach den neuesten Erkenntnissen die Voraussetzungen, die wir im letzten Jahr formuliert haben: Sie haben nämlich eine Handelsintensität von 4 Prozent und eine Stromkostenintensität von 20 Prozent. Die Branchen, die diese Voraussetzungen erfüllen, dürfen nicht schlechtergestellt werden. Es ist nur gerecht, dass sie mit aufgenommen werden. Der zweite Bereich, den wir ändern wollen, ist die anteilige Direktvermarktung. Auch darüber haben wir im letzten Jahr – ich kann mich gut erinnern – im Sommer lange miteinander gesprochen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Mehrere Anlagen werden zum Beispiel in einem Windpark an einem Netzverknüpfungspunkt angeschlossen. Bisher war nur die Direktvermarktung insgesamt möglich; man konnte es nicht aufteilen. Nun ist das auch anteilig möglich. Die durch die alte Regelung, durch die Verhinderung der anteiligen Direktvermarktung, entstandenen wirtschaftlichen Nachteile sollen nun ausgeglichen werden. Auch das ist nur mehr als gerecht. (Beifall bei der SPD) Die weiteren Regelungsinhalte sind eher unspannend. Dabei haben wir im Moment gar keinen Mangel an spannenden Themen. Deswegen will ich dazu etwas sagen. Zuerst zum nationalen Klimabeitrag. Das 40-Prozent-Ziel war Konsens; es steht im Koalitionsvertrag. Die Einsparung von 22 Millionen Tonnen CO2 ist seit dem Kabinettsbeschluss vom Dezember bekannt. Im Dialog mit der Kraftwerkswirtschaft haben wir Lösungen zu finden. Dieser Dialog hat endlich begonnen. Das ist etwas, was wir begrüßen können. Klar ist: An der zusätzlichen Einsparung von 22 Millionen Tonnen führt kein Weg vorbei. Wie bei den Energieleitungen würde ich aber auch hier sagen: Es geht nicht um das Ob, sondern um das Wie. Um das Wie ausreichend beleuchten zu können, fehlen im Moment die Alternativvorschläge. Fragen sind zwar besser als Antworten – Stichwort: „Günther Jauch“ –, aber das reicht nicht. Wir alle wissen, dass dieses Wochenende zwei große Demonstrationen in Berlin und in der Lausitz stattfinden. Wir werden diesen Menschen verantwortungsvoll gegenübertreten müssen, und wir werden mit ihnen zusammen eine Lösung finden müssen. Wir werden die Alternativvorschläge, die von diesen Menschen kommen, bewerten und abwägen müssen, um gemeinsam zu einer Lösung zu kommen. Wir wollen nämlich nicht, dass durch die Einsparung von 22 Millionen Tonnen CO2, wie von vielen befürchtet – die Sorgen muss man ernst nehmen –, Strukturbrüche entstehen. Die tatsächlichen direkten Auswirkungen auf jedes der 1 500 Kraftwerke in Deutschland sind noch nicht kalkuliert. Sie müssten die Grundlage für eine faire Bewertung jedes Vorschlages bilden. Wir wollen die Menschen, die in der Stromversorgung arbeiten, mitnehmen. Das sind wir ihnen schuldig. Darauf können sie sich auch verlassen. Deswegen sind Alternativvorschläge gerne gesehen, Alternativvorschläge von der Wirtschaft, von den Gewerkschaften, von den Umweltverbänden und auch von den Bürgerinnen und Bürgern. Durch die Diskussion zum Klimabeitrag gerät die Diskussion zum Strommarktdesign völlig in den Hintergrund. Man kann sich fragen: Ist dies gut, oder ist es schlecht? – Das Grünbuch liegt vor; wir sind in der Phase, in der die Reaktionen ausgewertet werden. Wir stehen vor der Erarbeitung des Weißbuches durch das Ministerium, und ich habe bisher in der gesamten Diskussion keine grundsätzlichen Bedenken gegen den Strommarkt 2.0 vernommen. Es gibt einige, die grundsätzliche Bedenken haben; jedoch haben sie diese aus meiner Sicht nicht ausreichend begründet. Einigkeit besteht in großen Teilen bei den sogenannten Sowieso-Maßnahmen: Die Spot- und Regelleistungsmärkte sollen weiterentwickelt werden. Wir alle wissen: Dort steckt Potenzial. Ferner ist die EU-Marktkopplung zu vergrößern. Darüber sind wir uns weitestgehend einig. Alternative Anbieter von Regelleistungen sollen zugelassen werden. Dafür würde ich eine breite Mehrheit prognostizieren