Plenarprotokoll 18/103 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 103. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 I n h a l t : Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 9779 A Absetzung der Tagesordnungspunkte 19 b und 19 c 9779 D Nachträgliche Ausschussüberweisung 9780 A Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wasser- und naturschutzrechtlicher Vorschriften zur Untersagung und zur Risikominimierung bei den Verfahren der Fracking-Technologie Drucksache 18/4713 9780 B b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausdehnung der Bergschadenshaftung auf den Bohrlochbergbau und Kavernen Drucksache 18/4714 9780 B c) Antrag der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verbot von Fracking in Deutschland Drucksache 18/4810 9780 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Annalena Baerbock, Dr. Julia Verlinden, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst nehmen – Bundesberggesetz unverzüglich reformieren Drucksachen 18/848, 18/1124 9780 C Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin BMUB 9780 D Hubertus Zdebel (DIE LINKE) 9782 C Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) 9784 B Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9786 B Olaf Lies, Minister (Niedersachsen) 9787 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) 9789 D Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) 9791 A Marco Bülow (SPD) 9792 A Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9792 D Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9793 D Dr. Matthias Miersch (SPD) 9795 A Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU) 9796 A Bernd Westphal (SPD) 9797 D Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9798 B Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) 9799 B Frank Schwabe (SPD) 9800 D Karsten Möring (CDU/CSU) 9801 D Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel: Eingedenk der Vergangenheit die gemeinsame Zukunft gestalten Drucksache 18/4803 9803 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 50 Jahre deutsch-israelische diplomatische Beziehungen – Einmaligkeit und Herausforderung Drucksache 18/4818 9804 A Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA 9804 A Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) 9805 D Volker Kauder (CDU/CSU) 9807 D Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9809 B Achim Post (Minden) (SPD) 9810 D Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) 9812 A Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9813 C Kerstin Griese (SPD) 9814 D Philipp Mißfelder (CDU/CSU) 9816 C Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) 9818 A Gitta Connemann (CDU/CSU) 9819 C Tagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Flüchtlinge willkommen heißen – Für einen grundlegenden Wandel in der Asylpolitik Drucksache 18/3839 9820 C in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 19: a) Antrag der Abgeordneten Luise Amtsberg, Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine faire finanzielle Verantwortungsteilung bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen Drucksache 18/4694 9820 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) 9820 D Andrea Lindholz (CDU/CSU) 9822 B Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9824 A Charles M. Huber (CDU/CSU) 9824 D Dr. Lars Castellucci (SPD) 9826 A Barbara Woltmann (CDU/CSU) 9827 B Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9829 A Barbara Woltmann (CDU/CSU) 9829 C Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9829 D Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) 9830 D Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) 9832 A Rüdiger Veit (SPD) 9833 D Tagesordnungspunkt 23: a) Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Azize Tank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Doppelstandards beenden – Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt zeichnen und ratifizieren Drucksache 18/4332 9835 B b) Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Freiheit für Mumia Abu-Jamal Drucksache 18/4722 9835 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE sowie den Abgeordneten Tom Koenigs, Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMRG) Drucksache 18/4798 9835 C Tagesordnungspunkt 24: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale In-frastruktur zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Gastel, Sven-Christian Kindler, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zur Erhaltung der Schienenwege jetzt neu verhandeln Drucksachen 18/3153, 18/3938 9835 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Ludwig, Barbara Lanzinger, Klaus Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Hiltrud Lotze, Burkhard Blienert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kulturtourismus in den Regionen weiterentwickeln Drucksachen 18/3914, 18/4731 9836 A c)–g) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 176, 177, 178, 179 und 180 zu Petitionen Drucksachen 18/4696, 18/4697, 18/4698, 18/4699, 18/4700 9836 B Tagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Qualität von Studium und Lehre im internationalen Wettbewerb sichern – Den Europäischen Hochschulraum erfolgreich gestalten Drucksache 18/4801 9836 C b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Bologna-Prozesses 2012 bis 2015 in Deutschland Drucksache 18/4385 9836 D c) Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bologna-Prozess grundlegend reformieren Drucksache 18/4802 9836 D d) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Özcan Mutlu, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bologna 2015 stärken – Den europäischen Hochschulraum konsequent verwirklichen Drucksache 18/4815 9836 D Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF 9837 A Nicole Gohlke (DIE LINKE) 9838 C Dr. Daniela De Ridder (SPD) 9839 D Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9841 B Katrin Albsteiger (CDU/CSU) 9842 C Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) 9843 C Tankred Schipanski (CDU/CSU) 9844 C Tagesordnungspunkt 7: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Informationsweiterverwendungsgesetzes Drucksachen 18/4614, 18/4844 9845 D Brigitte Zypries, Parl. Staatssekretärin BMWi 9846 A Herbert Behrens (DIE LINKE) 9847 A Hansjörg Durz (CDU/CSU) 9848 A Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9849 C Matthias Ilgen (SPD) 9850 D Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) 9852 A Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Tom Koenigs, Peter Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Stefan Liebich, Wolfgang Gehrcke, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Der Völkermord in Ruanda und die deutsche Politik 1990 bis 1994 – Unabhängige historische Aufarbeitung Drucksache 18/4811 9853 A Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9853 A Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) 9854 C Stefan Liebich (DIE LINKE) 9856 C Gabriela Heinrich (SPD) 9857 C Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) 9858 C Dr. Karamba Diaby (SPD) 9859 C Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. Dezember 2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. November 2011, 2077 (2012) vom 21. November 2012, 2125 (2013) vom 18. November 2013, 2184 (2014) vom 12. November 2014 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010, dem Beschluss 2012/174/GASP des Rates der EU vom 23. März 2012 und dem Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November 2014 Drucksache 18/4769 9860 C Niels Annen (SPD) 9860 D Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) 9861 D Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg 9863 A Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9864 B Philipp Mißfelder (CDU/CSU) 9865 C Dirk Vöpel (SPD) 9866 C Florian Hahn (CDU/CSU) 9867 B Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gute Arbeit in der Wissenschaft – Stabile Ausfinanzierung statt Unsicherheiten auf Kosten der Beschäftigten und Wissenschaftszeitvertragsgesetz grunderneuern Drucksache 18/4804 9868 B Nicole Gohlke (DIE LINKE) 9868 C Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU) 9870 A Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9871 D Dr. Simone Raatz (SPD) 9873 C Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU) 9875 B Martin Rabanus (SPD) 9877 A Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz: zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter – KOM(2014) 212 endg.; Ratsdok. 8842/14 – hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes Drucksachen 18/1524 Nr. A.4, 18/4843 9878 A Dr. Johannes Fechner (SPD) 9878 B Richard Pitterle (DIE LINKE) 9879 A Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) 9879 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9880 D Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) 9881 D Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) 9882 C Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Transparenz schaffen – Tierhaltungskennzeichnung für Fleisch einführen Drucksache 18/4812 9883 B Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9883 B Alois Rainer (CDU/CSU) 9884 B Karin Binder (DIE LINKE) 9885 B Christina Jantz (SPD) 9886 B Johannes Röring (CDU/CSU) 9887 C Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9888 C Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Bundesregierung: Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Vereinten Nationen geführten Mission UNMIL in Liberia auf Grundlage der Resolution 1509 (2003) und nachfolgender Verlängerungsresolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zuletzt Resolution 2190 (2014) vom 15. Dezember 2014 und der Resolution 2215 (2015) vom 2. April 2015 Drucksache 18/4768 9889 A Gabi Weber (SPD) 9889 B Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) 9890 C Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg 9891 C Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9892 C Philipp Mißfelder (CDU/CSU) 9893 D Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr. André Hahn, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: -Unabhängige Historikerkommission zur Geschichte des Bundeskanzleramtes einsetzen Drucksache 18/3049 9894 B Jan Korte (DIE LINKE) 9894 C Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU) 9895 D Jan Korte (DIE LINKE) 9897 C Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU) 9897 D Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9898 B Martin Dörmann (SPD) 9899 C Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) 9900 D Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes Drucksachen 18/4615, 18/4800 9901 D Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Maria Klein-Schmeink, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Empfehlungen der Vereinten Nationen zur Behindertenrechtskonvention zügig umsetzen Drucksache 18/4813 9902 A Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9902 B Uwe Schummer (CDU/CSU) 9903 A Katrin Werner (DIE LINKE) 9904 B Kerstin Tack (SPD) 9905 A Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) 9906 C Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9906 D Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: zum Grünbuch – Schaffung einer Kapitalmarktunion – KOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15 – hier: Stellungnahme im Rahmen eines Konsultationsverfahrens der Europäischen Kommission Drucksachen 18/4375 Nr. A.4, 18/4807 9908 A Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: EU-Lateinamerika-Gipfel – Beziehungen auf gegenseitigem Respekt begründen Drucksache 18/4799 9908 C Nächste Sitzung 9908 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 9909 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 15) 9909 C Ingrid Pahlmann (CDU/CSU) 9909 C Rita Stockhofe (CDU/CSU) 9910 B Elvira Drobinski-Weiß (SPD) 9911 A Karin Binder (DIE LINKE) 9912 A Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9912 C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: zum Grünbuch – Schaffung einer Kapitalmarktunion – KOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15 – hier: Stellungnahme im Rahmen eines Konsultationsverfahrens der Europäischen Kommission (Zusatztagesordnungspunkt 4) 9913 B Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU) 9913 B Alexander Radwan (CDU/CSU) 9914 B Christian Petry (SPD) 9915 C Manfred Zöllmer (SPD) 9916 C Susanna Karawanskij (DIE LINKE) 9917 B Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9918 C Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: EU-Lateinamerika-Gipfel – Beziehungen auf gegenseitigem Respekt begründen (Tagesordnungspunkt 17) 9919 D Dr. Georg Kippels (CDU/CSU) 9919 D Waldemar Westermayer (CDU/CSU) 9921 A Dr. Sascha Raabe (SPD) 9923 A Heike Hänsel (DIE LINKE) 9924 A Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9925 A Inhaltsverzeichnis 103. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung. Es gibt einige Umstellungen in der Tagesordnung, auf die ich Sie gerne aufmerksam machen möchte. Die zusätzlich aufgesetzten Punkte sind in der Zusatzpunktliste aufgeführt: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: BND und NSA – Notwendigkeit und Grenzen der internationalen Zusammenarbeit (siehe 102. Sitzung) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid Nouripour, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 50 Jahre deutsch-israelische diplomatische Beziehungen – Einmaligkeit und Herausforderung Drucksache 18/4818 ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 23) Erste Beratung des von den Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE sowie den Abgeordneten Tom Koenigs, Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMRG) Drucksache 18/4798 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum Grünbuch Schaffung einer Kapitalmarktunion KOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15 hier: Stellungnahme im Rahmen eines Konsultationsverfahrens der Europäischen Kommission Drucksachen 18/4375 Nr. A.4, 18/4807 ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke, Peter Meiwald, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schutz der Meere weltweit verankern Drucksache 18/4814 ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph Lenkert, Birgit Menz, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Meeresumweltschutz national und international stärken Drucksache 18/4809 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, wie üblich abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 19 a – hier geht es um die Beratung des Antrags mit dem Titel „Für eine faire -finanzielle Verantwortungsteilung bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen“ – soll zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 5 aufgerufen werden. Die Tagesordnungspunkte 19 b und 19 c – hier geht es um Anträge zur Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer und zu einer geforderten Umkehr in der Asylpolitik – werden abgesetzt. Die Tagesordnungspunkte 14 und 22 tauschen unter Beibehaltung der vereinbarten Redezeiten ihre Plätze. Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 24. April 2015 (101. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes Drucksache 18/4683 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen einverstanden sind. – Das ist offensichtlich der Fall. Dann haben wir das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wasser- und naturschutzrechtlicher -Vorschriften zur Untersagung und zur Risikominimierung bei den Verfahren der Fracking-Technologie Drucksache 18/4713 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Gesundheit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausdehnung der Bergschadenshaftung auf den Bohrlochbergbau und Kavernen Drucksache 18/4714 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verbot von Fracking in Deutschland Drucksache 18/4810 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Annalena Baerbock, Dr. Julia Verlinden, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst nehmen – Bundesberggesetz unverzüglich reformieren Drucksachen 18/848, 18/1124 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Bundesministerin Frau Dr. Hendricks. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich abweichend von der Tagesordnung kurz auf die erfolgreiche Trilog-Verabredung eingehen, die vorgestern Abend in Brüssel zur Reform des europäischen Emissionshandels getroffen worden ist. Wenngleich es nicht unmittelbar zu unseren Tagesordnungspunkten gehört, so hängt es doch zusammen, nämlich in der Frage der Energienutzung und unserer zukünftigen Energiepolitik. Ich kann es nur als großen Erfolg der Bundesregierung insgesamt bezeichnen, dass es uns gelungen ist, die entsprechenden Regelungen so auf die Schiene zu setzen, dass sie, beginnend mit dem Jahr 2019, positiv wirken werden und wir damit den Emissionshandel wieder auf eine vernünftige Grundlage stellen, sodass er seine Wirkung erzielen kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch vor dem Hintergrund dieser Debatte kann man in diesem Zusammenhang sagen: Wir brauchen keine neuen fossilen Energiequellen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja, genau!) Die Zukunft gehört den erneuerbaren Energien, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum dann heute dieser Gesetzentwurf?) – Ja, genau, Herr Krischer. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wohl eine Lachnummer!) Weil wir es uns nicht so leicht machen wie Sie, werde ich Ihnen jetzt begründen, warum wir Ihnen gleichwohl einen Gesetzesvorschlag vorlegen – genau genommen ist es ein Gesetzespaket, also mehrere Vorschläge –, mit dem das Fracking in Deutschland geregelt werden soll und mit dem dem Fracking in Deutschland sehr enge Grenzen gesetzt werden sollen. Das haben wir nämlich bisher nicht. Wir nehmen die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger sehr ernst. Unsere erste Priorität ist selbstverständlich der Schutz des Trinkwassers und damit der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger. Es handelt sich hier um eine offene Debatte – das werden wir heute in der Debatte mitbekommen –, in der auch in den verschiedenen Fraktionen durchaus unterschiedliche Positionen deutlich werden. Ich will Ihnen sagen – das ist sowieso das Recht des Deutschen Bundestages –: Ich bin sehr offen für weiter gehende Vorschläge, die meinen Intentionen noch mehr entsprechen und die gleichwohl Rechtssicherheit nicht vermissen lassen. Deswegen bin ich gespannt auf die Debatte, mit der wir es zu tun haben, die heute im Deutschen Bundestag eingeleitet wird und die wir dann vor der Sommerpause gemeinsam beenden werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist selbstverständlich klar, dass das Parlament seinen Einfluss wahrnimmt. Das zeigt, dass wir alle gemeinsam die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen. Deshalb bitte ich darum, dass wir im parlamentarischen Verfahren eine ehrliche Debatte führen, eine Diskussion mit offenem Visier. Wie gesagt: Für weiter gehende Vorschläge bin ich selbstverständlich offen. Gestatten Sie mir, zur Einbringung des Gesetzentwurfs auf einige Punkte hinzuweisen. Wir beenden nach vielen Jahren einen Zustand, in dem das Fracking auf einer unzureichenden rechtlichen Grundlage steht. Wir führen sehr strenge Regeln ein, wo bislang keine klaren Regeln gegolten haben. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir ermöglichen eben nichts, was bislang verboten gewesen wäre, sondern im Gegenteil: Wir verbieten vieles, was bislang nicht rechtssicher verboten werden konnte. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die heutige Rechtslage ist so, dass jedes Unternehmen, das einen Antrag bei der zuständigen Bergbehörde eines Landes gestellt hätte, diesen Antrag im Zweifelsfall vor den Verwaltungsgerichten positiv hätte durchfechten können, weil wir praktisch keine Begrenzungen haben. Das ist die Situation, von der wir ausgehen, und das müssen wir uns bitte alle noch einmal vergegenwärtigen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb: Es wird in Zukunft ein weitreichendes Verbot in schützenswerten Gebieten geben, insbesondere in allen Trinkwassergewinnungsgebieten. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Stimmt ja nicht!) – Doch. Sie haben vielleicht den Entwurf noch nicht richtig gelesen. Es wird weiter gehende Möglichkeiten der Länder geben, weitere Schutzgebiete auszuweisen, und das unkonventionelle Fracking wird zunächst nur für Probebohrungen unter strengen Voraussetzungen zugelassen. Das ist der Gegenstand dieses Gesetzes. Die Bergbau- und die Wasserbehörden sind gemeinsam verantwortlich, müssen also diese Probebohrungen einvernehmlich genehmigen. Wenn es denn dann später einmal zu kommer-ziellen Bohrungen käme, müssten sie gemeinsam, also einvernehmlich, genehmigen. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unter 3 000 Meter erlauben Sie es jetzt schon!) Wir führen erstmals eine verpflichtende Umweltverträglichkeitsprüfung ein, und zwar für das schon seit langem bestehende konventionelle Fracking genauso wie für das unkonventionelle Fracking. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!) – Ja. Bestreiten Sie es bitte nicht! Lesen Sie doch einfach den Gesetzentwurf! (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, ich bin gerne bereit, auf weiter gehende Monita und Petita einzugehen. Versuchen Sie dann aber bitte, zunächst in Ihrer Fraktion zu klären, was Ihre Fraktion im Gesetzgebungsverfahren einvernehmlich noch einbringen will. Wenn es da eine Verständigung gibt mit der anderen Koalitionsfraktion, werden Sie in mir sicherlich keine Gegnerin finden. Aber die erste Voraussetzung ist, dass sich die Union unter sich klar darüber wird, was sie möchte. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir führen eine strenge Überwachung und ein intensives Grund- und Oberflächenwassermonitoring ein. Verboten – lieber Kollege Mattfeldt, auch wenn Sie das Gegenteil behaupten – wird die unterirdische Verpressung von Lagerstättenwasser beim konventionellen -Fracking, was es bisher gab. Es wird verboten, auch wenn Sie bisher das Gegenteil gesagt haben. (Beifall bei der SPD) Außerdem führen wir die Umkehr der Beweislast bei Bergschäden ein. Auch das kommt den Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere in den Regionen, in denen es ja schon lange das konventionelle Fracking gibt, entgegen; denn das wird ja auf jeden Fall weiter stattfinden. Davon gehen wir, wie ich annehme, gemeinsam aus. Des Weiteren: Wir wollen, dass an dem gesetzlichen Rahmen eben nicht juristisch gerüttelt werden kann. Wir wollen möglichst Rechtssicherheit herbeiführen. Ganz sicher kann man natürlich nie sein; das wissen wir alle. Aber wir wollen möglichst Rechtssicherheit herbeiführen. Wir müssen uns fragen: Soll der Staat Technologien pauschal verbieten, selbst wenn sie nicht ausreichend erforscht sind? Es ist doch so – wir alle sind daran gebunden –: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss im Auge behalten werden. Fracking findet zum Beispiel auch – daran sind viele von Ihnen ja auch interessiert – im Bereich der Geothermie statt; denn geothermische Methoden ohne Fracking gibt es gar nicht. Man braucht es auch zur Erschließung von Heilquellen. Da gibt es auch wieder völlig auf der Hand liegende Interessen, dass man das in diesem Zusammenhang nicht verbieten will. Die Technologie als solche ist also nicht einfach verbietungsfähig. Dann müssten Sie sich auch von Heilquellenerschließung und von Geothermie verabschieden. Die Technologie als solche ist nicht verbietungsfähig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist weit unter Ihrem Niveau, Frau Hendricks!) – Das ist nicht unter meinem Niveau. Sie, liebe Frau Göring-Eckardt, müssen sich klar werden, dass Geothermie nur mit Frack-Vorgängen überhaupt erschlossen werden kann (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) und dass auch Heilquellenerschließung nur mit Frack-Vorgängen erfolgen kann. Mehr habe ich nicht gesagt. Die Technologie als solche kann unter diesem Gesichtspunkt nicht vollständig verboten werden. Wir müssen sie regeln, und genau das ist der Ansatz dieses Gesetzes. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unser Vorschlag ist also, das in einem sehr engen Rahmen, in Forschungsvorhaben, zu ermöglichen, damit wir die Grundlage für politische Entscheidungen verbessern können. Es geht nicht darum, Technik zu verbieten, weil Politiker oder der Staat meinten, sie seien die besseren Wissenschaftler. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Frankreich haben sie es gemacht!) Unsere Aufgabe ist es, feste Regeln, die einen größtmöglichen und zugleich rechtssicheren Schutz unserer Umwelt gewährleisten, hier miteinander zu verabreden. Dies schlagen wir vor. Als Klimaministerin darf ich durchaus noch ergänzen: Ich habe große Zweifel daran, dass wir diese Technik unter energiepolitischen Gesichtspunkten brauchen. (Beifall bei der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann wird es noch absurder! Warum machen Sie es denn dann?) Wir werden sicherlich in absehbarer Zeit – vielleicht werden wir das nicht alle erleben – das Zeitalter der fossilen Rohstoffe beenden. Ich bin auch nicht sicher, ob die Fracking-Technologie im kommerziellen Sinn tatsächlich eine Zukunft in Deutschland hat, ob es ein kommerzielles Interesse daran gibt, sie überhaupt in dem unkonventionellen Bereich zur Anwendung zu bringen. Gleichwohl: Wir haben jetzt einen unsicheren Rechtszustand, und mir liegt daran, die Bürgerinnen und Bürger zu schützen und deswegen klare Regeln einzuziehen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Zdebel für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch ich freue mich auf eine ergebnisoffene Debatte hier über das Thema Fracking. Wir werden im Laufe der weiteren Beratungen sehen, inwieweit die Koalition tatsächlich bereit ist, die Debatte ergebnisoffen zu führen, wie es auch Frau Ministerin Hendricks gerade einleitend eingefordert hat. Fracking ist eine Gefahr für Mensch und Natur. -Fracking verunreinigt das Grund- und Trinkwasser durch Chemikalien, aufsteigendes Methan und Lagerstättenwasser. Fracking und die Verpressung von Lagerstättenwasser können Erdbeben hervorrufen, wie jüngst in den USA wissenschaftlich nachgewiesen worden ist. Die Entsorgung des mit radioaktiven Isotopen, Quecksilber und Benzol belasteten Flowbacks, der gefährlichen Mischung aus Lagerstättenwasser und Frack-Flüssigkeiten, ist ungeklärt. Die Klimabilanz von gefracktem Erdgas ist miserabel, teilweise sogar miserabler als die von Braunkohle. Ähnlich wie bei der Atomenergie ist mit hohen Folgekosten zu rechnen, etwa für Erdbebenschäden, verseuchtes Grundwasser, zerstörte Ökosysteme und die Mondlandschaften durch Fracking-Bohrungen auf engstem Raum, ganz zu schweigen von den gesundheitlichen Risiken, die von Fracking ausgehen. Das zeigen insbesondere die Erfahrungen in den USA, wo es tatsächlich, im Gegensatz zu Deutschland, schon wissenschaftliche Forschung und Ergebnisse auf diesem Gebiet gibt. Angesichts dieser Risiken wäre es unverantwortlich, Fracking selbst unter Einsatz ungefährlicher Frack-Flüssigkeiten und unter verschärften Auflagen zu erlauben. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Daher fordert die Linke ein gesetzliches Fracking-Verbot ohne Ausnahmen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir stehen damit nicht allein. Nicht nur die Kommunen, in denen zahlreiche Bürgerinitiativen Entscheidungen gegen Fracking herbeigeführt haben – einige Kommunen haben dies sogar selber per Ratsbeschluss getan –, sondern auch die Länder Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Bremen überzeugt der Regierungsentwurf nicht. Auf Initiative dieser Länder hat der Umweltausschuss des Bundesrates ebenfalls ein konsequentes Fracking-Verbot beantragt. Das können wir nur unterstützen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Anders als Sie, Frau Ministerin Hendricks, ständig behaupten, ist ein gesetzliches Fracking-Verbot sehr wohl möglich. In einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages aus dem Jahre 2011 war bereits zu lesen – ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten –: Ein Verbotsgesetz … könnte aber gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber zur Eindämmung aus seiner Sicht bestehender Risiken des Fracking ein Verbot zum Schutz von Mensch und Umwelt für erforderlich hielte. Ich denke, das ist klar genug: Es ist gesetzlich möglich, Fracking ohne Ausnahmen zu verbieten. Die Frage ist: Warum passiert es nicht? (Beifall bei der LINKEN) Es sind ausgerechnet die beiden sozialdemokratischen Minister, Frau Umweltministerin Hendricks und Herr Wirtschaftsminister Gabriel, die jetzt dieser Fracking-Lobby ein Geschenk machen wollen; auch das muss deutlich werden. (Zurufe von der SPD: Oh!) Entgegen den Behauptungen der Minister hat die Bundesregierung jetzt einen Entwurf für ein reines Pro-Fracking-Gesetz vorgelegt. Durch dieses Gesetz soll Fracking auf drei Vierteln der Fläche Deutschlands möglich sein, und zwar – das wird häufig gar nicht erwähnt – uneingeschränkt für die Erdöl- und Metallgewinnung. Auch die Gasförderung im Sandgestein – es geht um das sogenannte Tight Gas – wird ausdrücklich und in jeder Tiefe erlaubt, obwohl es nie ein systematisches Umweltmonitoring der bisher durchgeführten Vorhaben – wie zum Beispiel in Niedersachsen, worauf ja immer wieder abgehoben wird – gegeben hat. Warum machen Sie nicht erst einmal dort die Forschung über Jahre? Dann können wir sehen, wie es damit aussieht. Insofern entlarvt sich auch das dauernde Fordern von Forschungsmaßnahmen als das, was es ist: Es soll davon ablenken, dass hier ein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz durch den Bundestag gebracht werden soll. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Außerdem, Frau Ministerin Hendricks, erfinden Sie kurzerhand den Fantasiebegriff des „konventionellen Frackings“, wohlwissend, dass Technik und Risiken des Frackings unabhängig von Gesteinsformation und Tiefe die gleichen sind. Tiefer als 3 000 Meter soll ohnehin jegliches Fracking erlaubt werden. Dabei verschweigen Sie, Frau Ministerin, öfter, manchmal systematisch, dass es gerade unterhalb von 3 000 Metern jede Menge Erdgas zu fracken gibt. Oberhalb dieser willkürlich festgelegten 3 000-Meter-Grenze soll Fracking im Schiefergestein oder in Kohlenflözen angeblich untersagt werden. Doch auch diese Behauptung der Bundesregierung zerplatzt bei genauerem Hinschauen wie eine Seifenblase; denn mit der geplanten Durchführung angeblich wissenschaftlich begleitender Probebohrungen in diesen Bereichen wird die kommerzielle Nutzung vorbereitet. Bei diesen „wissenschaftlichen“ Bohrungen dürfte es sich in der Regel um gewöhnliche Aufsuchungsbohrungen handeln, den ersten Schritt zur kommerziellen Nutzung. Von einem Fracking-Verbot kann also keine Rede sein. Die kommerzielle Schiefer- und Kohlenflözgewinnung oberhalb von 3 000 Metern stellen Sie unter den Vorbehalt einer sechsköpfigen Kommission, deren Zustimmung jedoch als sicher gilt. Viele von den Vertretern, die da benannt werden sollen, sind als industrienah bekannt. Die Umweltverbände und andere Vertreter der Zivilgesellschaft, welche die Interessen der Bürgerinnen und Bürger vertreten, sind hier nicht vertreten. Ich finde, das ist ein absoluter Skandal, und sage: Diese Kommission muss auf jeden Fall weg. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn das so kommen sollte mit dieser Kommission, könnten ab Ende 2018 sämtliche Arten von Erdgaslagerstätten in allen Tiefen durch Fracking kommerziell erschlossen werden. Insofern darf es nicht wundern, dass der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft und der Bundesverband der Deutschen Industrie die von der Bundesregierung vorgelegten Gesetz- und Verordnungsentwürfe zum Fracking begrüßen, (Bernd Westphal [SPD]: Die Wasserwirtschaft!) und das aus gutem Grund: Mit dem Regelungspaket wird für die Konzerne erst die Rechtssicherheit hergestellt, um gegen den erklärten Willen der Bevölkerung fracken zu können; denn was Sie auch gerne nicht erwähnen, ist, dass die existierenden Ländermoratorien durch das geplante Recht ausgehebelt werden. Die Möglichkeit, dass ein Unternehmen vor einem Verwaltungsgericht pro-blemlos eine Genehmigung für Fracking erstreitet, wird durch Ihre Pläne erst geschaffen, Frau Hendricks. Bisher klagt ja keiner. Warum wohl? Wenn jetzt Rechtssicherheit hergestellt wird, kann geklagt werden. Außerdem ist zu bemängeln und festzuhalten, dass die Folgekosten wieder einmal sozialisiert werden sollen; denn entgegen Ihrer Beteuerung, Frau Ministerin, gibt es bei den Änderungen des Bergschadensrechts gerade keine wirksame Beweislastumkehr. Es kann nach wie vor durchaus passieren, dass zum Beispiel Erdbeben entstehen. Die Erdbebenregelung, die in den ursprünglichen Entwürfen noch vorgesehen war, ist im Laufe des weiteren Verfahrens inzwischen wieder herausgestrichen worden. Man könnte über geostrategische Zusammenhänge und Ähnliches noch viel sagen. Dafür wird in den Ausschussberatungen Zeit sein. Diese Fragen, auch der Niedergang des Frackings in den USA und Ähnliches, spielen eine Rolle. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Was für ein Niedergang?) Ich bin sehr gespannt auf die weiteren Diskussionen. Viele von Ihnen, insbesondere diejenigen, die in ihren Wahlkreisen versprochen haben, dass sie sich im Bundestag gegen Fracking einsetzen werden, stehen schon unter genauerer Beobachtung der Bürgerinitiativen und der Parteibasis. Das gilt für die Abgeordneten der CDU/CSU genauso wie für die der SPD. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Ich bin neugierig auf die von Ihnen angekündigten Anträge, Herr Mattfeldt und Herr Schwabe. Bisher liegt ja noch nichts vor. Wir sagen zusammenfassend: Kein Fracking! Ohne Ausnahmen! Wir stehen an der Seite der Bürgerinitiativen vor Ort, die sich gegen Fracking ausgesprochen haben, für ein Fracking-Verbot ohne Ausnahmen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bernd Westphal [SPD]) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn man hier die Linken und auch die Grünen hört (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben noch gar nicht gesprochen! – Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir waren noch nicht dran!) – die Zwischenrufe von Herrn Krischer waren nicht zu überhören; Sie äußern sich ja auch im Vorfeld, außerhalb des Hauses –, dann kann man den Eindruck gewinnen: Fracking ist ein Selbstzweck. – Deshalb ist es vielleicht ganz gut, einmal eine Einordnung vorzunehmen, um was es eigentlich geht. Auch wenn wir den Umbau der Energieversorgung in Deutschland erreichen – mit Energieeffizienz, mit Energieeinsparung um 50 Prozent bis 2050; der Restbedarf soll möglichst mit erneuerbaren Energien gedeckt werden –, werden konventionelle Energien sowohl im Strom- als auch im Gebäudebereich, bei der Heizung, und im Verkehrsbereich weiterhin eine Rolle spielen. Wenn der Wind nicht weht oder die Sonne nicht scheint, brauchen wir, um die Grundlast zu decken, auch weiterhin konventionelle Energien. Schauen wir uns die Klimabilanz an: Es ist so, dass Gas im Grundsatz eine deutlich bessere CO2-Bilanz hat als andere konventionelle Energien. Wenn wir Gas in Deutschland haben, dann sind wir, glaube ich, gut beraten, uns zu überlegen, ob wir diese Potenziale auch in Zukunft nutzen. Wie ist die Situation weltweit? Die USA wurden angesprochen. In der Tat hat dort eine Revolution stattgefunden, und zwar nicht in der konventionellen Gasförderung, sondern in der nichtkonventionellen, in der unkonventionellen Schiefergasförderung. Die USA sind vom größten Energieimporteur zum Selbstversorger und jetzt zum Energieexporteur geworden. In diesem Jahr werden die USA beginnen, Gas aus unkonventionellen Lagerstätten in die Welt zu exportieren. Nach jetzigem Stand ist es so, dass sie damit über Jahrzehnte, wenn nicht über hundert Jahre – das zeigen neueste Untersuchungen – energieunabhängig werden. Auch wir in Deutschland haben Potenziale. Anfang der 90er-Jahre haben wir noch ein Viertel unseres Gasbedarfs von rund 100 Milliarden Kubikmeter aus heimischer Förderung gedeckt. Heute sind es nur noch 10 Prozent. Wenn wir uns jetzt anschauen, was wir an konventionellen Reserven haben, dann erkennen wir: Es sind gerade mal noch 150 Milliarden Kubikmeter. An unkonventionellen Potenzialen gibt es in Deutschland 1 300 Milliarden Kubikmeter. Das heißt, wir könnten 13 Jahre eine Vollversorgung aus heimischen Quellen sicherstellen oder den jetzigen Bedarf oder die jetzige Eigenförderung für 130 Jahre gewährleisten. Deshalb sind wir, glaube ich, gut beraten, nicht von vornherein Technologien und Potenziale auszuschließen, sondern uns die ganz genau anzuschauen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wie ist die Situation? Es wird davon gesprochen, dass wir Rechtsunsicherheit hätten. Wir haben im Moment keine Rechtsunsicherheit. Wir haben ein Bergrecht – das ist die heutige Rechtslage –, das Fracking sowohl im konventionellen Bereich als auch im nichtkonventionellen Bereich ermöglicht. Das ist die Situation. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht sprechen Sie mal mit Ihrer eigenen Fraktion!) Alles andere, was behauptet wird, etwa, dass dies ein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz wäre, ist falsch, ist eine bewusste Falschbehauptung der Linken und der Grünen, die sie in den Raum stellen, um die Leute in die Irre zu führen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Das Gegenteil ist der Fall. Mit dem, was jetzt auf dem Tisch liegt, verschärfen wir massiv die Anforderungen gegenüber dem, was bisherige Rechtslage ist. Was wird entsprechend unternommen? Im konventionellen Bereich, bei der Gewinnung von Tight Gas, gab es übrigens seit Anfang der 60er-Jahre – das Fracking in Niedersachsen ist erwähnt worden; der zuständige niedersächsische Wirtschaftsminister ist hier – über 300 Fälle von Fracking. Im Moment ist festzustellen, dass die Förderung in Niedersachsen zurückgeht, weil auch im Bereich des Tight Gas im Moment keine neuen Vorhaben umgesetzt werden. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Irgendwann sind die Lagerstätten auch einmal ausgeschöpft!) Wir schaffen jetzt Rechtssicherheit im konventionellen Bereich, verbleiben aber nicht beim Status quo. Auch im konventionellen Bereich wird der Rechtsrahmen erheblich ausgeweitet: Die Ausschlussgebiete werden ausgeweitet. Zukünftig werden bergrechtliche Genehmigungen nur im Einvernehmen mit der Wasserbehörde erfolgen; die Ministerin hat es angesprochen. Der Wasserschutz ist für uns nicht verhandelbar und hat oberste Priorität. Deshalb verschärfen wir auch im konventionellen Bereich die geltende Rechtslage, auch was den Umgang mit Lagerstättenwasser, Bergschadensrecht und anderem anbelangt. Was machen wir jetzt im unkonventionellen Bereich, im Schiefergasbereich? Da wir, anders als in den USA, wo nicht nur geforscht wird, sondern das entsprechende Verfahren großtechnisch angewendet wird – Tausende, Zehntausende von Fracking-Maßnahmen und -Projekten sind dort im Gange, ohne dass dort größere Schäden eingetreten sind – – (Hubertus Zdebel [DIE LINKE]: Wovon träumen Sie denn gerade? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie da mal hinfahren? Fahren Sie da mal hin, und schauen Sie sich das an!) – Ja, ich war schon dort; es waren auch Grüne dabei. Vor Ort wollen Sie es dann nicht wahrhaben. Aber wie auch immer! – Trotzdem sagen wir: Wir wollen in der jetzigen Situation nicht, dass in Deutschland konventionell gefrackt wird, sondern wir wollen jetzt in Deutschland erproben und die geologischen Formationen untersuchen, um herauszufinden, ob hier Fracking unbedenklich ist. Deshalb gibt es hier den Vorschlag, in den nächsten drei Jahren entsprechende Erprobungsmaßnahmen durchzuführen. Wir als Unionsfraktion können uns vorstellen, dass wir die Erprobungen in den weiteren Verhandlungen auf bestimmte geologische Schichten und auch auf eine bestimmte Zahl begrenzen – da sind wir offen, darüber können wir sprechen –, (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Sackgassenforschung!) damit deutlich wird: Es geht um Erforschung, es geht um Wissenschaft, es geht darum, im Land der Tüftler und Denker keine Denkverbote zu erlassen, keine Technologieverbote zu erlassen, sondern mit Maß und Ziel in aller Ruhe zu erproben, ob Fracking auch im nichtkonventionellen Bereich, also im Schiefergasbereich, in Deutschland unbedenklich und möglich ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für die Position haben Sie in Ihrer eigenen Fraktion keine Mehrheit!) Dafür nehmen wir uns die entsprechende Zeit. Wir begleiten dies mit einer Expertenkommission. Die Expertenkommission entscheidet aber nicht, ob zukünftig in Deutschland kommerziell Schiefergas gefördert wird oder nicht. Vielmehr begleitet die Expertenkommission den Forschungsprozess der nächsten Jahre. (Hubertus Zdebel [DIE LINKE]: Die macht dann die Vorgaben!) Diese Expertenkommission ist, wie die Zusammensetzung zeigt, sicherlich nicht verdächtig, von vornherein pro Fracking zu sein. Ganz im Gegenteil: Das Umweltbundesamt und andere, die darin vertreten sind, haben sich schon anders eingelassen. Es sind selbstverständlich auch die Wasserbehörden und diejenigen, die sich wissenschaftlich damit befassen, mit dabei. Es ist klar, dass auch die Bergrechtskompetenz darin vertreten sein muss. Diese Kommission gibt lediglich eine wissenschaftliche Einschätzung ab, ob die Probebohrungen, ob das Fracking in bestimmten Gesteinsformationen – davon gibt es in Deutschland verschiedene, deshalb muss man an verschiedenen Stellen Probebohrungen durchführen – unbedenklich sind oder nicht. Wenn sich dann herausstellen sollte, dass sie unbedenklich sind – wenn sie bedenklich sind, dann wird es keine kommerziellen Vorhaben geben –, dann treten die rechtsstaatlichen Regelungen in Kraft. Dann erfolgt ein normales Genehmigungsverfahren nach Bergrecht, in Zukunft im Einvernehmen mit den Wasserbehörden, wie in jedem anderen Planfeststellungsverfahren im Energie, Rohstoff- oder Verkehrsbereich auch. Das ist kein Skandal. Im Gegenteil: Das ist das Normalste der Welt. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir nehmen die Bedenken und die Ängste unserer Bürger ernst. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur samstags!) Wir nehmen sie ernst, indem wir diesen Ängsten nachgehen, indem wir versuchen, diese Bedenken zu objektivieren. Wenn sich herausstellt, dass Fracking unbedenklich ist, dann kann man mit sachlichen Argumenten überzeugen. Ich erwarte von allen hier im Haus, auch von den Grünen und von den Linken, dass sie sich dem Abwägungsprozess objektiv stellen (Hubertus Zdebel [DIE LINKE]: Tun wir ja auch!) und es akzeptieren, wenn das Ergebnis positiv ausfällt. Es geht nicht, dass Sie von vornherein, ohne das Ergebnis zu kennen, ohne zu wissen, was erprobt werden soll und wo erprobt werden soll, sagen: Wir machen das nicht. – Das machen wir von der Union nicht mit. Wir nehmen die Befürchtungen der Bürger ernst, aber wir kanalisieren sie, wir gehen ihnen objektiv nach. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Erst nachdem die Abwägungen vorgenommen wurden, kann das normale Genehmigungsverfahren durchgeführt werden. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund, beim Thema Fracking so emotional und so unsachlich zu agieren. Wir freuen uns auf eine konstruktive Beratung in den Ausschüssen und auf die weitere Diskussion. Wir wollen Deutschland, auch aus Gründen der Versorgungssicherheit, fit machen. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch ein lächerliches Argument!) Fracking und die unkonventionelle Gasförderung sind hier eine Möglichkeit, die man mit den erneuerbaren Energien durchaus sinnvoll kombinieren kann. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, das hatten Sie schon einmal vorgetragen. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Ob kommerzielles Fracking zugelassen wird – die Ministerin hat es angesprochen –, hängt neben der Prüfung der Unbedenklichkeit davon ab, ob es sich wirtschaftlich rechnet. Aber dies wissen wir noch nicht, und deshalb wollen wir es erproben. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Oliver Krischer ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Pfeiffer, Sie haben zwar immer Grüne und Linke angesprochen, aber ich habe den Eindruck: Das war eine Rede an Ihre eigene Fraktion. Denn der Widerstand gegen das Fracking kommt doch aus Wahlkreisen Ihrer Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn ich in unserem Land unterwegs bin, dann erlebe ich, dass schwarze Bürgermeister bei ihrem Widerstand gegen Fracking sogar kritischer als die Greenpeace-Aktivisten sind und diese links überholen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie müssen in Ihre eigenen Reihen gucken. Tun Sie nicht so, als sei das ein Problem der Opposition! Fracking ist eine Risikotechnologie, die eine unserer wichtigsten natürlichen Ressourcen, unser Trinkwasser, in unverantwortlicher Weise gefährdet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) In den USA – das ist schon mehrfach angesprochen worden – kann sich jeder und jede ansehen, zu welchen Umweltzerstörungen Fracking führt. Man muss kein Prophet sein, um festzustellen, dass die USA diesen kurzfristigen Gasboom noch teuer bezahlen werden, dass sie im wörtlichen Sinne den Giftmix ausbaden oder im schlimmsten Falle sogar austrinken müssen. Das geht zulasten der nachfolgenden Generationen. Das wollen wir in Deutschland und in Europa nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Fracking ist die neue Eskalationsstufe der fossilen Energiegewinnung. (Zuruf von der CDU/CSU: Oh Gott!) Auch wegen der miesen Klimabilanz ist es keine Option für eine nachhaltige Energieversorgung. Das ist die Rolle rückwärts ins fossile Zeitalter. Wir brauchen keine Investitionen in Fracking, wir brauchen Investitionen in erneuerbare Energien und Energieeffizienz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nun könnte man denken, dass im Energiewendeland Deutschland diese Entscheidung klar ausfällt und dass man, wie es die Umweltministerin selber sagt, keine Investitionen mehr in fossile Energiegewinnung braucht, die nicht zukunftsfähig ist. Aber was passiert? Sigmar Gabriel und Frau Hendricks legen hier einen Entwurf für ein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz vor, durch das auf mindestens zwei Drittel der Landesfläche Fracking zugelassen wird, durch das sogar erlaubt wird, unter Nationalparks und Naturschutzgebieten zu fracken. Das ist kein Fracking-Verbot, Frau Hendricks, sondern das exakte Gegenteil. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich sage Ihnen: Es ist doch ein Treppenwitz, dass Sigmar Gabriel und die Bundesregierung die Biogasbranche aus dem Land treiben, aber dem Giftcocktail von Exxon Mobil die Tür öffnen, sodass er zur Gasgewinnung in den Untergrund gepresst werden kann. Das ist nicht nachhaltig. Das ist nicht zukunftsfähig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn hier immer auf das Ausland verwiesen wird, dann muss man einmal in das europäische Ausland schauen. Seit Jahren versucht Polen, Fracking zu ermöglichen. Was ist das Ergebnis? In Polen gibt es bis heute keine einzige kommerzielle Fracking-Bohrung. Nirgendwo in Europa wird bisher Fracking durchgeführt. Die Mehrzahl der Staaten hat entschieden, dass das keine Zukunftsoption ist, auch deshalb, weil die geologischen Verhältnisse in Europa andere sind als in den USA. Auch die Ansichten der Bevölkerung und die naturräumlichen Gegebenheiten sind anders. Das Vorgehen in den USA kann für uns daher kein Modell sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der allergrößte Witz war ja, was wir eben von Frau Hendricks gehört haben. Sie haben das tatsächlich wiederholt. Ich hatte ja gedacht, Sie hätten sich da einmal versprochen, aber Sie haben hier jetzt wieder gesagt: Fracking ist energiepolitisch bedeutungslos. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Warum beschäftigen Sie uns dann mit diesem Unsinn? Warum machen Sie das dann? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Sagen Sie als Umweltministerin doch einfach Nein zum Fracking. Ehrlich gesagt, eine Aussage – auch diese haben Sie jetzt wiederholt – haut mich wirklich vom Stuhl. Sie als Umweltministerin sagen: Wir müssen das Fracking-Ermöglichungs-Gesetz machen, weil Konzerne sonst klagen können. – Dass sich eine Umweltministerin in Deutschland danach richtet und die Gesetze so gemacht werden, dass die Konzerne nicht dagegen klagen können, ist doch ein Skandal. Das ist der Vorgriff auf die Konzernjustiz von TTIP und CETA, die Sie im vorauseilenden Gehorsam einführen wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der SPD: Was für ein Quatsch! – Frank Schwabe [SPD]: Wo ist da die Logik? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hast du heute Zaubertrank getrunken?) Wenn Fracking keine Bedeutung hat und die Menschen im Land es nicht wollen – in den Kommunen haben wir überall dort, wo es ein Thema ist, einstimmige ablehnende Resolutionen über alle Parteigrenzen hinweg –, dann frage ich mich: Warum tragen Sie mit diesem Gesetz die Konflikte in die Regionen? Warum tun Sie das? Ist Deutschland so arm an energiepolitischen Konflikten, dass wir Kapazitäten und Langeweile haben, um uns in den Regionen auch noch damit auseinanderzusetzen, ob Fracking zugelassen wird? Wir haben viel Wichtigeres zu tun und viel größere Probleme zu lösen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sage Ihnen: Die Bundesländer – darauf ist schon hingewiesen worden – haben mit großer Mehrheit begriffen, worum es an dieser Stelle geht. Das sieht man, wenn man die Anträge im Bundesrat betrachtet. Hannelore Kraft, Horst Seehofer, Winfried Kretschmann und Bodo Ramelow sind nun wirklich Ministerpräsidenten unterschiedlichsten Typs, aber in einem sind sie sich völlig einig. Sie sagen klipp und klar: Wir wollen kein Fracking. Ich sage Ihnen: Wenn diese Ministerpräsidenten unterschiedlichsten Typs dies so klar sagen, dann folgen Sie dem. Lassen Sie sich nicht auf diesen unsinnigen und blödsinnigen Konflikt ein, mit dem Sie Fracking ins Land tragen. Das kann doch nicht sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Eines will ich Ihnen auch sagen – gleich wird ja Herr Mattfeldt reden –: Wenn ich vor Ort unterwegs bin, erlebe ich immer wieder, dass CDU-Abgeordnete die größten Kritiker auf den Podien sind; die überholen Greenpeace noch links auf der ökologischen Seite. Es geht nicht an, dass man in den Wahlkreisen vor Ort sagt, dass man Fracking ablehnt, hier aber am Ende die Position von Herrn Pfeiffer – er hat hier eine Fracking-Jubelrede gehalten – beschlossen wird. Wir werden sehr genau darauf schauen, was Sie an dieser Stelle machen. Es kann nicht sein, dass Sie sich in den Wahlkreisen dagegen aussprechen, aber hier in Berlin ein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das haut einen um, was der sagt!) Sie haben jetzt die Aufgabe, Ihren Ankündigungen hier in Berlin und vor Ort Taten folgen zu lassen und aus diesem Fracking-Ermöglichungs-Gesetz von Sigmar Gabriel und Barbara Hendricks ein Fracking-Verbot zu machen. Das ist Ihr Job. Da müssen Sie liefern. Wenn Sie diesen Weg gehen – das kann ich Ihnen sagen –, dann werden wir uns konstruktiv daran beteiligen. Da werden wir Sie unterstützen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn Sie das aber nur einfach so durchwinken, wie Herr Pfeiffer es hier ankündigt, dann können Sie mit unserem härtesten Widerstand rechnen. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Landesminister Olaf Lies. – Bitte schön. (Beifall bei der SPD) Olaf Lies, Minister (Niedersachsen): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute steht ein Thema mit großer öffentlicher Diskussion auf der Tagesordnung. Lassen Sie mich daher in fünf Punkten die Position des Landes Niedersachsen dazu deutlich machen. Erstens. Die kritische öffentliche Debatte, die wir haben, ist gut, weil sie Öffentlichkeit und Politik natürlich zwingt, genau hinzusehen, welche Technologien in Deutschland angewendet werden können, welche Risiken bestehen und wie man verhindert, dass Gefahren für Mensch und Umwelt, insbesondere natürlich für das Trinkwasser, entstehen. Aber, meine Damen und Herren, es geht auch um die Verantwortung für den Technologie- und Industriestandort Deutschland, über den wir hier heute reden. Themen wie Trink- und Grundwasserschutz, Natur- und Landschaftsschutz und Erhalt der Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger stehen für uns als Landesregierung in Niedersachsen auf einer Stufe mit den Interessen der Rohstoffgewinnung aus heimischen Lagerstätten. (Zurufe von der LINKEN: Aha! – Interessant!) Vor diesem Hintergrund ist es unverzichtbar, die rechtlichen Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln und die Bürgerinnen und Bürger auch von der Beherrschbarkeit der Risiken bei der Erdöl- und Erdgasgewinnung zu überzeugen. (Zuruf von der LINKEN: Wie bei der Kernenergie?) Niedersachsen ist nicht nur mit Blick auf die Windenergie das Energieland Nummer eins. 95 Prozent des Erdgases aus deutscher Förderung kommen aus Niedersachsen, und rund ein Drittel der deutschen Erdölförderung findet in Niedersachsen statt. Das Erdgas aus Niedersachsen deckt immerhin rund 10 Prozent des bundesdeutschen Gesamtbedarfs. Niedersachsen ist also auch Erdgasland Nummer eins. Deswegen, meine Damen und Herren: Wir haben seit drei Jahren ein freiwilliges Moratorium der Förderunternehmen. Das ist keine Grundlage für die Zukunft. Wir brauchen jetzt eine rechtliche Absicherung im Hinblick auf die Verlässlichkeit des Schutzes von Umwelt und Natur, aber auch im Hinblick auf die Verlässlichkeit für die Industrie in Deutschland. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Übrigens, meine Damen und Herren: Das hat auch etwas mit Beschäftigung zu tun. Heute haben wir gehört: Es droht die Entlassung von 200 Fachkräften in diesem Bereich in Celle. Da geht es nicht nur um Arbeitsplätze, sondern auch um Know-how in unserem Land, (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!) um die technologische Weiterentwicklung in Deutschland voranzutreiben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Wichtig ist für uns, auch und gerade in Niedersachsen, die Unterscheidung zwischen der Förderung aus konventionellen Lagerstätten und aus unkonventionellen Lagerstätten. „Konventionelle Lagerstätte“ heißt jahrzehntelange Erfahrung in Niedersachsen. „Unkonventionelle Lagerstätte“ heißt, es gibt keine Erfahrungen, die eine Grundlage sind, um an diesem Thema in Niedersachsen weiterzuarbeiten. Es ist wichtig, auch an einer anderen Stelle zu unterscheiden: Für das eine – davon sind wir überzeugt – können wir eine Akzeptanz schaffen, weil man es kennt und weil es in der Frage der konventionellen Erdgasförderung Verlässlichkeit gibt, während es bei dem anderen große Vorbehalte gibt. Die Trennung der beiden Themen sorgt dafür, dass wir in Niedersachsen eine gute Grundlage haben, die Förderung von Erdgas aus konventionellen Lagerstätten fortzusetzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich komme zum zweiten Punkt, nämlich: Warum wird Erdgasförderung in Deutschland gebraucht? Die Energiewende ist das Ziel in Deutschland, die Energiewende ist das Ziel in Niedersachsen. Aber ohne fossile Energieträger wird uns dieser Übergang nicht gelingen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!) Daher ist auch Erdgas eine ganz wichtige Brücke zur Erreichung der Ziele, die wir uns für 2050 vorgenommen haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Angesichts dieser Ausgangslage stellt sich aber unweigerlich die Frage: Wie können wir die Erdgasversorgung in Deutschland langfristig sicherstellen? Geopolitische Stresstests, die Ukraine- und die Russland-Krise zeigen uns die aktuelle Situation. Die Erdgasimporte aus den Förderländern Norwegen und Niederlande gehen zurück. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Import von Gas befreit uns nicht von der Debatte, auf welchen Grundlagen, auch hinsichtlich des Schutzes von Natur und Mensch, dort Erdgas gefördert wird. Auch da stehen wir in der Verantwortung. Wir können dies nicht einfach abspeisen und sagen: Wir importieren nur das notwendige Erdgas. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Diese Umweltstandards können wir hier in Deutschland erarbeiten. Wir können Vorreiter im Bereich der Umweltstandards bei der Förderung von Erdgas sein. Diese können wir dann auf andere Länder übertragen. Damit schaffen wir es, die Erdgasförderung insgesamt sicherer zu machen und einen anderen Standard zu schaffen. Ein Weiter-so – das ist Punkt drei – kann es nicht geben. Die Kernforderungen unserer Landesregierung sind deutlich. Wir haben an verschiedenen Stellen über Bundesratsinitiativen, aber, wie ich glaube, auch mit viel Zuarbeit berg-, wasser- und naturschutzrechtliche Bestimmungen auf den Weg gebracht. Es steckt also ganz viel Erfahrung aus Niedersachsen – 95 Prozent der Erdgasförderung finden in Niedersachsen statt – in den aus meiner Sicht ausgewogenen Gesetzentwürfen. Ein paar wichtige Eckpunkte: Technisch und wirtschaftlich gewinnbare Erdgaspotenziale liegen in Niedersachsen in tief liegenden geologischen Sandsteinlagerschichten. Genau darum geht es: Dort ist der Einsatz der Frack-Technologie in den letzten 30 Jahren 300-mal durchgeführt und auch ausgewertet worden. Es liegt also Erfahrung vor. Die Aussage, es gebe keine Erfahrung und es komme zu einer Verunreinigung des Trinkwassers, stimmt an dieser Stelle nicht. Insofern müssen wir zumindest eine offene und ehrliche Debatte darüber führen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Deswegen, meine Damen und Herren, muss Erdgasförderung aus diesen konventionellen Lagerstätten weiter möglich sein, aber – anders als bisher – unter der Berücksichtigung sehr viel strengerer Umweltauflagen und unter Durchführung maximaler transparenter Genehmigungsverfahren, also von Planfeststellungsverfahren mit Umweltverträglichkeitsprüfung, wie wir es auch von anderen Verfahren kennen. Das ist auch hier dringend notwendig. Klar ist dabei auch: Zurückgeförderte Frack-Flüssigkeiten sind aufzubereiten, sie dürfen nicht versenkt werden. Die Versenkung von Lagerstättenwasser darf nur in den ehemaligen Förderhorizonten und auch da erst nach Planfeststellungsverfahren und Umweltverträglichkeitsprüfung unter Einbindung der zuständigen Wasserbehörden – all das spielt eine Rolle – erfolgen. Wasserschutzgebiete, Heilquellenschutzgebiete, Trink- und Mineralwassergewinnungsgebiete stehen für eine bergbauliche Nutzung, also Fracking- oder Lagerstättenwasserverpressung, nicht zur Verfügung; dies als klare Aussage. Abschließend: Das Bergschadensrecht ist zu novellieren. Die Umkehr der Beweislast ist unabdingbar. Das schafft auch wieder ein Stück weit mehr Vertrauen in die heimische Erdgasförderung. Das ist wichtig für eine Akzeptanz in Deutschland. Deswegen der Punkt vier: Die Entscheidungen sind jetzt notwendig, und ich bin dankbar für die intensive Diskussion. Wenn wir nicht handeln, läuft das Moratorium aus. Dann gelten die alten Bedingungen, das heißt: ein Anspruch auf Erdgasförderung, ein Anspruch auf Fracking. Das muss allen Beteiligten klar sein, die sich hier kritisch zu diesem Gesetzentwurf äußern. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Allein in Niedersachsen sind es 20 000 Fachkräfte, die wir brauchen, die wir dringend erhalten müssen, damit wir neue Technologien entwickeln können. Deswegen dürfen wir kein generelles Technologieverbot haben. Die weitreichende Ausweitung von Ausschlussgebieten sowie die Einführung von unverhältnismäßigen Prüfmaßstäben wie dem Besorgnisgrundsatz erhöhen nicht das Schutzniveau, sondern führen dazu, dass es ein kurzfristiges Ende der Erdgasproduktion in Deutschland innerhalb der nächsten fünf Jahre gibt. Damit geht ein Wegbrechen der Fachkräfte und der Fachkompetenz in unserem Land einher. Deswegen komme ich abschließend zum Punkt fünf: Es ist keine einfache, aber eine dringend notwendige Entscheidung. Es ist, glaube ich, für die öffentliche Diskussion wichtig. Daher sage ich es noch einmal: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ermöglichen wir nicht neue Wege der Erdgasförderung oder des Frackings, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Doch!) sondern wir sorgen mit diesem Gesetzentwurf dafür, dass wir es begrenzen, dass wir es auf die Bereiche reduzieren, bei denen wir es für umweltverträglich und auch für zulässig halten. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das ist der entscheidende Grundsatz dieses Gesetzentwurfs, den wir an dieser Stelle dringend brauchen. Lassen Sie uns deswegen diesen Weg gemeinsam gehen: Sicherung einer verantwortungsvollen Energieversorgung, umfassender Umwelt- und Trinkwasserschutz, transparente Bürgerbeteiligung genauso wie die Sicherung des Technologiestandorts Deutschland und der Arbeitsplätze, Chancen für die Industrie zur Entwicklung umweltschonender Verfahren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die heutige Diskussion ist keine Diskussion allein über die Frage von Erdgasförderung oder Fracking, sondern es geht auch um die Frage, ob wir in Deutschland bereit sind, Technologien anzuwenden und weiterzuentwickeln, oder ob es in Deutschland in Zukunft die Entwicklung neuer Technologien nicht mehr gibt. Ich bin mir sicher: Mit dem Gesetzentwurf schaffen wir es, den Schutz von Mensch und Natur mit einer sicheren Erdgasgewinnung in Einklang zu bringen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Eva Bulling-Schröter ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fähigkeit, das Wort „nein“ auszusprechen, ist der erste Schritt zur Freiheit. Das Zitat stammt aus der Zeit der Aufklärung in Frankreich. (Zuruf von der CDU/CSU: Die Linke will uns was von Freiheit erzählen!) Was hat Fracking mit Freiheit und Frankreich zu tun? Die Linke ist so frei und aufgeklärt, zum Fracking-Ermöglichungs-Gesetz Nein zu sagen, (Beifall bei der LINKEN) aus vernünftigen Gründen im Sinne des Allgemeinwohls, nicht im Sonderinteresse von US-Fracking-Firmen wie Chevron und Exxon, für die die Bundesregierung ein Türöffnergesetz plant, sondern im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. Ihr Genosse in Paris, Frau Hendricks und Herr Gabriel, Frankreichs Präsident Hollande, war im Übrigen auch so frei: Hollande hat Nein gesagt zu Fracking, und Frankreichs Verfassungsgericht hat das Verbot jüngst bestätigt. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen auch in Deutschland kein Fracking. Es macht keinen Sinn, weder energie- noch klima- oder umweltpolitisch. Wir setzen wirklich auf die Energiewende, auf Wind und Sonne, nicht auf neue Öl- und Gasförderung mit riesigen Methanemissionen und zerstörter Umwelt. Wenn wir heute über Fracking-Technologie sprechen, dann auch über die Freiheit des Marktes, die Natur aufzureißen – das bedeutet nämlich Fracking. Wir sprechen darüber, wie unfrei die Gesellschaft geworden ist, Nein zu Gas, Kohle und Öl sagen zu können. Der Widerstand gegen die Klimaabgabe für alte Braunkohlekraftwerke zeigt das in aller Klarheit. Natürlich geht es um Interessen großer Energieunternehmen. Fünf der sechs umsatzstärksten Unternehmen der Welt sind schließlich Energieunternehmen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wahnsinn!) Jetzt sprechen wir einmal über Demokratie und darüber, wie Politik gemacht wird. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Oh! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Da seid ihr ja sowieso Experten!) Viele Bürgerinnen und Bürger können die Fracking-Debatte wegen des hohen fachlichen Niveaus nur schwer nachvollziehen. Die Skepsis gegenüber dem Expertentum ist groß, und das Vertrauen in Gutachten von Forschungsinstituten, die oft Verbindungen in die Wirtschaft haben, schwindet – und damit das Vertrauen in die Demokratie, die auf verlässliches Wissen angewiesen ist. Das wissen Sie ja auch. Schauen Sie sich die Expertenkommission an, die über Fracking-Vorhaben entscheiden soll. Diese Expertenkommission hat eine personelle Schlagseite. Fast alle Mitglieder sind Fracking-Befürworter; nicht ein Mitglied kommt aus der Zivilgesellschaft. In einem Gremium, das keiner von uns gewählt hat, gilt das Mehrheitsprinzip. Wir brauchen aber die direkte Entscheidung der Betroffenen vor Ort. (Beifall bei der LINKEN) Wenn Tausende Nein sagen, dann muss das auch gelten. So funktioniert nämlich Demokratie. Auch die Art und Weise, wie die Bundesregierung Gesetzentwürfe in die Öffentlichkeit bringt, schadet dem Vertrauen in die Demokratie. Fracking soll durch die Täuschung, man wolle ihm einen Riegel vorschieben, eingeführt werden. Öl und Gas werden gegenüber dem geltenden Recht aber neue Privilegien verschafft. Jetzt komme ich zu den Beispielen. Trinkwasser und Gesundheit haben für uns absoluten Vorrang. So steht es im Koalitionsvertrag auf Seite 44 zum Fracking. Es gelte der „Besorgnisgrundsatz des Wasserhaushaltsgesetzes“. Das klingt super. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist super!) Wir haben aber nicht nur Trinkwasser, sondern auch Grundwasser. Wasser wird nicht nur als Trinkwasser genutzt, sondern auch für Lebensmittel, für Tiere und für Getränke entnommen. Auch dieses Wasser ist vom Fracking bedroht. Das gilt auch für das Wasser für das bayerische Bier, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, das geht natürlich nicht! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Grundnahrungsmittel werden nicht verwässert! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt versteht die CSU die Debatte auch!) und natürlich brauchen wir auch anständige Heilquellen – auch in Bayern. Das wissen Sie doch. Der Besorgnisgrundsatz gilt zwar uneingeschränkt, die Große Koalition spricht aber nur vom Trinkwasser, weicht den Besorgnisgrundsatz hinterrücks auf und schaufelt Fracking den Weg frei. Auch das Bergrecht bleibt fracking-freundlich. Die Unternehmen haben einen Rechtsanspruch auf Aufsuchung und Betriebszulassung. Die Rohstoffsicherungsklausel bleibt, womit ganze Dörfer dem Bergbau weichen müssen. Darum frage ich: Wollen wir einer Fördermethode, die wir als Risikotechnologie identifiziert haben, die Tür öffnen? Ja oder nein? (Beifall bei der LINKEN) Ein Nein zur rechten Zeit erspart viel Widerwärtigkeit. (Zuruf von der LINKEN: Nein!) Das hat übrigens auch Exxon-Chef Rex Tillerson erkannt. Jetzt hört gut zu: Der Millionär hat 2014 zur Fracking-Wasserentnahme in der Nähe seiner Villa Nein gesagt – zusammen mit dem Republikanerführer Armey, der plötzlich selbst betroffen war. Wenn man selbst betroffen ist, wird es plötzlich ganz anders. Wir alle wissen es doch: Einmal genehmigt, ist ein Zurück schwierig. Das wissen auch die Wählerinnen und Wähler – Stichworte: TTIP und Investitionsschutzklagen. Wir Linken sagen Nein. Darum haben wir einen Antrag für ein ausnahmsloses gesetzliches Verbot von Fracking vorgelegt – ohne Hintertürchen. Also: Nein! (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wahnsinnig! – In den Reihen der LINKEN wird ein Plakat hochgehalten) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erlaube mir den Hinweis, dass wir uns aus guten Gründen darauf verständigt haben, dass im Plenum möglichst argumentiert und nicht demonstriert wird. Mein persönlicher Eindruck ist auch, dass das, was vorgetragen wurde, durch anschließend hochgehaltene Plakate nicht an Wirkung gewinnt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Nächster Redner ist der Kollege Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beim Nüßlein würde ich auch kein Plakat hochhalten! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Nüßlein nützt kein Plakat! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt fällt dem Präsidenten nichts mehr ein!) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Für die Union hat der Schutz von Mensch, Trinkwasser und Umwelt oberste Priorität. Ich nehme mir heraus, zu sagen, dass das genauso für die Kolleginnen und Kollegen der SPD gilt. Es ist natürlich das gute Recht der Opposition, das in Zweifel zu ziehen. Nur, Frau Bulling-Schröter, was gar nicht geht, ist, die Tatsachen so zu verdrehen, wie ich es gerade bei Ihnen erlebt habe. Sie tun so, als ob Fracking in Deutschland bislang verboten wäre und wir es nun erlauben wollten. Das ist falsch; das sage ich Ihnen ganz offen. Das lassen wir Ihnen auch nicht durchgehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie müssen doch konstatieren, dass in Deutschland seit Jahren bzw. sogar seit Jahrzehnten gefrackt wird. Das zu regeln, das in geordnete, umweltschutzgerechte Bahnen zu lenken, ist das Anliegen der Gesetze, über deren Entwürfe wir heute in erster Lesung beraten, und nichts anderes. (Beifall bei der CDU/CSU) Seit Jahrzehnten wird in Deutschland, wie gesagt, gefrackt. Es wird zwischen konventionellem Fracking und unkonventionellem Fracking unterschieden. Ich will das mit Blick darauf, dass viele diese Debatte verfolgen, erklären. Das konventionelle Fracking findet dort statt, wo sich Gasblasen unter festem Gestein angesammelt haben. Diese Blasen werden angebohrt, und das Gas steigt aufgrund des eigenen Drucks auf. Wenn dieser Druck nachlässt, wird gefrackt, um weiteres Gas zu fördern. Das ist seit den 60er-Jahren gängige Praxis in Deutschland. Nun kommt eine Technologie hinzu, über die zu Recht heftig diskutiert wird. Beim unkonventionellen Fracking wird versucht, das im Muttergestein oberflächennah gebundene Gas durch Sprengen des Gesteins und hydraulischen Druck zu fördern. Über dieses Thema reden wir nun. Ich will deutlich unterstreichen: Die Diskussion über das unkonventionelle Fracking hat bei uns allen den Blick auf Probleme des konventionellen Frackings geschärft. Ich danke ausdrücklich all den Kolleginnen und Kollegen – auch in meiner Fraktion –, die über dieses Thema kontrovers diskutieren, die sich mit eigenen Erfahrungen aus den Wahlkreisen einbringen und die sich konstruktiv, aber auch kritisch beteiligen. Ihnen sage ich: Sie haben viel erreicht für eine umweltschonende Rohstoffförderung, die, wie Staatsminister Lies beschrieben hat, immerhin 12 Prozent des Erdgasverbrauchs in Deutschland deckt. Tatsächlich erreichen wir aber nur dann viel, wenn es uns nun gelingt, die vorliegenden Gesetzentwürfe durch die parlamentarischen Beratungen zu bringen. Dann kommen die UVP und die geforderten Ausschlussgebiete. Eine Anmerkung am Rande: Selbst die ganz kritischen Geister in Bayern haben inmitten der Diskussion plötzlich bemerkt, dass dann, wenn man Fracking komplett verbietet, beispielsweise die Heilquellen vor Ort versiegen werden; denn auch in diesen Fällen ist man auf Fracking angewiesen, um wieder an Wasser zu kommen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist selbst für Sie unter Niveau!) Dass wir bei den Wasserthemen auch die Brauereien berücksichtigt haben, zeigt, wie umfassend und weitgehend wir das alles regeln. Wir behalten in diesem Zusammenhang alle Themen im Blick. Wir werden zudem das Bergschadensrecht und die Regelungen betreffend das Lagerstättenwasser verschärfen. Sicherlich wird es noch manche Diskussion – auch in meiner Fraktion – über die Frage geben, wie das ausgestaltet werden soll. Aber das ist legitim. Solche Diskussionen werden im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens geführt werden. Das ist auch gut so. (Beifall des Abg. Marco Bülow [SPD]) Wir werden hier zu guten Lösungen kommen. Ich möchte unterstreichen: Für das unkonventionelle Fracking gilt das von allen geforderte klare Verbot, allerdings unter Erlaubnisvorbehalt. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vereinbart war aber etwas anderes!) – Zuhören hilft Ihnen! Ob es etwas verändert, ob Sie es nachvollziehen können, ist eine andere Frage. Wir verbieten – wie von Ihnen gefordert – das, weil es keinerlei Erfahrungen und möglicherweise Risiken gibt. Wenn man diese Begründung ernst nimmt, dann bedeutet das: Sobald man Erfahrungen gemacht hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass Risiken auszuschließen oder zumindest beherrschbar sind, muss es möglich sein, eine solche Technologie anzuwenden. Deshalb besteht der erwähnte Erlaubnisvorbehalt. Ich möchte hier den beiden SPD-geführten Häusern für diesen klugen Vorschlag ausdrücklich danken. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Frank Schwabe [SPD]: Sie müssen dem Kanzleramt danken, Herr Nüßlein!) Eine Expertenkommission einzusetzen, die gut und mit dies durchaus kritisch sehenden Persönlichkeiten besetzt ist, das Who’s who der Geo- und Wasserwissenschaft, ist sachlogisch. Ich möchte noch einmal deutlich unterstreichen: Sie genehmigen nichts, sondern begutachten nur die Versuchsbohrungen. Sie liefern die Eintrittskarte für ein weiteres Verfahren. Sie ersetzen kein Genehmigungsverfahren. Wenn sie zu einem Ergebnis kommen, dann sind die Berg- und Wasserbehörden der Länder gefragt. Das ist ein ganz normales Verfahren. Präsident Dr. Norbert Lammert: Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bülow zu? Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ja, gern. (Volker Kauder [CDU/CSU]: „Gern“ musst du nicht sagen!) Marco Bülow (SPD): Geschätzter Herr Nüßlein, ich freue mich sehr, dass wir jetzt über den Entwurf diskutieren, der von den Häusern gekommen ist, und dass Sie die Problematik des Lagerstättenwassers als diskutabel eingeordnet haben. Herr Pfeiffer hat die Bedeutung der Expertenkommission so hervorgehoben. Mich würde interessieren, ob wir damit rechnen können, mit der Union auch noch einmal über die Expertenkommission zu reden. Ich glaube immer noch, dass wir im Bundestag am besten über diese Dinge entscheiden können und keine Expertenkommission brauchen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist in Ordnung, dass die Experten uns beraten, aber nicht, dass sie letztendlich entscheiden. Ich würde mich freuen, wenn Sie die Position der Union diesbezüglich darlegen würden. Wahrscheinlich gibt es auch dazu wieder zwei oder drei Positionen. Trauen Sie sich zu, diese Expertise selber darzustellen? Danke schön. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ich bin der Überzeugung, dass wir im Deutschen Bundestag nicht die besseren Experten sind, sondern dass es sinnvoll ist, sich wissenschaftliche Expertise zu holen. Die Experten können wir im Bundestag schwer ersetzen. Was wollen Sie denn dann ersetzen? Das anschließende Genehmigungsverfahren? (Frank Schwabe [SPD]: Die Entscheidung!) Soll am Schluss der Deutsche Bundestag genehmigen und die Landesbehörden, die Fachbehörden ersetzen und vor Ort im Wahlkreis X oder Y Maßnahmen genehmigen? Ich glaube nicht, dass wir uns dazu degradieren sollten. Wir machen den gesetzlichen Rahmen, meine Damen und Herren. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Entscheidung trifft die Expertenkommission? Was ist das denn?) Dann wird er so, wie es sich gehört, ausgefüllt. Das sieht dieses Gesetz an dieser Stelle vor. Deshalb habe ich gesagt: Es ist ein kluger Vorbehalt, der nicht wieder zu den angstgeleiteten Diskussionen führt: Soll man oder soll man nicht? Auch die Industrie kann sich dann darauf verlassen, dass dann, wenn die Experten zu dem Ergebnis kommen, dass es keine Bedenken gibt, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So wie bei der Asse!) ein Rechtsweg beschritten wird, der in die Richtung geht, dass wir die Technologie anwenden. Ich sage auch denen, meine Damen und Herren, die kritisch sind und sagen, dass die Risiken zu groß und unbeherrschbar sind: Wenn das so ist, dann wird doch niemals eine so besetzte Expertenkommission, wie es das Umweltministerium vorschlägt, (Frank Schwabe [SPD]: Das Bundeskanzleramt!) zu dem Ergebnis kommen, dass man das in Deutschland anwenden kann. Dann ist das ausgeschlossen. Dann ist dieses Verbot so absolut, wie es die einen oder anderen auch aus unseren Reihen wollen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb glaube ich schon, dass es richtig ist, dass wir konzentriert an diesem Gesetz weiterarbeiten und dafür Sorge tragen, dass insbesondere die Verbesserungen, die im Bereich des konventionellen Fracking angedacht sind, am Schluss auch so kommen. Das ist ganz entscheidend. Wir erreichen nichts, wenn wir wieder an der gleichen Stelle steckenbleiben wie in der letzten Legislatur, wo die Verdrehung der Tatsachen – man hat uns auch da schon angehängt, wir würden ein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz machen –, genau dazu geführt hat, dass es diese Verbesserungen nicht gegeben hat. Die Mehrheit der kritischen Geister in unseren Reihen beschäftigt sich im Übrigen mit Themen, die mit dem konventionellen, dem praktizierten Fracking zusammenhängen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Nüßlein, auch Frau Höhn möchte gerne Ihre Redezeit verlängern. Sind Sie damit einverstanden? Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Okay, herzlich gern. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Nüßlein, können Sie bestätigen, dass die Experten hinsichtlich der Wasserfrage bei der Asse gesagt haben, die Asse sei absolut sicher und Radioaktivität würde nicht ins Wasser gelangen, und zwar für 1 Million Jahre nicht, dies aber trotzdem nach 20 Jahren passiert ist? Können Sie genauso bestätigen, dass die Experten gesagt haben, dass das PCB-belastete Hydrauliköl ruhig in den Bergwerken bleiben könne, weil das nie und nimmer ins Wasser gelange, wir jetzt aber, nach 10, 15 Jahren, PCB im Wasser finden? Können Sie das bestätigen? Können Sie bestätigen, dass Experten zu genau diesen Auffassungen gelangt sind? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Frau Kollegin Höhn, was wollen Sie mir mit dieser Frage mitteilen? Dass man sich auf den Rat von Experten nicht verlassen kann, (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Dass man zweifeln darf!) dass wir ersatzweise lieber alles selbst regeln sollten und man vorsichtshalber alles verbieten sollte, was man verbieten kann? (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dass man das eigene Hirn einschalten muss, will sie sagen!) Das entspräche nicht der sinnvollen Politik, die diese Koalition in Verantwortung für die Umwelt in Deutschland auf der einen Seite und für die Wirtschaft in Deutschland auf der anderen Seite macht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Antwort auf die Frage!) Ich will ganz deutlich sagen, dass die Expertenkommission und das Verbot unter Erlaubnisvorbehalt der Kern dieses Gesetzentwurfs sind. Ich glaube, wir sollten stolz darauf sein, dass wir mit diesem Gesetz einen Weg finden, der von Angst und Populismus wegführt (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt jemand von der CSU!) und dafür sorgt, dass in Deutschland auch in Zukunft neue technische Möglichkeiten ernsthaft erforscht werden können und sich die Industrie daran verlässlich beteiligen kann. Ich will deutlich machen, dass der heimische Beitrag zur Rohstoffversorgung durchaus beachtlich ist: 12 Prozent unseres Gasbedarfs. Wenn hier jemand sagt, Fracking sei im Zusammenhang mit der Energiewende unnötig, sage ich dazu – zumindest stelle ich das fest –, dass die Konzepte aus dem Bundeswirtschaftsministerium, die ich bisher zur Kenntnis genommen habe, zeigen, dass man ganz massiv auf Gas setzt, und zwar als Ersatz- und Regelenergie. Die Behauptung, man brauche für die Umstellung, für die Energiewende kein Gas, ist aus meiner Sicht komplett falsch. Das ist zu kurz gedacht. Wer nicht will, dass in Deutschland geforscht wird, den nenne ich schon immer einen Ökokolonialisten. Er sagt: Bei uns nicht; sollen das doch andere bei sich zu Hause machen; die haben nicht so eine Umwelt, nicht so eine Natur. – Deutschland muss doch Vorbild sein und einen anderen Weg gehen. Wir müssen Techniken und Wege finden, um solche Vorkommen zu erschließen, ohne die Umwelt dabei zu beschädigen, ohne dass solche Schwierigkeiten entstehen, die wir in anderen Ländern sehen. Man kann in Deutschland nicht einfach eine Technologie pauschal verbieten. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Doch!) Es geht um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. – Das sage nicht ich, sondern das sagte Bundesumweltministerin Hendricks laut einer dpa-Meldung vom 1. April 2015. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das passt zum Datum!) Damit hat sie absolut recht. Wir können das nicht pauschal verbieten. Deshalb gehen wir sehr klug vor. Wir stellen sicher, dass Umwelt und Natur geschützt sind, aber auch, dass weltweit Rohstoffvorkommen in Zukunft verantwortungsbewusst erschlossen werden können. Ich bitte Sie herzlich um eine sachliche Diskussion und um Unterstützung des bisher Erreichten. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Julia Verlinden erhält nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fracking ist riskant für Umwelt und Gesundheit, und es ist nicht nötig, wie wir hier heute schon mehrfach gehört haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Trotzdem will die Bundesregierung es erlauben. Fracking bedeutet Gift in den Böden, Gift im Wasser und Gift für die Atmosphäre. Sie kennen die Berichte aus den USA über Erdbeben, entweichendes Methan und verdrecktes Wasser. Das sind Probleme des fossilen Zeitalters. Diese Epoche müssen wir schnellstmöglich beenden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Dr. Nina Scheer [SPD]) Das können wir, weil die Alternativen zur Verfügung stehen. Fracking verstärkt die Klimakrise, anstatt sie aufzuhalten. Das zuzulassen, ist grob fahrlässig von der Bundesregierung. Ja, wir brauchen schärfere Regeln für die Rohstoffförderung. Ja, wir brauchen auch endlich Regelungen bezüglich Fracking. Die bisherige Rechtsunsicherheit muss beendet werden – darüber sind wir uns ja alle einig –; aber da endet auch schon die Einigkeit mit der Bundesregierung. Denn wir brauchen ein Fracking-Verbot und kein Fracking-Erlaubnis-Paket. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Genau das ist es aber, was Sie, Frau Hendricks, gemeinsam mit Ihrem Kollegen Gabriel, der heute in der Debatte leider nicht reden möchte, planen. Selbst Sie, Frau Hendricks, geben zu: Fracking ist kein Beitrag zur Energiewende. Wir brauchen es nicht. Für den Klimaschutz bringt es uns nichts. Es ist riskant und hat in einer zukunftsfähigen, enkeltauglichen Energieversorgung nichts verloren! Anstatt Vorreiter für die Fracking-Technik in Europa zu sein – eine Technik, die in eine Sackgasse führt –, müssen wir in Deutschland überlegen, wie wir mittelfristig ohne Erdgas auskommen und in Innovationen für die Energiewende investieren. Und darauf haben wir Grüne sehr gute Antworten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dieses Jahr ist ganz entscheidend für den Klimaschutz weltweit. Es wäre ein fatales Signal, wenn Deutschland ausgerechnet jetzt wieder einen Schritt rückwärts macht, anstatt auf die Zukunft zu setzen. Denn die Zukunft heißt: zuverlässige und umweltfreundliche Energie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Und der Weg dahin geht über erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Energiesparen. Einige von Ihnen behaupten, Fracking würde in Zukunft nur noch in ganz wenigen Fällen möglich sein. Die Satzkonstruktionen, die wir heute dazu schon hören mussten, sind echt abenteuerlich. Sie sagen, der Gesetzentwurf sei doch quasi fast ein Verbot. Die Menschen lassen sich aber nicht für dumm verkaufen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Lediglich in ganz wenigen Gebieten wird Fracking zukünftig wirklich rechtssicher verboten sein. Wenn ich ganz großzügig rechne, dann wird es in maximal einem Drittel der Landesfläche verboten sein. Das heißt, Sie legen uns hier kein umfassendes Fracking-Verbots-Gesetz vor, sondern höchstens ein Drittelverbotsgesetz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In Ihrem Gesetzentwurf stehen Regeln, die nicht nur gefährlich, sondern auch total absurd sind. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Beispiel?) – Gerne! Nehmen wir zum Beispiel die 3 000-Meter-Grenze. Warum soll Fracking in einer Tiefe von 2 999 Metern gefährlich sein – deswegen lieber nur Probebohrungen –, in einer Tiefe von 3 001 Metern aber harmlos? Das ist doch total unlogisch! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sogar den Einsatz von wassergefährdenden Chemikalien erlauben Sie dort! Und warum gilt die 3 000-Meter-Grenze eigentlich nicht für Erdöl-Fracking? Bisher hat mir noch niemand eine überzeugende Antwort liefern können. Ich weiß auch, warum. Es gibt nämlich keine logische Begründung für dieses Kuddelmuddel an Ausnahmen in Ihrem Gesetzentwurf, meine Damen und Herren! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ein echtes Verbot dieser Technik wäre konsequent. Das würde dem Vorsorgeprinzip entsprechen. Die Landesumwelt- und -energieminister haben im Bundesrat deutlich gemacht, dass Fracking im Bergrecht und im Wasserrecht verboten werden muss. Das ist die richtige Regulierung für diese Technik – und nicht ein vermurkstes Fracking-Erlaubnis-Gesetz voll mit Schlupflöchern! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich erwarte von Ihnen, dass Sie die Beschlüsse der Landesumweltminister aus dem Bundesrat aufnehmen. Ich will, dass Sie wenigstens die Umweltanforderungen an die Förderung von Erdgas und Erdöl auch bei der frackfreien Rohstoffförderung verschärfen. Denn was viele hier in der Debatte unterschlagen: Man kann Erdgas auch ohne Fracking-Technik fördern. Jawohl! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Fracking-Verbot wäre kein automatisches Ende der Erdgasförderung in Deutschland. Es geht nur um die eine Form der Erdgasförderung, um eine Form der Technik. Wir sehen doch jetzt schon, wie viel bei der Erdgasförderung insgesamt schiefgehen kann: unkartierte Bohrschlammgruben, beschädigte Gebäude, undichte Rohrleitungen und eine ungeklärte Steigerung von Krebsfällen in Niedersachsen. Ich sage Ihnen: Es reicht! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Und damit bin ich in bester Gesellschaft. Jawohl! Denn mehr als 2 000 Kommunen in Deutschland sagen Nein zum Fracking. Auch Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände kritisieren diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung. Über zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes meinen, dass Fracking von der Bundesregierung verboten werden sollte. Kanzlerin Merkel – heute leider nicht anwesend – regiert doch sonst so gerne nach Meinungsumfragen. (Karsten Möring [CDU/CSU]: Machen Sie auch so!) Warum tut sie das an dieser Stelle nicht? Sie hätte die Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands sicher hinter sich. Ich sage Ihnen, warum sie das nicht tut: weil ihr die Interessen der Erdgaslobby viel wichtiger sind. Und das ist unverantwortlich! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir Grüne werden uns nicht damit abfinden, dass Sie mit Ihrer Großen Koalition gegen die Mehrheit der Bevölkerung und gegen die Vernunft blind dem Willen der Konzerne folgen. Ich erwarte von Ihnen, von den Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD, dass Sie jetzt endlich Farbe bekennen! Man kann nicht durch die Lande ziehen und den Menschen im Wahlkreis erzählen, man fände Fracking ja auch irgendwie nicht so gut, und dann hier so ein Fracking-Erlaubnis-Gesetz durchwinken! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Seien Sie ehrlich! Machen Sie Ihre Entscheidung transparent! Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter! Erklären Sie den Wählerinnen und Wählern, wofür Sie wirklich stehen! Handeln Sie! Machen Sie mit uns aus diesem Fracking-Erlaubnis-Paket ein echtes Fracking-Verbot! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Berauscht euch an euch selbst!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Matthias Miersch für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Matthias Miersch (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei diesem Thema geht viel durcheinander, und man muss es sortieren. Aber bei einem, glaube ich, sind wir uns doch alle einig: Die Regelungen, die wir zurzeit im Bergrecht und auch im Wasserhaushaltsrecht haben, sind antiquiert, und mit Blick auf Erdgasfördermaßnahmen und auch auf die Ölförderung ist dieser Gesetzentwurf für alle erst einmal ein Fortschritt, weil die Umweltverträglichkeitsprüfung zur Pflicht wird und eine Beweislastumkehr im Bergschadensrecht stattfindet. Das muss man hier ganz deutlich sagen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Bundesregierung hat etwas geschafft, was vor zwei Jahren gescheitert ist; Herr Nüßlein hat darauf hingewiesen. Ich finde, wir Parlamentarier haben, wenn wir Regelungsbedarf feststellen, die Aufgabe, uns den großen Fragen zu stellen. Deswegen bin ich den Kolleginnen und Kollegen – Christina Jantz und Lars Klingbeil für die SPD –, die in ihren Wahlkreisen feststellen, dass Handlungsbedarf besteht, dankbar, dass sie sich in die Beratung einbringen und mit uns gemeinsam prüfen werden, ob das, was vorgelegt wurde, ausreicht, beispielsweise was den Umgang mit Lagerstättenwasser angeht. Wir werden uns das anschauen; die parlamentarische Beratung steht jetzt bevor. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ebenso müssen wir uns noch einmal mit dem Thema Probebohrung beschäftigen, mit dem grundsätzlichen Verbot des Fracking, das wir aus Amerika kennen, mit der Frage, ob wir an wissenschaftliche Erkenntnisse gelangen können. Ja, Herr Pfeiffer, es ist richtig, sich das noch einmal genau anzuschauen: die Gesteinsformationen, die Frage, wie man Probebohrungen durchführt, die entsprechenden Zahlen. All das müssen wir auch im parlamentarischen Verfahren sehr sorgfältig betrachten. Der entscheidende Punkt ist nach meiner Einschätzung die Frage, ob das grundsätzliche Verbot von Fracking dadurch umgangen werden kann, dass eine Expertenkommission grünes Licht gibt und dann eine Landesbehörde genehmigt. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Ich finde, der Deutsche Bundestag muss die Instanz sein und bleiben, die letztlich über den kommerziellen Einsatz von Fracking entscheidet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber dann weg mit der Expertenkommission!) – Sven Kindler, da fangen wir dann an, miteinander zu diskutieren. Es wird jetzt im parlamentarischen Verfahren darum gehen, das zu prüfen. Ich glaube auch, dass man, wenn man die Eckpunkte von Barbara Hendricks und Sigmar Gabriel mit dem vergleicht, was jetzt vorliegt, feststellen kann, dass die Expertenkommission ursprünglich nicht vorgesehen war. Dass sie jetzt im Gesetzentwurf steht, hängt, glaube ich, durchaus auch mit dem Kanzleramt zusammen; aber das können wir aufklären. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, im Kanzleramt muss man viel aufklären!) Herr Mattfeldt, Sie haben gerade gesagt, in den Koalitionsverhandlungen zum Thema Fracking werde es knallen. Nun weiß ich nicht, was Sie meinen. Sie sagen, hinter Ihnen stehen 80 Abgeordnete. Ich schaue Ihren Fraktionsvorsitzenden an: Sie haben ja über 200 Abgeordnete. Das heißt, es scheint in der Fraktion zu knallen, mit Herrn Fuchs oder mit Herrn Pfeiffer. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei Ihnen knallt es viel häufiger!) Aber um eins bitte ich Sie: Klären Sie Ihre Haltung, bevor Sie uns attackieren. Denn ich glaube, vieles, was Sie wollen, wollen wir auch. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aber das ist augenblicklich noch nicht mehrheitsfähig in dieser Großen Koalition. Deswegen lassen Sie uns kämpfen. Was wir Ihnen nicht durchgehen lassen werden, ist: links blinken und rechts abbiegen. Das darf nicht passieren. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Herlind Gundelach erhält nun für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es ist heute zwar schon mehrfach betont worden, aber auch ich möchte es eingangs betonen: Das Gesetzespaket, das uns heute vorliegt, ist eben kein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz – ganz im Gegenteil. Auch das ist schon mehrfach gesagt worden: Nach geltender Rechtslage ist Fracking nach entsprechender Genehmigung, natürlich immer durch die zuständige Behörde, in Deutschland möglich, auch wenn es gegenwärtig ein Moratorium gibt; aber von der Rechtslage her ist es möglich. Wir nutzen diese Technologie schon seit mehr als 50 Jahren, und wir haben sie bisher auch relativ erfolgreich genutzt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir eine revisionsoffene Regelung. Das bedeutet, dass wir das Fracking in Schiefergestein zunächst nur für forschungsbezogene Vorhaben zulassen und auch diese nur unter strengsten Auflagen. Ansonsten gilt ein grundsätzliches Fracking-Verbot für Maßnahmen oberhalb von 3 000 Metern. Darin, dass diese Grenze in der Tat etwas willkürlich ist, sind wir uns einig; darüber werden wir im Ausschuss sorgfältig beraten. Der Wissenschaftliche Dienst bezeichnet das aktuelle Gesetzesvorhaben daher als Fracking-Verbot mit Forschungsprivileg. Dieses Gesetzespaket reguliert aber nicht nur das Fracking. Es legt auch – das halte ich für mindestens genauso wichtig – neue Auflagen für die Erdgasförderung in diesem Lande fest. Um den Sorgen der Bürger Rechnung zu tragen, wurden seit 2011 keine Anträge auf konventionelle Gasförderung mit Anwendung der Fracking-Technologie mehr positiv beschieden. Deswegen haben die Unternehmen keine Anträge mehr gestellt. Diese Bundesregierung setzt jetzt erstmals einen klaren ordnungsrechtlichen Rahmen, bei dem der Schutz des Menschen, seiner Gesundheit und der Umwelt im Vordergrund steht. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir setzen einen ordnungsrechtlichen Rahmen – auch das sage ich –, der aber in einem klaren ordnungspolitischen Denken wurzelt; denn unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung beruht auf dem Gedanken der Freiheit, der Freiheit des Einzelnen wie der Gesellschaft insgesamt. Dazu gehört in unserem marktwirtschaftlichen System auch die Freiheit des Unternehmers. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die ökologische und soziale Marktwirtschaft – ich betone ganz bewusst beides – setzt hierfür in unserem Land den Rahmen. Das heißt, neben den Belangen der Wirtschaft stehen gleichberechtigt die Belange der Gesellschaft und des Umweltschutzes. Nur ein solches Konzept ist nachhaltig. Damit unterscheiden wir uns diametral von den Oppositionsparteien, die am liebsten entweder aus dem Diktat des Sozialen oder des Ökologischen alles verbieten oder zumindest ganz detailliert vorschreiben wollen, was zu tun und was zu unterlassen ist. Mit dem Handeln in Freiheit und Verantwortung ist Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg das geworden, was es heute ist: eine der erfolgreichsten Industrienationen der Welt, in die zu gelangen viele Menschen dieser Tage sogar ihr Leben aufs Spiel setzen. Wir sollten uns überlegen, ob wir von diesen Grundsätzen wirklich abweichen wollen. Das ab heute im Bundestag zu debattierende Gesetzespaket Fracking hat eine Vorgeschichte, die noch in die letzte Legislaturperiode reicht. Damals ist der Versuch gescheitert – auch das wurde schon betont; über die Gründe möchte ich mich hier gar nicht auslassen –, Fracking in Deutschland verbindlich zu regeln. Dabei könnte man meinen, dass das eigentlich gar nicht so schwierig ist, da diese Technologie ja bei uns bekannt ist; denn zwischen 1961 und 2011 fanden in Deutschland im Rahmen der konventionellen Erdgasförderung über 300 sogenannte Fracks statt. Heute legen wir ein Gesetzespaket vor, an dem sicher noch das eine oder andere zu verbessern sein wird – auch das haben wir schon gehört –, das aber aus meiner Sicht insgesamt ausgewogen ist. Es sieht ein Fracking-Verbot mit Forschungsoption vor und außerdem deutlich strengere Auflagen für die Förderung von Erdgas aus konventionellen Lagerstätten, das heißt aus dem sogenannten offenporigen Gestein. Ich weiß, es gibt Menschen, die fordern, dass wir in Deutschland grundsätzlich kein Erdgas mehr mithilfe von Fracking fördern sollten. Diesen Menschen möchte ich einige Informationen und einige wichtige Punkte zum Nachdenken mit auf den Weg geben, und bei dieser Gelegenheit möchte ich auch mit der einen oder anderen Falschinformation aufräumen. Erdgas ist – das ist uns allen bekannt – der CO2-ärmste fossile Energieträger und damit der ideale Begleiter für die Erneuerbaren. Ich denke, da stimmen sogar die Grünen zu. Wir wenden diese Technologie, wie bereits erwähnt, seit 1961 ohne größere Zwischenfälle an. In Deutschland nutzen wir Erdgas aber nicht nur für die Stromerzeugung, sondern insbesondere auch für die Erzeugung von Wärme. Knapp 50 Prozent unserer Heizungsanlagen in Deutschland werden mit Gas befeuert. Derzeit fördern wir nur noch rund 10 Prozent unseres Bedarfs selbst. Dieser Anteil war einmal höher. Wir haben für die Zukunft deutlich größere Potenziale. Wenn wir hier allerdings weiter drosseln, werden wir noch abhängiger von ausländischen Gasversorgern. Wenn im Zusammenhang mit der Fracking-Technologie von Frack-Fluiden und den darin enthaltenen Chemikalien gesprochen wird, setzen viele Menschen diese sofort mit giftigen Chemikalien gleich. Dabei ist es wichtig, zu wissen, dass schon allein der Begriff „Chemikalie“ sehr unscharf ist. Wasser, Luft, Stärke und Backpulver sind auch Chemikalien. Inhaltsstoffe wie zum Beispiel Guarkernmehl, was vermutlich keiner von uns kennt, wird sowohl in Frack-Fluiden als auch in Lebensmitteln verwandt. Der Gesetzentwurf sieht übrigens vor, dass Frack-Fluide nur noch schwach wassergefährdend sein dürfen. Das heißt, sie dürfen nur die Wassergefährdungsklasse 1 haben. Zum Vergleich – ich gehe einmal davon aus, dass sich jeder von uns von Zeit zu Zeit seine Haare wäscht –: Shampoo hat die Wassergefährdungsklasse 2. In Bezug auf das Grundwasser sollte man übrigens auch wissen: Nicht jedes Grundwasser ist Trinkwasser. Trinkbares Wasser befindet sich in circa 200 bis 300 Metern Tiefe. Das Wasser darunter ist definitiv nicht trinkbar. Salz und natürliche Vorkommen von Quecksilber und Benzol machen es zum Teil sogar giftig. Insofern diese Flüssigkeiten bei der Gewinnung von Erdgas anfallen, werden sie künftig in geschlossenen Behältnissen aufgefangen. Anschließend dürfen sie nur noch in kohlenstoffhaltige, druckabgesenkte Gesteinsformationen eingebracht werden. Das heißt, sie werden dorthin zurückgeführt, wo sie herkommen. Auch dieser Vorgang unterliegt einer UVP-Pflicht mit all dem, was dazugehört, inklusive Beteiligung der Wasserbehörden, aber auch der Öffentlichkeit. Das heißt, es muss vorher eine sorgfältige Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden. Die UVP-Pflichten weiten wir ohnehin massiv aus; denn in Deutschland wird in Zukunft bei jeder Gewinnung und sogar schon bei der Aufsuchung von Erdöl und Erdgas mithilfe der Fracking-Technologie eine UVP durchgeführt werden müssen. Ich will an dieser Stelle gar nicht auf weitere Einzelheiten des Entwurfs eingehen. Ich gehe davon aus, dass wir das im Ausschuss noch sehr gründlich diskutieren werden. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh ja!) Zu dieser Diskussion werden wir sicher auch den Sachverstand von Wissenschaft und Praxis einfordern. Für mich – das möchte ich zum Schluss betonen – ist das Gesetzespaket aus zweierlei Gründen von Bedeutung: Erstens. Es schafft die Möglichkeit, unter ökologisch verantwortbaren und wirtschaftlich vertretbaren Voraussetzungen den heimischen Energieträger Erdgas zu fördern. Das macht uns unabhängiger und auch weniger erpressbar; denn ganz ohne fossile Energie – auch das ist heute schon deutlich geworden – werden wir vermutlich in dem vor uns liegenden Jahrhundert gar nicht auskommen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Gas, dessen Vorräte ja durchaus beachtlich sind, dann am Schluss auch tatsächlich gefördert wird. Es kommt darauf an, zu zeigen, dass wir prinzipiell bereit sind, es zu fördern, (Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und dass es auch verantwortungsvoll zu fördern ist. Ob es tatsächlich gefördert wird – Herr Krischer, ob Sie es glauben oder nicht –, entscheiden letztendlich die Unternehmer dadurch, ob sie einen Antrag stellen. Ob sie es fördern dürfen, entscheiden letztendlich die Behörden. Das ökonomische Risiko wollen wir den Unternehmern im Übrigen gar nicht abnehmen. Manchmal würde ich mich allerdings auch über ein bisschen mehr Risikobereitschaft bei den Förderern der erneuerbaren Energien freuen; denn die beanspruchen in der Regel ein Rundum-sorglos-Paket. Das ist aber ein ganz anderes Thema. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ulrich Freese [SPD] – Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie sieht es denn mit Ihrer Risikobereitschaft bei bestimmten Techniken aus?) Unsere Aufgabe ist es, in diesem Gesetz rechtlich einwandfrei die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine Gewinnung von Erdgas in Deutschland zukünftig möglich ist. Der zweite Punkt, warum meines Erachtens die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs wichtig ist, hängt damit zusammen, dass wir auch ein Signal nach draußen setzen: dass sich Deutschland auch in schwierigen Feldern bewegen kann, dass wir uns nach wie vor technologieoffen zeigen und dass wir nicht ausschließlich an Verteilungsprozessen interessiert sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir zeigen damit, dass wir noch immer in der Lage sind, Innovationen anzustoßen und diese auch umzusetzen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausgerechnet bei Fracking!) Das europäische Ausland, aber auch die Vereinigten Staaten und Kanada blicken gegenwärtig mit großem Interesse nach Deutschland, auf unsere Vorschläge und auf unsere Regelungen, wie wir mit der Fracking-Technologie umgehen wollen. Ich bin sicher: Wenn wir dies erfolgreich machen, werden unsere Regelungen früher oder später auch in die dortige Gesetzgebung Eingang finden. Im Übrigen freue ich mich auf eine intensive und, ich denke, sicherlich auch sehr strittige Diskussion in den Ausschüssen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Bernd Westphal für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU]) Bernd Westphal (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist sicherlich eine schwierige und wichtige Debatte, die wir hier heute führen. Ich denke – viele meiner Vorredner haben das vorangestellt –, es geht hier auf der einen Seite darum, mit dieser Vorlage der Absicherung der Trinkwasserqualität in Deutschland gerecht zu werden. Das sind berechtigte Interessen, was unser Lebensmittel Nummer eins angeht. Aber auf der anderen Seite geht es auch darum, eine Rohstoffförderung in Deutschland zu gewährleisten. Ich finde es unredlich, wenn in Bezug auf diesen vorliegenden Gesetzentwurf gesagt wird, wir würden ähnliche Bedingungen wie in den USA schaffen. Eben das ist nicht der Fall. Der hier von der Bundesregierung beschlossene Gesetzentwurf legt die weltweit höchsten Standards fest, zu denen Erdgasförderung in Deutschland in Zukunft stattfinden wird, und das ist ein Fortschritt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Erdgas ist ein wichtiger Energieträger, nicht nur für die Wärme- und Stromerzeugung, sondern auch für die chemische Industrie. Das sieht man, wenn man die großen Investitionen der chemischen Industrie beobachtet, die nicht mehr in -Europa getätigt werden, sondern in den USA, weil dort das Erdgas, das durch die Anwendung dieser Technologie gefördert wird, sehr günstig ist. Deshalb gibt es auch für uns einen Grund, diese Technologie anzuwenden und sie nicht leichtfertig aufzugeben. Die Importabhängigkeit beträgt bei Erdöl 98 Prozent, bei Erdgas fast 90 Prozent – das wurde genannt –, bei Steinkohle, wenn wir das letzte Bergwerk 2018 schließen, 100 Prozent. Die Braunkohle ist der einzige heimische, ohne Subventionen auskommende Energieträger, der für Preisstabilität sorgt. Deshalb müssen wir auch, was die Versorgung mit Energie angeht – Energie ist Wohlstand –, schauen, was national zur Verfügung steht, und dementsprechend Rahmenbedingungen schaffen. Seit den 50er-Jahren wird in Deutschland Erdgas gefördert. Der Wirtschaftsminister von Niedersachsen hat dazu hier einiges gesagt. Ich denke, die Horrorlandschaften, die hier beschrieben werden, findet man in Niedersachsen eben nicht. Es gibt dort keine Mondlandschaften. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Westphal, darf die Kollegin Verlinden Ihnen eine Zwischenfrage stellen? Bernd Westphal (SPD): Bitte sehr. Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Westphal, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben gerade gesagt, wir müssten aufgrund der Versorgungssicherheit die Importabhängigkeit, zum Beispiel von Erdgas, verringern und aufgrund dieser Thematik auch über Fracking in Deutschland reden. Ich bin etwas verwundert, weil Ihre Parteikollegin Frau Bundesumweltministerin Hendricks sowohl heute in ihrer Rede als auch öffentlich in Statements etwas anderes verkündet. So heißt es zum Beispiel in einem Pressebriefing des Ministeriums vom November 2014 wörtlich: Erdgas-Fracking kann … in Deutschland keinen substanziellen Beitrag zu unserer Energieversorgung leisten. Weder die Reduzierung unserer Abhängigkeit von Energieimporten noch unsere Klimaziele werden wir durch den Aufbau einer kostenintensiven Fracking-Infrastruktur erreichen. Ich sehe einen gewissen Widerspruch zwischen dem, was die Umweltministerin sagt, und dem, was Sie gerade hier verkündet haben, nämlich dass wir aufgrund der Importabhängigkeit und Versorgungssicherheit auch über Fracking ernsthaft nachdenken müssten. Ich sehe das anders, aber das habe ich schon in meiner Rede gesagt. Mich würde interessieren, wie Sie zu diesem Widerspruch stehen. Bernd Westphal (SPD): Wir haben in Deutschland eine untergeordnete Behörde des Wirtschaftsministeriums, die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, BGR, ansässig in Hannover. Deren Präsident hat aufgrund geologischer Erkenntnisse, die die Bundesanstalt bisher hat, prognostiziert, dass wir 1,3 Billionen Kubikmeter Erdgas im Kohle- und Schiefergasvorkommen in Deutschland haben könnten. Das weiß man natürlich nicht. Im Bergbau sagt man: Vor der Hacke ist es duster. – Das heißt, wir müssen erst einmal Probebohrungen ermöglichen und Erkenntnisse sammeln, die uns auf der einen Seite dazu verhelfen, diese Technologie sicher anzuwenden, und die uns auf der anderen Seite Klarheit darüber verschaffen, wie viel Vorkommen wir in Deutschland überhaupt haben und welchen Beitrag Erdgas leisten kann. Dann werden wir auch sicher Klarheit darüber haben, ob das ein substanzieller Beitrag sein kann oder nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Völlig richtig! Sehr vernünftig!) Wie gesagt, seit den 50er-Jahren wenden wir diese Technologie an. Weil wir Befürchtungen haben, dass wir mit der Technologie in Kohle- und Schiefergasvorkommen durchaus Risiken eingehen, wollen wir diese Technologie wissenschaftlich begleitet anwenden. Ich glaube, dass wir auch in Deutschland eine Offenheit für solche innovativen Dinge brauchen, für Investitionen, die Unternehmen tätigen wollen, wobei wir gleichzeitig den Schutz von Umwelt und Natur gewährleisten müssen. Wir haben mehrere Gutachten vorliegen, die sich bereits mit diesem Thema beschäftigt haben, übrigens auch erstellt im Auftrag des Umweltbundesamtes. Keines dieser Gutachten kommt zum Ergebnis, dass wir, wie hier teilweise gefordert, Fracking verbieten sollten; es wird vielmehr ausgeführt, dass es Risiken gibt, die man aber durchaus beherrschen kann. Deshalb kommen auch Verbände wie der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft – der BDEW ist also mit dabei – zu dem -Ergebnis, dass wir bei der unkonventionellen Erdgasförderung in Deutschland weiterhin zusätzliche Probebohrungen zulassen sollten. Wir haben nun strengere Regelungen, von denen einige genannt worden sind, zum Beispiel für den Umgang mit der Frack-Flüssigkeit oder das Verbot wassergefährdender Stoffe. Wir haben eine Reihe von Gebieten in Deutschland ausgewiesen, wo die Anwendung dieser Technologie ausgeschlossen wird, wir haben Umweltverträglichkeitsprüfungen in vielen Bereichen vorgesehen, die es heute noch nicht gibt. Wir werden mit der -unabhängigen Expertenkommission sicherlich Erkenntnisse zusammentragen können, die auch uns als Bundestagsabgeordneten eine Entscheidungsgrundlage bieten können. Deshalb glaube ich schon – das hat auch Matthias Miersch gesagt –, dass wir das Thema, vielleicht auch mit einem Parlamentsvorbehalt, dann noch einmal neu bewerten können, wenn diese Erkenntnisse vorliegen. Auch im Bereich Lagerstättenwasser gibt es in dem Gesetzentwurf erste Anzeichen, wie wir von den heutigen durchaus risikoreichen Anwendungen in kohlenwasserstoffentspannten geologischen Formationen zu neuen Entsorgungswegen kommen können. Mein Fazit ist: Wenn der Grundwasserschutz gewährleistet ist, wenn wir schwierige Gebiete ausnehmen, kann konventionelle Erdgasförderung wieder an den Start gehen; wenn wir hohe Standards festlegen, wissenschaftlich begleitete Probebohrungen vornehmen, haben wir die Chance, auf dieser Basis noch einmal neu zu entscheiden. Seneca hat einmal gesagt: Nicht weil die Dinge schwierig sind, wagen wir sie nicht, sondern weil wir sie nicht wagen, sind sie schwierig. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie lieber einmal die Energiewende!) Die Sozialdemokratie steht für Fortschritt und für Innovation; deshalb sollten wir – unter strengen Auflagen – auch dieser Technologie nicht entsagen. Vielen Dank und Glück auf. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Andreas Mattfeldt ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat, die Gesetzentwürfe weisen in die richtige Richtung; (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das haben Sie noch nie erklärt!) sie sind aber – das sage ich auch – noch weit davon entfernt, ich sage mal, perfekt zu sein. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Dafür haben Sie uns!) Deshalb bin ich Ihnen dankbar, Frau Ministerin Hendricks, dass Sie angekündigt haben, dass Sie sehr offen sind für Verbesserungen. Leider wird die Debatte – das hören wir auch heute – um die Erdgasförderung nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch hier bei uns, in diesem Hause, nahezu ausnahmslos mit dem fast schon missbrauchten Begriff „Fracking“ geführt. Als jemand, der von der Erdgasförderung ganz persönlich betroffen ist, kommt mir bei dieser ganzen Diskussion die seit Jahrzehnten praktizierte konventionelle Erdgasförderung viel zu kurz. Ich komme aus einer Gemeinde, in der das wohl größte Erdgasfördergebiet Deutschlands liegt. Ich sage ganz offen: Ich bin immer ein großer Verfechter des Bergens heimischen Erdgases gewesen. Ich sage auch: Bei uns in der Region gab es immer eine riesige Akzeptanz für die Erdgasförderung. Leider ist diese Akzeptanz durch negative Erfahrungen, die wir mit der Erdgasförderung gerade in der jüngeren Vergangenheit gemacht haben, verloren gegangen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Ja, wir brauchen für die Erdgasförderung dringend verschärfte, gute Gesetze, die sich an den heutigen Stand der Technik anpassen, damit großflächige Umweltverschmutzungen, wie ich sie in meiner Heimat, direkt vor meiner Haustür erleben musste, zukünftig vermieden werden. Ich sage aber auch: Wir dürfen nicht nur dem Begriff „Fracking“ hinterherjagen – das wäre viel zu kurzsichtig und löst langfristig die Probleme nicht. Weil wir die Probleme langfristig lösen wollen, das Vertrauen in die heimische Erdgasförderung wiederherstellen wollen, engagieren sich zahlreiche Unionskollegen für erhebliche Verschärfungen im Bereich der Erdgasförderung. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gegenteil ist der Fall! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden immer pro Fracking!) Erst diese Woche hat die NRW-Landesgruppe die Forderungen unserer, ich sage mal, CDU-Erdgasgruppe zur Verschärfung der vorliegenden Gesetzentwürfe einstimmig unterstützt. Was fordern wir als CDU-Erdgasgruppe konkret? Wir fordern eine oberirdische Aufbereitung des Lagerstättenwassers durch die Technik der Ultrafiltration. Wir fordern eine echte Beweislastumkehr, damit Erdgas-Erdbeben-Geschädigte nicht wie bisher auf ihrem finanziellen Schaden sitzen bleiben. Wir fordern, dass die willkürlich gegriffene 3 000-Meter-Grenze, die zwischen Schiefergas- und Tight-Gas-Förderung unterscheiden soll, gestrichen wird. Wir fordern, dass auch im Bereich der konventionellen Erdgasförderung eine stärkere und vor allen Dingen eine frühere Bürgerinformation stattfindet und auch eine Bürgerbeteiligung stattfindet. Außerdem fordern wir eine Begrenzung der Erprobungsmaßnahmen im Bereich der Schiefergasförderung auf maximal acht Forschungsbohrungen. Ich sage hier auch, dass es nach Abschluss der Erprobungen keinen Genehmigungsautomatismus geben darf, (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso überhaupt Probebohrungen? – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso überhaupt acht Probebohrungen? Das ist doch Quatsch! Brauchen wir nicht!) sondern dass das ganz normale Genehmigungsverfahren zu durchlaufen ist. Ich verrate auch kein Geheimnis, wenn ich sage, dass es bei uns viele Kollegen gibt, (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die das gar nicht wollen, die kein Fracking wollen!) die nach Abschluss dieser Erprobungsmaßnahmen einen Parlamentsvorbehalt erwarten, bevor man überhaupt über eine kommerzielle Förderung nachdenkt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich könnte jetzt noch zahlreiche weitere Details aufführen, die wir als Union, übrigens auch gemeinsam, Herr Kollege Miersch, (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Eben nicht!) besprochen und verhandelt haben. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch nur das Feigenblatt für die Union, Andreas!) Aber ich habe leider nur fünf Minuten Redezeit. Insofern müssen Sie auf dieses Schmankerl verzichten. Unsere Gruppe hätte es für sinnvoll gehalten, liebe Frau Hendricks – Herr Gabriel ist leider nicht mehr da –, wenn Sie unsere Vorschläge, etwa zur Aufbereitung des Lagerstättenwassers, schon vor der Kabinettsbefassung aufgegriffen hätten, gerade auch deshalb, weil ich weiß, dass es hierfür auch bei den Kollegen der SPD zahlreiche Fürsprecher gibt. (Christine Lambrecht [SPD]: In der Union auch?) Wenn ich schon von Lagerstättenwasser spreche, dann komme ich zu Ihnen, zu den Grünen. Meine lieben Kollegen, Sie fordern ein Verpressverbot von nicht aufbereitetem Lagerstättenwasser. Sie wissen, dass ich diese Forderung voll und ganz unterstütze. Aber wer die Grünen kennt, der weiß auch, wie die Grünen agieren, wenn sie in Regierungsverantwortung wie zum Beispiel in Niedersachsen sind (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Blödsinn, völliger Blödsinn! Das ist Bundesgesetzgebung, und das weißt du auch! Das ist doch Quatsch!) und wenn 700 Millionen Euro Förderzins vielleicht sehr verlockend sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Anders als Sie von den Grünen hier im Bundestag uns das glauben machen wollen, haben Sie in Regierungsverantwortung keine Probleme mit der Verpressung. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn zuständig? Da sitzt doch Herr Lies!) Wenn ich Ihre Verbalakrobatik aus dem von Ihnen mit initiierten niedersächsischen Bundesratsantrag einmal ausblende, sagen Sie in diesem Papier im Klartext, dass Sie befürworten, das giftige Lagerstättenwasser weiterhin wie bisher zu verpressen, (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch wirklich Blödsinn! Das ist doch einfach nur Blödsinn! Ach komm, das kannst du wirklich besser! Billige Polemik! Bitte, Andreas!) weil – jetzt kommt es – dies für die Industrie am günstigsten ist. Dies ist grüne Politik in Regierungsverantwortung, und das hört sich ganz anders an als die Töne, die Sie hier heute angeschlagen haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Lieber Kollege Lies, mir ist noch in Erinnerung, wie Ihre Töne bei der Landtagswahl in Niedersachsen waren. Da hatten Sie ganz anders gesprochen. Hier war die Rede davon: links reden, rechts abbiegen. – Das war bei Ihnen auch anders. Hören Sie sich einfach mal an, was Herr Weil davor gesagt hat! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Meine Damen und Herren, ich halte es für ganz wichtig, dass wir jetzt verschärfte Bedingungen für die Erdgasförderung bekommen. Die gültigen Gesetze reichen bei weitem nicht aus. Lassen Sie uns deshalb alle gemeinsam die anstehenden parlamentarischen Beratungen nutzen, die Gesetzeslage weiter zu verschärfen, damit wir in Zukunft mit einer sicheren heimischen Erdgasförderung die verloren gegangene Akzeptanz und das Vertrauen der Bevölkerung wiederherstellen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Frank Schwabe (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Mattfeldt, um das gleich am Anfang zu sagen: Es tut mir ganz schrecklich leid, aber in dem Papier, von dem Sie immer reden – wir kennen es –, steht leider nicht so sehr viel. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Machen wir nachher!) Wir könnten uns jetzt hier einigen. Sie könnten jetzt hier zusagen, dass wir die Expertenkommission streichen, jedenfalls klarmachen: Experten sind gut, super – sie müssen uns beraten –, aber am Ende kann uns als Deutscher Bundestag niemand abnehmen, die endgültige Entscheidung zu treffen. Ob Fracking in Deutschland kommer-ziell genutzt wird, ja oder nein, das muss dieser Deutsche Bundestag entscheiden. (Beifall bei der SPD) Wir könnten hier im Deutschen Bundestag sofort eine Einigung darüber erzielen, dass wir das Erdgas genauso behandeln wie das Erdöl. Sie könnten sofort einschlagen und sagen: Da machen wir mit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir könnten zum Beispiel sofort eine Einigung darüber erzielen, dass die Übergangsfrist von fünf Jahren, die jetzt im Gesetzentwurf beim Umgang mit Lagerstättenwasser vorgesehen ist, verkürzt wird, zum Beispiel auf drei Jahre. Wenn Sie alle hier die Hand heben oder wenn alle nicken, könnten wir das in der Großen Koalition sofort so vereinbaren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, klipp und klar: Ich weiß heute nicht, ob Fracking für Deutschland eine -Option sein kann oder nicht. Ich sage allerdings auch klipp und klar: Ökonomische Chancen sind damit verbunden, aber sie sind meines Erachtens nicht so groß, dass ich jetzt alle Zweifel beiseitelasse und sage: Wir müssen ein Gesetz machen, um Fracking in Deutschland sofort zu ermöglichen. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das macht niemand!) Deswegen ist es gut, dass die beiden Ministerien einen Gesetzentwurf erarbeitet haben – Herr Nüßlein ist darauf zu Recht eingegangen – und wir das geschafft haben, was Sie in der Koalition mit der FDP leider nie geschafft haben, nämlich zumindest ein beratungsfähiges Gesetzespaket auf den Tisch zu legen. Noch einmal: Wir können heute nicht sicher sein, wie es mit der Belastung von Mensch und Umwelt ist. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Vorsorgeprinzip!) Es gibt ganz aktuell in den USA die Diskussion über Radonbelastungen und Ähnliches. Herr Pfeiffer, wenn Sie es einmal googeln, finden Sie zuhauf Probleme für die Umwelt in den Vereinigten Staaten. Wir wissen es also heute nicht genau. Deswegen können wir heute nicht endgültig sagen, ob es Fracking im Schiefergestein in Deutschland geben soll oder nicht. (Beifall der Abg. Dr. Nina Scheer [SPD]) Absolutes Lob – da schließe ich mich Herrn Nüßlein an – für das Umweltministerium und für das Wirtschaftsministerium, weil wir eine Regelung vorgelegt bekommen haben, wie wir sie im Deutschen Bundestag bisher noch nie vorgelegt bekommen haben. Allerdings, Herr Nüßlein, war ein Lob vergiftet: Sie haben die Ministerien für die Idee der Expertenkommission gelobt. Sie wissen doch ganz genau, dass die Idee der Expertenkommission im Bundeskanzleramt entstanden ist. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Die Minister sind selbstbewusst genug!) Sie können die Sozialdemokratie nicht für die Kommission in Haftung nehmen. Ich will es klipp und klar sagen: Ich halte eine solche Kommission für eine aberwitzige Konstruktion. Experten sind dafür da, uns zu beraten. Aber wir Abgeordnete können doch nicht unsere Verantwortung an der Garderobe des Deutschen Bundestages abgeben. (Beifall bei der SPD) Am Ende müssen wir doch vor die Wählerinnen und Wähler, vor die Bürger in diesem Land treten und sagen, ob es Fracking in einer kommerziellen Art und Weise geben wird – ja oder nein. Was wir erreicht haben – ich muss aufpassen, wie ich das formuliere –, ist, dass wir uns in einer Diskussion über deutliche Verbesserungen im Bereich der konventionellen Erdgasförderung befinden. Darum hat sich in der Tat kaum jemand gekümmert. Sie, Frau Jantz, Herr Möring und andere in diesem Hause, haben sich in Ihren Wahlkreisen darum gekümmert, aber den Deutschen Bundestag hat dieses Thema bisher nicht richtig erreicht. Jetzt hat es den Deutschen Bundestag erreicht. Es ist gut, dass es dazu so weitgehende Regelungen geben soll, wie es sie noch nie gab. Da wollen wir ran. Ich habe es gerade schon gesagt: Wir wollen mit Ihnen gemeinsam in den Gesetzentwürfen Verbesserungen im Bereich der Haftung für Erdbeben verabreden. Wir wollen im Bereich des Lagerstättenwassers Verbesserungen verabreden. Wir wollen auch, dass das Erdöl in das Gesetzespaket miteinbezogen wird. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren jetzt viele gute Vorschläge!) Insofern haben wir hier eine gute Grundlage. Ich sage für die SPD: Wir wollen, dass das Struck’sche Gesetz zur Anwendung kommt und wir eine gute Vorlage im parlamentarischen Verfahren noch besser machen. Wir bauen darauf, dass das in der Großen Koalition sehr konstruktiv gelingt. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Karsten Möring für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Karsten Möring (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die Debatte, die wir gerade geführt haben, jetzt mal Revue passieren lasse, dann wundert mich das eine oder andere ganz erheblich. Herr Zdebel, mich beeindruckt schon Ihre Unterstützung für den Import von Gas aus Russland, die Sie hier zum Ausdruck gebracht haben. Sie arbeiten mit Formulierungen, von denen Sie eigentlich wissen müssten, dass sie unzutreffend sind. Wenn Sie in Ihren Antrag schauen, dann sehen Sie, dass am Ende des ersten Absatzes steht – Stichwort „Frack-Fluid“ –: Dabei wird eine mit gefährlichen Chemikalien versetzte Flüssigkeit mit hohem Druck in die Tiefe gepumpt … (Hubertus Zdebel [DIE LINKE]: Ja, ja! Das stimmt doch!) – Nein. Im Gesetzentwurf steht: nicht wassergefährdende Gemische oberhalb von 3 000 Metern Tiefe, schwach wassergefährdende Gemische unterhalb von 3 000 Metern Tiefe. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gemisch! Aber die einzelnen Chemikalien sind giftig!) – Ach, liebe Frau Verlinden, worauf kommt es denn an? Wenn Sie sich zu Hause ein Glas Wasser nehmen und zwei Teelöffel Salz hineintun, dann ist das giftig, (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin ja nicht blöd!) und wenn Sie zwei Krümel hineintun, dann haben Sie eine Geschmacksverbesserung. Es kommt darauf an, dass die Stoffe, die wir einbringen, nicht wassergefährdend oder nur schwach wassergefährdend sind. Das ist der entscheidende Punkt. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber unglaublich! Ich dachte, Sie sind Umweltpolitiker! Also wirklich!) Das, was Sie betreiben, nenne ich Volksverdummung. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Ja, bewusste Volksverdummung und Scheinheiligkeit! – Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Herr Krischer, wer schreit, vertraut seinen Argumenten nicht – ganz einfach. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen der Abg. Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich gehe nur auf einen Aspekt ein, den Sie in Ihrer Rede vorgetragen haben. Wie kommen Sie als jemand, der sich für weltweiten Klimaschutz engagiert, eigentlich dazu, einen so verengten Blick auf Deutschland allein zu fassen? Sie wissen doch ganz genau: Wir importieren 37 Prozent unseres Gases aus Russland. Ich will das Thema Versorgungssicherheit überhaupt nicht ansprechen; aber Sie wissen doch, unter welchen Bedingungen in Russland Gas gefördert wird. Sie wissen auch, wie viel Gas in den Pipelines auf einer Strecke von 5 000 Kilometern verloren geht. Das, was dort an Methan in die Atmosphäre entweicht, ist ein Mehrfaches von dem, was bei einer Förderung hier bei uns, mit unseren Umweltstandards, entweichen würde. (Beifall bei der CDU/CSU) Das nenne ich eine verengte Sichtweise, die Ihrem Anspruch im Bereich des Klimaschutzes nicht gerecht wird. Das sollten Sie sich wirklich noch mal überlegen. Frau Bulling-Schröter, Sie haben gesagt, ein Nein sei der erste Schritt zur Freiheit; das habe ich noch nie gehört. Sie sagen: Nein, wir bauen keine Autobahnen, nein, wir bauen keine Infrastruktur, nein, wir bauen keine Industrieanlagen, nein, die Grundlagen für unseren Volkswohlstand wollen wir nicht. Das ist kein erster Schritt zur Freiheit, sondern ein Schritt in eine Sackgasse. Solche Formulierungen reichen nicht, Sie müssen schon mit Argumenten kommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie werfen der Koalition und den entsprechenden Ministerien vor, dass im vorliegenden Gesetzentwurf nur von Trinkwasser die Rede ist, und haben als Beispiel die Brauereien genannt; Herr Nüßlein hat bereits auf die bayerischen Brauereien hingewiesen. Vielleicht haben Sie den Gesetzentwurf nicht gelesen; denn im Gesetzentwurf steht ausdrücklich, dass Länder die Möglichkeit bekommen, Trinkwasserbrunnen, Mineralbrunnen und Heilquellen zu schützen. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht noch nicht im Gesetz!) Am Rande bemerkt: Das meiste Wasser, das zum Brauen von Bier verwendet wird, kommt nicht aus Brunnen, sondern aus der Wasserleitung. Alles andere ist Marketing. (Lachen der Abg. Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das für ein Argument?) Gestern hat Herr Müller, Co-Vorsitzender der Endlager-Kommission, den wichtigen Satz gesagt: Die Politiker müssen mehr in Zusammenhängen denken. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Ihr Problem im Umgang mit diesem Thema besteht darin, dass Sie nur in Schwarz-Weiß, nur in Entweder-Oder denken. Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie ein Fracking-Verbot fordern. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben bessere Alternativen!) Weder die SPD noch die CDU/CSU haben versprochen: Wir verbieten Fracking in Deutschland. Wir haben in unserem Koalitionsvertrag wichtige Vereinbarungen getroffen, an die wir uns halten. Die wichtigste lautet: „Trinkwasser und Gesundheit haben für uns absoluten Vorrang“. Wir wollen einen Wandel: weg von den derzeit riskanten Förderverfahren – wenngleich es in den letzten 50 Jahren zu keinen größeren Unfällen gekommen ist –, hin zu erheblich sichereren Verfahren. Denn es gilt nach wie vor: Die Sicherheit hat Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen. Ich habe eben schon darauf hingewiesen, dass wir beim Frack-Fluid nur nicht wassergefährdende oder schwach wassergefährdende Gemische zulassen, aber Sie sprechen immer noch von giftigen Gemischen. Das ist irreführend. Wir haben aber nicht nur im Bereich Fluid einiges getan. Wir haben eine ganze Reihe zusätzlicher Maßnahmen getroffen. Wir ermöglichen es den Ländern beispielsweise, die Ausschlussgebiete unter bestimmten Umständen auszuweiten. Außerdem gilt nach wie vor der Besorgnisgrundsatz gemäß Wasserhaushaltsgesetz. Man sieht: Wir haben an dem vorliegenden Gesetzentwurf mit Hosenträger und Gürtel gearbeitet. Dem Besorgnisgrundsatz wird Rechnung getragen, es werden zusätzliche Ausschlussgebiete in einem erheblichen Umfang vorsehen. Das ist eine doppelte Sicherung, gerade weil wir die Bedenken aus der Bevölkerung ernst nehmen. Dazu gehört auch die Einführung der UVP-Pflicht für die Form von Förderung, die wir seit zig Jahren betreiben, zum Beispiel für das konventionelle Fracking. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum kümmern Sie sich nicht um das Erdöl-Fracking? Warum fehlt das im Gesetz?) – Streiten wir uns nicht über Worte; wir wissen doch alle, was gemeint ist. (Lachen der Abg. Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] Das ist die Form, die wir bisher über viele Jahre erprobt und praktiziert haben, und zwar ohne größere Probleme. Zur Expertenkommission. Es ist eine Schimäre, wenn man argumentiert: Wir überlassen der Expertenkommission eine Aufgabe, die nur der Bundestag zu erfüllen hat. Wir werden uns sicher noch einmal intensiv über diese Frage unterhalten, aber wir wollen unserer Verantwortung bei der Behandlung des vorliegenden Gesetzentwurfs gerecht werden. Im vorliegenden Gesetzentwurf definieren wir, was nach unserer Meinung zulässig oder auch nicht zulässig sein soll. Auch dann, wenn wir das in einem späteren Gesetz regeln würden, wären wir von einem Votum von Experten abhängig; daran würde sich nichts ändern. Es ändert sich aber sehr wohl etwas, wenn wir eine solche Erprobung ohne Begleitung durch eine Expertengruppe machen würden. Denn korrekt ist: Wir haben mit bestimmten Arten der Förderung bisher keine Erfahrungen. Wir müssen aber wissen, wie die Förderung funktioniert. Wir müssen wissen, ob das Fluid, das im Labor erforscht wurde, auch in der Realität funktioniert. Wir müssen wissen, ob es möglich ist, Fracks in Horizonten, die vielleicht nur 20 Meter mächtig sind, zu beherrschen, wo ein bis zwei Kilometer horizontal gebohrt werden muss, um diese Gebiete zu erschließen. Wir müssen wissen, wie hoch die Ausbeutungsquote ist, die wir bei diesen Vorkommen haben werden. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu sagen: Unternehmen haben ein Geschäftsmodell, mit dem sie Geld verdienen können. Unsere Aufgabe als Politiker ist es, die Grundlagen für unseren Wohlstand, für unsere Arbeitsplätze und für unsere Wirtschaftskraft weiter zu stärken und zu entwickeln. Unsere Verantwortung als Politiker ist es, das mit einer gesunden Umwelt zu verknüpfen. Unsere Aufgabe ist es, bei diesem Gesetzespaket mit all den Änderungen, über die wir noch reden werden, von der Lagerstättenwasserversenkung bis zu all den anderen Punkten, die angestrebt werden, zu einem Ergebnis zu kommen. Ich bin sicher, wir werden es erreichen. Die hier manchmal etwas hämisch angesprochene Diskussion innerhalb der Fraktionen ist ein Bestandteil dieses Prozesses. Es ist völlig legitim, hier einen Ausgleich zu suchen und eine intensive Diskussion zu führen. Das tun wir innerhalb unserer Fraktion. Das tut die SPD in ihrer Fraktion, und das werden wir gemeinsam tun, um zu einem Gesetzentwurf zu kommen, sodass die zurzeit unhaltbare Situation verbessert wird. Ich bin sicher, wir werden zu einem guten Ergebnis kommen und am Ende des Prozesses sagen können: Unser Wasser wird weiterhin trinkbar sein und von uns geschützt werden. Zum Wohl. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/4713, 18/4714 und 18/4810 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir haben jetzt noch unter Tagesordnungspunkt 3 d über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst nehmen – Bundesberggesetz unverzüglich reformieren“ zu entscheiden. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1124, diesen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Hallo? Es wäre ganz gut, wenn sich der eine oder andere an der Abstimmung beteiligte. (Heiterkeit – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Präsident, könnten Sie es noch einmal bitte wiederholen?) – Auf besonderen Wunsch meines Fraktionsvorsitzenden rufe ich jetzt noch einmal die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Wirtschaftsausschusses auf, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/848 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Die Mehrheitsverhältnisse waren übersichtlich. Damit ist diese Beschlussempfehlung angenommen. Wir kommen jetzt zu unserem Tagesordnungspunkt 4 sowie dem Zusatzpunkt 2: 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel: Eingedenk der Vergangenheit die gemeinsame Zukunft gestalten Drucksache 18/4803 ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid Nouripour, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 50 Jahre deutsch-israelische diplomatische Beziehungen – Einmaligkeit und Herausforderung Drucksache 18/4818 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Das ist offenkundig einvernehmlich. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter Steinmeier. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganz besonders dürfen wir heute Gäste aus Israel begrüßen. Herzlich willkommen hier in Berlin! (Beifall) Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele werden sich erinnern: An diesem Pult stand vor fünf Jahren Präsident Schimon Peres. Er erzählte die Geschichte seines geliebten Großvaters Rabbi Meltzer. Er berichtete von dem Tag, als die Nationalsozialisten in die Stadt Wiszniewo, heute in Weißrussland gelegen, eingedrungen waren und alle Juden gezwungen hatten, in die Synagoge zu gehen. Der Rabbi ging seiner Gemeinde voran. Er trug denselben Gebetsmantel, in den sich der kleine Schimon an kalten Tagen eingehüllt hatte. Angekommen in der Sy-nagoge verriegelten die Nazis die Türen. Die Synagoge wurde angezündet. Und von der gesamten Gemeinde blieb nur glühende Asche. Schimon Peres hielt vor fünf Jahren, am Holocaust-Gedenktag, hier in diesem Plenarsaal ein, wie ich es in Erinnerung habe, berührendes Plädoyer gegen das Vergessen. Zugleich sprach er von der – so seine Worte damals – „einzigartigen Freundschaft“ zwischen Deutschland und Israel. Über dem Abgrund der Vergangenheit hat Israel, das Land der Opfer, dem Land der Täter die Hand gereicht, und gemeinsam haben wir, Deutschland und Israel, eine Brücke der Freundschaft gebaut. Dass diese Freundschaft gelingen konnte, ist, wie ich finde, nicht weniger als ein Wunder. Dafür dürfen insbesondere wir Deutsche glücklich und dankbar sein, und das nicht nur an Gedenktagen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall im ganzen Hause) Wenn wir nächste Woche das 50-jährige Bestehen unserer diplomatischen Beziehungen feiern, dann feiern wir eine Freundschaft, die sich zu Kriegsende vor 70 Jahren wohl niemand hätte vorstellen können. Heute aber, drei Generationen später, leben unsere Kinder diese Freundschaft ganz selbstverständlich mit Freude und mit Neugier. Deshalb ist dieses Jubiläum viel mehr als ein politischer Meilenstein. Deutsche und Israelis sind einander im wahrsten Sinne des Wortes ans Herz gewachsen. Nicht alle Geschichten dieser Freundschaft kann ich heute würdigen. Lassen Sie mich deshalb stellvertretend nur drei persönliche Schlaglichter auf die Geschichte werfen, um deutlich zu machen, wie kostbar das ist, was wir heute feiern. Meine Mutter wurde in Breslau geboren – damals ein Zentrum des jüdischen Lebens, die Stadt von Fritz Stern und Ignatz Bubis etwa. Beide mussten – viele Tausende mit ihnen – als Kinder mit ihren Familien vor dem Hass und Rassenwahn der Nationalsozialisten fliehen. Zehn Jahre später musste auch meine Mutter mit denen, die von der Familie übrig geblieben waren, fliehen, nunmehr vor dem Krieg, den die Nazis über die Welt gebracht hatten und der sich gegen diejenigen gewendet hatte, die ihn ausgelöst haben. Vor einem halben Jahr war ich in Breslau zu Gast in der renovierten Synagoge. Dort durfte ich die erste Ordinierung junger Rabbiner seit dem Krieg miterleben – Rabbiner, die hier in Berlin und in Potsdam ausgebildet worden waren. Diese vier jungen Geistlichen standen dort, wie ich finde, als lebendiges Zeugnis, dass heute jüdisches Leben wieder aufblüht – in Europa und bei uns in Deutschland. Darüber sollten nicht nur Juden sich freuen. Das bereichert uns alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, weit über den Gedenktag hinaus. (Beifall im ganzen Hause) Das zweite Schlaglicht, an das ich mich erinnere, fällt in mein 18. Lebensjahr: der erste Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in Israel. Damals, als Willy Brandt nach Jerusalem ging, knirschte noch der Boden unter jedem Schritt. Man beäugte sich vorsichtig. Jeder Schritt wollte behutsam gesetzt sein. Es gab großes Misstrauen gegenüber einem Neubeginn mit dem Tätervolk. Heute gehören deutsch-israelische Besuche zu unserem festen politischen Alltag. Wir sitzen sogar mit beiden vollständigen Regierungsmannschaften einmal im Jahr um einen großen Tisch herum, planen Projekte, debattieren, es wird gelacht, auch gestritten – ernsthaft und ehrlich, so wie gute Freunde das eben tun. Die mutige politische Saat von Ben-Gurion und später Konrad Adenauer – sie ist aufgeblüht, und sie trägt Früchte, auch über unsere eigenen Grenzen hinaus, wenn wir uns zum Beispiel in den internationalen Foren gemeinsam gegen Antisemitismus und Rassismus einsetzen. Das dritte Schlaglicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, fällt auf die Generation unserer Kinder. Ich denke an mein eigenes, aber auch an die Kinder meiner israelischen Kollegen. Für unsere Kinder ist die deutsch-israelische Begegnung ein ganz selbstverständlicher Teil ihrer Welterkundung geworden. Tel Aviv und Berlin ziehen junge Leute an als Magneten der Moderne. Junge Deutsche steigen in Tel Avivs boomende Start-up-Szene ein. Sie studieren in Jerusalem oder leisten ein Freiwilliges Soziales Jahr. Umgekehrt kommen junge Israelis nach Berlin. Sie tauchen ins Kunstleben ein, sie eröffnen Restaurants, starten neue Businessideen. Sie erkunden auch die Spuren ihrer Großeltern und Urgroßeltern, all jener, denen unter den Nazis unsägliches Leid geschah. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Geschichten zeigt sich das menschliche Wunder der deutsch-israelischen Beziehungen. Die Freundschaft ist eben längst keine diplomatische Eliteveranstaltung mehr. Diese Freundschaft ist getragen von Menschen. Sie ist in tausend Facetten des Alltags lebendig, und genau das macht sie so stark, genau das macht sie so unverzichtbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns bewahren, was da in den letzten 50 Jahren gewachsen ist! (Beifall im ganzen Hause) Der Blick zurück über diese 50 Jahre schärft zugleich den Blick nach vorn, eröffnet uns einen „Horizont der Hoffnung“; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Deutschland und Israel nach dem unsagbaren Grauen der Vergangenheit der Weg zur Freundschaft gelungen ist, das sendet, wie ich finde, auch eine ganz kraftvolle Botschaft, eine Botschaft von Verständigung und Versöhnung, die leuchten kann in dieser Welt, die nach wie vor voller Gegensätze, voller Hass und leider ohne Frieden ist. Präsident Peres sprach hier im Deutschen Bundestag vor fünf Jahren von diesem „Horizont der Hoffnung“ und sagte: Während mein Herz zerreißt, wenn ich an die Gräueltaten der Vergangenheit denke, blicken meine Augen in die gemeinsame Zukunft einer Welt von jungen Menschen, in der es keinen Platz für Hass gibt … Wer heute auf den Zustand der Welt blickt, gerade auf die so unfriedliche Nachbarschaft von Israel, der mag diese Hoffnung naiv nennen. Wer aber auf die deutsch-israelische Freundschaft blickt und sich erinnert, aus welch finsterem Tal sie emporgewachsen ist, der sieht, dass Hoffnung nicht Ausdruck von Naivität sein muss – ganz im Gegenteil! Wer das einsieht, der muss sich die Botschaft von Verständigung und Versöhnung, die in dieser Freundschaft steckt, auch zu Herzen nehmen, sie nicht nur mit Worten feiern, sondern sie, wo immer möglich, in die Tat umsetzen. Das heißt eben, dass wir hier bei uns zu Hause aufstehen müssen gegen jegliche Form von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass. All das darf keinen Platz in dieser Gesellschaft finden – nie wieder! (Beifall im ganzen Hause) Das heißt eben auch, dass wir uns für Frieden für Israel und seine Nachbarn einsetzen. Israels Sicherheit ist für Deutschland historisches Gebot und unverbrüchlicher Teil unserer Freundschaft. Und wir glauben: Nachhaltige Sicherheit für das jüdische und demokratische Israel wird es nicht ohne einen lebensfähigen und demokratischen palästinensischen Staat geben. Und deshalb: So beschwerlich der Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung auch sein mag, wir werden ihn weiter unterstützen. Dabei gilt für mich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Meinungsunterschiede und die dazugehörende Ehrlichkeit hält eine gute Freundschaft aus. Umso mehr aber wehre ich mich dagegen, wenn unsere Freundschaft in manchen öffentlichen Debatten einzig auf diese Meinungsunterschiede im Nahostkonflikt reduziert wird. Darum geht es nicht. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Israels Sicherheitsbedürfnis haben wir auch im Blick, wenn die Partner der E3+3 mit dem Iran über den Nuklearkonflikt verhandeln. Klar ist: Am Ende wird nur eine Vereinbarung unterschrieben, die mehr Sicherheit für Israel bedeutet – und nicht weniger. Zugleich steckt auch in diesen Verhandlungen, wie ich finde, die Botschaft der Verständigung. Wenn es uns gelingt, Mitte dieses Jahres das Abkommen zu schließen, dann setzen wir wenigstens ein Hoffnungszeichen, das auf die vielen anderen Konfliktherde im Mittleren Osten ausstrahlen könnte. Auch für diese könnte man vielleicht ähnliche Lösungen suchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch unsere Generation, die das deutsch-israelische Wunder hat wachsen sehen, wird den von Schimon Peres gezeichneten „Horizont der Hoffnung“ nicht erreichen können. Die Welt ohne Hass, die Schimon Peres entworfen hat, ist leider noch weit weg. Aber wir geben seine Vision weiter an eine starke, optimistische Generation von jungen Israelis und Deutschen, eine Generation, die in allen Gesellschaftsbereichen, von Wirtschaft bis Kultur, miteinander verbunden ist, eine Generation, die kritische Fragen stellt – an die Politik der eigenen und der jeweils anderen Regierung; auch das gehört dazu –, vor allem aber eine Generation, die neugierig aufeinander und auf die Welt ist, die international denkt und international lebt. Wenn ich auf diese Generation schaue, dann weiß ich: So unfriedlich die Welt heute auch sein mag, unsere deutsch-israelische Hoffnung auf Versöhnung und Verständigung war nicht naiv, und sie wird es auch morgen nicht sein. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Gregor Gysi für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die jüdische Diaspora begann in der Folge gescheiterter Aufstände vor fast 2 000 Jahren. Über diesen langen Zeitraum hinweg hat sich diese Volksgruppe erhalten. Häufig werden Bevölkerungen, wenn sie vertrieben werden, in andere Bevölkerungen anderer Länder so inte-griert, dass sie als eigene ethnische Gruppe mit eigener Kultur nicht bestehen bleiben. Dass die Jüdinnen und Juden über 2 000 Jahre, im Unterschied zu vielen anderen aus der Antike bekannten Völkern, ihre Identität bewahren konnten, liegt auch und gerade an der jüdischen Religion. In christlich und muslimisch geprägten Staaten bildeten Jüdinnen und Juden immer eine besondere Gruppe, die entweder genutzt oder verfolgt wurde. Ich konzentriere mich hier auf Europa. Bestimmte Dinge waren für die Jüdinnen und Juden verboten, zum Beispiel der Kauf von Grund und Boden und anderen landwirtschaftlichen Produktionsmitteln, das Ergreifen vieler bürgerlicher Berufe. Da sie lange Zeit weder Richter noch Staatsanwälte werden durften, wurden sie halt clevere Rechtsanwälte. Anderes war ihnen im Unterschied zu den Christinnen und Christen erlaubt. So durften zu bestimmten Zeiten nur sie Geld verleihen und Zinsen einnehmen. In der im Frühkapitalismus ausgebildeten Finanzsphäre konnten zunächst nur Juden Banken gründen; die anderen wurden ihre Schuldner. Alles Unbehagen am aufkommenden Kapitalismus ließ sich auf die sogenannten jüdischen Bankiers projizieren. Natürlich haben die christlichen Kirchen irgendwann nachgezogen und auch den Christinnen und Christen Finanzgeschäfte erlaubt, aber ein wesentliches weiteres Element des Antisemitismus war schon in der Welt. Interessant ist, dass es unter den herausragenden Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Schriftstellerinnen und Schriftstellern wirklich viele Menschen jüdischer Herkunft gab und bis heute gibt. Vielleicht besteht auch hier ein Zusammenhang zur Sonderstellung und Ausgrenzung. Jüdinnen und Juden hatten nur dann eine Chance, wenn sie doppelt so viel leisteten. Auch nicht unterschlagen möchte ich ihre Kultur der Auslegung traditioneller Texte und die Tatsache, dass sie bis in die Frühmoderne hinein islamische Universitäten besuchen durften, die Christen dagegen nicht. Die Juden hatten so einen Anschluss an die Vermittlung des damals fortschrittlichen Wissens. Heute sind die kulturellen, künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen in Israel gut, aber nicht mehr einzigartig. Ich werte das als Ausdruck einer Normalisierung des jüdischen Lebens in Israel. Die in vielerlei Hinsicht bestehende Sonderstellung der Jüdinnen und Juden in Europa und in Deutschland in früherer Zeit hat auch dazu beigetragen, sie zu Sündenböcken für alles Mögliche zu deklarieren. Man musste nicht einmal Antisemit sein, um eine Minderheit zur Projektionsfläche für Schuld, Versagen und gesellschaftliche Fehlentwicklung zu machen, um von eigener Verantwortung abzulenken und bzw. oder Konkurrenten auszuschalten. Die Erfahrungen, die Jüdinnen und Juden bis heute prägen, sind die Möglichkeiten des Aufstiegs und der Integration und gleichzeitig die jederzeit mögliche Diskriminierung, schwere Verleumdung und Verfolgung. Im zaristischen Russland kam es immer wieder zu schweren Pogromen. Fälschungen wie die Protokolle der Weisen von Zion wurden in Umlauf gebracht. Aber auch in den anderen Ländern Europas kam es zu gravierenden antisemitischen Vorfällen wie zum Beispiel bei der DreyfusAffäre. Das bildet auch den Hintergrund für die Entstehung der zionistischen Bewegung unter Theodor Herzl. Der Grundgedanke dieser Bewegung war, dass die bürgerlichen Emanzipationsversprechen für Jüdinnen und Juden in gesicherter Weise nur dann erfüllbar sein werden, wenn es gelingt, einen eigenen Na-tionalstaat zu bilden. Für viele osteuropäische Jüdinnen und Juden war gerade Deutschland ein Einwanderungsland. Seit 1819 gab es keine pogromartigen Unruhen mehr in Deutschland. Deshalb galt dieses Land als eines der am wenigsten antisemitischen Länder Europas. Umso bestürzender erscheint daher die Machtergreifung der Nazis, die aus ihrem extremen Antisemitismus keinen Hehl machten. Der von den Nationalsozialisten organisierte Völkermord an den Jüdinnen und Juden weist einen Doppelcharakter auf. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde auf den rationalen Verwaltungsstaat und die rationalen Organisationsformen der Industrie zurückgegriffen, um ein grausames Vernichtungswerk zu verrichten. Dabei war jedoch andererseits ein ideologischer Fanatismus wirksam, der irrational war. Und was für eine Vernunft soll auch einem reinen Vernichtungsziel zugrunde liegen? – Diesem Ziel waren sogar sowohl die ökonomische als auch die militärische Rationalität untergeordnet. Es ist beispielsweise überliefert, dass ein für die Kriegführung in Griechenland benötigtes deutsches Schiff stattdessen für die Deportation von 200 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz genutzt wurde. Freilich war der Vernichtungswille des NS-Regimes nicht von Anbeginn in seiner vollen Brutalität ausgeprägt. Lange versuchten die Nazis, Jüdinnen und Juden zur Auswanderung zu nötigen und deren Eigentum zu stehlen. Nach der Reichspogromnacht markierte dann aber die Wannseekonferenz den Übergang zum Holocaust, zum industriellen Massenmord. Auch die mit dem Holocaust verbundenen beispiellosen Verbrechen an den Jüdinnen und Juden haben die UNO dazu motiviert, die Staatsgründung Israels zu beschließen. Nicht weniges lässt sich am Zionismus auch kritisieren. Aber zu seiner Entstehung hat der Jahrhunderte anhaltende Antisemitismus deutlich beigetragen. Unmittelbar nach der Ausrufung des Staates Israel erklärten mehrere arabische Staaten Israel den Krieg. Militärhilfe erhielten die Israelis damals nur von der Sowjetunion und der Tschechoslowakei. Erst später änderte sich dies, und die USA wurden zum engsten Verbündeten Israels. Man muss wissen: Nur ein jüdischer Staat, erst recht einer mit einflussreichen Verbündeten, kann den Jüdinnen und Juden einen wirksamen internationalen Schutz vor Diskriminierung und Verfolgung bieten. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Es ist ein großer Unterschied, ob ein Vertreter einer Interessenorganisation eine Beschwerde vorträgt oder ob ein Staat dies tut. Deshalb sage ich gerade heute und deutlich allen israelischen Bürgerinnen und Bürgern: Auch die Palästinenserinnen und Palästinenser haben das Recht auf einen eigenen Staat, auf ihren internationalen Schutz. (Beifall bei der LINKEN) Die Besetzung der palästinensischen Gebiete muss aufgegeben werden. Ein lebensfähiger Staat Palästina muss in den Grenzen von 1967 gebildet werden. Das kann die Basis für Gebietsaustauschverhandlungen sein. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verhält sich leider nicht sonderlich hilfreich. Mal heißt es, mit ihm werde es keinen palästinensischen Staat geben; dann jedoch sagt er das Gegenteil. Das ist nicht vertrauensbildend, auch nicht der Siedlungsbau und die absichtsvollen Demütigungen von Palästinenserinnen und Palästinensern in den besetzten Gebieten. Es gibt Ziele und Methoden der palästinensischen Hamas, die wir selbstverständlich eindeutig ablehnen. Dass die Bundesrepublik Deutschland vor 50 Jahren diplomatische Beziehungen zum Staat Israel aufnahm, war richtig und wichtig. (Beifall bei der LINKEN) Das trug auch dazu bei, die Bundesrepublik innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft zu etablieren. Die DDR hatte zu keinem Zeitpunkt versucht, diplomatische Beziehungen zu Israel aufzubauen. Das war angesichts des Erbes der deutschen Vergangenheit falsch. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auf dem Sonderparteitag der SED 1989 habe ich erklärt, dass die DDR diplomatische Beziehungen zu Israel herstellen solle. Das wurde mit großem Applaus aufgenommen. Es hatte sich in der DDR auch diesbezüglich etwas verändert, ein schlechtes Gewissen ausgeprägt. Wir müssen für enge und gute politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen zu Israel eintreten. Wichtig ist der wachsende Jugendaustausch über ConAct. Es gibt für Deutschland jedoch nicht nur eine besondere Verantwortung gegenüber den Jüdinnen und Juden, sondern auch gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern; denn sie bezahlen auch für die von Deutschen begangenen Verbrechen. Wir alle wollen Sicherheit für Israel. Aber diese Sicherheit wird es nicht geben, wenn der Konflikt mit den Palästinenserinnen und Palästinensern nicht dauerhaft beendet wird. Deshalb wünsche ich mir mehr Leidenschaft meiner Regierung im Kampf um einen palästinensischen Staat. (Beifall bei der LINKEN) Zur Lösung des Nahostkonflikts zwischen Israel und Palästina gibt es nur drei Möglichkeiten: Bei der ersten Möglichkeit bildeten Jüdinnen und Juden sowie Palästinenserinnen und Palästinenser einen gemeinsamen demokratischen Staat. Dann gäbe es eine palästinensische Mehrheit. Es wäre also kein jüdischer Staat mehr. Die Möglichkeit zum internationalen Schutz von Jüdinnen und Juden wäre deutlich eingeschränkt. Die zweite Möglichkeit bestünde in einem gemeinsamen Staat, der aber, um jüdischer Staat zu bleiben, ein Apartheidregime schüfe, in dem die Palästinenserinnen und Palästinenser deutlich weniger Rechte hätten. Ein solcher Staat wäre höchst undemokratisch und muss verhindert werden. Es kann daher – dritte Möglichkeit – nur eine anzustrebende demokratische Lösung geben: die Zwei-Staaten-Lösung. Meine Generation wurde geprägt durch die Erinnerung an die Verbrechen gegen die Jüdinnen und Juden. Es gibt eine schwer zu fassende Vorsicht, Hemmungen im Umgang mit Jüdinnen und Juden, auch schlechtes Gewissen. Vielleicht vermag die heutige Jugend wesentlich gleichberechtigtere Haltungen zu entwickeln. Schon deshalb sollte meine Generation ihre Beklemmungen nicht auf die Jugend übertragen. Es wäre gut, wenn die heutige Jugend weiter ist, als meine Generation sein kann. Menschenrechte müssen gleichermaßen für Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen und Palästinenser, Deutsche und alle anderen gelten. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des eigenen Landes muss es gerade bei uns immer geben. Diese Verantwortung hat jede Generation. Deshalb wünsche ich mir, dass jede und jeder Deutsche, wenn es irgendwie möglich ist, einmal im Leben Auschwitz, einmal im Leben Israel und einmal im Leben Palästina, das heißt das Westjordanland und den Gazastreifen, besucht. Antisemitismus müssen wir in jeder Form immer wieder und entschieden zurückweisen. Das gilt ebenso für jede Form des Rassismus. 50 Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel sind mehr als erfreulich. 20 000 Israelis leben inzwischen in Berlin, eine nach den Naziverbrechen kaum vorstellbare und deshalb besonders zu begrüßende Entwicklung. Aber es wird höchste Zeit, auch zu Palästina diplomatische Beziehungen auf höchster Ebene und darüber hinaus auch auf allen anderen Gebieten aufzunehmen. Das schwächt nicht unsere Beziehungen zu Israel – im Gegenteil! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Gregor Gysi. – Nächster Redner in der Debatte: Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Volker Kauder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man heute über das Verhältnis von Deutschland und Israel spricht, scheint alles ganz normal zu sein. Aber man kann auch heute, 50 Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen, gar nicht genug ermessen, was vor 50 Jahren tatsächlich geschehen ist. Richtig ist, dass das Nachkriegsdeutschland, das sich in eine moderne Demokratie hinein entwickelnde Deutschland, Beiträge dazu geleistet hat – Konrad Adenauer und andere – und auf Israel zugegangen ist. Diese Beiträge waren aber nicht entscheidend dafür, dass wir zu einem neuen Verhältnis mit Israel gekommen sind. Entscheidend war etwas Unglaubliches, etwas Unfassbares und aus unserer Sicht Wunderbares, nämlich dass die Juden und der Staat Israel uns die Hand ausgestreckt haben und uns gesagt haben: Wir wollen mit euch einen neuen Anfang wagen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Dank gilt daher heute, an diesem Tag, da wir dieses Jubiläum feiern, dem Staat Israel und den Juden, die auf das Tätervolk zugegangen sind. Das dürfen wir nicht vergessen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war vor 50 Jahren auch nicht einfach. Wenn man sich die Diskussionen, die damals stattgefunden haben, anschaut, stellt man fest, dass das Näherzusammenrücken von Deutschland und Israel höchst umstritten war – in Israel und in Deutschland. Es bedurfte mehr mutiger Menschen in Israel, um den Weg so zu ebnen, dass gesagt werden konnte: Wir wollen es versuchen. – Für uns war das vergleichsweise leichter. Auch deshalb sind wir denjenigen dankbar, die sich trotz der Geschehnisse im Dritten Reich wieder in Deutschland angesiedelt haben und hier, in diesem Land, Heimat gesucht und gefunden haben. Daraus resultiert eine ganz besondere Verantwortung. Es ist etwas Großartiges, dass wir wieder jüdisches Leben in Deutschland haben, aber es ist beklemmend, wenn Juden uns erzählen, dass sie Angst haben, sich in bestimmten Regionen, in bestimmten Gebieten als Juden zu erkennen zu geben. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, so etwas darf es in diesem Land nicht geben! Dagegen müssen wir uns entschieden wehren! (Beifall im ganzen Hause) Für mich ist es beklemmend und schlimm genug, dass die Synagoge in der Oranienburger Straße, das Jüdische Museum und verschiedene andere Einrichtungen in unserem Land durch die Polizei geschützt werden müssen. Aber es ist noch viel beklemmender, wenn wir erleben müssen, dass Juden, die sich als Juden zu erkennen geben, in unserer Hauptstadt das Risiko eingehen, überfallen und verprügelt zu werden, wie es in der Oranienburger Straße immer wieder geschehen ist. Das darf einfach nicht passieren. Ich kann auch verstehen, dass Juden fassungslos darüber sind, dass die israelische Flagge, die bei einem Fußballspiel hier in Berlin für einen israelischen Fußballer ausgerollt wurde, zusammengerollt werden musste, und zwar nicht auf Veranlassung des Vereins, sondern auf Veranlassung der Polizei. Das geht einfach nicht! (Beifall im ganzen Hause) Wir tragen also Verantwortung dafür, dass jüdisches Leben in unserem Land wie selbstverständlich stattfinden kann. Wir tragen auch Verantwortung dafür, dass die Erinnerung an das, was im Dritten Reich passiert ist, wach bleibt. Das wird nicht einfacher, wenn die Zahl der Angehörigen der Erlebnisgeneration immer weniger wird und wenn wir uns Gedanken machen müssen, wie wir das an junge Menschen herantragen. Diese Erinnerung an das, was geschehen ist, ist zwingend notwendig. Da darf es keine Schlussstrichdiskussion geben; denn für uns selber, für uns Deutsche ist es existenziell wichtig, dass wir uns immer daran erinnern. Da müssen die Dinge auch klar angesprochen werden. Ja, es gibt in unserem Land Antisemitismus bei Menschen, die schon lange hier leben und vielleicht auch hier geboren wurden. Es gibt aber genauso eingewanderten Antisemitismus. Beides darf in unserem Lande nicht stattfinden, liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall im ganzen Hause) Es hat mich fassungslos gemacht und tief berührt, als in meiner Heimatstadt, einer Stadt mit 30 000 Einwohnern, im letzten Jahr eine Demonstration von vielen Menschen mit Migrationshintergrund stattgefunden hat, auf welcher der Satz „Juden raus“ gerufen wurde. Das dürfen wir nicht zulassen! Dieser Satz darf in Deutschland nie mehr unwidersprochen fallen. Am besten fällt er überhaupt nicht mehr! (Beifall im ganzen Hause) Wir sind natürlich auch fest an der Seite Israels, wenn es um ganz wichtige politische Fragen geht. Die Bundeskanzlerin hat in ihrer viel beachteten Rede in der Knesset gesagt, dass das Existenzrecht Israels Teil der deutschen Staatsräson ist. Das ist ein Satz, der eben nicht nur in Sonntagsreden gilt, sondern der Konsequenzen in der Politik hat. Ich bin unserem Außenminister dafür dankbar, dass er gesagt hat: Dieses Existenzrecht Israels gilt es natürlich auch in unseren politischen Verhandlungen zu beachten, die wir mit dem Iran führen. In Israel ist man voller Sorge, dass Entscheidungen fallen könnten, die die Sicherheitsinteressen Israels verschlechtern. Deswegen müssen wir schon klar und deutlich sagen: Es kann keinen Abschluss mit dem Iran geben, der die Sicherheit Israels nicht verbessert, und keinen Abschluss, der die Sicherheit verschlechtert. Da dürfen wir auch nicht aus politischer Opportunität wegschauen, sondern da müssen wir klar sagen: Die Verhandlungen mit dem Iran dürfen das Existenzrecht Israels in keiner Weise gefährden, liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Freundschaft mit Israel bedeutet allerdings auch, dass wir unserem Freund Israel helfen, in wichtigen politischen Fragen richtige Entscheidungen zu treffen – nicht indem wir hier bevormundend auftreten, sondern indem wir im Dialog mit der israelischen Regierung auch auf Sorgen aufmerksam machen, die wir haben, und indem wir auf mögliche Entwicklungen hinweisen, die wir uns wünschen. Dazu gehört aber auch, dass wir als Freund Israels immer Folgendes zu bedenken haben: Wir können in diesem Jahr 70 Jahre Frieden und Freiheit feiern, während Israel in den vergangenen 70 Jahren nicht einmal einen Bruchteil von dem Frieden und der Sicherheit hatte, die wir hier gehabt haben. Israel war ständig in Sorge, ständig im Abwehrkampf, ständig von Terrorismus überzogen. Deshalb ist es ein Unterschied, ob man aus Sicht Israels oder aus Sicht unseres Landes, eines sicheren Hafens, spricht. Das bitte ich immer wieder zu berücksichtigen, wenn man mit Israel über Zukunftsfragen redet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Natürlich wissen wir aus unserer eigenen Geschichte, wie wichtig es ist, dass man in einem Staat leben kann, dass man seine Interessen entsprechend formulieren kann. Deswegen muss eine Lösung im Nahen Osten gefunden werden. Natürlich gibt es auch das Recht der Palästinenser, in einem Staat zu leben. Darüber werden wir mit Israel immer wieder sprechen müssen. Aber eines ist auch klar: Es gibt kein Recht – schon gar nicht angesichts dessen, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist, und mit Blick auf unsere politische Ausrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg –, sein Recht mit Gewalt und Terror zu erzwingen. Das müssen wir den Palästinensern auch klar und deutlich sagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Griese [SPD]) Da haben wir also einen wichtigen Beitrag zu leisten. Diesen Beitrag können wir vielleicht besser leisten, weil wir definitiv wissen, dass der Staat Israel und die Juden – für mich immer noch unfassbar nach dem, was es an Brutalität gab und was an gemeinen Verbrechen geschehen ist – uns in besonderer Weise vertrauen. Es ist ein besonderer Vertrauensbeweis, dass der Staat Israel die Vertretung seiner diplomatischen Interessen und die Vertretung der Interessen seiner Bürger in den Ländern, in denen er keine eigenen diplomatischen Vertretungen hat, auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen hat – nicht auf Amerika oder auf ein anderes europäisches Land, sondern auf Deutschland. Das ist ein weiterer großartiger Beweis dafür, dass man uns vertraut. Ich kann nur sagen – ich glaube, das kann man für den ganzen Deutschen Bundestag sagen –: Wir werden alles daransetzen, uns dieses Vertrauens würdig zu erweisen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Volker Kauder. – Nächste Rednerin in der Debatte: Katrin Göring-Eckardt für Bündnis 90/Die Grünen. Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wer 50 Jahre zurückblickt, kommt nicht umhin, sich zu wundern. Mit diesem Deutschland hat Israel 1965 diplomatische Beziehungen aufgenommen: 20 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus war Deutschland weder frei von Schuld noch frei von Schuldigen. Ganz im Gegenteil: Es war eine Gesellschaft, deren Kriegsgeneration sich den Fragen ihrer Kinder nach kollektiver und individueller Schuld noch gar nicht gestellt hatte und auch nicht stellen wollte. Die in der deutschen Bevölkerung seinerzeit verbreitete Einstellung wurde vier Jahre später, im Jahr 1969, von Franz Josef Strauß so ausgedrückt – ich zitiere –: Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen. Wie unglaublich, wie absurd, wie anmaßend – damals wie heute. Übrigens: Die DDR hat nicht nur keine diplomatischen Beziehungen zu Israel aufnehmen wollen; sie hat weder eine Debatte über Aufarbeitung noch über Schuld geführt. Ein antifaschistischer Schutzwall sollte dazu führen, dass die Täter auf der anderen Seite sind; eine Hypothek bis heute. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland war übrigens auch nicht das Resultat sorgfältiger Vorbereitung. Es war das Ergebnis einer Folge von Skandalen und Enthüllungen im Kontext des Kalten Krieges: deutsche Raketentechniker in Ägypten, geheime Waffenlieferungen von Deutschland nach Israel, die Hallstein-Doktrin, der Besuch von Walter -Ulbricht in Ägypten. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten entstanden einerseits sehr enge und tragfähige Beziehungen in den Bereichen von Politik, Kultur, Zivilgesellschaft, Bildung und Wissenschaft. Andererseits gab es aber auch immer wieder Anlässe zu spürbaren Verstörungen in dem Verhältnis beider Länder. Das reichte von der antiisraelischen Wendung vieler Gruppen der westdeutschen Linken nach 1965, dem Terroranschlag auf die israelische Olympiamannschaft im Jahr 1972 über die sogenannte Schmidt-Begin-Kontroverse 1981 und den Israel-Besuch von Helmut Kohl 1984 bis hin zu dem umstrittenen Gedicht des gerade verstorbenen Autors Günter Grass aus dem Jahr 2014. Dass die deutsch-israelischen Beziehungen intensiv und tragfähig wurden, ist auch, aber nicht nur das Verdienst vieler Regierungs- und Parlamentsvertreter und vertreterinnen beider Staaten. Es ist ebenso ein Verdienst vieler Bürgerinnen und Bürger, Kirchen und Kirchgemeinden, Städtepartnerschaften, Kulturprojekte, die diese Beziehung mit Leben gefüllt haben und sie tragen, die einander auch in politisch schwierigen Zeiten vertrauensvoll verbunden geblieben sind. Eine wichtige Arbeit hat bereits vor 54 Jahren begonnen. Ich will sie erwähnen, weil ich ihr persönlich verbunden bin. 1961 kamen die ersten Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste aus Deutschland nach Israel. Seit 20 Jahren kommen auch junge Israelis zu Freiwilligendiensten nach Deutschland. Die Geschichten, die die jungen Leute erzählen, sind und bleiben beeindruckend: wenn Hilfe im Haushalt plötzlich zu einer tiefen Freundschaft über mehrere Generationen hinweg wird und wenn ein alter Mann einem Helfer Dinge erzählt, die er seinen eigenen Kindern nie anvertrauen wollte. Diese Arbeit ist von unschätzbarem Wert. Je mehr die Generation der Zeitzeugen schwindet, umso wichtiger wird die Generation, die Zeugnis für die Zukunft ablegt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Ich persönlich bin sehr dankbar dafür, dass wir über unsere gemeinsame Geschichte reden können. Als ich Gabriel Bach, den Ankläger im Eichmann-Prozess, in Jerusalem traf, haben wir über diese Geschichte sprechen können. Ich bin sehr froh, dass er das mit vielen Jugendlichen getan hat. Aber noch viel mehr bleibt mir sein Besuch in Berlin in Erinnerung. Im Gespräch stellten wir fest, dass meine Berliner Wohnung unweit der Straße war, in der er aufgewachsen ist. Es war Frühjahr, und er war dort. Überall sah man Geranien an den Balkonen, rote Geranien. Gabriel Bach aber hat keine Geranien gesehen. Er sah nur das Rote und dachte an die Fahnen der Nazis, die damals auf einmal aus allen Fenstern hingen. Aktuelle Umfragen zeigen, dass eine erschreckend hohe Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der Vergangenheit ziehen möchte. Ihnen müssen wir widersprechen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Geschichte zu kennen, bedeutet, Verantwortung zu leben, ganz unabhängig vom eigenen Alter und von der Frage persönlicher Schuld. Nie vergessen ist keine Hypothek, sondern es ist das wichtigste Erbe, das wir weiterzugeben haben. Es muss uns umtreiben, dass im vergangenen Jahr die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland um 25 Prozent angestiegen ist. Das ist für unser Land beschämend. Ich hoffe trotzdem umso mehr, dass die Menschen jüdischen Glaubens, die hier zu Hause sind, es auch bleiben. Es ist unser gemeinsames Land. Es ist unsere gemeinsame Hoffnung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Herr Kauder hat eben zu Recht darauf hingewiesen, wie absurd es ist, dass eine israelische Flagge im Fußballstadion eingerollt werden musste. Natürlich hat sich der Polizeipräsident entschuldigt, und wahrscheinlich sind wir uns auch alle einig darüber, wie falsch diese Aktion war. Das Gefährliche daran ist aber die Gedankenlosigkeit, mit der das passiert ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland, das ist kein gegenseitiges Verteilen von Streicheleinheiten. Es ist ein gewachsenes Verständnis füreinander, das auch Kritik aushalten kann und muss, genauso wie Enttäuschungen. Die von Benjamin -Netanjahu im Wahlkampf geäußerte Aussage, an der Perspektive der Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr arbeiten zu wollen, war eine solche Enttäuschung. Darum muss man nicht herumreden. Aber auch wenn es im Gebälk knirscht: Das Fundament ist stabil. Die Beziehungen sind nicht nur von Geschichte, sondern auch von Gegenwart geprägt. Es gibt auch weiterhin viel zu besprechen in und zwischen unseren Gesellschaften. Was wir nicht brauchen, ist eine gern beschworene Normalisierung des einzigartigen Verhältnisses zwischen Israel und Deutschland. Eine Normalisierung würde nämlich die Besonderheit unseres Verhältnisses zu und unsere Verantwortung für Israel negieren. Wir feiern 50 Jahre diplomatische Beziehungen im selben Jahr, in dem wir an den 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz erinnern. Beides ist untrennbar miteinander verknüpft. Diese Erinnerung ist kein konservierendes Geschichtsbild, sondern sie ist Auftrag. Der Blick auf die Geranien am Balkon in Charlottenburg und der Strandspaziergang unserer Kinder und Enkel in Tel Aviv: Es wird Momente geben, die eben nicht unbeschwert sind. Von daher zu den 50 Jahren beides: Schalom und Mazel tov. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Katrin Göring-Eckardt. – Nächster Redner: Achim Post für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Achim Post (Minden) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf anfangen mit einem Dank an alle Rednerinnen und Redner vor mir, die alle auf ihre Art eindrucksvoll beschrieben haben, wie sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt hat. In zehn Wochen, am 27. Juli 2015, ist ein richtig guter Tag. Da beginnen nämlich in Berlin die 14. European Maccabi Games, das größte jüdische Sportereignis Europas, eine Art Olympiade für jüdische Sportlerinnen und Sportler. Dann treffen sich 2 300 Frauen und Männer und messen sich im Schwimmen, im Laufen, im Schachspielen, beim Basketball, und das alles auf dem Gelände des ehemaligen Reichssportfeldes, das für die Olym-piade 1936 erbaut worden ist. 70 Jahre nach dem Holocaust findet das größte jüdische Sportereignis in Berlin statt, unterstützt vom Regierenden Bürgermeister und vom ganzen Senat. Ich finde, auch das ist ein Sieg über Hitler und Nazi-Deutschland. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dazu kommt das vielfältige jüdische Leben in Deutschland: in jüdischen Gemeinden und außerhalb von jüdischen Gemeinden. Dazu kommen Tausende und Abertausende Israelis, die für ein Wochenende, für eine Woche, für ein Jahr oder für immer nach Berlin und Deutschland kommen. Das alles sind Hinweise, ja Beweise, wie eng die Bande zwischen den Menschen in Israel und Deutschland geworden sind. Volker Kauder hat gefragt: Ist jetzt also alles wieder gut? Ist Normalität eingekehrt wie – sagen wir – zwischen Dänemark und Schweden? Ist es Zeit, den sogenannten Schlussstrich zu ziehen? Wie alle Vorrednerinnen und Vorredner sage ich eindeutig: Nein. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) Buchstaben und Geist dieses Koalitionsantrags unterstreichen dieses Nein, wenn vom einmaligen Charakter der deutsch-israelischen Beziehungen gesprochen wird. Zugegeben: Die Überschrift des Antrags kommt etwas holprig daher – „Eingedenk der Vergangenheit die -gemeinsame Zukunft gestalten“ –, aber sie trifft den Kern. Als seine Lehrerin den neunjährigen, uns allen bekannten Marcel Reich-Ranicki Ende der 20er-Jahre vor dessen Umzug nach Berlin verabschiedete, tat sie das mit den Worten: „Du fährst, mein Sohn, in das Land der Kultur.“ Der kleine Marcel kam stattdessen und schlussendlich in das Land von Auschwitz und Treblinka, von Buchenwald und Sachsenhausen. In das Land, in dem Millionen von Menschen umgebracht wurden, nicht von einigen, schon gar nicht von einem, sondern von vielen. In das Land, in dem Millionen von Juden umgebracht wurden, nicht nur im deutschen Namen, sondern von Deutschen. Deshalb grenzt all das – Frank-Walter Steinmeier hat es beschrieben –, was in den letzten 50 Jahren erreicht wurde, in der Tat an ein Wunder. Aber auch Wunder werden gemacht, von den Bürgerinnen und Bürgern der beiden Länder, von weitsichtigen Politikern wie Ben-Gurion und Konrad Adenauer, wie Golda Meïr und Willy Brandt, wie Schimon Peres und Johannes Rau, aber auch von 700 000 Israelis und Deutschen, die mittlerweile an einem Jugendaustausch teilgenommen haben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) All das geschah nach dem Tiefpunkt der menschlichen Zivilisation. Im Übrigen auch nach vielen Jahren, in denen Schuld und Verantwortung in Deutschland verdrängt wurden. Sonst hätten SS-Männer wie Oskar Gröning in Lüneburg wohl nicht erst mit 93 Jahren vor Gericht gestanden, sondern mit 33 oder 43 Jahren. Wie soll es jetzt weitergehen mit unseren beiden Ländern, mit Deutschland und Israel, deren Beziehung so eng und so einzigartig ist, die auf so freundschaftliche und so schwierige Art und Weise verbunden sind, mit diesen beiden stabilen Demokratien? Es wird gelegentlich unterbewertet, dass wir in beiden Ländern in offenen Gesellschaften leben. Wir sollten das zu schätzen wissen. Ich jedenfalls habe bei meinen Besuchen in Israel nicht immer politische Zustimmung erhalten, aber nie persönliche Ablehnung, auch und gerade wenn ich dafür werbe, dass Verhandlungen mit dem Iran die Sicherheitslage Israels verbessern, auch und gerade wenn ich den fortgesetzten Siedlungsbau ablehne oder die humanitäre Lage in Gaza kritisiere. Drei Dinge liegen mir besonders am Herzen. Erstens. Wir sollten uns in diesen Tagen einfach einmal darüber freuen, was zwischen den Ländern gelungen ist, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in Wirtschaft und Wissenschaft, bei Städtepartnerschaften, im Kulturaustausch, im Sport, in sozialen Fragen und beim Austausch von Auszubildenden. 50 Jahre di-plomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland sind vor allem auch eine Erfolgsgeschichte. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zweitens. Wir sollten den Schwung aus 2015 in die kommenden Jahre mitnehmen. Das hat der deutsche Botschafter in Israel vor acht Wochen gesagt. Ich stimme ihm ausdrücklich zu. Der Botschafter hat recht. Am besten sollten wir den Schwung in die nächsten 50 Jahre mit der Vertiefung und der Erweiterung der Zusammenarbeit und des Dialogs mitnehmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mit der gemeinsamen Erklärung der letztjährigen Regierungskonsultationen gibt es dafür fast so etwas wie ein Arbeitsprogramm, mit den neun Punkten des Koali-tionsantrages gibt es elementare Forderungen des Deutschen Bundestages an die Bundesregierung: für das Existenzrecht Israels, gegen Antisemitismus, für eine Zwei-Staaten-Lösung, für Erinnerung und Verantwortung in Deutschland. Damit bin ich beim dritten und letzten Punkt. Zwei Dinge gilt es zu bekämpfen: Desinteresse und Gleichgültigkeit. Das gilt für das Miteinander, aber auch für jedes Land allein. Der große Philosoph Edmund Burke hat den Satz aufgeschrieben: „Für den Sieg des Bösen reicht die Untätigkeit des Guten“. Wenn ich mich so umschaue, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss ich sagen: Wir hier im Deutschen Bundestag sind zweifelsohne die Guten, und zwar in allen Fraktionen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das gilt im Übrigen vor allem für die übergroße Mehrheit der Deutschen; aber wir dürfen nie die Untätigen sein oder werden. Deshalb dürfen wir nicht nachlassen in unserem Engagement gegen Antisemiten, gegen Rechtsradikale, gegen Nazis. (Beifall im ganzen Hause) Diese Nazis haben seit der deutschen Einheit über 150 Menschen umgebracht, und sie werden sich weitere Opfer suchen, wenn wir sie nicht stoppen – mit allen Mitteln des Rechtsstaates, energisch und nachhaltig. Das sind wir uns selbst schuldig, das sind wir unseren Freunden in Israel schuldig, das sind wir allen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland schuldig. Wir haben in den letzten 50 Jahren so viel erreicht. Arbeiten wir weiter für eine gute Zukunft unserer beiden Länder, arbeiten wir weiter für eine gemeinsame Zukunft unserer beiden Länder. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Achim Post. – Nächste Rednerin: Gerda Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]) Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Beziehung, die Beziehung zwischen Deutschland und Israel, wird immer eine ganz besondere Beziehung bleiben. Sie ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Sie ist vor allem eine Beziehung nicht allein zwischen den Staaten, sondern sie ist auch eine Beziehung zwischen den Menschen geworden; das ist auch in den Beiträgen vorhin deutlich zum Ausdruck gebracht worden. In meinem Wahlkreis liegt das ehemalige Konzentrationslager Dachau. Dort habe ich immer wieder Gelegenheit, Überlebende kennenzulernen. Einer davon ist Abba Naor, der heute in Israel lebt. Wenn er vor 60 Jahren in seinen Pass geschaut hat – in den israelischen Pass –, dann stand da: Gilt in allen Ländern der Welt außer Deutschland. – Er konnte in alle Teile der Erde reisen, aber nicht zu uns nach Deutschland. Heute steht derselbe Mann in hohem Alter immer wieder vor Schülern in ganz Deutschland. Er erzählt von seinen Erfahrungen, von seinem Leiden. Er erzählt das nicht, um anzuklagen, er erzählt das nicht, um den jungen Leuten ein schlechtes Gewissen zu machen, sondern er erzählt das, um für Toleranz zu werben, um für Nächstenliebe zu werben, für Menschenwürde zu werben. Seine Botschaft ist nicht Anklage, sondern seine Botschaft ist Versöhnung und Mahnung, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]) Ich bin überzeugt davon, dass viele von uns solche Geschichten erzählen können von Begegnungen mit Zeitzeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Diese Geschichten zeigen, was in den Jahrzehnten seit dem Krieg in unserem Land geschehen ist, was die Menschen hier geleistet haben im Bereich Versöhnung und Mahnung. Wenn wir heute, in diesen Tagen, an 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel denken, dann müssen wir auch noch ein bisschen weiter zurückdenken; denn das Ganze begann im Jahr 1960, als die beiden großen Staatsmänner Konrad Adenauer und David Ben-Gurion sich die Hand reichten. Das Foto ging damals um die Welt, und es ging zu Recht um die Welt; denn das war alles andere als selbstverständlich nach dem, was in deutschem Namen den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus angetan wurde. Es war sicher für jeden der beiden schwierig – für David Ben-Gurion wahrscheinlich noch viel schwieriger –, bei seiner Bevölkerung dafür Verständnis zu bekommen. David Ben-Gurion sagte schon bald nach dem Krieg: Ihr müsst wissen, dass da ein anderes Deutschland entsteht. – Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, es entstand ein anderes Deutschland: Es entstand ein Deutschland, das sich zu seiner Geschichte und zu seiner Verantwortung aus der Geschichte bekennt, ein Deutschland, das zu Werten wie Freiheit, Demokratie und Menschenwürde steht, ein Deutschland, das nicht vergisst, was in der Vergangenheit war, ein Deutschland, das das Geschehene, die Schoah, immer im Gedächtnis haben wird – auch das gehört zu diesem Deutschland. Meine Damen und Herren, warum ist das alles geschehen? Es ist vorhin schon gesagt worden: Es ist ein großes Wunder, dass wir dieses erleben dürfen – nach all dem, was wir in der Geschichte zu verzeichnen hatten und haben. Heute arbeiten die beiden Staaten intensiv zusammen: im politischen Bereich, im wirtschaftlichen Bereich, im Forschungsbereich, im kulturellen Bereich. Es gibt viele Städtepartnerschaften. Das Internationale Parlaments-Stipendium des Deutschen Bundestages trägt dazu bei, dass Jugendliche aus Israel nach Deutschland kommen und dass deutsche Jugendliche die Möglichkeit haben, einige Monate in der Knesset zu verbringen. Das alles ist wirklich ein Wunder. Es ist möglich geworden, weil zunächst einmal Israel bereit war, die Hand zu reichen. Es ist möglich geworden, weil Konrad Adenauer, selbst unbelastet, sich eindeutig zu der Vergangenheit bekannt hat, zur Verantwortung der Vergangenheit bekannt hat und weil er glaubwürdig für das neu entstandene Deutschland stand. Meine Damen und Herren, es ist möglich geworden, diese 50 Jahre wirklich als Erfolgsgeschichte, wie es mein Vorredner bezeichnet hat, zu sehen, weil jede Bundesregierung in den vergangenen Jahrzehnten sich der Bedeutung der besonderen Beziehungen bewusst war, weil jede Bundesregierung die Beziehungen intensiviert und noch verbessert hat sowie das schon vorhandene Vertrauen immer wieder gestärkt hat. Auch das gilt es in dieser Stunde zu erwähnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aus der Erinnerungskultur der ersten Jahre ist eine Verantwortungskultur geworden. Was heißt „Verantwortungskultur“ jetzt für uns? Es bedeutet meines Erachtens erstens, dass wir nicht schweigen dürfen, wenn die fürchterlichen Gräueltaten des Nationalsozialismus relativiert werden, dass wir nicht schweigen dürfen, wenn wir in Deutschland, in Europa oder sonst wo auf der Welt wieder antisemitische Tendenzen erkennen. Für uns muss gelten: Antisemitismus, Rassismus, Abgrenzung, Ausgrenzung, Diskriminierung – all das darf in Deutschland, darf in Europa, darf in der Welt keinen Platz haben. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zweitens bedeutet Verantwortungskultur, das Erinnern wachzuhalten, auch in einer Zeit, in der die Zeitzeugen immer weniger werden und vielleicht eines Tages gar nicht mehr vorhanden sind. Diese Arbeit leisten meines Erachtens in hervorragender Weise die Gedenkstätten. Sie wird aber auch geleistet – das will ich nicht unerwähnt lassen – von Schriftstellern in Büchern, aber auch in einer ganzen Reihe von Filmen. Auch wir sind gefordert, dieses wachzuhalten: mit Diskussionen und mit Förderung der Menschen, die diese Arbeit professionell für uns leisten. Auch das gehört dazu. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Drittens bedeutet Verantwortungskultur, einen offenen Dialog mit Israel über all die aktuellen Fragen zu führen; es wurde vorhin schon angesprochen. Das Ganze bedeutet auch, gemeinsam dafür Sorge zu tragen, dass in der Region, wo die Menschen immer wieder mit Ängsten und Schrecken zu tun haben, Frieden einkehrt. Da gibt es keine Patentlösung. Für uns ist aber klar und für mich gilt ganz wesentlich: Das Existenzrecht, die Sicherheit Israels, das ist für uns nicht verhandelbar, so wie es die Bundeskanzlerin und die bisherigen Bundesregierungen immer wieder zum Ausdruck gebracht haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Viertens bedeutet diese Verantwortungskultur aber auch, dass wir jüdisches Leben in Deutschland nicht nur zulassen, sondern dass wir es, wo immer es möglich ist, auch fördern. Jüdisches Leben gehört zu unserer kulturellen Identität, und es bereichert unser Leben. Auch das gehört zur Verantwortungskultur. Das alles, meine Damen und Herren, ist möglich, weil wir ein gemeinsames Wertefundament haben, ein Wertefundament, das da lautet: für Freiheit, für Demokratie, für die Wahrung der Menschenrechte und Menschenwürde, und zwar egal woher die Menschen kommen, egal welches Geschlecht sie haben, welchen Glauben sie haben. Jeder und jede hat das Recht auf eine Menschenwürde, wie wir sie verstehen. Meine Damen und Herren, 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, das ist ein Glücksfall; es ist in der Entwicklung der Jahrzehnte für uns eine Erfolgsgeschichte. Geprägt sind diese Beziehungen von der Verantwortung für die Vergangenheit, von einer gelebten Solidarität und einem gegenseitigen Vertrauen, von unseren gemeinsamen Werten. Ich denke, wir sind aufgefordert, diese einzigartigen Beziehungen in diesem Geist auch künftig zu pflegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Hasselfeldt. – Nächster Redner in der Debatte: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie schreiben in Ihrem Antrag, 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel seien ein „Wunder“. Richtig ist, dass es alles andere als selbstverständlich war, dass Ben-Gurion die Hand von Konrad Adenauer ergriffen hat. Es ist sicher nicht nur richtig, dass wir sehr besondere bilaterale Beziehungen haben, sondern auch, dass diese Beziehungen einzigartig sind. Richtig ist auch, dass wir, Israel und Deutschland, bilaterale Beziehungen haben, die es sonst zwischen keinen zwei anderen Ländern der Welt gibt. Dafür können wir einfach nur dankbar sein. Allerdings ist die Rede vom „Wunder“ nicht besonders akkurat, weil diese Beziehungen eben nicht vom Himmel gefallen sind, weil es unglaublich viele Klippen gegeben hat – meine Fraktionsvorsitzende hat darauf hingewiesen –, weil wir noch sehr viel daran arbeiten müssen und weil wir uns bei denjenigen in Deutschland bedanken müssen, die aus der Zivilgesellschaft heraus – die Kirchen, die Gewerkschaften und viele andere – teilweise gegen Widerstände in der Politik, im Übrigen aus allen Fraktionen, dafür gekämpft haben und durchgesetzt haben, dass es diese bilateralen Beziehungen gibt. Dafür einen herzlichen Dank! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Gleichzeitig glauben wir, dass wir viel tun müssen, damit die bilateralen Beziehungen nicht rituell werden. Dazu gehört Ehrlichkeit. Dazu gehört, dass wir ehrlich sagen, woran es gehapert hat, gerade auf der deutschen Seite; wir müssen selbstkritisch sein. Wir werden Ihrem Antrag selbstverständlich zustimmen. Das ist nun wirklich der falsche Anlass, um sich parteipolitisch zu zerlegen. Ich erinnere mich, dass man sich vor zehn Jahren, als es um den 40. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen ging, sehr bemüht hat und es am Ende gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag in den Bundestag einzubringen. Ich hätte mir gewünscht, dass es auch dieses Mal möglich gewesen wäre. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nichtsdestotrotz stimmen wir Ihrem Antrag zu und hoffen, dass auch Sie nicht mit den üblichen Reflexen auf unseren Antrag reagieren. Meine Damen und Herren, Israel und Deutschland sind nicht mehr dieselben Länder wie vor 50 Jahren. Beide Gesellschaften sind im Wandel. Damit verändert sich auch die Erinnerung in beiden Ländern an historische Ereignisse. Wer die Beziehung in ihrer heutigen Intensität erhalten und vor allem ausbauen will, der muss die neuen gesellschaftlichen Realitäten ernst nehmen. Deutschland und Israel sind Einwanderungsgesellschaften. In beiden Ländern gibt es viele Menschen, die keine biografischen Bezüge zur Schoah haben. Mein Großvater war während der NS-Herrschaft Nusshändler im Westen Irans. Dass es den Zweiten Weltkrieg überhaupt gibt, das hat er wahrscheinlich erst mitbekommen, als 1941 erstmals russische Soldaten in seiner Stadt aufgetaucht sind. Nichtsdestotrotz trage ich als Deutscher, als Demokrat und als Mensch die Verantwortung für die Folgen der deutschen Geschichte und damit selbstverständlich auch für die deutsch-israelischen Beziehungen. Wer sich zu Deutschland bekennt, bekennt sich zur historischen Verantwortung Deutschlands und damit zur Verantwortung für das Nie-wieder. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Manche sagen, dass Antisemitismus in Deutschland heute vor allem unter Muslimen verbreitet sei. Das ist in Zeiten, in denen Neonazis leider Gottes immer noch ganze Stadtviertel zu No-go-Areas für Juden erklären können, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!) eine sehr gewagte These. Dennoch gibt es ein Problem, wie die Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg im letzten Jahr gezeigt haben. Es ist legitim, israelische Politik zu kritisieren und dagegen zu demonstrieren – das Demonstrationsrecht gilt nicht nur für diejenigen, die politisch ausgewogen demonstrieren; das sehen wir Montag für Montag in manchen deutschen Städten –; aber Gewaltanwendung ist nicht legitim. Es ist nicht legitim, antisemitische Parolen zu dreschen. Es ist erst recht nicht legitim, Hoheitszeichen eines anderen Staates zu zerstören oder das Existenzrecht Israels infrage zu stellen. Es ist unsere Aufgabe als Demokratinnen und Demokraten, dagegen aufzustehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Aus der deutschen Geschichte erwächst eine Verantwortung für die Sicherheit Israels und die Sicherheit der Jüdinnen und Juden in Deutschland. Unsere Verantwortung ist es, für die Sicherheit aller, die hier in Deutschland leben, zu sorgen, und zwar unbenommen davon, welcher Religion sie angehören. Der Graben verläuft nicht zwischen Juden und Muslimen, der Graben verläuft zwischen Demokraten auf der einen Seite und Antisemiten auf der anderen Seite. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU]) Die Sicherheit des Staates Israel zu garantieren, ist und bleibt ein Grundsatz deutscher Außenpolitik, auch wenn wir über das Wie immer wieder streiten. Diese Streitereien gibt es unter uns, innerhalb Israels und zwischen Deutschland und Israel. Das Verhältnis Deutschlands zu Israel ist eng mit dem Nahostkonflikt verbunden. Gerade in einer Zeit, in der eine Zwei-Staaten-Lösung in weite Ferne rückt, gerade in einer Zeit, in der es immer weniger Hoffnung gibt, müssen wir uns für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzen. Denn klar ist: Es wird keine Sicherheit für die Israelis und keine Selbstbestimmung für die Palästinenser ohne eine Zwei-Staaten-Lösung geben. Es gibt keinen Zaun, der hoch genug ist, dass er Frieden ersetzen kann. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Omid Nouripour. – Nächste Rednerin: Kerstin Griese für die SPD. (Beifall bei der SPD) Kerstin Griese (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele in meiner Generation, die sich politisch engagieren, tun dies, weil nie wieder passieren darf, was 1933 von Deutschland ausging. In der Schoah wurden 6 Millionen europäische Juden ermordet. In dieser einmaligen Menschheitstragödie haben die Deutschen unfassbare Schuld auf sich geladen. Als 16-Jährige habe ich im Rahmen der Jugendarbeit zum ersten Mal die Gedenkstätte des KZ Auschwitz besucht. Das hat mich für mein ganzes Leben geprägt. Die Täter waren aus der Generation meiner Großeltern. Es waren Deutsche, die im südpolnischen Ort Oswiecim das größte Grauen der Menschheitsgeschichte angerichtet haben, indem sie die Juden Europas dorthin deportiert haben, misshandelt, gequält und ermordet haben. Man muss bedenken, dass es nach 1945 viele Akteure in der jungen deutschen Bundesrepublik gab, die in den Nationalsozialismus verstrickt waren oder selbst schuldig geworden waren. Mir haben Holocaustüberlebende oft erzählt, wie schwer es für sie in der Nachkriegszeit war, Deutschen zu begegnen, weil sie immer gedacht haben: Was hat derjenige wohl von 1933 bis 1945 gemacht? Vor diesem Hintergrund war es für den jungen Staat Israel besonders schwer, mit dem Land der Täter in einen diplomatischen Austausch zu treten. Es dauerte 20 Jahre, bis 1965 – wir feiern erst 50 Jahre diplomatische Beziehungen –, bis das offiziell möglich wurde. Aber es gab viele – darauf will ich heute besonders eingehen –, die sich vor 1965 für die deutsch-israelischen Beziehungen engagiert haben. Der Prozess dorthin hatte viele Wegbereiterinnen und Wegbereiter. Wir sind den Menschen, die schon in den 1950er-Jahren begonnen haben, erste Kontakte nach Israel zu knüpfen, sehr dankbar. Es waren Gewerkschaften, es waren Jugend- und Studentenorganisationen, es war die evangelische Kirche, die weit vor Aufnahme der offiziellen diplomatischen Beziehungen, teilweise auch unter abenteuerlichen Bedingungen und mit großem persönlichen Einsatz, eigene Beziehungen zu den Menschen im jüdischen Staat geknüpft haben. Darauf können wir sehr stolz sein. Kurt Schumacher, der SPD-Vorsitzende, hat schon 1947 auf dem SPD-Parteitag gesagt, dass das deutsche Volk zur Wiedergutmachung und zur Entschädigung verpflichtet ist. Das war 1947 ein bedeutender Satz. Carlo Schmid hat 1951, damals Bundestagsvizepräsident, darauf gedrungen, den jungen Staat Israel als Rechtsnachfolger für Rückerstattung und Wiedergutmachungsansprüche anzuerkennen. Auch das war wegweisend, bis es dann 1952 zum Luxemburger Abkommen kam. Es waren junge Menschen, die sich schon früh für die Beziehungen zu Israel eingesetzt haben. Die Falken waren dabei; und der SDS, die damalige SPD-Hochschulorganisation, hat 1951 die Kampagne „Frieden mit Israel“ gestartet und deutsch-israelische Studierendengruppen gegründet. Es waren evangelische Jugendgruppen, aus denen 1958 die Aktion Sühnezeichen entstand. Auch die Gewerkschaftsjugend war dabei. Wenn wir uns vor Augen halten, wie Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre die ersten Jugendgruppen nach Israel reisten, dann wissen wir, dass das schwierig war. Sie waren nach dem Holocaust natürlich oft nicht willkommen. Es war für die deutschen Jugendlichen nicht einfach; aber es war auch für diejenigen Israelis, die deutsche Gäste willkommen heißen wollten und mit ihnen einen Austausch suchten, nicht einfach. Sie mussten sich Anfeindungen erwehren. Frau Hasselfeldt hat es schon erwähnt: Im israelischen Pass stand bis 1956 noch auf Hebräisch und Französisch die Bemerkung: Gültig für alle Länder – mit Ausnahme Deutschlands. Es war also auch ganz schwierig, zueinander zu reisen. Dafür, dass in dieser Zeit schon Menschen begonnen haben, Partnerschaften und auch Freundschaften zu knüpfen, sind wir dankbar. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will an ein wenig bekanntes, aber wichtiges Ereignis erinnern. Am 26. März 1957 hat der damalige SPD-Parteivorsitzende Erich Ollenhauer als erster deutscher offizieller Gast des Staates Israel dort eine öffentliche Rede gehalten. Er hat sich in dieser Rede für den Botschafteraustausch eingesetzt. Dies hat übrigens zu Protesten der arabischen Länder im Sinne der Hallstein-Doktrin geführt. Es war in diesen Zeiten also wirklich noch sehr schwierig, dafür zu plädieren. 1957 fuhr die erste offizielle Delegation des Deutschen Gewerkschaftsbundes nach Israel. Seitdem gibt es eine lange und intensive Partnerschaft mit der Histadrut, dem israelischen gewerkschaftlichen Dachverband. 1965 war es dann so weit – dies feiern wir in diesen Wochen –: Die offiziellen diplomatischen Beziehungen haben begonnen. Sie konnten aber nur beginnen, weil in den Jahren davor von Menschen, die sich engagiert haben und Wegbereiter dieser Kontakte waren, ein Netz geknüpft wurde. Dazu passt auch, dass es Johannes Rau war, der im Jahr 2000 als erstes deutsches Staatsoberhaupt vor der Knesset gesprochen hat und auch als Erster dort eine Rede auf Deutsch gehalten hat, worüber in Israel damals heftig diskutiert wurde. Es war eine wegweisende und bewegende Rede, in der er um Vergebung bat. Ende der 1960er-Jahre wurde der deutsch-israelische Jugendaustausch auch offiziell etabliert. Er ist bis heute sehr lebendig. Mein Kollege Achim Post hat schon darauf hingewiesen: 700 000 Menschen haben bisher teilgenommen. Etwa 300 Austauschprojekte gibt es pro Jahr. Seit 2001 wird dies von ConAct organisiert, dem Koordinierungszentrum für den deutsch-israelischen Jugendaustausch in Wittenberg. Ich danke allen, die sich dort engagieren, sehr herzlich für diese Begegnungsarbeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich selbst hatte 1996 das Glück, gemeinsam mit unserer heutigen Ministerin Andrea Nahles, sie war damals noch Juso-Bundesvorsitzende, dabei zu sein, als das Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem gegründet wurde. Das ist eine einmalige trilaterale Initiative, die es bis heute gibt, die gemeinsam von Deutschen, Israelis und Palästinensern getragen wird und die trotz aller Krisen, Terroranschläge und Kriege, die seither stattgefunden haben, weiter existiert, weil es junge Menschen gibt, die immer wieder beharrlich und unverdrossen daran arbeiten, dass die zwischen Deutschen, Israelis und Palästinensern geknüpften Fäden nicht zerreißen. Mir geht es immer wieder so: Wenn man dort ist – ich bin oft in Israel –, wenn man über die Lage im Nahen Osten verzweifelt ist und wenn man so gar keine Fortschritte, sondern eher Rückschritte wahrnimmt, dann ist es ein Hoffnungszeichen, dass es dort diese Menschen gibt, dass dort Begegnung und Verständigung möglich sind. Ich bin mir ganz sicher: Wenn Menschen die Chance haben, zueinanderzukommen, sich kennenzulernen, miteinander zu reden, dann ist das schon ein Friedensprozess im Kleinen. Davon brauchen wir noch viel mehr. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Damit kann in der Tradition all der Kontakte, die ich aufgezählt habe, ein kleiner Beitrag dafür geleistet werden, dass Israel eine friedliche Zukunft hat. Ich will genau wie meine Vorredner betonen: Wir müssen gerade in Deutschland besonders sensibel sein, wenn es um antisemitische Tendenzen in der Gesellschaft geht. Wir verzeichnen in diesem Jahr eine Zunahme antisemitischer Straftaten um 25 Prozent. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Dagegen müssen wir uns alle gemeinsam engagieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Nahostkonflikt wurde im letzten Jahr instrumentalisiert, und wir haben offen antisemitische Demonstrationen erlebt. Ich sage ganz deutlich zu Gregor Gysi: Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie hier und heute klare Kante gezeigt haben. Denn in meiner Nachbarstadt Essen gab es eine Demonstration, bei der wirklich erschreckende antisemitische Parolen geäußert wurden und die von Teilen der nordrhein-westfälischen Linkspartei unterstützt wurde. Deshalb: Vielen Dank! Ich glaube, wir müssen uns gemeinsam gegen jeden Antisemitismus wehren und ihm entgegenstehen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kritik an der israelischen Regierungspolitik ist selbstverständlich immer möglich. Es gibt auch niemanden, der sie unterbinden will, wenn sie demokratisch geäußert wird. Was wir aber erlebt haben, ist, dass diese Kritik in eine Kritik an den Juden insgesamt und an Israel insgesamt übergesprungen ist und ein Gleichsetzen der Juden in Deutschland mit der israelischen Regierungspolitik stattgefunden hat. Gegen diesen Antisemitismus stellen wir uns mit aller Deutlichkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Israel und Deutschland sind Verbündete, Partner und Freunde. Viele Abgeordnete aus allen Fraktionen bemühen sich in der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe und weit darüber hinaus ganz besonders um diese Beziehungen; denn sie sind für uns elementarer Bestandteil unseres politischen Selbstverständnisses. Der freundschaftliche und kritische Austausch bleibt eine wichtige Grundlage für die Beziehungen unserer beiden Staaten. Mir geht es so wie sicherlich vielen von Ihnen – ich hoffe, allen hier –: Ich werde mich immer dafür einsetzen, dass der demokratische und jüdische Staat Israel existieren kann. Ich wünsche den Menschen in Israel, dass sie in einem Staat mit dauerhaft anerkannten und sicheren Grenzen leben können – neben einem unabhängigen, demokratischen und lebensfähigen palästinensischen Staat, Seite an Seite, in Frieden und Sicherheit. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kerstin Griese. – Nächster Redner: Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte im Namen unserer Fraktion deutlich hervorheben, wie wichtig uns diese Debatte ist und wie wichtig auch das Andenken an das 50-jährige Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel ist. Kerstin Griese hat aus meiner Sicht gerade sehr schön beschrieben, dass sich die Sozialisation jüngerer Politiker über mehrere Jahrzehnte erstreckt und dass das eigene Verständnis – das gilt über die Parteigrenzen hinweg – natürlich vor allem durch die politischen Stiftungen geprägt wird. Man wächst in Deutschland in dem Bewusstsein auf, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel nicht irgendwelche, sondern besondere Beziehungen sind. Diese besonderen Beziehungen leiten sich vor allem aus den schrecklichen Ereignissen des Holocausts ab. Unsere Fraktion hat diese Woche eine Veranstaltung durchgeführt und versucht, in diesem Rahmen die junge Generation, junge Vertreter aus Israel, zu Wort kommen zu lassen. Mich hat besonders beeindruckt, dass eine junge Deutsche namens Melody Sucharewicz, die in Israel lebt, sich in München sehr stark für das jüdische Leben eingesetzt hat und bei unserer Veranstaltung aus Israel zugeschaltet war, deutlich hervorgehoben hat, dass es mit Worten allein nicht getan ist, sondern dass sich ganz besonders an Taten bemisst, was diese Freundschaft wirklich ausmacht. Da muss ich natürlich sagen: Wir haben in sehr vielen Diskussionen, auch über die Parteigrenzen hinweg, immer alles getan, um die Existenz des jüdischen und demokratischen Staates Israel zu garantieren. In diesem Geist sollten wir auch diese Debatte führen. Wir sollten über die Parteigrenzen hinweg alles tun, was notwendig ist, um die Existenz des jüdischen Staates dauerhaft zu garantieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aus dem Holocaust leitet sich nicht nur die Verantwortung ab, sich seiner Geschichte bewusst zu sein. Es ist richtigerweise gesagt worden, dass es auch darum geht, entschlossen gegen Antisemitismus vorzugehen. Er ist in vielen gesellschaftlichen Schichten vorhanden. Dabei geht es nicht nur um den externen Antisemitismus, der zu uns gekommen ist – zum Beispiel durch aggressive arabische Jugendliche oder in Form von Debatten, die eigentlich im Nahen Osten geführt wurden, mittlerweile aber auch in großen Städten und in Ballungsräumen bei uns geführt werden; diese Debatten sind über das Internet zu uns geschwemmt worden –, sondern natürlich auch um Vorurteile und Stereotype, die bedient werden. Antisemitismus geht – das besagt auch eine Studie des American Jewish Committee – quer durch alle Gesellschaftsschichten. Insofern stellt sich nicht nur die Frage, ob man sich Neonazis entgegenstellt – das ist eine Selbstverständlichkeit – oder versucht, Widerstand in irgendeiner Form an Demonstrationen und spektakulären Ereignissen festzumachen; vielmehr spielen auch der alltägliche Antisemitismus und die Doppelstandards, die gegenüber Israel angewandt werden, eine Rolle. Hier muss man sehr wachsam sein und sagen: Wehret den Anfängen! Wenn wir die Forderung „Nie wieder!“ ernst nehmen, dann geht so etwas wie das, was unser Fraktionsvorsitzender Volker Kauder vorhin am Beispiel der Israel-Fahne beschrieben hat, überhaupt nicht. Es ist nicht akzeptabel, dass wir uns verstecken und unser Bekenntnis zum Staate Israel so passiv zum Ausdruck bringen, dass ein Einsatzleiter bei einem Fußballspiel der Meinung ist, man dürfe keine Israel-Fahne zeigen. Ich glaube, er wäre bei der Flagge eines anderen Landes nie auf die Idee gekommen, so etwas zu tun. Das war wirklich beschämend und ist nur ein kleines Beispiel dafür, wo wir den Weg für Antisemitismus bereiten. Denn wenn man so wie die Staatsgewalt an dieser Stelle zurückschreckt, darf man sich nicht wundern, dass andere das als Einladung wahrnehmen, noch viel weiter zu gehen. Deshalb war es wichtig, dass Volker Kauder das angesprochen hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte diese Debatte aber auch nutzen, um auf die aktuelle Situation in Israel einzugehen. In fast allen Reden ist gesagt worden, dass wir froh sind, dass Israel ein demokratisches Land ist. Es ist das einzige demokratische – auch mit einem sehr breiten, pluralistischen Parteienspektrum ausgestattete – Land in der Region, das sich im Grunde zu jedem Thema unterschiedliche Meinungen bildet. Jeder von uns könnte zu jeder politischen Diskussion in Israel, in der ganz kontroverse Meinungen vertreten werden, einen Vertreter benennen. Gerade weil Israel das einzige Land ist, in dem die Gleichberechtigung von Mann und Frau, überhaupt die Herkunft der Menschen keine Rolle spielt, ist es ganz bemerkenswert, dass Israel diesen demokratischen, streitbaren Prozess auch bei sich – anders als alle anderen Nachbarn – organisiert und konsequent durchhält. Mit Blick auf unsere Geschichte, aber auch wegen der bisherigen Erfolgsgeschichte Israels steht es uns nicht an, Israels Politik in Oberlehrermanier per se zu kritisieren. Manche haben sich heute zur Regierungsbildung in Israel geäußert. Ich bin froh, dass Israel eine Regierung gefunden hat. Sie ist demokratisch legitimiert. Es ist an den Israelis, zu entscheiden, welchen Weg sie demokratisch wählen, und es ist nicht an uns, das zu beurteilen. Deshalb hat die Regierung Netanjahu – auch die neue Regierung unter ihm – genau dieselben fairen Chancen wie jede andere demokratische Regierung in der westlichen Welt verdient. Insofern sollten wir auch weiterhin eng und vertrauensvoll mit Netanjahu zusammenarbeiten und vielleicht das eine oder andere, was im Wahlkampf gewesen ist, hinter uns lassen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich bin über die aktuelle außenpolitische Situation -Israels sehr besorgt. Die Freude über das Abkommen mit dem Iran teile ich dezidiert nicht. Ich nehme die Sorgen Israels sehr ernst und glaube, der Iran ist nach wie vor ein großer Unruheherd, eine Gefahr, ein Sponsor des internationalen Terrorismus. Der Iran versucht, der Hegemon des Nahen Ostens zu werden, und mit traumwandlerischer Treffsicherheit gehen manche auf das Werben des Irans ein und unterschätzen aus meiner Sicht die von ihm ausgehenden Gefahren. Ich glaube, dass die in der Rede von Netanjahu in Washington geäußerten Sorgen berechtigt sind. Auch wenn ich nicht mit allen in diesem Hause übereinstimme, glaube ich, dass das ein Punkt ist, der definitiv zur Betrachtung der deutschen Außenpolitik gehören muss. Gerade in diesen Tagen, in denen man sagt, man wolle das Existenzrecht des jüdischen Staates weiterhin garantieren – das ist nicht nur Staatsräson, sondern auch Verpflichtung für uns alle –, muss man daraus verschiedene außenpolitische Ableitungen vornehmen und im Nahen Osten, wo es nie nur Schwarz oder Weiß, sondern auch sehr viele Grautöne gibt, Konzessionen machen, die, obwohl man sich vielleicht etwas anderes gewünscht hätte, notwendig sind. Insofern begrüße ich es ausdrücklich, dass unser Außenminister diese Woche in Ägypten war und Gespräche geführt hat. Ich möchte an dieser Stelle aber auch unseren Fraktionsvorsitzenden, Volker Kauder, hervorheben. Volker Kauder war der erste Politiker in Europa, der Präsident el-Sisi besucht, ihm die Hand gereicht und gesagt hat: Bei allen Schwierigkeiten, die Ägypten gerade hat, brauchen wir Ägypten, brauchen wir eine stabile Regierung in Ägypten. Die jetzige, bedauerlicherweise – das hätten wir uns anders gewünscht – nicht demokratisch legitimierte Regierung Ägyptens ist bei weitem besser als die vorherige unter Mursi, die zwar demokratisch gewählt, aber extremistisch war. (Beifall bei der CDU/CSU) Das war ein mutiger Schritt, Volker Kauder. Ich glaube, es ist auch richtig, dass Frank-Walter Steinmeier diesem Schritt jetzt gefolgt ist und dass auch die Bundeskanzlerin Präsident el-Sisi hier in Berlin treffen wird. Ein letzter Gedanke. Selbstverständlich ist das Verhältnis zu Saudi-Arabien nicht einfach, sondern bringt große Schwierigkeiten mit sich. Es tut sich wohl niemand leicht mit dem Verhältnis zwischen Saudi-Arabien und Westeuropa. Trotzdem ist Saudi-Arabien ein wichtiger Partner für Israel. Wir sollten diese Beziehung deshalb nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, sondern immer mit Bedacht abwägen, welche Folgen es mit sich brächte, wenn wir gegenüber dem Iran zu gutgläubig aufträten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Philipp Mißfelder. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Redner aller Fraktionen haben die große Bedeutung der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel hervorgehoben. Herr Kollege Nouripour, Sie haben Bezug genommen auf den Antrag der Koalitionsfraktionen, den Sie unterstützen wollen, wofür wir jetzt schon „Herzlichen Dank“ sagen, und -haben bedauert, dass es kein gemeinsamer Antrag mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geworden ist. Herr Kollege Nouripour, es war nicht beabsichtigt, die -Grünen dort auszuschließen, und wir sollten uns für die nächste Beratung vornehmen, so etwas gemeinsam zu formulieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist doch nicht das gesamte Haus! Es gibt hier vier Fraktionen! Uns auch!) Ich habe festgestellt, dass es eine große Übereinstimmung zwischen dem, was seitens Ihrer Fraktion hier gesagt worden ist, und den Erklärungen von Volker Kauder, Gerda Hasselfeldt und der sozialdemokratischen Fraktion gegeben hat. Insofern: Wenn wir in diesem Punkt gemeinsam an einem Strang ziehen, dann ist das, glaube ich, insgesamt gut für das Hohe Haus und auch für die deutsch-israelischen Beziehungen, und darum geht es uns ja vor allen Dingen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) Frau Kollegin Sitte, ich komme jetzt zu Ihrem Zwischenruf und auch zu der in der Tat bemerkenswerten Rede Ihres Fraktionsvorsitzenden, die gute Ansätze enthalten und auch eine große Annäherung an Positionen der Koalitionsfraktionen gebracht hat. Sie haben aber – aus meiner Sicht: untertreibend – bedauert, Herr -Kollege Dr. Gysi, dass es zwischen der DDR und Israel keine diplomatischen Beziehungen gegeben hat. Es war schon noch weniger: Die DDR hatte geradezu ein Nicht-Verhältnis zu Israel. Während sie ihre politische Legitimation immer darin zu finden meinte, ein antifaschistischer Staat und auch irgendwie das bessere Deutschland zu sein, war gerade die Ansicht der SED und der DDR zu Israel und zum Völkermord, der durch deutsche Hand an den Juden in Europa verübt worden ist, eine ganz große Lebenslüge des Kommunismus. Ich glaube, das muss man heutzutage feststellen. (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Wo hat es denn überall Kommunismus gegeben?) Die SED-Führung hat im Grunde jede moralische Schuld und jegliches Bemühen um Wiedergutmachung für den Völkermord an den Juden abgelehnt. Gerda Hasselfeldt hat vorhin betont, wie wichtig es als Voraussetzung natürlich war, dass Israel ein anderes, ein neues Deutschland, vertreten durch Konrad Adenauer, Willy Brandt und viele andere – auf Ollenhauer ist ja auch zu Recht hingewiesen worden –, gegenüberstand, welches in großer Dankbarkeit die Offenheit von David Ben--Gurion und vielen anderen erfahren konnte. Hier muss man sagen und feststellen: Auch an dieser Stelle hat die SED-Führung vor der Geschichte Deutschlands vollständig versagt. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: 25 Jahre nach der Einheit!) Ich finde, wenn wir hier 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel miteinander feiern und uns darüber freuen, dann gehört es schon zur Ehrlichkeit, dies auch zu sagen. (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Globke haben Sie zum Staatssekretär gemacht! – Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]) – Na gut. Herr Kollege Dr. Gysi, Sie versuchen hier jetzt in dieser Art und Weise, mit kleiner Münze aufzurechnen. Ich will schon festhalten, dass das völlige Missverhältnis der DDR zu dem, was in der Zeit zwischen 1939 und 1945 geschehen ist, in der Debatte aus meiner Sicht zu wenig gewürdigt wurde. Herr Nouripour hat sich hier hingestellt, auf seine iranische Herkunft hingewiesen und gesagt – ich versuche, Sie sinngemäß zu zitieren; ich habe es mitgeschrieben –: Wer sich zu Deutschland bekennt, der bekennt sich auch zur deutschen Verantwortung. – Dazu kann ich nur sagen: Das imponiert mir, und so muss es sein. Das kann man nur als das Ideal hinstellen. Das ist in der DDR eben völlig gescheitert. Deswegen bleibe ich dabei: Das, was Sie dazu gesagt haben, war bestenfalls eine Untertreibung. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) – Das trifft Sie an einem empfindlichen Punkt. Wir können den Antizionismus in der kommunistischen Bewegung an anderer Stelle gerne noch einmal vertieft aufarbeiten. Das ist ein wichtiger Punkt, und ich wäre schon froh, wenn Herr Dr. Gysi in der Zukunft innerhalb seiner Fraktion die notwendige Kraft hätte, alle Veranstaltungen zu untersagen, die auch nur den Anschein eines antiisraelischen Zungenschlages haben. So war das kürzlich bei dem sogenannten Fachgespräch, bei dem sich die -unwürdige Verfolgung des Herrn Vorsitzenden der Linksfraktion in die Toilettenräume des Deutschen -Bundestages ereignete. Ich wünsche mir im Deutschen Bundestag keine einzige antiisraelische Veranstaltung, auch bei den Linken nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kollege Nouripour hat richtigerweise gesagt, dass wir das Ganze nicht ritualisieren dürfen. Eine wichtige -Aufgabe in der Zukunft ist, dass wir – neben den -Beschlüssen und all dem Guten, das es gegeben hat – darauf achten, dass die Veranstaltungen und die Austauschprogramme und das, was es an kulturellem und gesellschaftspolitischem Austausch gibt, nicht irgendwie rituell ablaufen, sondern in die Tiefe gehen und die Menschen erreichen. Das ist sicherlich leichter gesagt als getan. Ich sage israelischen Politikern immer wieder – auch in aktuellen Debatten –, wenn sie sich beklagen und – vollkommen zu Recht – auf die geopolitische Situation hinweisen, in der sie sich befinden, dass es in verschiedenen Parlamenten in Europa Beschlüsse gibt, die eine einseitige Anerkennung Palästinas vorsehen – das wird im Deutschen Bundestag auf Initiative der Linksfraktion wieder diskutiert; das ist ja politisch legitim –: Es ist auch eine Aufgabe israelischer Politik, in Europa präsent zu sein und dafür zu sorgen, dass Deutschland – aufgrund seiner besonderen Situation – nicht sozusagen zum letzten Verteidiger israelischer Positionen in -Europa wird. Wir müssen mehr Verständnis für die -Situation erreichen, in der sich Israel befindet. Das ist auch – das kann man unter Freunden, glaube ich, durchaus formulieren – eine Bringschuld der israelischen Politik. Israelische Politiker müssen spätestens jetzt das -gesamte Wahlkampfgetöse hinter sich lassen und aktiver in Europa auftreten, um ihre Position und Situation zu erläutern. Das Zweite ist – das wurde in dieser Debatte schon erwähnt; auch das ist leichter gesagt als getan –: Die Besuche vor Ort sind – da folge ich Ihnen, Herr Gysi – durch nichts zu ersetzen, sowohl in Israel als auch in der Westbank und im Gazastreifen. Da sollte man gewesen sein, um das einmal selber zu erleben. Aber man muss die besondere geopolitische Situation Israels im Unterschied zur deutschen sehen. Es ist unser Glück, dass wir nach dem Fall des Eisernen Vorhangs von Freunden umzingelt sind, wie man so schön sagt. Israels geopolitische Situation ist, dass es, wenn auch nicht überall, ein kleines Staatsgebiet in einer sehr feindlichen Umgebung zu verteidigen hat. Die Situation auf dem Sinai und in Ägypten wurde von Philipp Mißfelder schon angesprochen; sie ist außerordentlich schwierig. Dort gibt es Al-Qaida--Verbände. Bedrohungen gehen aber auch vom libanesischen und vom syrischen Staatsgebiet aus. Daher gilt in der Tat das, was praktisch alle Redner dazu gesagt haben: Das israelische, das jüdische Volk hat nur diesen Staat bzw. das Staatsgebiet, auf dem es in Frieden und Freiheit leben kann. Es ist unsere besondere Verantwortung, dafür zu sorgen, dass das auch in Zukunft möglich ist. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Griese [SPD]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Johann Wadephul. – Letzte Rednerin in der Debatte ist Gitta Connemann für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Gitta Connemann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen, das ist eine einzigartige Geschichte – von Leid, Trauer, Schuld, Versöhnung, Partnerschaft und Freundschaft. Dazu gehört natürlich der Blick auf die Wurzeln unserer Beziehungen. Die Schoah ist zu Recht in jedem Beitrag angesprochen -worden: Die Vernichtung, die Verfolgung und die Entwurzelung sind Teil der Geschichte vieler Familien in Israel, ebenso wie übrigens die Sehnsucht nach Heimat. Ja, es grenzt an ein Wunder, dass inzwischen mehr als 100 000 Juden diese Heimat wieder in Deutschland -gefunden haben. Ja, es grenzt an ein Wunder, wie die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sich entwickelt haben: eng, stark, vertraut. Aus meiner Sicht ist ein aktuelles Abkommen ein besonderer Beleg dafür: Seit kurzem nehmen wir als Deutschland konsularische Aufgaben für israelische Staatsangehörige in den Ländern wahr, in denen Israel keine Vertretung hat. Das zeigt, welches Vertrauen mit Blick auf das Wohlergehen seiner Bürger Israel uns entgegenbringt. Das grenzt auch an ein Wunder. Aber Wunder müssen behütet werden, wie -übrigens auch Beziehungen gepflegt werden müssen. Sie gestatten mir sicherlich an dieser Stelle, auch auf Gefahren hinzuweisen. Erstens: die Gefahr der Oberflächlichkeit. Bei einer Veranstaltung in dieser Woche wurde ein Witz erzählt, der diese Gefahr sehr anschaulich beschreibt. Ich erzähle ihn hier: In einem Café in Tel Aviv treffen sich zwei Deutsche. Der eine schreibt gerade einen langen Text in seinen Laptop. Der andere fragt ihn: „Du bist hier, wie schön. Wann bist Du gekommen?“ – „Gestern.“ – „Wann fährst Du wieder?“ – „Morgen.“ – „Und was machst Du hier?“ – „Ich schreibe ein Buch.“ – „Wie ist der Titel?“ – „Israel – gestern, heute und morgen.“ Leider begegnet man in Deutschland diesem Typus des Nahostverstehers häufig. Viele haben ein Bild, -geprägt durch die Medien. Israel wird reduziert auf -Begriffe wie Wüste, Krieg, Unterdrückung. Einem werden diese Bilder übrigens nicht gerecht: der Realität. Wer sich die Mühe macht, genau hinzusehen, entdeckt ein unglaublich faszinierendes Land: eine lebendige -Demokratie, in der Juden wie Araber wählen dürfen, eine Vielzahl von Parteien, eine unabhängige Justiz, freie Medien, eine innovative Wirtschaft, ein unglaublich lebendiges Land. Aber es ist eben auch ein kleines Land, das seit seiner Gründung mit dem Rücken an der Wand steht. Ich wünsche uns deshalb zu diesem besonderen Geburtstag: Offenheit, die Bereitschaft, sich ein eigenes Bild zu machen. Zweitens: die Gefahr der Entfremdung. Neueste Umfragen zeigen einen ganz klaren Trend. Viele Menschen in unserem Land interessieren sich außerhalb des Konflikts mit den Palästinensern nicht mehr für Israel. Sie sind der steten Erinnerung an die Schoah überdrüssig, ebenso der Gedenkveranstaltungen, die zum Teil zu Ritualen geworden sind. Sie entfernen sich von Israel, aber übrigens auch von uns, der politischen Elite mit ihrem deutlichen Bekenntnis zu und für Israel. Wie lassen sich Interesse und Zuneigung wieder entfachen? Dazu gehört erst einmal, den anderen zu verstehen. Das heutige Deutschland und Israel sind zwar zu nahezu gleicher Zeit entstanden, aber zu vollkommen unterschiedlichen Bedingungen. Wir sagen: Nie wieder Krieg. – Die Israelis sagen: Nie wieder Opfer. – Beide haben dafür Argumente; denn beide haben aus ihrer Geschichte gelernt. Aber es sind eben auch zwei Züge, die in unterschiedliche Richtungen fahren. Das zeigen auch die Umfragen: Je jünger die Befragten, desto skeptischer stehen sie dem jeweils anderen Partner gegenüber. Der Brückenschlag kann nur über die Menschen gelingen. Ich wünsche mir deshalb, als zweiten Wunsch zu diesem besonderen Geburtstag, dass sich vor allem junge Israelis und junge Deutsche begegnen: über Schüleraustausche, Städtepartnerschaften, Studienaufenthalte. Am Ende ist das Wichtigste: die Begegnung. Drittens: der Antisemitismus. 20  Prozent der Menschen in unserem Land sind der Ansicht: Die Juden sind doch selber schuld. – Die Folgen erleben wir wöchentlich. Menschen werden bei uns angepöbelt, bedroht oder sogar angegriffen, wenn sie sich als Juden zu erkennen geben oder für den Staat Israel Partei ergreifen. „Jude, Jude, feiges Schwein, komm’ heraus und kämpf allein!“ – Dieser Satz war im vergangenen Jahr auf deutschen Straßen zu hören. Von Nazis – ja –, aber auch von Islamisten, von rechts wie von links. Ich schäme mich dafür. Ich frage mich: Wie sollen unsere jüdischen Mitbürger in einem solchen Umfeld leben? Deshalb wünsche ich mir zu diesem besonderen Geburtstag ein klares Bekenntnis: Jüdisches Leben gehört zu uns. Jüdisches Leben ist Teil unserer Identität und unserer Kultur. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein solches Bekenntnis ist die Debatte heute, hier an diesem Ort, das Bekenntnis aller Abgeordneten, über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Das gibt mir Hoffnung. Die größte Hoffnung geben mir aber die jungen Menschen, wie unsere internationalen Parlamentsstipendiaten. Auch ich darf einen von ihnen begleiten. Er heißt Tomer. Ich habe Tomer gefragt, was er sich als junger Israeli zu diesem besonderen Geburtstag wünscht. Er sagte: Ich wünsche mir Offenheit, Ehrlichkeit, Vertrauen. – Ich persönlich glaube, das sind die besten Wünsche, um das Wunder, von dem wir sprachen, zu bewahren. Masel tov! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Gitta Connemann. – Damit schließe ich eine sehr würdige Debatte. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/4803 mit dem Titel „50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel: Eingedenk der Vergangenheit die gemeinsame Zukunft gestalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Antrag bei Zustimmung von allen Fraktionen des Hauses einstimmig angenommen. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4818 mit dem Titel „50 Jahre deutsch-israelische diplomatische Beziehungen – Einmaligkeit und Herausforderung“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Linken abgelehnt. Ich bitte Sie, die Plätze zu wechseln, falls Sie die nächste Debatte nicht verfolgen wollen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 und 19 a auf: 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Flüchtlinge willkommen heißen – Für einen grundlegenden Wandel in der Asylpolitik Drucksache 18/3839 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe 19 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Luise Amtsberg, Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine faire finanzielle Verantwortungsteilung bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen Drucksache 18/4694 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Debatte und gebe das Wort als erster Rednerin Ulla Jelpke für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Zeitpunkt für diese Debatte könnte nicht günstiger sein; denn morgen findet bekanntlich im Kanzleramt der Flüchtlingsgipfel statt. Die Linke diskutiert seit langem mit Flüchtlingsinitiativen, Menschenrechtsorganisationen und Wohlfahrtsverbänden, aber auch mit den Fraktionen in Ländern und Kommunen über einen Wandel in der Flüchtlingspolitik. Heute stellen wir dieses umfassende Konzept vor. Wir brauchen einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Asylpolitik: weg von der gescheiterten Politik der Abschreckung hin zur Integration von Flüchtlingen von Anfang an. (Beifall bei der LINKEN) Wir gehen von der Realität aus: Die Mehrheit der Asylsuchenden – das zeigen auch die Zahlen – erhält gegenwärtig einen Schutzstatus in Deutschland. Beispielsweise Flüchtlinge aus Ländern, in denen Krieg herrscht, also aus Syrien, Irak, aber auch Afghanistan, werden langfristig und dauerhaft hier leben. Deswegen muss das Leitbild bei ihrer Aufnahme eine schnelle Integration sein. (Beifall bei der LINKEN) Die Zeit ihres Asylverfahrens sollte nicht ungenutzt bleiben. Selbst der Bundesinnenminister fordert inzwischen, noch nicht anerkannte Flüchtlinge zu Integrationskursen zuzulassen – allerdings nur, wenn sie gute Chancen auf Asyl haben. Das ist zwar ein richtiger Schritt in die richtige Richtung, doch nach unserer Auffassung sollten alle Asylsuchenden Zugang zu Sprachkursen erhalten. (Beifall bei der LINKEN) Flüchtlinge unterliegen integrationshemmenden Sondergesetzen. Statt der Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes fordern wir ihre Einbeziehung in das allgemeine System der sozialen Sicherung, vor allen Dingen auch der Gesundheitsversorgung. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Residenzpflicht muss endlich vollständig aufgehoben werden. Asylsuchende sind keine Kriminellen. Sie müssen das Recht haben, sich frei im Land zu bewegen. Flüchtlinge müssen uneingeschränkt Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Dafür plädiert übrigens auch die Bundesagentur für Arbeit. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Flüchtlinge sollen die Möglichkeit haben, selbst zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen. Wir wollen die Ideen und die Tatkraft der Neuankömmlinge nutzen und sie nicht gegen ihren Willen zu abhängigen Leistungsempfängern machen. Meine Damen und Herren, wir wollen eine Aufnahmepolitik in maßgeblicher Verantwortung des Bundes. Flüchtlingsschutz ist eine internationale Verpflichtung. Da dürfen wir nicht die Verantwortung auf die Schwächsten, und zwar auf die Kommunen, abwälzen. Die Folgen dieser Politik sind bekannt: Die Kommunen sind überfordert und bringen Asylbewerberinnen und Asylbewerber in menschenunwürdigen Unterkünften unter. Oft sind es Liegenschaften, die in der Pampa, im Wald oder sonst wo liegen. Die Flüchtlinge sind dann von öffentlichen Verkehrsmitteln abgeschnitten. Das geht so nicht. (Beifall bei der LINKEN) Dieser Willkür wollen wir durch eine bundesgesetzliche Regelung zur Schaffung einheitlicher und guter Mindeststandards für die Flüchtlingsaufnahme und -unterbringung einen Riegel vorschieben. Wir sagen auch ganz klar: Flüchtlingsunterbringung darf nicht zulasten anderer öffentlicher Aufgaben gehen. Denn wenn deswegen erst einmal ein Schwimmbad oder ein Jugendklub geschlossen wird, ist die Ablehnung in der Bevölkerung groß. Damit werden wiederum Rechte mobilisiert. Auch hierzu müssen wir klar sagen: Wir wollen dort keinen Pegidas und keinen Neonazis in die Hände spielen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD]) Wir brauchen eine dauerhafte strukturelle Neuregelung zur Entlastung der Kommunen und keine einmaligen Geldüberweisungen durch den Bund. Bislang gibt es nur die Zusage des Bundes für zwei Einmalzahlungen in Höhe von 500 Millionen Euro für die Jahre 2015 und 2016. Und das reicht hinten und vorne nicht, wie wir wissen. Die Linke tritt für ein Flüchtlingsaufnahmegesetz ein, um eine dauerhafte Übernahme der Kosten für Aufnahme und Unterbringung der Asylbewerber während ihres Verfahrens durch den Bund zu regeln. Durch finanzielle Entlastungen könnten Länder und Kommunen ihren eigentlichen Kompetenzen nachkommen, wie beispielsweise Integration, Einbindung in die städtische Infrastruktur, rechtliche und soziale Betreuung sowie Bildung und Arbeit. Das wäre genau das, was sicher leistbar ist. Meine Damen und Herren, wir wollen nicht allein eine Umverteilung der Gelder zugunsten von Ländern und Kommunen – hier hat sich das SPD-Präsidium inzwischen unseren Vorschlägen deutlich angenähert –, es geht uns zugleich um einen inhaltlichen Wandel in der Aufnahmepolitik. Dazu will die Linke das bisherige Zwangssystem der Flüchtlingsunterbringung aufbrechen. Schutzsuchende werden derzeit nach einer bürokratischen Quote über die Länder verteilt und in große Aufnahmelager gesteckt, auch dann, wenn sie Verwandte oder Freunde in Deutschland haben, bei denen sie kostengünstiger und sozial eingebunden unterkommen könnten. Das wollen wir ändern. Flüchtlinge sollten die Möglichkeit haben, dezentral und in normalen Wohnungen zu leben. Die zwangsweise Unterbringung in Massenunterkünften ist nicht nur in vielen Fällen unmenschlich, sie ist aufgrund des Bürokratie- und Kontrollaufwandes sogar mit Mehrkosten verbunden. Das gilt übrigens auch für die Versorgung mit Sachmitteln anstelle von Geldleistungen. Wir sagen daher: Lasst uns in die Integration investieren, nicht in Abschreckungspolitik! (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, die langen Verfahrensdauern beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von durchschnittlich mehr als sieben Monaten sind inakzeptabel. Zur Erinnerung: Im Koalitionsvertrag waren drei Monate angedacht. Doch dafür braucht das BAMF deutlich mehr Stellen. Zugleich müssen sinnlose Aufgaben gestrichen werden, zum Beispiel die nach drei Jahren obligatorisch durchgeführten Asylwiderrufsprüfungen, die in 95 Prozent der Fälle ohnehin zu nichts führen, da das Asyl bestätigt wird. Damit werden Kapazitäten gebunden und bereits anerkannte Flüchtlinge unnötiger psychischer Belastung ausgesetzt. Wir schlagen zudem eine einmalige Altfallregelung durch Erteilung eines Flüchtlingsstatus bei überlanger Verfahrensdauer vor. So könnte man beispielsweise den Bearbeitungsstau bei rund 200 000 Anträgen abbauen. Bei meinen Besuchen in Flüchtlingsunterkünften und auf Veranstaltungen im ganzen Land lerne ich immer wieder Menschen kennen, die sich ehrenamtlich, auch in Willkommensteams, für die Aufnahme und Unterstützung von Flüchtlingen engagieren. Sie bieten Lernhilfen für Flüchtlingskinder an, spielen mit ihnen Fußball oder Theater, sie begleiten Flüchtlinge zu den Behörden oder bieten ihnen Kirchenasyl. Ich erinnere auch an die vielen Aktivisten hier in Berlin und in Hamburg, die seit Monaten, zum Teil zwei Jahre lang, für ein Bleiberecht der Lampedusa-Flüchtlinge kämpfen – bisher leider ohne Erfolg. Sie alle verdienen unsere Unterstützung in ihrem Engagement. (Beifall bei der LINKEN) Sie tragen übrigens nicht nur zu einer besseren Integration bei, sondern helfen auch, Vorurteile in der Bevölkerung abzubauen. Doch leider setzt diese Regierungskoalition in der Flüchtlingspolitik weiter auf Abschreckung statt auf Integration. Das zeigt zum Beispiel die Neuregelung des Aufenthaltsbeendigungsgesetzes, über dessen Entwurf wir demnächst hier abstimmen werden. Verbesserungen bietet er zweifellos für Geduldete, die gute Sprachkenntnisse haben und einen eigenständigen Lebensunterhalt vorweisen können. Allen anderen Flüchtlingen droht er damit, dass sie inhaftiert werden können. Die abschreckende Botschaft, die hinter diesem Gesetzentwurf steht, ist nicht hinzunehmen. Deswegen lehnen wir ihn ab. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Die Linke lehnt eine Unterteilung in gute und schlechte Flüchtlinge ab. Jeder Mensch, der flieht, hat einen Grund; er flieht nicht einfach mal eben so und verlässt sein Land und seine Familie. Deswegen sagen wir: Menschenwürde ist für uns nicht verhandelbar. Die Türen müssen weiter offen bleiben für Menschen in Not. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Ulla Jelpke. – Nächste Rednerin in der Debatte: Andrea Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Andrea Lindholz (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst sind wir uns, liebe Ulla Jelpke, offensichtlich in einem Punkt einig: dass nämlich die vielen ehrenamtlichen Helfer, die unser Asylsystem mittragen, deutlich machen, wie groß das Verantwortungsbewusstsein für Flüchtlinge in ganz Deutschland ist. Bei ihnen sollten wir uns heute wieder einmal ganz besonders bedanken. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eine Allensbach-Studie im Auftrag der Robert Bosch Stiftung von 2014 zeigt, dass die deutliche Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland für die Aufnahme von Menschen ist, die persönlich verfolgt werden. Gleichzeitig spricht sich aber eine klare Mehrheit für strenge Asylregeln aus. In der Studie wird diese Forderung folgendermaßen erläutert – ich darf sie zitieren –: Die Bevölkerung möchte offenbar unterschieden wissen zwischen Asylbewerbern, die aufgrund persönlicher Verfolgung oder akuter existenzieller Bedrohung bei uns – legitimerweise – um Asyl nachsuchen, und solchen, die „nur“ aus wirtschaftlichen Gründen kommen oder gar das vermeintlich laxe deutsche Asylrecht ausnutzen. Ich halte diese Forderung grundsätzlich für berechtigt. Es ist daher sehr wohl gerechtfertigt, zwischen unterschiedlichen Asylbewerbern zu unterscheiden. (Beifall bei der CDU/CSU) Die vorliegenden Anträge unterstellen wieder einmal, dass Deutschland seiner Verantwortung gegenüber Flüchtlingen nicht gerecht werde. Es wird wieder einmal davon gesprochen, wir würden Flüchtlinge nicht willkommen heißen. Dieser Vorwurf ist komplett absurd. Wenn die Bedingungen für Flüchtlinge in Deutschland so schlecht wären, wenn wir keine Willkommenskultur hätten, dann würde wohl nicht jeder dritte Asylantrag in Europa in Deutschland gestellt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) In beiden Anträgen wird davon gesprochen, dass die Bewältigung der Flüchtlingskrise eine gesamtstaatliche Aufgabe sei. Dem kann man uneingeschränkt zustimmen. Gleichzeitig wird aber gefordert, der Bund alleine solle sämtliche Kosten für die Verfahren, für die Unterbringung und für die Versorgung der Asylbewerber übernehmen. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist ein Widerspruch in sich. Die Verantwortung einseitig auf den Bund abzuwälzen, ist gerade keine Verteilung der gesamtstaatlichen Aufgabe, sondern das ist ein Wegschieben von Verantwortung auf den Bund. Unser föderaler Staat besteht aus Bund, Ländern und Kommunen. Sie tragen gemeinsam Verantwortung, und das ist auch gut so. Die Bundesregierung engagiert sich längst massiv in der Flüchtlingshilfe. Allein für Syrien haben wir 1,5 Milliarden Euro bereitgestellt und leisten damit einen wichtigen Beitrag, um die Flüchtlingskrise vor Ort einzudämmen; denn 3,8 Millionen Syrer befinden sich außerhalb ihres Landes auf der Flucht und 7,5 Millionen in Syrien. Da frage ich mich, wo diese Menschen in Ihren Anträgen berücksichtigt werden. Der Bund unterstützt aber auch die Länder und Kommunen bei ihren Aufgaben. In Bundesimmobilien wurden bis heute weit über 22 000 Unterbringungsplätze geschaffen. Der Bund stellt den Kommunen seine Immobilien mietzinsfrei zur Verfügung und entlastet sie damit um etwa 25 Millionen Euro pro Jahr. Über das novellierte Asylbewerberleistungsgesetz übernimmt der Bund jährlich Kosten von 43 Millionen Euro. Weitere 10 Millionen Euro nimmt der Bund den Kommunen dauerhaft bei den Impfkosten ab. Für dieses und nächstes Jahr wird 1 Milliarde Euro als zusätzliche Unterstützung bei der Flüchtlingsversorgung bereitgestellt. Wir haben auch das Baurecht geändert und Flüchtlingsunterkünfte in Gewerbegebieten ermöglicht, um die Unterbringung vor Ort zu erleichtern. Auch die Bundesländer könnten ihre Kommunen entlasten. Der Freistaat Bayern zum Beispiel übernimmt vollständig die Kosten für die Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern. Die meisten Bundesländer speisen ihre Kommunen aber mit viel zu niedrigen Pauschalen ab und rufen stattdessen nach neuem Geld vom Bund. Beim Flüchtlingsgipfel Ende April in Erfurt war eine der Hauptforderungen an die rot-rot-grüne Landesregierung, die 13,5 Millionen Euro, die der Bund für die Flüchtlinge in Thüringen bereitgestellt hat, doch bitte vollständig an die Kommunen weiterzureichen. Das zeigt mir, dass mehr Geld vom Bund alleine keine Lösung ist. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist in Sachsen noch schlimmer!) – Na, dann ist es noch schlimmer, wenn es in Sachsen noch schlimmer ist. – Niemand bestreitet, dass die Bewältigung der Flüchtlingskrise eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Sie kann aber nicht mit immer neuen Forderungen nach mehr Geld oder dem Verschieben von Verantwortung auf den Bund gelöst werden. Das zeigt uns auch die aktuelle Asylstatistik – diese Zahlen müsste man einmal zur Kenntnis nehmen –: Im ersten Quartal dieses Jahres wurden über 85 000 Asylanträge in Deutschland gestellt. Mehr als die Hälfte der Antragsteller stammt aus den Balkanstaaten, obwohl ihre Anträge seit Jahren zu fast 100 Prozent abgelehnt werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in diesem Jahr bei 8 324 geprüften Asylanträgen von Serben in keinem einzigen Fall einen Schutzgrund festgestellt. Bei 11 250 Entscheidungen über Asylanträge von Kosovaren wurde in nur einem einzigen Fall ein subsidiärer Schutzgrund festgestellt. Hier müssen wir gegensteuern; denn diese vielen offensichtlich unbegründeten Asylanträge binden wichtige Ressourcen. Nur wenn wir auch in den Herkunftsländern Fluchtursachen bekämpfen und wenn wir Fehlanreize in Deutschland beseitigen, dann werden wir unsere Kommunen dauerhaft und nachhaltig entlasten. Ein wesentlicher Fehlanreiz ist die Vermischung von Asyl- und Arbeitsmigration. Das belegen auch die Anhörungen der Menschen vom Westbalkan, die ganz offen sagen, sie wollen zum Arbeiten zu uns kommen. Das ist auch gut so. Aber wir haben andere Instrumentarien, um dafür nach Deutschland in zulässiger Weise einreisen zu können. Asyl dient ausschließlich dem Schutz verfolgter Menschen und nicht der Fachkräfteanwerbung. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ach!) Die Union will anerkannten Flüchtlingen zügig helfen und sie integrieren. Natürlich haben wir im letzten Jahr auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert. Aber, liebe Ulla Jelpke, wir sind natürlich dagegen, dass jeder Flüchtling ab dem ersten Tag bei uns arbeiten kann; das ist so. Angesichts der steigenden Gesamtschutzquote, die aktuell bei 37 Prozent liegt, und der immer noch zu langen Verfahrensdauer müssen wir die Asylbewerber, bei denen Schutzgründe offensichtlich sind, schneller integrieren und ihnen schneller Integrations- und Sprachkurse zur Verfügung stellen. Insofern begrüße auch ich, dass der Bundesinnenminister jetzt angekündigt hat, dass dies erfolgen soll. Aber – auch das gehört dazu – bei aussichtslosen Asylanträgen müssen wir für eine schnelle und zügige Rückführung und dem vorgeschaltet auch für schnelle Verfahren Sorge tragen. Um die Asylverfahren zu beschleunigen, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im letzten Jahr 650 zusätzliche Stellen bekommen. Die Besetzung dieser Stellen braucht seine Zeit. Angesichts der steigenden Antragszahlen – (Zuruf des Abg. Rüdiger Veit [SPD]) – ich weiß es – und auch angesichts des Rückstandes müssen wir sicherlich über eine weitere Stellenausweisung nachdenken. Das wird auch erfolgen. Ich hoffe, dass der morgige Flüchtlingsgipfel hier Ergebnisse bringt. (Beifall des Abg. Rüdiger Veit [SPD]) Ich will an dieser Stelle aber sagen: Wenn wir mehr Bescheide haben, müssen wir auch dafür sorgen, dass diese Bescheide entsprechend vollzogen werden, egal in welche Richtung sie gehen. Wir haben im letzten Jahr drei Westbalkanstaaten zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt, und die entsprechenden Anträge können jetzt schneller bearbeitet werden. Bayern hat im Bundesrat ein Gesetz vorgelegt, um drei weitere Balkanstaaten ebenfalls als sicher einzustufen. Leider verweigern sich hier die rot- und grüngeführten Länder, dieser Erleichterung zuzustimmen, obwohl auch der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge dies erst kürzlich ausdrücklich empfohlen hat. Mit diesen Maßnahmen und auch mit den Schnellverfahren bei den Kosovo-Anträgen konnten wir trotz steigender Antragszahlen die durchschnittliche Verfahrensdauer von sieben auf fünfeinhalb Monate reduzieren. Unser Ziel bleibt eine Verfahrensdauer von drei Monaten. Aber Personal und Geld alleine lösen die Krise nicht. Die globale Flüchtlingskrise – ich will daran erinnern: über 50 Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht – kann man nicht mit kleinteiligen Maßnahmen auf nationaler Ebene lösen. Deutschland schottet sich auch nicht ab. 420 Millionen Europäer können bei uns problemlos einreisen. Der Flüchtlingsschutz genießt bei uns Verfassungsrang. Die Menschen in Deutschland übernehmen Verantwortung für die Flüchtlinge, und auch die Bundesregierung tut dies. Wir versuchen nicht mit Polemik, sondern mit rechtsstaatlichen Mitteln, den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden und die Flüchtlingsproblematik zu lösen, obgleich uns das nie vollständig gelingen kann. Die Flüchtlingsproblematik wird uns auch in diesem Jahr noch intensiv beschäftigen. Wir sollten gemeinsam auf allen Ebenen dafür Sorge tragen, dass wir nicht nur die Symptome bekämpfen, dass wir nicht nur mehr Geld fordern, dass wir uns nicht auf Sprachkurse beschränken, sondern dass wir auch das Globale im Auge behalten, dass wir auch Europa noch mehr mit in die Verantwortung nehmen und die vielfältigen Ursachen anpacken. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger auf der Zuschauertribüne! Lassen Sie mich eingangs kurz sagen: Ich bin immer wieder erschrocken darüber, wie Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete, die ja alle auch aus irgendwelchen Wahlkreisen vor Ort kommen, technokratisch und kalt ein solches Thema, mit dem wir alle so verbunden sind, besetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Na, na!) Ich möchte das jetzt nicht noch aufwerten. Deshalb gehe ich nicht auf einzelne Fragen ein. Aber ich spreche Sie, die Bürgerinnen und Bürger, die heute zuhören oder hier im Saal sind, auch ganz gezielt an. Es gibt so viel Zustimmung. Es gibt so viel Unterstützung. Es gibt so viel Verständnis dafür, dass wir in einer so unglaublich privilegierten Situation in unserem Land leben, weil wir in Frieden leben und weil wir nicht wie Millionen von Kindern, Frauen und Männern vor Krieg, vor Gewalt, vor Terror, vor Diskriminierung fliehen und die Heimat verlassen müssen. Das tun Menschen nicht einfach nur so, aus Lust und Laune, sondern sie fliehen aus Not und Verzweiflung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Verdammt noch einmal, Frau Lindholz, verbinden Sie doch so etwas einmal mit einem solchen Thema! Was glauben Sie denn, was Bürgerinnen und Bürger in den Kirchengemeinden tun? Haben Sie sich den Beschluss der evangelischen Kirche in Deutschland einmal angesehen? Wissen Sie, worüber Menschen vor Ort diskutieren? Es gibt eine breite Zustimmung in der Bevölkerung, dass wir Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen, hier aufnehmen und unterstützen. (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das ist doch gar nicht strittig!) Das ist der Punkt, um den es heute geht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das ist der Punkt, um den es auch uns in dieser Debatte geht. Hören Sie auf, die Menschen, die fliehen, in Fliehende erster und zweiter Klasse einzuteilen! Das steht Ihnen nicht zu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie sind nicht die Asylprüfungsverfahrensinstanz. Menschen fliehen, und es gibt hier rechtsstaatliche Prinzipien, nach denen geprüft wird, ob jemand asylberechtigt ist oder nicht. Diese Prüfung steht nicht Ihnen zu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Haßelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Huber? Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, natürlich. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bitte schön, Herr Kollege. Charles M. Huber (CDU/CSU): Liebe Kollegin, es ist leider Gottes wieder so, dass wir in dieser Diskussion gewisse Fakten unterschlagen. Das hat meine Kollegin vorher schon anklingen lassen. Es gibt wohl einen Unterschied zwischen Flüchtlingen aus Krisengebieten. Ich möchte jetzt nicht von Wirtschaftsflüchtlingen reden; denn Wirtschaftsflucht klingt so, als ob man seine ohnehin akzeptable Lebenssituation verbessern möchte. Ich rede von Armutsflucht. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich dessen bewusst sind, welche Zeichen Sie hier in Ihrer emotionalen Rede in Richtung jener Verantwortlichen setzen, aus deren Ländern die Armutsflüchtlinge kommen. Ich möchte auch auf das Bezug nehmen, was Ihre Vorrednerin Frau Jelpke gesagt hat. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Es wäre sehr nett, wenn Sie mich ausreden ließen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Huber, Sie fragen jetzt die Kollegin Haßelmann. Charles M. Huber (CDU/CSU): Gut. – Meine Frage ist, ob Sie sich bewusst sind, welche Signale Sie senden; denn Sie werden diesen Flüchtlingsstrom vergrößern. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein Strom, das sind Menschen! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Lassen Sie mich ausreden! – Wir reden hier nicht nur von Menschen, die es geschafft haben, hierherzukommen, sondern wir reden darüber, dass Sie hier die Armutssituation von Menschen politisch ausschlachten, unsere Gesellschaft emotionalisieren (Widerspruch bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und ihr Fakten vorenthalten, was mit Menschen auf dem Weg zur Ablegestelle über das Meer geschieht. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unfassbar!) Haben Sie sich Gedanken gemacht, wie viele Leute in der Wüste enden? Haben Sie sich Gedanken gemacht, wie viele Leute sterben, bevor sie das Ufer erreichen? Sind Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst, wenn Sie hier sagen, wir könnten uneingeschränkt Leute in unserer Gesellschaft aufnehmen? Wissen Sie, was Sie damit verursachen? Vielen Dank. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist ja widerlich! Das ist die gleiche Argumentation, als wenn man sagt: Wenn wir Schiffe zur Rettung einsetzen, dann kommen noch mehr Flüchtlingsboote rüber! – Weitere Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Können wir uns darauf verständigen, dass jetzt Frau Haßelmann das Wort hat? Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine Damen und Herren, noch habe überwiegend ich das Wort. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Huber, seien Sie sich gewiss, dass ich mir meiner Verantwortung, der Verantwortung des Parlamentes und der Verantwortung für dieses Thema sehr bewusst bin. Deshalb kann ich Ihren unfassbaren Beitrag im Hinblick auf die Einschätzung, was Menschen auf der Flucht angeht, nur zurückweisen und Ihnen sagen: Ich teile Ihre Auffassung nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, morgen findet im Kanzleramt ein Treffen statt, zu dem die Kanzlerin eingeladen hat. Es sind acht von sechzehn Ländern eingeladen. Es gibt keine Begründung, keine Erklärung der Bundesregierung, warum nur acht Länder eingeladen sind. Wir haben mehrere Versuche unternommen, herauszufinden, warum acht von sechzehn Ländern eingeladen worden sind. Liegt es an der Farbenlehre, liegt es daran, welcher Ministerpräsident oder welche Ministerpräsidentin interessant ist? Es gibt keinen Sachgrund dafür. Acht sind eingeladen, sechzehn Länder haben wir. Die Kommunen sind gar nicht mit am Tisch, (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Die Kommunen gehören zu den Ländern!) obwohl sie die Hauptakteure sind, meine Damen und Herren. Vor Ort in den Städten und Gemeinden werden Menschen, die auf der Flucht sind, aufgenommen, vor Ort wissen die Leute ganz genau, welche Unterstützung gebraucht wird. Es gibt bis heute keine Erklärung dafür, warum die Kommunen zu diesem Treffen im Kanzleramt nicht eingeladen wurden. (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Weil die Kommunen zu den Ländern gehören!) Die Kommunen gehören aber mit an den Tisch; das ist so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Leute vor Ort könnten nämlich genau das einfordern, was auch wir einfordern, was die evangelische Kirche einfordert: Wo ist die Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge, die Sie den Ländern längst zugesagt haben? Vor einem halben Jahr ist das zugesagt worden; doch es gibt sie bis heute nicht. Wo ist die Initiative in Ihrem Haushalt oder in Ihrem Nachtragshaushalt zur Erhöhung der Sprachfördermittel, damit endlich alle Menschen -Zugang zu Sprachförderung haben? Wo ist die Initiative zur Ausbildung junger Flüchtlinge, minderjähriger Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen? Wo sind die Unterstützungsleistungen für Integration, für Trauma-beratung der vielen Fliehenden, die traumatisiert sind? All das kommt im Haushalt der Bundesregierung, auch im Nachtragshaushalt, nicht vor. Da ducken Sie sich hier auf Bundesebene, im Parlament einfach weg und machen jetzt eine Besprechung mit acht Ländern, aber auf keinen Fall mit den Hauptakteuren vor Ort; denn die würden von Ihnen einfordern, dass Sie endlich handeln und konkrete Unterstützung bieten bei dieser Aufgabe, die schließlich eine nationale Aufgabe ist. Das dürfen Sie nicht auf dem Rücken der Kommunen austragen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Die Kommunen werden durch die Länder vertreten!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Lars Castellucci, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Lars Castellucci (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will jetzt einfach versuchen, wieder sachlich in diese Debatte einzusteigen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Haßelmann war sehr sachlich!) Ich glaube auch, die Tonalität macht noch nicht eine gute Politik aus; das kann sich an unterschiedliche Stellen in diesem Saal richten. Wir führen diese Debatte heute nicht nur vor dem morgigen Tag, an dem ein Flüchtlingsgipfel stattfindet, sondern wir führen diese Debatte auch zu einem -Zeitpunkt, wo wir die Prognose bekommen haben, dass sich die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland in diesem Jahr absehbar verdoppeln wird. Das zeigt den Ernst der Lage. Das zeigt, dass es nicht nur um deutsche Asylpolitik geht. Das zeigt auch, dass es nicht nur um Asylpolitik geht. Die Herausforderung ist komplex, und einfache Antworten gibt es nicht. Das Allerwichtigste ist, dass mehr Menschen in ihren Heimatländern bleiben können; dazu müssen wir unseren Beitrag leisten. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir alle wissen, dass das leichter gesagt ist als getan. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Nicht nur reden, sondern auch leisten!) Viele Entwicklungen, die wir in den letzten Monaten und Jahren hier auch begleiten, laufen in die völlig -andere Richtung. In den Medien und auch in den Sitzungswochen löst eine Krisenregion die andere als Thema ab. Aber das ist eben unsere Zeit. Wir müssen uns den Herausforderungen stellen, die sie uns bietet, und dürfen nicht nachlassen in unserem Bemühen. Die zweite Ebene – das muss heute auch noch einmal kurz Thema sein – ist Europa. Wir können ja nicht, -jedenfalls nicht sinnvoll, isoliert über Asylpolitik sprechen, denn unsere Grenzen sind in Wahrheit die Außengrenzen der Europäischen Union; Europa ist der Zufluchtsort. Vor zwei Wochen haben wir uns hier anlässlich der Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer zu einer Schweigeminute von den Plätzen erhoben. In unser Schweigen dringen die Hilfeschreie der Ertrinkenden. Mit Blick auf den Ratsbeschluss, der einen Tag -später getroffen wurde, kann man nur sagen: Sie hätten besser geschwiegen; (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) denn die Ergebnisse sind unter allen Erwartungen geblieben, die man haben konnte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Dass sich Europa nicht einmal auf eine konkrete Zahl von Flüchtlingen verständigen konnte, denen man ein Resettlement anbietet, ist aus meiner Sicht schändlich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich wiederhole: Wir brauchen neben Grenzschutz und Bekämpfung von Schleusern eine akut wirksame Seenotrettung. Es ist gut, dass jetzt zwei weitere deutsche Schiffe im Mittelmeer sind und dort auch Unterstützung leisten; aber es ist doch absurd, dass sie die Menschen einsammeln und man nicht einmal weiß, wohin mit -ihnen. Wir brauchen einen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge in Europa. Wir müssen in Kontingenten, die uns fordern, aber nicht überfordern – es geht immer um das rechte Maß –, legale Zugangswege nach Europa eröffnen. Wenn es also irgendwo ein Umdenken geben muss, meine Damen und Herren, dann in allererster -Linie in der europäischen Flüchtlingspolitik. Wir sehen: Die Menschen kommen ohnehin. Wir können das nur gestalten; wir können es nicht verhindern. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Barbara Woltmann [CDU/CSU]) Damit zu Deutschland. Auch ich bin überzeugt, dass wir zu großen humanitären Anstrengungen in der Lage sind – das zeigen wir auch – und dass wir die Hilfsbereitschaft der Menschen sichern können. Das ist aber an Voraussetzungen gebunden. Die erste Voraussetzung ist: Es muss klar sein, dass unsere Hilfe auf Menschen trifft, die vor politischer -Verfolgung, Krieg und Terror fliehen. Jetzt können wir beklagen, dass in unseren Asylverfahren auch Menschen landen, auf die das gar nicht zutrifft; aber wir müssen uns gleichzeitig fragen: Welche Alternativen haben diese Menschen? Ich will an dieser Stelle für die SPD--Fraktion klar sagen: Die Einstufung dreier Staaten als sichere Herkunftsstaaten haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. – Für mehr sind wir nicht zu haben. (Beifall bei der SPD sowie der Abgeordneten Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das Beispiel Kosovo zeigt uns eindeutig, dass wir auch ohne das Konzept von sicheren Herkunftsstaaten Erfolge haben können. Von dort sind in der Spitze über 1 000 Menschen am Tag zu uns gekommen. Jetzt liegt das nur noch im zweistelligen Bereich, und das ohne die Ausweisung als sicherer Herkunftsstaat. Man macht ein Grundrecht nicht besser, indem man es einschränkt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die zweite Voraussetzung ist, dass die Menschen in Deutschland das Gefühl haben müssen, dass wir uns mit aller Kraft auch um ihre Alltags- und ihre Zukunfts-sorgen kümmern. Es muss sichergestellt sein, dass das, was wir für Flüchtlinge tun, nicht gegen Kinderbetreuung, nicht gegen Schwimmbäder, nicht gegen Kultur und nicht gegen soziale Infrastruktur vor Ort geht. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Wir müssen – das ist der dritte Punkt, ein sehr wichtiger Punkt – die Herausforderung organisatorisch gut -bewältigen, und zwar in einer Verantwortungsteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Vonseiten der SPD liegen vor dem morgigen Flüchtlingsgipfel hierzu Vorschläge vor. Wir wollen die Kommunen von den Kosten der Flüchtlingsunterbringung und Integration entlasten. Ich sage: Es macht keinen Sinn, dass wir die Menschen ins flache Land verteilen, wenn ihr Aufenthaltsstatus noch völlig ungeklärt ist; da müssen wir -gegensteuern. Die Menschen engagieren sich für Integration – alle Redner haben das völlig zu Recht mit Lob versehen –, aber man weiß gar nicht: Trifft das auf Menschen, die auf Dauer bei uns bleiben können? Da werden auch Ressourcen vergeudet. Wenn wir als Bund stärker in die Verantwortung gehen, dann ist es auch unsere Aufgabe, für Standards zu sorgen, also zu sagen, was wir dafür haben wollen. Wie sehen die Unterkünfte aus? Wie sieht es mit der Sozialbetreuung aus? Welche Anstrengungen werden in -Richtung Arbeitsmarkt unternommen? Schließlich: Wir treten für die Übernahme der Gesundheitskosten nach einem bundeseinheitlichen Verfahren ein. Das haben wir vorgelegt. Damit sind wir insgesamt wieder bei der Frage des Geldes. Es ist richtig: Es geht darum, Lasten zu teilen, es geht darum, Verantwortung zu teilen, und es geht um Ressourcenteilung. Man kann das Ganze als einen -Kuchen sehen. Wenn mehr Menschen ein Stück haben wollen, dann bleibt für jeden weniger übrig. Aber es gibt auch die andere Perspektive, und diese andere Perspektive ist ebenfalls richtig, nämlich: Wer teilt, wird reicher. Genau das ist es, was die vielen tausend Helferinnen und Helfer vor Ort spüren, wenn sie sich um Flüchtlinge oder ganz einfach um andere kümmern. Es gilt der alte Satz von Goethe: Wer nichts für andere tut, tut nichts für sich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Diese Sicht, dass das Teilen uns auch reicher machen kann, gibt uns die Kraft, die vor uns liegenden Herausforderungen nicht nur anzupacken, sondern auch zu meistern. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Barbara Woltmann. (Beifall bei der CDU/CSU) Barbara Woltmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Jeder, der politisch verfolgt ist und in Deutschland nach Schutz sucht, soll und muss ihn auch bekommen. Arti-kel 16 a unseres Grundgesetzes zum Asylrecht ist schon einzigartig in dieser Welt, in unserer Welt. Daran möchte hier bei uns auch niemand rütteln. Wir wissen, wie viele Menschen weltweit auf der Flucht sind. Viele machen sich nach Europa auf, auch nach Deutschland. Deutschland verschließt sich diesen Entwicklungen auch gar nicht. Bei allem Verständnis für die Emotionalität, Frau Haßelmann oder Frau Jelpke – ich habe Verständnis dafür; es geht schließlich um Menschen –: Wir müssen immer zu einer Ausgewogenheit kommen. Was können wir hier in Deutschland leisten? Wir können eine Menge leisten. Wir sind ein wohlhabendes Land. Aber wir müssen hier maßvoll sein, damit die Menschen in unserem Land, unsere Kommunen – ich komme noch dazu – das letzten Endes bewältigen können. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Da haben wir ja gerade Vorschläge gemacht!) – Ja, Sie haben Vorschläge gemacht. Einiges davon ist schon umgesetzt, anderes ist vielleicht nicht so praktikabel. – Die Zahlen hat Kollegin Lindholz schon genannt: Wir rechnen in diesem Jahr mit 400 000 Asylbewerbern. Das wird eine große Herausforderung werden. Wenn ich Ihre Anträge lese, dann habe ich manchmal das Gefühl, als hätten wir hier in Deutschland noch gar nichts für diese Menschen getan. Das ist falsch. Wir -haben schon eine ganze Menge getan. Ich möchte an -dieser Stelle den Kommunen einen großen Dank aussprechen. Die Hilfs- und Aufnahmebereitschaft der Kommunen gegenüber Flüchtlingen ist groß; es ist von den Vorrednern schon angesprochen worden. Überall gibt es jetzt schon bürgerschaftliches Engagement in vielfältigster Weise. Die Kommunen, die Kirchen unterstützen das. Mein Landkreis stellt Geld für Integrationskurse, Sprachkurse zur Verfügung. Integrationslotsen werden ausgebildet. All das sind sehr positive Beispiele, die es zu Hunderten gibt. (Beifall des Abg. Bernhard Kaster [CDU/CSU]) Dazu entnehme ich Ihren Anträgen nicht so viel. Wir können – auch das muss ich an dieser Stelle -sagen – nicht immer nur mit der Forderung nach mehr Geld vom Bund kommen. Damit machen wir es uns wirklich zu einfach. (Beifall bei der CDU/CSU) In einem Punkt bin ich ganz bei Ihnen – Vorredner haben es auch schon gesagt –: Wenn der Bund wirklich mehr Geld in die Hand nimmt – ich weiß nicht, was morgen beim Gipfel herauskommen wird –, (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Gipfel ist das nicht! Das ist maximal ein Treffen!) dann müssen wir aber auch über die Strukturen insgesamt sprechen, dann müssen wir überlegen: Was können wir ändern? Was muss besser gemacht werden? Auch ich möchte zunächst einmal auf ein Grundpro-blem bei der Aufnahme und der Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern zu sprechen kommen – auch das findet in Ihrem Antrag keine Erwähnung –, nämlich die Frage der Schutzbedürftigkeit. Die Zahlen, auch die Zahl der Anträge, die es in diesem Jahr schon gab, will ich gar nicht mehr erwähnen; aber immerhin kommen 50 Prozent der Antragsteller aus dem West-balkan. Die Anerkennungsquote liegt bei ihnen bei weit unter 1 Prozent. Ich bin der festen Überzeugung: Wir müssen weitere sichere Herkunftsländer festlegen – das, was wir da haben, reicht noch nicht – oder andere Strukturen schaffen, die so gut und sicher sind, dass dies nicht nötig ist, um zu gewährleisten, dass Menschen, die nicht politisch verfolgt sind – ich beziehe mich auf Artikel 16 a des Grundgesetzes –, nicht mit der Begründung, hier Asyl zu beantragen, zu uns kommen können. Hier geht es um ganz andere Fluchtgründe. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen natürlich insbesondere an die Kommunen denken, weil sie das letzte Glied in der Kette sind und die Last zu tragen haben: die Last der Unterbringung und den dadurch entstehenden Kostendruck. Eines muss ich an dieser Stelle aber auch einmal sagen: Wir haben einen Dreiklang der Verantwortung. Das ist unserem föderalen System geschuldet, und es ist auch richtig so. Trotz aller gesamtstaatlichen Verpflichtungen, die angesprochen worden sind, würde ich nicht von diesem Dreiklang -abweichen wollen. Da muss man auch die Länder ganz stark in die Pflicht nehmen. Wir müssen leider feststellen, dass viele Länder ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Sie sind für die Unterbringung in einer Erstaufnahmeeinrichtung zuständig. Da von „Lagerhaltung“ zu sprechen, Frau Jelpke, finde ich ganz schlimm. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: „Lagerhaltung“ habe ich nicht gesagt! Lagerunterbringung!) – Oder „Lagerunterbringung“. Das finde ich von der Begrifflichkeit her schon sehr bedenklich; (Rüdiger Veit [SPD]: Noch bedenklicher ist, dass das so ist!) denn da reden wir von Menschen. Die Länder müssen dafür sorgen, dass die Flüchtlinge, die dort untergebracht werden, wenigstens diejenigen, deren Anträge offensichtlich unbegründet sind, gar nicht erst auf die Kommunen verteilt werden. Das -Gleiche gilt aus meiner Sicht auch für die Menschen, die unter die Dublin-Verordnung fallen. Es ist auch richtig, dass die Menschen erst einmal in eine Erstaufnahme-einrichtung kommen, weil es dort Außenstellen des BAMF gibt, in denen die Anträge gestellt werden -können. Da kann sofort die Bearbeitung stattfinden. -Offensichtlich unbegründete Anträge könnten gleich bei der Erstaufnahme bearbeitet werden; das ist meine Idealvorstellung. Die Antragsteller würden erst dann auf die Kommunen verteilt werden, wenn wir wissen, dass sie wahrscheinlich anerkannt und dauerhaft bei uns bleiben werden. Das würde schon etliche Probleme lösen. Für die Abschiebung sind die Länder zuständig. Wir dürfen es nicht so weit kommen lassen, dass die bisher wirklich positive Grundstimmung in der Bevölkerung kippt. Die Menschen haben ein ganz feines Gespür für Gerechtigkeit, und Sie sprechen doch immer von Gerechtigkeit. Wir haben Gesetze, und diese sollten wir einhalten und nicht brechen. Die Menschen, die kein Bleiberecht haben, weil kein Asylgrund vorliegt und deren Antrag daher abgelehnt wurde, müssen konsequent in ihre Herkunftsländer zurückkehren, und dafür sind die Länder verantwortlich. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden über Verhindern und Abschieben, aber nicht darüber, wer kommen soll und warum!) Ich kann nicht immer nur vom Bund fordern: Gib mir mehr Geld! Ich will die vielen Milliarden, die der Bund bereits zur Unterstützung der Länder und Kommunen in die Hand genommen hat, gar nicht erwähnen. Die Opposition sagt: 1 Milliarde, das ist nichts. 1 Milliarde – 500 Millionen Euro in diesem Jahr und 500 Millionen Euro im nächsten Jahr – ist nichts? Das ist doch eine ganze Menge! Die vielen anderen Maßnahmen, die wir bereits ergriffen haben, will ich auch nicht erwähnen. Frau Kollegin Lindholz hat die neu geschaffenen Stellen schon angesprochen. Ein Wort zum Antrag der Linken. Er enthält viele Punkte, die bereits umgesetzt sind: die Lockerung der Residenzpflicht nach 3 Monaten, (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Wir wollen sie ganz abschaffen!) die Erleichterung bei der Arbeitsaufnahme: nach 3 Monaten mit Vorrangprüfung, nach 15 Monaten ohne Vorrangprüfung. Das sind doch alles positive Regelungen. Ich weiß gar nicht, warum Sie das alles immer so schlechtreden oder überhaupt nicht anerkennen, dass wir diese guten positiven Regelungen haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Für eine gesamtstaatliche Lösung, für die wir alle offen sind, brauchen wir letzten Endes den bereits angesprochenen Dreiklang der Verantwortung. Hier sind der Bund, die Länder und die Kommunen in der Pflicht. Der morgige Flüchtlingsgipfel mit Vertretern von Bund und Ländern wurde schon angesprochen. Frau Haßelmann, Sie haben in diesem Zusammenhang bemängelt, dass die Kommunen nicht dabei sind. Ja, das stimmt, aber für eine Beschwerde sind wir, der Bund, nicht der richtige Ansprechpartner. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Skandal! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie laden doch ein!) – Nein, da müssen Sie die Länder ansprechen. Die Länder können die Kommunen mitnehmen. Die Länder sind für die Kommunen zuständig. Sie wollen doch nicht in Abrede stellen, dass die Länder für die Kommunen verantwortlich sind? Das ist ein wichtiger Punkt; wir können nachher gerne noch einmal darüber sprechen. Unsere Fraktion führt ständig Gespräche mit Vertretern der kommunalen Spitzenverbände. (Rüdiger Veit [SPD]: Verfassungsrechtlich richtig, aber manchmal nicht der Realität angemessen!) Ich bin froh – damit komme ich zum Schluss –, dass in der nächsten Woche auf europäischer Ebene über dieses Thema gesprochen wird. Ich bin der Meinung, dass wir auf europäischer Ebene ein Quotensystem brauchen. In Europa muss die Last auf mehrere Schultern verteilt werden. Wir in Deutschland können die Probleme allein nicht lösen. Vielmehr ist das eine europäische Herausforderung, der wir uns alle stellen müssen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Das Wort zu einer Kurzintervention hat jetzt die Kollegin Haßelmann. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Da Frau Woltmann mich angesprochen hat, möchte ich die Gelegenheit nutzen, darauf zu erwidern. Ich verstehe wirklich nicht, dass sich die Große Koalition, also sowohl die Union als auch die SPD, bei der Frage, warum sie die Kommunen nicht einlädt, auf billige Art und Weise herausredet, indem sie argumentiert, das sei eine verfassungspolitische Frage; denn die Kommunen seien eine abgeleitete Ebene der Länder. Alle kommunalen Spitzenverbände fordern, eingeladen zu werden. Niemand bestreitet, dass sie die Hauptakteure sind. In der Vergangenheit wurden die Kommunen zu sehr vielen solcher Gipfel, Termine oder Treffen eingeladen. Da hat es Sie überhaupt nicht interessiert, welche staatlichen föderalen Ebenen wir im Sinne des Verfassungsrechtes haben. Das sind doch wirklich an den Haaren herbeigezogene Argumente, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) um sich mit den inhaltlichen und sehr präzisen Forderungen der Kommunen nicht auseinanderzusetzen. Im Übrigen möchte ich Sie darauf hinweisen, dass der Bundestag in der letzten Legislaturperiode im Rahmen der Gemeindefinanzreform beschlossen hat, umfangreiche Anhörungs- und Beteiligungsrechte für die Kommunen überall da, wo Themen die Kommunen berühren, zu verankern. Möchte jemand von Ihnen hier im Saal bestreiten, dass die Kommunen mit den Themen Flüchtlinge, Begleitung, Betreuung und Erstaufnahme etwas zu tun haben? Sie können diese Ablehnung und dieses Fernhalten der Kommunen von diesem Treffen doch gar nicht begründen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Woltmann. Barbara Woltmann (CDU/CSU): Vielen Dank. Das gibt mir noch einmal die Gelegenheit, darauf einzugehen. – Erst einmal möchte ich festhalten, dass diese Bundesregierung, glaube ich, eine der kommunalfreundlichsten Regierungen ist, auch in Bezug auf Leistungen in direkter Form an die Kommunen, was eigentlich gar nicht Aufgabe des Bundes ist. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann lässt man die erst recht nicht vor der Tür stehen!) – Moment, Moment, nicht so aufregen. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich rege mich aber auf!) – Sie können sich ruhig aufregen, aber das hilft auch nicht. Die Länder – es tut mir leid, jetzt müssen wir doch einmal auf die verfassungsrechtlichen Dinge zu sprechen kommen – sind für die Kommunen zuständig. Eigentlich könnte sich der Bund auch darauf zurückziehen und sagen: Wir regeln das in den Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Die Länder müssen dann die entsprechenden Gelder weitergeben. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch kein Gremium, sondern ein Gespräch!) – Ich komme gleich dazu, Frau Göring-Eckardt. – Wir haben deswegen auch gesagt: Wenn die Länder die Kommunen mitbringen möchten, können sie das natürlich gerne machen. Sie scheinen das aber nicht gewollt zu haben. Insofern sind morgen aller Voraussicht nach die Kommunen nicht mit am Tisch. Dennoch sind wir ständig mit den kommunalen Spitzenverbänden im Gespräch. Das möchte ich hier festhalten. Es ist ja nicht so, dass keine Gespräche stattfinden. (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind begeistert von Ihnen! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die lachen über Sie!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Wochen haben wir hier im Plenum um die über tausend Toten, die zuvor im Mittelmeer auf der Suche nach Schutz und Zuflucht hier bei uns ertrunken waren, getrauert. Aber das Sterben, der Flüchtlingsexodus geht weiter. Seither sind weitere 50 Menschen ertrunken, Frauen, Kinder, Männer. In den letzten Tagen erreichten etwa 7 000 Menschen die italienische Küste. Ich bin am Wochenende dort gewesen. Ich bin nach Sizilien gefahren und konnte erleben, wie Bürgermeister, wie Präfekten, wie Priester, wie Nonnen, wie Ärzte, wie Polizisten, wie die italienische Caritas, wie das Rote Kreuz, wie NGOs wirklich alles tun, um den Flüchtlingen zu helfen und ihnen ihre Menschenwürde wiederzugeben. Ich war in Mazara del Vallo und habe mit den Fischern getrauert, die Menschenleben retten und in ihren Netzen Leichen bergen. Ich habe Solidarität, Humanität und vor allem Empathie für die Menschen in Not erlebt, für Menschen wie du und ich, die in einer der ärmsten Regionen Italiens und Europas angekommen sind und dort menschlich behandelt werden. Immer wieder habe ich die Frage gehört: Wo ist eigentlich Europa? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Das Mittelmeer ist doch kein italienisches Meer. Es ist unser Meer. Warum ist Europa von dieser Tragödie so unendlich weit weg? Was sind denn die Werte eigentlich wert, auf die man sich in Sonntagsreden so gerne beruft, wenn die Zahl der Toten bei etwa 27 000 liegt und jeden Tag etwa 500 Menschen neu ankommen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, da habe ich mich für dieses Europa geschämt, das sich so gerne mit dem Friedensnobelpreis schmückt, den doch die Sizilianer viel eher verdient hätten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich werde sie nicht vergessen können: die Gesichter der traumatisierten Überlebenden, die vor wenigen Tagen angekommen sind, die nigerianische Christin, starr vor Schreck und zitternd vor Angst. Ich werde auch den jungen Mann aus Eritrea nie vergessen können, der seine Schwester im Meer verloren hat und jetzt keine Tränen zum Weinen mehr hat. Sie alle sind der Hölle entkommen, auch der entgrenzten Gewalt in Libyen, und hoffen auf das, was für uns so selbstverständlich ist: Sie hoffen auf Leben, sie hoffen auf Zukunft, sie hoffen auf ein klitzekleines bisschen Glück – nach all dem Elend. Und wo ist Europa? Am Tag nach der Debatte hier bei uns im Parlament hat der EU-Sondergipfel der Regierungschefs getagt. Was hat er beschlossen? Die Verstärkung der Grenzschutzmaßnahmen, die Bekämpfung der Schleuserkriminalität, die Zerstörung von Schleuserschiffen, die Eindämmung von sogenannten Migrantenströmen, die freiwillige Erklärung von EU-Mitgliedstaaten, Italien und Malta ein paar Flüchtlinge abzunehmen. Bekämpfung, Zerstörung, Abschottung, Zurückweisung, Eindämmung – das ist der eiskalte Sprech, der sich der Schutzverantwortung verweigert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) So, liebe Kolleginnen und Kollegen, stirbt jeden Tag auch unsere Idee von Europa, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt. Das Europäische Parlament, Ban Ki-moon, António Guterres, Papst Franziskus, die EKD, der Bundespräsident, Pro Asyl, Amnesty und nicht zuletzt eine klare Mehrheit der Menschen in Deutschland wissen, dass es doch zuallererst um das Leben und die Rettung von Menschen gehen muss, dass es aber auch um die Verteidigung unserer Werte geht. Sie alle fordern eine umfassende Seenotrettung im ganzen Mittelmeer. Sie fordern sichere, legale Fluchtwege nach Europa – und nicht einen neuen, 100 Kilometer langen Zaun in Bulgarien. Sie fordern humanitäre Visa. Sie fordern eine deutliche Aufstockung des Resettlement-Programms und eine unbürokratische Familienzusammenführung. Sie fordern europäische Solidarität bei der Aufnahme von mehr Flüchtlingen. Sie fordern eine Entlastung der Nachbar-regionen Syriens. Sie fordern eine nachhaltige Entwicklungspolitik. Das bedeutet nicht, dass man Waffen an die Saudis schickt, die heute und in diesem Moment im Jemen Zivilisten bombardieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nie, so scheint es, waren sich Regierende und große Teile der Zivilgesellschaft fremder. Liebe Kolleginnen und Kollegen, morgen ist der 8. Mai 2015. Vor 70 Jahren haben 12 Millionen Menschen, die ihre Heimat verloren haben, in den Besatzungszonen Unterkunft, Schutz und eine neue Heimat gefunden. Auch daran sollten wir morgen, am 8. Mai, erinnern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Matthias Schmidt, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe kürzlich auf der Straße Herrn Kollegen Frank Tempel von den Linken getroffen. Wir sind dann gemeinsam zum Büro gegangen und haben dabei festgestellt: Im Innenausschuss brummt es ganz schön. Es gibt viele politisch wichtige Themen, die momentan bei uns im Innenausschuss landen, und jeden Tag kommen neue hinzu. Dabei ist die Flüchtlingspolitik ein Thema, das unsere volle Konzentration und auch unseren gemeinsamen Einsatz erfordert. Was unseren gemeinsamen Einsatz betrifft, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, spreche ich Sie ausdrücklich mit an. Ich finde, wir können durchaus versuchen, hier gemeinsam zu agieren. Aus meiner Sicht stehen wir vor folgenden Herausforderungen: Erstens. Das Problem der Unterbringung vor Ort, in den Kommunen, muss gelöst werden. Hier brauchen wir Akzeptanz und Verständnis in der Bevölkerung. Darauf, wie wir Akzeptanz und Verständnis erzielen, will ich später zurückkommen. Zweite Herausforderung. Das Massensterben im Mittelmeer muss sofort beendet werden. Was das Massensterben im Mittelmeer angeht, vergessen wir, die gesamte Fluchtroute, auf der ebenfalls sehr viele Menschen sterben, zu berücksichtigen. Wir sehen im Fernsehen immer nur Bilder vom Mittelmeer und betrachten das andere nicht mehr. Herr Kollege Huber – er ist nicht mehr da –, ich teile Ihre These, die Sie in Frageform gekleidet haben, ausdrücklich nicht: dass wir Menschen zur Flucht animieren, wenn wir sie retten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich finde, wir sollten aus unserer christlichen Tradition heraus durchaus zu anderen Schlüssen kommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Eine dritte wichtige Herausforderung ist die weltweite Bekämpfung der Fluchtursachen. Das lässt sich nur mittel- oder langfristig bewältigen. Wir sind uns hier im Parlament sehr schnell einig: Wir werden aus verschiedenen Gründen im Mittelmeer keine Mauer bauen können. Wir brauchen legale Möglichkeiten, nach Europa zu gelangen. Und – Kollege Castellucci hat schon darauf hingewiesen – wir müssen dafür sorgen, dass mehr Menschen in ihren Heimatländern bleiben können. Ihre beiden Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, betreffen meinen ersten Punkt. Ich möchte mich hauptsächlich mit dem Antrag der Linken auseinandersetzen. Es ist sicherlich Ihr gutes Recht, vielleicht sogar Ihre Pflicht, die Regierung mit breit angelegten Anträgen vor sich herzutreiben, und dabei darf es durchaus auch einmal eine provokante Sprache geben. Meines Erachtens schießen Sie an dieser Stelle aber weit über das Ziel hinaus. Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, so finde ich, dass darin abwegig von einer bisherigen Politik der Abschreckung gegenüber Flüchtlingen die Rede ist, von Zwangsunterbringung, Lagerzwang, Zwangsverteilung – im Angesicht der deutschen Geschichte sollte man da auch noch einmal über die Wortwahl nachdenken –, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das müssen Sie sich mal angucken!) von jahrelangen Versäumnissen, einer unzureichenden und halbherzigen Regierungspolitik und von Planungsmängeln. Regierung und Koalition müssen so etwas aushalten. Aber Sie übersehen dabei, dass Sie mit Ihrem Antrag auch den Menschen in unserem Land, die sich engagieren, die in Flüchtlingsinitiativen vor Ort oder an runden Tischen aktiv sind, eine Ohrfeige versetzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Was unterstellen Sie diesen Menschen, die so gut helfen, wenn Sie fordern, dass eine antirassistische Präventionsarbeit selbstverständlicher Teil des bürgerschaftlichen Engagements sein müsse? Das sind doch die Leute, die mit uns zusammen – mit den Demokraten – auch auf die Straße gehen, gegen die NPD zum Beispiel in meinem Wahlkreis, gegen die AfD, gegen Pegida, und die auch mit Menschen reden, die einfach nur verängstigt sind. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das ist beabsichtigt, das wissen Sie ganz genau! So ein Pappkamerad!) Im Kanonenfeuer Ihres Antrags geht dann unter, dass Sie auch auf richtige Aspekte hinweisen. Stichworte hierfür sind die menschenwürdige Aufnahme, die schnelle Integration – Frau Jelpke, Sie haben das eben noch einmal ausführlich erwähnt – und die Hilfen beim Spracherwerb. Hinzu kommt, dass Ihr Antrag schlecht recherchiert ist. Sie sprechen von 173 000 Asylsuchenden im Jahre 2014. Es waren bekanntlich über 200 000. Die Anzahl der Altfälle – von Ihnen mit 169 000 beziffert – beträgt tatsächlich rund 200 000. Allerdings gibt es „nur“ rund 50 000 Altfälle, die seit mehr als einem Jahr auf Bearbeitung warten. Das BAMF, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, ist mit intelligenten Lösungen dabei, genau diese Fälle zurückzufahren. Ihre Schlussfolgerung, die ein bisschen als Allheilmittel daherkommt, das BAMF mit neuen Stellen zu versorgen, birgt Tücken. Deswegen sollten wir darüber parlamentarisch noch einmal sehr gut nachdenken; denn von den 650 neuen Stellen, die wir im Parlament bewilligt haben, sind momentan 575 besetzt bzw. werden demnächst besetzt. Wenn wir jetzt weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen wollten, müssten diese irgendwoher kommen und würden eine längere Einarbeitungsphase benötigen. Ein entscheidender Punkt, den noch niemand erwähnt hat: Wenn das BAMF entsprechend schnell ist, müssen die Ausländerbehörden in den Ländern und Kommunen das auch umsetzen. Hier würde sich sofort ein neuer Flaschenhals ergeben. Ich finde, dass wir im Sinne einer effizienten und sinnvollen Flüchtlingspolitik ruhig gemeinsam versuchen sollten, die Koalition zu unterstützen. Seit 2014 ist der Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge und Asylbewerber deutlich erleichtert, und die Residenzpflicht ist gelockert. Der Bund muss verstärkt finanzielle Verantwortung übernehmen und Kommunen bei den durch die Aufnahme von Flüchtlingen entstehenden Kosten entlasten. Die Politik allgemein ist auf allen drei Ebenen – Bund, Länder und Gemeinden – in der Pflicht, zu informieren; denn nur so gewinnen wir Akzeptanz. Aber die Zivilgesellschaft, die wir auch alle unterstützen sollten, muss Begegnungsmöglichkeiten schaffen; denn nur dadurch wächst das Verständnis. In meinem Wahlkreis gibt es inzwischen sechs Unterkünfte für Flüchtlinge, und alle werden positiv und engagiert von einer Vielzahl von Menschen begleitet und unterstützt. Das Engagement dieser vielen Menschen verdient Anerkennung, Respekt und unseren Dank. Das hilft nicht nur den ankommenden Flüchtlingen vor Ort, sondern bringt auch eines wohltuend zum Vorschein: Die Unbelehrbaren sind in der Minderheit. (Beifall der Abg. Daniela Kolbe [SPD]) Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Lassen Sie uns die runden Tische vor Ort stärken und unsere politischen Aufgaben ruhig und sachlich angehen. Ich glaube, unsere Vorstellungen sind gar nicht so weit voneinander entfernt. Ich freue mich auf die Diskussionen mit Ihnen allen. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin nun auch schon seit einigen Jahren im Entwicklungsbereich tätig und somit durchgehend mit dem Thema „Flüchtlinge und Migration“ verbunden. Ich habe viele Flüchtlingslager auf der Welt gesehen und erkannt, dass es immer mehr zu einer Ghettoisierung kommt und dass die Lager immer mehr auf Jahre hinaus angelegt werden. Wie viele andere Kolleginnen und Kollegen auch, habe ich die Hoffnungslosigkeit und das Elend in den Gesichtern dieser Menschen gesehen. Ein sehr einschneidender Moment war für mich, als im Herbst letzten Jahres in meinem Wahlkreis, in Nürnberg, auf einem Sportplatz das erste Flüchtlingszelt für über 200 Flüchtlinge errichtet worden ist. Ich habe mir das nie vorstellen können. Im Rahmen meiner Aufgaben als Entwicklungspolitikerin konnte ich mir das weit entfernt in der Welt vorstellen, aber auf einmal gab es in meinem Wahlkreis Hunderte Flüchtlinge. Bei meinem ersten Besuch in einem der Flüchtlingslager – es war der erste von vielen, die ich im Laufe der Wochen danach gemacht habe –, habe ich gemerkt, dass die Vorgänge am Anfang total unkoordiniert abliefen. Die Behörden waren völlig überfordert. Die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge hatten keine Betreuung – weder medizinisch noch psychosozial noch physisch. Es gab viele Ehrenamtliche, die sich dieser Aufgaben dann angenommen haben, und inzwischen sind Gott sei Dank auch die Behörden so weit. Ich glaube, wir sind hier in einem guten Fluss und haben alles gut in die Wege geleitet. Aber ich habe auch etwas anderes bemerkt: die unwahrscheinliche Hilfsbereitschaft der Bevölkerung vor Ort, der ehrenamtlich Tätigen. Ich glaube, wir wissen, dass die Zahl der Flüchtlinge nicht geringer wird. 630 000 Flüchtlinge gab es im letzten Jahr in Europa. In Deutschland haben sich insgesamt 238 000 aufgehalten. Man schätzt, dass es in diesem Jahr über 400 000 werden. Wir werden das Verständnis der Bevölkerung nur aufrechterhalten können, wenn wir vermitteln, dass unser System gerecht ist. Diejenigen, die Schutz brauchen, erhalten natürlich Schutz. Für politische Flüchtlinge gibt es keine Obergrenze. Das ist durch unser Grundgesetz geregelt. Es muss aber auch klar sein, dass unser Asylverfahren nicht für diejenigen gedacht ist, die keinen Schutz brauchen und eigentlich nur hierherkommen, um ihre Lebensperspektive zu verändern. Dafür gibt es andere Wege. Der Asylmissbrauch muss hier wirklich massiv bekämpft werden. Wir haben das Elend vor der syrischen Küste gesehen, die Tausenden Toten, darunter auch Kinder und Frauen. Diese Bilder prägen sich ins Gedächtnis ein, und es gibt große Diskussionen über folgende Fragen: Wie können wir verhindern, dass zukünftig weitere Menschen auf quälende Art und Weise vor unserer Haustüre sterben? Wie können wir die Schleuser besser bekämpfen? Wie können wir es schaffen, dass die Menschen ihre Herkunftsländer nicht verlassen? Wir sehen: Das Thema Flüchtlinge hat etwas Grenzüberschreitendes. Es betrifft nicht nur Deutschland – den Bund und die Kommunen –, sondern die Europäische Union, die Mitgliedstaaten, die Herkunftsländer und die Transitländer. Es gibt hier nicht nur die eine Lösung. Das müssen wir wissen, und das müssen wir auch eingestehen. Dafür ist das Thema viel zu komplex, zu vielschichtig und zu ideologisiert. Das heißt, wir müssen uns zu einer Gesamtbetrachtung dieses Themas zwingen. Wir wissen: Der Großteil der Flüchtlinge kommt aus Krisen- bzw. Kriegsgebieten, zum Beispiel aus dem Irak oder aus Syrien, wo es ums Überleben geht. Es kommen Hebräer, Somalier, Nigerianer, die durch Boko Haram oder die Taliban bedroht werden. Das sind nur einige Beispiele, die ich in die Diskussion hier einbringen möchte. Wir wissen aber auch, dass der Schlüssel zur Eindämmung der Flüchtlingsströme in den Herkunftsländern liegt. Es ist aber so einfach gesagt, dass Fluchtursachen bekämpft werden müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit tun wir hier unser Möglichstes. Wir versuchen, dort rechtsstaatliche Strukturen aufzubauen und die Lebensperspektiven zu verbessern. Aber alles, was wir machen können, ist im Grunde genommen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es ist sicherlich richtig, dass wir helfen, ein duales Ausbildungssystem aufzubauen. Aber wir müssen zukünftig viel mehr Krisenprävention betreiben. Wir wissen, dass in Konfliktgebieten eine dauerhafte Stabilisierung nicht von außen erreicht werden kann. Wir sind hier nicht die hauptsächlichen Akteure, die gefragt sind. Vielmehr müssen die betreffenden Länder eine eigene Dynamik entfalten. Sie müssen selbst rechtsstaatliche Institutionen aufbauen, um eine Rechtsordnung zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang frage ich mich: Was ist mit der Afrikanischen Union, dem Pendant zur Europäischen Union? Warum schweigt sie zu diesen Themen? Warum zeigt sie nur mit dem Finger auf Europa und stellt die Frage, warum wir Flüchtlinge ertrinken lassen? Was macht die Afrikanische Union selbst? Wie wirkt sie auf die Herrschenden und Regierenden in den Herkunftsländern der Flüchtlinge ein? Was tut sie, damit die Eliten in den afrikanischen Ländern in die Pflicht genommen werden? Afrika ist ein ressourcenreiches Land. Aber die Ressourcen sind falsch verteilt. Gegen die Gleichgültigkeit der Eliten in den afrikanischen Ländern gegenüber dem armen Bevölkerungsteil muss etwas getan werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Im Rahmen unserer Außenpolitik dürfen wir den Dialog mit den Eliten und den Regierenden in den betreffenden Ländern nicht abbrechen. Vielmehr müssen wir den Dialog zwischen der Europäischen Union und der Afrikanischen Union noch intensivieren. Es ist wichtig, Asylanlaufstellen in den betreffenden Herkunfts- und Transitländern zu schaffen. Ich spreche nicht von Asylbewerberaufnahmezentren, sondern von Asylanlaufstellen, bei denen sich Menschen, die beabsichtigen, ihr Heimatland zu verlassen, Informationen holen können: Habe ich überhaupt eine Chance auf Asyl, wenn ich mein Leben aufs Spiel setze, wenn ich meine Familie, wenn ich meine Kinder verlasse? Solche Anlaufstellen können natürlich nur in stabilen Rechtsstaaten eingerichtet werden. In Libyen oder in Syrien ist das auf absehbare Zeit nicht möglich. Aber wir sollten zusammen mit dem UNHCR solche Asylanlaufstellen auf den Weg bringen. Zu Recht wurde angesprochen: Ein großes Problem sind die Asylsuchenden vom Balkan. Wenn wir sehen, dass allein in den ersten drei Monaten von insgesamt 88 000 Asylanträgen 44 000 von Menschen aus den Westbalkanländern gestellt wurden – die Anerkennungsquote bei diesen Menschen liegt bei gerade einmal 0,1 Prozent –, dann wissen wir, dass es richtig war, Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. Aber kaum nimmt die Anzahl der Anträge von Menschen aus diesen Ländern ab, steigt die Zahl der Anträge von Menschen aus dem Kosovo und aus Albanien. Innerhalb von acht Wochen wurden allein 28 000 Asylanträge von Menschen aus dem Kosovo gestellt. Viele dieser Menschen sagen ganz offen, dass sie hier bei uns Arbeit suchen. Das heißt, sie sind keine politisch Verfolgten. Wir müssen diesen Menschen sagen, dass es dann falsch ist, hier einen Asylantrag zu stellen. Wir müssen Informationskampagnen in den Balkanländern durchführen, um die Menschen aufzuklären: Du wirst keine Chance haben, in Deutschland Asyl zu bekommen. Du hast vielleicht eine Chance, eine Arbeitsgenehmigung zu bekommen. Aber das solltest du erst erfragen, bevor du dich auf den Weg machst. Es ist bekannt, dass ich die Abschottungspolitik der Europäischen Union als nicht zielführend und erfolgreich ansehe. Wir sollten aufgrund unserer Geschichte wissen: Mauern zu errichten, hat noch nie langfristig tragbare Lösungen gebracht. – Wir brauchen einen anderen Verteilungsschlüssel in Europa. Ich glaube, darüber besteht im ganzen Haus Konsens. Wir müssen auch die gesamte Flüchtlingshilfe überdenken. Mit den jetzigen Gegebenheiten haben wir in der Vergangenheit nicht gerechnet. Wir brauchen neue Strukturen. Leider sieht es momentan nicht so aus, dass wir zu einem neuen Verteilungssystem in Europa kommen; das müssen wir ehrlich zugeben. Zwar wird am 13. Mai der neue Migrationsbericht vorgelegt. Aber solange sich Großbritannien weigert, zuzugestehen, dass es sich hier nicht um eine nationale, sondern um eine europäische Aufgabe handelt, werden wir hier zu keiner Lösung kommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich hoffe, dass in dem Zusammenhang irgendwann ein Konsens und auch die Solidarität aller Mitgliedstaaten gegeben sein werden. Ich wünsche dem Asylgipfel morgen viel Erfolg. Es wird um Geld gehen – das ist ganz klar –, aber Geld ist nicht alles. Wie gesagt, wir müssen in diesem Zusammenhang die Strukturen angehen. Wir müssen auch sehen, wie wir mit den vielen jungen, minderjährigen Flüchtlingen umgehen. Es sind inzwischen 70 000, die sich hier in Deutschland aufhalten. In Bayern sind es allein 4 000 neue unbegleitete Flüchtlinge. Bei ihnen hat die Flucht andere Ursachen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Wöhrl, kommen Sie bitte zum Schluss. Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU): Sie haben andere Fluchtgründe als Erwachsene. Deswegen brauchen wir auch Richtlinien für Kinder im Asylverfahren, damit sie nicht wie Erwachsene behandelt werden. Sie sind traumatisiert, sie sind vergewaltigt worden, sie waren Kindersoldaten und vieles mehr. In diesem Sinne haben wir noch große Aufgaben vor uns. Es sind viele Herausforderungen. Ich hoffe, dass wir sie gemeinsam im ganzen Hause im Sinne der vielen Flüchtlinge und der vielen Hilfsbedürftigen lösen werden. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Rüdiger Veit, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Rüdiger Veit (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe meine eigene Meinung zu der Frage, ob es zweckmäßig und sinnvoll gewesen wäre, zu dem morgigen Gipfel im Kanzleramt Vertreter der Kommunen einzuladen. Ich fasse das einmal in die Worte des Präsidenten des Deutschen Städtetages, Ulrich Maly, der heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und auch zu uns gesagt hat: Ich weiß nicht, was dabei herauskommt. Ich bin nicht dabei. Die Kommunen sitzen nicht mit am Tisch. Das ist der Hit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht kommt trotzdem etwas dabei heraus. Vielleicht unterscheidet sich dieser Gipfel dann von manch anderem, der in der Vergangenheit stattgefunden hat. Schon aus Rücksicht auf die Koalition ist mir eine weitere Würdigung der Vergangenheit nicht erlaubt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade!) Aber meine Hoffnung richtet sich auf die Zukunft. Hier reden wir in der Tat nicht nur von Geld. So ist beispielsweise die Frage der sicheren Drittstaaten angesprochen worden. Ich will versuchen, dies noch ein bisschen deutlicher zu zeichnen. Wir haben – das müssen wir Sozialdemokraten zugestehen – drei Westbalkanstaaten als sichere Herkunftsstaaten eingestuft. Was ist in der Zwischenzeit geschehen, nachdem dies Gesetz geworden ist? (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts!) Die Anzahl der Flüchtlinge von dort hat sich um 27 Prozent reduziert. Das ist nicht wenig. Das ist aber auch nicht so dramatisch viel, wie es diejenigen, die das gefordert haben, gedacht haben mögen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dagegen setze ich die Entwicklung der Anzahl der Flüchtlinge aus dem Kosovo. Die Zahl ist von Lars Castellucci genannt worden: Wir hatten mehr als 1 000, fast 1 500 Flüchtlinge am Tag. Jetzt haben wir vielleicht noch 40 oder 60, ohne dass es sich um einen sicheren Herkunftsstaat gehandelt hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Warum? Weil die Verfahren intensiviert und beschleunigt worden sind, weil vor allen Dingen durch eine intensive Aufklärungsarbeit, auch im Kosovo selbst, den Menschen die Illusion genommen worden ist, alles sei ganz wunderbar und man müsse sich nur nach Deutschland auf den Weg machen. Von daher ist das ein ganz wichtiger Fingerzeig, wie man auch in Zukunft solche Migrationsbewegungen steuern bzw. ein bisschen beeinflussen kann, ohne deswegen etwas am Gesetz zu ändern; (Beifall bei der SPD) ganz abgesehen davon, dass es dafür wahrscheinlich noch weniger eine Mehrheit im Bundesrat zu erwarten gibt, als es bei dem anderen Vorgang der Fall war. Lassen Sie mich zu den Gemeinsamkeiten der Anträge der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen kommen. Dort sind einige Elemente, über die man reden muss. Darüber werden wir auch mit unserem Koalitionspartner sprechen. Dazu gehört etwa das Abschneiden des alten Zopfes der Widerrufsverfahren bei bereits gewährtem Asyl. Das wirft die Frage auf, wozu das Ganze noch gut ist. Dazu gehört im Übrigen auch – es steht auf der Tagesordnung – die Frage eines gesicherten Aufenthaltes für die Zeit einer Berufsausbildung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Vorstoß der drei Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, Malu Dreyer und Volker Bouffier ging noch ein bisschen weiter. Sie haben gesagt, es wäre wünschenswert und notwendig, wenn die dann Ausgebildeten auch in der Lage wären, in Deutschland für die Dauer von zwei Jahren eine ihrer Ausbildung entsprechende Tätigkeit auszuüben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Darüber reden wir zurzeit mit unserem Koalitionspartner. Wir sind dabei, Überzeugungsarbeit zu leisten. In der Koalitionsvereinbarung steht, dass wir gemeinsam mit den Ländern dafür sorgen wollen, dass auch den Asylbewerbern frühestmöglich Sprachangebote unterbreitet werden. Wir hoffen, dass wir in der Koalition diesbezüglich zu Ergebnissen kommen und demnächst – ich denke an eine Perspektive von vier bis acht Wochen – einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten können. Lassen Sie mich zum Schluss auf die Frage nach dem Geld zu sprechen kommen. Diesbezüglich gibt es Differenzen zwischen uns und unserem Koalitionspartner. Ich hoffe, sagen zu können, dass es diese Differenz jetzt zwar noch gibt, sie aber überwunden werden kann. Vielleicht kommt man auf dem Gipfel ja zu anderen Ergebnissen. Ich persönlich und der Großteil der SPD-Fraktion – um das klar zu sagen: nicht nur das Präsidium der SPD – stehen auf dem Standpunkt, dass die Übernahme der Kosten für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen und Asylbewerbern eine staatliche Aufgabe ist. Die konkreten Leistungen – Integration, Aufnahme, Betreuung – sind Sache der Kommunen; wir dürfen sie mit den Belastungen, die sich daraus ergeben, aber nicht im Regen stehen lassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen etwas aus meiner kommunalen Vergangenheit erzählen. Zu Beginn der 90er-Jahre, als die Flüchtlingszahlen besonders hoch waren, war ich Landrat in Gießen. Wir haben, jedenfalls in meiner Amtszeit, immer, soweit als möglich, auf eine dezentrale Unterbringung gesetzt. Das Land Hessen hat uns damals nach Spitzabrechnung die entstandenen Kosten zu 100 Prozent erstattet. Das wurde dem Land Hessen aber zu teuer. Das Land Hessen hat gesagt: Wir geben jetzt nur noch eine Pauschale. Im ersten Jahr nach Einführung der Pauschale, nach Einführung dieser Art der Erstattung und Abrechnung stand meine Kreiskasse um 900 000 D-Mark – damals waren es noch D-Mark – besser da, weil die dezentrale Unterbringung, vorwiegend in Wohnungen, wesentlich billiger war als die teure Unterbringung in großen Gemeinschaftsunterkünften. Das muss man einmal sagen. Der Unterschied zu damals ist folgender – deswegen erwähne ich dieses Beispiel –: Damals hatten wir in der Bevölkerung eine geringe Akzeptanz für die Aufnahme von Flüchtlingen und Zuwanderern generell. Als Kommunen hatten wir aber wenigstens das Geld dafür. Heute haben wir, was erfreulich ist und wofür wir dankbar sind, in unserer gesamten Bevölkerung eine weitgehende Akzeptanz für die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland, aber die Kommunen haben kein Geld mehr dafür. Es gibt einige Bundesländer, die den Kommunen 100 Prozent der Kosten erstatten. Es gibt aber auch andere, die nur 30 Prozent oder knapp unter oder knapp über 50 Prozent der Kosten erstatten. Das muss sich ändern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich sage es noch einmal: Die Übernahme dieser Kosten ist eine staatliche Aufgabe. Der Bund ist gefordert. Ich hoffe, dass wir auf dem Gipfel morgen zu entsprechenden Ergebnissen kommen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Aussprache angelangt. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/3839 und 18/4694 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b sowie Zusatzpunkt 3 auf: 23 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Azize Tank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Doppelstandards beenden – Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt zeichnen und ratifizieren Drucksache 18/4332 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Freiheit für Mumia Abu-Jamal Drucksache 18/4722 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE sowie den Abgeordneten Tom Koenigs, Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMRG) Drucksache 18/4798 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 g auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 24 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Gastel, Sven-Christian Kindler, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zur Erhaltung der Schienenwege jetzt neu verhandeln Drucksachen 18/3153, 18/3938 Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3938, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3153 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkt 24 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus (20. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Ludwig, Barbara Lanzinger, Klaus Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Hiltrud Lotze, Burkhard Blienert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kulturtourismus in den Regionen weiterentwickeln Drucksachen 18/3914, 18/4731 Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4731, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3914 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Opposition angenommen. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 24 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 176 zu Petitionen Drucksache 18/4696 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 176 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 177 zu Petitionen Drucksache 18/4697 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 177 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 178 zu Petitionen Drucksache 18/4698 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 178 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 179 zu Petitionen Drucksache 18/4699 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 179 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 24 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 180 zu Petitionen Drucksache 18/4700 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 180 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 d: a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Qualität von Studium und Lehre im internationalen Wettbewerb sichern – Den Europäischen Hochschulraum erfolgreich gestalten Drucksache 18/4801 b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Bologna-Prozesses 2012 bis 2015 in Deutschland Drucksache 18/4385 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bologna-Prozess grundlegend reformieren Drucksache 18/4802 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Özcan Mutlu, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bologna 2015 stärken – Den europäischen Hochschulraum konsequent verwirklichen Drucksache 18/4815 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung: Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Die Umsetzung der Bologna-Reformen hat sich in Deutschland positiv entwickelt. Wir erleben an unseren Hochschulen eine dynamische Entwicklung. Seit 2012 ist die Studierendenzahl in Deutschland weiter gestiegen. Mit 2,7 Millionen Studierenden haben wir an unseren Hochschulen eine halbe Million Studierende mehr als noch vor vier Jahren. Die Bundesregierung und die Länder flankieren diese Entwicklung mit dem Hochschulpakt. Zwischen 2007 und 2023 stellen wir rund 38 Milliarden Euro für die Aufnahme der Studierenden durch Einrichtung zusätzlicher Studienmöglichkeiten zur Verfügung. Die Einführung der zweistufigen Studienstruktur war eines der zentralen Kernziele der europäischen Hochschulreform zur Förderung von Transparenz und zur Vergleichbarkeit der Studienabschlüsse. Dies ist weitgehend umgesetzt. Im Wintersemester 2013/14 führten mehr als 87 Prozent aller Studiengänge zu Bachelor- und Masterabschlüssen. Die Steigerung der Mobilität ist ein weiteres Kernziel der Bologna-Reform. Dabei ist für die Studierenden wichtig, dass ihre im Ausland erbrachten Studienleistungen anerkannt werden. Ich freue mich über die positive Entwicklung dieser Anerkennungsrate in Deutschland in den vergangenen Jahren. Sie ist von 41 Prozent im Jahr 2007 auf knapp 70 Prozent im Jahr 2013 angestiegen. Mit Blick auf die Auslandsaufenthalte von Studierenden und Wissenschaftlern zeigt sich, dass im Zuge der Bologna-Reformen die Auslandsmobilität ganz entscheidend gestiegen ist. Rund 140 000 Deutsche studierten 2012 an ausländischen Hochschulen. Das ist fast dreimal so viel wie vor der Bologna-Reform. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ein Drittel der deutschen Studierenden hat mindestens einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt absolviert. Damit liegen wir deutlich über dem Mobilitätsziel der Bologna-Staaten. Rund 16 000 deutsche Wissenschaftler waren im Jahr 2012 im Ausland, vor allem in den USA, Großbritannien, Frankreich und China. Ich denke, diese reinen Zahlen können nicht hinreichend vermitteln, wie wichtig diese Auslandsmobilität ist; denn sie verschafft unseren Studierenden auch ein Stück Weltoffenheit, einen Blick für das, was in der Welt los ist. Gleichzeitig bietet die große Anziehungskraft der Bundesrepublik Deutschland als Gastland für ausländische Studierende und Wissenschaftler eine große Chance. Laut OECD steht Deutschland unter den nichtenglischen Gastländern an erster Stelle; (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nur in den USA und in Großbritannien gibt es mehr ausländische Studierende. Ich denke, das ist ein großer Erfolg unserer jahrelangen Bemühungen, den Studienstandort Deutschland -international zu präsentieren. Mittlerweile stellen ausländische Wissenschaftler 10 Prozent der Mitarbeiter an unseren wissenschaftlichen Einrichtungen und in den Hochschulen. Mehr als 300 000 ausländische Studierende kamen zum Studium nach Deutschland. Das ist eine Verdoppelung im Verhältnis zu 1998, und das zeigt die enorme Bewegung in dieser Zeit; zwei Drittel davon sind Bildungsausländer. Bund und Länder verfolgen mit ihrer Internationalisierungsstrategie das Ziel, die strategische Internatio-nalisierung unserer Hochschulen zu befördern, eine Willkommenskultur zu etablieren – ich nenne nur das Stichwort „Welcome Center an den Hochschulen“ –, -internationale Campusse zu entwickeln und grenzüberschreitende Hochschulkooperationen zu ermöglichen. Wir im Bundesbildungs- und -forschungsministerium unterstützen die Internationalisierung beispielsweise durch Beratungsmaßnahmen wie das Audit der Hochschulrektorenkonferenz oder Programme des DAAD zu strategischen Partnerschaften und durch Aktivitäten unserer Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Zu den Bologna-Zielen gehört auch die Stärkung der sozialen Dimension. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fehlt noch bei Ihnen!) Wir möchten gerne den Hochschulzugang auch für diejenigen aus bildungsfernen Schichten öffnen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur zu!) Das BAföG spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Na dann!) Mit dem 25. BAföG-Änderungsgesetz passen wir die Ausbildungsförderung an die aktuellen Lebensverhältnisse an. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Leider nicht! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Erhöhung kommt erst 2016! Vorziehen und besser machen!) Gleichzeitig schließen wir die Förderlücke bei der zweistufigen Bachelor- und Masterstudienstruktur. Dies ist ein richtiger und wichtiger Schritt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: So ein hervorragendes Gesetz!) Beim Thema „Lebenslanges Lernen“ zielt die -Bologna-Reform darauf, die Hochschulen für neue Studierendengruppen zu öffnen. Hier hat die gestufte Studienstruktur mit Bachelor- und Masterabschlüssen eine Vielzahl von Einstiegs- und Übergangsoptionen zwischen dem Arbeitsmarkt und den Hochschulen eröffnet. Die Zahl der beruflich Qualifizierten ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung konnte seit 2002 auf über 12 000 Studierende verzehnfacht werden. (Beifall des Abg. Willi Brase [SPD]) Das ist schon etwas; aber es ist natürlich noch sehr viel zu tun. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schneckentempo bei 2,7 Millionen Studierenden!) Der neue Bund-Länder-Wettbewerb „Aufstieg durch -Bildung: offene Hochschulen“ wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Hochschulsysteme insgesamt zu verändern und zu öffnen. In diesen Tagen konnten wir lesen, dass die Studie des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft und des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln gezeigt hat, dass der Bachelor als Abschluss in der Wirtschaft gut ankommt und gute Karrierechancen eröffnet. Es werden fast identische Einstiegsgehälter gezahlt, und es werden gute Karriereperspektiven angeboten. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Nicht bei den Studierenden von Universitäten!) Bei der Umsetzung der europäischen Hochschul-reform können wir natürlich nicht nur national agieren, sondern wir machen das im Verbund mit 46 anderen Staaten des Europäischen Hochschulraums. Auf der Bologna-Konferenz in Eriwan am 14./15. Mai gibt es nach unserer Auffassung einiges zu tun. Ich will einige Stichworte nennen: Wir werden einbringen, dass die Anerkennung akademischer Qualifikationen und Abschlüsse zum Weiterstudium, aber auch zur Berufsausübung verständlicher und handhabbarer gemacht werden muss. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur zu!) Wir werden die Förderung der Mobilität von Lehramtsstudierenden zum Thema machen; (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) eine sehr wichtige Aufgabe, um die Erfahrung auch in anderen Ländern einbringen zu können. Wir möchten gerne den europäischen Ansatz zur -Akkreditierung gemeinsamer Studiengänge, das heißt die einfachere Handhabung der Qualitätssicherung von internationalen Studiengängen, den sogenannten European Approach, nach vorne bringen. Das ist keine einfache Aufgabe, aber eine notwendige. Wir sind auch bereit, Staaten, die sich bei der Umsetzung der Reformen noch schwertun, zu helfen und sie aufgrund unserer nationalen Erfahrung bei diesem Prozess zu unterstützen. Meine Damen und Herren, Sie sehen, es gibt mit 46 anderen Ländern einiges zu besprechen; 46 Länder, die ganz andere Strukturen und Ausgangssituationen haben. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprechen Sie auch mal mit den Studierenden!) Vielleicht erkennt man daran – das ist mein abschließender Gedanke –: Dieser Bologna-Prozess mit 46 anderen Ländern ist ein einmaliges Forum, das Brücken -zwischen ganz unterschiedlichen Ländern bauen kann. Lassen Sie uns diese Brücken gemeinsam bauen, damit die Hochschulen aus diesen ganz unterschiedlichen Ländern zusammenarbeiten. Wenn das im Bereich der Hochschulen gelingt, dann besteht auch die Chance, dass die Gesellschaften in diesen Ländern das insgesamt schaffen. Wir wollen diese Zusammenarbeit. Dafür kann die Konferenz in Eriwan stehen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Nicole Gohlke, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Nicole Gohlke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die -Bologna-Reform war wohl die tiefgreifendste Strukturreform, die die Hochschulen bisher erlebt haben. Insbesondere die Wirtschaft hatte Druck gemacht mit der -Forderung, dass sie jüngere und auch effizienter ausgebildete Hochschulabsolventinnen und -absolventen wollte. 1999 wurde die Hochschulreform in Bologna von den europäischen Bildungsministern und -ministerinnen unterzeichnet. Die Reform wurde von massiven Protesten der Studierenden begleitet. Bis heute wird sie heftig kritisiert. Studierende wenden sich gegen den hohen Prüfungsdruck. Sie wenden sich dagegen, dass es zu wenige Masterstudienplätze gibt. Sie prangern die fehlende kritische Auseinandersetzung mit Inhalten an. Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, spricht sogar davon, dass sich Bildung und Bologna gegenseitig ausschließen würden. Die Chefs der Hochschulrektorenkonferenz -sagen, dass die Bildung der Persönlichkeit in den Schmalspurstudiengängen auf der Strecke geblieben sei. Nun muss man sich nicht jede Kritik zu eigen machen. Es gibt auch die Haltung – dessen bin ich mir sehr wohl bewusst –, die darin besteht, von der Exklusivität der Universität zu träumen und die Abgeschiedenheit des Elfenbeinturms zu bevorzugen. Darum geht es uns natürlich nicht. (Beifall bei der LINKEN) Aber keine Haltung ist es, den öffentlichen Diskurs und die Kritik einfach zu negieren. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Stimmt nicht!) Die Bundesregierung schweigt ausnahmslos zu allen -kritischen Punkten. Das geht nicht, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie meinen wohl, es reiche, Erfolge herbeizureden und den Rest einfach auszusitzen. Das Bildungsministerium beschränkt sich darauf, zu verkünden, dass der Bachelorstudiengang eine Erfolgsstory sei. Aber das sehen nicht einmal die Unternehmen so. Ihnen müsste auch bekannt sein, dass Bachelorabsolventinnen und -absolventen von Universitäten beim Berufseinstieg immer noch 26 Prozent weniger Lohn bekommen als diejenigen mit traditionellen Abschlüssen. Das kann so nicht bleiben. (Beifall bei der LINKEN) Fakt ist doch: Gerade einmal 17 Prozent der Bachelorstudierenden gehen ins Ausland, obwohl doch Mobilität das große Ziel der Reform war. Nicht einmal jeder Zweite schafft das Studium in der vorgegebenen Regelstudienzeit, jeder vierte Studienanfänger bricht das -Studium ab. Das ist im Jahr 16 nach der Reform einfach eine schlechte Bilanz und auch nicht mit Umsetzungsproblemen zu erklären. (Beifall bei der LINKEN) Zynisch ist es, dass Frau Wanka es Ende letzten -Jahres bedauerte, dass sich die Studierenden heutzutage so wenig für Politik interessieren. Zynisch ist das deswegen, weil es immer die Unionsparteien waren, die die Studierendenproteste und die sich einmischenden Studierenden klein- und schlechtgeredet haben, (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Ich finde den RCDS super!) und weil diese Entpolitisierung, die heute diskutiert wird, schlicht eine Folge Ihrer Politik ist. Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei der LINKEN) Der dauernde Druck, den der Bologna-Prozess produziert hat, nimmt den Studierenden die Luft zum Atmen. Es sind natürlich die Unterfinanzierung und die einseitige Ausrichtung an Wirtschaftsinteressen, die die Hochschulen als Ort der Kritik, als Ort der Reflexion zunehmend austrocknen. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Deswegen müssen die Länder was machen!) Daran will diese Regierung doch nichts ändern. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Deswegen haben wir die BAföG-Milliarden gegeben!) An all dem halten wir fest, weil Sie die Bologna-Reform offenbar genau so wollten. Also vergießen Sie keine Krokodilstränen um mangelndes politisches Engagement, sondern seien Sie an dieser Stelle lieber ehrlich und sagen Sie, dass es Ihnen so ganz recht ist. (Beifall bei der LINKEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: 38 Milliarden für den Hochschulpakt!) Die Kollegen Rossmann von der SPD und Kai Gehring von den Grünen haben vor etwa einem Jahr in einem gemeinsamen Artikel davon gesprochen, dass das gestufte Bachelor-/Mastersystem eine Chance für die Kultur des lebenslangen Lernens sei. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu Recht! Toller Beitrag!) Ich sage Ihnen: Auch ich wünsche mir das. Aber ich finde, die Realität gibt das bisher überhaupt nicht her. Bislang schafft dieses System keine neuen Zugänge, sondern es schafft leider neue Hürden. Bisher selektiert es und schließt aus. Und genau davon haben wir mehr als genug. Wir brauchen wirklich keine neuen Schranken im Bildungssystem. (Beifall bei der LINKEN) Ich muss Ihnen auch sagen: Die Forderungen, die Wirtschaftsvertreter wie zum Beispiel die Deutsche Industrie- und Handelskammer jetzt aufstellen, setzen dem Ganzen doch wirklich noch die Krone auf. Sie fordern noch mehr Praxisbezug und meinen in Wahrheit einen noch passgenaueren Zuschnitt auf die eigenen Ansprüche. Dafür – so schlagen sie dann zum Beispiel vor – kann man ja das Auslandssemester auch ganz streichen. Das bräuchten die meisten doch eh nicht, weil sie ja am Ende in deutschsprachigen Unternehmen arbeiten. Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, genau das ist der Kern der Auseinandersetzung. Genau hier teilen sich auch die Positionen: Geht es um eine Bildung, verstanden als Menschenrecht, verstanden als Horizonterweiterung und als Persönlichkeitsbildung, oder geht es um einen Bildungsbegriff, der nur noch das kurzfristige Fitmachen für den Arbeitsmarkt im Blick hat? Die Antwort der Linken ist da eindeutig. Wir sagen: Entschleunigung statt Verkürzung und Prüfungsstress. Wir sagen: Öffnung und Durchlässigkeit statt neuer und alter Hürden. Wir wollen nachhaltiges und kritisches Wissen statt marktkonformes Know-how. Dieses Bildungsverständnis brauchen wir im Übrigen in allen Bildungsbereichen, nicht nur in der akademischen Bildung. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen endlich auch einmal Reformprozesse, die von unten entstehen, an denen Studierende, Lehrende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt sind und beteiligt werden. Damit würde es dann vielleicht auch einmal etwas mit dem Europäischen Hochschulraum werden. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Dr. Daniela De Ridder. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dr. Daniela De Ridder (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Studierende! 1786 reiste Johann Wolfgang von Goethe von Weimar nach Italien. Für den damals 37-Jährigen waren es beschwerliche 956 Kilometer, bis er endlich Bologna erreichte. Was trieb den Juristen und Schriftsteller Goethe um, dass er diese Strapazen auf sich nahm? (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Der Bachelor! – Heiterkeit) – Richtig, Herr Kollege, es waren in der Tat Studien. – Er interessierte sich für Flora und Fauna; Kunstgeschichte und Architektur gehörten auch dazu. Dies alles kann man im Übrigen in seinen Tagebuchaufzeichnungen nachlesen, die er später unter dem Titel Italienische Reise veröffentlicht hat. Hatten die europäischen Wissenschaftsministerinnen und -minister, die vor 16 Jahren den Bologna-Prozess angestoßen haben, Goethe gelesen? Ich weiß es nicht. Überliefert ist es nicht. Wohl aber ist die Idee überliefert, die sie seinerzeit hatten. Es ging und geht um die Öffnung des Europäischen Hochschulraumes. Das umfasst die Stärkung der Mobilität von Studierenden, von Lehrenden und von Forschenden, aber auch von Beschäftigten im Hochschulwesen. Zu dieser Idee gehören das Voneinander- und das Miteinander-Lernen, das Anerkennen von Studienleistungen sowie die Stärkung der Berufsbefähigung. Darum geht es, um die sogenannte Employability. Reisen bildet, und Auslandsaufenthalte helfen, Fremdheit zu überwinden. Das ist doch immer ein inspirierender Lernprozess. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Heute gehören – man höre und staune – 47 Länder zum Bologna-Hochschulraum. Dazu gehören neben den bekannten und erwarteten vor allem auch solche Länder wie Albanien, Aserbaidschan, der Vatikanstaat, Kasachstan und die Ukraine. Weißrussland – darüber, finde ich, könnten wir auch noch einmal nachdenken – führt gerade Beitrittsverhandlungen. Zunächst – das will ich gerne zugeben, Frau Gohlke – war der Bologna-Prozess sehr sperrig. Magister- und -Diplomstudiengänge wurden auf Bachelor und Master umgestellt. Kritisiert wurde der Prozess auch aufgrund der Verdichtung der Studieninhalte. Man sprach von -Bulimielernen. Aber das ist eine Diskreditierung des -Bologna-Prozesses; denn Probleme an den Hochschulen gab es auch schon vor dem Bologna-Prozess. Die gilt es und galt es, zu verringern. (Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Aber Reformen sollen die Dinge besser und nicht schlechter machen!) In den vergangenen 16 Jahren haben wir deshalb – lassen Sie mich das noch einmal betonen – viel -erreicht und noch mehr getan, um diesen Prozess zu unterstützen und zum Erfolg zu machen. Wir haben Studienleistungen anerkannt. Ich erinnere an das ECTS-System. Wir haben das Stipendienprogramm Erasmus+ ausgebaut. Wir haben das Aktionsprogramm „Bologna macht mobil“ beim DAAD angesiedelt, mit dem Hochschulkooperationen zwischen deutschen und europäischen Hochschulen ausgebaut werden. Wir haben – darauf bin ich besonders stolz – das Auslands-BAföG ausgebaut. Hier kann man nämlich die Übernahme von Reisekosten und eine flankierende Finanzierung der -besonders teuren Studiengebühren beantragen. Wir haben Gott sei Dank keine mehr in der Bundesrepublik. (Beifall bei der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abgeschafft!) Wir haben aber noch mehr gemacht. Ich bin ganz dankbar, dass wir über den europäischen Raum hinausgegangen sind. Jungen Menschen aus Drittstaaten, die bei uns studiert haben, haben wir jetzt ermöglicht, dass sie noch 18 Monate nach ihrem Studienabschluss hierbleiben können, um einen Job zu finden. Das zeigt doch, dass wir die Internationalisierung deutlich ausgebaut haben und uns sicher sein dürfen, dass es auch noch weitergehen kann. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich bin SPD-Bundestagsabgeordnete. Ich glaube, meine Partei steht keineswegs in dem Verdacht, sich mit dem Erreichten zufriedenzugeben, im Gegenteil. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Na ja!) Daher nehmen wir die Herausforderungen, die sich auch in der Zukunft stellen, gerne an. Ich will einige wenige Beispiele nennen. Der Hochschulpakt ist schon genannt worden. 10 Prozent der Landes- und Bundesmittel sollen für die Stärkung des Studienerfolgs zur Verfügung gestellt werden. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie soll das gehen?) Allein die Bundesfinanzierung – ich habe etwas andere Zahlen als Herr Rachel – bis 2023 beträgt 20,3 Milliarden Euro. Hiermit flankieren wir die Universitäten und vor allem die Fachhochschulen sehr deutlich. (Beifall bei der SPD) Wir stärken die Qualität von Lehre durch den entsprechenden Pakt und verbessern noch einmal deutlich die Betreuung von Studierenden; denn um die geht es. Da haben Sie recht, aber das machen wir schon. Wir wollen Studienabbrüche vermeiden und den Studienerfolg ausbauen. Im Bund-Länder-Programm sind dafür bis 2020 weitere 2 Milliarden Euro veranschlagt. Sagen Sie doch bitte nicht, das sei nichts. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir werden auch die Doppelabschlüsse von deutschen und europäischen Hochschulen fördern und dabei – da dürfen Sie sicher sein – auch auf die Qualitätssicherung der Dual Degrees achten. Wir fördern einerseits Berufsorientierung und andererseits Berufsbefähigung durch Kompetenzlernen. Auch mit dem Projekt „nexus“ – Herr Rachel hat es nicht erwähnt – sowie der Programmlinie „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“ unterstützen wir die vielfältigen Studierendengruppen und ihre Lernerverschiedenheit. Diversity Management heißt hier das Gebot der Stunde. Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung fördert dezidiert solche Konzepte, die einen Auslandsaufenthalt von Lehramtsstudierenden, Lehrenden und Forschenden ermöglichen. Unser Ziel ist es – auch darauf bin ich stolz –, dass jeder zweite Studierende während des Studiums im Ausland war. Bisher sind es 30 Prozent; wir wollen, dass es 50 Prozent werden. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, und darauf dürfen wir stolz sein. Mit dem Bologna-Prozess unterstützen wir auch das Demokratielernen; denn durch den Blick über den Tellerrand können Erkenntnisse gewonnen werden, die für mehr Offenheit und Toleranz stehen, gerade durch den Vergleich mit dem Ausland. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Reisen bildet – das wusste nicht nur Goethe. Lieber Herr Rachel, bitte richten Sie eine kleine Botschaft an Frau Ministerin Wanka aus: Ich würde mir wünschen, dass Frau Wanka in der Tat nach Eriwan in Armenien fährt und persönlich an der Bologna-Konferenz teilnimmt. Bitte machen Sie auch deutlich, dass es eine Mission gibt, die sie dort vertreten sollte, nämlich dass Bildung insbesondere für junge Menschen, aber auch für den Bereich des lebenslangen Lernens immer auch Zukunftschancen beinhaltet. Es ist wichtig, dass wir Armenien nicht nur mit dem Genozid in Verbindung bringen, sondern auch mit Klugheit, Innovation und Wissensdurst. Anders als Goethe kann Frau Wanka die Distanz von Berlin nach Eriwan leicht überwinden, auch wenn es 3 306 Kilometer sind. Mehr als die Überwindung von geografischen Distanzen gilt es, die Distanzen zwischen Menschen zu überwinden und abzubauen. Seien wir also optimistisch und zukunftsorientiert, und stecken wir damit bitte, lieber Herr Rachel, auch unsere europäischen Nachbarn an. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Studierende! Der Bologna-Prozess hat die Perspektive auf einen Europäischen Hochschulraum eröffnet und das Studium grundlegend verändert. Die Ziele: ambivalent bis ambitioniert; die Umsetzung: lange umstritten und mehrmals korrigiert, heute auf halbwegs vernünftigen Gleisen, aber unvollendet – so blicken wir Grüne auf 16 Jahre Studienreform in Deutschland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zwei Aspekte sind mir für die nationale Umsetzung besonders wichtig: erstens die Chancen der Studierenden, die sich aus der Bachelor-Master-Struktur ergeben, und zweitens die soziale Öffnung unserer Hochschulen. Ich denke, zu beiden Aspekten gibt es noch viel zu tun, auch für diese Bundesregierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wissenschaftsministerin Wanka – wenn sie denn wirklich selber fährt – macht sich mit einer durchwachsenen Bologna-Bilanz auf den Weg zur Ministerkonferenz nach Eriwan. Bachelor und Master sind als Abschlüsse weitestgehend etabliert; erstklassige Studienbedingungen, höhere Qualität und mehr Mobilität für alle Studierenden lassen aber weiter auf sich warten. Ein erfolgreiches Studium gehört endlich in den Mittelpunkt der Bologna-Reform, hierzulande und europaweit. Erfolgreiches Studieren heißt für mich: persönliches Wachstum, breite Bildung und Perspektiven als Absolvent; darum geht’s. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Claudia Lücking-Michel [CDU/CSU]) Zentrales Ziel der Bologna-Reform, lieber Herr Rachel, ist die Öffnung der Hochschulen, vor allem für Studierende der ersten Generation. Auf diesem Feld ist der Fortschritt in Deutschland leider eine Schnecke: Ob jemand studiert – oder, wenn er oder sie studiert, ob er oder sie dann wirklich auch mobil ist –, hängt sehr stark von der sozialen Herkunft und dem Konto der Eltern ab. Es ist nicht leicht, diese Muster zu durchbrechen; aber es ist einfach völlig unbefriedigend, wie wenig die Große Koalition dafür tut. Warum kommt die BAföG-Erhöhung erst im Herbst 2016, und warum fällt sie so zaghaft aus? Die Studierenden brauchen jetzt eine höhere und eine bessere Studienfinanzierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Meine Damen und Herren, freuen wir uns gemeinsam über 2,7 Millionen Studierende in Deutschland! Das ist gut für Bildungschancen und unser Hochtechnologieland. Das Herbeireden eines angeblichen Akademisierungswahns ist deplatziert und fahrlässig. (Beifall der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE] und Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Anstatt diese Phantomdebatte weiter zu befeuern und das Studieren zu attackieren, wäre es dringend notwendig, dass CDU/CSU und SPD den Vorschlägen der grünen Opposition folgen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ui!) Wir wollen sowohl die duale Ausbildung stärken als auch die Hochschulen sozial öffnen. Durchlässigkeit und Ausbildungsgarantie, um beides geht es. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Machen wir doch!) Ein sozialeres und wissensbasiertes Europa muss Hürden abbauen und Mobilität für alle gleichermaßen ermöglichen. Dafür muss die Koalition mehr tun! Die Gesamtverantwortung des Bundes für das Hochschulsystem lässt sich nicht einfach an die Länder und an die Hochschulen delegieren, so wie Sie das in Ihrem Antrag machen. Mit reiner Lobhudelei und Nichtstun riskiert man die Akzeptanz der Reform, liebe Koalition; denn für Reformgegner gilt Bologna wahlweise als neoliberales Ungeheuer oder als Ruhestörung im exklusiven Elfenbeinturm. Liebstes Feindbild ist der Bachelor: Glaubt man manchen Wirtschaftsvertretern, hat ein Bachelorabsolvent zwei linke Hände. Glaubt man manchem Konservativen oder der Linksfraktion, hat ein Bachelor den geistigen Horizont eines Maulwurfs, (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD) und erst der Master macht einen zur intellektuellen Lichtgestalt. All das ist selektive Wahrnehmung und Schwarz-Weiß-Denken. Die Realität ist differenzierter. Schönbeten wie schlechtreden, beides wäre verkehrt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da haben Sie recht!) In einzelnen Fächern ist erst der Master oder gar die Promotion Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt – das war aber auch schon zu Diplomzeiten so. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Es ist aber nicht jemand nach dem Vordiplom aussortiert worden!) In der Mehrzahl der Fächer gibt es auch mit Bachelor in der Tasche sehr gute Einstiegsbedingungen. Darum: Wir brauchen keinen Masterzwang, sondern Masterplätze für alle, die Master studieren wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Die Linke sagt aber, der Master müsse Regelabschluss sein. Ich finde, das muss nicht immer sein. Die zweistufige Struktur – erst der Bachelor, dann der Master – macht Sinn. Überquellende Curricula und permanenter Prüfungsstress sind Unsinn. Das Entfrachten von Studiengängen ist keine Mission Impossible, da muss einfach mehr passieren. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wenn man mehr Zeit hätte!) Wem im Ausland erworbene Studienleistungen nach der Rückkehr nicht anerkannt werden, der ist natürlich zu Recht sauer und demotiviert. Deshalb fordern wir als Grüne seit Jahren eine echte Anerkennungsgarantie, damit Mobilität persönliches Wachstum bringt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Also: Der Druck muss raus, die Zahl der Studienabbrüche muss runter, Zeitfenster und ein förderliches Lern- und Arbeitsumfeld müssen her. Allein dafür müssen Bund, Länder und Hochschulen ihre Zusammenarbeit ausbauen. Ein weltoffenes und modernes Deutschland muss den freizügigen Europäischen Hochschulraum konsequent verwirklichen, für die junge Generation mehr Mobilität wagen und Hochschulzugänge öffnen, unabhängig von der Herkunft. Damit würde das Studieren besser und Europa sozialer und erfahrbar; darum muss es uns allen gehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Katrin Albsteiger, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Katrin Albsteiger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fast 16 Jahre ist es her, da haben sich 29 Bildungsminister getroffen, um Studiengänge und Studienabschlüsse zu harmonisieren. Das war der Anfang, der Beginn, der Grundstein des Europäischen Hochschulraums. Genau dieser ist inzwischen kein abstraktes, nicht greifbares rein politisches Gebilde mehr, sondern es ist Normalität geworden – Normalität für Studenten in insgesamt 47 Staaten, die inzwischen Teil dieses Europäischen Hochschulraums geworden sind. Im Rahmen dieser Entwicklung sind nationale Abschlüsse wie der Magister und das Diplom bei uns – das Diplom war heiß geliebt; wir alle wissen, dass es heftige Diskussion darüber gab; auch ich habe als Abschluss ein Diplom, und tatsächlich schlägt auch mein Herz ab und zu noch dafür; das gebe ich offen zu – zu europäischen Abschlüssen geworden: zu Bachelor und Master. Das war vor 20 Jahren noch Science-Fiction. Inzwischen ist es Realität geworden. Ebenso Realität ist geworden, dass schwedische, britische und deutsche Absolventen vergleichbare Studienleistungen erbringen und vergleichbare Abschlüsse machen können. Auch das war vor 20 Jahren noch absolut undenkbar. An dieser Stelle zeigt sich, dass Europa dann am allerbesten ist, wenn es konkrete, greifbare Ergebnisse und Verbesserungen für den Alltag der einzelnen Menschen hervorbringt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich würde es sogar als gelebte europäische Integration bezeichnen – und das über die Grenzen der Europäischen Union hinaus. Deswegen finde ich, dass die Debatte heute durchaus Anlass gibt zu Lob und Freude darüber, was sich in den letzten Jahren alles entwickelt hat. Selbstverständlich kann man an dieser Stelle auch auf die Punkte hinweisen, wo noch Entwicklungspotenziale schlummern, wo es noch Verbesserungspotenziale gibt, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur zu!) aber man kann nicht nur Kritik üben um der Kritik willen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Stichwort „Auslandserfahrung“. Auslandserfahrungen sind für Studenten enorm wichtig. Ich habe die Möglichkeit gehabt, im Ausland zu studieren, und ich kann sagen, dass ein Auslandsstudium nicht nur eine Entwicklung bedeutet, eine Erweiterung der persönlichen Erfahrung und des Wissens in dem jeweiligen Studiengang, sondern dass es einen persönlich unfassbar weiterbringt. Das ist für die Persönlichkeitsstruktur, glaube ich, eine ganz wichtige Sache. Deswegen ist es auch ein Glück, dass inzwischen immer mehr Studenten die Möglichkeit haben, ins Ausland zu gehen, und diese Chance auch nutzen. Seit 2009 liegt die Auslandsmobilitätsquote zwar konstant bei 30 Prozent, aber bei immer mehr Studenten in Deutschland ist die Anzahl derjenigen, die ins Ausland gehen, massiv gestiegen, und das ist auch gut so. (Beifall bei der CDU/CSU) Da werden wir mit der Internationalisierungsstrategie noch einen ganz schönen Weg vor uns haben – hin zu positiven Entwicklungen. „Vergleichbarkeit der Abschlüsse“ ist ein ganz wichtiges Thema. Aber die Vorteile beim Harmonisierungsprozess fangen schon früher an, und zwar da, wo es um die einzelne Studienleistung geht. Da ist sicherlich noch viel zu tun; denn es ist ein Motivationsfaktor für einen Studenten, ins Ausland zu gehen, wenn er weiß, dass das, was er dort an Studienleistung erbringt, hier tatsächlich anerkannt wird. Das ist nicht ganz einfach – trotz der guten Entwicklung; die Anerkennungsquote ist von 41 Prozent auf inzwischen fast 70 Prozent gestiegen. Die Realität mag an den Hochschulen unterschiedlich sein. Ganz problemlos läuft das nicht. Da müssen die Hochschulen auf jeden Fall ran. Sie müssen ihre Spielräume nutzen, um schnell zu Verbesserungen bei der Verlässlichkeit der Anerkennung zu kommen; da ist auch mehr Transparenz notwendig. Dafür wollen wir uns einsetzen. Es gilt das, was bei dem Prozess ganz wichtig ist: Wo „Bachelor“ draufsteht, ist auch „Bachelor“ drin, und zwar völlig egal, ob man diesen Abschluss in Athen oder in München erwirbt. Die Bundesregierung wird auf der Bologna-Konferenz in der nächsten Woche in Eriwan auf viele Punkte hinweisen, die angesprochen wurden, und sich auch dafür einsetzen. Es ist ganz wichtig, an dieser Stelle zu sagen: Wir Deutschen sind in vielen Dingen, was die Bologna-Reform angeht, Vorbild. Wir haben einige tolle Projekte und Programme; auch die Kollegin Frau De Ridder hat sie schon angesprochen. Aber andere Staaten müssen noch nachziehen. Dafür muss man sich einsetzen. Darauf verlassen wir uns. Da sind wir auch guter Dinge. (Beifall bei der CDU/CSU) Zum Schluss noch einen herzlichen Dank an die Kollegen Schipanski und De Ridder! Es hat Spaß gemacht, den Antrag mit Ihnen zusammen zu erarbeiten. Mein persönliches Fazit ist: Bei so manchem europäischen Projekt stehen wir vielleicht erst im Halbfinale; da muss noch das eine oder andere Spiel gewonnen werden. Manchmal reichen auch drei Tore nicht aus. Beim Europäischen Hochschulraum aber sind wir auf jeden Fall schon im Finale angekommen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Danke schön. – Als Nächstes hat Dr. Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon gute Tradition, dass wir vor den Bologna-Konferenzen, auf denen uns die Regierung vertritt, im Parlament darüber diskutieren, wie wir den Bologna-Prozess unterstützen können und in welchem Geiste das geschehen soll. Ich will drei Punkte herausgreifen, die sich nur im Antrag der Koalitionsfraktionen und nicht in den Anträgen der Linken und der Grünen finden. Der erste Punkt. Sie erinnern sich, dass 2001 eine erste Bologna-Konferenz in Prag stattfand, 2010 eine weitere in Budapest, 2012 in Bukarest, jetzt in Eriwan. Wir sagen in unserem Antrag: Ja, wir möchten, dass in Eriwan die osteuropäische Orientierung praktisch dokumentiert wird und dass auch Weißrussland eine Chance bekommt, sich dem Bologna-Prozess anzuschließen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Denn es ist nicht zu erklären, dass die Russische Föderation, ein so „demokratischer“ Staat wie Kasachstan, wenn ich das ironisch sagen darf, sowie Moldau dabei sein sollten, aber Weißrussland 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht. Ich kann es auch anders ausdrücken: Nichts ist hinsichtlich der Schaffung von Demokratie subversiver als ein aufgeklärter Student, der in einem anderen europäischen Land studiert hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das darf man nicht offiziell sagen, aber wir alle dürfen daran denken. Deshalb werben wir dafür, dass die Bundesregierung an dieser Stelle ihr Gewicht einbringt und dazu beiträgt, dass es einen 48. Staat gibt, der sich der europäischen Bildungsidee anschließen kann. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist doch keiner dagegen!) Der zweite Punkt. Herr Rachel, wir begrüßen es seitens der SPD, aber auch der gesamten Koalition ausdrücklich, dass Sie die Lehrerbildung mit in den Mittelpunkt stellen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) wofür andere mit überzeugt werden sollen. Wenn man sich die Zahlen vor Augen führt, weiß man, dass nur 25 Prozent der Lehramtsstudierenden – das Lehramt ist eine Königsdisziplin an den Hochschulen – ein Auslandsstudium aufnehmen; bei den übrigen Studierenden sind es schon 35 Prozent. Diese Differenz ist nicht zu erklären und auch nicht zu begründen. Wenn wir tatsächlich Internationalität erreichen und die Selbstverständlichkeit vermitteln wollen, dass man seinen Geist auch im Ausland erweitern und so Weltoffenheit entwickeln kann, dann doch über den Bildungsträger Lehrer, über die Persönlichkeit des Lehrers. Eigentlich müssten wir, wenn es nicht arrogant wäre, sagen: 100 Prozent derjenigen, die ein Lehramtsstudium absolvieren, müssen Auslandserfahrungen sammeln. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Das ist ein großes Ziel; aber man darf mit dem Bologna-Prozess auch große Ziele verbinden. Wir finden es gut, dass sich auch der DAAD damit auseinandergesetzt hat, dass er 2013 eine Tagung veranstaltet hat und sieben konkrete Punkte entwickelt hat. Wir fühlen uns jetzt bei der Bundesregierung bestens aufgehoben und sind uns sicher, dass sie diese Punkte mit nach Eriwan und zu den Folgekonferenzen trägt. Der dritte Punkt, der sich auch nur im Antrag von CDU/CSU und SPD findet, ist der Begriff der europäischen Bildungsidee. Es gibt welche, die sagen, dass der ganze Bologna-Prozess ein technokratischer Prozess ist. Es ist aber auch gut, wenn es saubere Strukturen gibt; man darf die Technokratie nicht diffamieren. Aber was ist die europäische Bildungsidee? Ist die europäische Bildungsidee nicht die Idee der Freiheit des Geistes? Geht es nicht darum, die Menschen so zu bilden, dass sie Selbstständigkeit, Kritikfähigkeit, die Fähigkeit zur Kritik an Ideologien, entwickeln? Ist es nicht auch die Ganzheitlichkeit der Bildung, eine europäische Bildungsidee? Ist die europäische Bildungsidee nicht von Welt-offenheit geprägt? Wenn der Bologna-Prozess jetzt -hinsichtlich der Strukturen auf Internationalität, Vergleichbarkeit, Mobilität und anderes zielt und darüber hinaus angestoßen wird, dass wir uns zukünftig um die Qualität der gemeinsamen universitären hochschulischen Bildung in diesem großen europäischen Bildungsraum bemühen, dann wird es Streit geben; aber schon die Qualität des Streites kann zu einer Qualität des europäischen Bildungsraumes werden. Ich möchte anerkennen, dass die Grünen und die Linken den Bologna-Prozess technokratisch-strukturell mit optimieren wollen. Nur, das reicht uns nicht. Wir werben darüber hinaus dafür, die Bundesregierung mit drei klaren Botschaften zur Konferenz zu entsenden: erstens die Osteuropaorientierung komplett machen, sodass auch Weißrussland seine Chance bekommt, zweitens die Lehrerbildung zukünftig in den Mittelpunkt stellen, weil dies ein Treibriemen auf dem Weg zur Vision des Europalehrers ist, und drittens an der europäischen Bildungsidee mitarbeiten. Das hat der Bologna-Prozess verdient. Im Jahr 1119 hat es mit der Gründung der ersten Universität in Europa überhaupt begonnen, 2090 müsste es gut abgeschlossen sein. Danke. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Tankred Schipanski, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Tankred Schipanski (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Rossmann hat es gesagt: Es ist eine gute Tradition, dass wir begleitend zu den internationalen Bologna-Konferenzen hier im Bundestag eine Debatte führen. Es ist auch Tradition, dass Koalition und Opposition unterschiedliche Sichtweisen haben, aber, lieber Kollege Gehring, noch nie haben wir hier in Bezug auf Bologna von einem Akademisierungswahn gesprochen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kann Ihnen Herrn Rupprecht zitieren!) Traditionell ist es auch so, dass der Antrag, den die Linke alle zwei Jahre erneut einbringt, weit an der Realität vorbeigeht. Sie haben sich leider nichts Neues einfallen lassen. Schon seit Jahren lesen wir: keine Luft, zu viel Arbeitsdruck, zu viel Anwesenheitspflichten an den Universitäten. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Weil Sie noch nie mit einem Studierenden gesprochen haben!) – Frau Gohlke, ich verweise auf die vielen Reden, die zu diesem Thema schon im Bundestag gehalten wurden. Schauen Sie sich die Argumente einmal genau an, bevor Sie in zwei Jahren wieder einen Antrag einbringen. (Beifall bei der CDU/CSU – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wir sind schon damals wenig überzeugt gewesen! Das ist das Problem!) Die Unionsfraktion begleitet den Bologna-Prozess seit vielen Jahren sehr erfolgreich. Wir haben unsere Erfolge in dem vorliegenden gemeinsamen Antrag von CDU/CSU und SPD formuliert: der kontinuierliche Aufwuchs beim Hochschulpakt, der Pakt für gute Lehre, den wir auf den Weg gebracht haben, oder die Exzellenzinitiative, die vor allen Dingen die Attraktivität, an deutschen Hochschulen zu studieren, für ausländische Studierende, aber auch für ausländische Lehrende ein ganzes Stück erhöht hat, die Aktivitäten des DAAD – Frau De Ridder hat darauf hingewiesen: Der DAAD wird von uns sehr gut finanziell unterstützt, allen voran vom BMBF –, und natürlich auch der kontinuierliche Ausbau der Berufs- und Studienorientierung. Wir haben in dieser Legislaturperiode die große BAföG-Reform auf den Weg gebracht. Es gibt keine Förderungslücken zwischen Bachelor und Master, der BAföG-Zugang für Angehörige von Drittstaaten wurde erweitert, und die Länder werden finanziell erheblich entlastet, und zwar um 1,17 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist ein substanzieller Beitrag zur Grundfinanzierung unserer deutschen Hochschulen. (Beifall des Abg. Albert Rupprecht [CDU/CSU]) Das Geld können die Länder jetzt einsetzen, um die Studienbedingungen zu verbessern, und insbesondere auch, um die soziale Dimension von Bologna voll zu finanzieren. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Bund hat eine ganze Menge getan. Dennoch bleiben einige Fragen offen. Es gibt einige Probleme vor Ort. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!) – Ja, das betrifft drei Punkte, lieber Herr Gehring. – Das ist zum einen die Überspezialisierung der Studiengänge. Wir haben 9 837 grundständige Studiengänge und 8 120 weiterführende Studiengänge. Die Zahlen zeigen: Die Spezialisierung ist zu extrem. Man kann insbesondere die HRK nur auffordern, sie auf ein Normalmaß zurückzufahren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie denn da machen?) Ein weiteres Problem – Herr Gehring hat es angesprochen – ist die gegenseitige Anerkennungspraxis innerhalb der deutschen Hochschulen. Das Problem betrifft aber auch Studierende, die ihre Abschlüsse im Ausland erworben haben. Das können wir gesetzgeberisch und auch fiskalisch nicht lösen. Das ist der Autonomie der Hochschulen geschuldet. Wir appellieren in unserem vorliegenden Antrag ausdrücklich an die Hochschulrektorenkonferenz, hier gemeinsame Standards zu entwickeln und entsprechende Verabredungen zu treffen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit 16 Jahren appellieren Sie!) Lieber Herr Gehring, über die Idee einer Anerkennungsgarantie muss man nachdenken. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und machen!) Das ist ein interessanter Ansatz. Aber wir können nicht festlegen, wann eine Klausur korrigiert wird, wann man sich in ein Seminar einzuschreiben hat. Das unterliegt der Hochschulautonomie. Das müssen wir anerkennen. Was den Master betrifft – darüber wird regelmäßig diskutiert –: Wir haben einen festen Standpunkt, den wir in dieser Legislaturperiode nicht geändert haben. Jeder, der die entsprechende Leistung erbringt, soll einen Masterstudienplatz erhalten. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Kriegt er aber nicht!) Beim Master geht es um eine wissenschaftliche Vertiefung. Der Regelstudienabschluss ist der Bachelor. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ein Bachelorabschluss zählt nicht als Zugang!) Die Frage, wie die Masterstudienplätze vergeben werden, muss fachspezifisch beantwortet werden. Natürlich gibt es Studiengänge, in denen der Master als Regelabschluss zählt. Aber unsere differenzierte Hochschullandschaft macht ein entsprechend differenziertes Angebot. Abschließend möchte ich darauf verweisen – Kollege Rossmann hat darauf hingewiesen –, dass in unserem Antrag der Blick nach Osteuropa wichtig ist. Die Mobilität nach Osteuropa muss erhöht werden. Aus Osteuropa kommen schon viele Studierende nach Deutschland. Aber neben Frankreich und Großbritannien haben natürlich auch Estland, Polen und Armenien sehr gute Hochschulen. In diesem Sinne sollte der Passus zu Belarus verstanden werden. Noch ein Wort zu den Chancen der Bachelorabsolventen auf dem Arbeitsmarkt. Es wurden dazu zwei Studien vorgelegt, eine vom DIHK, eine andere vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Ich empfehle, einen Artikel aus der Welt vom 2. Mai zu lesen, der die Verwirrung über die Erkenntnisse der Studie aufklärt. Für mich steht fest: Die Zahlen sprechen für die Akzeptanz des Bachelors in der Wirtschaft. Wir sind da auf dem richtigen Weg. Ich wünsche der Bundesregierung und dem BMBF viel Erfolg auf der Bologna-Konferenz in Eriwan und bitte Sie herzlich, unserem Koalitionsantrag zuzustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Aussprache angelangt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/4801 mit dem Titel „Qualität von Studium und Lehre im internationalen Wettbewerb sichern – Den Europäischen Hochschulraum erfolgreich gestalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkte 6 b bis 6 d. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/4385, 18/4802 und 18/4815 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Informationsweiterverwendungsgesetzes Drucksache 18/4614 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) Drucksache 18/4844 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte Zypries. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Brigitte Zypries, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schade, dass sich die Reihen hier so leeren; denn das Thema, über das wir reden wollen, ist ein Zukunftsthema. Damit sollte man sich befassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie wissen es: Jede und jeder von uns nutzt Apps auf Smartphones, mit denen wir Navigationshilfen finden, mit denen wir uns über das Wetter informieren und manche von uns auch über die Pollenbelastung. Wir erkundigen uns über die Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel. Wir buchen unsere Tickets darüber. Wir checken uns ins Flugzeug ein. Wir informieren uns über Rechtsvorschriften und Gerichtsurteile, und wir erkundigen uns über Statistiken und Unternehmen. Ein großer Teil dieser Anwendungen beruht auf Informationen, die von staatlichen Stellen generiert wurden und auf diese Art und Weise, also über diese Anwendungen, für alle zugänglich gemacht werden. Staatliche Informationen, deren Zugänglichkeit und Weiterverarbeitung, sozusagen Open Data, sind der Motor der digitalen Wirtschaft. Die Europäische Kommission schätzt, dass der direkte und indirekte wirtschaftliche Nutzen von Open Data europaweit in einer Größenordnung von jährlich 140 Milliarden Euro liegt. Für uns steht völlig außer Frage, dass wir das Potenzial, das in der Wirtschaftskraft der Verarbeitung dieser Daten liegt, nutzen wollen. Um dieses Ziel besser zu erreichen, haben wir die europäische Public-Sector-Information-Richtlinie angepasst. Die neuen Vorgaben der Richtlinie setzen wir nun mit den Änderungen des Informationsweiterverwendungsgesetzes um. Dieses Informationsweiterverwendungsgesetz ist der Rechtsrahmen für die Weiterverwendung von Informationen öffentlicher Stellen, soweit es nicht um spezielle Regelungen geht wie beispielsweise bei Geodaten oder bei Umweltinformationen. Nach diesem Gesetz wird geregelt, welche Informationen weiter verwendet werden können. Die Entscheidung darüber, ob das geht oder nicht, lag bisher im Ermessen der jeweiligen öffentlichen Stelle. Das gilt jetzt nicht mehr. Die Daten sind jetzt weiterzuverwenden. Das ist der eine wesentliche Punkt der Änderung. Der zweite Punkt ist, dass wir jetzt auch den Anwendungsbereich erweitern und Museen, Bibliotheken und Archive miteinbeziehen. All dies erleichtert die Nutzung staatlicher Informationen und ist damit ein erster Schritt hin zu einer umfassenderen Open-Data-Regelung, die wir uns ja im Koalitionsvertrag vorgenommen haben und bei der der Bundesinnenminister federführend ist. Zugleich wollen wir dafür sorgen, dass über die Register Informationen für interessierte Unternehmen leichter auffindbar sind. Dafür haben wir das Datenportal GovData geschaffen. In dieses Portal sollen alle öffentlichen Unternehmen einstellen. Wenn Sie dieses Portal im Internet aufrufen und es sich anschauen, dann sehen Sie: Es stehen schon jetzt erstaunlich viele Informationen drin. Aber das wird noch sehr viel besser werden. Wir wollen für die Wirtschaft Anreize setzen, die Daten, die erhoben werden, auch tatsächlich zu verwenden. Ich will Ihnen ein Beispiel aus meinem anderen Zuständigkeitsbereich, der Luft- und Raumfahrt, nennen: die Sentinel-Satelliten, von denen wir den ersten letztes Jahr ins All geschossen haben. Dieser Satellit hat ein Radarsystem, und dieses Radarsystem vermisst alle sechs Tage die komplette Erdoberfläche. Einmal in sechs Tagen ist also die komplette Erde abgescannt. Damit können wir jetzt zum Beispiel erkennen, ob Eis auf dem Ozean ist oder wie das Land genutzt wird, und können alle möglichen Schlüsse daraus ziehen. Das gilt vor allen Dingen dann, wenn man bedenkt, dass es inzwischen viele junge Unternehmen gibt, die weitere Luftaufnahmen machen, indem sie unbemannte Flugobjekte wie kleine Drohnen nutzen, oder eben Luftaufnahmen aus Flugzeugen machen. All diese Daten aus der Erdbeobachtung können in unterschiedlichen Datenbanken zusammengefasst werden. Aus diesem Material können sich dann neue Geschäftsmodelle ergeben. Es gibt beispielsweise ein junges Unternehmen in Hessen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, mithilfe dieser Daten auszurechnen, wie viel Erde man braucht, um große Löcher, zum Beispiel in einem Steinbruch, mit Erde zu verfüllen. Man kann anhand der Daten von oben zum Beispiel sagen: Es fehlen noch 25 Lastwagen voll Erde, bis das Loch gefüllt ist. Sie sehen also: Hier gibt es viele Möglichkeiten. Dazu gehören auch Apps. Diese können etwa aufzeigen, wo es nach einer Katastrophe noch Zugangsmöglichkeiten gibt. Wir konnten beispielsweise mit den Daten des DLR auch bei dem schweren Erdbeben in Nepal helfen, weil wir speziellere Daten hatten. Sie können aber auch eine App nutzen, um zu erfahren, wie Sie mit einem Rollstuhl durch die Stadt kommen; auch das beruht auf Daten, die aus der Luft aufgenommen wurden. Das waren jetzt Beispiele aus dem Bereich der Erdbeobachtung. Es gibt natürlich viele andere Beispiele, etwa Portale, die den Zugang zu Entscheidungen der unterschiedlichsten Gerichte ermöglichen, oder in Kürze solche, die Ihnen die Inhalte von Museen in 3-D darstellen, und vieles andere mehr. Den Geschäftsmodellen und der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Ich freue mich, dass es gelungen ist, das im Rahmen dieser Gesetzesänderung zu regeln. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Johannes Singhammer: Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege Herbert Behrens. (Beifall bei der LINKEN) Herbert Behrens (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Zypries hat darauf hingewiesen, welche Möglichkeiten sich durch öffentlich erhobene und auf den entsprechenden Servern gespeicherte Daten ergeben oder ergeben könnten. In der Tat: Jeder von uns – auch die ältere Generation, zu der ich schon gehöre – nutzt Informationen, die über ein Smartphone abgerufen werden können. Wir haben, wie schon gesagt, die Möglichkeit, Fahrpläne des öffentlichen Personennahverkehrs abzurufen. Das ist ein tatsächlicher Nutzen, der eine große Hilfe darstellt. Wir haben auch die Möglichkeit, Bürgerinnen und Bürger stärker zu beteiligen, beispielsweise an der Planung ihrer Städte. Auf der Grundlage entsprechender Planungen der Stadtverwaltung oder bestimmter Daten kann man überlegen: Was können und müssen wir in unserer Stadt tun? Andere Kommunen sind so weit, dass ihre Bürgerinnen und Bürger anhand der zur Verfügung gestellten Daten bei der Planung der Bürgerhaushalte aktiv werden und sich in den demokratischen Prozess innerhalb der Stadtverwaltung direkt einbringen können. Das ist ein echter Zuwachs an Demokratie, der die entsprechende Technologie voraussetzt. Das alles ist möglich, weil die Daten öffentlicher Institutionen veröffentlicht und zur Verfügung gestellt werden und weil diese Daten nach dem Zurverfügungstellen von Unternehmen aufgenommen worden sind und dann zur Darstellung beispielsweise auf einem Smartphone aufbereitet wurden. Hier werden die Möglichkeiten sichtbar, die die neuen Technologien eröffnen. Sie machen das Leben leichter, und kreative Köpfe in Start-ups oder auch in etablierten Unternehmen sind in der Lage, diese Chancen der Digitalisierung auch ökonomisch zu nutzen. Die Linke unterstützt diese Weiterverwendung von Daten, die sich sozusagen im öffentlichen Besitz befinden. Der Gesetzentwurf regelt jetzt die Umsetzung einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2013. Es wird Zeit, dass wir sie umsetzen. Damit soll das Informationsweiterverwendungsgesetz aus dem Jahr 2006 den neuen technologischen Möglichkeiten angepasst werden; Frau Zypries hat darauf hingewiesen. Aber es geht auch nicht einen Hauch über das hinaus, was erforderlich ist. Es wäre angesichts der weitergehenden Möglichkeiten der Digitalisierung denkbar, mehr zu machen, zum Beispiel die Entwicklung von Standards voranzutreiben, die es Kommunen, aber auch Bürgerinnen und Bürgern möglich machen, die Daten intensiver zu nutzen und zu verbreiten. Es wäre auch denkbar, die Novelle zum Informationsweiterverwendungsgesetz dazu zu nutzen, in der Form initiativ zu werden, dass Kommunen und andere öffentliche Stellen mehr Informationen – sprich: Daten – zur Verfügung stellen, die dann weiteren Verwendungen zugeführt werden können. Stattdessen klebt die Bundesregierung, wie schon gesagt, an einer 1:1-Umsetzung der Richtlinie. Es handelt sich eigentlich nicht um mehr als um eine bürokratisch notwendige Umsetzung der EU-Richtlinie. Das ist keine angemessene Politik in Zeiten der Digitalisierung. Das ist einfach nur digitaler Stillstand. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Aber vielleicht traut man sich aktuell nicht weiter, weil unter dem Begriff der Informationsweiterverwendung inzwischen etwas ganz anderes verstanden wird. Der Skandal, dass öffentlich nicht verfügbare Daten – sprich: Geheimnisse – an die NSA weitergegeben werden, hat das Vertrauen in die digitale Wirtschaft massiv zerstört, und es wird noch einige Zeit brauchen, an dieser Stelle wieder Vertrauen aufzubauen. Dieses Vertrauen ist einfach erforderlich, um sagen zu können: Ja, wir wollen, dass öffentliche Daten weiterverwendet werden, damit entsprechende Services angeboten werden können. Dass es jetzt zulässig sei, weitere Daten zur Verfügung zu stellen, wie Frau Zypries eben angedeutet hat, ist auch nicht ganz so, wie sie es dargestellt hat. § 1 Absatz 2 a soll nämlich folgendermaßen lauten: Ein Anspruch auf Zugang zu Informationen wird durch dieses Gesetz nicht begründet. Das heißt, auch da stehen öffentliche Einrichtungen wieder vor der Frage: Was darf ich, und was darf ich nicht? Die Länderkammer hat bei der Anhörung zu diesem Gesetz darauf hingewiesen, dass sie an der einen oder anderen Stelle Unterstützung braucht, um dieses Gesetz anwenden zu können. Beispielsweise fordert sie, dass mit Verabschiedung des Gesetzes eine Handreichung ausgegeben wird, die die Kommunen wirklich genau darüber informiert, wie sie mit diesem Gesetz umgehen sollen. Die Bundesregierung antwortet an dieser Stelle recht schnöde, das sei alles nicht nötig, außerdem könne man auf die Erfahrungen der vergangenen Jahre zurückgreifen. Der Gesetzentwurf ist ein bisschen zu kurz gegriffen, um wirklich den großen Sprung, den Sie angekündigt haben, in Richtung Open Data – das hat ja originär noch nichts damit zu tun – zu schaffen. Von daher ist zwar gut gemeint, was dort mit der 1:1-Umsetzung niedergelegt worden ist, aber es reicht bei weitem nicht aus. Wir werden uns hier auf jeden Fall enthalten. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Hansjörg Durz. (Beifall bei der CDU/CSU) Hansjörg Durz (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mir ist vor allem nach der Rede des Kollegen Behrens noch einmal wichtig, die Abgrenzung, welches Gesetz eigentlich wofür Regelungen schafft, vorzunehmen. Wenn ein Bürger in Deutschland Informationen von einer Bundesbehörde einfordert, muss die Verwaltung darauf reagieren, muss die Daten zur Verfügung stellen, wenn keine übergeordneten Gründe dagegen sprechen. Dass jede Person einen Rechtsanspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen von den Bundesbehörden hat, regelt das Informationsfreiheitsgesetz. Während die ursprüngliche Intention dieses Gesetzes mehr Transparenz war, kommt durch die voranschreitende Digitalisierung eine weitere Dimension hinzu: Ämter und Behörden speichern zunehmend mehr Informationen digital. Die verfügbaren Datenmengen nehmen tagtäglich zu, und auch die Technologien zur Analyse, Nutzung und Verarbeitung von Daten werden kontinuierlich weiterentwickelt. Durch Verwenden, Aggregieren und Kombinieren von Daten entsteht die Chance, ständig neue Dienste zu entwickeln, und gerade Daten aus dem öffentlichen Sektor bergen enorme Potenziale für neue Geschäftsmodelle und auch dafür, Menschen den Alltag zu erleichtern. Die sicherlich bekannteste Form der Nutzung öffentlicher Daten findet durch Navigationsgeräte statt; dafür werden sie jedenfalls am häufigsten verwendet. Welche weiteren Möglichkeiten in offenen Daten stecken, möchte ich anhand dreier Beispiele – einige andere wurden schon angeführt – kurz erläutern: Erstes Beispiel. Auf der Basis öffentlicher Daten entstand die Anwendung „Parken Wien“. Mithilfe dieser App lässt sich anhand der Position des Nutzers feststellen, ob dieser sich in einer Kurzparkzone befindet und ob diese aktiv ist. Zudem werden kostenpflichtige und kostenfreie Zonen in unterschiedlichen Farben angezeigt. Über die mobile Anwendung können direkt Parkscheine gelöst werden. Es werden aktuelle Daten der Stadt Wien genutzt und ständig aktualisiert. Diese Anwendung zählte bereits bei Einführung zu den meistgekauften Apps in ganz Österreich. Ein zweites Beispiel. Die App „Bayernnetz für Radler“ ist durch die Zusammenarbeit bayerischer Ministerien entstanden und beinhaltet mittlerweile 120 Fahrradtouren mit einer Länge von insgesamt 8 800 Kilometern. Diese App verfügt über Radroutenplaner, Karten, Höhenprofile, Verknüpfungen zu Bahntransportmöglichkeiten, Veranstaltungsinformationen usw. usf. Entstanden aus Daten, die öffentlich zur Verfügung gestellt wurden, schafft die App einen Mehrwert für die Nutzer und stärkt den Radtourismus. Das dritte Beispiel kommt aus der Landwirtschaft. Im Ackerbau kommt dem Pflanzenschutz eine hohe Bedeutung zu. Gleichzeitig ist Pflanzenschutz eine sehr informationsintensive Aufgabe. Seit längerem existieren mobile Anwendungen für Landwirte, mit deren Hilfe die Landwirte bei ihren Entscheidungen im Bereich Pflanzenschutz unterstützt werden. So können beispielsweise die täglichen Infektionsbedingungen für die wichtigsten Blattkrankheiten bei Getreide oder Zuckerrüben an einem bestimmten Standort über das Smartphone abgerufen werden. Auf diese Weise wird durch die Vernetzung verschiedener öffentlicher und privater Datenquellen wie Geo- oder Wetterdaten zusammen mit herstellerspezifischen Daten zu Pflanzenschutzmitteln die Möglichkeit geschaffen, die landwirtschaftliche Betriebsführung zu unterstützen. Diese Beispiele zeigen: Offene Daten bergen ein großes Potenzial für Innovationen. Liegen Behördendaten als offene Daten vor, können sie von Bürgern und Wissenschaftlern, aber eben auch von Verwaltung und Wirtschaft weiterverarbeitet werden. Auf diese Weise können neue Anwendungen, Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle entstehen. Der öffentliche Sektor erfasst, erstellt und reproduziert ein breites Spektrum an Informationen: Geodaten, Energieverbrauchsdaten, Emissionsdaten, Verkehrsdaten oder Bevölkerungsdaten. Die EU-Kommission prognostiziert – wir haben es vorhin bereits gehört – den volkswirtschaftlichen Nutzen für die 27 Mitgliedstaaten auf circa 140 Milliarden Euro pro Jahr. Dass die Nutzung von Informationen des öffentlichen Sektors ein enormes wirtschaftliches Potenzial birgt, hat die EU-Kommission bereits mit der ersten „Public Sector Information“-Richtlinie aus dem Jahr 2003 aufgegriffen. Diese Richtlinie sollte die Weiterverwendung dieser Daten erleichtern und allgemeinverbindliche Grundlagen schaffen. Deutschland hat diese Richtlinie im Informationsweiterverwendungsgesetz von 2006 umgesetzt. Übrigens: Als das Gesetz in Kraft trat, gab es quasi noch gar keine Smartphones. Allein das zeigt schon die enorme Dynamik der Digitalisierung und gibt einen Hinweis darauf, dass eine Anpassung des Rechtsrahmens notwendig geworden ist. Also noch einmal kurz zur Einordnung: Dass Bürger einen Anspruch auf Zugang zu Informationen und Daten des Bundes haben, regelt das Informationsfreiheitsgesetz. Dass diese Daten auch genutzt und weiterverwendet werden dürfen, regelt das Informationsweiterverwendungsgesetz. Mit dem neuen IWG setzen wir nun die neue Richtlinie der EU aus dem Jahr 2013 in deutsches Recht um. Die entscheidende Neuerung besteht darin – wir haben es gehört –, dass Informationen öffentlicher Stellen grundsätzlich weiterverwendet werden können. Bisher musste ein Antrag auf Weiterverwendung öffentlicher Daten gestellt werden, und die öffentliche Stelle musste dann entscheiden, ob die entsprechenden Daten genutzt werden dürfen oder nicht. Jetzt gilt grundsätzlich: Was frei zugänglich ist und beispielsweise nicht durch -Urheberrechte geschützt ist, darf auch weiterverwendet werden. Damit sind öffentliche Stellen nunmehr dazu verpflichtet, Informationen für kommerzielle und nichtkommerzielle Zwecke freizugeben. Wir schaffen dadurch für die Nutzer von Informationen des öffentlichen Sektors eine deutliche Erleichterung. Übrigens reduziert das Gesetz auch den Aufwand in der Verwaltung, die Weitergabe zu prüfen und einen entsprechenden -Bescheid auszustellen. Wir schaffen also etwas ganz Besonderes: weniger Bürokratie für alle. Dass es notwendig ist, Bewegung in den Bereich Open Data zu bringen, zeigt ein Blick auf den kürzlich veröffentlichten Open Government Index 2015. Hier belegt Deutschland bei der Qualität und Anzahl der zur Verfügung gestellten Informationen unter 102 Ländern nur den 18. Rang. Das bedeutet: Hier können und hier müssen wir besser werden. Mit der Veröffentlichung des „Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung zur -Umsetzung der Open-Data-Charta der G 8“ im vergangenen November wurde von der Bundesregierung ein Weg aufgezeigt, wie es gelingen kann, mehr Verwaltungsdaten im Sinne von Open Data zu veröffentlichen. Das ebenenübergreifende Datenportal GovData ist dabei hervorzuheben; denn im besten Fall stellen die öffentlichen Stellen die Daten freiwillig und automatisch auf dieser zentralen Plattform zur Weiterverwendung zur Verfügung. Doch nicht nur der Bund ist bei der Bereitstellung -offener Daten aktiv. Auch bestehen auf Ebene der Länder sowie der Kommunen zahlreiche Open-Data-Plattformen. Daher ist ausdrücklich zu begrüßen, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt, die Nutzung des Portals GovData auch durch Länder und Kommunen zu befördern, um den Anwendern einen möglichst umfassenden Datenkatalog anbieten zu können. Gleiches gilt für den Aufbau einer europäischen Open-Data--Infrastruktur und die Bemühungen der Bundesregierung, dass sich GovData mit seinen Schnittstellen darin einfügen lässt. Der Bedeutung von GovData wird das neue IWG auch gerecht, indem es in dem neuen § 8 hervorhebt, dass Daten, die von Behörden online zur Verfügung gestellt werden, auch im nationalen Datenportal zur Verfügung gestellt werden sollen, wobei klar ist, dass dieses Portal mit Sicherheit noch etwas attraktiver für den Anwender gestaltet werden kann. Die Novelle zum IWG heute zu verabschieden, ist ein notwendiger und absolut richtiger Schritt. Insgesamt müssen wir aber feststellen, dass wir bei Open Data noch in den Kinderschuhen stecken. Wir müssen von daher noch viele weitere Schritte gehen, um all die vorhandenen Potenziale, die in der Bereitstellung offener Daten liegen, zu nutzen. So müssen wir unter anderem Antworten auf folgende Fragen finden: Erstens. Wie schaffen wir es, dass Daten künftig nicht nur auf Nachfrage, sondern generell vom öffentlichen Sektor auf einer Open-Data-Plattform zur Weiterverwendung bereitgestellt werden? (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Genau!) Zweitens. Wie erreichen wir, dass alle öffentlichen Stellen ihre Daten in einem einheitlichen maschinenlesbaren Format zur Verfügung stellten? Oder drittens. Wie begegnen wir der Tatsache, dass der Verwaltung ein erheblicher Aufwand entsteht, wenn Daten bereitgestellt werden? Kann hier über eine Gebührenrichtlinie ein Lösungsansatz gefunden werden? Auf diese Fragen müssen wir Antworten finden. Sie belegen, dass wir weiter an diesem Thema arbeiten müssen. Die Novellierung des IWG ist ein erster Schritt. Weitere müssen folgen. Auf jeden Fall wollen wir mit öffentlichen Daten digitale Geschäftsmodelle ermöglichen, die Wirtschaft stärken und somit Innovation und Wachstum fördern. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dieter Janecek für Bündnis 90/Die Grünen. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Jetzt kriegen wir ein ordentliches Lob für die Koalition!) Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offene Daten sind ein Schatz – das haben viele festgestellt –, ein Schatz, der uns allen gemeinsam gehört, aber nicht allen so zugänglich ist, wie es sein könnte. Sie, lieber Herr Durz, haben gesagt: weniger -Bürokratie für alle. – Das ist in der Tat wünschenswert. Allerdings ist es sowohl beim E-Government als auch bei Open Data mühsam, die Verwaltungen davon zu überzeugen, entsprechende Schritte zu gehen. An diesem Punkt äußern wir auch Kritik: Das ist zwar mühsam, man könnte das aber auch mit mehr Verve und Engagement vorbringen, als Sie das in den letzten Jahren getan haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Es kommt ja noch der Kollege Lämmel!) Die volkswirtschaftlichen Potenziale sind groß: 140 Milliarden Euro direkter oder indirekter Nutzen, je nachdem, wie man es sieht. Das heißt Kreative, Selbstständige, Start-ups, aber auch die einfachen Bürgerinnen und Bürger, NGOs, die Bildungseinrichtungen – jeder kann diese Potenziale nutzen und mit den Möglichkeiten von Apps oder von hochskalierten Geschäftsmodellen, wie man sie in der Digitalwirtschaft vorfindet, abschöpfen. Ich war vor kurzem im Zentrum für Telematik in Würzburg. Dort beschäftigt man sich mit dem Potenzial von Kleinsatelliten. Frau Zypries hat auf deren Potenziale bei der Wetterbeobachtung hingewiesen, sowohl für die Agrarwirtschaft als auch hinsichtlich der Prognosefähigkeit. Ab circa 2017 wissen wir sehr genau, wie in den nächsten vier Tagen das Wetter ist. Mit diesen Daten können wir sehr viel anfangen, egal ob Sie ein Event in der Freifläche planen oder als Landwirt ihre Saat ausbringen möchten. Der freie Zugang zu und die Verwendung von -öffentlichen Daten bieten aber nicht nur wirtschaftliche Chancen, sondern es geht hier auch um Fragen, die die Demokratie und das Gemeinwesen betreffen. Es geht also um mehr Transparenz, mehr Standards, mehr Chancen für uns alle. Es ist ein Ansatz für mehr Demokratie. Auch das muss man in dieser Debatte betonen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Gesetz mit dem durchaus sperrigen Titel „Informationsweiterverwendungsgesetz“ wird nicht zu einer Debatte anregen, die die Zuschauer auf der Tribüne von den Stühlen reißt. Es ist aber trotzdem eine wichtige -Debatte, weil Sie, Herr Lämmel – das möchte ich betonen; da ist jetzt auch das Lob –, einen Schritt in die richtige Richtung gehen. Das tun Sie; Sie tun es aber nicht entschlossen genug. Sie sind aus unserer Sicht zu mutlos. Ich bin ja mit dem BMI im Digitalausschuss bezüglich E-Goverment und Open Data in Kontakt; da lautet immer die Prognose, dass wir in den nächsten zehn -Jahren auch noch viel Papier haben werden. Aber -Österreich und Estland machen es besser. Fragen wir uns einmal, warum sie es besser als wir können! Also, wir können es auch noch besser, und wir möchten Sie da heute schon ein wenig anschieben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es geht ja nicht nur um die ökonomischen Potenziale – diese habe ich angesprochen –, es geht auch um soziale und gesellschaftliche Potenziale. Es gibt hierfür sehr viele gute Beispiele, auch im sozialen Bereich. Es gibt zum Beispiel sehr engagierte Initiativen, die den Wert von öffentlich zugänglichen Informationen erkannt haben und für ihr soziales Engagement bereits nutzen. Die Initiative Wheelmap.org hat sich so zum Ziel -gesetzt, über eine App barrierefreie Orte sichtbar zu -machen, damit Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer vorab einschätzen können, ob Gebäude für sie zugänglich sind. Damit wird bereits heute konkret zu einem besseren gesellschaftlichen Zusammenleben beigetragen. Das Problem ist aber: Sie müssen sich bisher die öffentlichen Informationen in mühevoller Arbeit einzeln zusammentragen und sind auf viele freiwillige Unterstützer angewiesen. Technologisch könnten wir das heute schon längst anders machen – auch Herr Behrens hat das betont –, aber wir sind noch nicht so weit. Warum sind wir noch nicht so weit? Weil wir es noch nicht geschafft haben, den Druck auszuüben, den wir brauchen. Ein weiteres Beispiel ist die Initiative Code for -Germany, die die Entwicklung von Open Data und damit eine transparente Verwaltung aktiv vorantreibt. Das kann ich für meine Heimatstadt München sagen. Dort ist viel getan worden, um – übrigens auch mit offener Software – zu agieren und Zugänglichkeit zu schaffen. Es ist ein mühsamer Prozess, bei dem man die Verwaltung mitnehmen muss. Das ist uns sehr bewusst. Man muss es aber tun. Auch hier wieder die Ermahnung: Tun Sie das entschlossener, als Sie es bisher getan haben! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Abschließend: Wenn man sich die internationalen -Daten anschaut, so stellt man fest, dass wir nicht vorne liegen; da sind wir nicht in der Champions League. Als FC-Bayern-Fan bin ich seit gestern etwas gebrandmarkt, (Zuruf des Abg. Dr. André Hahn [DIE LINKE]) aber Doro Bär sitzt hier im Bayern-Shirt, wie ich sehe. Trotzdem darf ich diesen Vergleich machen. In diesem Fall ist es so, dass wir beim Open-Data-Index, also der Champions League der Open-Data-Bewegung, weit -hinter Ländern wie Großbritannien, Italien oder Polen zurückliegen. In Großbritannien – das finde ich hochattraktiv – werden zum Beispiel die Fahrpläne für öffentliche Verkehrsmittel zentral gebündelt und sind für jeden zur Nutzung auf einer Internetseite frei zugänglich. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Bei uns fahren nicht einmal Bahnen!) Also: Lassen Sie uns dies wirklich in Angriff nehmen, lassen Sie uns die Chancen nutzen! Deutschland sollte zu einem Open-Data-Land werden. Eine Open-Data--Gesellschaft ist in demokratischer, ökologischer und auch wirtschaftlicher Hinsicht erstrebenswert. Wenn dann noch ein bisschen gutes E-Government hinzukommt, wo wir Einsparpotenziale von bis zu 45 Milliarden Euro haben, wird das etwas. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Matthias Ilgen, SPD. (Beifall bei der SPD) Matthias Ilgen (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man den Rednern von Linken und Grünen zuhört, kann man das Gefühl haben, dass bald die schöne neue Welt kommt. Was soll in Zukunft nicht alles open sein! Auch wir nehmen zur Kenntnis, dass der Datenmarkt durch Big Data, Linked Data und Open Data derzeit im Umbruch, in Bewegung ist. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Bei der Bundesregierung ist Closed Data!) Nicht zuletzt die Regierungen der USA und Großbritanniens – Herr Janecek, Sie haben das gerade angesprochen –, aber auch die Europäische Kommission tragen derzeit viel dazu bei. Wir haben eine spürbare Dynamik im Markt, die den Lebenszyklus von Datenprodukten völlig neu definiert. Sowohl in der öffentlichen Verwaltung und in privaten Unternehmen als auch beim Verbraucher ergeben sich neue Verortungen entlang dieser Wertschöpfungsketten. Wir stellen das alleine an den vielen Apps – dieses Wort ist ja allein in den vorangegangenen vier Reden etwa 30-mal gefallen – und neuen Anwendungen für Smartphones und andere Geräte fest, die wir im Internet finden und die uns das Leben erleichtern sollen. Ich glaube, dieser Prozess wird weitergehen, und wir müssen uns überlegen, welche weiteren Erfolge durch Open Data in Deutschland noch möglich sind. Insbesondere die Kombination aus Open Data und mobilen Anwendungen wird dadurch erleichtert, dass wir öffentliche Daten, die von den Verwaltungen des Bundes, der Länder, der Gemeinden und vielen anderen staatlichen Stellen zur Verfügung gestellt werden, jetzt zur Weiterverwendung freigeben. Das ist Ziel und Kern dieses Gesetzes, und das ist auch richtig. (Beifall bei der SPD) Der Markt für mobile Apps hängt zugleich aber wesentlich vom eigentlichen Kundenpotenzial ab. In den sogenannten App-Stores werden, wie wir alle wissen, die entsprechenden Produkte gehandelt, und eine App wird im Durchschnitt für 1,80 Euro, glaube ich, verkauft. Schauen wir uns einmal die Segmente an: Eben wurde eine App für Rollstuhlfahrer angesprochen. In meiner Heimatstadt, die 22 000 Einwohner hat, ist das Kundenpotenzial für diese App, glaube ich, relativ klein, selbst wenn eine staatliche Internetseite wie www.meinestadt.de diese App öffentlich machen würde. Wir müssen also für einheitliche Regelungen in Deutschland sorgen. Dafür ist die Plattform GovData der Bundesregierung der erste Ansatz. Nehmen wir als -Beispiel die Rollstuhlfahrer-App, bei der es um Barrierefreiheit geht: Alle staatlichen Stellen müssen einen Markt schaffen, der groß genug ist, damit eine solche App auch wirtschaftlich funktionieren kann; denn ansonsten bleibt das Programmierspielkram für den einen oder anderen. Das mag im Einzelfall vor Ort sinnvoll sein. Die Frage ist aber, wie wir die wirtschaftlichen Potenziale nutzen können. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass hier in Deutschland ein einheitlicher Weg beschritten wird. Ich möchte ein Beispiel vorbringen, das über die -Anwendungen, von denen wir schon gehört haben, hinausgeht und deutlich macht, dass man über den Tellerrand schauen muss. Es geht um eine App aus Israel, die mir besonders ins Auge gesprungen ist. Der Entwickler Ari Sprung hat die App „Red Alert“ entwickelt. Das klingt ein bisschen martialisch, und so ist es in diesem Fall auch. Diese App warnt Nutzer in Israel vor Raketeneinschlägen. Diese App schlug im letzten Jahr aufgrund des Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis in dieser Region Tausende Male Alarm. Diese App ist in der Lage, in Echtzeit, sozusagen im Zwei-Sekunden-Takt, jede einzelne Rakete, die aus Gaza auf Israel abgeschossen wird, zu erfassen und zu melden. Sogar während -eines Live-Interviews mit dem israelischen Botschafter in Washington war der Ton dieser App in der Fernsehübertragung zu hören, weil der Diplomat vergessen hatte, sie stumm zu schalten. 1 Million Israelis haben „Red Alert“ mittlerweile heruntergeladen. Das heißt, jeder achte Israeli besitzt diese Anwendung. Sie könnte aber auch für andere Länder interessant werden. (Zuruf des Abg. Herbert Behrens [DIE LINKE]) Ich hoffe, dass wir für eine solche App – das ist natürlich ein Extrembeispiel – in Deutschland künftig keine Verwendung haben werden, weil es hier friedlicher zugeht. Die Frage ist aber, meine Damen und Herren, woher diese Daten kamen. Auf die Frage: „Wo hast du die -Daten her?“, hat der Programmierer gesagt: Ich habe sie von einer Webseite; die Daten sind im Internet zugänglich. – Die Daten sind dort tatsächlich öffentlich zugänglich; die eigentliche Frage war aber, wo der Ersteller der Webseite die Daten herhatte. Diese Daten kommen natürlich von einer staatlichen Stelle, aber bisher hat keiner die Frage beantwortet, woher die Daten genau kommen. Wir bewegen uns hier also – ich würde es freundlich ausdrücken – in einem rechtlichen Graubereich. Das Land Israel hat sicherlich ein Interesse daran, dass diese App funktioniert. Die Daten werden aber vermutlich kaum von einer Behörde frei zugänglich eingestellt. An diesem Extrembeispiel sieht man, in welchen Bereichen wir uns in Zukunft mit diesem Gesetz bewegen könnten. Wir müssen also auch über Einzelfälle nachdenken. Deswegen finde ich es gut, dass man beim Melderegister und bei anderen Dingen Ausnahmen macht. Die Frage ist also: Wozu sind Daten verwendbar? Was bringen Sie uns zum Beispiel in der Sicherheitstechnik? Was bringen sie uns in der Medizintechnik? Was bringen sie uns künftig in anderen Bereichen der Wirtschaft? Ich stimme allen bisherigen Rednern zu – das haben nämlich wirklich alle gesagt –, dass die Novellierung des IWG ein erster Schritt ist und wir noch weitere Schritte auf dem Weg zu Open Data gehen müssen, damit künftig weitere kommerzielle und nichtkommerzielle Anwendungen entwickelt werden können. Wir wollen sehen, wie wir diese Open-Data-Strategie weiterführen. Auch müssen wir fragen: Wie steht es am Ende um die Rechtsansprüche? Denn die Frage ist natürlich, welchen Erfüllungsaufwand wir unseren Behörden aufgeben, wenn sie jetzt sozusagen alle Informationen, die sie für veröffentlichungswert halten, einstellen sollen. Auf der anderen Seite ist zu überlegen: Welche Interaktion gibt es dabei mit Blick auf Bürger und Unternehmen, die diese Daten nutzen wollen und können? Ich glaube – das sage ich abschließend –, dass wir ein riesiges Marktpotenzial in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in Europa haben werden. Ich würde mich freuen, wenn alle Fraktionen das Vorhaben weiterhin unterstützen würden. Danke schön. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Zum Schluss dieser Beratung hat der Kollege Andreas Lämmel, CDU/CSU, das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es kommt eigentlich relativ selten vor, dass sich alle Fraktionen im Prinzip mehr oder weniger für einen Gesetzentwurf aussprechen. Was das Abstimmungsverhalten angeht, bin ich gespannt: Wir müssten diesen Gesetzentwurf heute eigentlich einstimmig verabschieden. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Haben Sie nicht zugehört?) – Na ja, gut, bei der Linken muss man ja immer ein bisschen vorsichtig sein. Das stimmt schon. Zumindest bei den Grünen war aber schon eine große Übereinstimmung erkennbar. Ich will nur ganz kurz auf drei Punkte eingehen. Es geht bei der wirtschaftlichen Nutzung von Informationen aus der öffentlichen Verwaltung nicht nur darum, neuen wirtschaftlichen Nutzen zu generieren, sondern auch darum, Waffengleichheit herzustellen. In den 90er-Jahren – daran kann ich mich genau erinnern – gab es einen Kampf um die Geodaten. Die öffentliche Verwaltung – auch die bei uns in Sachsen – wollte Geodaten nie zur freien Nutzung durch die Unternehmen herausrücken. Damit war natürlich keine Chancengleichheit mehr gegeben. Das Nachsehen hatten im Allgemeinen die kleinen und mittleren Unternehmen, die keinen Zugriff auf solche Daten hatten. Ich denke, dass dieses Gesetz heute wirklich ein großer Fortschritt ist. In den USA geschah das Gegenteil. Da hat Google ganz einfach die Welt neu vermessen und mit Google Maps letztendlich den Standard gesetzt. Alle greifen nun auf diese Daten zu. Kommen wir aber nun noch einmal auf die Plattform GovData zurück. Auch Frau Zypries hatte sie erwähnt. Ich habe mir das einmal angeguckt. Da steckt – um das einmal vorsichtig auszudrücken – noch viel Verbesserungspotenzial drin. Es ist sehr kompliziert, in diesem GovData-Portal überhaupt zu navigieren. Man hat keine guten Suchmasken, um wirklich schnell dahin zu kommen, wohin man will. Zum anderen bin ich auch überzeugt, dass wir – natürlich auch politisch – versuchen müssen, entsprechenden Druck auf die Behörden auszuüben, dass sie ihre Daten auf die Plattform bringen. Wir haben schon viele dementsprechende Versuche gemacht. Sie sind aber eines schönen Todes gestorben, weil sie, was die darin enthaltene Information anbelangt, nicht mehr gepflegt wurden. Daraufhin sind sie in Vergessenheit geraten. Ich denke, dass wir hier gemeinsam – aufgrund des Föderalismus sind auch die Länder gefragt – vorgehen müssen. Wir verabschieden jetzt ein Gesetz, aber die Länder und Kommunen müssen ihre Daten dort einstellen. Hier muss man noch einmal an das Bundesinnenministerium appellieren, die gesamte Plattform handhabbarer bzw. nutzerfreundlicher zu machen. Weiter muss an die Behörden in Bund, Ländern und Kommunen appelliert werden, daran zu denken, ihre Daten dort einzustellen, weil das ein großer Vorteil ist. Ich komme zum letzten Punkt, nämlich zur Gebührenordnung; er ist hier auch schon verschiedentlich angesprochen worden. Meine persönliche Meinung dazu ist folgende: Die Daten in der öffentlichen Verwaltung werden mit Steuergeldern erhoben; denn die öffentliche Verwaltung wird aus den Steuereinnahmen finanziert. Deswegen kann aus meiner Sicht diese Plattform kein Modell sein, um Geld für die öffentliche Verwaltung zu akquirieren. Man kann sicherlich Schutzgebühren einführen, um den einfachen Missbrauch zu verhindern. Es darf aber nicht versucht werden, damit die Stadtkasse, die Landeskasse oder die Bundeskasse aufzufüllen. Das würde ich für völlig verfehlt halten; denn die gesamten Daten sind schon bezahlt. Sie sind schon auf Kosten der Allgemeinheit erhoben worden. Deswegen kann man nur sagen: Bei den Gebührenordnungen muss Maß gehalten werden. Zusammenfassend will ich sagen: Ich freue mich, dass wir hier heute ein Stück weiterkommen. Es wurde aber von allen Rednern gesagt, dass das lediglich der Anfang ist. Deswegen sollten wir sehen, dass wir schnell die nächsten Schritte folgen lassen und dass wir vor allen Dingen die Länder und die Kommunen in die öffentliche Diskussion einbeziehen, damit dieses Modell in Deutschland zum Erfolg geführt werden kann. Ich denke, das wird unseren kleinen und mittelständischen Unternehmen sehr helfen, wettbewerbsfähig zu bleiben. Ich hoffe auf große Zustimmung. Unsere Fraktion wird diesem Gesetzentwurf auf jeden Fall zustimmen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Informationsweiterverwendungsgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4844, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4614 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer ist dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen jetzt zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit angenommen, und zwar mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Tom Koenigs, Peter Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Stefan Liebich, Wolfgang Gehrcke, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Der Völkermord in Ruanda und die deutsche Politik 1990 bis 1994 – Unabhängige historische Aufarbeitung Drucksache 18/4811 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Widerspruch erhebt sich keiner. Dann ist diese vereinbarte Zeit so beschlossen. Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Kordula Schulz-Asche für Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in diesem Hause vor rund einem Jahr eine Debatte zum 20. Gedenktag des Völkermordes in Ruanda, 1994, geführt, die unser Bundestagspräsident, Herr Lammert, als „denkwürdig“ bezeichnete. Am Ende sagte er, es bliebe „das bittere Fazit, dass uns die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung … überzeugender gelingt als die konkrete Wahrnehmung unserer Verpflichtungen und Möglichkeiten zu dem Zeitpunkt, als die Ereignisse stattgefunden haben“. Leider ist es bis heute nicht gelungen, diesen Worten Taten folgen zu lassen. Der Völkermord in Ruanda war der schreckliche Höhepunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung. Aber spätestens ab 1992 wurde klar, dass die ruandische Regierung und die ihr nahe stehenden Extremisten Menschenrechtsverletzungen vorantrieben mit dem Ziel, die Bevölkerungsgruppe der Tutsi auszulöschen. Am Ende stand der Völkermord, die Ermordung von über 800 000 Menschen in weniger als 100 Tagen. Die Opfer waren Tutsi, aber auch gegen die Regierung opponierende Hutu oder Menschen, die sich vor die Tutsi stellten. Die Überlebenden leiden bis heute. Sie haben unser aller Solidarität und unsere Unterstützung verdient. (Beifall im ganzen Hause) In der Debatte in diesem Hause vor einem Jahr herrschte große Einigkeit darüber, dass die internationale Gemeinschaft in Ruanda in ihrer Schutzverpflichtung gegenüber einer von der Ausrottung bedrohten Bevölkerungsgruppe versagt hatte. Inzwischen haben sowohl die Vereinten Nationen als auch eine ganze Reihe von Ländern, die enge Partnerschaften mit Ruanda eingegangen waren und auch heute wieder eingegangen sind, versucht, aus den gemachten Fehlern zu lernen. Sie haben ihre eigene Verantwortung aufgearbeitet und Berichte vorgelegt. Dazu gehören zum Beispiel die Schweiz und Australien. Auch Frankreich und Belgien, die beide eine besondere Rolle in Ruanda spielten, haben Berichte vorgelegt. Aber auch dort werden immer wieder Rufe laut, die weitere Aufarbeitung von Fehlern, die damals in diesen Ländern gemacht worden sind, voranzutreiben. Es liegt jetzt nahe – auch hierüber herrschte im letzten Jahr in allen Fraktionen Einigkeit –, dass auch Deutschland als Teil der internationalen Gemeinschaft Verantwortung trägt, gerade als sehr guter und langjähriger Partner Ruandas. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Deutschland war nach dem Völkermord das erste Land, das wieder diplomatische Beziehungen zu Ruanda aufgenommen hat und dort wieder eine Botschaft eröffnet hat. Ich glaube, das war ein gutes und deutliches Zeichen an die Überlebenden, dass sie nach dem Völkermord nicht erneut im Stich gelassen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Aber wenn wir aus gemachten Fehlern lernen wollen und, wie ich finde, auch müssen, sollten wir uns nicht scheuen, uns unserer Verpflichtung einer sachlichen und fundierten Aufarbeitung zu stellen. Über ein Jahr lang haben einige Abgeordnete aller Fraktionen dieses Hauses versucht, einen gemeinsamen Antrag zustande zu bringen. Das ist bisher leider gescheitert, sodass wir heute als Grüne zusammen mit der Linken diesen Antrag allein einbringen. Ich möchte mich an dieser Stelle bei Stefan Liebich für die gute Zusammenarbeit ausdrücklich bedanken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) In diesem Antrag wird die Einsetzung einer unabhängigen interdisziplinären historischen Kommission gefordert, die das Handeln von deutscher Seite in den Jahren zwischen 1990 und 1994 untersucht und dafür den Zugang zu notwendigen Akten erhält. Nach wie vor sind sehr viele Fragen offen. Dazu gehören die diplomatischen Bemühungen, die in diesem Zeitraum stattgefunden haben. Dazu gehört der Umgang mit den Vereinten Nationen und den Blauhelmen. Dazu gehört das Versagen von Frühwarnsystemen, zum Beispiel in der Entwicklungszusammenarbeit. Dazu gehört sicher auch die Ablehnung von 47 Visaanträgen von Ruandern, die im Rahmen einer engen Partnerschaft mit Rheinland-Pfalz um Asyl gebeten hatten; um nur einige wenige Punkte zu nennen. Wir sind uns doch alle einig, dass in sich zuspitzenden Krisen die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ministerien und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, die Zusammenarbeit auf nationaler und internationaler Ebene für den Schutz der Zivilbevölkerung entscheidend sind. Warum also nicht Fragen zulassen, was schiefgelaufen ist und in Zukunft besser gemacht werden könnte? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Gerade angesichts der Vielzahl von Krisen, die auch heute die Welt, insbesondere die Region der Großen Seen in Afrika, betrifft, ist das von besonderer Bedeutung. Ich glaube, wir alle beobachten gerade mit sehr großer Sorge die Entwicklung in Burundi. Auch da haben wir natürlich Verantwortung und Verpflichtung, genau hinzuschauen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Es wäre auch vor diesem Hintergrund sicher ein gutes Zeichen, wenn es doch noch gelingen sollte, sich der eigenen Verantwortung und den eigenen Fehlern in Ruanda in den Jahren von 1990 bis 1994 zu stellen. Der Antrag enthält eine weitere Forderung, die mir sehr am Herzen liegt, nämlich die Einrichtung eines Rechtsfonds für die Zeugen, die in Völkermordprozessen aussagen. Überlebende von Völkermorden haben eine Vielzahl von Traumatisierungen erfahren. Sie sind körperlich und seelisch verletzt worden. Sie sind manchmal die einzigen Überlebenden in ihren Familien. Wenn wir als internationale Gemeinschaft wollen, dass die Täter von Völkermorden vor Gericht gestellt werden, dann brauchen diese Zeugen unsere Unterstützung. Diese Menschen werden oft in verschiedenen Prozessen vor verschiedenen Gerichten in verschiedenen Ländern als Zeugen angehört. Wir brauchen ihre Unterstützung, und sie brauchen unsere Unterstützung. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum wir die Initiierung eines solchen internationalen Rechtsfonds nicht fraktionsübergreifend zustande bringen sollten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Außenminister Steinmeier sagte am 4. April 2014, also vor etwas über einem Jahr, an dieser Stelle: Die eine Lehre, die an einem Gedenktag wie heute zu ziehen ist, die wir ziehen müssen, heißt: Niemals wieder! Und er fuhr fort: Wir schulden ihnen, – damit meinte er die Opfer – dass wir uns nicht dem Gefühl der Ohnmacht und schon gar nicht der Gleichgültigkeit hingeben, dass wir nicht nur anprangern, sondern das uns Mögliche tun, das in unserer Macht steht, um Völkermord zu verhindern. Das ist unsere Verpflichtung, und dieser Verpflichtung müssen wir gerecht werden. Das ist richtig und gut gesagt. Vizepräsident Johannes Singhammer: Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Redezeit? Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, ich komme zum Ende. – Wir werden uns als Deutscher Bundestag jeden April die Frage stellen müssen, ob wir das Mögliche getan haben und ob wir unserer Verpflichtung gerecht geworden sind. Wir haben im letzten Jahr eine denkwürdige Debatte geführt. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass den Worten auch Taten folgen. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Frank Heinrich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Völkermord, Genozid: ein Thema, das uns in diesen Tagen mit einer ganz aktuellen Wucht erreicht. Wir haben in der vergangenen Sitzungswoche, also vor zwei Wochen, des 100. Jahrestages des Völkermordes an den Armeniern mit seinen 300 000 bis 1,5 Millionen Opfern gedacht. Brutal wurden von den Osmanen ebenso Angehörige der christlichen Minderheiten der Aramäer, der Assyrer und der Chaldäer ermordet. Zwischen 100 000 und 250 000 dieser Menschen kamen ums Leben. Zynisch an dieser Debatte vor 14 Tagen mutete an, das Geschehen nicht als Völkermord zu bezeichnen – Sie alle können sich erinnern, wie das auch durch die Medien ging –, weil es den Begriff damals noch nicht gegeben hätte. Natürlich gab es erst 1948 die verbindliche Definition durch die Vereinten Nationen – ich zitiere die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes –, doch der Tatbestand an sich, die Absicht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, lag schon 1915 ohne Frage vor, auch wenn die Türkei – das ist ein Skandal – das bis heute so nicht anerkennen will. Doch kehren wir noch zusätzlich vor der eigenen Haustür. Morgen, am 8. Mai 2015, jährt sich zum 70. Mal der – so hat ihn Richard von Weizsäcker bezeichnet – Tag der Befreiung, der Befreiung vom größten Genozid der Historie. 6 Millionen Juden, darunter 1,5 Millionen Kinder, wurden von den Nazis erniedrigt, entwürdigt, vernichtet. Niemals zuvor gab es eine solche Maschinerie zur Vernichtung eines Volkes. Das begann bei der Sprache, der Nutzung von Wörtern, die Menschen mit Tieren verglichen, und ging über die Pseudowissenschaft eines Alfred Rosenberg mit seiner Rassentheorie bis zur akribischen Vorbereitung und systematischen technischen Umsetzung der sogenannten Endlösung, der Vernichtung der Juden. Dazu kam der Völkermord der Nazis an den Sinti und Roma. Über 100 000 dieser Menschen verloren ihr Leben. 1948 waren die Vereinten Nationen zum einen schockiert, zum anderen optimistisch. Mit der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes wurde ein Straftatbestand – meine Kollegin hat das eben auch erwähnt – geschaffen in der Hoffnung, Völkermorde verhindern zu können. Und doch kam es wieder zu Genoziden. Bereits der Völkermord im Nachbarland Burundi – die Vorgeschichte in der Region wurde schon angesprochen – durch die Tutsi an den Hutu forderte 100 000 bis 300 000 Tote. Manche nennen es auch die Wurzel für das, was dann 1990/1992 sichtbarer wurde, was erkennbar vorbereitet wurde und was 1994 in Ruanda geschah. In 100 Tagen – wir haben die Zahlen gerade gehört – töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit 800 000 Menschen, also etwa 75 Prozent aller in Ruanda lebenden Tutsi, sowie moderate Hutu, die sich nicht am Völkermord beteiligen wollten oder sich aktiv dagegen eingesetzt haben. Die internationale Gemeinschaft – das will ich wiederholen – hat damals vollkommen versagt. Das steht außer Frage. Das kam in der Debatte, die wir vor einem Jahr geführt haben, eindrucksvoll zum Ausdruck. Auch bei dem Massaker in Srebrenica, mitten in Europa, hat die Weltgemeinschaft mehr oder weniger zugeschaut. 1995 wurden 8 000 Bosnier getötet. So weit der Blick zurück, weil wir heute über Völkermord reden. Nun geht es in dem Antrag um die Rolle Deutschlands und vor allem um die Frage, welche Instrumentarien – das ist der Kern des Antrags – zur Prävention seither entwickelt wurden. Sie fordern unter anderem, zur Aufarbeitung in Deutschland eine unabhängige interdisziplinäre historische Kommission einzurichten. Dazu muss man aber auch wissen, dass ein Großteil der Aufarbeitung a) schon stattgefunden hat und b) in die Schaffung neuer Instrumentarien gemündet hat. Zwei unabhängige Gutachten zu Ruanda, 1998 und 1999 im Auftrag des BMZ gefertigt, haben dazu geführt, dass Empfehlungen umgesetzt wurden. Zudem erschien letztes Jahr, 2014, eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftung mit dem Titel „Deutschland und der Völkermord in Ruanda“. Das Bild zu zeichnen, wir würden keine Aufarbeitung betreiben, führt uns in die Irre. Wenn das die Intention war, dann muss ich Ihnen sagen, dass wir uns Ihnen nicht anschließen können. Zu den Instrumentarien schreiben Sie selbst in dem Antrag – ich zitiere –: Die Vereinten Nationen und einige Länder, die bilateral mit Ruanda zusammenarbeiteten, haben inzwischen ihre eigene Rolle in den Jahren vor und während des Völkermords vor 20 Jahren aufgearbeitet. Ich glaube, wir haben dabei nicht die schlechteste Rolle gespielt. Dies hat erheblich dazu beigetragen, internationale Instrumente der Frühwarnung und Prävention zu entwickeln. Besonders die Responsibility to Protect geht auf die Erfahrungen in Ruanda zurück. Das ist genau richtig, diese Meinung teilen wir. Deshalb gestatten Sie mir einen kurzen Blick auf die Instrumentarien, die seitdem entstanden sind, teilweise vor dem Hintergrund dieser Geschichte. Das Konzept der gerade genannten Schutzverantwortung, Responsibility to Protect, beinhaltet folgende drei Prinzipien: Erstens. Jeder Staat hat die Verantwortung, seine Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Zweitens. Die internationale Gemeinschaft hat die Aufgabe, Staaten in dieser Verantwortung zu unterstützen. Da kommen wir mit ins Spiel. Drittens. Die internationale Gemeinschaft muss angemessene diplomatische, humanitäre und friedliche Mittel anwenden, um Bevölkerungen vor diesen Massenverbrechen zu schützen. Wenn ein Staat zum Schutz seiner Bevölkerung nicht fähig ist oder selbst die genannten Verbrechen begeht, muss die internationale Gemeinschaft – wir – bereit sein, noch stärkere Mittel einzusetzen, inklusive der durch den Sicherheitsrat beschlossenen kollektiven militärischen Mittel. In diesem Fall geht die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft über. Deutschland ist Mitglied der sogenannten Freundesgruppe Responsibility to Protect und setzt sich für diese Umsetzung ein. Ich möchte noch einige weitere Instrumentarien kurz nennen. Mit dem Krisenfrühwarnsystem des BMZ werden Entwicklungen beobachtet und Veränderungen von der Bundesregierung aufmerksam registriert. Weiterhin gibt es das EU-Early-Warning-System, das Sie in Ihrer Rede vorhin zitiert haben. Schließlich gibt es die seit 2012 geltenden ressortübergreifenden Leitlinien für eine kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten. Meine Kollegin Frau Schäfer wird kurz darauf eingehen. Deutschland unterstützt die Vereinten Nationen an vorderster Front, was dies angeht. So wurde im Jahr 2004 der Posten des Sonderberaters zur Verhinderung von Völkermord eingerichtet, 2008 der Posten des Sonderberaters für Schutzverantwortung. Es sind also Dinge passiert. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht genug!) – Ich weiß; das will ich nicht in Abrede stellen. – 2010 formulierte Kofi Annan fünf Grundsätze: Informieren über bewaffnete Konflikte, Zivilbevölkerung schützen, Straflosigkeit beenden, klare und frühzeitige Warnungen aussprechen und schnell und entschlossen handeln. Auf die klaren und frühzeitigen Warnungen komme ich am Ende zurück; denn wir haben auch jetzt wieder Warnungen auszusprechen. Was das schnelle und entschlossene Handeln angeht, so ist das am meisten gescheitert. Hinzu kommt der UN-Aktionsplan vom Juli 2013. Darin stehen sechs Empfehlungen, die ebenfalls als Konsequenz der Ereignisse zu verstehen sind, die wir miterleben mussten. Unter anderem wird ein Menschenrechtstraining für alle Mitarbeiter und das gesamte Personal der Vereinten Nationen und eine Unterrichtung des Sicherheitsrates durch den UN-Generalsekretär über schwere Menschenrechtsverstöße empfohlen. Was leiten wir daraus als Forderungen oder Folgerungen ab? Wir stimmen da nicht genau überein; deshalb werden wir nicht zustimmen. Ich möchte meine Kollegin Sabine Weiss zitieren. Sie sagte: Eine der zentralen Lektionen des Völkermords in Ruanda ist es, wachsam zu sein und frühzeitig auf Fehlentwicklungen zu reagieren. – Das ist die Intention. So haben Sie auch am Schluss Ihrer Rede gesagt: Wir müssen hinschauen. – Deshalb müssen wir auch jetzt hinschauen. Es sind mindestens vier Regionen, auf die wir aufmerksam gemacht werden und in denen jetzt das Risiko besteht, dass wir wieder versagen, wenn wir nicht Verantwortung übernehmen: Ich nenne da die Zentralafrikanische Republik. In den Jahren 2013 und 2014 kam es dort zu ethnischen Säuberungen, Vertreibungen der muslimischen Minderheit. Ich rede vom Südsudan, wo Morde an Angehörigen der Zivilgesellschaft stattfinden. John Kerry hat letztes Jahr gewarnt, es gebe dort „verstörende Anzeichen“ ethnisch motivierter und gezielt nationalistischer Tötungen. Kerry weiter: Wenn diese andauern, stellt das die internationale Gemeinschaft vor ernste Herausforderungen hinsichtlich eines Völkermordes. Aktion – jetzt aktuell. Der Nordirak ist das dritte Beispiel: Morde, Massaker an den Jesiden durch den IS, Vertreibung ins Gebirge, Verschleppung von circa 3 000 Mädchen und Frauen. Ich nenne nicht zuletzt – da schließt sich der Kreis ein bisschen – Burundi. Die Lage in Burundi eskaliert. Am Dienstag dieser Woche hat dort das oberste Gericht nach erheblichen Einschüchterungen die verfassungswidrige dritte Kandidatur von Präsident Nkurunziza bei den Wahlen im Juni gebilligt. Gewalt macht sich inzwischen breit zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten. Circa 25 000 Menschen sind geflohen, die meisten davon nach Ruanda. Die internationale Gemeinschaft muss sich stärker engagieren, für faire und freie Wahlen eintreten und auf eine Deeskalation drängen! Danke für den Antrag, danke für das erneute Thematisieren auch ein Jahr nach dieser wirklich guten Debatte! Im Ziel stimmen wir überein, in der Form so nicht. Jetzt gilt es aber, Dinge umzusetzen und nicht wieder falsch oder zu spät zu reagieren, nicht zuletzt in den vier Fällen, die ich gerade genannt habe; denn die Instrumente dafür haben wir inzwischen in der Hand. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege Stefan Liebich. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Stefan Liebich (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Februar dieses Jahres ist Außenminister Frank-Walter Steinmeier nach Ruanda geflogen. Eine kleine Delegation des Bundestages hat ihn begleitet: Der Herr Kollege Diaby war dabei, Frau Schulz-Asche war dabei, Frau Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion und ich selbst auch. Wir haben dort in Kigali im Hôtel des Mille Collines übernachtet. Wahrscheinlich haben einige von Ihnen den Film Hotel Ruanda gesehen, einen Film, der sehr ergreifend ist in seiner ganzen Schrecklichkeit. Wenn man in diesem Hotel übernachtet, wo über tausend Menschen Zuflucht gesucht haben, dann hat man die Bilder immer wieder im Kopf und sie lassen einen nicht los. Das ist ein sehr seltsames Gefühl. Wir waren dann gemeinsam im Kigali Genocide Memorial Centre und haben dort einen Kranz niedergelegt, und wir haben uns vor den Überresten von über 250 000 Opfern verneigt. Das Gefühl, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind, lässt einen nicht mehr los. Herr Heinrich, in ebendiesem Museum wird an unterschiedliche Völkermorde erinnert. Sie haben einige davon erwähnt, aber einen nicht, an den dort auch erinnert wird – das ist mir in der Debatte zu dem Völkermord an den Armeniern aufgefallen –: den Völkermord, der an den Herero und Nama begangen wurde. Ich finde, dass die Bundesregierung mit der gleichen Konsequenz, mit der sie von den Türken die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern einfordert, hier auch zur eigenen Verantwortung stehen sollte. Davor schreckt die Bundesregierung bisher zurück. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Frage nach dem Warum des Völkermords in Ruanda müssen wir uns heute, 21 Jahre danach, stellen. Natürlich: Die Hauptverantwortung tragen die Täter in Ruanda und diejenigen, die diesen Völkermord geplant und organisiert haben. Mitverantwortung tragen – darüber haben wir hier gesprochen vor einem Jahr – jedoch auch die europäischen Kolonialmächte, die die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi festgeschrieben haben, um besser in ihren Kolonien regieren und diese ausbeuten zu können. Mitverantwortung tragen auch jene, die in Berlin, gar nicht weit von hier, Afrikas Grenzen mit dem Lineal gezogen haben, ohne jene zu fragen, die in diesen Ländern damals dort lebten. Mitverantwortung trägt Frankreich. Frau Schulz-Asche hat darauf hingewiesen: Frankreich hat die Genozidregierung unterstützt, als das Morden lief, und Frankreich leugnet bis heute seine Verantwortung. Verantwortung trägt die Weltgemeinschaft, die Ruanda in seiner dunkelsten Stunde alleingelassen hat. In Gesprächen mit ruandischen Abgeordneten habe ich gesagt, dass ich mich dafür schäme. Was hat das Ganze mit Deutschland zu tun? Wie konnte es geschehen, dass unser Land 1994 alle Signale, was passieren wird, nicht gesehen und nicht gehört hat? Die Beziehungen waren außerordentlich eng. Die Deutsche Welle war in Ruanda. Ebenso waren die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die politischen Stiftungen, die Kirchen, NGOs dort. Sogar Bundeswehrberater hatte Deutschland nach Ruanda entsandt. Warum haben das Kanzleramt, das Außenministerium, das -Verteidigungsministerium, das Innenministerium, das Entwicklungsministerium nichts von alldem gesehen? Wir fordern in unserem Antrag, dass alle dafür notwendigen Akten jetzt offengelegt werden. Warum ist nichts geschehen, obwohl es eine unwahrscheinlich enge Zusammenarbeit zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda gegeben hat und gibt? 650 Projekte haben beide Länder verbunden. Wie konnte es geschehen – Frau Schulz-Asche hat darauf hingewiesen –, dass damals die Visaanträge von 47 Ruandern abgelehnt wurden, obwohl Rheinland-Pfalz versprochen hatte, die Kosten zu übernehmen? Herr Heinrich, es ist noch nicht alles geschehen, was möglich ist. Das Auswärtige Amt sagt selbst, dass eine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung in Deutschland bis heute aussteht. Deshalb schlagen Grüne und Linke genau diese vor. Es geht hier nicht darum, -irgendwem Schuld zuzuweisen, sondern es geht tatsächlich darum, aus Fehlern zu lernen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen eine unabhängige historische Kommission. Sie haben hier das Thema „Responsibility to Protect“ erwähnt. Darüber könnte man jetzt länger diskutieren. Aber eines ist mir an der Stelle sehr wichtig – das gilt für alle Konflikte, über die wir im Moment reden –: Vor dem Einsatz von Militär steht die Responsibility to Prevent, also die Verantwortung, zu vermeiden, dass es überhaupt so weit kommt. Da haben wir in Ruanda -versagt, und da versagen wir leider bis heute in vielen Konflikten. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir hätten uns gewünscht, dass es hier einen Antrag aller Fraktionen gibt. Einen solchen haben wir bisher noch nicht. Aber der Antrag wird jetzt in die Ausschüsse überwiesen. Vielleicht können Sie von der Union und von der SPD noch über Ihren Schatten springen. Vielleicht ist es möglich, dass wir hier zu einem Konsens kommen. Wir sind dazu bereit. Sehr geehrte Damen und Herren, wir müssen aus unseren Fehlern lernen, damit so ein Verbrechen nie wieder geschieht. Ich denke, das sind wir den Hunderttausenden von Opfern schuldig. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriela Heinrich, SPD. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Gabriela Heinrich (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Genozid in Ruanda ist noch nicht lange her. Opfer, Täter, Zeugen, auch die Deutschen, die damals das Land schnellstmöglich verlassen mussten, erinnern sich an die Gräueltaten von 1994. Sie erinnern sich an die Menschen, die sie kannten und die sie nicht beschützen konnten. Sie fragen sich, wie natürlich auch viele andere, wie all das geschehen konnte und warum die internationale Gemeinschaft so versagt hat. Tatsächlich sind ja noch lange nicht alle Hintergründe dieses Versagens geklärt. UNAMIR, die Mission der Vereinten Nationen, wurde verkleinert, als der Völkermord schon in vollem Gange war. Im Vorfeld versagten internationale Organisationen, und die Berichterstattung tat den Krieg und die Massenmorde als Stammeskonflikt ab. Dieses Versagen der internationalen Staatengemeinschaft darf sich niemals wiederholen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Ich halte eine systematische historische Aufarbeitung von Konflikten und der deutschen Verantwortung und Reaktion auf diese Konflikte grundsätzlich für richtig. Zum Teil geschieht das bereits. Wie im Antrag zu lesen ist – auch Sie haben bereits darauf hingewiesen –, sind gerade in jüngster Zeit Wissenschaftler und Medien -damit beschäftigt, die Verbindungen Ruandas und Deutschlands in den 1990er-Jahren zu erforschen. Auf internationaler Ebene wurden aus dem Völkermord in Ruanda und aus dem Versagen der internationalen Gemeinschaft Konsequenzen und Lehren gezogen. Neuere UNO-Missionen erhalten oft robuste Mandate und legen den Schutz der Zivilbevölkerung als strategisches Ziel fest. Die Responsibility to Protect als internationale Norm der Vereinten Nationen ist eine weitere Lehre aus dem Völkermord in Ruanda. Wir haben gelernt, dass wir nicht wegsehen dürfen, wenn ein Land seine Bevölkerung nicht mehr schützen kann oder will. Wir tragen auch Verantwortung in der Prävention. Die Bedeutung der Krisenprävention als Aufgabe der deutschen Politik kann gar nicht genug betont werden. In der Großen Koalition haben wir die Mittel für den Zivilen Friedensdienst bisher stetig erhöht, zuletzt auf 39 Millionen Euro im Jahr. Die Vermeidung von Konflikten, die Versöhnungsarbeit, die Deeskalation – all das sind Bereiche, die wir weiter ausbauen müssen. Auch das ist eine Lehre aus dem ruandischen Völkermord. Meine Damen und Herren, es bleibt trotzdem unbefriedigend. Wir erinnern uns an den Völkermord in -Ruanda; wir haben heute schon eine Idee davon, wie der Genozid zu verhindern gewesen wäre. Wir müssen aber trotz der ganzen Erkenntnisse bei jedem Konflikt von neuem damit anfangen, zu analysieren, und uns entscheiden, was wir tun wollen. Die zentrale Frage ist hierbei: Wie übernehmen wir Verantwortung in einem bestimmten Konflikt? Ihr Antrag lässt das noch offen. Sie hoffen, dass neue Erkenntnisse der Kommission Antworten auf diese zentrale Frage hervorbringen. Ich bezweifle, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung zu solchen Antworten führt. Eine Kommission kann Schuldfragen klären; sie kann sogar individuelle Schuld klären, wenn die Archive geöffnet werden. Aber kann sie uns tatsächlich Handlungsanweisungen für aktuelle Krisen, Konflikte und Völkermorde liefern? Die Diskussionen über unsere Verantwortung, die auch wir Abgeordnete angesichts aktueller Krisen führen müssen, kann uns keiner abnehmen. Dafür gibt es kein Konzept. Spätestens dann, wenn wir über Waffenlieferungen und Blauhelmeinsätze, eingebettet in unsere -internationalen Verpflichtungen, entscheiden müssen, muss sich jeder und jede von uns fragen, welche Maßnahmen im Sinne der Responsibility to Protect Massenmorde und schwere Menschenrechtsverletzungen verhindern; denn die Responsibility to Protect endet eben nicht immer bei der Prävention. Da kommen wir nicht raus, wie viel wir auch immer historisch aufarbeiten mögen. Deutschland und Ruanda pflegen eine enge Partnerschaft mit sehr positiven Entwicklungen. Ruanda hat schon in der Vergangenheit sehr aktiv und völlig zu Recht seine eigenen Vorstellungen von der Entwicklungszusammenarbeit und der Arbeitsteilung benannt. Zuletzt ging es dabei zum Beispiel um Dezentralisierung, gute Regierungsführung und die Reform des öffentlichen Finanzwesens. Deutschland hat letztes Jahr insgesamt rund 70 Millionen Euro für die Zusammenarbeit in den nächsten drei Jahren zugesagt. Wir sollten die Frage der Aufklärung – vielleicht auch die unserer eigenen Verantwortung – da, wo dies noch nicht geschieht, stärker mit der Aufklärung in Ruanda verbinden. Wir dürfen nicht nur fragen: „Was hätten wir tun müssen?“, sondern wir müssen auch -fragen: „Was hätte Ruanda gebraucht, und zwar aus der Perspektive der Menschen in Ruanda? “ Ruanda selbst ist längst dabei, den Genozid aufzuarbeiten. Vielleicht brauchen wir eine stärkere Verknüpfung, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Wir müssen auch abklären, ob und in welcher Weise eine stärkere Unterstützung Deutschlands bei der Aufarbeitung des Genozids und weitere Hilfe für die Überlebenden gewünscht ist, auch im Hinblick auf die Zeitzeugen. Wir sollten ergebnisoffen in Erfahrung bringen, in welcher Weise Deutschland hierbei weiter unterstützen kann. Dies ist mit Sicherheit unsere Aufgabe. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Anita Schäfer für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem bereits so viel über die deutsche Politik zur Zeit des Völkermords in Ruanda gesprochen wurde, möchte ich die heutige Debatte um einen Blickwinkel aus diesem Land selbst ergänzen. Kürzlich hatte ich als Vorsitzende der Parlamentariergruppe Östliches Afrika die Gelegenheit, im Rahmen einer Delegationsreise in die Region auch Ruanda zu besuchen. Ein besonderer Schwerpunkt waren dabei natürlich die Lehren, die aus dem Völkermord gezogen wurden. Am beeindruckendsten war der Besuch der Genozidhauptgedenkstätte in Gisozi bei Kigali, wo ich stellvertretend für die gesamte Delegation einen Kranz am Grab von über 250 000 Opfern des Völkermordes niederlegte. Die Ereignisse von 1990 bis 1994 spielen aber bis heute in jedem gesellschaftlichen Bereich, in jeder politischen Facette des Landes eine Rolle. Bei diesem Aufarbeitungsprozess hat Ruanda bewundernswerte Erfolge erzielt, ganz besonders, wenn man bedenkt, dass bis heute Gefahren aus dem benachbarten Kongo drohen, wohin sich Teile der damaligen Hutu-Milizen zurückgezogen haben. Bei unserem Besuch hatten wir auch die Möglichkeit, ein Demobilisierungslager für ehemalige Kämpfer zu besuchen, eines der weltweit wenigen Beispiele für ein erfolgreiches Demobilisierungsprogramm, finanziert durch die Weltbank. Dort werden ehemalige Angehörige der Rebellengruppe FDLR, der sogenannten Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas, demobilisiert und auf ihre Reintegration in das Zivilleben vorbereitet, ebenso wie Exkämpfer anderer Gruppen und ehemalige Kindersoldaten, insgesamt etwa 12 000 seit Dezember 2001. Die Erfolgsquote liegt bisher bei insgesamt 86 Prozent. Bei diesem und allen anderen Programmpunkten ist unsere Delegation von hochrangigen Vertretern von Staat und Gesellschaft sehr herzlich aufgenommen worden. Sie haben uns den Versöhnungsprozess vor dem Hintergrund der ruandischen Geschichte erläutert. Erfolge in diesem Prozess sind demnach keinesfalls Selbstläufer gewesen. Im Gegenteil: Alle Beobachter hätten 1994 eine fortgesetzte Spaltung und Instabilität des -Landes vorhergesagt. Ruanda sei aber erfreulicherweise der seltene Fall, in dem sich die Realität besser entwickelt habe als die Prognose. Aufbauend auf einem politischen Konsens zwischen den Tutsi und den gemäßigten Hutu-Eliten habe man eine gewollte Politik des Ausgleichs, der Versöhnung, der Inklusivität, der Machtteilhabe und der Gerechtigkeit durchgesetzt. Ziel sei eine gemeinsame nationale Identität aller Ruander, bei der die Zugehörigkeit zur Gruppe der Hutu oder der Tutsi keine Rolle mehr spielt. So weit die ruandische Selbstbetrachtung. Zugleich wurden die Beziehungen zu Deutschland und die deutschen Bemühungen um eine Aufarbeitung der Vorgänge aus den 1990er-Jahren sehr gelobt. So hat Senatspräsident Bernard Makuza uns gegenüber vor -allem den Wunsch nach einer Verstärkung des Austausches und der Zusammenarbeit unserer beiden Parlamente geäußert. Als sehr junge Demokratie, deren Verfassung erst 2003 beschlossen wurde, wolle man ausdrücklich von den deutschen Erfahrungen im Versöhnungs- und Aufbauprozess nach Krieg und Wiedervereinigung lernen. Besondere Anerkennung fanden auch die Bewertung der FDLR als terroristische Organisation und das Vorgehen der deutschen Justiz gegen ihre Führungskader. So hatten die Verhaftung und das Gerichtsverfahren gegen die zwei FDLR-Anführer in Deutschland 2009 erhebliche Auswirkungen auf die Kampfmoral der Rebellen, von denen sich anschließend viele ergaben. Als Rheinland-Pfälzerin hat mich zudem das große Lob für die langjährige Entwicklungszusammenarbeit mit dem Partnerland Rheinland-Pfalz auf deutscher Seite sehr gefreut. Ich denke, alle Delegationsmitglieder können bestätigen, dass von ruandischer Seite uns gegenüber keinerlei Kritik an der Politik Deutschlands, damals oder heute, geäußert wurde. Wenn man den Antrag der Opposition liest, könnte man allerdings meinen, dass hier große Versäumnisse aufzuarbeiten wären. Dieser Bewertung kann ich mich nicht anschließen. Deutschland hat aus dem Völkermord in Ruanda und aus anderen Ereignissen der vergangenen beiden Jahrzehnte Konsequenzen gezogen. Zusätzlich zu dem, was der Kollege Heinrich vorhin schon erwähnt hat, gelten seit 2012 ressortübergreifende Leitlinien für eine kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten. Ein Austausch erfolgt nicht nur zwischen den zuständigen Ministerien, sondern auch mit Nichtregierungsorganisationen, etwa im Rahmen länderbezogener runder Tische. Auch in der Frage militärischer Einsätze zur Konfliktverhütung haben die Lehren aus den Gräueltaten in Ruanda und anderswo Folgen für die deutsche Politik gehabt. Vor fast genau einem Jahr haben wir hier im Bundestag über die Beteiligung der Bundeswehr an der EU-Übergangsmission in der Zentralafrikanischen Republik abgestimmt. Das Beispiel Ruanda, dessen Wiederholung es zu verhindern gelte, wurde damals von vielen Rednern genannt. Auch ich habe damals darauf hingewiesen, dass uns die Gefahr eines neuen Genozids in Afrika nicht egal sein könne. Mancher hat trotzdem gegen einen Militäreinsatz argumentiert, aber letztlich haben wir im Bewusstsein der Geschichte mit übergroßer Mehrheit zugestimmt. Daneben hat es natürlich auch eine wissenschaftliche Befassung mit der deutschen Ruanda-Politik der 1990er-Jahre gegeben, ohne dass die Wissenschaft dazu Vorgaben der Bundesregierung oder Anträge der Opposition gebraucht hätte. Bis heute drückt sich die enge Verbindung zwischen Deutschland und Ruanda in der bilateralen Beziehung und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit aus. Die Lehren, die es aus der Zeit des Völkermordes zu ziehen galt, sind in beiden Ländern gezogen worden und werden angewandt. Unser Blick muss nun nach vorne, auf die Gegenwart und die Zukunft, gerichtet sein, um Ruanda weiterhin auf seinem Weg zu Frieden, Versöhnung und Stabilität zu unterstützen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Vielen Dank. – Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Dr. Karamba Diaby, SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Karamba Diaby (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herero, Nama, Damara und San 1904 bis 1908 im heutigen Namibia, Armenier ab 1915, Srebrenica 1995 – dies sind nur Beispiele einiger vergessener Völkermorde, ethnischer Säuberungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich zitiere: Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal. Das sagte Elie Wiesel am Holocaust-Gedenktag vor 15 Jahren hier vor dem Deutschen Bundestag. Ich danke den Fraktionen der Linken und der Grünen für die Einbringung des heutigen Antrags zum Völkermord in Ruanda und zur deutschen Politik. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Dieser Antrag lenkt den Fokus auf unsere eigene deutsche Verantwortung. Er regt uns zur gewissenhaften Aufarbeitung an. Historikerinnen und Historiker sind sich darüber einig: Der erste Völkermord des vergangenen Jahrhunderts wurde an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika verübt. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Von wem? Von der deutschen Kolonialmacht, von deutschen Truppen. Ich meine, Deutschland hat eine besondere historische und moralische Verantwortung für Namibia. Sie wirkt bis heute nach. Deshalb müssen wir die deutsche Schuld und Verantwortung klar bekennen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vor zwei Wochen haben wir gemeinsam in der Armenien-Frage zu Recht von der Türkei erwartet, dass sie den Völkermord anerkennt, damit eine Aufarbeitung vorankommen kann. Das sollten wir eindeutig auch für die Herero und Nama tun. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Denn die Anerkennung ist ein Ausdruck des Respekts. Ich möchte daran erinnern, dass Willy Brandts Kniefall vor dem Ehrenmahl im ehemaligen Warschauer Ghetto ein Akt der Demut und ein Symbol für die Bitte um Vergebung für die deutschen Verbrechen war. Noch heute ist es unsere Aufgabe, Haltung einzunehmen und vor allem Verantwortung zu übernehmen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Als Menschenrechts- und Bildungspolitiker ist mir unsere Erinnerungskultur besonders wichtig. Vor einigen Monaten – das wurde von Herrn Liebich schon angedeutet – haben wir gemeinsam mit unserem Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Genozidgedenkstätte in Kigali besucht. Dort werden alle Völkermorde in einer Ausstellung nebeneinander abgebildet. Das ist ein gutes Beispiel. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Leider ist die deutsche Kolonialgeschichte nicht im öffentlichen Bewusstsein. Die deutsche Rolle in der Kolonialzeit ist Teil unserer Geschichte und muss bewusst Eingang in unsere Erinnerungskultur finden. Als deutsche Einwanderungsgesellschaft wollen wir eine lebendige und verantwortungsvolle Erinnerungskultur. Meine Damen und Herren, die Schule der Nation ist bekanntlich die Schule. Unser deutsches Geschichtsbuch muss auch die deutsche Rolle und die Auswirkungen der Kolonialzeit erzählen. Und: Wir sprechen heute über vielfältige deutsche Identitäten. Unsere Klassenzimmer sind bekanntlich vielfältig. Unsere Kinder müssen deshalb ihre eigene Geschichte in unserem deutschen Geschichtsbuch wiederfinden. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das verstehe ich unter lebendiger Erinnerungskultur. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, Sie haben recht: Wir müssen uns der deutschen Verantwortung stellen. Kein Völkermord darf im Erinnerungsschatten bleiben. Das sagte vor kurzem auch unser Bundespräsident. Ich danke Ihnen. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich diese Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4811 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der -Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. Dezember 2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. November 2011, 2077 (2012) vom 21. November 2012, 2125 (2013) vom 18. November 2013, 2184 (2014) vom 12. November 2014 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010, dem Beschluss 2012/174/GASP des Rates der EU vom 23. März 2012 und dem Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November 2014 Drucksache 18/4769 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Weil ich keinen Widerspruch sehe, ist auch das hiermit so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Niels Annen für die SPD das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Niels Annen (SPD): Sehr herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag berät heute in erster Lesung die Verlängerung der EU-Anti-Piraterie-Operation Atalanta an der Küste Somalias und am Horn von Afrika, an der sich Deutschland seit 2008 durchgehend mit Schiffen und zeitweise auch mit Aufklärungsflugzeugen beteiligt. Aktuell beteiligen sich 20 EU-Mitgliedstaaten und zwei Drittstaaten an der Operation, die auf dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen sowie – das ist bekannt – auf mehreren Resolutionen des UN-Sicherheitsrates fußt. Hauptaufgabe von Atalanta bleibt der Schutz der Seewege und vor allem des Seetransports der Schiffe des Welternährungsprogramms und der Friedensmission der Afrikanischen Union sowie die Bekämpfung von Piraterie und bewaffneter Seeräuberei vor der Küste Somalias und am Golf von Aden. Das alles klingt einigermaßen abstrakt. Aber wenn man sich einmal vergegenwärtigt, dass das Mandatsgebiet, das wir festgelegt haben, in etwa 24-mal die Fläche der Bundesrepublik Deutschland umfasst, bekommt man eine Ahnung von der Größe und der Komplexität der Aufgabe, die unsere Soldatinnen und Soldaten dort erfüllen. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle recht herzlich bedanken. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage in Somalia – das gehört zu einer solchen Debatte natürlich dazu; es würde auch gar keinen Sinn ergeben, darum herumzureden – hat sich nicht zu unserer Zufriedenheit entwickelt. Man kann auch sagen, dass sich die Sicherheitslage trotz des internationalen Engagements, der fortgesetzten Beteiligung auch deutscher Streitkräfte an der Überwachung im Rahmen der Operation Atalanta, aber auch trotz der beträchtlichen Friedensmission der Afrikanischen Union bisher nicht entscheidend verbessert hat. Ich muss Sie, glaube ich, nicht an die schrecklichen Bilder von fortgesetzten Anschlägen in Somalia erinnern. Al-Schabab, die größte und stärkste Terrormiliz, ist weiterhin in weiten Teilen des Landes aktiv. Sie ist zu Operationen fähig und führt sie auch aus. Wir haben auch gesehen, dass es längst nicht mehr nur Somalia ist, sondern dass auch die Nachbarländer Opfer dieses Terrors werden. Wir alle haben die Bilder von dem schrecklichen Angriff auf die Universität sicherlich noch im Kopf. Die Rahmenbedingungen für die Bekämpfung des Terrors und die Stabilisierung von Somalia bleiben ausgesprochen schwierig. Ich will einige Zahlen erwähnen: Im Jahre 2011 sind 250 000 Menschen in Somalia an Hunger gestorben. Rund 1 Million Menschen benötigen aktuell humanitäre Hilfe, davon allein 350 000 in der Hauptstadt. Hinzu kommen 1 Million Binnenvertriebene und schätzungsweise 1 Million somalische Flüchtlinge in den Nachbarländern. Meine Damen und Herren, für die Versorgung der somalischen Bevölkerung mit Lebensmitteln bleibt die Operation Atalanta zentral; denn die Versorgung erfolgt überwiegend auf dem Seeweg. Deswegen muss man an dieser Stelle darauf hinweisen: Seit Beginn der Operation Atalanta sind alle Schiffe des Welternährungsprogramms sicher nach Somalia eskortiert worden. Auch die Transporte der EU-Mission AMISOM werden geschützt. Das ist bei aller Sorge über die Lage in Somalia, die wir, glaube ich, teilen, ein wichtiger Erfolg. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Auch in dem anderen Kernbereich der Mission sind Erfolge zu verzeichnen. Im Jahre 2009 mussten wir noch 117 Piratenangriffe und 46 Entführungen von Handelsschiffen registrieren. Die Zahl ist auf 4 versuchte Angriffe im Jahr 2014 gesunken. Entführungen konnten seit 2012 komplett verhindert werden. Aktuell befindet sich kein Schiff mehr in der Hand somalischer Piraten. Die Zurückdrängung der Piraterie ist nicht zuletzt auf das -effektive Zusammenspiel von Schiffseignern und maritimer Präsenz von Atalanta zurückzuführen. Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss uns klar sein: Natürlich kann sich die Lage wieder ändern, kann Piraterie am Horn von Afrika wieder aufflammen. Auch deswegen ist die weitere Präsenz unserer Schiffe dort notwendig. Dass dies so ist, dass Piraterie aufflackern kann und dass es eine fragile Stabilität ist, die wir erreicht haben, hat nicht nur mit dem bewaffneten Terrorismus, sondern auch mit den Rahmenbedingungen – mit Armut, mit Verzweiflung, mit der Destabilisierung der staatlichen Strukturen, mit der Abwesenheit von Staatlichkeit in Somalia – zu tun. Ohne eine langfristige Verbesserung der Lebens- und Einkommensverhältnisse vor Ort wird Somalia auch weiterhin Rekrutierungsgebiet und Basis für Terrorismus und Piraterie bleiben. Auch vor diesem Hintergrund, meine Kolleginnen und Kollegen, hat Deutschland allein zwischen 2008 und 2013  313 Millionen Euro an Hilfsgeldern für Somalia zur Verfügung gestellt. Trotz dieser Hilfe wird man – das wissen wir, glaube ich, alle – nicht nur in den Gebieten, die jetzt von der al-Schabab befreit worden sind, sondern auch in den Nachbarstaaten, die unter der Last der Flüchtlinge leiden, mehr leisten müssen. Wir sind nicht so naiv, zu glauben, dass mit der Verlängerung der Operation Atalanta das Problem gelöst wäre. Aber ohne die Operation Atalanta würden uns die Rahmenbedingungen fehlen. Deswegen glaube ich, auch mit Blick auf die Krise in der gesamten Region – Stichwort „Jemen“; auch das muss man in der Debatte erwähnen – sagen zu können: Wir leisten einen Beitrag – nur einen, aber einen unverzichtbaren – zur Stabilisierung dieser Region, zur Versorgung der Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Deswegen bitte ich um Zustimmung. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Kollege Dr. Alexander Neu spricht jetzt für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Ja, die Operation Atalanta läuft seit 2008, also seit sieben Jahren. Ja, die Zahl der Piratenüberfälle geht seit einigen Jahren gegen null. Das ist richtig. Die Ursache aber, die sozioökonomische Not, ist bis heute nicht wirklich effektiv bekämpft worden. Würde man heute die Operation Atalanta einstellen, dann gäbe es morgen wieder Piraterie. Wie viele Jahre – vielleicht Jahrzehnte – soll die Operation Atalanta denn weiterlaufen? Darauf haben Sie keine Antwort. Es laufen ja sogar drei Missionen: Atalanta, EUCAP -NESTOR und EUTM Somalia. Alle drei Missionen haben den gleichen Grundcharakter: Sie sind militärisch ausgeprägt und wollen einen staatlichen Repressionsapparat aufbauen. Wollen! Geschafft haben sie das noch lange nicht. Erst seit 2013 gibt es ein UN-Projekt für den zivilen Aufbau, nämlich „Peace and Statebuilding Goal“, um den Staatszerfall in irgendeiner Art und Weise anzugehen. Allerdings ist dieses Projekt noch ausbaufähig, und ein Ausbau ist auch nötig. Auffällig ist in diesem Fall, aber auch generell das massive Ungleichgewicht zwischen zivilen Projekten und militärischen Abenteuern – immer wieder zugunsten der militärischen Abenteuer. Genau das ist der Haken westlicher Sicherheitskonzeptionen: das Primat des Militärischen plus Parteinahme zugunsten einer Konfliktpartei, einer Konfliktpartei, die den Interessen des Westens am besten dient. Der Nahostexperte Michael Lüders hat in seinem neuesten Buch mit dem Titel Wer den Wind sät vor kurzem die Frage gestellt, was westliche Politik im Orient anrichtet. Dort fragt Lüders – ich zitiere –: Gibt es eine einzige Intervention des Westens, die nicht Chaos, die nicht Diktatur und neue Gewalt zur Folge gehabt hätte? (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Balkan!) Lüders nennt Afghanistan, er nennt Irak, er nennt Somalia, er nennt Jemen, Pakistan, Libyen, Syrien. Ich glaube, man könnte diese Liste noch etwas verlängern. In der Tat: Keines der genannten Länder ist stabiler geworden. Im Gegenteil: Manche sind auch in die Steinzeit zurückgebombt worden. Das gilt nicht nur für die staatliche Infrastruktur; sondern auch für das Aufkommen einer Steinzeitideologie, des Islamismus. Der IS ist ein Produkt auch westlicher Interventionen. (Beifall bei der LINKEN) Lüders schreibt weiter – ich zitiere ihn –: Die westliche Politik glaubt an das Allheilmittel direkter oder indirekter militärischer Intervention – ohne Rücksicht auf Verluste. Westliche Politik verkündet Demokratie, verbündet Freiheit und Menschenrechte, akzeptiert aber Wahlergebnisse nur, wenn der Gewinner genehm ist. Ich glaube, das sagt eine ganze Menge über die westliche Politik gegenüber der südlichen Hemisphäre aus. Die wachsenden Flüchtlingszahlen und die wachsende Zahl von Toten im Mittelmeer sind der traurige Beweis für das Versagen der westlichen Sicherheitspolitik, (Beifall bei der LINKEN) ein Versagen, dem Hunderttausende, mittlerweile sogar Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind – und das sind keine Europäer. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wahrscheinlich glauben Sie das wirklich!) Der Glaube an das Militärische plus Doppelstandards in der Politik führen zur Verelendung und zum Tod in der dortigen Region. Und der Glaube an das Militärische plus Doppelstandards in der Politik erhöhen auch die Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland und in Europa. (Henning Otte [CDU/CSU]: Glaube, Liebe, Hoffnung!) Die deutsche Beteiligung am US-Drohnenterror via Ramstein gegenüber Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten stellt eine wachsende Gefahr für die innere Sicherheit dar. Die Bundesregierung schließt bis heute die Augen. Ja, sie leugnet sogar die Bedeutung der Ramstein Air Base der USA für den US-Drohnenterror. Nur: Wer mitmacht – und sei es nur die Duldung –, macht sich auch mitschuldig. (Beifall bei der LINKEN) Die Bundesregierung macht sich mitschuldig – politisch, rechtlich und auch moralisch. Daher fordern wir: Beenden Sie den Missbrauch des deutschen Territoriums für den US-Drohnenterror! Schluss mit der Kumpanei mit den USA! Schluss damit! Beenden Sie es! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Henning Otte [CDU/CSU]: Schwacher Applaus!) Im Übrigen ist der mit deutscher Unterstützung geführte Drohnenterror auch in Somalia aktiv. Der US-Drohnenterror torpediert den zarten Ansatz eines zivilen Aufbaus. Ich fasse zusammen: (Zuruf von der CDU/CSU: Nein, lieber nicht!) Das westliche Sicherheitskonzept ist ein Konzept für wachsende Unsicherheit und Chaos – global, aber auch für den Westen. Atalanta ist ein Bestandteil dieses Unsicherheitskonzeptes. Würde heute Atalanta beendet, würde morgen die Piraterie wieder beginnen. Wie viele Jahre und Jahrzehnte wollen Sie diese Operation auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – allein im kommenden Jahr werden 61 Millionen Euro dafür bereitgestellt; diese 61 Millionen Euro, die Sie zahlen und für solche Abenteuer ausgeben, fehlen woanders – und auf Kosten der Soldatinnen und Soldaten weiterlaufen lassen? Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN – Niels Annen [SPD]: Donnernder Applaus aus den eigenen Reihen!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung: Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es macht Sinn, nach diesem letzten irrlichternden Vortrag zur Sache zurückzukommen. Zur Sache ist zu sagen: Vor fünf Jahren lagen vor der somalischen Küste 47 Schiffe, entführt und festgehalten von somalischen Piraten. Mehr als 600 Seeleute befanden sich – diese hätten Ihren Vortrag hören sollen, Herr Kollege Neu – in Geiselhaft auf diesen Schiffen oder an Land und haben Wochen, nicht selten Monate unter menschenunwürdigsten Verhältnissen auf ihre Freilassung gewartet. Heute befindet sich kein Schiff mehr in der Hand von Piraten. In den Jahren 2014 und 2015 gab es bis zum heutigen Tag insgesamt vier versuchte Piratenüberfälle. Kein einziger war erfolgreich. Damit wurde der niedrigste Stand seit Beginn der Operation Atalanta erreicht. Was, wenn nicht dies, ist denn dann eine Erfolgsgeschichte eines friedenschaffenden Einsatzes der Europäischen Union und der Bundeswehr? (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Seit Beginn dieser Operation wurden insgesamt 179 Schiffe des Welternährungsprogramms und 121 Schiffe der internationalen Mission der Afrikanischen Union in Somalia ohne Zwischenfälle durch Einheiten von Atalanta nach Mogadischu begleitet. Auf 121 Schiffen des Welternährungsprogramms wurde bei ihrer Passage ein Sicherungsteam von Atalanta an Bord eingeschifft. Die Operation ist ein Erfolg und nicht die einzige, wohl aber die bei weitem sichtbarste Mission im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Der vor der Küste von Somalia liegende Golf von Aden ist die Haupthandelsroute zwischen Europa, der Arabischen Halbinsel und Asien. Diesen Seeverbindungsweg sicher und offen zu halten, bleibt unverändert eine wichtige Aufgabe internationaler Sicherheitspolitik und liegt in unmittelbarem deutschen Interesse wie auch im Interesse aller über See Handel treibenden Nationen. Die Marinen der EU-Staaten und der NATO-Staaten koordinieren gemeinsam mit den Marinen vieler anderer Länder, auch denen Chinas, Russlands, Indiens, Neuseelands oder Südkoreas, ihre Präsenz, um die Passage durch dieses Seegebiet sicherer zu machen. Allein an der EU-Mission Atalanta haben sich nicht nur EU-Staaten beteiligt, sondern unter anderem auch Norwegen, Montenegro, Serbien, Neuseeland und die Ukraine mit eigenen Beiträgen. Mit der geplanten Beteiligung Kolum-biens würde erstmals ein Partner aus Lateinamerika an Atalanta teilnehmen. Die immer noch schwach ausgeprägten staatlichen Strukturen in Somalia sind bislang nicht in der Lage, die Kontrolle über das Staatsgebiet, das angrenzende Küstenmeer und ebenso über den Golf von Aden effektiv auszuüben. Der Kollege Annen hat, wie ich finde, auf sehr anschauliche Weise die Probleme geschildert. Das hat ja nichts mit „Repressionsapparat“ zu tun, was wir eben gehört haben. Es geht darum, elementarste Grundformen von Staatlichkeit zu etablieren und daran zu arbeiten, dass sich Menschen ihres Lebens und ihres Eigentums sicher fühlen und langsam einen zivilen Wiederaufbau in diesem Land starten können. Repression wird nicht von den schwachen staatlichen Strukturen ausgeübt; Repression wird von kriminellen Banden, wird von Piraten, wird von Mördern ausgeübt, die versuchen, die rechtschaffene Mehrheit der Menschen in diesem Land zu terrorisieren. Das sind diejenigen, die Repression ausüben, und nicht die internationale Gemeinschaft. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Die zuletzt zum Glück niedrige Zahl versuchter Übergriffe auf Handelsschiffe darf in der Tat nicht darüber hinwegtäuschen, dass die für Überfälle auf See in der Vergangenheit verantwortlichen kriminellen Netzwerke an Land weiterhin intakt und in der Lage sind, die Sicherheit der Schifffahrtswege am Horn von Afrika zu bedrohen. Wenn man an diese Sache intellektuell redlich herangehen will, dann darf man Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Wir Europäer sind nicht an jedem Problem schuld, das irgendwo auf der Welt besteht. Wir tragen in vielen Fällen zur Lösung bei und sind nicht die Ursache der Probleme. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Solange der Rückgang der Piraterie nicht unumkehrbar ist – genau darauf weisen wir ja hin – und die Erfolge auf See noch nicht durch handlungsfähige staatliche Strukturen an Land gesichert werden können, bleibt die Präsenz internationaler Seestreitkräfte nach übereinstimmender Bewertung der EU und des VN-Sicherheitsrats weiterhin erforderlich. Vor diesem Hintergrund hält die EU an ihrem Engagement zur Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika weiterhin fest und hat ihr Mandat der Operation Atalanta bis Dezember 2016 verlängert. Obwohl der Schwerpunkt von Atalanta weiterhin der Schutz der Schiffe des Welternährungsprogramms, der AU-Mission AMISOM auf See sowie die Pirateriebekämpfung bleibt, erwähnt das Mandat auch ausdrücklich die Unterstützung für andere EU-Instrumente am Horn von Afrika als weitere Aufgabe im Rahmen freier Kapazitäten. Gerade darin kommt die Einbindung Atalantas in den umfassenden Ansatz der EU am Horn von Afrika sichtbar zum Ausdruck. Für die nachhaltige Stabilisierung und Entwicklung Somalias wird es aber in erster Linie auf die Instrumente der zivilen Konfliktnachsorge und der Entwicklungszusammenarbeit ankommen. Genau darin ist Atalanta eingebunden. Unsere Beteiligung an der Operation soll bis zum 31. Mai 2016 mit einer Reduzierung der personellen Obergrenze von 1 200 auf 950 Soldatinnen und Soldaten fortgesetzt werden. Mit dieser Reduzierung tragen wir den erreichten Erfolgen Rechnung, genauso wie der weiterhin vorhandenen Notwendigkeit, die Piraterie einzudämmen. Diese Reduzierung ist von daher auch aus militärischer Sicht folgerichtig. Das vorliegende Mandat bleibt im Wesenskern bei dem, was wir mit unseren Partnern schon für das letzte Mandat der EU vereinbart und in unser Mandat eingebracht haben. Wir wollen im Einklang mit unseren Partnern die Präsenz auf See aufrechterhalten, um den augenblicklich anhaltenden Abschreckungseffekt zu verstetigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind dabei nicht auf der Seite irgendeiner Partei dort, sondern es gibt dort autorisierte staatliche Strukturen, die es zu stärken gilt. Es gibt einen Partner in der Regierung, der auf uns Hoffnung setzt, der auf Kooperation mit den Nachbarn, auf Kooperation mit der internationalen Gemeinschaft setzt. Das ist nicht irgendein Partner, den wir unterstützen. Er ist für stetige staatliche Strukturen. Wir unterstützen ihn deswegen, weil wir letztlich bei unseren Einsätzen auf der Seite der Opfer und der Seite der Wehrlosen stehen, die geschützt werden müssen vor den Übergriffen von Mördern, von gewissenlosen Verbrechern, die die Menschen als Geiseln nehmen wollen, die nicht nur im politischen, nicht nur im übertragenen Sinne, sondern im wahrsten Sinne des Wortes die Menschen zu Geiseln machen wollen. Das dürfen wir in keiner Weise akzeptieren. Deswegen sind wir dort. So sollten wir es in Zukunft weiter halten. Dafür bittet die Bundesregierung um Ihre Unterstützung. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Die Aussprache wird jetzt fortgeführt durch den Kollegen Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär, Sie haben völlig recht: Nicht die Europäer sind an allem schuld, was auf der Welt passiert. Aber wenn europäische Trawler die Küstengewässer auch vor Somalia leerfischen und damit den Fischern das Überleben erschweren, dann hat das selbstverständlich etwas mit unserer Verantwortung zu tun. Das sollten wir auch sagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Natürlich sind die Raubfischerei und das Leerfischen der Meere in diesen Regionen der Welt ein Riesenproblem und eine Ursache für die Verelendung der Menschen. Deswegen muss man zugeben, dass Atalanta eine Sym-ptombekämpfung ist, aber eine notwendige und, wie ich finde, auch eine erfolgreiche. Es ist völlig zu Recht gesagt worden, dass es seit längerem schon Gott sei Dank keine erfolgreichen Piratenangriffe mehr gegeben hat. Das erspart unglaublich vielen Seeleuten Leid. Es ist notwendig, dass die internationalen Seewege frei sind. Für uns und meine Fraktion ist es das Wichtigste, dass gerade in einem so armen Land, in dem sich eine so unglaublich große humanitäre Katastrophe abspielt, die humanitäre Hilfe weiter ungestört durchgeführt werden kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege Dr. Neu, bei der Ursachenanalyse sind wir uns einig. Ich habe meinen Marx auch gelesen. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber du hast ihn verstanden!) Aber Sie müssen erst einmal erklären, wie Sie die 200 000 mangelernährten Kinder in diesem Land versorgen wollen. Erst dann können Sie sich um die Produk-tionsmittel weltweit kümmern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt bei Atalanta auch Fortschritte. Es gibt Veränderungen im Mandat. Es gibt eine Absenkung der Mandatsobergrenze. Es ist richtig, dass bei Raubfischerei endlich Daten gesammelt werden, mit denen man arbeiten kann, sodass man eine Grundlage hat. Das alles ist zu begrüßen. Wir haben uns vor zwei Jahren und auch im letzten Jahr enthalten, weil eine Landkomponente hinzugekommen ist, die aus unserer Sicht eine immense Eskalationsgefahr birgt. Auch wenn diese Komponente im letzten Jahr nicht zum Einsatz gekommen ist, wissen wir, dass sie eingesetzt werden kann. Das hat Potenziale für eine militärische Eskalation der Situation. 2013 fanden die Sozialdemokraten, dass wir damit recht haben. Wir enthielten uns, Sie haben abgelehnt. 2014 haben Sie gesagt: Ja, die Grünen haben recht; deshalb werden wir im nächsten Jahr dafür sorgen, dass die Landkomponente aus dem Mandat gestrichen wird. – Sie ist nicht herausgestrichen worden. Ich bin gespannt, wie Sie abstimmen werden. Wir werden uns weiterhin enthalten. Es ist einfach fragwürdig, wenn eine Option in das Mandat hineingeschrieben wird, aber nicht gesagt werden kann, -warum, und wenn vor allen Dingen potenzielle Eskala-tionsmechanismen nicht ausgeklammert werden. In Somalia gibt es selbstverständlich auch Erfolge: Al-Schabab ist ein Stück weit zurückgedrängt worden. Es gibt aber auch sehr verheerende Rückschläge: Immer wieder gab es Anschläge auf internationale Einrichtungen. Wir wissen, dass die Vereinten Nationen vor gar nicht allzu langer Zeit einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verloren haben. Wir sind mit unseren Gedanken bei den Familien dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und gedenken der Verstorbenen. Wir haben in diesen Debatten ein, wie ich finde, berechtigtes Ritual: dass wir immer den deutschen Soldatinnen und Soldaten für ihren Dienst danken. Weil wir sie entsenden, finde ich das richtig. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, gerade weil die Zeiten so schwierig sind und Somalia nicht das einzige Land ist, in dem das passiert ist, um darauf hinzuweisen, dass wir sehr dankbar sind für die unglaublich aufopferungsvolle Arbeit, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Vereinten Nationen in Ländern wie Somalia leisten. Das ist eine unglaublich große Leistung. Wir sind diesen Menschen zu Dank verpflichtet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn man Somalia stabilisieren will – bis dahin ist es noch ein ganz weiter Weg –, muss man fragen, welche Prioritäten man setzt. Die Priorität der Bundesregierung liegt zurzeit darin, dass sie sagt: 2016 wird gewählt. – Das kann man machen. Aber man muss auch wissen, dass von den für die humanitäre Hilfe in Somalia notwendigen Mitteln – das haben die UN berechnet – gerade einmal 11 Prozent zusammengekommen sind. Das beißt sich, und es ist angesichts dessen relativ wohlfeil, zu sagen: Nächstes Jahr müsst ihr gefälligst wählen, und wir werden schauen, ob wir bis dahin die notwendigen Mittel für die humanitäre Hilfe zusammenbekommen oder nicht. – Ich finde, es ist Aufgabe der Bundesregierung, einen Beitrag dazu zu leisten und bei den internationalen Partnern zu trommeln, damit die Gelder endlich zusammenkommen, damit dieses Land eine Chance hat, auf die Beine zu kommen. Zu Libyen fällt mir ein: Atalanta gilt ja als Modell für Libyen, als Beispiel, wie man in Libyen mit den Schleuserbooten umgehen könnte. Ich glaube, dass das in mehrfacher Hinsicht falsch ist. Zum einen wäre es falsch, weil die Flüchtlingsfrage nicht dadurch beantwortet werden kann, dass man Schleuserboote versenkt. Wir brauchen keine militärische Antwort, sondern politische Antworten. Ein solches Vorgehen wäre zum anderen auch deswegen falsch, weil niemand erklären kann, wie das militärisch funktionieren soll: Wie will man denn beurteilen, welches Boot ein Fischerboot ist, welches Boot ein Schleuserboot ist und welches Boot tagsüber ein Fischerboot und abends ein Schleuserboot ist? Vor allem aber wäre das vor dem Hintergrund dessen – so haben Sie es ja beschrieben –, was Atalanta bisher geleistet hat, nicht das richtige Signal. Ich möchte noch einen letzten Punkt bezüglich Somalia erwähnen. In den letzten Wochen sind – das wäre vor einem Jahr undenkbar gewesen – 5 000 Menschen nach Somalia geflüchtet. Somalia ist ein fürchterlich armes Land mit chaotischen Verhältnissen; aber die Menschen flüchten trotzdem aus dem Jemen nach Somalia, um zu überleben. Da kann man sich vorstellen, wie die Situation im Jemen sein muss. An dieser Stelle möchte ich Folgendes hinzufügen, wenn ich darf, Herr Präsident: Die Bundesregierung sollte diese ohrenbetäubende Stille endlich beenden und ihre Stimme erheben. Wenigstens sollte sie die Forderung des UN-Generalsekretärs nach einem sofortigen Waffenstillstand im Jemen und einem Stopp der Bombardements, mit denen das Land gerade in die Steinzeit zurückgebombt wird, unterstützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]) Auf diese Art und Weise hilft man dem Jemen nicht. Auf diese Art und Weise stabilisiert man die Region nicht. Erst recht hilft man auf diese Art und Weise nicht Somalia. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Der Kollege Philipp Mißfelder spricht jetzt für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Niels Annen [SPD]) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind gespannt zum Jemen!) – Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Kollegin Roth, ich habe am Dienstag mit Herrn Nouripour an einer Besprechung teilgenommen. Alle dort waren sich einig: Es gibt auf internationaler Ebene natürlich große Zweifel am Erfolg der saudischen Operation im Jemen, gar keine Frage. Aber wenn man so tut, als wäre das, was Saudi-Arabien gerade im Jemen macht, ganz falsch, dann möchte ich das zumindest richtigstellen. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal, was daran richtig ist!) – Jetzt warten Sie doch erst einmal ab, was ich zu sagen habe, Herr Kollege Nouripour, bevor Sie anfangen, hier herumzukrakeelen. Ich antworte erst. Dann können Sie immer noch etwas sagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war kein Herumkrakeelen, das war ein Zwischenruf!) Ich sage Ihnen ganz klar: Die Alternative war doch nicht, nichts zu tun. Die Frage beim Jemen war, ob man das vollständige Abgleiten dieses Landes in den islamistischen Terrorismus zulässt oder nicht. Das ist keine Mission, die wir in irgendeiner Form unterstützen oder wo wir operationell tätig sind. Vielmehr hat sich Saudi-Arabien entschlossen, dort, vor seiner Haustür, tätig zu werden. Das ist der Hintergrund dieser Diskussion. Das war die Alternative. Die Alternative war nicht, dass Deutschland in Saudi-Arabien anruft und sagt: Bitte, lasst das mal. – Die Entscheidung war schon getroffen worden, es zu tun. Sie wissen selber genauso gut wie ich, wie der außenpolitische Kontext dieser Entscheidung war, gar keine Frage. Dass das mit Atalanta gar nichts zu tun hat, liegt doch auch auf der Hand. (Beifall bei der CDU/CSU – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die fliehen gerade nach Somalia!) – Das hat nichts damit zu tun, überhaupt nichts! (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Die fliehen nach Somalia!) Im Übrigen hat von uns hier nie jemand den Anspruch erhoben, mit Atalanta die Probleme Afrikas zu lösen; Staatssekretär Brauksiepe hat das dankenswerterweise gesagt. Das machen wir auch nicht mit militärischen Maßnahmen. Das Gegenteil hat auch nie jemand von uns behauptet. Es ging bei Atalanta – deshalb finde ich es ziemlich wohlfeil, Atalanta in einen Zusammenhang mit den Problemen Afrikas insgesamt zu stellen – darum, die Handelswege und damit auch die vitalen Interessen Deutschlands als Exportnation zu sichern. (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Ja, genau!) Das wird mit Atalanta sehr erfolgreich getan. Deshalb setzen wir dieses Mandat auch fort und werben für die Verlängerung. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Schön, dass Sie das so sagen! Sehr ehrlich, Herr Mißfelder!) Dass wir uns mehr um Afrika kümmern müssen, dass wir die Probleme im Zusammenhang mit Krieg, Vertreibung und Flüchtlingswellen besser in den Griff bekommen müssen, liegt auf der Hand. Dass man da viel zu lange weggeschaut hat, ist doch auch klar. Es war aber auch in der rot-grünen Zeit so – das möchte ich hier einmal erwähnen –, dass man Deals mit nordafrikanischen Regierungen abgeschlossen hat. Das geschah in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, aber insbesondere während der rot-grünen Regierung: Otto Schily ist zu Gaddafi gefahren und hat – auch mit Zustimmung der Grünen – Deals mit ihm gemacht, um das Problem einfach abzuschotten und das Thema zu ignorieren. Jetzt, wo Gaddafi weg ist, kommen das Problem und die Schwemme zu uns. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was kommt zu uns? Die Schwemme? – Gegenruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Schwemme!) Das ist der tiefere Grund dafür, warum wir in der Vergangenheit damit nicht so häufig befasst waren. Deshalb müssen wir uns natürlich stärker um das Problem kümmern. Niemand von uns hat gesagt, dass man es militärisch lösen kann, sondern wir sind der festen Überzeugung, dass das nur über bessere Entwicklungskooperation bzw. wirtschaftliche Entwicklung geht. Das wurde hier klar gesagt. Dafür war die Bundeskanzlerin beim Sondergipfel der Europäischen Union. Wir sind dafür tätig. Es gibt da kein dröhnendes Schweigen, sondern da ist ganz viel Aktivität: seitens unseres Bundesaußenministers, seitens Gerd Müllers, unseres Entwicklungsministers, sowie auch vonseiten der Spitzenposition, also Angela Merkels. Ich finde, dass das auch richtig ist. Wir sollten die Regierung dabei unterstützen. (Beifall bei der CDU/CSU – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am Thema vorbeigeredet!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Atalanta ist eine erfolgreiche Mission. Wir haben oft die Schwierigkeit, dass viele Menschen in Deutschland – aus meiner Sicht sicher zu Recht – kritische Fragen stellen, die wir als Parlament hier auch diskutieren; denn viele Menschen in Deutschland sind grundsätzlich gegenüber Auslandseinsätzen der Bundeswehr sehr kritisch. Viele fragen: Warum soll Deutschland eigentlich eine so aktive Rolle spielen? Wir wollen nicht, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr ein reines Elitenprojekt sind, bei denen der Bundestag, abgekoppelt von der Stimmungslage in der Bevölkerung, über die Köpfe der Menschen hinweg entscheidet. Atalanta ist deshalb ein so gutes Beispiel, weil die Menschen dieses Mandat unterstützen, weil es in der Bundeswehr anerkannt ist, weil Aufwand und Nutzen in einem klaren Verhältnis zueinander stehen, weil man es gut begründen kann und weil wir in der Vergangenheit enorme Erfolge – nämlich das Zurückdrängen der Piraterie – erzielt haben. Das ist ein erfolgreiches Mandat. Deshalb werben wir für die Fortsetzung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Die Debatte wird durch den Kollegen Dirk Vöpel von der SPD fortgesetzt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dirk Vöpel (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrag der deutschen Marine zur EU-geführten Operation NAVFOR bzw. Atalanta gehört neben „Resolute Support“ und KFOR zu den großen Auslands-einsätzen der Bundeswehr. Das gilt für die Iststärke von knapp über 300 Soldatinnen und Soldaten. Es gilt trotz Reduzierung weiterhin für die Mandatsobergrenze, die künftig immer noch bei 950 Bundeswehrangehörigen liegen wird. Und das gilt auch für die Kosten: 61,1 Millionen Euro für ein weiteres Jahr Anti-Piraterie-Einsatz am Horn von Afrika. Das ist viel Geld. Aber es ist gut angelegtes Geld, weil diese Mission außerordentlich erfolgreich ist und einen hohen sicherheitspolitischen Ertrag liefert. Im Unterschied zu manch anderem Auslandseinsatz lässt sich der Grad der Zielerfüllung bei dieser Operation sehr leicht ermitteln. Noch vor wenigen Jahren galten die Gewässer vor den somalischen Küsten als die gefährlichsten der Welt. Angriffe von quasi soldatisch gedrillten und sehr professionell organisierten Piratenbanden auf die Zivilschifffahrt waren an der Tagesordnung. Diese Piraten hatten es dabei nicht nur auf die Schiffe und ihre Fracht abgesehen, sondern sie entführten häufig auch Besatzungsmitglieder, um Lösegelder zu erpressen. Die Situation eskalierte schließlich so weit, dass selbst die über die See transportierten Hilfslieferungen von UNO und Afrikanischer Union nach Somalia akut gefährdet waren. Heute können wir feststellen: Multinationale Operationen wie Atalanta und die NATO-Mission „Ocean Shield“ haben im Zusammenwirken mit den Seestreitkräften vieler anderer Nationen dafür gesorgt, dass die Piraterie rund um das Horn von Afrika drastisch zurückgegangen ist. Nach Angaben des Maritimen Büros der Internationalen Handelskammer, die seit 1992 ein rund um die Uhr besetztes Meldezentrum für Piraterie unterhält, ist die Zahl der registrierten Angriffsversuche von 237 im Jahr 2011 auf weniger als 10 im Jahr 2014 gesunken. Seit 2012 konnten die Piraten kein einziges Schiff dauerhaft unter ihre Kontrolle bringen. Der Hauptauftrag der Mission, der Schutz der Schiffe des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, konnte bisher zu 100 Prozent erfüllt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz dieser unbestreitbaren Erfolge: Entwarnung kann nicht gegeben werden. Es wäre reichlich verfrüht, wenn nicht gar naiv, anzunehmen, das Geschäftsmodell der somalischen Piratennetzwerke sei bereits endgültig zerstört. Die Piraten sind nicht weg, sie warten ab. Sie spekulieren darauf, dass die Intensität der Seeraumüberwachung und der Fahndungsdruck durch die internationale Gemeinschaft in absehbarer Zeit nachlassen. Mit anderen Worten: Die Situation ist unter Kontrolle, aber sie ist keineswegs unumkehrbar. Die Kluft zwischen der himmelschreienden Armut an Land und dem Waren- und Rohstoffreichtum, der Tag für Tag an der Küste vorbeischwimmt, ist einfach zu groß. Selbstverständlich dürfen wir die erfolgreiche Bekämpfung eines Symptoms nicht mit einer gelungenen Therapie der Ursachen verwechseln. Eine wirklich nachhaltige Lösung des Problems kann nicht mit militärischen Mitteln und auch nicht auf See erreicht werden. Das geht nur mit einer tiefgreifenden Verbesserung der humanitären Lage und der Lebensbedingungen der Menschen an Land. Das wussten übrigens schon die alten Römer. Bei der Bekämpfung der großen Seeräuberplage im Mittelmeer im Jahre 67 vor Christus setzte der römische Feldherr Pompeius zwar eine große Flotte ein und ließ auch einige Piratenführer ans Kreuz schlagen. Die viel wirksamere Maßnahme bestand aber in der Ansiedlung von 120 000 Seeräubern auf fruchtbaren Böden entlang der Südküste der heutigen Türkei – auf dass sie ein besseres Leben hätten, wie ein römischer Historiker schreibt. Man kann das durchaus als antike Variante eines umfassenden Ansatzes betrachten. Die Operation Atalanta ist Teil des umfassenden Ansatzes der EU. In diesem Sinne werden wir den Antrag der Bundesregierung auf Verlängerung des Mandats in den Ausschüssen beraten. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Fritz Felgentreu [SPD]: Viva Pompeius!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Vielen Dank, Herr Kollege Vöpel. – Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Florian Hahn (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Operation Atalanta ist eine Erfolgsgeschichte; das kann man gar nicht oft genug sagen. Die Zahlen sind eindrücklich. Während wir in der Hochphase der Piraterie, 2011, insgesamt 251 Piratenangriffe hatten und allein 30 Schiffe und 900 Menschen in der Gewalt der Piraten waren, gab es 2014 keinen einzigen erfolgreichen Piratenangriff mehr. Kein Besatzungsmitglied der verschiedenen Handelsschiffe war der Folter, den Quälereien der Piraten mehr ausgesetzt. Im Gegenteil: Alle Schiffe des Welternährungsprogramms haben ihre Bestimmungshäfen erreichen können. Atalanta trägt aber nicht nur zur Eindämmung der -Piraterie bei, sondern es stabilisiert eben auch ein krisengeschütteltes Somalia. Atalanta ist ein Leuchtturm, um zu veranschaulichen, wie europäische und internationale Zusammenarbeit funktionieren kann und wie wir in einem umfassenden vernetzten Ansatz eine fragile Region unterstützen können. Erfolge wie bei Atalanta sind keine Selbstverständlichkeit. Umso wichtiger ist es, dass wir diese erfolgreiche Mission nun nachhaltig fortsetzen. Ein vorzeitiges Ende, wie von den Linken gefordert, wäre fatal. Die kriminellen Strukturen an Land sind bei weitem noch nicht zerstört. Wenn wir jetzt gehen, werden die Piraten mühelos alte Muster wieder aufnehmen, die Zahl der Überfälle wird rapide steigen, und wir stehen wieder am Anfang unseres Engagements. Erst dann, wenn die Piraterie über einen längeren Zeitraum verschwunden ist, das heißt, wenn die organisierte Kriminalität darin kein attraktives Geschäftsmodell mehr sieht, kann sich die Region um das Horn von Afrika entwickeln. Wir wissen, was es bedeuten kann, militärisches, humanitäres Engagement zu früh zu beenden und ein instabiles Land sich selbst zu überlassen. Wir sollten diesen Fehler in Somalia nicht machen. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch die Handelsschifffahrer fordern, obwohl sie mittlerweile bewaffnete Sicherheitsteams an Bord haben, eine Verlängerung der Mission. Ich kann nur sagen: Bei einem derart großen Seegebiet von 3,7 Millionen Qua-dratkilometern ist der zusätzliche Schutz durch Atalanta unerlässlich. Aufgrund der Erfolge bei der Reduzierung von Piratenübergriffen ist jedoch eine erneute Reduzierung der Personalobergrenze auf 950 Soldatinnen und Soldaten möglich. Für den kommenden Zeitraum wird allein die Fregatte „Bayern“ den deutschen Beitrag übernehmen. Als Redner der CSU und bayerischer Abgeordneter möchte ich die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, einen besonderen Gruß an die Fregatte „Bayern“ zu senden. Wie Sie wissen, hat der Freistaat Bayern seit der Schiffstaufe 1994 die Patenschaft für die „Bayern“ übernommen, die uns daher in ganz besonderer Weise am Herzen liegt. (Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Hardt [CDU/CSU]: „Berlin“ und „Hessen“ vergessen wir auch nicht!) Die „Bayern“ ist im Rahmen des Einsatzes zurzeit dem Kommando eines schwedischen Konteradmirals unterstellt, der den Verband vom niederländischen Führungsschiff „Johan de Witt“ leitet. (Dirk Vöpel [SPD]: Die „Bayern“ auch!) Zum Verband gehören sechs Schiffe aus Frankreich, Italien, den Niederlanden, Spanien und Deutschland. (Dirk Vöpel [SPD]: Und Bayern!) – Und Bayern, ganz genau. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Die Operation Atalanta zeigt somit auf eindrucksvolle Weise, dass eine erfolgreiche Zusammenarbeit der wichtigsten Handelsnationen der Erde möglich ist. Der Schutz freier Seewege ist gerade für die etablierten wie auch für die aufstrebenden Wirtschaftsnationen in Europa, Asien und Amerika essenziell. Das liegt in unserem ureigenen Interesse. Die Operation Atalanta ist nicht nur ein gutes Beispiel für den Erfolg eines nationenübergreifenden Einsatzes, sondern auch für einen ressortumfassenden Ansatz. Unser Engagement am Horn von Afrika, ja für den ganzen Kontinent Afrika, kann nur erfolgreich sein, wenn unser gesamtes außenpolitisches Instrumentarium abgestimmt zum Einsatz kommt. In dieser Frage sind wir uns übrigens mit unseren europäischen Partnern einig. Mit ihrem umfassenden Ansatz für Somalia verfolgt die Europäische Union ebenfalls die Idee des integrierten Handelns. Dabei steht die Förderung afrikanischer Fähigkeiten und Verantwortungsübernahme im Mittelpunkt. Das militärische En-gagement dient als Rückversicherung zur See, die es der EU ermöglicht, verschiedene Instrumente komplementär zum Einsatz zu bringen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es darf eben nicht sein, dass die Menschen in Somalia immer nur sehen, wie der Wohlstand der Welt an ihnen vorbeifährt und das eigene Land in Armut und Hoffnungslosigkeit versinkt. Kriminalität und Piraterie können nur mit vereinten und umfassenden Kräften bekämpft werden. Wir sollten dazu weiterhin unseren Beitrag leisten. Atalanta ist ein Teil davon. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4769 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gute Arbeit in der Wissenschaft – Stabile Ausfinanzierung statt Unsicherheiten auf Kosten der Beschäftigten und Wissenschaftszeitvertragsgesetz grunderneuern Drucksache 18/4804 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Nicole Gohlke (DIE LINKE): Danke, Frau Präsidentin! – Kolleginnen und Kollegen! Die Linke hat das Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ heute auf die Tagesordnung gebracht, weil wir die neue Betriebsamkeit, die die Bundesregierung nach doch recht langer Zeit des Stillstandes jetzt endlich entfaltet, gerne mit ein paar guten Anregungen begleiten wollen, nicht dass wir am Ende wieder mit ähnlichen Halbherzigkeiten und Flickschusterei dastehen, wie wir es leider schon beim BAföG und auch beim Kooperationsverbot erlebt haben. (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Oh Gott, oh Gott!) Tatsächlich sind die Missstände im Wissenschaftssystem so groß, dass man sie nicht länger vom Tisch wischen kann: befristete Beschäftigung bei weit über 80 Prozent der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Vertragslaufzeiten von unter einem Jahr bei 50 Prozent der Beschäftigten, Teilzeit auf halben, Viertel- und Achtelstellen oder die Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren, weil man ein Kind bekommen hat und auf einer drittmittelfinanzierten Stelle ist. All das, Kolleginnen und Kollegen, macht Lebensperspektiven zunichte, und es erschwert gutes wissenschaftliches Arbeiten. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das muss man verändern. Wenn es schon so weit ist, dass sich sogar die Seehofer-Regierung in Bayern dazu genötigt fühlt, neue Grundsätze zum Umgang mit Befristungen vorzulegen, und das Präsidium der Max-Planck-Gesellschaft eine neue Richtlinie mit Nachbesserungen für Promovierende beschließt, dann müssen die Zustände wirklich schlimm und der politische Druck wirklich groß sein. Aber all diese neuen Richtlinien und Grundsätze lösen nicht das grundsätzliche Problem. Sie gelten nicht für alle Beschäftigtengruppen, es gibt rechtliche Lücken, und es sind wieder einmal nur freiwillige Selbstverpflichtungen. Nichts ist rechtlich verbindlich geregelt. Jetzt ist es an der Bundesregierung, endlich die Grundlagen für gute Arbeit in der Wissenschaft zu schaffen. Bringen Sie dabei endlich beide Aspekte zusammen, die dafür nötig sind, nämlich stabile Finanzen für die Hochschulen und die wissenschaftlichen Einrichtungen einerseits und die rechtlichen Voraussetzungen für gute Arbeitsbedingungen andererseits. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die letzten Jahre haben bewiesen, dass auf freiwilliger Basis nichts passiert. Im Gegenteil: Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz von 2007 ist sogar dazu benutzt worden, selbst das wissenschaftsunterstützende Personal zu befristen. Das muss man sich einmal vorstellen und auf der Zunge zergehen lassen: dass mittlerweile von der Hausmeisterei über die Verwaltung und die IT-Abteilung bis hin zur promovierten Wissenschaftlerin kaum jemand mehr eine unbefristete Stelle hat, weil die Leitungen sagen, das System müsse flexibel sein. Kolleginnen und Kollegen, was die einen flexibel nennen, ist für die anderen ein prekäres Leben und eine unsichere Zukunft, und es ist schlicht und ergreifend Ausbeutung. Das muss sich dringend ändern. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wo sie recht hat, hat sie recht!) Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz muss Mindeststandards für gute Arbeit definieren, mit Mindest-vertragslaufzeiten von Arbeitsverträgen, mit einer Verhinderung von Kettenbefristung, mit finanziell abgesicherten Qualifizierungsphasen und einer echten familienpolitischen Komponente. Wenn sich Ministerin Wanka dann mit Sätzen wie: „Befristete Beschäftigungsverhältnisse liegen in der Natur der Wissenschaft“, (Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Das ist so!) oder der Ansicht, dass die Einschränkungen von Befristungsmöglichkeiten mehr Schaden anrichteten, als dass sie Nutzen stifteten, in die Debatte einbringt, dann kann ich nur sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Nicht Flexibilisierung und Deregulierung, sondern hervorragende Arbeitsbedingungen ermöglichen wissenschaftliches Arbeiten auf hohem Niveau, und darauf muss eine Reform des Gesetzes abzielen. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen eine verlässliche und nachhaltige Finanzierung, gerade an den Hochschulen. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Dafür können Sie in den Ländern sorgen! Was machen Sie in den Ländern dafür?) Aber statt endlich die Unterfinanzierung zu beenden, gibt es wieder nur befristete Pakte. Nicht nur der Hochschulpakt 2020 ist wieder befristet und – man muss es sagen – leider unterdimensioniert. Auch sonst bleibt alles beim Alten, zum Beispiel bei der Exzellenzinitiative. Jetzt streitet die Große Koalition, was unter Exzellenz eigentlich zu verstehen ist. Während man bei der Union anscheinend gar nicht genug bekommt von Elite und die bisherige Spitzenförderung auf noch weniger Leuchttürme verengen will, sagt die SPD dann wirklich nett klingende Sätze wie: Man soll Spitze und Breite nicht gegeneinander ausspielen. (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Was ist daran falsch?) Das klingt sehr gut, ist aber nicht ehrlich; denn eines ist doch wohl klar: Wenn Sie die Breite nur unzureichend finanzieren, geht eine Entscheidung für Spitzenförderung natürlich zulasten der Breite. So viel Ehrlichkeit gehört dann schon dazu. (Beifall bei der LINKEN) Kommen wir zum Thema Planungssicherheit. Bis Dezember vergangenen Jahres war es unklar, ob es überhaupt mit dem Exzellenzprogramm weitergeht. Frühestens im nächsten Jahr wird dann der Rahmen klar sein. Dann müssen die Hochschulen 2017 wieder in einen Bewerbungs- und Wettbewerbsaktionismus verfallen, um an dringend benötigtes Geld zu kommen. Der entscheidende Punkt ist doch: Eine Finanzierung, die auf Pakte und auf leistungsorientierte Mittelvergabe setzt, verhindert Planungssicherheit. (Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Da sind die Länder gefragt!) Wir brauchen endlich eine öffentliche Grundfinanzierung. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Was machen Sie mit den BAföG-Millionen?) – Wenn Sie glauben, dass diese BAföG-Millionen unendlich vermehrbar sind, dann haben Sie ein Problem mit dem Rechnen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Sollen die sich vom Acker machen, die Länder?) – Was wollen Sie damit noch alles finanzieren? Unbefristete Stellen in der Wissenschaft, soziale Infrastruktur, studentischen Wohnraum, Kitaplätze? Das alles wollen Sie damit finanzieren? Entschuldigung, das ist wirklich nicht solide. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt soll es noch einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs geben. Es ist auf jeden Fall sehr ehrenhaft – das muss man erst einmal sagen –, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dass die SPD dem Koalitionspartner etwas abtrotzen will. Ich nehme an, das hat er nicht ganz freiwillig gemacht. Aber wenn man das einmal umrechnet, dann stellt man fest, dass mit den dafür geplanten Mitteln maximal 2 000 neue Stellen geschaffen und ausfinanziert werden können. Wenn wir nun sehr optimistisch annehmen, die geschaffenen Stellen würden wirklich unbefristet weiterlaufen, wären das dennoch weniger als 1 Prozent mehr unbefristet Beschäftigte an den Hochschulen. Das bedeutet schlicht: Es bleibt bei über 80 Prozent befristet Beschäftigten. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Nein!) Um es ganz klar zu sagen: Eine Offensive für den wissenschaftlichen Nachwuchs darf nicht am Ende zur Ausweitung befristeter Beschäftigung führen. Wir brauchen langfristige Stabilität, wir brauchen sie sofort und nicht erst in zwei oder drei Jahren. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Alexandra Dinges-Dierig für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Gohlke, ich versuche jetzt einmal, das Thema mehr in Gänze zu erfassen. Erst einmal vielen Dank, dass Sie den Antrag gestellt haben; denn er gibt uns die Möglichkeit, hier und heute dieses für den Standort Deutschland so wichtige Thema anzudebattieren. Es wird nicht die letzte Debatte sein, das wissen wir; denn wir stehen, wenn es darum geht, etwas mehr zu tun, erst am Anfang unserer Überlegungen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deshalb finde ich es gut, dass wir das jetzt hier am Anfang debattieren. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es war nicht die erste Debatte! Wir diskutieren das seit zwei Legislaturperioden!) Was mich in Ihrem Antrag ein bisschen erschreckt hat, war Folgendes: Wenn wir alles, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben, morgen umsetzen würden, dann würde sich das gesamte Wissenschaftssystem auf einen Schlag verändern, aber leider nicht zum Guten, sondern zum Schlechten. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich würde das ganz gerne an einigen Beispielen – neun Minuten sind zwar lange, aber doch wiederum nicht so lange – erklären. Zunächst zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Sie fordern in Ihrem Antrag eine Vertragslaufzeit von 24 Monaten für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Qualifizierungsphase ohne unbürokratische Ausnahmen. Sie fordern weiterhin – das hat mich dann doch ein bisschen zum Durchschnaufen gebracht – tatsächlich die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, die wir jetzt in einem Zeitraum von 12 oder auch 15 Jahren haben, aber eingeschränkt nach bestimmten Kriterien. Wissen Sie eigentlich, was das bedeutet, wenn Sie das in der Gesamtheit betrachten? (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das bedeutet Lebensperspektive!) Wenn ein junger Wissenschaftler oder eine junge Wissenschaftlerin seine bzw. ihre Promotion nicht in der Regelzeit abschließt und der Vertrag ausläuft, dann dürfte er bzw. sie in Zukunft nicht so einfach eine Verlängerung bekommen. Nur weil sich die Promotion verzögert, aus welchen Gründen auch immer, befinden sich diese jungen Wissenschaftler in einer völlig unsicheren Position. Und dann könnte es ja auch noch sein, dass irgendwann eine Anschlussbeschäftigung – sogar eine unbefristete – in Aussicht steht, zwischen der Promotionszeit und dem Beginn der unbefristeten Beschäftigung aber ein Loch entsteht. Für diesen Fall gibt es jetzt Überbrückungsverträge. Die wären nach Ihrem Modell nicht mehr möglich, die wären dann alle obsolet. Das geht nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Der nächste Punkt, den Sie fordern – immer noch in Verbindung mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz –: Sie wollen, dass mit ein und demselben Arbeitgeber nur noch zwei aufeinanderfolgende Verträge abgeschlossen werden dürfen. Das heißt also: Wenn jemand als Postdoc einen Vertrag hat und schon eine Verlängerung bekommen hat, wäre es für ihn nicht mehr möglich, für seine Universität Drittmittel einzuwerben, weil er selber keine Chance mehr hätte, einen Anschlussvertrag zu bekommen; denn das wäre der dritte Vertrag, und das wollen Sie verhindern. Jetzt frage ich Sie: Wir wollen doch, dass die jungen Wissenschaftler aus eigenem Antrieb heraus, mit eigenen Perspektiven ihre eigenen Forschungsprojekte -umsetzen. Das würden Sie mit den Regelungen, die Sie vorschlagen, verhindern. Das lassen wir nicht zu. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Diese jungen Wissenschaftler, diese jungen Wissenschaftlerinnen müssten sich einen neuen Arbeitgeber -suchen, müssten vielleicht den Ort wechseln, vielleicht haben sie inzwischen Familie; alles müsste umgemodelt werden. Ich denke, das ist kein Qualitätskriterium für gute Wissenschaft, sondern vernichtet Innovation und Wissenschaft. Die von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen sind strikt. Sie sagen ja ganz deutlich, dass Sie Flexibilität vermeiden wollen. Das bedeutet aber auch einen Abbau der Zuverlässigkeit, weil Starrheit keine Zuverlässigkeit bedeutet, sondern genau das Gegenteil. (Beifall bei der CDU/CSU) Unser Ziel, das Ziel der CDU/CSU – ich bin ganz sicher, den Koalitionspartner hier an meiner Seite zu wissen –, ist dagegen, mit der Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes die Qualifizierung des jungen Wissenschaftlers oder der jungen Wissenschaftlerin in den Mittelpunkt unserer Überlegungen zu stellen und den hierfür erforderlichen Zeitbedarf mit einem zeitlich passenden Arbeitsvertrag zusammenzubinden. Das sind unbürokratische und vertrauensvolle Verfahren, auf die jeder aufbauen kann, weil jeder genau weiß, was es zu erfüllen gilt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) So entsteht in meinen Augen Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit. Meine Damen und Herren, als wenn das nicht genug wäre, haben Sie, abgesehen von diesen Änderungen am Wissenschaftszeitvertragsgesetz, auch noch andere „Anregungen“ – das war Ihr Wort vorhin – gebracht. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Gute Anregungen!) – Sie hatten gesagt: „gute Anregungen“, richtig. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das darf man nicht vergessen!) Über diese „guten Anregungen“ und „gute Arbeit“ würde ich jetzt gerne mit Ihnen streiten. In meinen -Augen legen Sie die Axt an das gesamte System unserer Wissenschaft. Sie wollen die Spitzenforschung abschaffen; das sagen Sie wörtlich. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ich will eine Ausfinanzierung!) – Lassen Sie doch einmal das Geld weg; wir sprechen hier von Qualität. (Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD]) Sie wollen die Spitzenforschung abschaffen, Forschungseinrichtungen gängeln, Sie wollen das Grundgesetz uminterpretieren – man könnte auch sagen: aushöhlen –, indem Sie Verantwortlichkeiten von den Ländern zum Bund verschieben. Sie sägen damit an der Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Ist Ihnen das eigentlich bewusst? Ich glaube, nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie fordern eine gemeinsame Finanzierung. Ich bin ja bei Ihnen, dass wir als Bund auch etwas tun können. Sie könnten bei dieser Gelegenheit aber auch ruhig einmal ansprechen, dass für diesen Bereich die Länder die Hauptverantwortung tragen. In der Frage, wer was zu tun hat, haben wir eine ganz klare Zuordnung, und bei der sollte es auch bleiben. Unser Föderalismus hat sich bewährt: Wir stehen an der Wissenschaftsspitze, wir sind unter den Top Five der Wissenschaft auf der gesamten Welt. Die Arbeitsteilung, die wir bei uns haben, kann also so schlecht nicht sein. Deshalb sollten wir daran auch festhalten. Dennoch muss – das ist überhaupt keine Frage – der Bund auch steuern können. Die Frage ist nur, wie. -Darüber können wir streiten. Auf jeden Fall sollte er steuern können in den Dingen, wo es um die gesamte Gesellschaft oder um ein überregionales Interesse geht. Ich denke jetzt einmal an etwas, was uns letztes Jahr doch sehr beschäftigt hat. Es gab eine große Heraus-forderung für die gesamte Welt: Wir waren plötzlich konfrontiert mit einem großen Ausbruch von Ebola. Ebola ist keine neue Krankheit – wir kannten sie –, aber in diesem Maße wohl kaum. Jetzt war die Frage: Wie gehen wir vor? Welche Rolle spielt hier die Wissenschaft? Da muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Im Moment hat der Bund die Fähigkeit, zu lenken. Wir haben die -Möglichkeit, kurzfristig – über die Projektförderung des Bundes – Gelder für die Bewältigung solcher Herausforderungen einzusetzen. Die Projektförderung wollen Sie aber abschaffen. Gleichzeitig wollen Sie auch noch die Förderung exzellenter Forschung abschaffen. Das heißt, wir hätten in Zukunft gar keine Wissenschaftscluster zur Verfügung, die sich schon mit solchen Erkrankungen weltweit beschäftigt haben und denen wir sagen könnten: Im Rahmen einer Projektförderung bekommt ihr zusätzliches Geld. Seht einmal zu, ob ihr in kurzer Zeit Impfstoffe und Ähnliches entwickeln könnt! – Wenn die gesamte Grundlage wegbricht, so wie Sie es in Ihrem Antrag beschrieben haben, werden wir auf die Herausforderungen in unserer Gesellschaft nicht mehr reagieren können. Deshalb ist das für mich keine gute Anregung, sondern eine schlechte Anregung. Meine Damen und Herren, wir haben einen Antrag vorliegen, in dem ich an verschiedenen Stellen inhaltliche Widersprüche finde; ich will das nicht noch einmal aufmachen. Wir finden Gleichmacherei statt Spitzenforschung und Innovation. Die Rolle der Wissenschaft in Ihrem Antrag ist mir nicht klar. Die qualitativen Verbesserungen, die uns wirklich weiterhelfen, habe ich bei -Ihnen vergeblich gesucht. Ich habe den Antrag von vorne bis hinten und noch einmal von hinten bis vorne gelesen. Es gibt überhaupt keine Ansatzpunkte für qualitative Verbesserungen, und das ist schlecht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir wollen die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses breiter aufstellen. Bundesministerin Johanna Wanka hat mit ihrem Programm eines früheren Einstiegs in unbefristete Beschäftigung einen wichtigen Schritt getan. Wir werden das umsetzen. Wir werden unser Wissenschaftssystem dazu nicht auf den Kopf stellen; denn wir wissen, dass qualitätsfördernde Konzepte uns weiterbringen. Wissenschaft verändert sich von innen heraus. Wissenschaft verändert sich vor allem nur dann nachhaltig, wenn sie Impulse und verbesserte Rahmenbedingungen bekommt und mit ihren eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern neue Karrierewege umsetzen kann. Die Wissenschaft wird jedoch verkümmern, wenn Sie all das, was erfolgreich ist, beseitigen. Das gefährdet unseren Wissenschaftsstandort Deutschland, und das werden wir vonseiten der CDU/CSU nicht zulassen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Kai Gehring hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich freut, dass wir im Bundestag wiederholt über die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft sprechen. Mich ärgert aber richtig, dass wir wieder keinen Koalitionsantrag debattieren können (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) und Sie immer noch keine Novelle zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz vorlegen. Sie kündigen eine Novelle schon lange an, verschieben sie aber doch immer weiter nach hinten. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Wir haben doch noch zwei Jahre! – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Reicht Ihnen dieses Jahr?) Unser grüner Gesetzentwurf für eine Novelle zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz liegt seit einem Jahr vor. Worauf warten Sie eigentlich? (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Dass wir die CSU bewegen! – Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Gut Ding will Weile haben!) Die Rede der CDU-Kollegin Dinges-Dierig eben machte doch deutlich, wie uneinig die Koalition ist und warum Sie nicht zu Potte kommen. Da muss sich endlich etwas ändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]) Wir haben als Grüne im Bundestag in der letzten und in der vorletzten Wahlperiode Nachwuchspakte eingefordert. Die Forderungen wurden abgeschmettert. Seit wenigen Wochen gibt es jetzt nach vielen GroKo-Pirouetten zu Nachwuchskräften in der Wissenschaft endlich sogar Interviews von Frau Wanka und Koalitionsankündigungen. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Sagen Sie was zur Sache!) Mit dem Handeln warten Sie aber weiter. Ich sage Ihnen: Wahlgeschenke im Jahr 2017 (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: So lange wollen wir gar nicht warten!) kommen für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler von heute zu spät. Die Zeit, zu handeln, ist jetzt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Junge Wissenschaftler sind wichtige Ideengeber. Ihre Ideen entfachen soziale, ökologische und technologische Innovationen, und das sind die Quellen zukünftigen Wohlstands. Anstatt diesen Oasen wissenschaftlicher Kreativität endlich Sicherheit und Perspektiven zu verschaffen, schicken Sie einen Großteil des Nachwuchses in die Wüste, in die Wüste aus strukturellen Blockaden, Existenzsorgen und Zukunftsangst. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Aber wir haben schon eine Oase gefunden!) Die Koalitionskarawane zieht jetzt langsam los. Aber ob und wo sie ankommt, wissen wir nicht. Wir werden weiter Druck machen, damit sich endlich etwas tut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir treiben sie schon! Keine Sorge!) Die Probleme an den Hochschulen sind seit Jahren bekannt. Unkulturen zwischen Jugendwahn und Senioritätsprinzip, massenhafte Stückelverträge, wachsende Flaschenhalsproblematik, zu wenig Dauerstellen, das -alles steht zukunftsgerechten Karrierepfaden und konkurrenzfähigen Personalstrukturen im Weg, und das muss sich ändern. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Was macht Kretschmann in Baden-Württemberg?) – An Baden-Württemberg könnten Sie sich ein super Beispiel nehmen. (Martin Rabanus [SPD]: Wir können gern über Hessen reden!) Was da mit Theresia Bauer in der Hochschulpolitik passiert, sucht seinesgleichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Da wird doch nichts getan!) Frau Wanka ist dagegen blass. Nutzen Sie endlich die Gunst der Stunde! Sie haben sich hier vor Wochen wegen der Änderung von Artikel 91 b des Grundgesetzes abgefeiert, mit der Bund und Länder die Möglichkeit geschaffen haben, dauerhaft und institutionell in der Wissenschaftsfinanzierung zusammenzuwirken. Ja, dann machen Sie das doch! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur reden, sondern handeln!) Eine Verfassungsänderung ohne Konsequenzen ist keine Reform und bringt niemandem etwas. Es kann doch einfach nicht wahr sein, dass fast 90 Prozent der Verträge an den Hochschulen befristet sind, noch dazu teilweise unter einem Jahr. Faire Bedingungen, verlässliche Verträge und Planbarkeit sind wichtig für das eigene wissenschaftliche Arbeiten und auch für die Vereinbarkeit von Familie und Wissenschaft. Ich dachte, die Union wäre für die Familie. Ja, dann tun Sie da doch etwas! (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Hire and Fire in der Wissenschaft geht gar nicht. Dieses monströse Befristungsunwesen, das wir haben, muss gestoppt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sage auch sehr klar: Das Paket der Wissenschaftspakte hat das wissenschaftliche Personal allenfalls am Rande adressiert. Durch zu kurze Paktlaufzeiten wurden vor allem Lehrkräfte eingestellt und nicht Lebenszeitprofessuren geschaffen. Hier stehen Bund und Länder als größte Geldgeber von Grund-, Zweit- und Drittmitteln ganz klar in der Verantwortung. Von den Hochschulen und von den außeruniversitären Forschungseinrichtungen erwarten wir alle hier gemeinsam eine vorausschauende und eine aktive Personalentwicklung. (Dr. Simone Raatz [SPD]: Ja!) Gute Arbeit muss zum Selbstverständnis jeder Wissenschaftseinrichtung gehören. Unser Wissenschaftssystem benötigt jetzt dringend eine Dekade für den wissenschaftlichen Nachwuchs und einen Mentalitätswechsel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Dr. Simone Raatz [SPD]: Genau! Das haben wir schon umgesetzt!) Wir Grüne fordern einen neuen Vertrag mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs. Die erste Vertragssäule ist ein neues Nachwuchsprogramm. Wir wollen ein -Programm für mindestens 10 000 Nachwuchsstellen an den Hochschulen. Dazu gehören feste Stellen im Mittelbau, ab der Postdoc-Phase II und Juniorprofessoren mit Tenure Track – das ist ganz wichtig –, das heißt überwiegend zusätzliche und dauerhafte Stellen: für Professoren und neben der Professur. Unser Nachwuchsprogramm ist auf ein Jahrzehnt angelegt und sieht einen Aufwuchs vor. Damit geht es nicht an aktuellen Nachwuchsgene-rationen vorbei. Und es verbarrikadiert keine Karrieren für künftige Nachwuchsgenerationen. Beides ist dabei wichtig. Die zweite Säule unseres Vertrages mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs ist unsere Novelle zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz, die bekanntlich längst vorliegt – seit einem Jahr –, unter anderem mit generell zweijährigen Vertragsmindestlaufzeiten, mit einer Streichung der Tarifsperre, damit es bessere Verabredungen der Tarifpartner vor Ort geben kann, mit Familienkomponente. Es ist doch demotivierend, für die gleiche Aufgabe ständig das Personal auszutauschen. Daher muss es endlich mehr Dauerstellen für Daueraufgaben geben! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]) Ich appelliere an Ministerin Wanka, die dieser hochschulpolitischen Debatte – es ist heute unsere zweite – wiederum nicht beiwohnt, was ich wirklich als ein Armutszeugnis für eine Ministerin empfinde; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ich appelliere an die Regierung und die Koalition: Es ist jetzt Zeit für substanzielle und lebensnahe Verbesserungen, damit keine Potenziale von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mehr ausgenutzt oder verspielt werden. Legen Sie jetzt endlich konkrete Novellen vor! Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Gehring, Sie müssen Ihren Appell bitte in einen Satz fassen und einen Punkt setzen. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In meinem letzten Satz sage ich: Es braucht endlich einen Vertrag mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs, damit dieser mit Sicherheit gut forschen kann; denn wir wollen es im Wissenschaftssystem fair statt prekär! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Wir wollen die Befristung grüner Reden!) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Simone Raatz das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Simone Raatz (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gehring, Sie haben recht: Es ist nun fast ein Jahr her, dass die SPD-Bundestagsfraktion ein -Eckpunktepapier mit Forderungen zur Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes vorgelegt hat. Aber wie hat die Opposition – abgesehen von heute, mit Falten auf der Stirn und mit Nörgeln – darauf reagiert? (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Antwort der Grünen war ein von der SPD-Fraktion abgeschriebener Gesetzentwurf aus der vergangenen -Legislatur. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den haben wir zusammen gemacht! Ihre Vorgänger wissen das noch!) Wir haben hier vor ein paar Monaten darüber debattiert. Nun, fast ein Jahr später, liegt ein Antrag der Linken zum Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ vor. Prima! Sehr schön, dass auch Sie jetzt die große Relevanz des Themas für sich entdeckt haben. Daher freue ich mich, dass wir heute einen Antrag beraten, über den wir in der Sache parteiübergreifend – unserem Koalitionspartner müssen wir noch ein bisschen unter die Arme greifen – nahezu einer Meinung sind. Ich denke, das Thema ist es wert. (Beifall bei der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann kommt denn die Koalitionsinitiative?) – Ich bin am Anfang meiner Rede. Das wird schon alles noch. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Beifall des Abg. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]) Wir sind uns darin einig, dass unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler planbare und verlässliche Karriereperspektiven sowie attraktive Arbeitsbedingungen benötigen; das wurde heute schon von mehreren Rednern betont. Nur so gelingt es, dass wir die besten Köpfe in unserem Land halten und auch wettbewerbsfähig bleiben. Wir sind uns sicher darin einig, dass es nicht sein kann, dass über 80 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an unseren Hochschulen befristete Verträge haben, Frau Gohlke, noch dazu mit einer Laufzeit von unter einem Jahr bei über der Hälfte der Verträge. Das ist keine gute Situation. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können das ändern!) Wir sind uns auch darin einig, dass es nicht zielführend ist, dass selbst in unseren außeruniversitären Forschungseinrichtungen – das verstehe ich noch weniger als bei den Hochschulen – noch 2012 fast 60 Prozent aller Wissenschaftler befristet beschäftigt waren, davon viele sogar über Stipendien. Es ist gut und wichtig, dass sich diese Große Koalition endlich des Problems der prekären Arbeitsbedingungen in unserem Wissenschaftssystem annimmt und dies noch in dieser Legislatur mit entsprechenden Ergebnissen untermauern wird. Es freut mich, dass wir, die SPD-Bundestagsfraktion, mit unserem Eckpunktepapier die Debatte über den Umgang mit unserem wissenschaftlichen Nachwuchs maßgeblich angestoßen haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Was steht nun in unserem Eckpunktepapier? Für uns sind insbesondere drei Punkte bei der Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes wesentlich. Das ist erstens die Befristungsdauer eines Arbeitsvertrages, die sich am Qualifizierungsziel orientieren muss. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr richtig!) Das heißt, wenn für eine Promotion üblicherweise drei Jahre benötigt werden, dann erwarten wir, dass der Vertrag eine Laufzeit von drei Jahren hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Das betrifft zweitens die Drittmittelbefristungen, die an die Dauer der Drittmittelförderung bzw. der Projektlaufzeit zu koppeln sind. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Drittens sind wir der Auffassung – Frau Gohlke, hören Sie bitte genau hin –, dass das nicht wissenschaftliche bzw. das wissenschaftsunterstützende Personal, welches in der Regel Daueraufgaben übernimmt, im Wissenschaftszeitvertragsgesetz fehl am Platz ist. (Beifall bei der SPD) Hier sollten üblicherweise unbefristete Verträge abgeschlossen werden. Herr Gehring hat es schon gesagt: Zu Daueraufgaben gehören Dauerstellen. Ich denke, da sind wir uns einig. (Beifall bei der SPD) Wir können als Koalition stolz sein, dass seit der Veröffentlichung des SPD-Eckpunktepapiers in unseren wissenschaftlichen Einrichtungen viel in Bewegung geraten ist. Ich freue mich, dass das auch den Grünen und der Linken aufgefallen ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Boah! Unglaublich! Seit Jahren beantragen wir, und Sie lehnen es ab!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich hoffe, Sie merken, dass die Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes bei der Großen Koalition ganz oben auf der Agenda steht, (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wie konnten wir das übersehen?) und das nicht erst seit heute, auch nicht erst seit der Vorlage des abgeschriebenen Antrags bzw. des vorgelegten Antrags, über den wir heute debattieren. An den Details wird derzeit gearbeitet. Ich gehe davon aus, dass das geänderte Wissenschaftszeitvertragsgesetz zum 1. Januar 2016 in Kraft tritt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu Protokoll: Keiner klatscht bei der Union! – Gegenruf des Abg. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Vereinzelten Applaus gibt es!) – Ich spüre viel Zustimmung, auch von meinem Koalitionspartner; das freut mich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wo und wann?) Im vorliegenden Antrag heißt es treffend: Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ist nicht die alleinige Ursache für die prekären Beschäftigungsverhältnisse in unserem Wissenschaftssystem. Ja, das stimmt. Mit der Novellierung stellen wir insbesondere die Befristungspraxis wieder vom Kopf auf die Füße. Das alleine kann es aber nicht sein. Das ist nur ein Baustein, wenn es um das übergreifende Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ geht. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ein zweiter Baustein ist zum Beispiel der vierte Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs und akademischen Mittelbau – meine Kollegin Frau Dinges-Dierig ist schon kurz darauf eingegangen –, den wir bereits im Herbst vergangenen Jahres thematisiert und gefordert haben. Das äußerst Erfreuliche ist doch – und darauf sind Sie, Herr Gehring und Frau Gohlke, überhaupt nicht eingegangen; das hätte mich aber gefreut –, dass unsere Forderung erhört wurde. So konnten wir unsere geschäftsführenden Fraktionsvorstände davon überzeugen, über einen Zeitraum von zehn Jahren zusätzlich – ich betone: zusätzlich – 1 Milliarde Euro für unseren wissenschaftlichen Nachwuchs und akademischen Mittelbau zur Verfügung zu stellen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wir haben gerade vorgerechnet, was das bedeutet! Dann machen Sie eine andere Rechnung, wo Sie sagen, dass es mehr als 2 000 Stellen sind!) – Dass Sie sich nicht freuen! 1 Milliarde Euro für unseren wissenschaftlichen Nachwuchs, das ist doch toll. Das ist doch was. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dafür auch von dieser Stelle noch einmal einen ganz herzlichen Dank, insbesondere an Hubertus Heil und Michael Kretschmer, die sich ganz intensiv dafür eingesetzt haben. Ich finde, das ist ein tolles Ergebnis. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Unsere Vorstellungen zur Ausgestaltung des vierten Paktes haben wir vor zwei Wochen präsentiert. Im Wesentlichen geht es darum, dass sich unsere Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen endlich als gute Arbeitgeber verstehen, das Potenzial ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler frühzeitig erkennen und fördern sowie klare Perspektiven aufzeigen. Ich denke, Personalentwicklungskonzepte und attraktive Personalkategorien mit Tenure-Track-Option auch unterhalb der Professur sollten zukünftig selbstverständlich sein. Ich komme zum Schluss. Sie sehen, das Ergebnis von anderthalb Jahren Großer Koalition im Bereich „guter Arbeit in der Wissenschaft“ ist erstens eine anstehende Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes und zweitens 1 Milliarde Euro zusätzlich für den wissenschaftlichen Nachwuchs und akademischen Mittelbau. In den nächsten Monaten geht es nun um die konkrete Ausgestaltung des Paktes und um die Abstimmung zwischen Bund und Ländern. Sie alle sind herzlich eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin Dr. Claudia Lücking-Michel. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Tatsächlich, wir diskutieren heute schon zum zweiten Mal im Plenum über ein ganz wichtiges Thema der aktuellen Wissenschaftspolitik. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Auf Initiative der Opposition!) Es geht um die Zukunftsperspektiven für Nachwuchswissenschaftler und – das haben wir schon gehört – auch um die Zukunft Deutschlands als Forschungsstandort. Ich möchte auf vier Punkte Ihres Antrags eingehen, nachdem wir vieles bereits angesprochen haben: Erstens. Das heikle und große Thema Befristungen. Ich will einmal sagen: Befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft sind für mich nicht per se Teufelszeug, sondern bringen eine Dynamik in das Wissenschaftssystem, die notwendig ist. Da hat Frau Ministerin Wanka recht. (Beifall bei der CDU/CSU) Ein Wechsel von Personal und Veränderungen sind nötig, um Innovationen und einen kontinuierlichen Austausch von Ideen sicherzustellen. Diese Dynamik sollten wir nicht mehr als nötig beschneiden. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Die Menschen können trotzdem wechseln; das steht ihnen frei! Da muss man sie nicht schlecht beschäftigen!) Ein Zweites kommt hinzu; auch das unterscheidet sich sehr von Ihrem Ansatz. Ich sehe die Arbeitgeber im Wissenschaftsbetrieb eher als verantwortliche Vorgesetzte denn als moderne Sklaventreiber. Ich denke, dass die Forderung im Antrag, feste Mindestvertragslaufzeiten per Gesetz zu definieren, in die falsche Richtung geht. Frau Kollegin Dinges-Dierig hat gerade schon viele Fälle dargestellt. Wir sollten uns nicht anmaßen, für all die vielfältigen Wege, auf denen wissenschaftliche Qualifizierung verläuft, von Berlin aus arbeitsrechtliche Vorgaben zu machen. Es ist vielmehr die Aufgabe jedes Arbeitgebers, optimale Arbeits- und Forschungsmöglichkeiten zu schaffen und auf die Vielfalt von Karrierewegen und Lebenssituationen flexibel zu reagieren. Aber natürlich – ich bin ja nicht blauäugig – stimmt es: Diese Verantwortung nehmen nicht alle Vorgesetzten gleichermaßen wahr. Es stimmt: Die Befristung der Verträge von wissenschaftlichem Personal sollte nicht zu oft hintereinander und zu kleinteilig über kurze Zeiträume erfolgen. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Aber bei 90 Prozent kann man nicht von Verantwortlichkeit reden! Wie kommen denn die 90 Prozent zustande?) In der Union setzen wir auf ein anderes Konzept statt auf Regelungswahn. Wir setzen auf positive Anreize und auf die Verantwortung der Vorgesetzten. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das hat doch nicht geklappt!) Das kann man unterstützen und fördern, zum Beispiel durch ein Audit oder ein Siegel und durch positive Anreize. Solch ein Audit sollte festhalten, welche Auswahlprozesse und welche Aufstiegsmöglichkeiten gelten und welche Anforderungen es an Dauerstellen gibt. Es sollte auch transparente Pläne für eine Gesamtpersonalentwicklung einfordern. (Beifall bei der CDU/CSU) Das Konzept kann man auch durch Anreize unterstützen, zum Beispiel durch die Milliarde Euro – sie wurde schon genannt – für die Etablierung neuer Karrierewege, für ein großes Tenure-Track-Programm, aber auch für Karrierewege unterhalb der Professur, für unbefristete Stellen im Mittelbau. Aber dafür muss auch von der Länderseite Verantwortung übernommen werden. Damit bin ich beim zweiten Punkt Ihres Antrages. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Beim zweiten erst? Oje!) Die Fraktion Die Linke will wieder einmal das System der Wissenschaftsfinanzierung grundlegend ändern und fordert schon wieder eine verstetigte Finanzierung durch den Bund. Wir haben es heute Nachmittag schon einmal gehört, und wir haben es gerade gehört – aber anscheinend muss man es immer wieder betonen, damit es auch bei den Letzten ankommt –: Der Bund hat mit der BAföG-Entlastung dauerhaft rund 1,2 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und offengehalten, was die Länder damit finanzieren sollen!) Das ist Geld, mit dem die Länder Stellen schaffen können. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ging darum, die Grundfinanzierung der Hochschulen wirklich zu verbessern. Die Möglichkeiten dazu haben sie jetzt. Ab 2016 kommt hinzu, dass der Bund auch den Haushaltsaufwuchs der außeruniversitären Forschungseinrichtungen komplett übernehmen wird – noch mehr Geld, mit dem die Länder dann neue finanzielle Spielräume haben, um die Hochschulen zu finanzieren. Drittens. Ein ganz wichtiger Punkt kommt auch in Ihrem Antrag vor: Frauen sind in wissenschaftlichen Führungspositionen unterrepräsentiert. Ja, das darf nicht so bleiben. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die einer ausgewogenen Besetzung der Stellen mit Frauen und Männern zuträglich sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Weg dahin liegt aber aus meiner Sicht nicht in einer festen Quote von 50 Prozent weiblicher Neubesetzungen all dieser Stellen, wie Sie es in Ihrem Antrag vorschlagen haben. (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Das Prinzip ist richtig!) Ich frage Sie, wie Sie sich das vorstellen: Was ist die Bezugsgröße für diese Quote? (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Es geht ja um eine Zielgröße!) Gilt sie hochschulweit oder nach Fachbereichen? Dabei haben wir längst eine, wie ich finde, sehr sinnvolle Methode und Vorgabe für die Verbesserung des Verhältnisses von Männern und Frauen, und zwar sowohl in den Forschungseinrichtungen als auch an den Universitäten. Ich meine das Kaskadenmodell. Das ist etwas anderes als eine feste Quote. Es trägt nämlich den Gegebenheiten in den jeweiligen Institutionen bzw. den Fachkulturen Rechnung. Es setzt das Prinzip der Bestenauslese gerade nicht außer Kraft und nutzt die Potenziale aus, die die jeweils vorherige Karrierestufe bietet. Ich bin mit den Veränderungen, die das Kaskadenmodell bisher gebracht hat, nicht zufrieden. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da stimmen wir Ihnen zu!) An vielen Stellen ist es zu langsam, (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da haben Sie recht!) wenn es darum geht, mehr Frauen in Führungspositionen zu etablieren. (Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD]) Das heißt, wir sind nicht davon entbunden, die Ursachen noch einmal genauer in den Blick zu nehmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Was die Ursachen angeht, sind mehrere zu nennen, zum Beispiel nach wie vor das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“. Dafür braucht es bessere Lösungen; da stimme ich Ihnen zu. Familienfreundliche Arbeitsbedingungen sind die Voraussetzung dafür, dass junge Eltern gleiche Chancen auf Karriere haben. Das würde Frauen entschieden helfen, aber auch jungen Vätern, den Männern. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wer aber meint, damit sei die Frauenfrage schon angemessen adressiert, dem muss ich sagen: Wir müssen darüber hinaus weiterhin die Berufungspolitik in den einzelnen Einrichtungen in den Blick nehmen und schauen, wie sie im Hinblick auf Frauen betrieben wird: Welche Verfahrensstandards werden vorgegeben? Mentoringprogramme sind hilfreich. Es geht darum, die Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen insgesamt zu erhöhen und die Leistung zu verbessern. Ich will einen vierten und letzten Punkt nennen, der in Ihrem Antrag vorkommt. Seit es die Exzellenzinitiative gibt, fordert die Linke deren Abschaffung. Damit zeigen Sie, dass Sie aus Erfahrung offensichtlich nicht klug werden wollen. Die Exzellenzinitiative hat wissenschaftliche Leistung aus Deutschland international verstärkt sichtbar gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie hat es ermöglicht, Spitzenkräfte aus aller Welt nach Deutschland zu holen. Sie finden hier attraktive Forschungs- und Arbeitsbedingungen. Die internationale Seite kommt in Ihrem Antrag mit keinem Wort vor. Das ist eine sträfliche Vernachlässigung; (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) denn Wissenschaft hört nicht an Ländergrenzen auf. Nur durch die Honorierung exzellenter Forschungsleistungen auf internationalem Niveau halten wir beim großen Wettbewerb um beste Talente und innovative Ideen wirklich mit. Zum Schluss lege ich Ihnen Konrad Adenauer ans Herz – nicht nur, weil ich aus seinem Wahlkreis kom-me –: Niemand hindert Sie daran, über Nacht klüger zu werden. Machen Sie was draus! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Martin Rabanus hat für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Martin Rabanus (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, die Debatte hat deutlich gemacht, dass wir anhand dieses Antrags ein grundsätzlich wichtiges und richtiges Thema diskutieren. Der Antrag geht allerdings in die völlig falsche Richtung; auch das ist an der einen oder anderen Stelle der Debatte schon deutlich geworden. Ich will das an wenigen Punkten noch einmal pointieren: Da liest man auf Seite 2 des Antrags unter anderem, der Hochschulpakt 2020 und die Exzellenzinitiative seien wesentliche Ursachen der prekären Situation im Wissenschaftsbereich. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen, (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: So steht es nicht drin!) auch im Lichte der Diskussion, die wir heute Mittag geführt haben, und auch im Lichte der Tatsache, dass es ohne den Hochschulpakt und ohne die Exzellenzinitiative überhaupt nicht möglich gewesen wäre, die Herausforderungen, vor denen wir in den letzten Jahren im Wissenschaftssystem und an den Hochschulen standen, zu meistern. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das ist ein Einstieg, den dieser mit der heißen Nadel genähte, ein Sammelsurium beinhaltende Antrag liefert, mit dem Ziel, sozusagen ein bisschen Anschluss an die Diskussion zu finden, die in der SPD, die in der Koalition insgesamt zu diesem Thema längst läuft. (Beifall bei der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Womöglich hat das etwas mit der Opposition zu tun! – Gegenruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Es war eine Oppositionsrede, die du gehalten hast!) Ich kann auch gut verstehen, dass die Antragsteller die Bedeutung der Exzellenzinitiative und vor allen Dingen des Hochschulpakts für das Hochschulsystem nicht an erster Stelle sehen; denn sie sind die einzige Fraktion, die nicht in Regierungsverantwortung daran beteiligt war. Ich kann auch verstehen, dass die Antragsteller nicht besonders laut über das Thema „Entlastung der Länder“, auch über die BAföG-Millionen bzw. -Milliarden sprechen wollen. Aber Fakt ist, dass die Große Koalition wie seit Jahren nicht die Länder entlastet, damit sie ihre Aufgaben – auch in der Finanzierung des Hochschul- und Wissenschaftssystems – besser erfüllen können. Der Antrag zeigt aber auch eines sehr klar – darauf haben Frau Kollegin Dinges-Dierig und andere schon hingewiesen –: Sie haben ein grundsätzlich anderes Verständnis, wie das Wissenschaftssystem organisiert werden soll, als es die SPD, als es die Koalition insgesamt hat; ich glaube, auch da kann man die zweite Oppositionspartei einbeziehen. Sie wollen Förderung von Exzellenz abschaffen. Gut. Sie wollen themenspezifische Forschungsförderung abschaffen. Okay. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen denn Sie?) Sie wollen auch den Pakt für Forschung und Innovation abschaffen. Auch okay. Danke, dass das in dieser Form wieder einmal deutlich geworden ist; denn dann ist das auch ganz klar. Ebenso klar kann ich sagen: Das wollen wir eben nicht. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Dann müsst ihr einmal sagen, was ihr wollt!) Wir wollen Spitzenleistungen und Exzellenz, die wir -übrigens vielerorts in unserem Hochschul- und Wissenschaftssystem haben, gezielt weiterentwickeln. Wir wollen themenspezifische Forschungsprogramme. Wir wollen damit auch Steuerungsfunktionen behalten und Gestaltungsanspruch untermauern. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Wir wollen Forschung und Innovation sichern, weil wir uns als Wissensnation – nur als Wissensnation – im globalen Wettbewerb behaupten können und dies am Ende des Tages allen Menschen in Deutschland zugutekommt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich komme zurück: Es ist grundsätzlich ein richtiges und wichtiges Anliegen, das dieser Antrag thematisiert. Wie er es thematisiert, hilft nicht weiter. Wir werden hingegen – wir haben das in sehr intensiven Gesprächen in der Koalition begonnen – die Fehlentwicklungen, die wir auch zu konstatieren haben, anpacken. Das ist benannt worden: Wir wollen den Befristungsanteil reduzieren. Wir wollen die Dauer von Befristungen verlängern, die Vertragslaufzeiten den tatsächlichen Lebensbedingungen anpassen. Wir wollen dem wissenschaftlichen Nachwuchs eine Perspektive geben und haben den Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs auf Koalitionsebene beschlossen. Der herzlichen Einladung des Antrages, dass auch die Länder ihre eigenen Finanzierungssysteme überprüfen – es geht um den Grundfinanzierungsanteil und die -sogenannten erfolgsabhängigen Faktoren, die dort niedergelegt sind –, schließen wir uns sehr gerne an. Ich persönlich könnte viel über diesbezügliche Fehlentwicklungen in meinem Heimatland Hessen und nur relativ wenig über dortige Aktivitäten, dem gegenzusteuern, erzählen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich komme zum Schluss: Die Koalition ist und bleibt am Thema dran, und sie wird an den richtigen Stellschrauben drehen. In dem Antrag steht allerdings vieles, was nicht in die richtige Richtung führt. Er erweist dem Wissenschaftssystem insgesamt einen Bärendienst. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4804 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des -Europäischen Parlaments und des Rates über Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter KOM(2014) 212 endg.; Ratsdok. 8842/14 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Drucksachen 18/1524 Nr. A.4, 18/4843 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionen zügig durchzuführen, damit ich die Aussprache eröffnen kann. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Johannes Fechner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wenn wir die grenzüberschreitende Tätigkeit gerade von kleinen und mittleren Unternehmen erleichtern und es für Unternehmen vereinfachen, Niederlassungen in anderen EU-Mitgliedstaaten ohne hohen Kosten- und Verwaltungsaufwand zu betreiben, dann sichern wir damit auch Jobs in Deutschland. Ein Problem dabei ist, dass es in Europa keine europaweit anerkannte Gesellschaft mit beschränkter Haftung gibt, eine GmbH, die in allen Staaten bekannt und vor allem auch akzeptiert ist. Das führt dazu, dass Unternehmen, die in einem anderen Land eine Niederlassung gegründet haben, erhebliche Schwierigkeiten haben, in diesem anderen EU-Staat etwa ein Konto zu eröffnen oder ein Grundstück zu kaufen, weil die Gesellschaftsform in diesem Land eben nicht bekannt und auch nicht anerkannt ist. Deshalb brauchen wir eine europaweit anerkannte Gesellschaft mit beschränkter Haftung, eine Europa-GmbH. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Wir sehen beim Kommissionvorschlag zur SUP aber erhebliche Nachteile und Risiken, und zwar so große Nachteile, dass wir als Koalition hier im Bundestag einen entsprechenden Entschließungsantrag verabschieden wollen, in dem wir ganz klar Position beziehen, dass der jetzige Vorschlag erhebliche Mängel enthält. Nach dem jetzigen Richtlinienvorschlag der Kommission könnten 28 verschiedene Gesellschaftsformen einer GmbH in der Europäischen Union entstehen. Das würde die grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit natürlich ganz erheblich erschweren. Darüber hinaus sieht der Vorschlag nur vor, dass es sich bei diesen GmbHs um Einpersonengesellschaften handelt, und keinesfalls wollen wir – das war ein ganz zentraler Kritikpunkt –, dass Onlinegründungen ohne Identitätsnachweis möglich sind. Das wäre ein Einfallstor für Steuerhinterziehung, für Geldwäsche und wahrscheinlich auch für Terrorismusfinanzierung. (Beifall der Abg. Elvira Drobinski-Weiß [SPD]) Deshalb sind wir froh und danken wir Minister Maas und allen zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an dieser Stelle ausdrücklich, dass hier erste Verhandlungserfolge erzielt und Verbesserungen erreicht werden konnten. Der aktuelle Stand der Verhandlungen ist der, dass die Onlinegründung zwar möglich ist, aber durch die Videokonferenz ein erheblicher Sicherheitsstandard eingeführt wurde. Das heißt, über eine Webcam ist der Anmelder mit dem deutschen Notar verbunden. Dadurch ist eine Identifizierung möglich. Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Maßnahme, durch die Transparenz geschaffen und der notwendige Identitätsnachweis erbracht wird. Ein ganz herzliches Dankeschön für den Verhandlungserfolg des Ministeriums. (Beifall bei der SPD) Hauptkritikpunkt ist und bleibt die Möglichkeit, die deutschen Bestimmungsregeln zu umgehen. Die Mitbestimmung ist gerade für uns Sozialdemokraten einer der zentralen Pfeiler unserer sozialen Marktwirtschaft. Wir wollen auf jeden Fall verhindern, dass durch die Europa-GmbH Umgehungsmöglichkeiten geschaffen werden. Genau diese Gefahr besteht, wenn Verwaltungssitz und Satzungssitz getrennt werden können, wie es leider der Vorschlag der Kommission vorsieht. Eine Europa-GmbH zu schaffen, ist absolut sinnvoll und würde gerade bei uns in Deutschland Jobs sichern. Wir dürfen allerdings nicht die bewährten Grundsätze der Mitbestimmung in Deutschland aufs Spiel setzen und Umgehungsmöglichkeiten schaffen. Deshalb ist es wichtig, dass der Deutsche Bundestag mit der Vorlage klare Position zugunsten der Mitbestimmung bezieht. Wir fordern die Bundesregierung ausdrücklich auf, den Richtlinienvorschlag dann abzulehnen, wenn es in den anstehenden Verhandlungen nicht gelingen sollte, ein Verbot der Sitzaufspaltung zu erreichen. Mit einer so gestalteten Richtlinie eröffnen wir den Unternehmen neue Chancen in Europa. Wir sichern Jobs bei uns, und das alles ohne die Mitbestimmung zu gefährden. Es handelt sich also um eine sehr gute Vorlage, der man auch als Opposition zustimmen kann. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Richard Pitterle das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Richard Pitterle (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Zuhörer auf der Tribüne! Wo-rüber sprechen wir heute? Es geht um eine Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz. Das klingt sehr mächtig, ist es aber nicht. Das, was wir heute behandeln, ist aus meiner Sicht der Höhepunkt eines parlamentarischen Trauerspiels. Aber von Beginn an. Vor vielen Jahren hat die Europäische Kommission angekündigt, kleine und mittlere Unternehmen zu fördern. Während es bei den großen Konzernen auf europäischer Ebene sehr schnell möglich war, die Europäische Aktiengesellschaft als Rechtsform zur Verfügung zu stellen, gab es lange Diskussionen darüber, was dem Mittelstand zur Verfügung gestellt werden soll. Es wäre notwendig gewesen, dem Mittelstand etwas Ähnliches wie eine europäische GmbH zur Verfügung zu stellen. Sinnvoll wäre auch die Vereinheitlichung des GmbH-Rechts gewesen, damit es vergleichbare Strukturen bei Gründung, bei den Kosten der Gründung und beim Mindestkapital gibt; denn Bedarf an solchen Rechtsformen gibt es bei den mittelständischen Unternehmen, die in den Nachbarländern in die Nähe der Märkte kommen und beispielsweise als deutsche GmbH Angebote machen wollen. Ich habe als Rechtsanwalt mitgeholfen, Tochtergesellschaften von mindestens 20 tschechischen Unternehmen in der Bundesrepublik zu gründen. Ich weiß deswegen ganz genau, worum es dabei geht. Natürlich ist das, was auf europäischer Ebene herauskommt, das Ergebnis eines Abwägungsprozesses. Auf der einen Seite will man möglichst geringe Bürokratiekosten verursachen. Auf der anderen Seite gilt es, bei einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen. Aber auch die Vertragspartner einer solchen Gesellschaft, die Gläubiger, müssen geschützt werden. Was kam dabei heraus? 2014 hat die EU-Kommission dem Bundestag den Vorschlag für eine Einpersonengesellschaft ohne Haftung zugeleitet. Was uns da vorgelegt wurde, lief darauf hinaus, die Gründung von Briefkastenfirmen europaweit so einfach wie möglich zu machen: Onlineregistrierung vom heimischen Wohnzimmer aus ohne Notar, ohne Mindestkapital, nach einem Mustervertrag, mit Sitz in einem Land freier Wahl und dann noch die Möglichkeit, den satzungsmäßigen Sitz der Gesellschaft vom Sitz der Verwaltung zu trennen. Da schrillten bei den Interessenverbänden die Glocken. Der DGB schrieb alle Abgeordneten an, weil er befürchtete, dass das Konstrukt genutzt wird, um die Mitbestimmung zu umgehen. Selbst der BDI meldete sich mit Bedenken zu Wort. Befürchtet wurde, dass ohne eindeutige Identifizierung des Inhabers einer solchen Gesellschaft der Geldwäsche, der Betrugskriminalität und der Steuerhinterziehung Tür und Tor geöffnet werden. Meine Fraktion und ich haben 2014 die Bedenken der Verbände ernst genommen, und wir haben das getan, wozu DGB und BDI geraten haben, nämlich das parlamentarische Mittel zu nutzen, das für diese Verfahren vorgesehen ist, um auf europäischer Ebene gehört zu werden: die Rüge der Subsidiarität. Also haben wir im Juni, kurz vor Fristablauf, im Parlament beantragt, das Parlament möge diese Rüge erheben. Dies wurde aber bei der Abstimmung im Hohen Haus abgelehnt: von der CDU/CSU, von den Grünen und von der SPD. Nachdem der Prozess auf europäischer Ebene fast abgeschlossen ist, kommen Sie mit der heutigen Stellungnahme, in der nichts Falsches steht, die aber völlig sinnlos ist. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Johannes Fechner [SPD]: Danke für das Lob!) Das, was Sie uns zumuten, ist eine unverbindliche Bitte des Parlaments an die Bundesregierung, sich doch auf Europaebene noch einmal gegen die von mir skizzierten Gefahren einzusetzen. Der Antrag kommt jetzt auch noch von den Fraktionen, die die Regierung stellen. Ich frage Sie: Trauen Sie Ihrer eigenen Regierung nicht über den Weg, oder soll hier nur kaschiert werden, dass Sie sich durch Ihr aktives Nichtstun die Suppe eingebrockt haben, die jetzt andere auszulöffeln haben? Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Stephan Harbarth das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befassen uns heute im Hohen Haus wieder einmal mit dem Thema Europa-GmbH. Wir haben in Europa folgende Situation: Wir haben eine supranationale Rechtsform für die großen Gesellschaften, die Europäische Aktiengesellschaft. Aber wir haben kein Pendant für die kleineren Kapitalgesellschaften. Die Notwendigkeit dazu haben wir gleichwohl. GmbHs oder ähnliche Rechtsformen in anderen Ländern sind gerade die typischen Rechtsformen, auf die mittelständische Unternehmen im europäischen Binnenmarkt zurückgreifen. Es ist für sie ein großes Problem, wenn sie in 28 Mitgliedstaaten 28 verschiedene Rechtsformen mit 28 verschiedenen Rechtsvorschriften, mit 28 verschiedenen Rechtsregimen und all ihren Fallstricken haben. Deshalb liegt es gerade im Interesse Deutschlands, dass wir beim Projekt der Europa-GmbH voranschreiten. Warum? Es liegt deshalb in unserem Interesse, weil wir ein besonders exportorientiertes Land sind, weil wir ein Land mit einer mittelständisch geprägten Wirtschaftsstruktur sind und weil wir deshalb in ganz besonderer Weise auf die entsprechende Rechtsform angewiesen sind. Wir sind deshalb auch froh, dass die Europäische Kommission über Jahre hinweg konsequent eine Strategie zur Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen verfolgt hat. Wir haben deshalb auch in der Koalitionsvereinbarung wieder ein Bekenntnis für die Europa-GmbH niedergelegt. Der Vortrag des Kollegen der Linksfraktion, man hätte eine Subsidiaritätsrüge erheben sollen und sie hätten noch nicht erkannt, worin der Sinn der Stellungnahme bestehe, geht an der Wirklichkeit vorbei. Es ist doch völlig klar, dass die Europäische Union befugt ist, wenn es 28 verschiedene Rechtsordnungen im Bereich des Wirtschaftsverkehrs gibt, das im Bereich des Gesellschaftsrechts genauso zu vereinheitlichen, zu harmonisieren, wie sie es beispielsweise im Bereich der Europäischen Aktiengesellschaft und an anderer Stelle getan hat. Herr Kollege Pitterle, wenn Sie den Sinn der Stellungnahme nicht verstanden haben, dann kann ich es Ihnen gerne erklären. Uns geht es darum, dass wir im Deutschen Bundestag ein kraftvolles Signal aussenden gegen die SUP und zugleich ein kraftvolles Signal aussenden für die SPE. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sind überzeugt, dass das Modell der SPE, der Europäischen Privatgesellschaft, schon deshalb dem Vorschlag der Kommission für eine SUP überlegen ist, weil die SUP auf Einpersonengesellschaften fokussiert ist. Sie gilt nur für diejenigen Unternehmen, die zu 100 Prozent an einer Gesellschaft beteiligt sind. Wir brauchen eine flexible Rechtsform, die der Vielgestaltigkeit des Wirtschaftslebens Rechnung trägt. Wir brauchen auch eine Rechtsform auf europäischer Ebene, die zum Beispiel für Joint Ventures, für grenzüberschreitende Gemeinschaftsunternehmen, eingesetzt werden kann. Dazu eignet sich die SUP nicht, die SPE hingegen schon. Die SUP hat darüber hinaus eine ganze Reihe von handwerklichen Schwächen. Das gilt insbesondere im Bereich der Onlinegründung, wenngleich die Kommission in den letzten Wochen signalisiert hat, dass sie möglicherweise etwas stärker auf den Pfad der Vernunft zurückkehren wird, als sie es zunächst einmal hat erkennen lassen. Darüber hinaus gibt es große Schwächen im Bereich des Mitbestimmungsrechts; das ist in der Debatte bereits angeklungen. Wir wollen nicht, dass mitbestimmungsfreie Rechtsformen geschaffen werden. Wir wollen, dass vernünftige Mitbestimmungsregeln Anwendung finden. Das haben wir in unserem Vorschlag entsprechend niedergelegt. Wir schließen die Sitzaufspaltung aus. Wir haben damit in etwa die gleiche Situation wie bei der Europäischen Aktiengesellschaft, bei der das ausgeschlossen ist. Darüber hinaus haben wir geregelt – das ist ein besonderes Entgegenkommen an die Gewerkschaften –, dass die Mitbestimmung, anders als das im nationalen Recht aus guten Gründen der Fall ist, bereits ab 250 Arbeitnehmern greifen könnte. Wir meinen, dass Deutschland – als Rechtspolitiker der Unionsfraktion sage ich das sehr selbstkritisch –, obwohl es in besonderer Weise auf diese Rechtsform angewiesen ist, in den vergangenen Jahren viel zu lange auf dem Bremspedal stand. Nun senden wir aus Deutschland endlich ein kraftvolles Signal nach Europa: Wir wollen die Europäische Privatgesellschaft. Wir sind auch bereit, vernünftige Kompromisse auf europäischer Ebene zu schließen. Die SUP ist ein solcher vernünftiger Kompromiss allerdings nicht. Deshalb bedarf es einer Ablehnung. Herr Kollege Pitterle, damit auch Sie das mitbekommen: Das ist der Sinn der heutigen Vorlage. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich möchte allen, die sich daran beteiligt haben, sehr herzlich danken. Ich danke den Rechtspolitikern meiner eigenen Fraktion, unserer Sprecherin, Elisabeth Winkelmeier-Becker, insbesondere aber auch dem Kollegen Hirte. Ich danke den Kollegen aus den anderen betroffenen AGs. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So kann man seine Redezeit auch füllen!) Ich danke den Kollegen aus der sozialdemokratischen Fraktion und dem Ministerium. Ich möchte mich auch bei den Grünen dafür bedanken, dass sie im Rechtsausschuss zugestimmt haben, obwohl es in den vergangenen Tagen leider, weil wir einen ganz intensiven, schwierigen und komplexen Abstimmungsprozess hatten, nicht möglich war, sie ins Antragsrubrum aufzunehmen. Ich möchte mich dafür bedanken, dass sie trotzdem im Rechtsausschuss zugestimmt haben. Ich glaube, es ist ein gutes Signal, wenn wir in diesem Parlament einen breiten Konsens haben. So können wir in Europa mit lauter Stimme sprechen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Harbarth, ich will niemanden um seinen Dank bringen, bitte aber, in Zukunft auch Dankesworte in der regulären Redezeit unterzubringen. Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner haben umfangreiche Kritik an dem EU-Vorschlag für eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter vorgebracht. Dieser Kritik kann ich mich weitgehend anschließen. Auch wir Grünen begrüßen zunächst einmal das Ansinnen, die Rahmenbedingungen für eine grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen zu verbessern. Für sie ist es nach wie vor teuer und aufwendig, grenzüberschreitend tätig zu sein oder eben eine Tochtergesellschaft im EU-Ausland zu gründen. Da hier also durchaus ein Bedürfnis nach europäischer Harmonisierung besteht, kann ich nachvollziehen, dass die Bundesregierung keine Subsidiaritätsrüge erhoben hat. Trotzdem sollten Sie den Vorschlag in dieser Form ablehnen. Die Einpersonengesellschaft kann lediglich online gegründet werden. Das macht die Identifizierung der Person schwierig und kann dazu führen, dass nichtexistente Personen oder Strohleute registriert werden. Im letzten Moment ist jetzt wenigstens die Frist so verlängert worden, dass die Einbindung deutscher Notare – wir haben es gerade gehört – mittels Webcam möglich ist. Notare sind immerhin auch ein Mittel der Geldwäscheprävention, und die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung sollte uns in Europa wichtig genug sein. Die Bundesregierung meint, mit dem jetzt gefundenen Kompromiss leben zu können. Ich kann ehrlich gesagt nicht nachvollziehen, warum es einem Unternehmer so wichtig sein soll, in einem anderen EU-Land eine Gesellschaft zu gründen, ohne auch nur ein einziges Mal dort persönlich anwesend zu sein. Wenn es so wichtig ist, dort ein Tochterunternehmen zu gründen, dann ist das doch Anlass genug, wenigstens einmal vor Ort gewesen zu sein, selbst wenn das Geschäftsmodell nur digitale Präsenz erfordert. Sicherlich gibt es viel zu viele Reisen zu irgendwelchen Meetings weltweit, die man durchaus reduzieren kann. Die Gründung eines Unternehmens als Reisegrund empfinde ich persönlich aber nicht wirklich als übertriebene Bürokratie. Ich komme zum nächsten Kritikpunkt. Das Mindeststammkapital der SUP – spricht man es englisch aus, denkt man schon wieder an irgendwelche Fahrzeuge; das Ganze heißt aber auf Latein „Societas Unius Personae“; man spricht in Europa also wieder Latein – beträgt nur 1 Euro. Anders als bei einer GmbH nach deutschem Recht gibt es bei der SUP auch keine Pflicht, finanzielle Rücklagen zu bilden. Gleichwohl ist die Haftung auf das Gesellschaftervermögen begrenzt. Das ist eine Schieflage, und man fragt sich, wo da Gläubigerschutz und Verbraucherschutz bleiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Kompromissvorschlag des Rates vom 7. April sieht jetzt die Möglichkeit vor, dass eine weiter gehende Regelung zum Stammkapital durch nationale Gesetze geschaffen werden kann. Das ist zwar ein Fortschritt, aber dennoch wäre es wohl notwendig, dieses Erfordernis europaweit vorzusehen. Der härteste Kritikpunkt allerdings ist, dass die SUPs ihren Satzungssitz nicht am selben Ort haben müssen wie ihren Verwaltungssitz. Eine GmbH, die nach deutschem Recht mitbestimmungspflichtig wäre, erhält so die Möglichkeit, sich durch die Umwandlung ihres Unternehmens in eine SUP den in Deutschland geltenden Mitbestimmungsregeln zu entziehen. Eine solche Aushöhlung der Mitbestimmung ginge zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das dürfen wir nicht zulassen. Und ich bin beruhigt, dass die Koalition das auch so sieht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) – Da können Sie auch klatschen! Auch wir finden, dass die Bundesregierung den jetzt vorliegenden Entwurf ablehnen sollte, und werden daher ihrer entsprechenden Stellungnahme zustimmen. Trotzdem noch ein Wort zum parlamentarischen Verfahren. Das kann ich Ihnen nicht ersparen, Herr Habarth. Jeden Freitagmorgen sitzen wir gemeinsam in unserem Unterausschuss Europarecht und beraten in aller Sachlichkeit europäische Vorhaben. Oft genug sind wir uns dort bei der Bewertung der Sache über Kritikpunkte einig und haben auch in der Vergangenheit gemeinsame interfraktionelle Stellungnahmen gegenüber der Bundesregierung verfasst und beschlossen. Dass Sie von der Union die Linken bei Anträgen immer wieder ausschließen, ist ja schon peinlich genug. Diesmal aber haben Sie die Opposition insgesamt – angeblich aus Zeitdruck – nicht einmal ansatzweise mit eingebunden. Dafür habe ich kein Verständnis. Sie hätten uns zu Beginn dieser Woche noch kurzfristig fragen können, ob wir dabei sein wollen. Sie hätten uns auch vorher in Ihre Überlegungen einbinden können. Hier mag es vielleicht niemanden interessieren, aber international dürfte eine Stellungnahme des Gesamtparlamentes doch wohl mehr Eindruck machen als die einer Regierungskoalition, auch wenn sie 80 Prozent ausmacht. Also nächstes Mal, bitte! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Johannes Fechner [SPD]: Stimmen Sie zu!) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dr. Volker Ullrich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die EU-Wachstumsstrategie „Europa 2020“ sieht auch die Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen vor. In diesem Geiste ist auch die Richtlinie der Europäischen Union zur Einpersonengesellschaft zu sehen. Die Mehrheit dieses Hohen Hauses sagt klar und deutlich: Diese Richtlinie wird den Zielen der Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht gerecht. Deswegen lehnen wir sie in dieser Form ab. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen uns fragen, ob es tatsächlich dem Rechts- und dem Geschäftsverkehr dienlich ist, wenn Unternehmen ohne Notartermin und ohne Haftungskapital auf einem simplen Onlineweg gegründet werden können. Ich denke, Europa braucht keine Rechtsform, die anfällig für Missbrauch – Geldwäsche, Steuerhinterziehung und möglicherweise auch Terrorismusfinanzierung – ist, sondern eine Rechtsform, die sich letztendlich auf Rechts-sicherheit und Rechtsklarheit stützt. Deswegen wäre die bessere Alternative keine SUP, die der Idee der ursprünglich britischen Limited nachempfunden ist, sondern eine Europäische Privatrechtsgesellschaft, deren Haftungssystem dem der deutschen GmbH entspricht. Wenn Sie sich in den Innenstädten Deutschlands bewegen und ein Unwohlsein empfinden, wenn Sie einen 1-Euro-Shop sehen, dann müssen Sie auch im Rechtsverkehr Unbehagen empfinden, wenn Sie Gesellschaften gegenüberstehen, die lediglich 1 Euro Haftungskapital haben. Das bringt doch weder den Geschäftsverkehr noch die Unternehmen voran. Wir müssen uns auch fragen lassen, ob die Europäische Kommission bei der Wahl des Rechtskreises und der Rechtstradition, in der gesellschaftsrechtliche Veränderungen vorgenommen werden, den richtigen Weg einschlägt. Sicherlich sollten Rechtsinstitute, die auf europäischer Ebene entstehen sollen und die von der Europäischen Union geschaffen werden, nicht auf den Rechtsgrundsätzen eines einzigen Landes begründet werden; das ist gar keine Frage. Auch Rechtsgrundsätze aus Kontinentaleuropa, aus Deutschland sind nicht immer der Weisheit letzter Schluss. Aber ich glaube, bei der Konstruktion von Gesellschaftsformen kommt es auf Vertrauen und auf Rechtssicherheit an. Vertrauen und Rechtssicherheit schaffen Sie mit Haftungskapital, einem Notartermin und letzten Endes auch durch die Pu-blizität des Handelsregisters. Davon sollten wir nicht abweichen. Die Europäische Union hat die sogenannte Europäische Aktiengesellschaft geschaffen. Diese ist der deutschen Aktiengesellschaft nachempfunden: mit Hauptversammlungen, mit Haftungskapital, mit Vorstand und Aufsichtsrat, und sie hat sich bewährt. Gerade weil sich die Europäische Aktiengesellschaft bewährt hat, sollte man auch für kleine und mittlere Unternehmen eine Gesellschaftsform wählen, die ein solches Haftungsdach hat und Vertrauen weckt. Deswegen ist es richtig, dass der Bundestag sich mit dieser Resolution dafür ausspricht, die SUP als nicht geeignet einzustufen, und gleichzeitig einen Lösungsweg aufzeigt, nämlich eine europäische Privatrechtsgesellschaft, die die Lücke hinter der Aktiengesellschaft schließt, die damit zur Rechtseinheit in Europa beiträgt und für unsere Unternehmen, die exportieren und europaweit tätig sein wollen, einen geeigneten Rahmen schafft. Deswegen plädiere ich für die Annahme dieser Entschließung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Waltraud Wolff das Wort. (Beifall bei der SPD) Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zunächst ein Dankeschön an die Rechtspolitiker meiner Fraktion dafür, dass ich als Sozialpolitikerin zu diesem Thema reden darf. Die Mitbestimmung ist ja in weiten Teilen damit befasst. Nach deutschem Recht ist es so, dass Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten einen Aufsichtsrat bilden müssen; darin müssen ein Drittel Arbeitnehmervertreter sein. Damit stellen wir in Deutschland Mitbestimmung sicher. Bei Betrieben mit über 2 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern muss der Aufsichtsrat pari-pari besetzt sein, also zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern. Aber immer mehr Unternehmen entziehen sich dieser Verpflichtung, indem sie ausländische Rechtsformen nutzen. Inzwischen sind in Deutschland circa 200 000 Beschäftigte davon betroffen. Absolut gesehen mag das ein kleiner Teil sein; aber die Zahl wird immer größer. Sie könnte auch noch deutlich ansteigen, nämlich wenn die Einpersonengesellschaften so kommen, wie in der EU-Richtlinie vorgeschlagen. Wir sind gegen Scheinfirmen, wir sind gegen Briefkastenfirmen, aber wollen auf europäischer Ebene einer solchen Richtlinie zustimmen? Ich glaube, die heutige Debatte hat gezeigt: Wir alle wollen das nicht. Die Kommission will diesen Gesellschaften unbeschränkt die Möglichkeit geben, Satzungs- und Verwaltungssitz auf verschiedene Mitgliedstaaten aufzuspalten. Also: Ich nehme 1 Euro Einlage, melde im Internet meine Firma an und wähle meinen Sitz in einem Mitgliedstaat, dessen Wirtschafts- und Sozialsystem die geringsten Anforderungen stellt, Mitbestimmung inbegriffen. Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht! (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deshalb stärken wir der Bundesregierung den Rücken. Als Parlament sagen wir, dass diese Richtlinie nur zustimmungswürdig ist, wenn in weiteren Verhandlungen das Verbot der Sitzaufspaltung erreicht wird. Das ist auch in diesem Haus Konsens. Ich erwarte noch etwas mehr von der Bundesregierung. Ich erwarte, dass sie in den Verhandlungen auch andere Länder davon überzeugt, zu dieser Richtlinie Nein zu sagen; denn jetzt ist es noch möglich, nach altem Recht abzustimmen und eine sogenannte Sperrminorität zu erreichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen keine mitbestimmungsfreien Zonen für Unternehmen mit ausländischer Rechtsform. Ich sage das so deutlich, weil Mitbestimmung in unserem Land ein sehr hohes Gut ist. Das wollen wir nicht preisgeben. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter; hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4843, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Transparenz schaffen – Tierhaltungskennzeichnung für Fleisch einführen Drucksache 18/4812 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tierschutz bewegt die Menschen in unserem Land. Über 95 Prozent der Bürgerinnen und Bürger wünschen sich mehr Tierschutz, wünschen sich, dass Tiere artgerecht gehalten werden. Über 80 Prozent wünschen sich, dass die Politik dafür klare und verbindliche Regelungen schafft, und das ist gut so. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vieles von dem, was in unseren Ställen und in den Schlachthöfen passiert, können wir ethisch nicht mehr vertreten: Hühnchen, die am Ende ihres kurzen Lebens nicht mehr aufrecht stehen können; Schweine, die auf Vollspaltenböden gehalten werden und die die Sonne nur einmal kurz auf dem Weg zum Schlachthof sehen, oder Qualzuchten wie die berüchtigten Big-6-Puten, von denen kaum ein ausgewachsenes Tier noch normal stehen kann. (Zuruf des Abg. Dieter Stier [CDU/CSU]) Dafür gibt es keine gesellschaftlichen Mehrheiten in diesem Land, und das ist gut so. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Karin Binder [DIE LINKE]) An dieser Stelle sind nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher gefragt, sondern an dieser Stelle sind wir gefragt, da ist der Minister gefragt, klare Kante gegen Tierquälerei zu zeigen. Wir haben erst kürzlich den Bericht des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik vorgelegt bekommen. Da haben Ihnen die Gutachter auf 400 Seiten einiges aufgeschrieben. Ein Zitat gleich am Anfang möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: Die derzeitigen Haltungsbedingungen eines Großteils der Nutztiere sind nicht zukunftsfähig. – Das ist für uns in der Politik ein Handlungsauftrag. Aber wir wissen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher uns hier unterstützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen und können ihren Teil zu mehr Tierschutz beitragen. Sie wollen Bauern unterstützen, die mehr tun. Sie wollen Händler unterstützen, die mehr tun. Sie würden auch mehr Platz, mehr Beschäftigte und eine artgerechtere Haltung für Kühe, Schweine und Hühner finanziell honorieren. Verbraucherinnen und Verbraucher sind aber von der Vielzahl an Labeln, Siegeln und Werbeversprechungen verwirrt. Da blickt doch kein Mensch mehr durch. Deshalb sagen wir: Wir brauchen eine klare gesetzliche Kennzeichnung zum Thema Tierwohl. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wir schlagen Ihnen in unserem Antrag eine Haltungskennzeichnung für Fleisch mit vier einfachen Stufen – 0, 1, 2 und 3 – vor, die klar darüber Auskunft gibt, wie das Tier gehalten wurde, von dem das Fleisch stammt. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das verstehen die Verbraucherinnen und Verbraucher! – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bei den Eiern!) Die Erfolgsgeschichte der Eierkennzeichnung sollten wir an diesem Punkt wiederholen. Bei den Frischeiern kann doch jeder entscheiden, ob er Eier aus Bodenhaltung, Freilandhaltung oder biologischer Haltung kaufen will. Bei den Eiern haben wir doch klar gesehen: Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben die Käfigeier in den Regalen liegen lassen. Die wollten keine Tierquälerei. Die haben sich mit dem Einkaufskorb für mehr Tierschutz entschieden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir möchten das ausweiten. Mit der Fleischkennzeichnung ist es den Verbraucherinnen und Verbrauchern möglich, dem Schnitzel oder Steak aus industrieller Massentierhaltung die Rote Karte zu zeigen. Das gefällt vielen in der Union vielleicht nicht, (Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Ihnen gefällt das auch nicht!) aber das ist das, was wir wollen: die Verbraucherinnen und Verbraucher ermächtigen, an der Ladentheke mit dem Einkaufskorb Politik für Tierschutz zu machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir sind mit unserer Idee nicht alleine. Die Bundesländer arbeiten seit Monaten an einem Modell. Da sind auch CDU-mitregierte Länder dabei. Da sind alle der hier vertretenen parteipolitischen Farben dabei. Wir wünschen uns aber, dass der Bundeslandwirtschaftsminister Rückenwind für diese Idee gibt. Der muss sich jetzt nämlich mal entscheiden, ob er Tierschützer sein will oder der Schutzpatron der industriellen Massentierhaltung. Alles gleichzeitig geht nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Der ist schon Tierschützer! – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Frage!) – Ja, er muss mal Farbe bekennen. (Dieter Stier [CDU/CSU]: Man kann beides machen!) Wir sagen: Tierschutz ist eine Frage der Haltung. Haltung kann man nicht nur auf Broschüren zeigen, sondern die muss man jetzt auch mal beweisen. Hier ist Christian Schmidt gefragt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dieter Stier [CDU/CSU]: Nicht Entweder-oder!) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Alois Rainer hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Alois Rainer (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über den Antrag „Transparenz schaffen – Tierhaltungskennzeichnung für Fleisch einführen“. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Guter Antrag!) Das hört sich im Grunde genommen gar nicht so schlecht an. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Wenn man aber genauer nachschaut, stellt man fest: (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hilft dem bayerischen Metzger!) Das ist wieder ein Antrag, der vom Antragsteller ideologisch geprägt ist. Das zeigen Ihre Begründungen. Ich komme zu einer völlig anderen Interpretation. Sie zitieren Studien, nennen Zahlen und sprechen dann von Irreführung des Verbrauchers. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Studie des Wissenschaftlichen Beirats!) Wenn Sie schon zitieren – ich komme hier gern auf die von Ihnen genannte Umfrage von TNS Infratest zurück –, dann nennen Sie bitte die gesamte Wahrheit und vergessen Sie nicht, zu erwähnen, dass gerade die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Sie in Ihrem Antrag ansprechen, in der Umfrage bekannt gaben, dass sich ihr Vertrauen in tierische Lebensmittel deutlich verbessert hat, (Beifall bei der CDU/CSU) und das komplett ohne ein neues, zusätzliches Label. (Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) Wir machen die Landwirtschaft bzw. die Ernährungswirtschaft nicht interessanter, wenn wir ein zusätzliches Label einführen. Wir haben derzeit bereits über 150 Siegel, Label oder Gütesiegel in Deutschland. Ich denke nicht, dass ein weiteres Siegel zur jetzigen Zeit das geeignete Mittel ist, um den Verbraucher aktiv am Tierwohl zu beteiligen. Vielmehr sollten wir die Ergebnisse der von Bundesminister Schmidt initiierten Tierwohl-Offensive abwarten und dann sehr gern konstruktiv darüber diskutieren. (Ute Vogt [SPD]: Immer alles abwarten!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin nicht gegen Innovationen oder Veränderungen, aber ich habe etwas gegen voreilige Entscheidungen und Entschlüsse. Vor allem bin ich gegen Panikmache und gegen Schwarzmalerei. (Beifall bei der CDU/CSU) Denn das sorgt meistens nur für Verunsicherung und Misstrauen. Wenn wir die gesellschaftliche Akzeptanz für die Nutztierhaltung in Deutschland nachhaltig verändern wollen, dann müssen wir – das ist okay – über Tierwohl reden. Neben den ethischen dürfen wir aber auch die wirtschaftlichen Aspekte nicht vergessen. Deshalb brauchen wir eine praxistaugliche, ökonomische, aber auch tragfähige Lösung. Wir brauchen eine gute Balance zwischen Ökonomie und Ökologie und keine weitere Einschränkung, die den Bürokratie- und Kontrollwahn nur weiter verstärkt. Die Verbraucher müssen über die landwirtschaftliche Nutztierhaltung wahrheitsgemäß aufgeklärt werden. Die ständigen Verunsicherungen und Verleumdungen bringen hier gar nichts; denn es ist schlichtweg falsch, zu sagen, dass Tiere in größeren Haltungen grundsätzlich weniger Platz haben als in kleinen. Es ist auch falsch, dass es den Tieren in größeren Haltungen generell weniger gut geht. Es ist ebenso falsch, Betriebe mit größeren Tierzahlen als Massentierhaltung abzustempeln, zumal der Begriff der Massentierhaltung weder definiert noch zielführend ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Das Wohlbefinden von Nutztieren hängt in der Regel nicht davon ab, ob jemand 100 oder 1 000 Tiere hält, es hängt meines Erachtens davon ab, wie ein Betrieb geführt wird und wie es jedem einzelnen Tier geht. Es hängt auch davon ab, wie die Tiere beobachtet und versorgt werden. Das müssen die Verbraucher erfahren. Eines noch dazu: So nachhaltig wie wir – und auch Sie – mit unserem Kapital umgehen, so nachhaltig und fürsorglich – das können Sie mir glauben – geht ein Landwirt mit seinem Kapital um, und das sind bei einem viehhaltenden Landwirt nun einmal die Nutztiere. (Beifall bei der CDU/CSU) Noch eines sollten wir ehrlich sagen: Höhere Ansprüche an Erzeugungsbedingungen verursachen höhere Kosten. Wenn die Bereitschaft der Verbraucher, für mehr Qualität auch mehr Geld auszugeben, nicht vorhanden ist, bleiben die Erzeuger auf den Mehrkosten sitzen. Das ist mit uns so nicht möglich. Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Satz zu Ihrer geforderten Agrarwende sagen. Ja, die Landwirtschaft befindet sich in einem ständigen Wandel. Diesen Wandel müssen und sollen wir auch aktiv begleiten, ohne dabei die Produktionen durch noch größere bürokratische Hindernisse und eine übertriebene Regulierungs- und Kontrollwut einzuschränken. Ihre Ideen und Ihre Vorschläge sind meines Erachtens immer noch reine Polemik und dienen nur der Verunsicherung der Menschen in unserem Land. Hören Sie deshalb endlich auf mit diesen ständigen Vorwürfen, hören Sie endlich auf mit dieser Schwarz-Weiß-Malerei! Das ist nicht gut, das ist keine vernünftige Politik, das ist Politik von gestern, und die brauchen wir nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Kollegin Karin Binder hat für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Karin Binder (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Verbraucherschutz und Tierwohl sind nicht nur eine Frage der Haltung. Ein Teil des Problems liegt auch in der Fleischindustrie und im Lebensmitteleinzelhandel, die beide den Landwirten immer weniger Geld für Erzeugnisse wie Fleisch, Milch oder Eier zugestehen. Rohprodukte werden zu Dumpingpreisen weltweit eingekauft, und dabei werden viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen systematisch ausgebeutet. Dabei entscheidet gerade die Haltungsform von Tieren wesentlich über die Qualität des Fleischs oder der tierischen Produkte, die auf unseren Teller kommen. Massentierhaltung, Antibiotika, Pestizide, Gensoja oder Nitrat im Trinkwasser – da könnte einem schon einmal der Appetit vergehen. Immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher haben das satt. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Sie sehen nicht nur auf den Preis, sondern auch darauf, unter welchen Bedingungen Fleisch, Milch und Eier erzeugt werden, also unter welchen Bedingungen die Tiere ihr Leben leben. Dazu gehört nicht nur, dass der Werbetext und die Bilder mit dem Inhalt des Produktes übereinstimmen müssen. Darum ist das Verbraucherschutzportal www. lebensmittelklarheit.de unverzichtbar, um Tricks und Täuschungen bei Lebensmitteln zu unterbinden. (Beifall bei der LINKEN) Gerade bei Fleisch gilt: Nur wer Informationen zur Herkunft und zur Tierhaltung lückenlos offenlegt, nimmt Verbraucherschutz wirklich ernst. Doch schon bei der Frage nach der Herkunft des Fleisches legen sich Hersteller und Bundesregierung quer: Die Frage nach dem Ursprungsland soll den Verbraucher bei Fleischsalat, Lasagne oder Döner nichts angehen. Angeblich seien die Kosten für eine solche Verbraucherinformation zu hoch. Ich sage: Wer seine Lieferkette kennt, muss weder Kosten noch Verbraucher, noch Pferde- oder Gammelfleisch fürchten. (Beifall bei der LINKEN) Das EU-Parlament fordert deshalb zu Recht eine verpflichtende Herkunftskennzeichnung für verarbeitetes Fleisch. Nach zahlreichen Verstößen und Skandalen ist dieser Schritt das Mindeste, um das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher wiederherzustellen. (Beifall bei der LINKEN) Eine vollständige Rückverfolgbarkeit bei der Fleischproduktion trägt maßgeblich dazu bei, Lebensmittelskandale zu verhindern oder zumindest aufzudecken. 90 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher halten eine Ursprungsangabe für notwendig, damit sie selbstbestimmte Kaufentscheidungen treffen können. Der Vorschlag der Grünen zur Kennzeichnung der Tierhaltungsform ist im Grundsatz zu begrüßen, allerdings bleiben noch viele Fragen offen: Wie können die Haltungsformen für Rinder, Schweine, Schafe, Ziegen, Hühner, Gänse, Enten im Einzelnen unterschieden werden? Wir brauchen Defini-tionen. Wie sollen bestehende Tierschutzlabel wie „Neuland“, „Biopark“, „Demeter“, das Tierschutzlabel des Deutschen Tierschutzbundes oder auch die Tierwohl-Initiative des Ministers eingeordnet werden? Warum soll nur Frischfleisch gekennzeichnet werden, während bei der Ursprungskennzeichnung und bei Eiern eine Ausweitung auf verarbeitete Produkte gefordert wird? Sollten nicht auch Milch bzw. Milchprodukte einbezogen werden, bei denen die Verbraucher ebenfalls mehr Tierschutz fordern? Ich denke, die Milchviehhaltung ist sicherlich auch eines unserer Themen. Es reicht uns nicht, darauf zu hoffen, dass eine Bund-Länder-Kommission irgendwann einmal passende Ergebnisse liefert. Ich glaube, wir sind auch hier gefordert, möglichst rasch für Veränderungen zu sorgen. Auch müssen wir klären, wie sich die Verbraucherinnen und Verbraucher im wachsenden Schilderwald der Lebensmittelkennzeichnungen zurechtfinden sollen. Mehr Klarheit ist wünschenswert und notwendig, damit Tierwohl und Verbraucherschutz zu ihrem Recht kommen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Christina Jantz für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christina Jantz (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, es ist richtig: Wir müssen wirklich transparent machen, wie Fleisch erzeugt wird, wie die Nutztiere tatsächlich gehalten werden. Da stammen Abbildungen auf den Wurst- oder Fleischverpackungen doch eher aus einer Traumwelt als aus dem wirklichen Leben eines Schweins oder eines Mastrindes. Teilweise sind sie gar absurd; man denke nur an das Schwein aus der Werbung mit der Grillzange in der Hand und der Schürze um den Bauch! (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und dem Ringelschwänzchen!) Hier wünsche ich mir deutlich mehr Ehrlichkeit von der Fleischindustrie. Aus diesem Grund begrüße ich den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Elvira Drobinski-Weiß [SPD]) Er greift ein wichtiges Thema auf: die Tierhaltungskennzeichnung. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben uns bereits mehrfach für eine transparente, klare und verbindliche Kennzeichnung ausgesprochen, die zum einen natürlich dem Tierschutz bzw. der artgerechten Haltung Rechnung trägt und zum anderen die Landwirte bei ihren Bemühungen um mehr Tierschutz im Stall auch adäquat unterstützt. Leider leistet die Branchenlösung, initiiert vom Bauernverband und vom Einzelhandel, dies genau nicht. Hier vermisse ich die Verlässlichkeit für die Landwirte und die Klarheit für die Konsumenten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Landwirte müssen beispielsweise mit mehreren Zehntausend Euro in Vorleistung gehen und ihre Ställe umbauen. Vor Ort, in persönlichen Gesprächen in den Landkreisen – bei mir zu Hause in Osterholz und Verden – erzählen sie mir natürlich von ihren Sorgen, ihren Existenzängsten, von der Ungewissheit. Sie wissen nicht, ob die Investitionen, die sie tätigen, tatsächlich gedeckt werden, ob ihr Engagement aus dem Fonds gefördert wird. Leider sieht die Realität zurzeit nicht gut aus. Natürlich kann man sich funktionärsseitig freuen, dass die Nachfrage so groß ist. Doch was hilft es, wenn den Anträgen nicht Rechnung getragen werden kann? (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!) Nach aktuellen Berichterstattungen wird nicht einmal die Hälfte der Antragsteller berücksichtigt. Hier werden wertvolles Vertrauen, so finde ich, und Engagement verspielt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Binder [DIE LINKE]) Zudem kann der Kunde an der Fleischtheke nicht erkennen, ob er nun Fleisch von Tieren aus artgerechter Haltung kauft oder nicht. (Zustimmung der Abg. Elvira Drobinski-Weiß [SPD]) Aber genau dies fordert er, meine Damen und Herren. Das Beispiel der erfolgreichen Kennzeichnung von Eiern zeigt, dass eine klare, verbindliche Kennzeichnung funktioniert. Sie entfaltet die gewünschte Wirkung, und der Handel kann seiner Verantwortung tatsächlich gerecht werden. Leider ist diese Kennzeichnung nicht verbindlich bei Lebensmitteln und Produkten, die Eier als Zutat enthalten. Ich finde, hier haben wir absolut noch Nachbesserungsbedarf. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, in seinem Gutachten „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“ präsentiert der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft seine Ergebnisse, und sie sprechen eine klare Sprache. Die Gesellschaft, die Bevölkerung erwartet umfassende Verbesserungen der Haltungsbedingungen, mehr Transparenz bei der Lebensmittelkennzeichnung und die Einführung eines staatlichen Labels. Ich bin davon überzeugt, dass nur eine verbindliche, unabhängige Kennzeichnung dazu führen kann, dass das Vertrauen in Labels gestärkt wird und dass die Landwirte wirtschaftlichen Erfolg und artgerechte Tierhaltung miteinander verbinden können. (Beifall des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Zurzeit sind die Erzeugerpreise leider so niedrig, dass den Landwirten oftmals die Hände gebunden sind; sie müssen die Tiere teilweise unter unsäglichen Bedingungen halten. Es bestehen keine Spielräume für eine tiergerechtere Haltung. Eine differenzierte Kennzeichnung kann hier nur positive Effekte haben. Durch Label können Tierschutzmaßnahmen konkret entlohnt werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Als Sozialdemokratin ist mir zudem wichtig, dass wir das Thema differenziert betrachten, dass wir Tierschutz nicht ohne Landwirte und nicht ohne Konsumenten denken; denn nur dann, wenn wir die Interessen zusammenführen, kommen wir zu tragfähigen Lösungen und hin zu mehr Tierschutz. Genau diese Betrachtung allerdings vermisse ich in Ihrem Antrag; insbesondere vermisse ich den sozialen Aspekt. Zwar sehe auch ich die erfreuliche Bereitschaft in der Bevölkerung, für gute Lebensmittel mehr zu zahlen; jedoch muss eine Balance in der Preisgestaltung gefunden werden. Tierschutz und der Kauf von Fleischprodukten von Tieren aus artgerechter Haltung dürfen kein Luxusgut sein. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will auch keiner!) Gutes Essen aus artgerechter Tierhaltung darf nicht nur den Besserverdienenden vorbehalten sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht in unserem Antrag auch nicht drin!) Wir brauchen ein System, das diese Aspekte berücksichtigt und den Standard insgesamt anhebt. Das Nutztiergutachten skizziert einen Weg, den wir aufgreifen und entwickeln müssen. Zudem sollten wir auf die Erfahrungen des Deutschen Tierschutzbundes mit seinem Label zurückgreifen. Ich erwarte die Unterstützung aus dem Landwirtschaftsministerium – ich freue mich darauf –, wenn wir uns als Parlament, als Fachpolitiker nun auf den Weg machen, das Nutztiergutachten konkret aufgreifen und versuchen, in die Umsetzung zu gehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, die SPD wird auch weiterhin daran arbeiten, ein verbindliches Label zur klaren, transparenten Kennzeichnung von artgerecht produziertem Fleisch zu entwickeln. Von ihm müssen die Landwirte und selbstverständlich auch die Tiere profitieren, und durch moderate Preise muss es den Rückhalt bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern genießen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Johannes Röring das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Johannes Röring (CDU/CSU): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die Grünen stellen seit September 2014 zum vierten Mal den Antrag, eine Kennzeichnung für Fleisch einzuführen. Damit wird es nicht besser. In der Praxis erkennt man, dass vieles so nicht möglich ist. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum nicht? – Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Sie besser machen!) Aber, liebe Kollegen, Sie geben mir dadurch die Gelegenheit, über das Tierwohl zu sprechen. Schon deswegen bin ich Ihnen dankbar, dass Sie diesen Antrag eingebracht haben. Ich kann berichten, mit welch großer Empathie sich die Landwirte täglich um ihre Tiere kümmern, bei der Pflege und Betreuung. Ich bin Herrn Minister Schmidt dankbar. Er ist heute nicht hier, aber Frau Staatssekretärin Flachsbarth wird es ihm berichten. Minister Schmidt hat in vorbildlicher Weise Prozesse angestoßen, die wegweisend sind. (Beifall bei der CDU/CSU – Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche denn? – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist an uns vorbeigegangen!) Ich kann Ihnen berichten, dass die Wirtschaft diese Anstöße aufgenommen und ein neues System entwickelt hat, bei dem eine enorme Zahl von Landwirten – das ist keine Nische – an einer Verbesserung des jetzt schon hohen Niveaus der Tierhaltung in Deutschland mitwirken kann. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo war denn der Minister dabei? Der war doch gar nicht dabei!) Der grüne Ansatz, Labels einzuführen – Sie fordern die Einführung eines weiteren Labels –, ist seit 30 Jahren bekannt; aber er ist immer gescheitert. Verbraucher sind verunsichert. Deswegen bin ich dafür, dass wir nicht in gute und schlechte Bauern aufteilen, sondern das Niveau insgesamt anheben. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um die Frage der Haltung!) Dann kommt es auch nicht mehr zu einer Stigmatisierung. Ich kann Ihnen berichten, meine Damen und Herren: Am 28. April ist die Frist für die Anmeldung zur ersten Phase der Tierwohl-Initiative ausgelaufen, und es wurden sage und schreibe 25 Millionen Tiere angemeldet. Zum Vergleich: Das Tierschutzlabel des Deutschen -Tierschutzbundes umfasst 10 000 Tiere. Die Landwirte haben 25 Millionen Tiere angemeldet, obwohl nur ein kleiner Anreiz gesetzt wird. Das ist wegweisend. Es geht nicht nur um Geld, (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, es geht um Geld!) sondern die Bauern haben wirklich verstanden, dass hier etwas zu tun ist; sie gehen mit wirklich großem Engagement voran. Die Tierwohl-Initiative ist auch von Kollegin Jantz angesprochen worden. Ich möchte an alle Kollegen hier im Deutschen Bundestag den Aufruf richten, politisch mitzuhelfen und dafür zu sorgen, dass wir keinen Landwirt in Deutschland, der mitmachen will, vor der Tür stehen lassen; alle sollen die Möglichkeit zum Mitmachen bekommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]) Ich glaube, das Engagement einer solch großen Zahl von Landwirten ist wichtig. Das ist weltweit einzigartig; das hat es noch nie gegeben. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Landwirte machen mit und verweigern sich nicht. Wir können viel über Labels, über das Bewusstsein der Verbraucher und darüber, was sie zu zahlen bereit sind, sprechen. Aber hier haben wir die Chance, gemeinsam auf den deutschen Lebensmittelhandel zuzugehen, ihn erstens dafür zu loben, dass er mitmacht, und ihm -zweitens zu sagen: Da geht noch mehr. – Es könnten alle Vertreter des deutschen Handels mitmachen; es sind noch nicht alle dabei. Ich glaube, die Initiative ist ein guter Ansatz, um sich bei diesem wichtigen Thema nicht zu entzweien, sondern mitzumachen. Ich komme auf den Antrag der Grünen zurück. Darin wird wieder von Labels gesprochen. Ich bin dafür, dass wir das Thema auf breiter Ebene nach vorne bringen. Die Initiative ist ein erster Ansatz. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Röring, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung? Johannes Röring (CDU/CSU): Eine Frage? Ja, gerne. Vizepräsidentin Petra Pau: Beides ist nach der Geschäftsordnung möglich. (Max Straubinger [CDU/CSU], an den Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Durftest du nicht reden?) Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe nicht das Problem, dass ich nicht reden darf. Wir haben allerdings leider etwas weniger Redezeit, als wir gerne hätten. – Kollege Röring, ich habe zwei Fragen. Es führte ein wenig zu Verwirrung, dass Sie die Tierwohl-Initiative mit Minister Schmidt verbanden. Uns ist nicht bekannt, dass Minister Schmidt Teil der Tierwohl-Initiative gewesen ist. Können Sie uns darüber aufklären, wo er aktiv eingewirkt hat und wann er das getan hat? Zweite Frage: Wäre es dann jetzt nicht an der Zeit, dass Minister Schmidt die Akteure des Lebensmitteleinzelhandels an einen Tisch holt und gemeinsam mit uns Agrarpolitikern versucht, hier etwas Schwung in die Zahlungsbereitschaft des Handels zu bringen? Wäre das nicht ein hohes Ziel, Herr Kollege Röring? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE] – Max Straubinger [CDU/CSU]: Es geht um die Zahlungsbereitschaft des Verbrauchers und nicht um die des Handels!) Johannes Röring (CDU/CSU): Ich darf feststellen, Herr Kollege Ostendorff: Sie schalten sehr schnell. Ich habe gerade einen Aufruf gestartet, und Sie haben ihn, was die Frage angeht, ob wir da gemeinsam die Initiative ergreifen können, jetzt schon umgesetzt. Ich glaube, das sollten wir machen. Ja, Minister Schmidt hat im Laufe des Prozesses deutlich dazu beigetragen, dass dieses Projekt, das in der Tat seit über drei Jahren vorbereitet wird und ein wirkliches Novum, einen Paradigmenwechsel darstellt – der Handel spricht endlich mit den Bauern –, jetzt im Endspurt angekommen ist. Seit knapp einem Jahr hat der Minister immer wieder erheblich dazu beigetragen, dass dieses Projekt am Ende gelingen konnte. Ich sage es mit großer Freude: Wir sind begeistert, dass so viele Landwirte bei der Tierwohl-Initiative mitmachen wollen. Noch einmal der Aufruf an Sie alle: Lasst uns das gemeinsam anpacken, damit alle Bauern mitmachen können. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich komme zum Schluss. Ich bin der Meinung: Tierwohl ist nicht teilbar. Es muss für alle Tiere auf allen Bauernhöfen gelten. Wir müssen mit der Stigmatisierung aufhören. Wir haben die große Chance, die Tierhaltung in Deutschland merklich nach vorne zu bringen. Die Landwirte bekommen diesen Mehraufwand zum ersten Mal auch honoriert. Ich kann Sie alle nur noch einmal aufrufen, mitzumachen. Der Antrag der Grünen sieht anderes vor. Deswegen lehnen wir ihn ab. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Das war jetzt überflüssig!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4812 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Vereinten Nationen geführten Mission UNMIL in Liberia auf Grundlage der Resolution 1509 (2003) und nachfolgender Verlängerungsresolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zuletzt Resolution 2190 (2014) vom 15. Dezember 2014 und der Resolution 2215 (2015) vom 2. April 2015 Drucksache 18/4768 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich gehe davon aus, dass die lauten Debatten, die im Moment noch stattfinden, keinen Widerspruch zu dieser Vereinbarung bedeuten, und bitte, die notwendigen Umgruppierungen zügig vorzunehmen und die notwendige Aufmerksamkeit für die folgende Debatte herzustellen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gabi Weber für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Gabi Weber (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Zunächst eine Feststellung: Ich habe sieben Minuten, um in der Debatte zur Einbringung des Mandats – es wird noch eine abschließende Debatte geben – über ein Mandat zu sprechen, das maximal fünf Soldatinnen und Soldaten umfassen wird. Verstehen Sie mich nicht falsch: Unsere Rolle und die Rolle des Parlamentes insgesamt sind beim Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland entscheidend, auch wenn es bloß um den Beschluss geht, einen stellvertretenden Befehlshaber inklusive persönlichem Mitarbeiterstab zu entsenden. Allerdings sieht das Parlamentsbeteiligungsgesetz für Fälle wie diesen andere Möglichkeiten vor, nämlich das vereinfachte Zustimmungsverfahren. Das wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, und trotzdem wollten Sie unbedingt über diesen Einsatz debattieren. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!) Als Unterstützerin unserer Parlamentsarmee bin ich ausdrücklich für eine umfassende Beteiligung des Deutschen Bundestages beim Einsatz der Bundeswehr. -Debatten wie diese relativieren aber aus meiner Sicht andere, sehr viel größere Einsätze der Bundeswehr, was Umfang und Auswirkung betrifft, zum Beispiel in Mali, im Kosovo oder in Afghanistan. Andererseits gibt mir das nun die Möglichkeit, verstärkt über nichtmilitärische Maßnahmen zu sprechen, die Deutschland in Liberia durchführt. Dafür dann doch vorab meinen herzlichen Dank an die Damen und Herren der Linken. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Gern geschehen!) – Danke! Seit Ende des Bürgerkrieges 2003 unterstützen die Vereinten Nationen Liberia beim Wiederaufbau. UNMIL hat den Auftrag, Zivilpersonen zu schützen, humanitäre Hilfsleistungen zu erleichtern und die Regierung bei der Reform der Justiz- und Sicherheitsinstitutionen zu unterstützen. Die Zahl der UNO-Soldaten und -Soldatinnen reduzierte sich in den vergangenen Jahren von 15 000 auf nun 4 400, dazu 1 400 Polizistinnen und Polizisten. Ein Wermutstropfen an dieser Stelle: Bisher beteiligte sich Deutschland mit immerhin 5 Polizisten. Da würde ich mir eine stärkere Beteiligung unsererseits wünschen. Denn gerade Polizeiarbeit ist in Nachbürgerkriegsländern ein unglaublich wichtiger Beitrag. (Beifall bei der SPD) Eines der größten Hemmnisse bei der Entwicklung des Landes ist die zerstörte Infrastruktur. (Unruhe – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die Union ist so laut! Da kann man sich ja nicht konzentrieren!) – Danke für die Unterstützung an dieser Stelle. – Deutschland fördert besonders den Auf- und Ausbau von Straßen und den Verkehrssektor insgesamt. Mit deutscher Technik und gefördert durch die KfW entsteht zurzeit ein Wasserkraftwerk, das Ende 2016 ans Netz gehen soll und die Stromkosten für die Menschen in Liberia erheblich senken wird. Der nachhaltige und wirtschaftlich günstige Betrieb wird in der Zukunft Mittel freisetzen, die anderenorts für einen weiteren Ausbau der Infrastruktur verwendet werden können. Hier machen wir -sozusagen eine Entwicklungsförderung durch die Hintertür, die diesem Land tatsächlich helfen wird. Dies ist eine gelungene Anschubfinanzierung zur Selbsthilfe. Seit letztem Jahr richtet sich das Hauptaugenmerk der deutschen Entwicklungszusammenarbeit auf die Bekämpfung der Ebolaepidemie in Liberia und den angrenzenden Staaten Westafrikas. Aufgrund dieser Epidemie ging das Wirtschaftswachstum zurück. Die liberianische Regierung rechnet mit Einnahmeausfällen in Höhe von 25 Prozent des Haushalts. Stellen Sie sich das einmal hier bei uns in Deutschland vor. Ausländische Unternehmen zogen ihr Personal sowie Investitionen ab. 46 Prozent der arbeitenden Menschen in Liberia verloren ihre Arbeit, insbesondere in der Landwirtschaft. Sie wissen genau wie ich, dass die Aussaat auch aufgrund des Personalmangels nicht rechtzeitig erfolgen konnte und in diesem Jahr erhebliche Ernteausfälle erwartet werden. Das heißt, zwölf Jahre nach Ende des Bürgerkriegs ist die Stabilität des Landes mehr durch die Folge der Epidemie als durch die Folgen des Bürgerkriegs gefährdet. Das können wir so nicht zulassen. (Beifall bei der SPD) Deshalb möchte ich an dieser Stelle etwas zu vorsorgender Gesundheitspolitik und internationaler Verantwortung sagen. Liberias Gesundheitssystem ist wie das der meisten Staaten der Region bereits ohne Ebola strukturell unterfinanziert. Anfang vergangenen Jahres, also vor dem Ausbruch der Ebolaepidemie, verlangte der IWF von Liberia eine striktere Sparpolitik. Laut einem Bericht der Welt vom Dezember letzten Jahres führte dies zwangsläufig zu einer Reduzierung der Gesundheitsausgaben. Ärzte konnten nicht mehr in ausreichender Zahl eingestellt und Krankenhäuser nicht mehr mit dem notwendigem Material ausgestattet werden. Das -Ergebnis auch davon war die Ausbreitung von Ebola in dem jetzt bekannten Maß, die wir seither mit vereinten Kräften zu bekämpfen versuchen. Der IWF musste für seine strikten Anforderungen nachträglich erhebliche Mittel aufwenden. Er stellte im September 130 Millionen Dollar zur Verfügung. So kann man nicht zielführend Entwicklungsarbeit machen, ein Land stabilisieren und Aufbauarbeit leisten. An dieser Stelle müssen wir wirklich überlegen, wie wir das zielführender und sauberer machen können. Aufgrund der Bedingungen der Ebolaepidemie erfolgte der nun beschlossene Truppenabbau von UNMIL ein Jahr später als geplant. Trotzdem soll Liberia bis Juni 2016 die gesamte Sicherheitsverantwortung im Land übernehmen. Mein Fazit: Notfalls steht das Militär im Hintergrund und sorgt für Sicherheit und Stabilität. -Besser und günstiger wären aber eine vorausschauende Entwicklungszusammenarbeit, Wirtschaftspolitik sowie faire europäische Handelspolitik, die an den richtigen Stellen ansetzend erst gar keine Notwendigkeit für Militäreinsätze aufkommen lassen. Unserem Soldaten und seinem Stab wünsche ich viel Erfolg und eine glückliche Hand. Diese Mission ist seit vielen Jahren sehr erfolgreich und wird es hoffentlich mit unserer Beteiligung bis zu ihrem Ende im nächsten Jahr auch bleiben. Noch mehr hoffe ich allerdings, dass eine gute und verantwortungsvolle Entwicklungszusammenarbeit für die Menschen vor Ort mehr erreichen kann als jedes Militär und damit nachhaltig faire und stabile Zustände schafft. Daher – das ist mir wichtig – ist es dringend geboten – so viel zum Schluss –, dass Deutschland seine ODA-Quote auf 0,7 Prozent erhöht. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang Gehrcke für die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Ich bin ja froh, dass ich zum Schluss Ihres Vortrags noch einen Punkt gefunden habe, bei dem ich sagen kann: Ja, das sehe ich ähnlich. – Auch ich will eine ODA-Quote von 0,7 Prozent; das ist schon längst fällig. Dazu könnten Regierung und Opposition ja einen gemeinsamen Antrag einbringen. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte nun aber ein paar Argumente vortragen und Sie bitten, darüber nachzudenken. Die erste Frage ist: Warum präsentiert uns die Bundesregierung, einige Wochen bevor die Rühe-Kommission ihren Bericht, in dessen Zentrum das vereinfachte Verfahren steht, vorlegt, hier einen Antrag, der im vereinfachten Verfahren beschlossen werden soll? Das vereinfachte Verfahren bedeutet ja: Es gibt keine Debatte im Plenum, und wenn keine Fraktion widerspricht, läuft das durch. Sie können uns gerne vorwerfen, dass wir zu falschen Schlussfolgerungen kommen. (Niels Annen [SPD]: Machen wir!) Aber werfen Sie uns nicht vor, dass wir blöd sind. Dass wir Ihnen jetzt das Argument an die Hand geben, einem vereinfachten Verfahren zugestimmt zu haben, bevor der Bericht der Rühe-Kommission debattiert worden ist, kann doch keiner ernsthaft von einer Oppositionspartei erwarten. Der Trick, im vereinfachten Verfahren das Mandat beschließen zu lassen – das haben Sie in der Begründung selbst geschrieben –, zielt auf den Bericht der Kommission und darauf, dass sich das Parlament festlegt. Mein Abwägungsprozess sieht so aus – unabhängig davon, ob es nur um einen oder zwei Soldaten oder, wie in diesem Fall, um fünf Soldaten geht –: Die Entsendung jedes Soldaten wird hier im Plenum erörtert und dann beschlossen oder abgelehnt. Das ist unser demokratisches Prinzip. (Beifall bei der LINKEN) Damit werden wir uns auseinandersetzen müssen, wenn das Parlamentsbeteiligungsgesetz hier auf den Tisch kommt. Man weiß ja mittlerweile, was da alles gelaufen ist und abgesprochen wurde. Wir haben ganz andere Belange, über die man ja auch einmal reden kann: Warum gibt es keine Bereitschaft, das Quorum im Plenum auf zwei Drittel zu erhöhen? Es wäre doch viel besser, wenn das Parlament Auslandseinsätzen mit zwei Dritteln zustimmen müsste; denn dann hätte jeder eine größere persönliche Verantwortung. Wir wollen die Hürde anheben und sie nicht einreißen. Deswegen lautet mein erster Punkt: Das vereinfachte Verfahren wird es in diesem Fall und in ähnlichen Fällen mit uns nicht geben. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wieso mehr persönliche Verantwortung? Das ist doch völliger Blödsinn!) – Ja; ich weiß, dass es für Sie immer Blödsinn ist, wenn es schwieriger werden soll, Soldaten ins Ausland zu schicken. (Dr. Egon Jüttner [CDU/CSU]: Es ging um die Verantwortung!) – Ja, natürlich. Es geht alles, wenn man es will. Mein zweites Argument ist: Warum fängt die Bundesregierung nicht an, in einer gewissen Logik bis zum Ende zu denken? Ich finde diesen Antrag ausgesprochen schlampig. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Begründung dafür, dass man das vereinfachte Verfahren anwenden möchte, beruht darauf, dass man sagt: Es gibt geringe Gefährdung und geringen Personaleinsatz. – Gleichzeitig schreiben Sie aber, wie zerrüttet das Land ist und dass dort 4 000 Soldaten im Einsatz sind, die befohlen werden sollen; es geht hier ja um einen hochrangigen Kommandeur. Beide Argumente stimmen also nicht. (Widerspruch der Abg. Gabi Weber [SPD]) Die Gefährdungssituation ist hoch – es gibt keine Stabilität; sonst haut der Antrag nicht hin –, und der Umfang wird ganz erheblich sein, da Sie hier einen hohen Kommandeur stellen wollen. Das hätten wir auch vorher miteinander klären können. Es ist ja mit Ihnen abgesprochen worden, dass sich der Kollege bewirbt; darüber hätte man ja einmal reden können. Das alles hat aber nicht stattgefunden. Es stimmt also weder die Aussage, dass es nur eine geringe Gefährdung gibt, noch die, dass der Personaleinsatz unerheblich ist. Somit dürfte man aber nicht mit dem vereinfachten Verfahren operieren. Entweder stimmt also das eine oder das andere nicht. Deshalb finde ich den ganzen Antrag außerordentlich schlampig. Ich würde hier gerne auch eine Debatte darüber führen, warum solche Einsätze immer auf Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta und nicht unter der Überschrift „Blauhelmeinsatz“ durchgeführt werden. Ich hätte gern die Debatte geführt, ob nicht ein Blauhelmeinsatz in dieser Situation angemessen gewesen wäre; denn angeblich gibt es ja keine oder nur eine geringe Gefährdung. Das wird aber nicht gemacht. Die Bundesregierung zieht durch. Es gibt in diesen Fragen keinen Widerspruch. Für sie war Kapitel VII der UN-Charta die Grundlage. Dann hat sie auch noch einen Trick angewendet und gefordert, dass wir, bevor der Bericht der Rühe-Kommission vorliegt, dem vereinfachten Verfahren zustimmen sollen. Sie können aber nicht ernsthaft erwarten, dass eine Oppositionspartei auf so etwas hereinfällt. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe für die Bundesregierung das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In meiner schönen Heimatstadt Hattingen war in den 70er-/80er-Jahren die DKP zehn Jahre lang im Stadtrat. Da waren wir Schwerpunktbezirk bei der Verteilung der Parteizeitung. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Na also! Seien Sie doch stolz drauf!) – Ja, es war manchmal unterhaltsam, das zu lesen. Das waren Berichte wie aus einer anderen Welt. Daran habe ich mich erinnert gefühlt, als das Gründungsmitglied der DKP Gehrcke hier Ausführungen gemacht hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich finde, das Thema ist zu ernst, als dass man es in dieser Weise behandeln sollte. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Dann müssen Sie auch ernsthaft sein!) Die Ebolakrise ist uns allen ja noch in lebhafter Erinnerung. Ihre verheerenden Folgen stellen Westafrika und speziell Liberia auch heute noch vor große Herausforderungen. Es geht nicht mehr um einen Bürgerkrieg. Die instabile Lage aufgrund des Bürgerkrieges ist auch dank internationaler Hilfe überwunden. Aber die Ebolaepidemie ist laut Resolution 2177 des UN-Sicherheitsrates aus dem letzten Jahr eine Epidemie, die zu einer Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit geworden ist. Erstmals hat die Völkergemeinschaft festgestellt, dass eine Krankheit auch eine sicherheitspolitische Dimension haben kann. Mir ist es deswegen ein ganz besonderes Anliegen, mich bei allen Freiwilligen für ihr Engagement und ihre Bereitschaft, in dieser Ebolakrise für die betroffenen Menschen mit ihrem persönlichen Beitrag und auch für unser Land einzustehen, ganz herzlich zu bedanken. Die Menschen verdienen unseren Dank und unseren Respekt, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Gerade vor diesem Hintergrund verdient Liberia auch weiterhin unverändert unsere besondere Aufmerksamkeit. Das Land befindet sich nach Ende des Bürgerkriegs 2003 und nach über einem Jahrzehnt intensiver Wiederaufbau- und Stabilisierungsprozesse jetzt in einer wichtigen Übergangsphase. Die Sicherheitslage ist dank der Friedensmission UNMIL der Vereinten Nationen in der Tat seit Jahren relativ stabil. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Na also!) Wichtige Erfolge wie die Durchführung demokratischer Wahlen in den Jahren 2005, 2011 und 2014 sind nicht zuletzt auch dank der unterstützenden Rolle dieser VN-Mission überhaupt möglich geworden. Das Hauptaugenmerk dieser Mission liegt derzeit auf der Unterstützung des Reformprozesses der Justiz- und Sicherheitsinstitutionen, aber auch auf dem Schutz von Zivilpersonen. Die Unterstützung der humanitären Hilfe und Förderung bzw. Schutz der Menschenrechte nehmen ebenfalls eine zentrale Rolle ein. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat darüber hinaus das Aufgabengebiet von UNMIL im letzten Jahr auf logistische Unterstützung im Ebolaeinsatz in Liberia erweitert. Rund 4 500 Soldatinnen und Soldaten sowie circa 1 500 Polizistinnen und Polizisten leisten durch zielorientierte Beratung und Unterstützung der liberianischen Regierung einen wichtigen stabilisierenden Beitrag. Im Rahmen seines eigenen Mandates arbeitet UNMIL zudem mit der Mission der Vereinten Nationen in der Elfenbeinküste bei der Stabilisierung auch des gemeinsamen Grenzgebietes zusammen, eine Kooperation, die für moderne, multidimensionale VN-Missionen steht und als Blaupause auch für zukünftige Einsätze dienen könnte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sicherheitsrat erwartet, dass die Regierung Liberias spätestens Ende Juni nächsten Jahres die Sicherheitsverantwortung vollständig von UNMIL übernehmen wird. Die Mission geht jetzt also in ihre entscheidende Zielphase. Da ist es schon eine Ehre für uns, dass unser Land am 2. September letzten Jahres vom Sekretariat der Vereinten Nationen gebeten wurde, die Nominierung eines geeigneten Kandidaten für den Posten des stellvertretenden militärischen Befehlshabers der UNMIL zu prüfen. Der von der Bundesregierung daraufhin nominierte Bewerber konnte sich durchsetzen, wie uns die Vereinten Nationen am 15. April, also vor wenigen Wochen, offiziell mitgeteilt haben. Es ist derzeit beabsichtigt, zu seiner Unterstützung zwei weitere Soldaten beizustellen. In der Tat: Über diese drei Soldaten reden wir jetzt hier in dieser Ausführlichkeit. Lassen Sie mich an dieser Stelle hervorheben, dass die Anfrage und die bewusste Entscheidung der Vereinten Nationen für den deutschen Bewerber allein bereits eine Anerkennung unseres Engagements in VN-Friedensmissionen ist. Die geplante militärische Beteiligung fügt sich ein in ein bereits bestehendes umfassendes Engagement der Bundesregierung zur Stabilisierung dieses Landes. Von den Polizistinnen und Polizisten zum Aufbau liberianischer Sicherheitsstrukturen ist bereits die Rede gewesen. Aber auch im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit unterstützen wir Liberia bereits seit dem Ende des Bürgerkrieges, also seit mehr als zehn Jahren. Flankiert wird dieses Engagement durch Sondermaßnahmen und humanitäre Hilfspakete im Zuge der Ebolaepidemie und zur Linderung der Folgen. So war es erst durch internationale Unterstützung möglich, die Ebolakrise einzudämmen und die langfristige Kontrolle der Epidemie einzuleiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum vereinfachten Verfahren hat die Kollegin von der SPD bereits das Notwendige gesagt. Dies ist in der Tat ein klassischer Fall dafür. Wir haben eine vergleichsweise stabile Situation, aber durch die Ebolaepidemie eben eine neue Herausforderung. Wir reden über drei Soldaten. Aber gut, das werden wir aushalten, und die Argumente können wir gerne austauschen. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ab wann wäre es Ihrer Meinung nach notwendig? 20? 50? 250? 1 000?) Andere, die dort im Einsatz sind, leisten eine wirklich wichtige und ehrenwerte Arbeit. Gerade in Zeiten dieser Krankheit ist sie manchmal auch schwierig. Deren Arbeit dort ist sehr anerkennenswert. Wir sind gerne bereit, auch darüber zu debattieren. Ob vereinfachtes Verfahren oder nicht: Sie verdienen den Rückhalt dieses Hohen Hauses. Darum möchte ich Sie bitten. Herzlichen Dank dafür. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Herr Dr. Frithjof Schmidt von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Wolfgang Gehrcke, das vereinfachte Verfahren gibt es ja nun schon seit Jahren. Das muss also nicht neu eingeführt werden. Insofern sollte man einfach immer von der Sache her beurteilen, ob das sinnvoll ist oder nicht. Ich will einfach sagen: Da es im Kern darum geht, dass ein deutscher Offizier die Leitung einer sehr wichtigen UN-Mission übernimmt und noch zwei bis vier Mitarbeiter mitbringen darf, hätte meine Fraktion einem vereinfachten Verfahren zugestimmt, weil wir finden, dass das in der Tat ein Fall ist, bei dem man das tun kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich finde es aber überhaupt nicht schlimm, dass wir jetzt einmal Gelegenheit haben, eine halbe Stunde über die Situation in Liberia zu diskutieren. Insofern hat das Ganze auch eine nützliche Seite; denn das Thema verdient dies schon. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte deswegen auch noch einmal darauf hinweisen, warum wir diese Mission unterstützen wollen. Das hat mir bei Ihrem Beitrag ein bisschen gefehlt. Ich habe auch nicht ganz verstanden, ob die Linke die UNO und ihre Arbeit in Liberia jetzt unterstützen will oder nicht. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Nein, das wollen sie nicht!) Das ist ja eigentlich die politisch wichtige Frage. In Liberia hat 14 Jahre lang einer der schlimmsten Bürgerkriege auf dem afrikanischen Kontinent getobt. Das war wirklich brutal. Und es war eine ganz große Herausforderung für die UNO, dort 2003 nicht nur den Waffenstillstand zu stabilisieren – das war einer der wenigen Fälle, wo so etwas einmal erfolgreich war –, sondern auch die Bürgerkriegsparteien zu entwaffnen. Deswegen machte es in diesem Fall auch Sinn, auf Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen zurückzugreifen, weil man eine Entwaffnung nicht ohne Weiteres hinbekommen hätte, wenn man nicht die entsprechenden Möglichkeiten dazu hat. Die UNO musste in diesem völlig zusammengebrochenen Land alle Staatsaufgaben übernehmen, weil fast alle Strukturen zusammengebrochen waren. Das ging weit über das klassische Peacekeeping hinaus. Jetzt sind sie seit zwölf Jahren da, und nach diesen zwölf Jahren gibt es in der Bilanz natürlich Licht und Schatten. Auch UNMIL konnte die Korruption im Land nicht eindämmen, und noch immer funktioniert vieles in Liberia nicht gut. Trotzdem muss man sagen: UNMIL war und ist eine der erfolgreichsten Missionen der Vereinten Nationen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Es konnte eine stabile Staatsstruktur aufgebaut werden. Es ist wirklich gelungen, einen politischen Versöhnungsprozess im Land anzustoßen; das ist eine große Leistung. Das Ansehen der UN-Soldaten bei den Bürgerinnen und Bürgern Liberias ist sehr hoch. Die politische Lage ist wieder stabil. 2005, 2011 und 2014 konnten Wahlen durchgeführt werden, die das Wort „Wahlen“ wirklich verdient haben, und mit Ellen Johnson Sirleaf wurde 2005 auch die erste afrikanische Präsidentin gewählt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Niels Annen [SPD]) Man kann also sagen: Es gibt dort eine demokratische Entwicklung. Das ist mehr, als man über viele andere Krisenländer, in denen man interveniert hat, sagen kann. Deshalb unterstützt meine Fraktion diese UN-Mission wirklich nachdrücklich, und deshalb ist es auch richtig, dass sich Deutschland dort etwas stärker – so viel ist es ja nicht, aber das will ich gar nicht weiter kritisieren – engagiert. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Man kann einfach festhalten: Liberia ist noch lange nicht am Ziel. Justiz- und Sicherheitsreformen müssen durchgeführt werden. Der Wiederaufbau einer funktionsfähigen Polizei muss vollendet werden. Humanitäre Unterstützung ist weiterhin nötig. Wir haben bereits über die Ebolakrise gesprochen. Dafür, dass man diese Epidemie überhaupt einigermaßen in den Griff bekommen konnte, war die Tatsache ganz zentral, dass UNMIL staatliche Strukturen wiederaufgebaut hatte und dort auch aktiv Hilfe geleistet hat. Auch in diesem Zusammenhang ist diese Mission ungeheuer wichtig gewesen. UNMIL ist jetzt in einer entscheidenden Phase. Bis 2016 soll die Sicherheitsverantwortung an die liberianische Regierung übergeben werden. Von ehemals 15 000 Soldaten sind jetzt noch etwa 4 500 im Land. Die Anzahl soll weiter heruntergefahren werden. In dieser entscheidenden Phase hat die UNO einen deutschen Kandidaten für die stellvertretende Leitung der Mission ausgewählt und bittet nun Deutschland, diesen und bis zu vier weitere Soldatinnen und Soldaten für die Arbeit in UNMIL freizustellen. Dazu kann ich nur sagen: Das ist gut; und wenn wir der UN-Mission an zentraler Stelle helfen und sie stärken können, dann sind wir dafür. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Letzte Bemerkung. Wenn wir die vielen internationalen Krisen sehen, dann ist für uns die Stärkung der Vereinten Nationen auf allen Ebenen das politische Gebot der Stunde. Das gilt auch und gerade für den Peacekeeping-Bereich. Die UNO stellt immer wieder drängende Anfragen, und wir sollten unsere Fähigkeiten so aus- und umbauen, dass wir verstärkt helfen können. Für uns gehört das ins Zentrum der sicherheitspolitischen Diskussion. Ich empfehle meiner Fraktion nachdrücklich, diesem Mandat zuzustimmen. Danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte spricht Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Den Worten meines Vorgängers möchte ich mich gerne anschließen; denn Herr Schmidt hat aus meiner Sicht sehr gut deutlich gemacht, dass UNMIL eine der erfolgreichsten UNO-Missionen ist. Das zeigt, wie wichtig es ist – wir diskutieren hier ja immer wieder über ganzheitliche bzw. nachhaltige Auslandseinsätze und über Lösungsansätze für schwierige Regionen wie die in Afrika –, dass man versucht, die Mittel zu kombinieren. Das betrifft Entwicklungszusammenarbeit und wirtschaftliche Zusammenarbeit, aber auch finanzielle Instrumente, und letztendlich gehören dazu auch Polizeimaßnahmen – wir sind auch mit fünf Polizisten im Land aktiv – und militärische Maßnahmen, auch wenn sie in diesem Fall nur in sehr begrenztem Maße stattfinden. Ich bin Staatssekretär Brauksiepe besonders dankbar, dass er die Worte von Herrn Gehrcke, was den militärischen Charakter dieses Mandats angeht, richtig eingeordnet hat. Der humanitäre Beitrag, den UNMIL leistet, ist nicht außer Acht zu lassen. Man sollte das aber nicht mit einem Kampfeinsatz verwechseln und so tun, als ob es darum ginge, in einen Krieg zu ziehen. Das ist nicht der Fall. Diese Ihre Beschreibung, Herr Gehrcke, fand ich genauso wenig passend wie die Tatsache, dass Sie sich bei Verfahrensfragen aufgehalten haben. Aber darauf ist Herr Staatssekretär Brauksiepe bereits ausführlich eingegangen. Wir haben über das hinaus, was wir im Rahmen von UNMIL leisten, sehr viel für die Entwicklung des -Landes getan, und zwar nicht allein im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit. So wurde im Rahmen des Pariser Clubs die Entschuldung des Landes herbeigeführt – ein Beispiel für finanzielle Maßnahmen, die ich eben angesprochen habe. Man sollte nämlich nicht glauben, dass es möglich ist, ein Land nur durch Spenden oder einmalige Wohltaten auf den richtigen Weg zu bringen. Vielmehr muss man versuchen, auch die fiskalischen Probleme in den Griff zu bekommen. Das ist mithilfe der internationalen Gemeinschaft geschehen. Die Präsidentin ist mittlerweile wiedergewählt worden; Herr Schmidt hat das bereits angesprochen. Die große Bewährungsprobe für afrikanische Länder ist – in Ghana ist das sehr gut gelungen; Nigeria steht nun vor dieser Herausforderung –, ob auch ein friedlicher Machtwechsel gelingt. Ich würde die Funktionsfähigkeit von Demokratien in Afrika also nicht nur an einer Wiederwahl festmachen. Die Transition von der Opposition zur Regierung ist eigentlich der entscheidende Lackmustest dafür. Ich finde, dass Liberia auf einem guten Weg ist. Aber die letztendliche Entwicklung lässt sich heute noch nicht voraussehen. Es wurde bereits von mehreren Rednern angesprochen: Zu Elend und Armut in diesem Land kam die -Ebolakatastrophe als großes Unglück hinzu. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, das Land weiterhin zu unterstützen. Ich halte jeden für mutig, der bereit gewesen ist, in die Ebolaregion zu gehen, seien es in diesem Fall die Angehörigen der Bundeswehr, die Polizeiangehörigen, unsere Entwicklungshelfer, die Menschen, die dort ehrenamtlich tätig sind, oder die Vertreter des Auswärtigen Amtes. Wir haben in dieser Region tatsächlich eine Situation, die sehr viel persönlichen Mut abverlangt, überhaupt dort hinzugehen. Deshalb möchte ich nicht nur für das Mandat werben und um Zustimmung in der weiteren Beratung bitten, sondern auch denjenigen danken, die sich auf diesen schwierigen und mutigen Weg gemacht haben. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4768 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Korte, Dr. André Hahn, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unabhängige Historikerkommission zur Geschichte des Bundeskanzleramtes einsetzen Drucksache 18/3049 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist es auch so beschlossen. Ich kann die Aussprache eröffnen, sobald die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Jan Korte für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Jan Korte (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen, am 8. Mai, danken wir den Alliierten für die Befreiung Europas von der Herrschaft des Haken-kreuzes. Wir gedenken der Opfer. Heute aber wollen wir einen Blick auf die Täter richten; denn diese prägten maßgeblich die Geschicke der frühen Bundesrepublik. Die frühe Bundesrepublik war geprägt von der Rückkehr der alten Eliten in Staat, Wirtschaft, Militär und, -besonders verheerend, in die Justiz; denn sie kehrten nicht nur zurück als Täter und Massenmörder, sondern sie prägten die Rechtsprechung in der Bundesrepublik, zum Beispiel bei der Gehilfenrechtsprechung. Selbst der Adjutant von Auschwitz, der an Vergasungen selber beteiligt war, wurde nicht als Täter verurteilt, sondern als Gehilfe. In der Gesellschaft damals, bei der Masse der Bevölkerung dominierte Verdrängung. Die großen Sozial-psychologen Alexander und Magarete Mitscherlich nannten es „die Unfähigkeit zu trauern“. Erst durch minoritäre Gegenpositionen bewegte sich etwas. Ich denke dabei an Martin Niemöller und das Stuttgarter Schuldbekenntnis, an Eugen Kogon und natürlich an den großartigen Fritz Bauer. Noch in den 50er-Jahren galt Stauffenberg übrigens aufgrund seines Attentatsversuchs am 20. Juli als Landesverräter bei den Eliten und weiten -Teilen der Gesellschaft. Erst im Remer-Prozess führte Fritz Bauer den brillanten Nachweis, dass ein Unrechtsregime wie der Nationalsozialismus gar nicht hochverratsfähig sein kann. Er brachte es auf die Formel: Unrecht kennt keinen Verrat. (Beifall bei der LINKEN) Erst durch diese Gegenpositionen und viele andere änderte sich etwas. Ich erinnere an den vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiierten Auschwitz-Prozess. Ich erinnere an Emigranten wie Willy Brandt, die damals übrigens in der Politik als Landesverräter -beschimpft wurden, und insbesondere Willy Brandts großartige Geste, den Kniefall im Warschauer Ghetto. Willy Brandt tat das als Opfer; er war kein Täter. Die -Täter haben sich nicht entschuldigt. Schließlich erinnere ich an die 68er, die maßgeblich zur Aufarbeitung beigetragen haben durch unzählige Geschichts- und Gedenkinitiativen. So gab es vor 20 Jahren – auch das ein Jubiläum – die erste Wehrmachtsausstellung. Auch daran sollten wir uns erinnern, und wir sollten den Machern von damals noch einmal einen großen Dank für diese Tat der Aufklärung zollen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Kehrseite ist allerdings, dass die Deserteure erst im Jahre 2002 rehabilitiert wurden, die Kriegsverräter erst im Jahre 2009, und die sowjetischen Kriegsgefangenen bis dato immer noch eine vergessene Opfergruppe sind und bis heute immer noch nicht entschädigt worden sind. Auch das wird höchste Zeit. Es leben nur noch wenige. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) All diese Gegenpositionen, all diese Initiativen und das Insistieren von kritischer Wissenschaft, von engagierten Journalisten führten zu einem Umdenken. Die Erfolge will ich auch benennen. Die Studie Das Amt und die Vergangenheit über den verbrecherischen Charakter des Auswärtigen Amtes innerhalb des NS-Regimes ist ein Meilenstein gewesen, nicht nur weil dort sehr viel Neues stand – es stand auch vieles drin, was schon bekannt gewesen ist –, sondern vor allem deswegen, weil ein damaliger Außenminister – in diesem Fall Joschka Fischer – eine solche Historikerkommission offiziell eingesetzt hat und diese von Guido Westerwelle als weiterem Außenminister fortgesetzt wurde. Das ist gar nicht hoch genug anzurechnen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch die unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des BND hat entgegen meinen Annahmen – ich hätte das gar nicht für möglich gehalten – extrem viel Gutes, Neues und Kritisches über die braunen Wurzeln beim BND hervorgebracht. Auch das war eine gute Sache. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Heute muss es um die damalige politisch-administrative Schaltzentrale gehen, nämlich um das Kanzleramt. Wer die anderen aktuellen Projekte, auch das beim BMI, für sinnvoll hält, kann nicht allen Ernstes gegen die Einsetzung einer unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte des Kanzleramts sein; (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) denn im Kanzleramt wurde politisch entschieden, dass die alten Eliten zurückkommen, und von dort aus wurde das kollektive Schweigen politisch organisiert und gesteuert. Hans Globke war ja nur die Spitze des Eisbergs. Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Globke war von 1953 bis 1963 Chef des Kanzleramtes, und er war zuvor Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Gesetze; das sollte man nicht vergessen. Adenauer, der nun gewiss kein Nazi war, nicht einmal ansatzweise, (Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Das ist aber nett, Herr Korte! Diese Aussage freut uns aber!) hat diese Politik willentlich in Kauf genommen; denn sie hat bei Wahlen in der Bevölkerung Mehrheiten gebracht – und das ist das eigentlich Traurige. Wer für lückenlose Aufarbeitung ist, kann um diese exekutive Schaltzen-trale keinen Bogen machen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Beste wäre natürlich, wenn die Initiative dafür vom Kanzleramt selbst ausgehen würde. Im Übrigen, Kollege Lengsfeld, ist das auch eine Gelegenheit für die CDU, über ihre Rolle bei der Politik der 50er- und 60er-Jahre nachzudenken. Zum Schluss. Ralph Giordano, der kürzlich verstorbene große Publizist, hat in seinem Buch Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein zu dieser Zeit Folgendes gesagt – ich zitiere –: Als sei die Adenauerära bis hinein in die sechziger Jahre so etwas gewesen wie eine gigantische -Korrumpierungsofferte der konservativen Herrschaft an ein mehrheitlich auseinandersetzungsunwilliges Wahlvolk, eine Art Stillhalteangebot, das sich teils wortlos aus der allgemein konspirativen Atmosphäre ergab, teils aber auch kräftig organisiert war. Diese Offerte lautete: Für die kollektiven Wiedereinstellungen selbst schwerstbelasteter -Berufsgruppen, für Pensionskontinuität, für die Exkulpierungsagitation – für all das: demokratisches Wohlverhalten! Diese Offerte ist akzeptiert worden – der große Frieden mit den Tätern. Politisch trägt dafür in besonderer Weise das Kanzleramt von damals die Verantwortung. Daher sollte die Geschichte des Kanzleramtes jetzt aufgearbeitet werden. Das wäre ein ganz kleiner Schritt zur Abtragung der „zweiten Schuld“. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Herr Dr. Lengsfeld das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Trotz Ihrer Rede, Herr -Kollege Korte, hat der Antrag der Linksfraktion auf den ersten Blick eine gewisse seriöse Anmutung: „Unabhängige Historikerkommission zur Geschichte des Bundeskanzleramtes einsetzen“. Man könnte denken: Ja, wir klären die NS-Geschichte der Fachministerien auf, also könnten wir doch darüber diskutieren, diese Aufklärung auf das Bundeskanzleramt auszuweiten. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!) Trotzdem hatte ich bei diesem Antrag von Anfang an ein komisches Gefühl, und Ihre Rede hat dieses Gefühl -natürlich massiv verstärkt, Herr Kollege. Dies regte sich schon angesichts des Zeitpunktes der Einbringung Ihres Antrags. Der ursprüngliche Antragstext stammt vom November 2014, eingebracht hat die Linksfraktion ihn aber erst jetzt, in der Plenarwoche mit dem 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom nationalsozialistischen Terror-regime, den wir morgen begehen. Dieser Antrag ist ganz offenbar Teil einer größeren PR-Kampagne. (Jan Korte [DIE LINKE]: Oh Gott!) Jetzt könnte man sagen: Okay, die Linkspartei ist aufgrund ihrer eigenen, schwer belasteten Vergangenheit eben sehr geschichtsbewusst und möchte mithelfen, dass diese Demokratie die Verbrechen und Fehlleistungen ihrer Geschichte nie vergisst; und ein bisschen PR machen wir ja alle. Leider ist die Sachlage aber eine ganz andere. Diesen Antrag in dieser Form zu diesem Zeitpunkt von dieser Fraktion empfinde ich als Frechheit, meine Damen und Herren! (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN) Die NS-Aufarbeitung der Fachressorts ist in vollem Gange. Dies wird eindrücklich durch die ausführliche Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4238 vom März dieses Jahres belegt. Ich gehe gerne auch in die Details. Es ist klar, dass für die Bundesfachressorts sehr intensive Arbeiten zur Aufarbeitung ihrer NS-Zeit laufen. Auch über die Nachwirkungen auf deren Wiederaufbau wird geforscht. Auslöser war, wie erwähnt, die Arbeit der Unabhängigen Historikerkommission für das Auswärtige Amt, welches als Pionier voranging. Jetzt laufen solche Arbeiten – um nur einige wichtige Ministerien zu nennen – auch für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das Bundesministerium der Finanzen, das Bundesministerium der Justiz und das Bundesministerium des Innern. Übrigens wird auch die Vergangenheit des Fachressorts BKM aufgearbeitet. Gleiches gilt – das wurde auch schon erwähnt – für den BND und das BKA. Das ist aber noch nicht alles. Die Aufarbeitung findet auch in nachgeordneten Bundesinstitutionen statt: in der Bundesagentur für Arbeit, in der Deutschen Nationalbi-bliothek, im Bundesarchiv oder im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Auch diese Aufzählung ist nur exemplarisch. Auf Seite 14 der Beantwortung der Kleinen Anfrage finden Sie eine übersichtliche Tabelle mit der vollständigen Liste der Ministerien und Institutionen inklusive der gar nicht so geringen Kosten und des Bearbeitungsstatus. Die NS-Vergangenheit und ihre Auswirkungen auf die Nachkriegszeit werden für die Fachressorts der Bundesrepublik also sehr umfassend aufgearbeitet, meine Damen und Herren. Das ist auch kein Zufall; denn diese Koalition hat sich dazu im Koalitionsvertrag gemeinsam verpflichtet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Martin Dörmann [SPD]) Um ganz sicherzugehen, dass keine Lücken bestehen, wurden von der Staatsministerin für Kultur und Medien die zwei großen zeitgeschichtlichen Forschungsinstitute mit einer Bestandsaufnahme beauftragt. Deren Ergebnisse werden sicherlich von den entsprechenden Ressorts berücksichtigt. Die NS-Zeit der Fachressorts wird also umfassend aufgearbeitet. Dem würde vermutlich – so habe ich Sie auch verstanden, Herr Kollege Korte – nicht einmal die Linkspartei widersprechen. Was also soll der Antrag der Linksfraktion? Er möchte eine Aufarbeitung der demokratisch legitimierten Nachkriegszeit des Bundeskanzleramtes von 1949 bis 1984 bewirken. Die Stoßrichtung des Antrags zielt auf den Umgang des Bundeskanzleramtes mit der Aufarbeitung der NS-Zeit in den Fachministerien und der Gesellschaft insgesamt. Herr Korte hat dies ja gerade wortreich erläutert. Und wieder sage ich: Es ist ja nicht so, dass dieses Anliegen der Linksfraktion vollkommen abwegig wäre. Im Bundeskanzleramt wie in Westdeutschland insgesamt ist sicherlich nicht alles gleich richtig gemacht worden. Ich sage es noch einmal: Wenn man unterstellt, dass eine schwer gebrandmarkte Partei aufgrund der schonungslosen Aufarbeitung der eigenen Geschichte besonders sensibilisiert ist für mögliche Schwächen bei anderen und hier quasi helfen will, dann gäbe es – ich wiederhole mich ausdrücklich – eine gewisse Legitimation für diese Diskussion heute. Leider ist dem aber nicht so; denn im Antrag wird ein sehr, sehr wichtiger Aspekt verschwiegen. Wenn wir über die Nachkriegszeit in Westdeutschland nachdenken – gerade im Hinblick auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit –, dann müssen wir auch über die Rolle der SED und der DDR-Staatsmacht reden. Denn die SED hat jahrzehntelang  unter ungeheurem Einsatz von Geld, Archivmaterialien, des Staatsapparats, aber auch vieler informeller Mitarbeiter in den Medien und der Wissenschaft in Ost und West eine massive Kampagne gegen die demokratische BRD gefahren, und zwar mit dem klaren Ziel, den demokratischen Staat zu denunzieren. Es wurde suggeriert, dass in Westdeutschland die NS-Vergangenheit nicht nur nicht aufgearbeitet wurde, sondern dass es eine personelle, geistige und strukturelle Kontinuität gab. Im Visier dieser Propagandakampagnen waren immer zuerst die Repräsentanten der Demokratie, allen voran das Bundeskanzleramt. Die Kampagnen waren übrigens gar nicht so erfolglos, auch deswegen, weil nicht alle Vorwürfe völlig falsch waren. Das prominenteste Beispiel – es ist hier auch schon erwähnt worden – ist natürlich die NS-Verstrickung des langjährigen Kanzleramtschefs Hans Globke. Trotzdem waren die Mittel der SED im Kampf gegen Bonn alles andere als rechtsstaatlich oder fair. Es wurde auch nicht davor zurückgeschreckt, fehlendes belastendes Material selbst nachzufabrizieren oder existierendes Material stark anzuspitzen. Der Zweck heiligt die Mittel; so haben es die Stalinisten immer gemacht. Es war eine schmutzige, asymmetrische, antidemokratische Propagandaschlacht. (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aufhören! – Jan Korte [DIE LINKE]: Jetzt sagen Sie doch mal was zum Kanzleramt! Das ist ja neurotisch!) Meine Damen und Herren, der Antrag der Linksfraktion blendet diesen Teil der gemeinsamen deutschen Geschichte völlig aus. Auch in Ihrer Rede, Herr Kollege Korte, habe ich davon kein einziges Wort gehört. (Jan Korte [DIE LINKE]: Darum geht es auch überhaupt nicht!) – Darum geht es nur aus Ihrer Sicht nicht; aber natürlich geht es darum. – Dabei wäre ein Verschweigen, wie Sie es hier an den Tag gelegt haben, gar nicht nötig gewesen; denn die massive Kampagne der SED hatte auf verquere Art und Weise eine durchaus positive Wirkung, und zwar für die Demokratie in Westdeutschland, da sie die tatsächlich oft zu zögerliche Aufarbeitung massiv befeuerte. Trotzdem ist von den Propagandalügen der SED gegen das damalige Kanzleramt und seine demokratisch gewählten Verantwortungsträger – Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl; der von Ihnen vorgeschlagene Zeitraum geht ja bis 1984 – zu viel im kollektiven Gedächtnis dieses Landes verblieben, sodass man das bewusste Verschweigen – das ist ja Ihr Thema – dieses Teils der Geschichte als weiteres Kapitel genau solcher Propaganda ansehen kann oder vielleicht sogar ansehen muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, der vernünftige Teil Ihrer Fraktion – ich denke immer noch, dass es den gibt; vielleicht täusche ich mich da auch – (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bestimmt!) hat hier wieder einmal eine große Chance vertan. Diesen Antrag in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt einzubringen, war kein ernstgemeintes Gesprächsangebot, sondern ein rein taktisches Manöver der Scharfmacher in Ihren Reihen, und genauso werden wir Ihren Antrag auch behandeln. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Jetzt hat Jan Korte von der Linken das Wort für eine Kurzintervention. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch! – Gegenruf des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist Demokratie! Das haben Sie doch eben selber gesagt!) Jan Korte (DIE LINKE): Es ist in der Tat die Frage, ob es sich lohnt, darauf einzugehen. Aber das steht ja nun einmal im Raum, und zumindest drei Anmerkungen will ich dazu machen. Erstens. Kollege Lengsfeld, man muss im Kopf schon wirklich sehr schräg drauf sein, um bei diesem Antrag zu dieser Debatte darauf zu kommen, dass das eine Fortsetzung von SED-Propaganda aus dem Kalten Krieg wäre. So schräg muss man erst einmal drauf sein. Zweitens. Es interessiert mich ja schon: Was bitte hatte die SED, über die wir zu Recht immer wieder kritisch diskutieren und deren Geschichte wir aufarbeiten (Lachen bei der CDU/CSU) – ich war nicht in der SED; ich bin wie die Kollegin Högl in Osnabrück geboren; also bitte, was soll das denn? –, mit der Vergangenheit von Hans Globke zu tun? Was hatte die SED damit zu tun, dass Hans Globke an der Verfassung der Nürnberger Gesetze beteiligt war? Das ist doch aberwitzig, was Sie hier erzählen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drittens. Das sei dann schon noch einmal gesagt: Wir reden hier über schwerstbelastete NS-Täter, die maßgeblich durch das Kanzleramt, durch die politische Weichenstellung damals, wieder in Amt und Würden kamen. Ich finde es nicht angemessen, das Thema so zu behandeln. Denn es geht hier um eine Vergangenheit als Einsatzgruppenleiter, die Zehntausende von Frauen, Kindern und Männern hingemetzelt haben. Es geht um Auschwitz, um Treblinka und vieles andere mehr. Wie kommen Sie eigentlich bei so einem Thema auf eine solche Argumentation? Wenn hier irgendjemand im Kalten Krieg voll hängen geblieben ist, dann sind es Sie. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Lengsfeld. Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege Korte, ich hatte mir vorher überlegt, was als Gegenreaktion von Ihnen kommen könnte. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie sich hier einfach hinstellen und so tun, als ob es das alles nicht gegeben hätte. Ich könnte meinen gesamten Vortrag noch einmal halten. Stattdessen frage ich Sie ganz klar: Wollen Sie etwa behaupten, dass es die massive Propagandakampagne der SED und der DDR überhaupt nicht gegeben hat? (Jan Korte [DIE LINKE]: Nein! Wer hat das denn gesagt? Es geht aber gar nicht darum! – Weitere Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe hier überhaupt keine Taten relativiert. Aber ist Ihnen klar, dass die DDR Schauprozesse vor der Weltpresse inszeniert hat, mit Hans Globke, aber auch mit anderen? (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, aber darum geht es in diesem Fall doch nicht!) Ist Ihnen klar, dass Erich Mielke Materialien fabriziert hat, ein eigenes Archiv geführt und eine große Abteilung gegründet hat, die sich den lieben langen Tag nur mit den von Ihnen hier dargestellten Themen beschäftigt hat? (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um die Geschichte des Bundeskanzleramtes!) Ziel dieser Kampagnen war das Bundeskanzleramt. (Jan Korte [DIE LINKE]: Was hat das damit zu tun?) Ich empfinde es schon als eine Frechheit – dass Sie später geboren wurden und dass Sie aus dem Westen sind, ist schön und gut –, dass Sie sich hier hinstellen und Ihre eigene Geschichte oder vielmehr unsere gemeinsame Geschichte leugnen wollen. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird nicht besser!) Dass Sie hier so tun, als ob der zugegebenermaßen kleinere Staat gar keinen Einfluss auf die ganze Debatte hatte und dass die ganze Art und Weise, wie gegen Westdeutschland, gegen die Kanzler und das Bundeskanzleramt gehetzt wurde, mit Ihrer Diskussion und mit der historischen Aufbereitung, die Sie hier machen, gar nichts zu tun hat, finde ich ziemlich dreist. (Jan Korte [DIE LINKE]: Ach Gott! Ihnen ist nicht zu helfen!) Ich hätte nicht gedacht, dass Sie das versuchen. Ich empfehle Ihnen gerne die Lektüre der verschiedenen Fachhistoriker. Sie können auch gerne einmal in Hohenschönhausen vorbeischauen. Hubertus Knabe ist auf diesem Gebiet ein Experte. Sie haben da offensichtlich ein Stück weit Nachholbedarf. Ich bin wirklich enttäuscht. Ich bin ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass dieses Verhalten für Ihre Fraktion repräsentativ ist. Herr Gehrcke, den ich gerade anschaue, weiß genau, wovon ich rede. Sie, Herr Korte, scheinen das nicht zu wissen. Ich empfehle Ihnen ein gewisses Maß an historischer Aufbereitung dieses Teils der Geschichte; denn er gehört nun einmal dazu. Da können Sie sagen, was Sie wollen. (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Thema verfehlt! – Jan Korte [DIE LINKE]: Oberpeinlich!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulle Schauws von den Grünen das Wort. Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Lengsfeld, ich finde schon, dass das, was Sie gerade gesagt haben, ein wenig am Thema vorbeigeht. Wenn Sie das, was Sie gerade ausgeführt haben, in Form eines Antrags hier einbringen wollen, können Sie das machen. Heute geht es aber um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Bundeskanzleramtes. Darüber reden wir hier. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Morgen Vormittag kommen wir hier im Bundestag zusammen, um gemeinsam des Endes des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren und der Befreiung vom menschenverachtenden System der Nazigewaltherrschaft zu gedenken. Genau darum geht es: Wir tragen Verantwortung für unsere Vergangenheit, und wir tragen Verantwortung für die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Das bedeutet auch, dass wir uns mit unserer deutschen Geschichte aktiv und kritisch auseinandersetzen und diese systematisch und schonungslos aufarbeiten müssen, Herr Lengsfeld. Das ist der Fokus, den wir heute hierauf legen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das gilt neben privaten Institutionen und Unternehmen insbesondere auch für die NS-Vergangenheit der Ministerien und der Behörden des Bundes. Ihre Aufarbeitung steckt auch 70 Jahre nach Kriegsende in den Kinderschuhen. Weil wir in einer Kleinen Anfrage nachgefragt haben, liegen die Antworten hierzu heute auf dem Tisch, aus denen Sie zitiert haben. (Jan Korte [DIE LINKE]: Genau!) Sie haben nicht gesagt, dass das Bundeskanzleramt hier etwas gemacht hat. Es hat nämlich noch nichts gemacht. Das ist aus Ihren Worten ganz klar hervorgegangen. Unter Rot-Grün hat 2005 der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer ein Forschungsprojekt zur NSVergangenheit des Auswärtigen Amtes in Auftrag gegeben. Damit wurde ein längst überfälliger Schritt in Richtung Aufarbeitung gemacht. Fischer musste damals gegen erheblichen Widerstand angehen. Wichtig war aber, dass so eine gesellschaftliche Debatte in Gang kam. Der 2010 veröffentlichte Abschlussbericht „Das Amt und die Vergangenheit“ entlarvte dabei eine lange aufrechterhaltene Legende. Das Auswärtige Amt war keinesfalls ein Hort des Widerstandes. Nein, es war tief in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt. Es hat NS-Verbrechen nach außen gedeckt und war aktiv an ihnen beteiligt. Nur wenige der Diplomaten und Mitarbeiter wurden zur Rechenschaft gezogen. Viele haben ihre Karrieren nach dem Krieg fortgesetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zeigt, wie wichtig Untersuchungen zu personellen und sachlichen Kontinuitäten in der Nachkriegszeit auch in anderen Bundesministerien und Behörden sind. Sie leisten einen entscheidenden Beitrag zur Klärung der Frage, warum nationalsozialistische und rassistische Einstellungen auch heute noch in unserer Gesellschaft bis weit in die Mitte hinein verbreitet sind. Und genau deshalb haben wir uns als grüne Bundestagsfraktion in den letzten Jahren mit zahlreichen Kleinen Anfragen und Anträgen dafür eingesetzt, dass die nach wie vor stockende Aufarbeitung vorangetrieben wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, es steht in Ihrem Koalitionsvertrag – die Bundesregierung hat es groß angekündigt –, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehörden voranzutreiben. Die Frage ist: Wo stehen Sie damit? Bis heute haben bei weitem nicht alle Bundesministerien ihre Vergangenheit im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit beleuchtet. Einige haben, wie gesagt, noch nicht einmal damit begonnen. Aber dass auch das Bundeskanzleramt sich bis heute davor drückt, seine Geschichte von einer Historikerkommission aufarbeiten zu lassen, das, muss ich sagen, ist wirklich skandalös. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Fadenscheinige Begründungen, historische Forschung sei grundsätzlich Aufgabe der Wissenschaft oder Akteneinsicht beim Bundesarchiv könne zu Forschungszwecken ermöglicht werden, bedeuten doch keinen verantwortungsvollen Umgang mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es reicht auch nicht aus, auf die Aufarbeitung der Vergangenheit des BND zu verweisen. Ich sage ganz klar: Das Kanzleramt darf sich nicht länger um eine ehrliche Antwort auf Fragen über seine Vergangenheit und die eigene historische Verantwortung drücken. Die Fraktion Die Linke verweist in ihrem Antrag zu Recht darauf, dass eine ernstgemeinte wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen ohne eine Untersuchung der Rolle des Bundeskanzleramtes nicht sinnvoll ist. Das ist richtig, aber das alleine reicht nicht aus. Da muss mehr passieren. Statt eines Flickenteppichs von einzelnen Untersuchungen brauchen wir eine koordinierte Aufarbeitung der Geschichte aller Bundesministerien und -behörden. Dort, wo es bereits Vorstudien gibt, dürfen sie nicht länger unbearbeitet liegen bleiben. So gibt es zum Beispiel im Landwirtschaftsministerium Voruntersuchungen, die damals von Renate Künast in Auftrag gegeben wurden und jetzt nicht weiter bearbeitet werden. Da müssen weitere Forschungsarbeiten folgen, auch über die Nachkriegszeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss vor allem sichergestellt werden, dass die Öffentlichkeit bei der Aufarbeitung der NS-Zeit aktiv einbezogen wird. Das muss auch Teil politischer Bildungsarbeit werden. Deshalb sollten Untersuchungsergebnisse aufgearbeitet und zugänglich gemacht werden, gerade auch für junge Menschen, beispielsweise in Form einer Dauerausstellung oder in einem digitalen Format. Denn eine umfassende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist nicht nur wichtig für das Verstehen von Kontinuitäten der Gegenwart, sondern vor allem auch für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Zukunft unserer Demokratie. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Martin Dörmann für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Martin Dörmann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen früh werden wir hier im Plenum in einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung mit dem Bundesrat den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs würdigen und damit auch die Befreiung von der NS-Diktatur. Auf die Rede von Professor Heinrich August Winkler bin ich schon sehr gespannt. In seinen Arbeiten hat er sehr präzise und differenziert die Rolle Deutschlands vor und nach 1945 betrachtet. Er hat sich dabei auch immer dezidiert gegen jede Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen und Strukturen ausgesprochen. Ich glaube, uns allen hier im Haus muss an einer umfassenden Aufarbeitung der NS-Geschichte und ihrer Folgewirkungen sehr gelegen sein. Dazu gehören auch und gerade die deutsche Nachkriegsgeschichte und die Auseinandersetzung mit den personellen und institutionellen Kontinuitäten, die es eben leider auch gegeben hat. Ja, das ist eine schmerzhafte Erfahrung der deutschen Geschichte, und zwar sowohl der westdeutschen als auch der ostdeutschen Geschichte, die es sorgfältig aufzuarbeiten gilt. Ganz sicher hat sich die junge Bundesrepublik allzu viele Jahre mit diesem Erbe sehr schwergetan. Es ist bereits erwähnt worden: Es war gut, dass dann unter rot-grüner Regierungsverantwortung eine Kommission die Geschichte des Auswärtigen Amtes aufgearbeitet hat und dass auch die Geschichte des BND in der Frühzeit der Bundesrepublik aufgearbeitet wurde. Dabei können wir aber nicht stehen bleiben. Es sei aber auch darauf hingewiesen, dass sich die ehemalige DDR, deren Funktionseliten sich übrigens gerne als das bessere Deutschland bezeichnet haben, der Aufarbeitung dieser Kontinuitäten, die es im Osten Deutschlands eben auch gegeben hat, beinahe gänzlich verweigert hat. In dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke wird nun die wissenschaftliche Aufarbeitung zu den NS-Belastungen der frühen Bundesrepublik Deutschland, aber auch nur dieser, thematisiert. Ein besonderer Fokus wird auf die systematische Untersuchung der Rolle des Bundeskanzleramts gerichtet. Zu diesem Zweck solle eine Historikerkommission eingerichtet werden. Nun ist es so, dass wir in Bezug auf die Rolle des Bundeskanzleramtes, die wichtig ist, im Hinblick auf die NS-Thematik nicht bei null anfangen müssen. Sie ist zum Teil bereits in zahlreichen Untersuchungen und Publikationen dargestellt worden. Auch war sie gerade Teil der Untersuchung zur Erforschung der Frühgeschichte des Bundesnachrichtendienstes in den Jahren 1945 bis 1968. Das Bundeskanzleramt hat der damaligen Kommission Zugang zu allen Aktenbeständen gewährt, soweit diese Gegenstand des Forschungsauftrages waren. Das wurde übrigens auch in großem Umfang in Anspruch genommen. Dennoch müssen wir uns sehr ernsthaft mit der Frage beschäftigen, wo es noch Defizite in der Aufklärung gibt und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Genau das macht die Große Koalition, und das macht die Bundesregierung. Wir sind nämlich gerade in einem Prozess, in dem geklärt werden soll, wie der gegenwärtige Stand der Forschung ist, ob es weitere Bedarfe gibt und, wenn ja, wo. Zu verweisen ist zunächst auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom März dieses Jahres. Darin wird ein umfassender Überblick über bereits abgeschlossene oder begonnene und laufende Forschungsprojekte von Bundesministerien oder nachgeordneten Behörden zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in den Häusern gegeben. Ich will zudem daran erinnern, dass in der vergangenen Wahlperiode ein überfraktioneller Antrag, wenn auch nicht von allen Fraktionen getragen, zu dieser Thematik verabschiedet wurde. Nicht zuletzt auf das Bestreben der SPD-Bundestagsfraktion wurde damals die Forderung nach einer Bestandsaufnahme in den Antrag aufgenommen, und zwar einer Bestandsaufnahme, in der neben einem Status quo der bisherigen Forschung auch die weiterhin bestehenden Forschungsdefizite im Hinblick auf die Geschichte der staatlichen Behörden und Institutionen im frühen Nachkriegsdeutschland aufgezeigt werden sollen, also sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR. Dass dabei auch die DDR mit in den Blick genommen wird, ist übrigens ein wesentlicher Unterschied zu den Anträgen der Linksfraktion zu diesem Thema. (Zuruf des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) Herr Korte, Ihr Enthusiasmus wäre noch glaubwürdiger gewesen – es liegt jetzt immerhin ein Antrag vor –, wenn Sie wenigstens mit einem Satz erwähnt hätten, dass es diese Kontinuitäten auch in der DDR gegeben hat. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: Das habe ich doch nicht geleugnet! Darum geht es aber nicht!) Dem damaligen Auftrag des Bundestages an die Bundesregierung, den ich erwähnt habe, eine solche Bestandsaufnahme zu beauftragen, kommt die Koalition nach. Sie ist bereits fest im Koalitionsvertrag verankert, in dem wir uns verpflichtet haben, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehörden voranzutreiben. Wir lassen dieser Grundsatzposition auch Taten folgen. Die Beauftragte für Kultur und Medien hat diesen Auftrag einer Bestandsaufnahme mittlerweile an das Institut für Zeitgeschichte und an das Zentrum für Zeithistorische Forschung erteilt. Bis zum Ende des Jahres sollen erste Ergebnisse der Studie vorgelegt werden. Es sollen dabei sowohl Forschungsstand als auch Forschungsdefizite bei einzelnen Ressorts aufgezeigt werden, und zwar auch beim Bundeskanzleramt. Damit ist diese Bestandsaufnahme die systematische Vorbereitung für mögliche weitere Untersuchungen über die NS-Belastungen ebendort. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, es bedarf nicht des vorliegenden Antrags, damit sich die Koalition und die Bundesregierung mit einer vertieften Auseinandersetzung und Untersuchung der NS-Geschichte befassen. Welche Schlussfolgerungen dann zu ziehen sind und welche konkrete Ausgestaltung weitere Forschungsaufträge haben sollten, das wird nach Abschluss der genannten Studie zu entscheiden sein, sei es im Hinblick auf Ministerien oder auf das Bundeskanzleramt. Ich denke, das ist der richtige Weg, um mit einem ernsten und wichtigen Thema angemessen und verantwortungsvoll umzugehen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste und letzte Rednerin in dieser Debatte hat Dr. Freudenstein von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es gibt Dinge, die dulden keinen Aufschub, die muss man jetzt und sofort anpacken, es gibt Dinge, die für Gerechtigkeit sorgen oder die revolutionär sind, und es gibt Dinge, die einfach die Situation vieler Menschen in unserem Land verbessern. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, ich muss Sie enttäuschen: Ihr Antrag gehört nicht zu all diesen Dingen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ihr Anliegen ist ja grundsätzlich nicht unbedeutend: Eine Aufarbeitung der deutschen Geschichte, auch der demokratischen Institutionen nach 1945, in besonderer Weise auch des Bundeskanzleramtes, kann in vielerlei Hinsicht wichtig sein, und sie kann vor allem aus wissenschaftlicher Sicht hochinteressant sein. Das haben die bisherigen Untersuchungen schon gezeigt; in allen Bundesministerien mit Vorgängern in der NS-Zeit und in vielen nachgeordneten Bundesbehörden fand ja oder findet eine historische Aufarbeitung statt. Vermutlich hat kein Land der Welt seine Geschichte und die seiner Institutionen so intensiv wissenschaftlich aufarbeiten lassen wie wir Deutsche. Das war und ist nach den Verbrechen und Verirrungen des 20. Jahrhunderts auch unsere Pflicht. Ich meine deshalb, dass man uns mangelndes Bewusstsein oder gar Untätigkeit nicht vorwerfen kann. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben eine Anfrage gestellt und erst kürzlich eine Antwort erhalten. Sie wissen also sehr gut, dass die beiden größten und bedeutendsten deutschen Forschungsinstitute auf diesem Gebiet bereits mit einer Bestandsaufnahme beauftragt worden sind; sie werden die Quellenlage, den Forschungsstand und die Forschungsdesiderate bei den einzelnen Ressorts benennen. Sie wissen, dass Ergebnisse bis Ende dieses Jahres vorliegen sollen. Trotzdem stellen Sie heute diesen Antrag. Warum tun Sie das? Ich will es Ihnen sagen: Es geht Ihnen vermutlich nicht wirklich um die Aufarbeitung selbst, sondern es geht Ihnen vermutlich darum, sich selbst als etwas darzustellen, nämlich als Speerspitze der historischen Aufklärung. (Jan Korte [DIE LINKE]: Mann, ist das blöde!) Sie haben zu diesem Zweck ja auch eine ganz eigene „Historische Kommission“ in Ihrer Partei. Deren Ergebnisse habe ich mir einmal angeschaut. Die Historische Kommission der Linkspartei schreibt zum Beispiel im Jahre 2011 zum 50. Jahrestag des Mauerbaus – ich zitiere –: Die sowjetische Führung und im Gefolge die DDR entschieden sich 1961 auch zum Mauerbau, um einen Krieg zu verhindern. Dieser war angesichts der fortschreitenden Destabilisierung der DDR und unter den Bedingungen der militärischen Konfrontation in Mitteleuropa nicht auszuschließen. Die Mauer als ein Werk des Friedens – so dargestellt von einer Historikerkommission im Jahre 2011. Es gibt noch mehr zu lesen in dieser historischen Aufarbeitung, was mit ehrlichem Willen zur Aufklärung wenig zu tun hat. So hat Ihre Historische Kommission im Jahre 2011 auch geschrieben – ich zitiere –: „Für Millionen Menschen in unserem Land“ – also in der Bundesrepublik – gibt es wegen des geringen Einkommens „die Reisefreiheit nur auf dem Papier“. Ihre Historikerkommission schreckt also nicht davor zurück, eine Parallele zu ziehen zwischen dem staatlichen Freiheitsentzug durch den Unrechtsstaat DDR und dem heutigen Leben in der freien Bundesrepublik. Das ist nicht nur Geschichtsklitterung, das ist Revisionismus. (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, genau!) Aber es geht noch weiter: Zum 60. Jahrestag des 17. Juni 1953, also im Jahre 2013, schreibt die Historische Kommission der Linkspartei wörtlich – ich zitiere –: Obwohl die Befunde der zeitgeschichtlichen Forschung den sowjetischen Truppen ein maßvolles Vorgehen bescheinigen, hält sich das Narrativ, die Unruhen seien „blutig niedergewalzt“ worden. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie ist denn Ihre historische Auffassung in der CDU? Und bei der CSU?) Das läuft bei Ihnen unter historischer Aufarbeitung! Ich möchte daran erinnern: Es wurden am 17. Juni 1953 mindestens 40 Demonstranten erschossen. Die Rote Armee ist mit Panzern gegen die Menschen angefahren. Meine Damen und Herren von der linken Aufarbeitungsfraktion, das ist ein „blutiges Niederwalzen“ und war keineswegs „maßvoll“. Ich kann nur sagen: Sie haben da eine ziemlich tolle Historische Kommission. Warum erzähle ich das alles? Es hat ja wirklich nichts mit dem Kanzleramt zu tun. Aber wenn Sie ehrlich sind, hat Ihr Antrag mit dem Kanzleramt auch nicht viel zu tun. Es geht Ihnen keineswegs um eine ordentliche wissenschaftliche Aufarbeitung; sonst würde Ihnen ja die Antwort der Bundesregierung genügen, in der klar festgehalten ist, wie alles nun seinen Lauf nehmen wird und dass es eine wissenschaftliche und eben keine politische Frage ist. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Dr. Freudenstein, lassen Sie eine Zwischenfrage von Herrn Korte zu? Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Nein, ich bin gleich fertig. (Jan Korte [DIE LINKE]: Dann haben Sie ein paar Minuten länger!) Der Antrag entlarvt nur Ihr Verständnis von Geschichtsschreibung. Sie fassen Geschichtsschreibung als Instrument des Politischen auf, und das gehört eigentlich ins 19. Jahrhundert. Wir sind da weiter. Die Bundesregierung geht den Weg, den die Geschichtsschreibung in einer demokratischen und freien Gesellschaft im 21. Jahrhundert geht, und zwar wissenschaftlich fundiert und nicht politisch motiviert. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben sich eindeutig vor der Antwort gedrückt! Sie haben sich genauso gedrückt wie das Kanzleramt! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sie sollten die Vergangenheit Ihrer Partei ein bisschen aufarbeiten!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Antrags auf Drucksache 18/3049 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Kultur und Medien liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung auch so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes Drucksache 18/4615 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Drucksache 18/4800 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1 – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4800, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4615 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Corinna Rüffer, Maria Klein-Schmeink, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Empfehlungen der Vereinten Nationen zur Behindertenrechtskonvention zügig umsetzen Drucksache 18/4813 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in dieser Debatte hat Corinna Rüffer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe verbliebene – so muss man zu dieser Uhrzeit sagen – Kolleginnen und Kollegen! Gut, dass Sie noch hier sind. Oft debattieren wir viel weniger Bedeutsames zu deutlich früherer Stunde. Jetzt geht es aber um nicht weniger als um die Menschenrechte, und die dürfen nicht nur zu Protokoll gehen. Woran denken Sie, wenn die Rede davon ist, dass die Menschenrechtssituation in einem Land besorgniserregend ist? An Syrien, Somalia, Eritrea? Jedenfalls nicht an Deutschland, oder? Der Fachausschuss der Vereinten Nationen, der gerade die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention geprüft hat, sieht das anders. Der Abschlussbericht der internationalen Fachleute ist ein vernichtendes Urteil. Von den insgesamt elf Seiten sind fast zehn Seiten, also nahezu der gesamte Bericht, gefüllt mit Verstößen gegen die Konvention und mit Maßnahmen, wie diese beseitigt werden sollen. (Kerstin Tack [SPD]: Das ist bei Empfehlungen immer so!) Ein paar Beispiele daraus – Frau Tack, hören Sie zu –: Jeder Mensch soll frei entscheiden können, wo er wohnen will. – Vielen behinderten Menschen wird das verwehrt, weil Sozialämter die notwendige Unterstützung nur im Rahmen von Wohnheimen bewilligen. Das ist unerträglich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Außerdem fehlen schon heute 2,5 Millionen barrierefreie Wohnungen. Geschäfte, Gaststätten und Kinos sind für Menschen mit Behinderungen oftmals unbetretbar – wegen ein paar anscheinend unüberwindlicher Stufen. Politik darf sich nicht weiter davor drücken, auch den Privaten verbindliche Vorgaben zur Barrierefreiheit zu machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katrin Werner [DIE LINKE]) Jeder Mensch soll über Bildungsweg, Beruf und Arbeitsplatz selbstbestimmt entscheiden können. Für viele Menschen mit Behinderungen ist das eine Illusion. Für sie ist der Weg von der Förderschule in eine Werkstatt für behinderte Menschen vorgezeichnet. Wer das nicht will, muss sehr hart kämpfen, um die nötige Unterstützung zu erhalten. Hier ist die Politik gefragt, um den Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Jeder Mensch soll frei über alle Fragen seines täglichen Lebens entscheiden können. – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist für manch einen nur ein schöner Traum; denn in der Praxis entscheidet oft der rechtliche Betreuer stellvertretend für den Betreuten. Hier ist die Politik gefragt, das Prinzip der unterstützten Entscheidungsfindung durchzusetzen. Allzu oft werden Menschen mit einer psychischen Behinderung gegen ihren Willen in Psychiatrien untergebracht und dort zwangsbehandelt. Das muss sich ändern. Gemeinsam mit den Ländern, mit Betroffenen und Sachverständigen muss der Bund alle nötigen Anstrengungen unternehmen, um das Recht auf Selbstbestimmung auch für psychisch beeinträchtigte Menschen umzusetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Und zuletzt: Jeder Mensch soll das Recht haben, zu wählen. – Eine Selbstverständlichkeit? Behinderten Menschen, die in allen Angelegenheiten unter rechtlicher Betreuung stehen, wird dieses Grundrecht verweigert. Anstatt dass wir, die Parlamentarier und Parlamentarierinnen, gemeinsam die Ausschlusstatbestände aus den Gesetzen streichen, lässt die Bundesregierung derzeit prüfen, ob für bestimmte Personengruppen eine Wahlfähigkeitsprüfung eingeführt werden sollte. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unerhört!) Allein, dass man darüber nachdenkt, den Wahlrechtsausschluss rechtssicher festzuzurren, ist nicht zu fassen. Noch schlimmer ist aber, dass künftig noch mehr Menschen das Recht auf politische Teilhabe verlieren könnten. Das wäre ein Schlag gegen die Menschenrechte. Deshalb muss Andrea Nahles dieses Verfahren umgehend stoppen. Darin sind wir alle uns hoffentlich tatsächlich einig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katrin Werner [DIE LINKE]) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, unser Antrag ist darauf gerichtet, die Empfehlungen der Vereinten Nationen zügig umzusetzen und die Peinlichkeit eines so schlechten Zeugnisses schnellstmöglich zu beenden. Zumindest dieses Interesse sollten hier alle teilen. Sie haben bisher darauf verzichtet, eigene Vorschläge in den parlamentarischen Prozess einzubringen. Deshalb hoffe ich jetzt auch, dass Sie unserem Vorschlag folgen werden. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Uwe Schummer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Uwe Schummer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollegin Rüffer, ich schätze Sie ja, aber ich muss sagen: (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich Sie auch, Herr Schummer!) Ich war auch an den beiden Tagen in Genf dabei. Das Bild, das Sie gemalt haben, ist falsch. Der Vergleich der Menschenrechtsverletzungen in Syrien und im Irak mit dem, was in Deutschland passiert, ist völlig maßlos. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das habe ich nicht gesagt, Herr Schummer!) Im Gegensatz zu Ihrer Rede war die Staatenprüfung sachlich. Es wurden Handlungserwartungen ausgearbeitet, mit denen wir differenziert arbeiten können. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht darum, dass die Menschenrechtssituation besorgniserregend ist! Das ist ein Zitat!) Wir sollten differenziert argumentieren. Nur dann nehmen wir den Prüfungsausschuss in Genf wirklich ernst. In den Schlussbemerkungen der meisten Redner im Prüfungsausschuss wurde uns bescheinigt, dass wir in Deutschland bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auf einem guten Weg sind, dass aber die Wege und Verfahren insgesamt beschleunigt werden müssen. Das war eine Kernbotschaft, die uns in der Schlussaussprache des Prüfungsausschusses mitgeteilt wurde. Das ist eine Botschaft, die wir politisch aufnehmen. Es gab Licht, es gab Schatten. Schatten gibt es mit Sicherheit bei der Frage der psychiatrischen Einrichtungen, aber auch bei der Frage der noch nicht vorhandenen Gleichstellung und Entschädigung behinderter Menschen, die in Heimen missbraucht oder misshandelt wurden. Wir setzen uns gemeinsam mit den Ländern mit dieser Frage auseinander und verhandeln darüber. Wir müssen durchsetzen, dass es endlich zu einer Entschädigung kommt. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann aber nicht alles sein!) Es gibt aber auch Licht, beispielsweise beim Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention mit über 200 Maßnahmen im Bereich der gelebten Inklusion in unserer Gesellschaft. Deutschland ist nicht die Sahelzone der Inklusion, in der alles nur wüst und leer ist, so wie Sie, Frau Rüffer, es eben geschildert haben. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Menschenrechtssituation ist besorgniserregend!) Wir sollten die Wirklichkeit anerkennen und die Leistungen und Fortschritte der letzten Dekade nicht unterschätzen. Inklusion ist – das wissen Sie auch – kein Schalter, den man umlegt, und schon ist alles so, wie man es sich wünscht, sondern sie bedarf, wie es der Mainzer Arbeiterbischof von Ketteler einmal im 19. Jahrhundert formulierte, einer Zustände- und einer Gesinnungsreform. Das heißt, die Inklusion wächst nach mehr als einem Jahrhundert der Separierung behinderter Menschen allmählich auch in Deutschland, gerade durch den Druck, der von der UN-Behindertenrechtskonvention ausgeht. Die Inklusion beginnt, sie ist noch auf Kindesbeinen, und sie beginnt auch mit den Kindesbeinen. Wir brauchen gute Erfahrungen mit Vielfalt in den Kitas, in den Schulen, in den Hochschulen und in der betrieblichen Wirklichkeit, damit Inklusionsstärke auch in Deutschland Normalität wird. (Beifall bei der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen politische Rahmenbedingungen!) Bildung ist ein Schlüssel hierfür. Bundesbildungsministerin Wanka hat ein 500-Millionen-Euro-Programm für die Lehrerausbildung aufgelegt. Damit sollen schwerpunktmäßig innovative Konzepte zur Inklusion in der Lehrerausbildung unterstützt und finanziert werden. Es ist notwendig und sinnvoll, dass die Bundesländer diese Abschlüsse der Lehrerausbildungen gegenseitig anerkennen. Projekte, die im Rahmen dieses Bundesprogramms vom Bildungsministerium gefördert werden, sind derzeit „Gemeinsam verschieden sein – Lehrerbildung an der RWTH Aachen“ oder „Heterogenität und Inklusion gestalten – Zukunftsstrategie LehrerInnenbildung“ an der Uni Köln. Das sind Maßnahmen, die die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Inklusion über die Lehrerausbildung an allen Schulen und Hochschulen künftig verstärkt stattfindet. Der UN-Menschenrechtsausschuss hat den Föderalismus in der Bildung kritisiert. Für uns ist der Föderalismus aber – gerade nach der Diskussion, die ich eben verfolgt habe – eine Konsequenz aus der leidvollen Geschichte eines starken und verhängnisvollen Zentralstaates. Deshalb hat der Föderalismus für mich eine demokratiestärkende Funktion. Wer den Föderalismus sichern will, der muss gemeinsame, vergleichbare Standards setzen, der braucht die Kooperation der Länder in der Bildung und der braucht auch eine Kooperation zwischen Bund und Ländern. Viele Aspekte der -Kritik des UN-Menschenrechtsausschusses am Föderalismus und an der mangelnden Inklusion in der Bildung werden jetzt aufgearbeitet. In allen Bundesländern, ob in Baden-Württemberg oder in Nordrhein-Westfalen, werden derzeit Inklusionsstärkungsgesetze verabschiedet. Das sind alles Entwicklungen, die bei der Bewertung in Genf überhaupt keine Rolle spielten, weil der Prozess noch in vollem Gange ist. Die Teilhabe in der Arbeitswelt wird ein Schwerpunktthema des Teilhabegesetzes und der Richtlinien sein. Wir wollen beispielsweise die Weiterentwicklung von Integrationsunternehmen zu Inklusionsunternehmen quantitativ, aber auch qualitativ fördern. 1,2 Millionen Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung sind auf dem ersten Arbeitsmarkt, 300 000 in Werkstätten. Dabei ist ein starker Zugang psychisch kranker Arbeitnehmer zu verzeichnen. Was können wir in der betrieblichen Gesundheitsprävention tun? Wie können wir -Arbeitsplätze so organisieren, dass psychische Erkrankungen erst gar nicht entstehen? Durchlässigkeit und Differenzierung, das war die Botschaft aus Genf. Wir sind auf einem guten Weg. Das war die Aussage des UN-Menschenrechtsausschusses. Aber wir sollten unsere politischen Maßnahmen beschleunigen, und das werden wir auch tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Katrin Werner für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Katrin Werner (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Am 5. Mai 2005 war der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Viele Protestaktionen fanden in dieser Woche – genauso wie in jedem Jahr – statt. Heute reden wir über die Rechte von Menschen mit Behinderung, und das leider nicht in der Kernzeit oder in einer Aktuellen Stunde, sondern zu fortgeschrittener Stunde im Rahmen eines der letzten Tagesordnungspunkte, bei dem es um einen Antrag der Grünen geht. Artikel 3 des Grundgesetzes garantiert die Gleichheit vor dem Gesetz für alle Menschen und verbietet Diskriminierung. 1949 bestand Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes lediglich aus fünf Worten: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Menschen mit Behinderung existierten im Grundgesetz damals noch nicht. Vor 21 Jahren wurde im Grundgesetz klargestellt, dass es keine Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung geben darf. Ich möchte es noch einmal sagen: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Ich finde, die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes ins Grundgesetz ist eine Bürgerrechtserklärung. Die vollumfängliche Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in Deutschland muss diesen Ansatz konsequent verfolgen. Menschen mit Behinderung werden immer noch massiv an der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gehindert. Wer zum Beispiel auf persönliche Assistenz angewiesen ist, darf nicht mehr als 2 600 Euro ansparen. Menschen mit Behinderung leben teils in Sonderwelten. Ihr Umfeld ist in keiner Weise barrierefrei. Vor gut sechs Wochen verabschiedete der UN-Ausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf seine Empfehlungen zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Wir begrüßen diese Empfehlungen sehr; denn sie zeigen uns für Deutschland eines ganz deutlich: Wir sind immer noch meilenweit entfernt von einer inklusiven Gesellschaft, in der jeder Mensch selbstbestimmt und gleichberechtigt teilhaben kann, egal ob jung oder alt, egal ob mit Beeinträchtigung oder ohne, egal ob mit Migrationshintergrund oder ohne. Der Bundesregierung fehlt nach wie vor eine Menschenrechtsperspektive. In Genf waren die Antworten der Bundesregierung meist unkonkret. Bei Themen der Entwicklungszusammenarbeit wurde keine einzige Frage konkret beantwortet. Würde die Regierung aus einem Menschenrechtsbewusstsein heraus agieren, würde sie die noch offenen Fragen des UN-Ausschusses endlich konkret beantworten. (Beifall des Abg. Herbert Behrens [DIE LINKE]) Die Linke sagt: Wir brauchen eine Neufassung der gesetzlichen Definition von Behinderung als menschenrechtsbasiertes Modell. Wir brauchen bessere Maßnahmen, um Mehrfachdiskriminierung zu bekämpfen. Wir brauchen einen besseren Gewaltschutz für Frauen mit Behinderung. Wir brauchen für alle Kinder und Jugendlichen Leistungen aus einer Hand und nicht von verschiedenen Ämtern. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen ein inklusives Bildungssystem und einen inklusiven Arbeitsmarkt und keine Abschiebung in Sonderwelten, wie zum Beispiel in Werkstätten oder Sonderschulen. Wir brauchen eine Reform des Betreuungsrechts. Wir meinen, Menschen, die unter Betreuung stehen, brauchen unterstützende Entscheidungsfindung und keine ersetzende. Wir brauchen nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Bereich eine gesetzliche Verpflichtung zur Barrierefreiheit. Wir brauchen die Abschaffung des Ausschlusses vom Wahlrecht für Menschen mit Betreuung in allen Angelegenheiten. Das Wahlrecht ist Bestandteil jeder Demokratie. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Menschen vom Wahlrecht auszuschließen, ist menschenrechtswidrig. Vielmehr brauchen wir hier ein barrierefreies Informationssystem. In knapp zwölf Monaten muss die Bundesregierung erneut darüber berichten, was sie zur Umsetzung der Empfehlungen unternommen hat. Die Hausaufgaben sind umfangreich. Die ersten sechs Wochen sind verstrichen. Geben Sie Ihr Bestes, und fangen Sie morgen an. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Kerstin Tack von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kerstin Tack (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir 2009 in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert haben und sie damit auch für Deutschland für gültig erklärt haben, da war jedem klar – ganz unabhängig von der Ebene, auf der er sich bewegt, also unabhängig davon, ob er politisch aktiv ist, ob er ehrenamtlich oder hauptberuflich in der Szenerie arbeitet –: Hier haben wir eine Mammutaufgabe vor uns, der wir uns mutig annehmen wollen und müssen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU]) Im Jahre 2011 hat die damalige Bundesregierung den ersten Staatenbericht vorgelegt. Dieser Bericht war Grundlage der Staatenprüfung in Genf. Es muss auch einmal gesagt werden, dass dieser Bericht zum Zeitpunkt der Staatenprüfung bereits vier Jahre alt war und sich natürlich auf die entsprechenden Maßnahmen bezog. Mittlerweile haben wir in Deutschland die Situation, dass nicht nur der nationale Bildungsbericht der Bundesregierung vorgelegt wurde, sondern dass auch in fast -allen Bundesländern und in vielen Kommunen Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention erstellt wurden oder auf dem Weg sind. Ich finde, da kann man nicht sagen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention auf den verschiedenen Ebenen in Deutschland noch keine Beachtung gefunden hat. Vielmehr haben sich viele auf den Weg gemacht und für ihre jeweiligen Zuständigkeitsbereiche genau die erforderlichen Maßnahmen herausgearbeitet und entsprechende Konzepte verfasst. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Allerdings fehlt noch eine Strategie, die über die verschiedenen Ebenen ein übergreifendes Gesamtumsetzungskonzept für die UN-BRK zum Ziel hat. Ich glaube, dass es in den nächsten Jahren wichtig und nötig wird, die Erstellung einer solchen Gesamtstrategie stärker in den Fokus zu nehmen. Wir haben auch bei der Staatenprüfung gemerkt, dass die Empfehlungen, die sehr stark und deutlich sind, ganz häufig nicht nur eine Ebene in ihrer Zuständigkeit ansprechen, sondern genau diese gemeinsame Verantwortung für die UN-Behindertenrechtskonvention verlangen. Das heißt für uns natürlich, dass wir auf der Bundesebene vieles regeln können. Aber im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft brauchen wir auch die Kommunen und die Länder. Gerade wenn es um ein inklusives Bildungssystem, einen inklusiven Arbeitsmarkt und eine inklusive Betreuung von Menschen mit Behinderungen geht – ambulant und stationär, aber auch in der Altenhilfe –, ist eine gemeinsame Anstrengung erforderlich. Hier haben wir uns in dieser Legislaturperiode eine ganze Menge vorgenommen, um in Deutschland mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention Stück für Stück voranzukommen. Erst vorgestern – das hat die Kollegin Werner angesprochen – haben wir beim Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung den barrierefreien Ausbau von Wohnraum und Infrastruktur zum Thema gehabt. Ich finde es hervorragend, dass die Bundesregierung in ganz unterschiedlichen Programmen zur Umsetzung der Anforderungen an barrierefreien Wohnraum über 5 Milliarden Euro bereitgestellt hat. Diese Mittel können unter anderem für den barrierefreien Ausbau genutzt werden. Das, meine Damen und Herren, ist ein sehr ernst zu nehmender, sehr ehrlicher Schritt und eine deutliche Unterstützung all derer, die jetzt einen barrierefreien Umbau oder Ausbau in Angriff nehmen müssen. Dieser Betrag ist fünfmal so hoch wie der, den die Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion in ihren bisherigen Anträgen von uns gefordert haben; sie forderten nämlich immer 1 Milliarde Euro. Wir sind deutlich weiter gegangen. Ich finde, das kann sich richtig gut sehen lassen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Auch bei unserem allergrößten Vorhaben, nämlich eine große Sozialrechtsreform durchzuführen und ein Bundesteilhabegesetz zu verabschieden, werden wir auf dem Weg hin zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sehr deutliche Fortschritte machen. Dadurch werden wir für diese Personengruppe richtig gute Veränderungen auf den Weg bringen können. Wir machen Schluss damit, dass es für Menschen mit Behinderungen ein separierendes System gibt. Wir machen Schluss damit, dass ihnen nur ein separierender Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Wir wollen all diejenigen, deren Wunsch es ist und die ihr Wahlrecht gerne dementsprechend ausüben möchten, den Weg auf den ersten Arbeitsmarkt erleichtern. Wir möchten, dass diese Menschen nicht in großen Wohnheimen untergebracht sind, sondern dass sie im Sozialraum, also mitten unter uns leben – da, wo sie hingehören und wo sie hinwollen. Es ist Auftrag und Ziel der Bundesregierung, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass dies endlich möglich wird. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Aber natürlich ist das nicht alles, was wir uns vorgenommen haben. Insbesondere wird es um die Frage gehen – dies wird eine ganz große Herausforderung –: Wie schaffen wir es, den Arbeitsmarkt so zu gestalten, dass er den Anforderungen an Inklusivität Rechnung trägt? Es ist nicht unser Auftrag, für Menschen mit Behinderungen als ausschließliche Arbeitsform Werkstätten für Menschen mit Behinderungen zur Verfügung zu stellen. Wir möchten die Integrationsbetriebe viel stärker ausbauen und den Menschen die Gelegenheit geben, sozialversicherungspflichtig und mindestlohnrelevant auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig zu werden. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, und wann machen Sie das?) – Sie werden sehen: Bereits in Kürze wird Ihnen ein entsprechender Vorschlag von uns vorliegen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann machen Sie das?) Auch was die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen angeht, sind wir ein großes Stück vorangekommen, insbesondere beim Zugang zur Demokratie. Damit bin ich beim Petitionsrecht. Gerade bei dieser Möglichkeit der Beteiligung am Parlamentarismus gibt es noch eine ganze Menge Barrieren. Der Bundestag hat sich vorgenommen, diese abzubauen. Das ist auch sein Auftrag. (Beifall bei der SPD – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie reden jetzt nicht über Ihre Vorschläge zum Petitionsrecht, oder?) Die allergrößten Barrieren – daran kann kein Gesetz etwas ändern – sind die Barrieren in den Köpfen. Manche Menschen glauben noch immer, dass man Menschen mit Behinderungen am besten schützt, indem man sie sehr individuell und abgeschottet in ein Fördersystem steckt. Wir sagen dazu Nein. Wir haben den Auftrag, genau diese Hürden durch Bewusstseinsbildung zu überwinden. Das ist unser Auftrag. Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Staatenprüfung haben uns wichtige Hinweise mit auf den Weg gegeben. Wir sind dankbar für diese Hinweise, weil wir in der politischen Arbeit eine Menge Unterstützung bekommen, wenn wir auch mit einem internationalen Auftrag zur Umsetzung argumentieren können. Das nehmen wir mutig an. Auf geht‘s! Danke schön. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Frau Dr. Freudenstein von der CDU/CSU das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat Probleme in Deutschland benannt und Empfehlungen gegeben. Um ehrlich zu sein: Ich war schon überrascht von der Radikalität des Papiers. Da folgen ganzen sechs Zeilen mit positiven Aspekten ganze zehn Seiten mit Missständen und Aufforderungen. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das ist schon bemerkenswert!) Wenn man das Papier liest, hat man den Eindruck, der Prozess der Inklusion in Deutschland stehe ganz am Anfang und es sei bisher schlichtweg nichts passiert. Ich meine, dass das auch den vielen Menschen nicht gerecht wird, die sich jeden Tag beruflich oder auch ehrenamtlich für Behinderte einsetzen. In vielen dieser Empfehlungen aus Genf schwingen pauschale Urteile mit, die mit der heutigen Behindertenhilfe in Deutschland nicht mehr viel zu tun haben. Die Abschaffung der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und von Förderschulen zu fordern, mag in ein theoretisches Konzept von Inklusion gut passen. Praktisch passt es aber nicht, vor allem nicht für die Gesamtheit der betroffenen Menschen. (Beifall bei der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen Sie, dass 85 Prozent der Eingliederungshilfe in stationäre Einrichtungen gehen?) Wir sprechen hier über gewachsene Strukturen und Einrichtungen in unserem Land. Ich bin sicher: Nicht alle diese Strukturen und Einrichtungen sind auf einmal schlecht. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Freudenstein, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rüffer zu? Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Ja. – Bitte, Frau Rüffer. Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Freudenstein, das hört sich jetzt ein bisschen so an, als wären Sie der Meinung, dass Werkstätten für behinderte Menschen inklusive Einrichtungen wären. Mich würde jetzt schon interessieren, was Ihre Haltung dazu ist. Was sagen Sie dazu, dass 85 Prozent aller Mittel aus der Eingliederungshilfe in stationäre Einrichtungen fließen? Was hat das mit Personenzentrierung zu tun? Was hat das mit Inklusion zu tun? Sind Sie wirklich der Meinung, dass wir schon so weit sind, wie Sie suggerieren? Ich kann mir das nicht vorstellen. Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Ich meine tatsächlich, dass wir, wenn es um das Wohl der Menschen mit Behinderungen geht, in allererster Linie nicht über das Geld reden sollten, wie Sie das tun, (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja billig! Das habe ich nicht getan! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat sie nicht getan!) sondern dass wir einmal schauen sollten, was die Menschen eigentlich wollen, wie sie leben wollen. (Beifall bei der CDU/CSU) Im Übrigen sind die Zugänge zu den Werkstätten rückläufig. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das stimmt auch nicht!) – Doch! Dass mehr Menschen in Behindertenwerkstätten arbeiten, liegt daran, dass die Lebenserwartung steigt, und nicht daran, dass mehr behinderte Menschen in Behindertenwerkstätten arbeiten wollen. Ich meine in der Tat, dass Werkstätten für Menschen mit Behinderungen die Teilhabe am Arbeitsleben gewährleisten. Ich meine nicht, dass alle 300 000 Männer und Frauen, die dort beschäftigt sind, in Sonderwelten leben. Ich glaube, damit täte man den Menschen Unrecht. (Beifall bei der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie sich mit Ihrem Koalitionspartner auseinandersetzen! Vielen Dank!) Es gab so viele Veränderungen im Denken und in der Politik der vergangenen 60 Jahre, und es gab auch viele Veränderungen in den Einrichtungen der Behindertenhilfe, (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, das geht nicht zusammen!) und dieser Prozess hat sehr lange vor der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention begonnen – Gott sei Dank! Werkstatt bedeutet meiner Meinung nach tatsächlich, nicht mehr in einer Sonderwelt zu arbeiten. Es gibt Außenarbeitsplätze. Das sind natürlich viel zu wenige; keine Frage. Aber es werden mehr. Es gibt Integrationsfirmen, und es gibt das Budget für Arbeit, das in vielen Bundesländern in Anspruch genommen werden kann. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! In Rheinland-Pfalz und Niedersachsen, aber sonst nicht! Das stimmt doch nicht!) Eine Öffnung der Einrichtungen hat bereits stattgefunden. Das gilt auch für die Förderschulen, Kollegin Rüffer, die vielerorts längst zu mobilen Förderzentren geworden sind und Partnerklassen oder einzelinkludierte Kinder in Regelschulen betreuen. Natürlich läuft vieles nicht optimal. Natürlich müssen wir unser System immer und immer wieder verbessern. Natürlich muss der Prozess der Inklusion politisch beschleunigt und unterstützt werden. Aber was ich meine, ist: Wir sollten auf guten Strukturen aufbauen, statt sie niederzureißen. Ich meine, wir sollten die Strukturen ergänzen, statt sie gegeneinander auszuspielen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, wir wollen die Strukturen weiterentwickeln!) Die Vehemenz, mit der Deutschland in den Empfehlungen des UN-Ausschusses als rückständig dargestellt wird, stört mich in der Tat. Selbst Sie von den Grünen trauen sich in Ihrem Antrag nicht, die Forderungen des Fachausschusses eins zu eins zu übernehmen, und das völlig zu Recht; denn sie sind radikal und in weiten Teilen einseitig. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollten Ihnen eine Chance geben, zuzustimmen!) Der Antrag enthält einerseits Forderungen, die momentan im Rahmen der Erarbeitung des Bundesteilhabegesetzes behandelt werden. Wir werden zum Beispiel Anreize schaffen, um mehr Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu schaffen. Wir setzen also durchaus Forderungen des Fachausschusses um. Wir wollen das aber mit den Betroffenen tun, und deshalb geht das auch nicht von heute auf morgen. Der Antrag enthält andererseits aber auch Forderungen, die reichlich wirklichkeitsfern und ideologienah sind, etwa die Erhebung der Deinstitutionalisierung zum Königsweg der Inklusion. Sie schreiben, dass der geschützte Raum für manche Menschen mit Behinderung nicht der richtige Weg sei, und das stimmt. Es gibt viele – gerade auch jüngere Menschen –, die ihr Leben mit Handicap gut alleine organisieren können, wenn sie nur hie und da Unterstützung bekommen. Ich sage aber auch: Es gibt auch Menschen, für die gerade dieser geschützte Raum einer Einrichtung wichtig ist. Sie wollen ihn, oder sie brauchen ihn. Ich habe viele Werkstätten für Menschen mit Behinderungen besucht. Da war von den Menschen sehr viel Positives zu hören. Selbst die beiden jungen Männer – die ich besucht habe –, die einen Außenarbeitsplatz bei einer Metallfirma haben, wollen weiterhin den Kontakt zu ihrer Werkstatt der Lebenshilfe. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 180 Euro pro Monat bei 35 Stunden pro Woche arbeiten!) Es gibt also nicht den einen Königsweg, sondern für jeden einzelnen Menschen gibt es einen eigenen Königsweg. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Vorstellung von Inklusion hat nichts mit dem Wegreden von Verschiedenheit zu tun, sondern sie hat mit Individualisierung zu tun. Was zählt, ist der Mensch. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD]) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4813 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit rufe ich Zusatzpunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum Grünbuch Schaffung einer Kapitalmarktunion KOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15 hier: Stellungnahme im Rahmen eines Konsultationsverfahrens der Europäischen Kommission Drucksachen 18/4375 Nr. A.4, 18/4807 Die Reden sind zu Protokoll gegeben.2 – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache 18/4807. Wer stimmt für diesen Antrag? – Die Koalition. Wer stimmt dagegen? – Die Linke. Wer enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen. Dann ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE EU-Lateinamerika-Gipfel – Beziehungen auf gegenseitigem Respekt begründen Drucksache 18/4799 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben werden.3 – Auch hier sehe ich, dass Sie damit einverstanden sind. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4799 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist auch der Fall. Dann ist das so geschehen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Debatte. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 8. Mai 2015, ein, und ich erinnere daran, dass die morgige Plenarsitzung aufgrund der hier im Plenarsaal stattfindenden Gedenkveranstaltung anlässlich des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges erst um 10.30 Uhr beginnt. Die Sitzung ist geschlossen, und ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. (Schluss: 20.33 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 07.05.2015 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 07.05.2015 Becker, Dirk SPD 07.05.2015 Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 07.05.2015 Ehrmann, Siegmund SPD 07.05.2015 Dr. Fabritius, Bernd CDU/CSU 07.05.2015 Hartmann (Wackern-heim), Michael SPD 07.05.2015 Hintze, Peter CDU/CSU 07.05.2015 Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 07.05.2015 Dr. Kofler, Bärbel SPD 07.05.2015 Lotze, Hiltrud SPD 07.05.2015 Motschmann, Elisabeth CDU/CSU 07.05.2015 Müntefering, Michelle SPD 07.05.2015 Nietan, Dietmar SPD 07.05.2015 Pflugradt, Jeannine SPD 07.05.2015 Rawert, Mechthild SPD 07.05.2015 Dr. Rosemann, Martin SPD 07.05.2015 Roth (Heringen), Michael SPD 07.05.2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 07.05.2015 Schlecht, Michael DIE LINKE 07.05.2015 Steinbrück, Peer SPD 07.05.2015 Strothmann, Lena CDU/CSU 07.05.2015 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 07.05.2015 Zertik, Heinrich CDU/CSU 07.05.2015 Zimmermann (Zwickau), Sabine DIE LINKE 07.05.2015 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 15) Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): Vor 15 Jahren versetzten Bilder von an BSE erkrankten Rindern die Verbraucherinnen und Verbraucher in ganz Europa in Angst und Schrecken. Der sogenannte Rinderwahnsinn, der in torkelnden, aggressiven oder stürzenden Kühen auf grausam anschauliche Weise sichtbar wurde, und insbesondere der Verdacht des Auslösens der Creutzfeldt--Jakob-Krankheit beim Menschen, verunsicherte nach Auftreten der ersten BSE-Fälle auch in Deutschland die Bevölkerung erheblich. Maßnahmen wurden schnell ergriffen. Eine Folge der BSE-Krise ist, dass seit dem 1. September 2000 in allen Mitgliedstaaten der EU die Verpflichtung zur Rindfleischetikettierung besteht, um die Herkunft des Rindfleischs transparent zu machen. Von der Ladentheke über sämtliche Stufen der Vermarktung bis hin zum Einzeltier bzw. einer Gruppe von Tieren sollte jedes Stück Rindfleisch zurückverfolgbar sein. Dazu werden die Tiere seither gleich nach der Geburt mit zwei identischen Lebendohrmarken gekennzeichnet und mit einer Ohrenmarkennummer registriert, über die das lebende Rind jederzeit identifiziert werden kann. Nach der Schlachtung dann wird die Rückverfolgbarkeit über die Etikettierung gewährleistet, die vom Schlachthof bis zum Einzelhandel auf frischem, gekühltem oder gefrorenem Rindfleisch sowie Hackfleisch, für verpacktes oder unverpacktes Fleisch erfolgt. Obligatorisch müssen dabei angegeben werden: eine Referenznummer oder ein Referenzcode, mit dem die Verbindung zwischen Fleisch und Tier gewährleistet wird, die Zulassungsnummer des Schlachthofs sowie der Staat, in dem der Schlachthof liegt, die Zulassungsnummer des Zerlegebetriebes sowie der Name des Staates, in dem der Betrieb liegt, und der Staat bzw. die Staaten, in denen Geburt und Mast des Rindes erfolgten. Darüber hinaus konnten bisher zusätzlich freiwillige Angaben, zum Beispiel zu regionaler Herkunft, Rasse, Kategorie oder Bedingungen der Erzeugung des Fleisches gemacht werden, wenn durch die Bundesanstalt für Ernährung und Landwirtschaft das eigene Etikettierungssystem genehmigt wurde, oder in einer Organisation, deren Etikettierungssystem genehmigt wurde eine Mitgliedschaft bestand. Mit der Gesetzesänderung, die wir heute Abend beschließen, wird das System der fakultativen Etikettierung von Rindfleisch abgeschafft. Freiwillige Angaben der Marktbeteiligten zum Rindfleisch bleiben zwar möglich, müssen künftig aber nicht mehr im Vorhinein genehmigt werden. Sie müssen künftig lediglich den horizontalen, allgemein geltenden Vorschriften entsprechen. Wir setzen damit 1:1 geändertes EU-Recht in nationales Recht um. Die Verpflichtung zur obligatorischen Herkunftskennzeichnung von Rindfleisch dagegen bleibt unverändert bestehen. Die Kontrollzuständigkeit wird zukünftig aber vollständig auf den Bund übertragen und von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung wahrgenommen. Damit verbessern wir die Funktionsfähigkeit der Kontrollen. Die bisher zwischen Bund und Ländern geteilte Zuständigkeit hat sich aufgrund größerer Reibungsverluste bei der Feststellung der Zuständigkeit nicht bewährt. Die Mehrzahl der Betriebe wird zudem bereits jetzt durch den Bund kontrolliert. Gleichzeitig werden die Aufgaben des Bundes verschlankt, da dieser dann keine privaten Kontrollstellen mehr anerkennen muss, die bisher von den Ländern beauftragt wurden. Dies vereinfacht zum einen den Verwaltungsaufwand und stärkt zum anderen die Effektivität. Darüber hinaus entspricht die Vereinfachung der Rechtsvorschriften übrigens auch einer nachhaltigen Entwicklung. Zudem wird es in Zukunft leichter möglich sein, länderübergreifende Betrugsfälle im Bereich der Rindfleischetikettierung zu bekämpfen. Schnelle Überprüfungen können nunmehr auch über Ländergrenzen hinweg erfolgen. Insgesamt wird dadurch der gesundheitliche Verbraucherschutz gestärkt und dazu beigetragen, dass sich die Verbraucherinnen und Verbraucher gesund ernähren können. Es ist daher gut, dass dieses bewährte und erfolgreiche Transparenz- und Überwachungssystem, welches das Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumenten in Rindfleisch nach der BSE-Krise wiederhergestellt hat, durch die gesetzliche Anpassung noch effektiver und effizienter wird. Rita Stockhofe (CDU/CSU): Das Vierte Gesetz zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes setzt geändertes EU-Recht in nationales Recht um. Die Verpflichtung zur obligatorischen Herkunftskennzeichnung von Rindfleisch bleibt unverändert bestehen. Die Zuständigkeit für die Kontrolle der obligatorischen Angaben sollen vollständig dem Bund übertragen und von der Bundesanstalt für Ernährung und Landwirtschaft wahrgenommen werden. Durch eine Verwaltungsvereinfachung und Effektivitätsvereinfachung wird das Bürokratieabbaugebot umgesetzt. Die Rückverfolgbarkeit von Rindfleisch gibt es ja schon lange. Die wenigsten Verbraucher und somit Genießer wissen, wie das gewährleistet wird: Schon wenn ein Kalb geboren wird, erhält es den sogenannten Tierpass. Gleichzeitig wird in jedes Ohr eine Ohrmarke eingezogen, auf der ein Strichcode und eine Nummer angegeben sind. Wenn eine dieser Ohrmarken verloren wird, muss sie umgehend ersetzt werden. Gleichzeitig müssen alle wichtigen Angaben wie Geburtstag, Geschlecht und Mutter in eine Datenbank eingegeben werden. Wenn dieses Kalb dann irgendwann den Betrieb verlässt, muss dieser Vorgang als Abgang in dieser Datenbank vermerkt werden, genauso wie jeder Zugang. Auch die Viehhändler und Schlachthöfe müssen diese Datenbank pflegen. Auch innerhalb des Schlachthofes muss jedes Fleischstück zu jeder Zeit den entsprechenden Daten zugeordnet werden können. Diese Kette wird bis zur Fleischtheke weitergeführt. Von einigen Seiten werden immer noch weitere Kennzeichnungsvorschriften gefordert. Wenn man sich im Detail mit solchen Forderungen auseinandersetzt, wird allerdings häufig klar, dass viele Verbraucher sich nicht umfassend informiert fühlen. Häufig wissen sie aber auch nicht, welche Vorgaben bereits bestehen. Der Verbraucher hat einen Anspruch auf Wahrheit und Klarheit. Beim Gang durch den Supermarkt kann dem Verbraucher schwindelig werden angesichts der Vielzahl an Produkten und Werbeversprechen. Um es sich einfach zu machen und ein gutes Gewissen beim Einkauf zu haben, greifen viele Verbraucher gerne zu den Bioprodukten. Doch Fakt ist, was alles unter dem Biosiegel in den Regalen zu finden ist, hat oft nichts mit ländlicher, reiner, handwerklicher Herstellung zu tun, die so gerne suggeriert wird. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Immer wieder gerne wird der Begriff der Massentierhaltung angeführt, wenn über die konventionelle Tierhaltung gesprochen wird. Zum einen gibt es bislang keine abgestimmte Definition für eine sogenannte Massentierhaltung. In Umfragen empfinden -Verbraucher häufig schon Ställe mit 100 Tieren als „Massentierhaltung“. Dennoch erlaubt die EU-Bioverordnung erstaunlich große Herden, beispielsweise dürfen bis zu 3 000 Legehennen zusammen gehalten werden, bis zu sechs Hühner teilen sich einen Quadratmeter. Als Auslauffläche genügen vier Quadratmeter pro Tier, aber der Bauer hat einen großen Ermessensspielraum: Er muss die Tiere auf diese Fläche nur schicken, wenn „die klimatischen Verhältnisse es zulassen“. Das Tierwohl hängt nicht davon ab, ob ein Landwirt 10, 500 oder 2 000 Tiere hält. Entscheidend ist das Tierwohl jedes einzelnen Tieres, nicht in erster Linie die Gesamtzahl. Hierfür ist maßgeblich, wie der Betrieb geführt wird, ob Tiere regelmäßig versorgt werden und wie sich die Qualität der Stallanlagen darstellt, und nicht, ob es ein Biohof oder ein konventionell betriebener Hof ist. Für mehr Transparenz sorgt auch die im Dezember 2014 auf den Weg gebrachte Lebensmittelinformationsverordnung mit mehr Klarheit bei Klebeschinken, Transparenz bei Allergenen, Hinweise auf Energydrinks, Infos zu Einfrierdatum und Nanomaterialien sowie einheitliche Bedingungen für den freien Warenverkehr. Dies ist ein weiterer Meilenstein für mehr Klarheit und Wahrheit bei der Aufmachung und Kennzeichnung von Lebensmitteln und sorgt an vielen Stellen dafür, dass die Menschen besser erkennen, was in den Lebensmitteln enthalten ist. Ab Dezember 2016 wird auch die einheitliche Angabe von Nährwerten für vorverpackte Lebensmittel verpflichtend. Wir haben schon viel auf den Weg gebracht und werden noch mehr zur besseren Information der Verbraucher tun, beispielsweise will das Europäische Parlament, dass auch die Ursprungskennzeichnung von Fleisch in verarbeiteten Lebensmitteln vorgeschrieben wird. Aufpassen müssen wir allerdings auch, dass die Verbraucher nicht mit Informationen überladen werden. Ich halte es deshalb für eine gute Idee, alle Informationen zu einem Produkt in einem QR-Code aufzulisten. Schon im Supermarkt könnten Kunden sich dann per Smartphone über das jeweilige Produkt informieren. Hierfür müssten sie einfach den Code auf der Verpackung einscannen. Idealerweise bietet jeder Supermarkt zukünftig einen Scanner für die Kunden an, die kein Smartphone besitzen. Ich bin Mitglied im Petitionsausschuss und lese dort häufig Forderungen von Petenten, die seit Jahren umgesetzt werden. Deshalb appelliere ich hier an dieser Stelle. Wenden Sie sich bei Fragen, aber auch bei Forderungen, an die Praktiker. Gehen Sie zum Erzeuger, fragen Sie beim Fleischer, auf Bauernhöfen oder Wochenmärkten. Dort kann man Ihnen berichten, wie die Praxis aussieht. Nur wenn wir im Dialog zwischen Verbrauchern und Herstellern bleiben, kann auch ein guter Informationsaustausch stattfinden. Und das ist die Basis für ein gutes Miteinander und beugt Misstrauen, das häufig durch Nichtwissen, aber auch durch fehlgeleitete Informationen besteht, vor. Elvira Drobinski-Weiß (SPD): „Viertes Gesetz zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes“. Ich weiß: Man möchte erst einmal spontan einschlafen, wenn man das hört. Aber halt! Bei der Rindfleischetikettierung handelt es sich um ein System der Herkunftskennzeichnung für Fleisch. Und das ist ein Thema, das uns und die Verbraucherinnen und Verbraucher mächtig bewegt. Die Menschen wollen zu Recht wissen, wo ihr Fleisch herkommt. Leider erfahren sie das im Moment nur, wenn sie es als Steak oder Hackfleisch kaufen, nicht aber, wenn es bereits zu Lasagne oder Fleischsalat verarbeitet wurde. Das muss sich ändern. Und die Technik, die von Unternehmen aufgebaut wurde, um die Vorgaben des Rindfleischetikettierungsgesetzes zu erfüllen – die kann das möglich machen. Aber eins nach dem anderen. Warum gibt es das Gesetz überhaupt, über das wir heute reden? Die BSE-Krise Anfang der 2000er erschütterte das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher in Rindfleisch massiv. Daraufhin ist EU-weit ein transparentes System der Herkunftskennzeichnung für Rindfleisch eingeführt worden. Die Ohrmarkennummer der Tiere werden in Datenbanken eingegeben, und fortan ist nachvollziehbar, wo die Tiere geboren, gemästet, geschlachtet und zerlegt worden sind. Diese Angaben sind Pflicht. Über die Verpackung können das deshalb auch Verbraucherinnen und Verbraucher nachvollziehen. Weitere freiwillige Angaben – zum Beispiel zur Herkunftsregion – dürfen ebenfalls gemacht werden. Was ändert sich jetzt? Wir müssen das Rindfleischetikettierungsgesetz an geänderte EU-Vorgaben anpassen. Die freiwilligen Angaben mussten bisher von der Bundesanstalt für Ernährung, kurz BLE, genehmigt werden. Die Betriebe mussten bisher auch die Systeme, die sie zur Rückverfolgung installiert haben, von der BLE zertifizieren lassen. Beides entfällt jetzt. Das ist auch in Ordnung, denn die Systeme sind inzwischen installiert und erprobt. Beides wird aber selbstverständlich weiterhin von der Lebensmittelüberwachung überprüft. Alle Angaben auf der Verpackung müssen nach wie vor stimmen und objektiv nachvollziehbar sein. Die Stellen, die bei der BLE dadurch frei werden, gehen in die Überwachung. Denn die dritte wichtige Neuerung ist, dass die Kontrolle der Rindfleischetikettierung und Rückverfolgbarkeit nun vollständig auf die BLE, also den Bund, übergeht. Vorher teilte der Bund sie mit Ländern und privaten Kontrollstellen. Damit ist die Überwachung in einer Hand. Reibereien um Zuständigkeiten haben ein Ende. So viel zum Rindfleisch. Es wird viele Verbraucherinnen und Verbraucher beruhigen, dass es gut überwacht ist und sie an der Fleischtheke nachvollziehen können, wo es herkommt. Das können sie seit April dieses Jahres übrigens auch bei Schweine-, Schaf-, Geflügel- und Ziegenfleisch. Sie können es aber – ich sagte es eingangs – leider immer noch nicht beim schon panierten Schnitzel, Hühnchenburger oder Fleischsalat. Die Kolleginnen und Kollegen im EU-Parlament haben die Kommission im Februar aufgefordert, endlich einen Gesetzesvorschlag vorzulegen, der die Herkunftsangabe auch bei verarbeitetem Fleisch vorschreibt. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Bundestag unterstützen diese Forderung. Wir haben im Koalitionsvertrag auch vereinbart, dass sich unsere Bundesregierung dafür in Brüssel einsetzen soll. Noch warten wir darauf, dass das passiert. Minister Schmidt – übernehmen Sie! Dabei zeigt die Rindfleischetikettierung: Es geht. Die Unternehmen sind – selbstverständlich – in der Lage, Systeme aufzubauen, mit deren Hilfe sie Fleisch lückenlos zurückverfolgen können. Diese Technik, diese Systeme und auch die Erfahrungen aus der Überwachung können und müssen wir nutzen, um endlich umfassende Transparenz über die Herkunft von Fleisch zu schaffen. Dass das Lasagne und Co. massiv verteuern würde, ist eine Ausrede. Die Zahlen, auf denen diese Ausrede basiert, stammen von der Lebensmittelwirtschaft. Eine französische Verbraucherorganisation hat dagegen ausgerechnet, dass es nur zu Preissteigerungen von ein bis zwei Prozent kommen würde. Das ist zu verkraften. Schon allein deshalb, weil es wirklich alle Unternehmen zwingt, funktionierende Systeme der Rückverfolgbarkeit aufzubauen. Mehr Transparenz bedeutet mehr Lebensmittelsicherheit. Verbraucherinnen und Verbraucher wollen wissen, wo das Fleisch in der Lasagne herkommt. Wir müssen dafür sorgen, dass sie diese Informationen endlich auch bekommen. Karin Binder (DIE LINKE): Mit dem hier vorliegenden Gesetz zur Änderung der Etikettierung von Rindfleisch wird im Wesentlichen eine Vereinfachung für die Betriebe vorgenommen. Das ist sinnvoll und findet unsere Unterstützung. Die dafür erforderlichen Kontrollaufgaben sollen vollständig auf den Bund übertragen werden. Auch das ist überaus sinnvoll. Die Linksfraktion fordert seit langem, dass der Bund mehr Verantwortung bei der behördlichen Überwachung im Lebensmittelbereich übernimmt. Der Grund liegt auf der Hand: Das Lebensmittelrecht ist fast vollständig EU-einheitlich geregelt. Doch in Deutschland sind über 400 Kontrollbehörden zuständig, zersplittert und verteilt auf Bundesländer und Kommunen. Dem gegenüber stehen globalisierte Lebensmittelkonzerne, die Zutaten weltweit zusammenkaufen und europaweit vermarkten. Hinzu kommt: Lebensmittel werden zunehmend im Internet angeboten. Ich frage Sie: Welche Gemeinde und welcher örtliche Lebensmittelkontrolleur soll hier zuständig sein? Die Linke sagt: Der Bund muss bei überregionalen und internationalen Unternehmen die Verantwortung für die Lebensmittelüberwachung haben. Ärgerlich ist, dass sich diese Bundesregierung einmal mehr um eine vollständige Ursprungskennzeichnung bei Fleisch herumdrückt. Denn dabei geht es um ein Kernanliegen des Verbraucherschutzes und um die Glaubwürdigkeit der ganzen Fleischbranche. 90 Prozent der Verbraucher halten eine Ursprungsangabe bei allen Fleischprodukten für notwendig, damit sie eine selbstbestimmte Kaufentscheidung treffen können. Auch das EU-Parlament fordert deshalb eine verpflichtende Herkunftskennzeichnung von verarbeitetem Fleisch. Das ist unverzichtbar für glaubwürdige Verbraucherinformationen. Nach zahlreichen Verstößen und Skandalen ist dieser Schritt das Mindeste, um das Vertrauen der Verbraucher – auch in die Behörden – wiederherzustellen. Ein konsequentes Rückverfolgbarkeitssystem trägt maßgeblich dazu bei, Verstöße gegen Lebensmittelvorschriften aufzudecken und zu verhindern. Im Vergleich zu diesem Nutzen sind die zusätzlichen Kosten von etwa 2 Prozent zu vernachlässigen. Abschließend noch ein Hinweis zur Frage, ob das Rindfleischetikettierungsgesetz „nachhaltig“ ist. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung weist in seiner Stellungnahme zu diesem Gesetz darauf hin, dass der Nachhaltigkeitsbegriff durch die Bundesregierung gern und häufig und nicht immer sinnvoll verwendet wird. Die Bundesregierung erklärt dann auch, dass dieses Gesetz einer nachhaltigen Entwicklung dient, weil Vorschriften vereinfacht werden. Das Zusammenstreichen von Rechtsvorschriften an sich ist keine Maßnahme der Nachhaltigkeit. Gerade im Tierschutz, im Umweltschutz und im Verbraucherschutz geht es darum, wirksame Vorschriften zu erlassen – auch wenn sie für die Wirtschaft nicht immer zu Vereinfachungen führen. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Torkelnde, stürzende Kühe, brennende Rinderkadaver und zerfressene Gehirne, verunsicherte Verbraucher, bestürzte Politiker – der Rinderwahnsinn vom Jahre 2000 ist uns allen noch gut im Gedächtnis geblieben. Eine der vielen Sofortmaßnahmen damals war der Beschluss des Rindfleischetikettierungsgesetzes, welches ein System der Herkunftssicherung für Rindfleisch schaffen sollte. Rindfleisch sollte EU-weit von der Bedientheke über alle Vermarktungs- und Erzeugungsstufen bis zu einer Gruppe von Tieren zurückverfolgt -werden können. Das war damals ein Gewinn für den Verbraucherschutz und schuf Transparenz über die Herstellung von tierischen Erzeugnissen. Vor allem war es notwendig angesichts der Situation und der Gefahren, die mit dem System der Haltung und Fütterung von Tieren verbunden waren. Ein System, in dem Tiere zu den Abfallverwertern der industriellen Schlachtkörperverwertung und anderer industrieller Abfälle degradiert wurden. Für das damalige Problem wurden so Lösungen gefunden, die sinnvoll waren. Was damals gut war, gilt heute als nicht schlecht. Aber wo stehen wir heute? Hat sich an dem System, in dem Tiere gehalten werden, -etwas verändert? Hat sich die Transparenz über die Herkunft tierischer Erzeugnisse verbessert? Hat die Etikettierung zum Beispiel verhindert, dass wir 2013 in unserer Lasagne Pferdefleisch kosten durften oder dass die fleißigen Ikea-Gänger auf die schwedischen Köttbullar verzichten mussten? Nein, das nicht. Aber ich denke, zumindest hat sich ein Bewusstsein gebildet, zumindest hat sich eine Offenheit entwickelt, über Probleme zu sprechen und nach Lösungen zu suchen. Die Herausforderungen vor 15 Jahren waren andere als heute. Heute führen wir eine Debatte, die sich weiterentwickelt hat. Heute müssen wir weiter gehen. Das Gutachten des wissenschaftlichen Beirates für Agrarpolitik hat das gezeigt. Gestern haben wir im Agrarausschuss mit Herrn Professor Grethe über die Konsequenzen daraus gesprochen. Dabei hat sich gezeigt, dass sich der gesellschaftliche Konsens über die Notwendigkeit von Änderungen in der Tierhaltung weiterentwickelt hat. Die Gräben, die vorhanden waren, beginnen sich zu schließen. Die Herausforderungen sind groß. Es gibt viel zu tun. Eine reine Etikettierung reicht heute deshalb nicht mehr aus. Notwendig ist eine hundertprozentige Transparenz über die Art und Weise der Haltung von Tieren, damit der Verbraucher eine Orientierung hat und nach eigenem Wissen und Gewissen entscheiden kann und entscheiden soll. Außerdem darf der Weg vom Produzenten über Händler und Weiterverarbeiter hin zum Endverbraucher keine Lücken oder Möglichkeiten des Betrugs zulassen. Wir begrüßen die Weiterentwicklung des Rindfleisch-etikettierungsgesetzes. Es führt zu einer Effektivitätssteigerung und verhindert landesgrenzenüberschreitende Betrugsfälle. Doch wir fordern mehr: Wir brauchen eine Kennzeichnung von frischem und auch verarbeitetem Fleisch: Es muss klar nachvollziehbar sein, woher jedes Fleisch kommt, das sich im Handel befindet, egal ob Frischfleisch oder Raviolifüllung – oder in der Lasagne. „Nur wer gut informiert ist, kann bewusst entscheiden“, mit dieser Devise hat Bundesminister Christian Schmidt im Rahmen der Infokampagne zur Lebensmittelkennzeichnung agiert. Doch wie, verehrter Herr Schmidt, soll der Otto Normalverbraucher an der Ladentheke entscheiden können? Da hilft auch Ihr nettes, kleines Broschürchen „Kennzeichnung von Lebensmitteln“ nicht wirklich weiter, wenn es um die Herkunft und Haltungsverfahren geht. Um dem Verbraucher einen guten und vor allem einfachen Überblick zu geben und die Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Qualitäten und Herkünften zu ermöglichen, braucht es ein Gesetz zur klaren Definition von Haltungsverfahren bei Rindfleisch, um die Entscheidung beim Kauf zumindest von Rindfleisch wieder nachvollziehbarer und strukturierter zu gestalten. Es braucht ein Konzept mit der Kennzeichnung 0 bis 3, so wie meine Kollegin Nicole Maisch es just erläutert hat. Den Erfolg dieses Konzepts zeigt die vor einigen Jahren eingeführte Eierkennzeichnung. Wir sind mit unserer Idee nicht alleine – die Länder arbeiten seit Monaten an einem Modell. Im Gegensatz zur Tierwohl-Initiative hielte unser Konzept auch tatsächlich das, was es verspräche. Dieses Thema könnte man sehr leicht unter „eine Frage der Haltung“ stecken. Und wer war das noch mal, der diesen Ansatz so lauthals vertritt? Ach ja, der Herr Minister Schmidt. Wollen wir mal schauen, ob er nur mal wieder Großes ankündigt, was dann versandet, oder tatsächlich mal die richtige Haltung einnimmt. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: zum Grünbuch – Schaffung einer Kapitalmarktunion – KOM(2015) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15 hier: Stellungnahme im Rahmen eines Konsultationsverfahrens der Europäischen Kommission (Zusatztagesordnungspunkt 4) Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Erstens. Wenn man die zahlreichen europäischen Richtlinien und Verordnungen vor Augen hat, die in den letzten Jahren zur Vereinheitlichung des Kapitalmarkts in Europa verabschiedet wurden, hat man den Eindruck, dass es einen einheitlichen europäischen Kapitalmarkt längst geben müsste. Das ist – leider – nicht der Fall, weil – wie so oft – der „Teufel im Detail“ liegt. Das von der Europäischen Kommission am 18. Februar 2015 vorgelegte Grünbuch „Schaffung einer Kapitalmarktunion“ zielt daher durchaus zu Recht darauf ab, diese noch vorhandenen Defizite zu beseitigen. Was dabei leider fehlt, ist eine klare Priorisierung der verschiedenen in den Raum gestellten Vorschläge. Zweitens. Andererseits ist bei manchen Vorschlägen leicht absehbar, dass es Widerstand aus den Mitgliedstaaten geben wird. Denn die aus der Sicht der Kommission wünschenswerte größere Rolle für die europäischen Aufsichtsbehörden wird sich nur erreichen lassen, wenn die Mitgliedstaaten davon überzeugt werden, dass dies per Saldo zu deutlichen (!) Effizienzgewinnen für die Marktteilnehmer – und auch für die Mitgliedstaaten selbst – führt. Ein einheitliches Genehmigungsverfahren für Prospekte wäre hier sicher denkbar. Aber „mehr -europäische Regulierung“ ist beileibe kein Selbstläufer. Drittens. Die Kommission führt für ihr Ziel die Parallele zur Bankenunion ins Feld, für die wir in diesem Haus vor wenigen Monaten die letzten Weichen gestellt haben. Diese Parallele ist freilich nur halb richtig: Denn bei der Bankenunion stand die Vermeidung von „Systemrisiken“ – also Dominoeffekten – im Vordergrund, insbesondere im Zusammenhang mit der Währungsunion, während es hier um die Schaffung bzw. Verbesserung des Marktzugangs auch für die einzelnen Marktteilnehmer geht. Deshalb wird, wenn die Kommission sich – zu Recht – für eine verbesserte grenzüberschreitende Eigenkapitalfinanzierung ausspricht, ebenso berechtigt die Frage gestellt, ob denn wirklich bereits ein funktionierender grenzüberschreitender Kreditmarkt existiert. Was hier als Kreditsicherheit in Betracht kommt, unterliegt beträchtlichen nationalen Unterschieden: Zu nennen sind etwa die verschiedenen Wege der Hypothekenfinanzierung einerseits und die Möglichkeit der Unternehmenshypothek – „floating charge“ – andererseits. Das gehört durchaus auch in den Kontext der von der Kommission anvisierten Maßnahmen zu Kreditinformationen über kleine und mittlere Unternehmen, KMU, und zur Wiederbelebung der Märkte für Verbriefungen. Viertens. Zu Recht bezieht die Kommission auch die indirekt den europäischen Kapitalmarkt berührenden Rechtsbereiche in ihre Überlegungen ein, vor allem das Gesellschafts-, das Insolvenz- und das Steuerrecht. Im Insolvenzrecht seien zwei Hürden genannt, die durchaus einer europäischen Regelung harren: So stellt sich die Frage, ob im Rahmen von Sanierungen die Prospektkontrolle auch in das Insolvenzverfahren – insbesondere das Planverfahren – integriert werden kann. Zum Zweiten ist im Übernahmerecht zu prüfen, ob der systematische Aufkauf von Forderungen mit dem Ziel einer „Umwandlung“ in Eigenkapital – „loan to own“ – im Rahmen eines Insolvenzverfahrens nicht auch den übernahmerechtlichen Schutzmechanismen zu unterwerfen ist. Große Probleme bei der grenzüberschreitenden Finanzierung bereitet die konzerninterne Finanzierung – Stichwort: Cash Pooling. Hier wäre Rechtssicherheit durch Adressierung in der geplanten „Konzernrichtlinie“ nachdrücklich wünschenswert. Gerade was die Eigenkapitalseite angeht, bleibt im Übrigen das Thema „Grenzüberschreitende Stimmrechtsausübung“ auf der Agenda. Fünftens. Stichwort Rechnungslegung: Rechnungslegung ist heute nicht mehr nur ein Thema des Gesellschaftsrechts, sondern – jedenfalls auch – des Kapitalmarktrechts, geht es doch darum, die Vergleichbarkeit der verschiedenen am Kapitalmarkt gehandelten Emittenten zu gewährleisten. Die Internationalen Rechnungslegungsstandards, IFRS, haben hier einen bedeutenden Beitrag zur – auch über Europa hinausgehenden – Vereinheitlichung der Kapitalmärkte geleistet. Geht es aber um nicht börsennotierte Unternehmen, insbesondere also KMU, tritt dieser Gesichtspunkt zurück. Die Bedeutung des Rechnungslegungsrechts als Ordnungsrahmen für die gesellschaftsinternen Beziehungen, insbesondere auch die Ausschüttungsbemessung und allgemeiner der Gläubigerschutz, tritt in den Vordergrund. Bestrebungen, auch hier eine zwingende Bilanzierung nach den IFRS vorzusehen, halten wir daher nicht für gerechtfertigt. Denn ganz unabhängig davon, ob der theoretische Ansatz der IFRS auch für die eher gesellschaftsrechtlichen Zwecke der KMU passend ist, lässt er sich nur mit einem beträchtlichen zusätzlichen Kostenaufwand verwirklichen. Das von uns favorisierte Festhalten an der Bilanzierung nach HGB ist daher auch eine Maßnahme der Bürokratievermeidung. Das schließt freilich nicht aus – und darüber wird man im Einzelfall nachzudenken haben –, dass nicht auch einzelne Elemente der IFRS in das HGB übernommen werden, wie wir das auch in der Vergangenheit schon getan haben. Ebenso kann es Situationen geben, wo auch für KMU eine internationale Vergleichbarkeit notwendig ist. Ihnen fakultativ eine Bilanzierung nach IFRS oder einem dritten Standard zu ermöglichen, wäre daher sicher denkbar. Sechstens. Ein letzter Blick soll dem Thema Steuern gelten – zweifellos vermintes Gelände: Hier besteht – vor allem aus der Sicht des Insolvenzrechtlers – das Grundproblem bereits im Ansatz – nämlich, dass Eigenkapital im Verhältnis zu Fremdkapital steuerlich benachteiligt wird. Zu diesem allgemeinen Problem kommt aber im europäisch-grenzüberschreitenden Kontext hinzu, dass das System des Quellensteuereinbehalts sehr unterschiedlich praktiziert wird – vor allem was die Bemessungsgrundlage und das Anrechnungs- und Erstattungssystem angeht. Die Lösung dieser Fragen auf der Grundlage der Grundfreiheiten sollte nicht allein dem EuGH überlassen werden. Alexander Radwan (CDU/CSU): Die Europäische Kapitalmarktunion ist das Projekt in der Finanzmarkt-regulierung in der Verantwortung von Kommissar Hill . Derzeit findet die Grünbuchkonsultation der Europäischen Kommission statt, zu der die CDU/CSU-Fraktion und die SPD-Fraktion die Initiative ergriffen haben, dass der Deutsche Bundestag sich beteiligt. Brüssel soll vom gewählten Parlament nicht erst hören, wenn schon alles entschieden ist und nur noch implementiert werden soll. Mit diesem Antrag wollen wir uns frühzeitig einbringen und der Kommission, insbesondere dem Engländer Lord Jonathan Hill und natürlich dem BMF, unsere wichtigen Punkte mit auf den Weg geben – mit der nachdrücklichen Bitte um Berücksichtigung. Die Idee eines integrierten Binnenmarktes für Finanzdienstleistungen ist nicht neu, bereits im Jahr 1999 gab es die Initiative für den FSAP, den Aktionsplan für -Finanzdienstleistungen. Doch lassen sie mich zunächst kurz das Vorhaben der Kapitalmarktunion schildern, bevor ich unsere Punkte vertiefe. Die Kommission ist der Ansicht, die europäische Unternehmensfinanzierung gestalte sich zu wenig über den Kapitalmarkt und zu sehr über die reine Bankenfinanzierung. Hier setzt Hill an und komplettiert damit Junckers Beschäftigungs- und Wachstumsinitiative, die aufseiten der Investitionen im Juncker-Plan, dem 315-Milliarden-Euro-Paket, verankert ist. Auch sieht die Kommission kritisch, dass der europäische Finanzmarkt seit der globalen Finanzkrise 2007/2008 zu sehr an nationalen Grenzen haltmache. Durch die Kapitalmarktunion soll das Angebot an alternativen Finanzierungsoptionen für Unternehmen verbreitert werden, um Kapitalmarktfinanzierung insbesondere zugunsten von kleinen und mittelständischen Unternehmen zu diversifizieren und zusätzliche Alternativen zur klassischen Bankenfinanzierung zu ermöglichen. Auch soll die Kapitalmarktunion für mehr Investitionen aus Drittstaaten attraktiver werden und das Finanzsystem durch die Erschließung einer breiteren Palette an Finanzierungsquellen stabilisieren. Immer wieder betont Hill, auch zuletzt hier im Bundestag in einem Gespräch mit dem Finanzausschuss, die Kapitalmarktfinanzierung könne für Deutschland nur ergänzend sein. Lassen Sie mich nun erläutern, welche Punkte wir hier kritisch sehen und uns auch im Antrag dementsprechend äußern. Bei all den Reformen, die Hill hier anstrebt, dürfen vor allem der deutsche Schuldschein- und Pfandbriefmarkt nicht leiden. Auch muss Hill sich Gedanken dazu machen, welche Maßnahmen für die Eigenkapitalfinanzierung ergriffen werden können – hier muss es vor allem grenzüberschreitende Lösungen geben, damit Risiken verantwortungsvoll gestreut werden. Zwingend, und das ist mein Hauptpunkt, darf der Zugang zur Bankenfinanzierung als Folge der Kapitalmarkt-union nicht erschwert werden. Seit Jahrzehnten bewährt sich das deutsche Drei-Säulen-Modell, insbesondere in Krisenzeiten, wie die letzten Jahre zeigen. Die Sparkassen und Genossenschaftsbanken haben sich tapfer durch die Krise geschlagen und sie sicher nicht verursacht. Kleine und mittlere Unternehmen vertrauen seit jeher auf die verlässliche Finanzierung bei ihrer Hausbank, mit der sie eine Vertrauensbeziehung eingegangen sind – aus gutem Grund. Hier ist jemand greifbar, man kennt sich, man kennt die Umstände, weiß, mit wem man es zu tun hat. Die Vertrauensbeziehung droht in der Kapitalmarkt-finanzierung -kaputtzugehen – und ich sehe kein kleines oder mittelständisches Unternehmen in meinem Wahlkreis in Bayern, das nun Prospekte anfertigen lässt und Anleihen ausgibt. Hier kann die Rede nur von einem sehr geringen Anteil an den kleinen und mittelständischen Unternehmen sein, die davon Gebrauch machen würden – und wohl auch zu Recht. Viel eher müssen wir hier darüber sprechen, wie kleinen Unternehmen der Zugang zur Bankenfinanzierung erleichtert werden kann – und hier dürfen wir nicht nur an deutsche Unternehmen und Kreditinstitute denken, sondern auch an die von der Kreditklemme bedrohten Unternehmen und Banken in den europäischen Mitgliedstaaten. Hier erwarte ich von der Kommission, dass sie sich mit gleichem Elan dafür einsetzt, in diesen Staaten eine leistungsfähige Bankenstruktur, insbesondere Re-gionalbanken, zu etablieren. Den Proportionalitätsgrundsatz bei Regulierung und Finanzierungsauflagen dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, das heißt, keine Finanzierungsform darf bevorzugt oder benachteiligt werden. Insgesamt müssen hier Wirkungen und Wechselwirkungen bestehender und noch nicht in Kraft getretener Finanz- und Kapitalmarktregelungen umfassend analysiert und evaluiert werden, bevor neue Vorhaben kommen. Strukturen lokal und regional ausgerichteter Kreditinstitute müssen europaweit verankert und gefördert werden. Die Kapitalmarktunion ersetzt in keinem Falle notwendige Investitionen und Strukturreformen. Hier müssen wir trotz des Hill-Vorhabens zusehen, dass sowohl Investitionen europaweit als auch Strukturreformen endlich kommen und durchgesetzt werden. Dazu gehört natürlich auch die konsequente Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspakts – hier müsste die Kommission viel strikter sein. Wichtig ist uns auch, im Antrag zu verdeutlichen, dass wir für KMU eine Bilanzierungspflicht nach IFRS vehement ablehnen. In Deutschland hat sich die Rechnungslegung nach HGB bewährt, sie funktioniert. Auch die hohe Qualität der Verbriefungen muss gesichert sein, gerade nach der Erfahrung der Finanzkrise! Lassen Sie mich zusammenfassen: Jeder Mitgliedstaat der EU besitzt sein ganz eigenes, historisch gewachsenes Finanzsystem. Wie und wo Menschen Geld anlegen, wie hoch ihre Sparquote ist und welchen Partnern sie bei ihren Finanzierungsentscheidungen vertrauen, beruht auf individuellen Erfahrungen und ist oft auch eine Mentalitätsfrage. Prägend für Deutschland sind die hohe Mittelstandsquote und der große Anteil an Kreditfinanzierungen, getragen vom Drei-Säulen-Modell der Kreditwirtschaft. Diese Strukturen haben sich insbesondere in der -Finanzkrise als robust erwiesen. Mehr Kapitalmarkt kann allenfalls eine sinnvolle Ergänzung sein. Ich erwarte von der Kommission, dass sie sich für eine effiziente Bankenfinanzierung mit starken Regionalbanken mit gleichem Elan einsetzt wie für den Kapitalmarkt. Aus meiner Sicht, und das machen wir im Antrag deutlich, müssen die Rahmenbedingungen für kleine und mittlere Kreditinstitute und KMU gestärkt werden. Wir haben es hier mit einer gesunden Symbiose zu tun, die, wenn wir nicht aufpassen, in Parasitismus umschlagen kann, wenn erst dubiose Unternehmen Anleihen emittieren, die möglicherweise ahnungslose Verbraucher kaufen. Dann ist nichts gewonnen. Im Gegenteil, dann heißt es: „Zurück auf Los!“ Christian Petry (SPD): Im Februar 2015 hat EU--Finanzmarktkommissar Jonathan Hill sein Grünbuch zur Schaffung einer europäischen Kapitalmarktunion vor-gestellt. Kern dieser Vorschläge ist eine stärkere Har-monisierung der europäischen Kapitalmärkte, um so zusätzliche, grenzüberschreitende Finanzierungsquellen für kleine und mittlere Unternehmen zu schaffen. Durch diese neuen Finanzierungsmöglichkeiten sollen Wirtschaftswachstum und Beschäftigungszuwachs generiert werden. Die europäische Kapitalmarktunion ist damit vor allem eines: ein weiterer Schritt hin zu mehr Europa und einer noch engeren Verflechtung mit unseren europäischen Nachbarn. Mehr als 50 Jahre nach Unterzeichnung der Römischen Verträge ist es an der Zeit, den freien Kapitalverkehr in der EU endlich umzusetzen. Ich denke, dass dieses Ziel grundsätzlich sehr unterstützenswert ist. Gerade im südlichen Europa ist die Kreditfinanzierung durch Banken für Unternehmen oftmals schwierig. Trotz der anhaltenden Niedrigzinsphase werden dort nur wenige Bankkredite zur Unternehmensfinanzierung vergeben. Eine europäische Kapitalmarktunion kann hierbei zusätzliche Finanzierungsquellen für Unternehmen schaffen. Mit Blick auf die Schaffung einer europäischen Kapitalmarktunion ist die entscheidende Frage, was wir genau unter einer solchen Kapitalmarktunion verstehen und welche Einzelmaßnahmen aus dem Grünbuch der Kommission in welchem Umfang umgesetzt werden. Es ist wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag mit dem vorliegenden Antrag am Konsultationsverfahren der Kommission beteiligt und zum Grünbuch klar Stellung bezieht. Das enge Zeitfenster zur parlamentarischen Antragsberatung ist der Tatsache geschuldet, dass der Konsultationsprozess der Kommission bereits Mitte Mai 2015 endet. In dieser Wahlperiode haben wir viele europäische Vorgaben umgesetzt. Ich denke da beispielsweise an die einheitliche Bankenaufsicht, den Bankenabwicklungsmechanismus oder an die neuen Vorgaben für die europäischen Einlagensicherungssysteme. Ein Ziel stand für uns Parlamentarier dabei immer im Zentrum unseres Handelns: die Verbesserung des Verbraucher- und Anlegerschutzes. Es ist kaum eine Debatte vergangen, in der wir nicht auf die Lehren aus der letzten Finanzmarktkrise eingegangen sind und die damit einhergehende Notwendigkeit besserer und transparenterer Regulierung der Finanzmärkte. Hinter diesen Anspruch dürfen wir in der Debatte um die Schaffung einer europäischen Kapitalmarktunion nun nicht zurückfallen. Wenn die Kommission etwa die Novellierung der Prospektrichtlinie ins Spiel bringt, dann dürfen Vereinfachungen zur besseren Handhabbarkeit der Vorgaben nicht mit einem niedrigeren Standard beim Anlegerschutz einhergehen. Laut Grünbuch sollen darüber hinaus Anreize für private Haushalte geschaffen werden, verfügbares Geld verstärkt in Wertpapiermärkten anzulegen. Die Kommission zieht diesen Schluss aus ihrer Analyse, wonach Privathaushalte ihr Vermögen einseitig und wenig ertragreich auf Bankkonten halten. An dieser Stelle teile ich die Ansicht der Kommission nicht. Ich glaube, dass viele Kunden in Europa die Sicherheit von Bankkonten bewusst wählen und risikoreichere Investitionen am Kapitalmarkt scheuen. Anlageformen, die ein hohes finanzielles Verlustrisiko bergen, sind für Kleinanleger oftmals nicht geeignet. Die von der Kommission in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen Maßnahmen müssen daher sehr genau geprüft werden. Das gilt auch für die im Grünbuch angesprochenen „hochwertigen“ Verbriefungen. Neben dem Aspekt des Verbraucherschutzes darf die Umsetzung der Kapitalmarktunion auch nicht zur Schwächung etablierter Strukturen in Deutschland führen. Bei den anstehenden Verhandlungen auf europäischer Ebene werden wir uns daher dafür einsetzen, dass das in der Bundesrepublik etablierte bankbasierte System der Unternehmensfinanzierung durch die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes für Kapital nicht geschwächt wird. Die Kommission regt ferner an, den Markt für Privatplatzierungen zu erleichtern. Auch dies ist ein interessanter Vorschlag, um ruhendes Kapital, das zurzeit außerhalb Europas investiert wird, wieder nach Europa zurückzuholen. Richtig ist auch das langfristige Ziel der Kommission, weitere Rechtsgebiete wie etwa das Wertpapier-, das Insolvenz- oder das Steuerrecht europaweit anzugleichen. Die höchsten Standards müssen dabei der Maßstab für jegliche Angleichung sein. Das aktuelle Konsultationsverfahren der Kommission sowie die anschließende Analyse und Priorisierung der umzusetzenden Maßnahmen sind wichtig, um die europäische Kapitalmarktunion innerhalb des anvisierten Zeitfensters umsetzen zu können. Als zuständiger Berichterstatter meiner Fraktion werde ich diese Konsultationen kritisch begleiten. Bis Herbst 2015 erwarten wir den Aktionsplan der Kommission, die Kapitalmarkt-union soll dann bis 2019 umgesetzt werden. Das ist sehr ambitioniert und wird uns noch viele Gelegenheiten zur Diskussion in den parlamentarischen Gremien bieten. Die Krise der vergangenen Jahre hat eines ganz deutlich gemacht: Perspektivisch muss die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion durch die Harmonisierung weiterer Politikbereiche weiterentwickelt werden. Nur so können wir unsere Ziele bei Wirtschaftswachstum und Beschäftigung erreichen. Klar ist: Die Europäische Union profitiert von der Angleichung weiterer, bislang national geregelter Politikbereiche. Mit der Harmonisierung der europäischen Kapitalmärkte sind wir hier auf einem guten Weg hin zu mehr Europa. Manfred Zöllmer (SPD): Die Europäische Kommission hat im Februar dieses Jahres das Grünbuch „Schaffung einer Kapitalmarktunion“ veröffentlicht. Bis zum 13. Mai läuft hierzu eine öffentliche Konsultation. Die Koalitionsfraktionen legen deshalb den vorliegenden Entschließungsantrag vor, der sich auf das Verhandlungsmandat der Bundesregierung bezieht und die deutsche Position zu diesem Vorhaben beschreibt. Mit dem Grünbuch verfolgt die Europäische Kommission das Ziel, durch einen integrierten Kapitalbinnenmarkt den Zugang zu Finanzmitteln für alle Unternehmen in ganz Europa – insbesondere für KMU – zu verbessern, die Finanzierungsquellen für Anleger aus der EU und dem Rest der Welt auszuweiten und zu diversifizieren sowie effizientere Märkte zu schaffen, die Anleger und Unternehmen mit Finanzierungsbedarf sowohl innerhalb der Mitgliedstaaten als auch grenzübergreifend wirksamer und kostengünstiger zusammenzubringen. Das Ziel, für mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa unter anderem durch erleichterte Finanzierungsmöglichkeiten zu sorgen, wird von uns sehr begrüßt. Es geht darum, zu analysieren, welche Strukturen bewährt sind und wo Reformen notwendig sind, um die Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen zu verbessern. Die im Grünbuch von der Europäischen Kommission geäußerte Kritik an der zu starken Abhängigkeit der Unternehmensfinanzierung von Banken und die daraus resultierende Forderung nach mehr ergänzenden Kapitalmarktfinanzierungen können wir für Deutschland nicht teilen. Wir haben zu 80 Prozent eine Bankenfinanzierung. Das deutsche Bankensystem kann die Unternehmen ausreichend mit Krediten versorgen. Wir haben deshalb im Antrag darauf hingewiesen, dass der Zugang zur Bankenfinanzierung als Folge einer Kapitalmarktunion zukünftig nicht erschwert werden darf. Das deutsche Drei-Säulen-Modell hat sich bei der Kreditversorgung bewährt. Es gibt in Deutschland keine Kreditklemme. Insbesondere KMU werden weiterhin auf Finanzierung durch ihre Hausbank vertrauen. Eine erweiterte Finanzierung über die Kapitalmärkte kann deshalb nur eine Ergänzung sein. Wir sollten daher nicht nur einseitig nach neuen -Finanzierungsmöglichkeiten durch den Kapitalmarkt schauen, sondern auch über Verbesserungen der Bankenfinanzierung für kleine Unternehmen nachdenken. So kann die Kreditversorgung des Mittelstands durch kleine Banken erleichtert werden, wenn ein auf sie zugeschnittenes regulatorisches Regime genügend Freiräume lässt und der Proportionalitätsgrundsatz in der Regulierung zukünftig noch stärkere Beachtung findet. Darüber hinaus darf eine Reform die Finanzmarktstabilität nicht gefährden. Darüber hinaus darf der Verbraucher- und Anlegerschutz nicht ausgehöhlt werden. Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die vorgeschlagene Wiederbelebung des Verbriefungsmarktes. Durch Verbriefungen hoher Qualität kann ein Finanzierungsspielraum bei den Banken geschaffen werden, der den KMU zugutekommen könnte. Wir erinnern uns aber gleichzeitig und sehr ungern an die Finanzmarktkrise, bei der Verbriefungen eine unrühmliche Rolle gespielt haben. Das gilt jedenfalls für die USA. Sicherlich ermöglicht die Verbriefung den Banken, die Kreditrisiken nicht bis zur Endfälligkeit zu tragen, sondern an diejenigen Marktteilnehmer zu übertragen, die die besseren Voraussetzungen zur Risikotragfähigkeit mitbringen. Dies gilt aber nur, wenn sie einfach und transparent sind. Nur dann kann der Markt die Qualität und damit die Risiken dieser Produkte bewerten. Nur dann ergeben sich keine neuen Risiken für die Finanzmarktstabilität. Aus unserer Sicht müssen deshalb die von der Kommission als prioritär eingestuften Maßnahmen zur Wiederbelebung eines qualitätsorientierten und nachhaltigen europäischen Verbriefungsmarktes intensiv geprüft werden. Zudem wollen wir an der bewährten Rechnungslegung für den deutschen Mittelstand nach dem Handelsgesetzbuch festhalten und lehnen für kleine und mittlere Unternehmen eine Bilanzierungspflicht nach den International Financial Reporting Standards oder nach einem neu zu schaffenden dritten vermittelnden Standard ab. Insgesamt begrüßen wir die Initiative der Europäischen Union, mit der Schaffung einer Kapitalmarktunion die Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen durch eine breitere Produktpalette, mehr Transparenz und mehr Wettbewerb zu verbreitern, damit zusätzliches Wachstum und Beschäftigung in Europa entstehen. Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Mit dem Grünbuch zur Schaffung einer Kapitalmarktunion liegt nun eine Diskussionsgrundlage vor, mit der die Harmonisierung der Kapitalmärkte innerhalb der Europäischen Union skizziert wird. Nachdem sich im Zuge der Finanz- und Staatsfinanzierungskrise die Finanzmärkte wieder ein Stück nationalisiert hatten, sollen diese wieder stärker integriert werden. Mit dem Mehr an Harmonisierung sollten aber gleichzeitig die europäischen Aufsichtsbehörden EBA, ESMA und EIOPA gestärkt werden. Wichtig ist ebenfalls, klein- und mittelständischen Unternehmen, KMU, sichere und vielfältige Finanzierungswege zu bieten. Bei der Gesamtbetrachtung sollte man sich die zwei vorherrschenden Motive für die geplante Kapitalmarkt-union vor Augen führen: Zum einen sollen zusätzliche Finanzmittel freigeschaufelt werden, um Investitionen von Unternehmen anzukurbeln, verbunden mit der Hoffnung, mehr Wachstum zu schaffen. Das ist insoweit verständlich, als Banken in der Krise weniger Kredite vergaben, da sie beispielsweise mehr Eigenmittel aufbauen mussten. Diese Probleme sind aber hausgemacht, weil der Bankensektor nicht neu geordnet wurde und weil Kürzungsdiktate dazu führten, dass nicht mehr so viele Bankkredite nachgefragt wurden. Doch darf dies nicht dazu genutzt werden, wichtige Regulierungen wieder zurückzufahren – solche Stimmen sind leider schon wieder allzu häufig zu vernehmen. Zum anderen ist der deutliche Trend zu beobachten, dass die althergebrachte starke Abhängigkeit von der einlagenbasierten Kreditwirtschaft bzw. von der Bankenfinanzierung gebrochen werden soll. Die Folge ist eine viel stärker kapitalmarktfinanzierte, kaum regulierte und intransparentere Wirtschaft, mit einer hervorgehobenen Rolle von spekulativen Investmentfonds beispielsweise. Wir brauchen jedoch keinen Shareholder-Value-Kapitalmarkt, sondern einfache, wirtschaftliche und soziale Kriterien erfüllende, langfristig orientierte Finanzinstrumente. Daher klingt es im Antrag der Koalitionsfraktionen wie ein Lippenbekenntnis, wenn Sie schreiben, dass „der Zugang zur Bankenfinanzierung als Folge der Kapitalmarktunion nicht erschwert“ und das deutsche Drei-Säulen-Modell bewahrt werden soll. Das wird lediglich als windelweiche Erwartung an die Kommission formuliert, wobei deutlich mehr Druck und entschiedenes Handeln angesagt wären. Lippenbekenntnis auch deswegen, weil Sie mehrmals unverhohlen „alternative kapitalmarktbasierte Unternehmensfinanzierung“ oder „Alternative zur klassischen Bankenfinanzierung“ schreiben, womit Sie Ihre eigenen Erwartungen konterkarieren. Die Linke wird weiterhin kein Bankenschwächungsprogramm zugunsten von wild wuchernden, anonymen Kapitalmärkten und Riesenfonds durchwinken. Wir werden es nicht zulassen, dass durch strikte Abhängigkeit vom Kapitalmarkt noch mehr die Finanzstabilität geschwächt wird. Ein weiterer Punkt ist, dass vielfältigere Finanzierungsmittel vor allem dann effektiv wirken, wenn unter anderem der Schattenbanksektor in der EU reguliert ist. Hier ist der Antrag der Koalition bemerkenswert, weil Sie schreiben, dass die Kapitalmarktunion nicht dazu führen darf, dass rein spekulative Anlagemöglichkeiten gefördert werden. Das unterstützen wir. Doch damit erteilen Sie Ihrer eigenen Regierung eine gewaltige Schelte. Auf EU-Ebene wurde bisher lediglich ein zweifelhafter Verordnungsvorschlag zur Regulierung von Geldmarktfonds vorgelegt. Daneben gab es bislang nichts. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Bundesregierung ernsthaft für eine strenge Regulierung des Schattenbanksektors einsetzt. Insofern unterstützen wir als Linke diese Kritik der Koalition an der Bundesregierung. Das Grünbuch Kapitalmarktunion regt an, die Verbriefung von Krediten wieder anzufeuern und damit den Markt für wertpapierbesicherte Verbriefungen wiederzubeleben. Auch wenn die Koalition in ihrem Antrag von Verbriefungen mit „hoher Qualität“ spricht, so ist diese Betrachtung zu unkritisch. Obwohl Verbriefungen ersten Grades – und gerade nicht das Bündeln und Wiederverpacken – realwirtschaftlich sinnvoll sein können, sollten Sie Giftpapiere und das ganze Finanzmonopoly lieber unterm Tisch lassen, damit niemand sagen kann „Nicht aus der Krise gelernt, gehen Sie zurück auf Los“. Sie sollten die Kommission besser dahin drängen, das Sicherheitsbedürfnis der Menschen zu befriedigen, anstatt sie in waghalsige Abenteuer zu locken. Wir unterstützen es, wenn die Prospektrichtlinie tatsächlich streng unter Verbraucherschutzaspekten überarbeitet wird. Neben einer Standardisierung der Prospekte ist es dringend notwendig, dass ein Prospekt vollständig in die Sprache des Zielstaates, also des Staates, wo das Produkt vertrieben werden darf, übersetzt werden muss und der Anleger in seinem Heimatstaat klagen kann. Sie wollen es doch nicht länger zulassen, dass der Anleger auf eigene Kosten den Prospekt übersetzen lassen muss, falls er einen Schaden erleidet und prüfen möchte, ob der Pros-pekt fehlerhaft ist? Das kostet locker mal 20 000 Euro. Aus unserer Sicht muss der Emittent für die Übersetzungen und deren Kosten geradestehen. Auch hier darf der Verbraucherschutz nicht zugunsten des Binnenmarktes geopfert werden. Abschließend möchte ich noch darauf zu sprechen kommen, dass im Grünbuch vorgeschlagen wird, Investitionen in öffentliche Infrastrukturprojekte insbesondere privaten Investoren – Versicherungen und Banken – leichter zu machen. Hier in Deutschland wurden durch die sogenannte Fratzscher-Kommission unter anderem die „öffentlichen Infrastrukturfonds“ vorgestellt. Was wir vergangene Sitzungswoche in der Aktuellen Stunde in Bezug auf Deutschland kritisiert haben, wird auf europäischer Ebene nicht besser: Die Linke sieht die Gefahr, dass eine große Welle an Privatisierung öffentlicher In-frastruktur auf uns zurollt. Gewinner werden zum Beispiel Versicherungen sein, die leichter und mehr in solche Projekte investieren können. Dabei investieren sie primär Kundengelder. Für diese Investments ist nun laut Grünbuch sogar geplant, Infrastrukturinvestitionen, insbesondere in den Eigenkapitalvorschriften für Banken und Versicherungen, weniger streng regulatorisch zu behandeln. Dadurch werden diese zweifellos riskanteren Investments weniger abgesichert, wodurch noch schneller Kundengeld weg sein kann. Da der Staat ein öffentliches Projekt aber kaum fallen lassen wird, wird er einspringen. Die Zeche werden die Steuerzahler, also erneut die Bürger, zahlen – in doppelter Weise –, während sich Versicherungen genüsslich die fast risikolose Zusatzrendite einverleiben. Diese Öffentlichen Privaten Partnerschaften begünstigen einseitig Versicherungen und Banken und schaden letztlich uns allen. So wird man auf lange Sicht gerade nicht die Investitionsbremse lockern und für nachhaltiges Wachstum sorgen. Daher sollten wir uns dringend dafür einsetzen, dass die Anregungen aus dem Grünbuch in dieser Art nicht Wirklichkeit werden und wir eine Kapitalmarktunion schaffen, die herkömmliche Kreditvergabe nicht behindert und Verbraucher nicht hinters Licht führt. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gestatten Sie mir eine Bemerkung vorab: Das Grünbuch der Europäischen Kommission zur Kapitalmarktunion wurde am 18. Februar dieses Jahres veröffentlicht. Seitdem läuft das Konsultationsverfahren. Eigentlich genügend Zeit, um sich eine Meinung zu bilden. Schade, dass die Koalition ihre Stellungnahme in Form des nun vorliegenden Antrags erst vorgestern angekündigt hat. Wir hätten hier als Deutscher Bundestag die Chance gehabt, gemeinsam ein starkes Signal nach Brüssel zu senden. Dies hätte ich schon für möglich gehalten, denn es ist ja nicht alles schlecht, was im Antrag der Koalition steht. Wir Grüne begrüßen, dass der Antrag der Koalition so großen Wert auf das Proportionalitätsprinzip legt. Kleine Banken müssen regulatorisch anders behandelt werden als große. Auch die Senkung von Markteintrittsbarrieren, um regionale Bankgründungen in Europa voranzubringen, ist richtig. Zurück zum Bankgeschäft, das der Realwirtschaft dient, sozusagen zum Boring Banking, das ist der richtige Ansatz. Wir sollten in der Tat dafür sorgen, dass das klassische Einlagen- und Kreditgeschäft, betrieben von lokal agierenden Banken mit regionalem Wissen und intensiver Beziehung zu ihren Kreditnehmern, wieder Kern der Finanzintermediation wird. Ein anonymer Kapitalmarkt kann diese individuellen -Finanzierungsmodelle für einen Großteil der Unternehmen gar nicht bereitstellen, und der bürokratische Aufwand für die Unternehmen wäre viel zu hoch. Richtig an dem Antrag ist auch die Aussage, dass die Förderung von Kapitalmarktfinanzierungen nicht auf Kosten der Finanzstabilität geschehen darf. Deshalb ist das Problem der Regulierung des Schattenbankenbereichs zu Recht angesprochen. Die Regulierung muss verhindern, dass sich die Risiken aus dem Bankbereich schlicht in das Schattenbanksystem verlagern lassen. Wir als Gesetzgeber müssen außerdem verhindern, auch das ist in dem Antrag der Koalition adressiert, dass wir Begehrlichkeiten aus der Branche nachgeben und Regulierungsvorschriften wieder auf Kosten der Finanzstabilität lockern. Die Stärkung des Marktes für Beteiligungen am Eigenkapital erachten wir für zentral, da es Risiken streut und den Finanzmarkt durch gestärkte Verlustabsorption stabilisiert. Hier bleibt der Antrag der Koalition leider unkonkret. Ich halte es für wichtig, dass die steuerpolitisch unsinnige Bevorzugung von Fremdkapital gegenüber Eigenkapital ernsthaft angegangen wird. Die Abschaffung der Abgeltungsteuer ist dafür ein wichtiger Schritt, den wir Grünen seit Jahren fordern. In der Gesamtbetrachtung können wir dem Antrag jedoch nicht zustimmen, weil er ganz wesentliche Dinge schlicht nicht anspricht. An den Finanzmärkten sind derzeit teilweise immer noch, teilweise erneut extreme Risiken zu beobachten. Dies bestätigen auch die Analysen des Internationalen Währungsfonds, der im April in seinem Finanzstabilitätsbericht dargestellt hat, wie diese Risiken im letzten halben Jahr noch einmal gestiegen sind. Auch aus den Analysen des Europäischen Systemrisikorats und dem Ausschuss für Finanzstabilität schließe ich, dass es fatal wäre, aus den zahlreichen Gesetzen zur Finanzmarktregulierung, die wir in den letzten Jahren verabschiedet haben, zu schließen, dass die Märkte sicherer oder stabiler geworden sind. Das lässt sich nicht belegen. Es bauen sich im Finanzmarktsystem vielmehr Risiken auf, die schwer zu kontrollieren sind. Die globalen Ungleichgewichte sind teilweise größer als vor Ausbruch der Finanzmarktkrise. Insofern sind wir mit der Regulierung nicht am Ziel. Dennoch wäre ein „Mehr desselben“ falsch. Europa braucht nicht noch mehr Regulierung, sondern Europa braucht eine andere Regulierung. Finanzmärkte sind in Relation zur Realwirtschaft in den letzten Jahrzehnten in einem schwindelerregenden Ausmaß gewachsen. Das gilt nicht nur, aber auch im Bankensektor. Hier schlummern noch immense Risiken in Europa: Die Höhe der notleidenden Kredite ist weiterhin besorgniserregend hoch, laut IWF bei 900 Milliarden Euro allein in der Euro-Zone. Auch spricht der IWF von einer Verschiebung der Risiken vom Bank- in den sogenannten Schattenbankenbereich. Die Kapitalmarktunion löst keines dieser Probleme. Die -Koalition hat recht, wenn sie im Antrag fordert, dass -Europa bei der Regulierung des sogenannten Schattenbankenbereichs vorankommen muss, da sich genau hier neue Risiken aufbauen. Aber auch der Antrag der Koalition springt zu kurz. Ein Grünbuch, das das Aushängeschild eines Kommissars sein soll, der für Finanzstabilität zuständig ist, das nicht auf die wesentlichen Stabilitätsprobleme des europäischen Finanzmarktes eingeht, muss aus unserer Sicht grundsätzlicher angegangen werden, als Sie es in Ihrem Antrag tun. Wir müssen die Finanzmärkte endlich an die Leine legen und die Risiken in den Griff bekommen. Zudem fehlt mir in Ihrem Antrag Kritik an der Kommission zu einigen Punkten, die ich im Grünbuch vermisse. Die Kapitalmarktunion hat das anspruchsvolle Ziel, Investitionen in Europa und damit Beschäftigung und Wachstum zu fördern. Dabei vernachlässigt die -Europäische Kommission jedoch den Aspekt der Nachhaltigkeit – eigentlich doch eine Priorität der Kommission! Ein Finanzsystem, das die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen außer Acht lässt, ist nicht stabil. Gerade Reformen, die langfristige Investitionen erleichtern, sind ein zentrales Vehikel, die grüne Transformation unserer Volkswirtschaften voranzutreiben. Mit dem Green New Deal streiten wir Grüne seit Jahren für eine nachhaltige und soziale Ausrichtung der Finanzmärkte. Die spekulativen Exzesse der Branche müssen gestutzt werden, um realwirtschaftliche, insbesondere „grüne“ Investitionen zu ermöglichen. Hier wünschen wir uns eine klarere Positionierung im Grünbuch als in Ihrem Antrag, damit zukunftsweisende Infrastrukturen wie erneuerbare Energien oder nachhaltige Geschäftsmodelle auf adäquate -Finanzierungen zurückgreifen können. Diese Chance darf im Zuge der Errichtung einer Kapitalmarktunion nicht vertan werden. Wir stehen der Wiederbelebung des Marktes für hochwertige Verbriefungen nicht prinzipiell skeptisch gegenüber. Allerdings bemängeln wir, dass das Grünbuch hier sehr unkonkret bleibt. Bei der Auslagerung von Kreditportfolios aus Bankbilanzen muss dringend darauf geachtet werden, dass Risiken für alle Marktteilnehmer transparent bleiben. Eine Verbriefung, die lediglich Kredite in Zweckgesellschaften zusammenbringt und durch Pooling der Risiken die Marktfähigkeit erhöht, ist durchaus sinnvoll. Wenn allerdings durch intransparente Strukturierungen Risiken verschleiert werden, dann schlittern wir in ähnliche Verhältnisse wie diejenigen, die zur Subprime-Krise 2007 und letztendlich zur schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg geführt haben. Außerdem fehlt uns an dem Antrag der Koalition die Kritik, dass die Kommission zum Teil mit ihren Vorschlägen lediglich öffentlichkeitswirksame Symptombekämpfung betreibt. So richtig es ist, dass wir angebotsseitig einen Kapitalüberhang und Überschussliquidität beobachten können, so entscheidend ist es, die zugrunde liegenden Ursachen für die mangelnde Investitionstätigkeit zu analysieren und politisch gegenzusteuern. Die -Investitionsschwäche liegt nicht primär, wie von der Kommission suggeriert, in mangelndem Zugang zu -Finanzierungsmitteln, sondern zuvorderst an einer stagnierenden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Dies hat auch der Internationale Währungsfonds jüngst in seinem Frühjahrsbericht gezeigt. In den europäischen Krisenländern ächzen Unternehmen und Privathaushalte unter exzessiver Verschuldung und investieren nicht, die Staaten dürfen es aufgrund der Vorgaben des Fiskalpakts oder der Strukturanpassungsprogramme nicht. Richtig ist, dass kleine und mittlere Unternehmen insbesondere in Krisenstaaten nur noch erschwert an Bankkredite kommen, da die Institute unter dem großen Anteil notleidender Kredite in den Büchern ächzen und daher risikoavers agieren. Aber auch hier wäre eine grundsätzlichere Sanierung des Bankensektors die zielführendere Alternative. Bis 2016 müssen die europäische Richtlinie zur Bankensanierung und -abwicklung, BRRD, und die darin enthaltenen Instrumente der Gläubigerbeteiligung in nationales Recht umgesetzt werden. Dieses neue Regime zur Bankenrestrukturierung muss dann auch genutzt werden, um endlich Klarheit zu schaffen und die schlummernden Lasten in den Bankbilanzen auf die Eigentümer und Gläubiger zu verteilen. Europa muss endlich aufwachen und ehrlich die -Probleme auf den Bankbilanzen und hinsichtlich der schwachen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage anpacken, anstatt endlos an Symptomen auf der Angebotsseite herumzudoktern. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: EU-Lateinamerika-Gipfel – Beziehungen auf gegenseitigem Re-spekt begründen (Tagesordnungspunkt 17) Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): Bei diesem Antrag der verehrten Kollegen der Linken drängt sich doch die Frage auf, ob man sich nicht einfach torschlusspanikartig genötigt sah, auf eine Entwicklung in Kuba zu reagieren, die man nicht vorhergesehen hat, und auch noch jetzt nicht dazu bereit ist, zu konzedieren, dass das sozialistische System vor den Realitäten kapituliert hat. Ich kann ja durchaus nachvollziehen, dass es schon sehr schmerzlich sein muss, mit anzusehen, dass 50 Jahre ideologische Diskussion einfach nicht in der Lage waren, die realen Lebensverhältnisse der Menschen in Kuba und auch in den sozialistisch regierten Staaten Lateinamerikas in funktionierende Gemeinwohlsysteme umzuformen. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit hatte offenbar in einer weisen Voraussicht oder Eingebung schon vor über einem Jahr eine Reise nach Kuba in den Reiseplan aufgenommen, die nun im April 2015 durchgeführt wurde – wenige Monate, nachdem es zu denkwürdigen Öffnungen und Begegnungen gekommen war bzw. kommen sollte. Eigentlich gehört es zur politischen Ehrlichkeit, bei diesem Ablauf nicht ernsthaft dem BMZ und Minister Müller den Vorhalt zu machen, dass dieser Prozess noch nicht im neuen Lateinamerika-Programm verarbeitet worden ist. Es gehört schon viel Fantasie dazu, diese Entwicklung als Akt der Befreiung von hegemonialer Beherrschung durch die USA zu bezeichnen. Wie sehen denn die Realitäten in Kuba aus? 70 Prozent der Ackerflächen sind nicht bearbeitet. 80 Prozent der benötigten Nahrungsmittel werden importiert und werden mit 2 Milliarden Dollar aus Erlösen venezuelanischer Öllieferungen refinanziert. Die Misere der Nahrungsmittelversorgung kann nun aber keineswegs der Blockadepolitik der USA angelastet werden. Vielmehr sieht man die Perspektive in einer akademischen Ausbildung, die durchaus auch beachtliche Leistungen in der medizinischen Ausstattung hervorbringt. Doch diese Errungenschaft wird in Exporte medizinischer Leistung gegen Devisen umgesetzt. Die von Ihnen verurteilte Privatwirtschaft bahnt sich demgegenüber selbst ihre Bahn und mündet nun in -zaghaften Entwicklungen von Handel, Tourismus und Gastronomie. Privatwirtschaft war nicht die Knute, sondern ist nun die Basis für eine wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft und die Bildung selbstständiger Strukturen. Das sozialistische System der Geschlossenheit und der staatlichen Daseinsvorsorge ohne Refinanzierung hat den Niedergang des Systems vorprogrammiert. Kuba braucht nun Hilfe zur Strukturbildung und zur Nutzung der unzweifelhaft vorhandenen Ressourcen und Rahmenbedingungen für Landwirtschaft und Handwerk. Ein Wirtschaftssystem kann nicht direkt in reine dienstleistungsorientierte Strukturen überführt werden. Wenn sie im Antrag von Verdrängungswettbewerb bzw. Privatisierungs- und Liberalisierungsforderungen sprechen und diese verurteilen, wird dies durch die jetzige Entwicklung exakt widerlegt. Privatisierung hat mit Sicherheit keinen Schaden angerichtet, wie Sie im Antrag vorwerfen, sondern ist der notwendige Weg in die Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger und damit in eine wirtschaftliche Belebung. Dies ist bereits jetzt im Tagesgeschehen auf den Straßen Kubas zu sehen, und es ist schon bedauerlich, liebe Frau Kollegin Hänsel, als Mitreisende der Delegation, dass Sie vor einem solchen Aufbruch wider besseres Wissen die Augen verschließen und uneinsichtig der Ideologie das Wort reden wollen. Das kubanische Volk hat lange genug darunter gelitten. Es hat nun verdient, dass seine Bemühungen auch in persönliches Wohlergehen münden. Natürlich weist Lateinamerika durch die besondere Bevölkerungsstruktur, durch die indigenen Bevölkerungsanteile und den historisch dramatischen Anteil an Gewalt und Rechtlosigkeit eine schwierige Ausgangslage auf, die auch eine besondere Vorgehensweise erfordert. Gerade deshalb weist das Lateinamerika-Programm des BMZ den richtigen Ansatz auf, die Gesellschaft durch Bildung zu stabilisieren und vor allem bei der wirtschaftlichen Entwicklung die Verpflichtung zur Nachhaltigkeit zu beachten. Dabei geht aber keineswegs die Augenhöhe mit den Staaten verloren. Lateinamerika sieht sich kulturell sehr mit Europa verbunden, und wir wissen seine besonderen Naturschätze zu würdigen und arbeiten an deren Erhalt mit. Dies bedeutet Unterstützung zum Schutz gegen den Klimawandel und dies bedeutet auch die zur Verfügungstellung von modernem Know-how. Dies bedeutet aber auch die Einbindung der Wirtschaft. Subsistenzwirtschaft ist keine Entwicklungspolitik, sondern Stillstand und Resignation. Die Bildung von Sozialsystemen funktioniert nur bei wirtschaftlichem Aufschwung. Dies haben die Erfolge der Schwellenländer Mexiko und Brasilien vorgeführt, auch wenn dort sicher noch viel Arbeit vor uns liegt. Die wirtschaftlichen Ansätze sind in der Region mit Mexiko und Brasilien durchaus erkennbar. Auch dort bestehen aber in eklatantem Maße Rechtsstaatsdefizite, die nur durch Stärkung der staatlichen Rechtssysteme beseitigt werden können. Ausbildung von Justizsystemen, Beseitigung der Straflosigkeit und vor allem Bekämpfung der Korruption sowie des organisierten Verbrechens sind vorrangige Ziele, die der Bevölkerung die Möglichkeit eröffnen, sich in wirtschaftlichen Betätigungen eine Lebensgrundlage zu verschaffen. Hier zeigt das Konzept des BMZ ebenfalls wertvolle Ansätze und Kooperationen. Gerade die Thematik Bildung – vor allem für Mädchen und junge Frauen – führt zu einer massiven Zurückdrängung der Gewaltexzesse und zur Stabilisierung des Gesellschaftssystems. Die sehr geschätzte und nachgefragte Duale Ausbildung setzt aber zwingend die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft voraus. Dieses Konzept muss auf die besonderen Lebens- und Produktionsverhältnisse zugeschnitten werden. Genau dies leistet ebenfalls unsere Wirtschaft, weil sie weiß, wie Produktivität zu optimieren ist. Dies ist entgegen Ihrer Meinung kein Fluch und auch keine Ausbeutung, sondern geboten. Der Aufruf zur Bildung von Wirtschaftspartnerschaften ist das effektivste und sogar kostengünstigste Entwicklungsmittel, mit dem gerade auch der Gefahr der Korruption entgegengewirkt werden kann. Dabei ist dann aber auch die Wahrung von wirtschaftlichen Interessen unserer Unternehmen nicht schädlich, sondern konsequent und legitim. Wirtschaftliche Zusammenarbeit bedeutet den angemessenen Austausch von Leistung und Gegenleistung – auch in der Form von Handelsabkommen. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, die Entwicklung in Kuba als exemplarischer Aufbruch aus dem Sozialismus als Auslaufmodell heraus ist die konsequente Antwort der Menschen auf natürliche Bedürfnisse nach Versorgung und Lebensqualität, nach Gesundheit und gesunder und ausreichender Ernährung, nach Bildung und Gleichberechtigung. Die ideologische Predigt Ihres Antrags wird der Würde dieser Menschen nicht gerecht. Waldemar Westermayer (CDU/CSU): Der Botschafter von Honduras hat es erst kürzlich gut auf den Punkt gebracht. Er sagte in einem Interview: CELAC ist ein Forum des politischen Dialogs – wir tauschen uns über bewährte Kooperations- und Handelsverfahren aus. … Wenn wir mit Einzelstaaten, oder auch der EU, an den Verhandlungstisch treten, wird Honduras nicht mehr als ein einzelnes Land wahrgenommen, sondern eher als Teil einer aufstrebenden Wirtschaftsregion, deren dynamisches Wirtschaftswachstum ein ungeheures Potenzial birgt. Die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten, CELAC, und die Europäische Union werden sich in diesem Sinn dieses Jahr in Brüssel am 10. und 11. Juni zum achten EU-CELAC-Gipfel versammeln. Die Regierungen werden genau diesen Dialog weiter pflegen und das angesprochene Potenzial in ihren Regionen gegenseitig weiter fördern. Das Format des internationalen Austauschs zwischen 61 teilnehmenden Staaten hat sich bewährt. Der Gipfel bietet ein Forum, um die strategische Partnerschaft beider Regionen fortzusetzen. Er bietet Raum für kontroverse Diskussionen, politische Erklärungen und Abkommen. Dieser Dialog ist nicht zu unterschätzen. Die EU ist in der CELAC-Region der größte ausländische Investor. Und sie ist zweitgrößter Handelspartner der CELAC. Zwischenstaatliche Bündnisstrukturen in Lateinamerika, wie die Pazifik-Allianz, können durch solche internationalen Formate gestärkt werden. Wie Sie wissen, ist die Pazifik-Allianz eine Initiative der Staaten Peru, Mexiko, Chile und Kolumbien, welche sich im Bereich Handel und Integration und bei der Entwicklung stabiler demokratischer Strukturen unterstützen. Besonders in Zeiten vielfältiger Krisen und teilweise bedrohlicher Entwicklungen von fragilen und sich im Zerfall befindlichen Staaten ist so ein friedlicher und regelmäßiger menschenrechtsbasierter Dialog auf internationaler Ebene zentral. Die Folgen von fehlender Rechtsstaatsförderung, von fehlenden strukturellen Reformen und fehlender sozialer Wirtschaftsförderung müssen wir aktuell in Venezuela beobachten. Ein Mittel der Gewaltprävention sind stabile Bündnisstrukturen. Sie schaffen Transparenz und Sicherheit. Sie sind die Grundlage für eine friedliche und nachhaltige Entwicklung von Gesellschaften auf der sozialen, ökologischen und ökonomischen Ebene. Die EU und CELAC sind gleichberechtigte Partner, die sich zum großen Teil auf dem gleichen Werteparkett bewegen. Sie begegnen sich trotz vorhandener Kontroversen in ihren Verhandlungen respektvoll und handeln und lernen im gegenseitigen Interesse. Der Gipfel trägt den Titel: „Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft: Für eine prosperierende, durch Zusammenhalt geprägte und nachhaltige Gesellschaft für unsere Bürger“. Gefördert werden soll eine gemeinsame Identität, die auf gemeinsamen Werten basiert. Teil des Gipfels ist der Dialog über „bürgerorientierte Initiativen“ und Innovationen im Bereich „nachhaltiges Wachstum, Bildung, Sicherheit und Klimaschutz“. Identität geschieht durch Dialog und Förderung von Entwicklung. Die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes berührt auch alle anderen Entwicklungsbereiche einer Gesellschaft. Wenn wirtschaftliche Entwicklung ganzheitlich gefördert wird, berücksichtigt sie die sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Dimensionen. So sind soziale marktwirtschaftliche Strukturen ein wesentlicher Motor für Stabilität und Frieden. Das ist es, was wir wollen und begleiten. Staatliche Überregulierung und das Abbrechen von internationalen Verhandlungen tragen nicht zu einer freien, ganzheitlichen und nachhaltigen Entwicklung von Gesellschaften bei. Ganzheitliche Förderung von wirtschaftlicher Entwicklung bedeutet im konkreten Fall auch, dass die Bereiche Bildung, Demokratieförderung, Förderung von sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Standards Teil des politischen Dialogs mit nationalen, europäischen und internationalen Akteuren sein müssen. Genau das geschieht im Bereich der nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika immer mehr. Natürlich sind die Themen der Armutsbekämpfung und Reduzierung von sozialer Ungleichheit in diesem Kontext zentral. Sie sind Teil eines beschwerlichen Entwicklungswegs. Das Bewusstsein für die Einhaltung der sozialen und menschenrechtlichen Standards wächst mit dem Bewusstsein des betroffenen Staats und seiner von Unrecht betroffenen Gemeinschaften. Das Thema der Landvertreibungen im Zusammenhang mit der Rohstoffförderung ist uns aus vielen lateinamerikanischen Staaten bekannt. Sichtbarer werden auch die erhöhten Anstrengungen deutscher Unternehmen, um für Transparenz in ihren Lieferketten und im Umgang mit ihren internationalen Zuliefererfirmen zu sorgen. Vor wenigen Wochen sind die neuen Leitlinien für Lateinamerika vom BMZ veröffentlicht worden. Auch dort liegt der Fokus auf der Förderung der gemeinsamen Werte und Interessen der Regionen diesseits und jenseits des Atlantiks. Lateinamerikanische Staaten wollen, dass europäische Unternehmen in ihren Ländern nachhaltig investieren, und sie wollen im Bereich Klimaschutz und Umweltschutz zusammenarbeiten. Damit verbunden ist der Bedarf an stärkerem Know-how-Transfer. Denn es ist bekannt, dass das Duale System in Deutschland eine entscheidende Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg war und ist. Daher sollten die Anfragen aus mehreren lateinamerikanischen Ländern im Bereich des Exports von -dualen Ausbildungsstrukturen noch stärker berücksichtigt werden. Deutschlands Entwicklungszusammenarbeit legt in Abstimmung mit der EU ihren Fokus auf die Bereiche Umweltschutz, Klimaschutz, Schutz von Regenwald und Meeren sowie auf die nachhaltige Bekämpfung des Klimawandels. Exzellenzzentren für erneuerbare Energien und Geothermie-Entwicklungsfazilität sollen -geschaffen werden. Außerdem sind die Themen Dezentralisierung, Strukturpolitik, Ordnungspolitik und Rechtsstaatsförderung besonders in den Andenländern, aber auch in Zen-tralamerika weiterhin ein Schwerpunkt. Auch die -Gewaltprävention, die Stärkung von Menschenrechtsinstitutionen und besonders die Unterstützung beim Friedensprozess in Kolumbien sind wichtige Anliegen deutscher EZ. Die gemeinsame Bearbeitung dieser Themen und die Begleitung durch uns Parlamentarier tragen zur friedlichen Entwicklung der Regionen bei. Mit 1 Milliarde Euro jährlich fördert Deutschland seine EZ in Lateinamerika und fördert dabei auch immer mehr das Modell der Dreieckskooperationen, um den Einsatz von Eigenmitteln aus den Partnerländern zu verstärken. Das unterstreicht das Prinzip der Hilfe zu Selbsthilfe und die Stärkung der Zusammenarbeit der Akteure vor Ort. Denn Staaten wie Mexiko und Brasilien sind als Schwellenländer bereits selbst in der Lage, andere lateinamerikanische Staaten zu unterstützen, und tun es auch. Natürlich ist es entscheidend, dass auch bekannte und aktuelle Probleme auf dem Gipfel angegangen werden. Lateinamerika ist immer noch eine Region, in der ex-treme Unterschiede in der Einkommensverteilung innerhalb der Gesellschaften existieren. Auch der Zugang zu Bildung, zu Gesundheitssystemen und zum Arbeitsmarkt ist nicht für jeden Bürger gleich garantiert. Starke Defizite in der Armutsbekämpfung und damit auch im Bereich Kriminalitätsbekämpfung und Korruptionsbekämpfung müssen noch mehr thematisiert und bearbeitet werden. Auch soziale Teilhabe und das Einfordern von sozialen und ökologischen Rechten ist in einigen Ländern Lateinamerikas noch immer sehr gefährlich. Regierungen in Guatemala, Mexiko, Kolumbien und Honduras müssen hier noch viel mehr tun und unterstützt werden. Vor allem die Regierungen selbst müssen die Rechte ihrer Bürger schützen – und das heißt konkret, die Menschen vor dem gewaltsamen Tod, der sozialen Diskriminierung, der Folter, Erpressung und dem systematischen Verschwinden schützen. Die strukturelle Korruptionsbekämpfung stellt hier sicherlich ein Schlüsselthema dar. Darauf gehen Sie in Ihrem Antrag nicht ein, sondern konzentrieren sich – das war ja nicht anders zu erwarten – auf die Aufhebung der TTIP-Verhandlungen und die angebliche positive Wirkung der staatlichen Regulierung. Wichtiger als die Verdammung der aktuellen Handelspolitik ist im Rahmen der aktuellen Dialoge und Verhandlungen eine Sensibilisierung für die vielfältigen Bedürfnisse und Rechte der einzelnen Gesellschaften und Gesellschaftsschichten in den einzelnen Ländern Lateinamerikas. Eliten können sich effizient für benachteiligte Akteure und Gruppen wie Indigene und die Landbevölkerung einsetzen, wenn das entsprechende Bewusstsein gefördert wird. Hier geht es besonders um das Thema Rechtsschutz von Menschenrechtsaktivisten, aber auch um flächendeckende und nachhaltige Bildungsprogramme. Die Menschenrechte und der Schutz von Menschenrechtsverteidigern sind integraler Bestandteil der auswärtigen Politik der EU. Eine entsprechende Resolution des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2010 ist zwar wie die Richtlinien nicht unmittelbar rechtlich verpflichtend, hat aber dennoch eine starke politische Wirkung. Sichtbar wird dies immer wieder beim nationalen und europäischen Dialog zu anstehenden Verhandlungen mit Kuba. Europäische und nationale Entwicklungszusammen-arbeit mit Kuba kann jedoch erst dann verwirklicht werden, wenn eine allgemeine Verhandlungsbasis geschaffen worden ist. Dazu zählt auch die Einhaltung der Menschenrechte in Kuba. Die staatliche und die nichtstaatliche EZ leisten in vielen Staaten Lateinamerikas seit Jahren kontinuierliche Arbeit. Die EZ unterstützt einerseits strukturell in den genannten Themenbereichen. Andererseits engagieren sich die politischen Stiftungen sowie auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen und vor allem die Kirchen durch jahrzehntelange Präsenz. Sie arbeiten auf mehreren Ebenen mit parlamentarischen Akteuren, Verbänden, kommunalen Verantwortungsträgern und ländlichen Gemeinschaften und stärken Rechte und Rechtsbewusstsein von Kindern, Frauen, Männern, Familien und Gemeinschaften. Der Dialog zwischen Regierungen, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Volksvertretern ist hier ein zentrales Element. Da Sie den Dialog auf verschiedenen Ebenen abbrechen wollen und bestehende und tragfähige europäische Handelsabkommen nicht mittragen, wollen wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Als Parlamentarier müssen wir im Gespräch mit den Unternehmen stehen, die beispielsweise ihre Kohle von internationalen Unternehmen in Kolumbien importieren. Wir müssen an ihre Moral appellieren, aber auch an die Regierungen in den jeweiligen Rohstoffländern, damit sie ihr Volk und besonders die indigenen Völker schützen. Genauso müssen wir auch zukünftige internationale Handelsabkommen mit unseren Standards füllen und uns an den weltwirtschaftlichen Handelsbewegungen beteiligen, anstatt sie abzulehnen. Das ist ein langer Weg des Dialogs, aber einer, bei dem es sich auch in unserem eigenen Interesse der Glaubwürdigkeit Europas lohnt, ihn weiterzugehen. Dr. Sascha Raabe (SPD): Wir debattieren heute Abend den Antrag der Fraktion Die Linke zum EU-Lateinamerika-Gipfel, der in diesem Jahr im Juni in Brüssel stattfinden wird. Auf den Gipfel mit dem diesjährigen Titel „Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft: Für eine prosperierende, durch Zusammenhalt geprägte und nachhaltige Gesellschaft für unsere Bürger“ werde ich in meiner Rede nicht näher eingehen. Vielmehr möchte ich mich in meinem Beitrag auf die Kernbotschaft des hier zur Debatte stehenden Antrages konzentrieren. Der Antrag liest sich teilweise leider wie eine unkritische Lobeshymne auf alle linksgerichteten Regierungen Lateinamerikas und trägt meiner Meinung nach mehr zur Polarisierung der bereits gespaltenen Gesellschaften in Lateinamerika bei. Um nicht missverstanden zu werden: Als Entwicklungspolitiker bin ich sehr erfreut darüber, dass insbesondere in Ländern mit linken Regierungen die Armutsbekämpfung große Fortschritte gemacht hat. Es ist schön, dass mehrere Millenniumsentwicklungziele in vielen Teilen Lateinamerikas in diesem Jahr fristgerecht erreicht werden. Allerdings interessiere ich mich nicht nur für die sozialen, sondern auch für die politischen Menschenrechte. Und da sieht es in einigen von der Linkspartei überschwänglich gelobten Ländern keineswegs nur gut aus. Was Kuba betrifft, begrüßen wir als SPD-Fraktion die Annäherungsbestrebungen zwischen den USA und Kuba. Präsident Obama hat einen mutigen und lange überfälligen Schritt getan. Wir sehen dies als eine große Chance für Europa, die bisherige Kuba-Politik zu überdenken. Daher begrüßen wir auch die aktuellen diplomatischen Bemühungen der EU-Außenbeauftragten Mogherini und ihr Vorhaben, bis zum EU-Lateinamerika-Gipfel im Juni ein neues, auf Dialog basierendes Abkommen mit Kuba beschließen zu wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, Sie werden sich sicherlich noch daran erinnern, dass wir uns als SPD bereits Anfang 2000 mit der damaligen Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul stets um einen konstruktiven entwicklungspolitischen Ansatz mit Kuba bemüht haben. Auch in den darauffolgenden Jahren haben wir uns für eine Neuausrichtung der Kuba-Politik in der EU regelmäßig eingesetzt. So sehr ich die neuen Entwicklungen begrüße, wird aber Kuba nicht darum herumkommen, den Menschen endlich volle politische Meinungsfreiheit zu garantieren. Nach wie vor ist freie, regierungskritische Meinungsäußerung gefährlich und kann im Gefängnis enden. Auch der Zugang zum Internet ist verboten bzw. wird staatlich erschwert, und die Reisefreiheit ist immer noch äußerst restriktiv. Warum werden diese Missstände von meinen Kollegen der Linken immer ignoriert? Warum fordern sie nicht an dieser Stelle die Einhaltung der Menschenrechte, so wie sie es sonst immer so vehement tun? In diesem Zusammenhang ist für mich die unkritische Haltung der Linksfraktion in Bezug auf Venezuela genauso inakzeptabel. Seit nun fast 20 Jahren stellt die sozialistische Partei von Hugo Chavez die Regierung, und die Lebenssituation der Venezolaner – trotz einiger Erfolge in der Armutsbekämpfung und Basisversorgung – war noch nie so desolat. Es herrscht Lebensmittelknappheit in einem fruchtbaren Land, sodass fast bis zu 80 Prozent der Nahrungsmittel importiert werden müssen. Die Industrie und die Wirtschaft liegen brach am Boden, nachdem die meisten Betriebe teilweise zwangsweise verstaatlicht wurden. Und obwohl Venezuela eines der erdölreichsten Länder ist, muss es regelmäßig Neu-kredite in Milliardenhöhe von China aufnehmen. Der jetzige Präsident Maduro setzt den autoritären Regierungsstil seines Vorgängers und Ziehvaters Chavez ungehindert fort. Er duldet keine politische Opposition und macht sie entweder mundtot oder steckt sie gleich ins Gefängnis, so wie es mit den zwei Oppositionspolitikern Leopoldo Lopez und dem Bürgermeister der Stadt Caracas, Antonio Ledezma, derzeit der Fall ist. Beiden Politikern wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, einen Staatsstreich geplant zu haben. Darüber zu berichten, ist nicht einfach, denn in Venezuela ist derzeit so gut wie keine freie oder unzensierte Berichterstattung möglich. Und genau vor diesem Hintergrund fordern die Linken in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die „sozialen und demokratischen Errungenschaften“ Venezuelas auf dem Gipfel in Brüssel zu loben. Das wird bei den europäischen Kollegen mit Sicherheit nicht auf viel Zustimmung stoßen, nachdem das EU-Parlament bereits im vergangenen Jahr mit großer Mehrheit eine Resolution verabschiedet hat, die die unverzügliche Freilassung aller willkürlich verhafteten Demonstranten, Studenten und Oppositionsführer forderte. Der Antrag enthält durchaus auch einige Forderungen, die ich mittragen könnte. So bin auch ich für eine „Neuausrichtung“ der europäischen Handelspolitik. Denn trotz Formulierungen in den bereits bestehenden Freihandelsabkommen der EU mit Kolumbien und Peru, in dem sich die Vertragspartner dafür ausgesprochen -haben, arbeits- und umweltrechtlich Mindestnormen einzuhalten, sind beide lateinamerikanische Staaten in Wirklichkeit noch sehr weit davon entfernt, diesen Verpflichtungen nachzukommen. Und obwohl es auch in beiden Ländern zu einem Rückgang der Gewalt gegen Gewerkschafter insgesamt gekommen ist, finden weiterhin brutale und tödliche Übergriffe auf Gewerkschafter statt. An dieser Stelle wäre in dem Abkommen eine verpflichtende und sanktionsbehaftete Regelung unbedingt notwendig gewesen. Der kommende Gipfel in Brüssel sollte dazu genutzt werden, um genau auf diese Missstände hinzuweisen. Es sollten klare Botschaften formuliert werden, die im Sinne der Kohärenz in anderen Politikbereichen – wie beispielsweise in der Außenhandelspolitik – ihre Anwendung finden. Es sollte in Brüssel nicht darum gehen, Regierungen je nach politischer Couleur zu loben. Menschenrechte kennen kein Parteibuch. Heike Hänsel (DIE LINKE): Der 7. Gipfel der Organisation der Amerikanischen Staaten, OAS, im April 2015 stellte eine historische Zäsur dar. Erstmals reichten sich die Präsidenten der USA und Kubas während eines offiziellen, geplanten Gesprächs die Hände. Mit dieser Begegnung zwischen Barack Obama und Raul Castro verbindet sich die Hoffnung auf neue, auf gegenseitigem Respekt basierende Beziehungen zwischen den USA sowie den Staaten Lateinamerikas. Diese Entwicklung ist das Ergebnis des erfolgreichen Integrationsprozesses in Lateinamerika, der in den vergangenen zehn Jahren von linken Regierungen vorangetrieben worden ist. Er hat die hegemoniale Rolle der USA auf dem Kontinent erheblich geschwächt und damit den Staaten Lateinamerikas eine gleichberechtigtere Position gegenüber den USA verschafft. Es freut mich besonders, dass Fidel Castro diesen historischen Moment erleben kann. Das sozialistische Kuba hat der aggressiven Politik der USA widerstanden. Fidel Castro selbst hat elf US-Präsidenten und zahllose Attentatsversuche der CIA überlebt. Aber Kuba konnte auch durch eine völkerrechtswidrige Handelsblockade und Terrorakte nicht in die Knie gezwungen werden. Weil in ganz Lateinamerika die Solidarität mit Kuba in dem Maße gewachsen ist, wie die Anfeindungen aggressiver wurden. Und das nicht ohne Grund. Wir wissen, dass Kuba einen großen Anteil an der Armutsbekämpfung in Lateinamerika hat. Zehntausende von kubanischen Ärzten arbeiten weltweit, auch in vielen lateinamerikanischen Ländern, und versorgen dort die Menschen, die bis dahin keinen Zugang zu medizinischer Betreuung hatten. Auch in den von Ebola betroffenen Regionen Westafrikas. Medizinstudentinnen und -studenten aus vielen Ländern des Südens werden in Kuba für den Dienst in ihren Heimatländern ausgebildet. Kubanische Pädagoginnen und -Pädagogen haben ein Alphabetisierungsprogramm entwickelt, das auf dem gesamten Kontinent zum Einsatz kommt und durch das Millionen Menschen lesen und schreiben gelernt haben. Kuba spielt eine Schlüsselrolle im Prozess der politischen Einigung des Kontinents. Die Integrationsprojekte ALBA und CELAC gehen maßgeblich auf das kubanische und venezolanische Engagement zurück. Und nicht zufällig finden in Havanna die Friedensverhandlungen statt, die den ältesten bewaffneten internen Konflikt der Region, den Krieg in Kolumbien, der Zehntausende von Toten gefordert hat, beenden sollen. Der Weg nach Lateinamerika führt deshalb über Kuba. Doch die Bundesregierung bringt es fertig, in -diesen bewegten Zeiten – in Zeiten einer epochalen Veränderung, die sich in Lateinamerika vollzieht – ein Lateinamerika-Konzept zu formulieren, das diese Entwicklungen in keinem Wort erwähnt. Dabei liegen hier große entwicklungspolitische Potenziale. Kuba verfolgt seit 1959 eine vielfach von internationalen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation und sogar der Weltbank belobigte erfolgreiche Orientierung auf freien Zugang zu Bildung und Gesundheit. Kuba gehört zu den wenigen Ländern des Südens, in denen niemand Hunger leiden muss. Andere links regierte Länder wie Venezuela, Ecuador, Bolivien, Brasilien und Nicaragua gehören zu den Ländern, die in der Bekämpfung von Hunger und Armut in den letzten Jahren die größten Erfolge erzielt haben. Sie haben die Armutsraten erheblich gesenkt und es zugleich geschafft, die soziale Ungleichheit, die in ihren Ländern traditionell sehr stark ausgeprägt war, zu verringern. Das beweisen unter anderem die jährlichen Statistiken der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika, CEPAL. Alle diese Prozesse sind auch widersprüchlich. Das sage ich ganz bewusst angesichts der derzeitigen schwierigen ökonomischen Lage in Venezuela. Die Prozesse weisen innere Widersprüche auf. Ihnen stehen mächtige, über Jahrzehnte gewachsene Macht- und Profitinteressen im Inneren der Gesellschaften entgegen – und geostrategische Interessen von außen. Es ist vielen lateinamerikanischen Ländern bisher auch nicht gelungen, sich aus einseitigen Handelsbeziehungen, Export von Rohstoffen, Import von Industriegütern, zu befreien. Auch die Abhängigkeit von der Förderung fossiler Rohstoffe wurde bisher nicht überwunden. All das sind gemeinsame Herausforderungen auf dem Weg zu einer internationalen Klimaschutzpolitik. Hier gäbe es viele Potenziale für eine Kooperation zwischen Europa und Lateinamerika. Zum Beispiel einen Transfer von Technologie und Ausbildung im Bereich der regenerativen Energien. Auch Kuba, das der Entwicklungsausschuss erst vor wenigen Wochen erstmalig besucht hat, hat daran ein großes Interesse. Die Realität ist aber eine andere. Die US-Regierung unter Präsident Obama hat dem sozialistischen Venezuela offen den Kampf angesagt. Präsident Obama selbst hat vor einigen Wochen ein skandalöses Dekret erlassen, das Sanktionen gegen die demokratisch gewählte Regierung von Präsident Nicolas Maduro Tür und Tor öffnet. Wie überzogen, wie realitätsfern diese Linie ist, zeigt sich in der Formulierung, Venezuela würde eine „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ der USA darstellen. In Lateinamerika hat das massive Empörung und heftige Gegenreaktionen provoziert. Die neue, aggressive Linie Washingtons führte auch dazu, dass auf dem Amerika-Gipfel in Panama wieder einmal keine gemeinsame Abschlusserklärung zustande kam. Aber hat die Bundesregierung die neuen Fehlentwicklungen in der US-Politik angesprochen, die quasi ein Spiegel der historisch verfehlten Kuba-Politik sind? Fehlanzeige. In Berlin herrschte und herrscht Schweigen. Wir lehnen jegliche Angriffe auf Venezuela ab. Das venezolanische Volk muss sein Schicksal selbst bestimmen können. Und wer ernsthaft abstreitet, dass dies bei Wahlen in dem südamerikanischen Land möglich ist, wie dies aus den Reihen der Union zu vernehmen ist, ist politisch einfach nicht ernst zu nehmen. Auch der Friedensprozess in Kolumbien braucht internationale Unterstützung, nachdem sich bisher vor allem Kuba, Venezuela, Chile und Norwegen engagiert haben. Es bleibt zu hoffen, dass der Abschluss eines Friedensabkommens in Havanna den Anfang für eine demokratischere und sozialere Entwicklung bedeutet. Dafür wird es aber notwendig sein, dass die breite soziale Bewegung tatsächlich in den Prozess aktiv inte-griert und die Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger und Opferverbände nicht mehr verfolgt, sondern geschützt werden. Ich appelliere an die kolumbianische Regierung: Rufen Sie auch einen umfassenden Waffenstillstand aus! Dies wäre ein deutliches, glaubwürdiges Zeichen der Regierung und Armee für die Friedensverhandlungen. Wir können viel aus der erfolgreichen Armutsbekämpfung in den progressiv regierten Ländern Lateinamerikas lernen – für unsere Entwicklungspolitik, aber auch für den Umgang mit der Krise im Euro-Raum. Im linken Lateinamerika sinkt die Armut, im neoliberalen Europa wächst sie. Wir haben also etwas von den Lateinamerikanerinnen zu lernen und ihnen keine Ratschläge zu erteilen. Dies wäre ein wichtiges Signal, das von dem kommenden EU-CELAC-Gipfel im Juni in Brüssel ausgehen könnte. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das im Juni stattfindende Brüsseler Gipfeltreffen zwischen der EU und dem Staatenbündnis CELAC eröffnet die Chance, sich für eine strategische Partnerschaft zwischen Europa und Lateinamerika stark zu machen. Lateinamerika hat mit seinen rund 560 Millionen durchschnittlich sehr jungen Menschen, einer starken -Zivilgesellschaft, positiven wirtschaftlichen Kennzahlen und einem enormen Reichtum an natürlichen Ressourcen großes Potenzial. Der Staatenverbund kann ein wichtiger Bündnispartner für Europa auf der Suche nach Lösungen für globale Herausforderungen wie die -Finanz-, Wirtschafts-, Klima- und Ernährungskrisen sein. Die Bundesregierung muss den anstehenden Gipfel zum Anlass nehmen, sich auf EU-Ebene für eine grundsätzliche Veränderung der derzeit durch wirtschaftliche Interessen dominierten Beziehung mit Lateinamerika und der Karibik stark zu machen, und Impulse für eine menschenrechtsbasierte nachhaltige Entwicklung auf beiden Kontinenten setzen. Derzeit werden die globalen Krisen durch die Handelsstrategie der EU und der CELAC-Staaten noch verschärft. Intransparenz und geringe politische Partizipation führen dazu, dass unter Umgehung von Parlamenten und Ausschluss der Zivilgesellschaft Abkommen und Verträge abgeschlossen werden, die zu ökologischen und sozialen Verwerfungen führen und Partikularinteressen den Vorrang vor dem Gemeinwohl geben. Dabei finden die Menschenrechte nicht genug Beachtung. Hoher Fleischkonsum und Massentierhaltung in -Europa sind mitverantwortlich für den ressourcenintensiven Anbau von genmanipuliertem Soja, der zu einer massiven Belastung von Mensch und Umwelt, zur Vertreibung von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern und Indigenen sowie zum Verlust wertvoller Ökosysteme führt. Der ungebremste Rohstoffhunger der EU treibt den extensiven Bergbau und die Gewinnung seltener Erden voran. Dadurch werden vor Ort unter anderem der Energie- und Wasserverbrauch, der Druck auf Wälder und Böden gesteigert und Land Grabbing gefördert. Daran trägt die EU eine Mitschuld. Ziele des Gipfeltreffens müssen deshalb die Erarbeitung von Konzepten für eine diversifizierte und nachhaltige Wirtschafts- und Handelsstrategie und der Beginn einer intensiven Diskussion mit den lateinamerikanischen Parlamenten und der Zivilgesellschaft sein. Ein verstärkter Einsatz beider Regionen für den Schutz der Menschenrechte ist zudem von größter Wichtigkeit. Einige der LAK-Staaten weisen alarmierende Anzeichen fragiler Staatlichkeit auf. Der Kampf gegen die organisierte Kriminalität und die Drogenkartelle hat in vielen Ländern zu hohen Opferzahlen geführt. Zuletzt zeigte die schreckliche Ermordung der Studenten in Mexiko, wie es die dortigen Sicherheitskräfte mit den Menschenrechten halten. Dazu darf Deutschland nicht weiter schweigen. Die Kanzlerin darf neben ihrem Bemühen, auf diesen Gipfeln Zutritt zu den attraktiven lateinamerikanischen Märkten zu gewinnen, nicht vergessen, auch für die Frauenrechte einzutreten, so wie sie es für den G-7-Gipfel angekündigt hat. Lateinamerika schlägt Deutschland zwar in Sachen Geschlechtergerechtigkeit, in den Frauenanteilen in der Politik und einer geringeren Einkommensschere zwischen Männern und Frauen. Gleichzeitig hat der lateinamerikanische Kontinent für seine herrschende soziale Ungleichheit Berühmtheit erlangt. Nicht nur sind Frauen überproportional von politisch-sozialer Teilhabe ausgeschlossen; sie sind auch stärker von den Auswirkungen der extensiven Ressourcenausbeutung, von Klimawandel und bewaffneten Konflikten betroffen. Die häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen nimmt nicht ab. Die Straflosigkeit bei den unterschiedlichen Gewaltformen liegt bei weit über 90 Prozent. Die Verhandlungen auf den EU-CELAC-Gipfeln vernachlässigen nicht handelspolitische Dimensionen der Partnerschaft: den politischen Dialog und die Zusammenarbeit in Bereichen wie der Armutsreduzierung, den Menschenrechten, der Stärkung des Rechtsstaates, dem Klima- und Umweltschutz, sozialer Kohäsion und Geschlechtergerechtigkeit, Bildung und Beschäftigung, Innovation und Technologie und der Vereinbarung von Nachhaltigkeits-, Transparenz- und Menschenrechtskriterien im Agrar- und Bergbausektor. All dies sind Themen, die die „strategische Partnerschaft“ der EU und der LAK-Staaten mit konkreten Inhalten füllen können. Die aktuellen multilateralen Prozesse im Gipfeljahr sollten dafür als geeigneter Rahmen dienen. Lateinamerika ist eine sehr selbstbewusste Region. Dies zeigt sich zum Beispiel in der zunehmenden Selbstständigkeit regionaler Institutionen und der zunehmenden Unabhängigkeit von klassischen Finanzorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds, IWF, und der Weltbank. Nicht zuletzt die Initiativen für die SDGs gehen auf lateinamerikanischen Anstoß zurück. Die CELAC-Staaten haben ihre Abhängigkeit von den USA deutlich verringert und sind auch weniger auf -Europa angewiesen. Sollten es die europäischen Regierungen erneut verpassen, die LAK-Staaten als strategische Partner im Kampf gegen Armut und Klimawandel ernst zu nehmen und einzubinden, so könnten diese die wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Regionen vorziehen und die zu Europa in Zukunft vernachlässigen. 1Anlage 2 2Anlage 3 3Anlage 4 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 9790 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9791 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 38. Sitzung – 4. April 2003 4 9940 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 103. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 7. Mai 2015 9939