wollen. Es geht außerdem darum, die Bilanzkreisverantwortung zu stärken und dadurch Effizienz zu schaffen. Ich glaube, hier sind wir uns im Großen einig. Dann sollen die Stromnetze ausgebaut werden, und dabei ist auch auf die Bürgerakzeptanz zu achten. Darüber haben wir gerade gesprochen. Schließlich soll die einheitliche Preiszone erhalten bleiben, und die europäische Kooperation soll intensiviert werden. Auch hier kann ich, so glaube ich, eine breite Mehrheit im Hause sehen. Die energiepolitische Gemengelage ist derzeit nicht einfach, keine Frage. Darüber, dass sie nicht einfach ist, können wir uns einig sein. Trotzdem sollten wir die Dinge, bei denen Einigkeit besteht – ich habe sie gerade benannt –, zügig abarbeiten und nicht warten, bis endgültig weißer Rauch bei allen Fragen aufsteigt. Dass wir jetzt in der Energiewende zügig weiterarbeiten, das können die Bürger von uns erwarten; denn sie haben die Energiewende insgesamt eben auch gewollt. Dazu gehört auch das KWKG. Die Positionen liegen aus meiner Sicht nicht weit auseinander. Herr Krischer, bevor Sie eine Zwischenfrage stellen, sage ich es lieber gleich: Wir haben einen doppelten CO2-Einspareffekt. Ich habe schon in meiner letzten Rede dazu über die Möglichkeit eines Wärmebonus gesprochen. Auf jeden Fall müssen wir das Potenzial des KWKG in der Verbindung mit den regenerativen Energien sehen und das stärken. Ich könnte mir also vorstellen, dass zu KWKG-Anlagen auch thermische Solaranlagen mit Speichern gehören. Diese Speicher können auch eine nicht unbedeutende Rolle bei der Energiewende spielen, nämlich dann, wenn wir zu viel Strom im Netz haben. Die Themen sind kompliziert. Normal ist, dass die Opposition und die die Regierung tragende Koalition unterschiedliche Ansichten vertreten. Beide sind gut beraten, einander gut zuzuhören. De een kann rieden, un de anner hett dat Peerd, heißt es in Ostfriesland, wenn Entscheidungen getroffen werden. Viele Entscheidungen wollen gut abgewogen und gut überlegt sein. Einige können wir bereits jetzt treffen, damit wir die von den Bürgerinnen und Bürgern gewünschte Energiewende weiter fortführen können. Und nun wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich hätten die Industrierabatte beim Ökostrom zurückgefahren werden sollen, so hieß es vor gut einem Jahr, kurz vor der EEG-Reform 2014. Damals hatte EU-Kommissar Almunia wegen der Industrieprivilegien das ganze EEG als unerlaubte Beihilfe infrage gestellt. Gabriel und Almunia einigten sich schließlich, aber das Ergebnis war eine böse Überraschung: Die Industrieprivilegien sind nicht beschränkt, sondern sogar noch ausgeweitet worden. Zum Tausch wurde das EEG gefleddert: Ausschreibungen für die Erneuerbaren ohne Not schon ab 2017 und die Pflicht zur Direktvermarktung. So wurde im EEG quasi die eigene Abschaffung festgelegt. Ich finde, das war ein zu hoher Preis. (Beifall bei der LINKEN) Aber die Industrie sollte ja um jeden Preis ihre Vorteile behalten. 90 Prozent des produzierenden Gewerbes können heute Anträge stellen. Wer 4 bis 10 Prozent Handel mit dem Ausland treibt und als stromintensiv gilt, bekommt bei der EEG-Umlage Rabatte. Die so privilegierten Hersteller können also mit staatlicher Unterstützung diejenigen Hersteller niederkonkurrieren, die nur für das Inland produzieren. Für gerecht halte ich das nicht. (Beifall bei der LINKEN) Die 4,8 Milliarden Euro Industrieentlastung werden von den übrigen Verbraucherinnen und Verbrauchern gestemmt – auch an dieser Stelle ein Sozialprogramm für die Industrie sondergleichen. Man hätte die EEG--Reform nutzen können, um die Industrieprivilegien auf ein sinnvolles Maß zurückzustutzen; darüber haben wir x-mal diskutiert. Das ist total versäumt worden. Stattdessen halten immer mehr Branchen die Hand auf, nun auch die Hersteller von Türklinken und Armaturen und allerlei Stanz- und Prägeteilen. Sigmar Gabriel wird die Geister, die er selber rief, nicht mehr los. Es ist nur gerecht, wenn die dann auch etwas fordern und bekommen. Hunderttausende Arbeitsplätze in der energieintensiven Industrie seien sonst gefährdet, so redete Gabriel -damals. Wenn jemand mit 100 000 Arbeitsplätzen argumentiert, dann, finde ich, sollte man immer sehr hellhörig sein. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wohl wahr!) Allmählich muss man sich schon fragen, ob nicht auch die Existenz der energieintensiven Friseurbetriebe, der familiengeführten Kleinstbäckereien und, und, und gefährdet ist, weil sie den Strompreis vielleicht nicht zahlen können. Wie soll man rechtfertigen, dass sie keine Privilegien bekommen, liebe Kolleginnen und Kollegen? (Beifall bei der LINKEN) Just in diesen Tagen fliegen Minister Gabriel wieder angebliche 100 000 Arbeitsplätze um die Ohren. Diesmal mobilisieren Kohlelobby, IG BCE und Verdi. Auch dies sind, sage ich, die Geister, die der Minister selber rief. Wenn morgen hier in Berlin von den Gewerkschaften mit der angeblichen Gefährdung von 100 000 Arbeitsplätzen Stimmung gegen die Klimaabgabe gemacht wird, ist das genauso schief, wie es damals Gabriels Arbeitsplatzzahlen bei der energieintensiven Industrie waren. Der Klimabeitrag ist eine notwendige Abgabe für die dreckigsten und ältesten Kohlemeiler, um einen bescheidenen Beitrag dazu zu leisten, die Klimakatastrophe aufzuhalten; die trifft uns alle. Die Mobilisierung der Kohlelobby gegen den Klimabeitrag ist umso absurder, wenn man weiß, dass auch die Braunkohletagebaue nach wie vor privilegiert sind. Sie sind aufgrund von Eigenverbrauch komplett von der EEG-Umlage befreit. Das sind jährlich Hunderte Millionen Euro Subventionen für die klimaschädlichste Form der Stromerzeugung, und das ist schlicht unfassbar. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nichtsdestotrotz ist klar: Wir müssen für alternative Arbeitsplätze sorgen. Ich verstehe die Probleme und Sorgen der Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen wirklich etwas tun (Dagmar Ziegler [SPD]: Machen Sie doch mal Vorschläge!) und ihnen auch die Ängste nehmen, um das hier noch einmal klar und deutlich zu sagen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Andreas Lenz das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bulling-Schröter, nur kurz zu den Begrifflichkeiten. Konkurrenz kann nur bestehen, wenn man im Wettbewerb steht. Ich habe noch nicht erlebt, dass Härtereien mit Friseuren im Wettbewerb stehen. Dies vielleicht zur Klarstellung der Begrifflichkeiten, sodass man in der Sache diskutieren kann. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Aha, gut!) Mit dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sorgen wir dafür, dass energieintensive Unternehmen aus den Branchen Schmieden, Oberflächenveredelung und Härtereien die Besondere Ausgleichsregelung in Anspruch nehmen können. Damit können die betroffenen Unternehmen von der EEG-Umlage entlastet werden. Es geht um rund 80 Unternehmen, für die wir so Planungs- und Investitionssicherheit schaffen. Zudem enthält der Gesetzentwurf eine Klarstellung zur anteiligen Direktvermarktung. Mit der Reform des EEG im vergangenen Jahr sind wir bei der Energiewende einen wichtigen Schritt vorangekommen. Wir haben einen planbaren und verlässlichen Ausbaupfad geschaffen. Wir werden bis 2025 einen Anteil der erneuerbaren Energien im Strombereich von 40 bis 45 Prozent und bis 2035 von 55 bis 60 Prozent haben. Das Sinken der EEG-Umlage auf 6,17 Cent pro Kilowattstunde sowie der Rückgang der Strompreise sind gute Signale. Millionen von privaten Haushalten profitieren davon. Der Erfolg der Energiewende muss sich aber auch daran messen lassen, dass Deutschland ein wettbewerbsfähiger Wirtschafts- und Industriestandort bleibt. Dazu sind Sonderregelungen für die stromintensiven Indus-trien schlichtweg erforderlich. Die europafeste Reformierung der Besonderen Ausgleichsregelung war deshalb ein Schwerpunkt bei der Novelle des EEG. Wir kümmern uns um den Industriestandort Deutschland. Uns sind die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplätze im Industriebereich wichtig. Oft wird gesagt, die Industrie leiste keinen Beitrag für die Energiewende. Das ist weit gefehlt. Die deutsche Industrie zahlt 7,4 Milliarden Euro EEG-Umlage. Das ist nahezu so viel, wie die privaten Haushalte insgesamt bezahlen. Die Industrie trägt somit knapp ein Drittel der Gesamtkosten der EEG-Umlage. Übrigens bezahlen die Industrie, der Handel und das Gewerbe über die Hälfte der EEG-Umlage. Ohne die Besondere Ausgleichsregelung für strom-intensive Unternehmen würde die EEG-Umlage für 2014 lediglich um 1,36 Cent pro Kilowattstunde geringer ausfallen. Hinsichtlich der jetzt zu treffenden Änderungen für die Härtereien würde die Minderbelastung lediglich bei etwa 0,001 Cent pro Kilowattstunde liegen. Die zusätzliche Belastung für die übrigen Umlagezahler hält sich also in engen Grenzen. Der Nutzen für die betroffenen Unternehmen und die damit verbundenen Arbeitsplätze ist dafür umso höher. Ohne die Besondere Ausgleichsregelung würde ein privater Haushalt zwar im Schnitt circa 55 Euro pro Jahr weniger bezahlen, wegen der zu erwartenden Wohlstandsverluste würde das real verfügbare Einkommen jedoch im Durchschnitt um rund 500 Euro pro Jahr sinken. Gerne wird auch die Mär verbreitet, Deutschland habe im Vergleich niedrige Industriestrompreise. Lassen Sie mich dazu aus dem kürzlich vorgelegten Fortschrittsbericht zur Energiewende zitieren: Die durchschnittlichen Strompreise für Industriekunden liegen in Deutschland in weiten Teilen über dem EU-Durchschnitt und deutlich über den Strompreisen in den USA. Es besteht die Gefahr, dass hohe Stromkosten zu einer schleichenden Deindustriealisierung und zu Arbeitsplatzverlusten in Deutschland führen. Bereits heute ist die Investitionstätigkeit der energieintensiven Industrie in Deutschland chronisch schwach. Wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt, wurde im vergangenen Jahrzehnt nicht einmal ausreichend investiert, um den Verschleiß der Produktionsstätten auszugleichen. Wir brauchen also gerade für energieintensive Unternehmen einen verlässlichen Rahmen für Investitionen. Diesen haben wir durch die Besondere Ausgleichsregelung europarechtlich sicher geschaffen. Auch für Härtereien und Schmieden liegen die entsprechenden Voraussetzungen vor. Deshalb weiten wir jetzt endlich auch die Besondere Ausgleichsregelung auf diese Branche aus. Es ist übrigens Unsinn, in diesem Zusammenhang von Dienstleistungen zu sprechen. Die Branche verfügt über eine hohe industrielle Wertschöpfungstiefe. Es gibt auch andere Branchen, die die Kriterien erfüllen könnten. Dies gilt es, jetzt im Gesetzgebungsverfahren zu prüfen. Was bedeutet die Aufnahme der Härtereien konkret? Ich habe hierzu in dieser Woche mit einem betroffenen Unternehmer aus Schwaben gesprochen. Aus der AG habe ich ja nun hinreichende Schwäbischkenntnisse und habe den Gesprächspartner dementsprechend auch verstanden. (Heiterkeit – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sind das für interessante Mitteilungen?) Das Unternehmen hat seit über einem Jahr eine Baugenehmigung für eine weitere Fertigungshalle. Pläne wurden bis jetzt auf Eis gelegt. Nach Aufnahme wird die Härterei jetzt 200 neue Arbeitsplätze schaffen und zusätzlich Arbeitsplätze sichern können. Bei einem Stromverbrauch von 50 Millionen Kilowattstunden beträgt die Entlastung für das Unternehmen rund 500 000 Euro im Jahr, Geld, das jetzt für Zukunftsinvestitionen für den Erhalt und Aufbau von Arbeitsplätzen zur Verfügung steht. Wir finden das richtig. Mit dem Änderungsgesetz ist auch eine Klarstellung im Bereich der anteiligen Direktvermarktung verbunden. Auch zukünftig wird es möglich sein, bei der anteiligen Direktvermarktung eine gemeinsame Messeinrichtung zu verwenden. Gerade Windparks profitieren davon. Missbrauchsgefahren entstehen dadurch nicht. Daher ist es richtig, dass wir nun diese Klarstellung im Gesetz vornehmen. Ansonsten hätten einzelne Betroffene auch hier massive Einschnitte zu erwarten gehabt. Daran sehen wir: Wir betreiben eine ausgewogene Energiepolitik. Wir kümmern uns um sachgerechte Lösungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die Energiewende voranbringen, ohne dabei Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in unserem Land zu überfordern. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung stehen hinter der Energiewende. Das soll auch so bleiben. Das Änderungsgesetz ist ein wichtiger und sinnvoller Beitrag zur langfristigen Planung und zur Investitions-sicherheit für die energieintensive Industrie in Deutschland. Künftig müssen wir die erneuerbaren Energien noch mehr an den Markt heranführen. Die Ergebnisse der ersten Ausschreibungen im Photovoltaikbereich sind vielversprechend. Wir werden diese jedoch genau prüfen. Zudem gilt es, die Systemdienlichkeit stärker zu berücksichtigen: Wo macht der Zubau welcher erneuerbaren Energien Sinn? Die Kraft-Wärme-Kopplung muss auch zukünftig eine wichtige Rolle im Konzert der Maßnahmen für das Gelingen der Energiewende spielen. Herr Saathoff hat das natürlich schon ausgiebig formuliert. Das war eines der wenigen Dinge, die ich verstanden habe. Beim Friesischen war ich nicht so – – (Ulrich Freese [SPD]: Das war Plattdütsch!) – Beim Plattdeutschen – da fängt es schon an – war ich nicht so kundig. (Ulrich Freese [SPD]: Wenn das Schwäbisch klappt, dauert das Friesische nicht mehr lange!) – Genau! Aber es gibt ja Hoffnung, dass ich auch beim Plattdeutschen noch Erkenntnisgewinne erlangen werde. Weiterhin beschäftigt uns – wir haben das schon gehört – die Ausgestaltung des künftigen Strommarktdesigns in Deutschland. Die ersten Vorschläge dazu liegen hier auf dem Tisch. Es gilt nun, intensiv zu diskutieren. Da gibt es durchaus noch Diskussionsbedarf. Wir sollten den Mut zu marktwirtschaftlichen Ansätzen für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit haben. Gleichzeitig ist die damit verbundene Kapazitätsreserve so auszugestalten, dass die notwendigen Kapazitäten auch flächendeckend verteilt vorhanden sind. Bei allen nationalen Anstrengungen ist zudem eine enge Koordinierung auf europäischer Ebene notwendig. Es gibt nach wie vor viel zu tun. Wir stellen uns den Aufgaben und finden – wie jetzt bei den Härtereien und der anteiligen Direktvermarktung – verantwortliche Lösungen. Ein schönes Wochenende! Für mich war es die letzte Rede! Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Dr. Julia Verlinden für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrte Damen und Herren! Vor nicht einmal einem Jahr haben wir bzw. Sie als Große Koalition die Änderungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes verabschiedet. Heute müssen wir uns schon wieder mit einer Änderung dieses Gesetzes befassen. Wieder geht es darum, dass die Industrieprivilegien ausgeweitet werden, also mehr Unternehmen als bisher bei der EEG-Umlage begünstigt werden. Ich erwarte, dass die Bundesregierung ab sofort mehr Elan an den Tag legt und sich bei den energiepolitischen Themen, wo auch die Bürgerinnen und Bürger profitieren – zum Beispiel diejenigen, die sich für die Energiewende engagieren –, mehr einsetzt. Es gäbe wirklich -genug Bedarf, beim Erneuerbare-Energien-Gesetz nachzusteuern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weil die Zeit knapp ist, nenne ich Ihnen beispielhaft nur drei Punkte: Erstens. Sie haben uns einen Ersatz für das weggefallene Grünstromprivileg versprochen. Zurzeit kann Ökostrom aus deutschen EEG-Anlagen nicht als solcher verkauft werden. Das heißt, der wertvolle Grünstrom verschwindet im diffusen Graustrom. Für die Akzeptanz der Energiewende – auch für Integration der erneuerbaren Energien – ist aber ein Grünstromvermarktungsmodell wichtig. Es liegen inzwischen mehrere Vorschläge vor. Deshalb frage ich Sie von der Bundesregierung, wann Sie hier endlich aktiv werden. Es gab zweitens auch noch den Vorschlag eines Mieterstrommodells, bei dem auch Mieter, die sich keine eigene Solaranlage auf das Dach setzen können, mehr von der Energiewende profitieren. Auch hierzu hören wir von der Regierung nichts. Drittens besteht dringender Handlungsbedarf bei der Photovoltaik. Der Ausbau ist inzwischen auf 1 800 Megawatt im Jahr eingebrochen. Wenn wir nur die letzten sechs Monate betrachten, ergibt sich noch etwas Gravierenderes. Es wäre dann, hochgerechnet auf das Jahr, nur noch ein Ausbau von 1 200 Megawatt. Eigentlich wollte die Bundesregierung das Doppelte pro Jahr erreichen. Das heißt also, Sie müssen Maßnahmen ergreifen, um überhaupt Ihr eigenes, selbstgestecktes Ziel zu erreichen. Wir erwarten da Vorschläge von Ihrer Seite. Es ist dringend nötig, bei der Energiewende voranzukommen, weil wir den Mix aller erneuerbaren Energien brauchen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Grundsätzlich scheint bei Ihnen in der Koalition gerade so einiges schiefzulaufen. Kaum macht Minister Gabriel einen halbwegs vernünftigen Vorschlag zur Begrenzung des CO2-Ausstoßes in der Energiewirtschaft, schon malt die Braunkohleindustrie den drohenden Verlust von Zehntausenden Arbeitsplätzen an die Wand. Das sind wirklich abenteuerliche Berechnungen. Die CDU – namentlich Herr Fuchs und Herr Kauder – stellten sich gegen diese Pläne auf. Nun stehen Sie vor einem Problem; denn die Braunkohle emittiert allein genauso viel CO2, wie im Rahmen des CO2-Budgets für das Jahr 2050 überhaupt nur vorgesehen ist. Das heißt, die Abschaltung der Braunkohlekraftwerke ist unausweichlich, wenn Sie denn Ihre eigenen Klimaziele nicht aufgeben wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]) Es ist jetzt Ihre Pflicht, den Strukturwandel einzuleiten und zu gestalten, statt wie Rumpelstilzchen mit dem Fuß aufzustampfen und Nein zu schreien. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Heute war in der Zeitung zu lesen, dass die Energiewende unter dem Strich viele neue zusätzliche Arbeitsplätze bringt. Besonders hilfreich sei, wenn am dezentralen Ausbau des Ökostroms vor allem kleine und mittlere Unternehmen beteiligt sind. Wenn die Bundesregierung im Bereich Wärme- und Energieeffizienz endlich einmal aus den Puschen kommen würde, könnten hier noch sehr viel mehr Jobs entstehen, heißt es in dieser zitierten Studie. Der notwendige Strukturwandel kommt sowieso. Deswegen sollte die Politik ihn nun aktiv gestalten, auch arbeitsmarktpolitisch. Es wäre doch Ihre Aufgabe, auf die Sorgen der Menschen einzugehen, ihnen ganz konkrete Angebote zu machen. Doch stattdessen gießt die Union ständig neues Öl ins Feuer, missbraucht ganz populistisch die Angst der Menschen und hintertreibt die Pläne ihres eigenen Koalitionspartners. Da sind Sie von der Union ausnahmsweise einmal auf einer Linie mit den Gewerkschaften, die in dieser Debatte mit Zahlen operieren, die wirklich jeglicher Grundlage entbehren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Ulrich Freese [SPD]: Kennen Sie bessere?) – Ja. (Ulrich Freese [SPD]: Sie kennen bessere!) – Ja. Schauen Sie einmal in die Studie des Umweltbundesamtes, die heute Morgen in der Zeitung stand: 4 700 Arbeitsplätze. (Ulrich Freese [SPD]: Ich lade Sie gerne ein!) Laut Koalitionsvertrag wollen Sie beide – SPD und Union – die Energiewende. Aber dann überzeugen Sie die Menschen! Nehmen Sie sie mit! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Ulrich Freese [SPD]: Wo waren Sie in den letzten 25 Jahren? Ich hätte Sie gerne mitgenommen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksacke 18/4683 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 6. Mai 2015, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich schließe mich all den guten Wünschen für das Wochenende an. (Schluss: 16.17 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Albsteiger, Katrin CDU/CSU 24.4.2015 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 24.4.2015 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 24.4.2015 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 24.4.2015 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 24.4.2015 Gröhe, Hermann CDU/CSU 24.4.2015 Groth, Annette DIE LINKE 24.4.2015 Grund, Manfred CDU/CSU 24.4.2015 Hartmann (Wackernheim), Michael SPD 24.4.2015 Hochbaum, Robert CDU/CSU 24.4.2015 Dr. Högl, Eva SPD 24.4.2015 Hunko, Andrej DIE LINKE 24.4.2015 Irlstorfer, Erich CDU/CSU 24.4.2015 Kassner, Kerstin DIE LINKE 24.4.2015 Keul, Katja BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 24.4.2015 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 24.4.2015 Dr. Krings, Günter CDU/CSU 24.4.2015 Kühn (Tübingen), Christian BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 24.4.2015 Dr. Lauterbach, Karl SPD 24.4.2015 Dr. von der Leyen, Ursula CDU/CSU 24.4.2015 Meiwald, Peter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 24.4.2015 Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 24.4.2015 Rebmann, Stefan SPD 24.4.2015 Dr. Rosemann, Martin SPD 24.4.2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 24.4.2015 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 24.4.2015 Schimke, Jana CDU/CSU 24.4.2015 Schlecht, Michael DIE LINKE 24.4.2015 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 24.4.2015 Vogel (Kleinsaara), Volkmar CDU/CSU 24.4.2015 Werner, Katrin DIE LINKE 24.4.2015 Zertik, Heinrich CDU/CSU 24.4.2015 Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 932. Sitzung am 27. März 2015 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Fünftes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzgebung und anderer Gesetze (5. SGB IV- ÄndG) Der Bundesrat hat ferner nachstehende Entschließung gefasst: 1. Der Bundesrat begrüßt, dass im Rahmen der Assistierten Ausbildung mit dem vorliegenden Gesetz ein wichtiger Schritt hin zu einer besseren Unterstützung förderungsbedürftiger junger Menschen und deren Ausbildungsbetriebe erfolgt. Dadurch könnten mehr erfolgreiche Abschlüsse der Berufsausbildung erreicht werde. 2. Die Kammern unterhalten, wie auch gesetzlich festgelegt, sogenannte Ausbildungsberater. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, bei der Umsetzung des Gesetzes dafür Sorge zu tragen, dass die Betreuer der Assistierten Ausbildung während der Berufsausbildung mit diesen Ausbildungsberatern verstärkt zusammenarbeiten. – Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst – Gesetz zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr (Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz – BWAttrakt StG) – Gesetz zur Dämpfung des Mietanstiegs auf angespannten Wohnungsmärkten und zur Stärkung des Bestellerprinzips bei der Wohnungsvermittlung (Mietrechtsnovellierungsgesetz – MietNovG) Der Bundesrat hat ferner folgende Entschließung gefasst: Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, für eine praxistaugliche Ausgestaltung der im Wirtschaftsgesetz 1954 (WiStrG 1954) enthaltenen Regelungen zur unangemessenen Mietpreisüberhöhung Sorge zu tragen, da es sich hierbei nach wie vor um ein notwendiges Instrument zum Schutz der Mieter vor überhöhten Mieten handelt. Bei der erforderlichen Überarbeitung bietet sich der Rückgriff auf Ziffer 8 des Beschlusses des Bundesrates vom 7. November 2014, BR-Drucksache 447/14 (Beschluss), an. Begründung: Nach § 5 Absatz 1 WiStrG 1954 handelt ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder leichtfertig für die Vermietung von Räumen zum Wohnen oder damit verbundene Nebenleistungen unangemessen hohe Entgelte fordert, sich versprechen lässt oder annimmt. Es handelt sich um ein sogenanntes Verbotsgesetz gemäß § 134 BGB, sodass die Erfüllung des Ordnungswidrigkeitstatbestandes durch den Vermieter im Sinne eines umfassenden Mieterschutzes zugleich zivilrechtliche Rückzahlungsansprüche des Mieters -begründen kann. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung für die Bestimmung eines „unangemessenen Entgelts“ an die Tatbestandsmerkmale „Ausnutzung eines geringen Angebots an vergleichbaren Räumen“ geknüpften Voraussetzungen haben jedoch dazu geführt, dass nach einhelliger Meinung die Norm in der heutigen Fassung für die Praxis untauglich ist. Die Überarbeitung der oben genannten Norm ist auch nicht durch die im Mietrechtsnovellierungsgesetz vorgesehenen Neuregelungen im BGB zur Begrenzung der Wiedervermietungsmiete entbehrlich geworden. Da hiernach selbst der vorsätzlich handelnde Vermieter eine gesetzeswidrig überhöhte Miete nur zurückzahlen muss, wenn der Mieter einen Verstoß gegen die Regelungen der §§ 556d ff. BGB gerügt hat und die zurückverlangte Miete nach Zugang der Rüge fällig geworden ist (§ 556g Absatz 2 Satz 1 BGB), sind zum Schutz der Mieter weitere Regelungen im Wirtschaftsgesetz 1954 geboten. – Gesetz zur Bevorrechtigung der Verwendung elektrisch betriebener Fahrzeuge (Elektromobilitätsgesetz – EmoG) – Gesetz zu dem Abkommen vom 19. September 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik der Philippinen über Soziale -Sicherheit – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 11. April 2014 über die Beteiligung der Republik Kroatien am Europäischen Wirtschaftsraum Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mitgeteilt, dass sie den Antrag Internationale Förderung von Kohlekraftwerken beenden auf Drucksache 18/2623 zurückzieht. Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Ausschuss für Wirtschaft und Energie – Unterrichtung durch die Bundesregierung Zwölfter Bericht der Bundesregierung über die Aktivitäten des Gemeinsamen Fonds für Rohstoffe und der einzelnen Rohstoffabkommen Drucksachen 18/3725, 18/3890 Nr. 2 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Eine Agenda für den Wandel zu nachhaltiger Entwicklung weltweit – Die deutsche Position für die Verhandlungen über die Post 2015-Agenda für nachhaltige Entwicklung Drucksachen 18/3604 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/4152 Nr. A.2 Ratsdokument 5096/15 Drucksache 18/4375 Nr. A.1 Ratsdokument 6031/15 Innenausschuss Drucksache 18/3362 Nr. A.3 Ratsdokument 14911/14 Drucksache 18/3362 Nr. A.4 Ratsdokument 14915/14 Drucksache 18/3765 Nr. A.3 Ratsdokument 15783/14 Haushaltsausschuss Drucksache 18/3898 Nr. A.13 Ratsdokument 14886/14 Drucksache 18/4152 Nr. A.4 Ratsdokument 5317/15 Drucksache 18/4152 Nr. A.5 Ratsdokument 5375/15 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/4375 Nr. A.5 EP P8_TA-PROV(2015)0034 Verteidigungsausschuss Drucksache 18/4152 Nr. A.8 Ratsdokument 17036/1/14 REV 1 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Drucksache 18/1048 Nr. A.15 Ratsdokument 7220/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.55 Ratsdokument 11592/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.56 Ratsdokument 11598/14 Drucksache 18/2845 Nr. A.11 Ratsdokument 12867/14 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Drucksache 18/3765 Nr. A.14 EP P8_TA-PROV(2014)0066 Drucksache 18/4375 Nr. A.8 EP P8_TA-PROV(2015)0040 II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung, Berlin, Freitag, den 24. April 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung, Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9659 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 38. Sitzung – 4. April 2003 4 9734 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung, Berlin, Freitag, den 24. April 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung, Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9735