Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 165. Sitzung Berlin, Freitag, den 15. April 2016 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeordneten Heinz Wiese (Ehingen) und Ulrich Freese 16231 A Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Die transatlantischen Beziehungen zukunftsfest weiterentwickeln Drucksache 18/8072 16231 B Peer Steinbrück (SPD) 16231 B Stefan Liebich (DIE LINKE) 16233 C Peter Beyer (CDU/CSU) 16234 D Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16236 C Dagmar Freitag (SPD) 16238 C Klaus Ernst (DIE LINKE) 16239 C Jürgen Hardt (CDU/CSU) 16240 C Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16242 A Jürgen Hardt (CDU/CSU) 16242 C Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) 16243 A Florian Hahn (CDU/CSU) 16244 B Dr. Andreas Nick (CDU/CSU) 16245 D Tagesordnungspunkt 20: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung Drucksache 18/8041 16247 C b) Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Gewährleistung des Existenz- und Teilhabeminimums verbessern – Keine Rechtsvereinfachung auf Kosten der Betroffenen Drucksache 18/8076 16247 C c) Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Grundsicherung einfacher und gerechter gestalten – Jobcenter entlasten Drucksache 18/8077 16247 D Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekretärin BMAS 16247 D Katja Kipping (DIE LINKE) 16248 D Karl Schiewerling (CDU/CSU) 16250 C Katja Kipping (DIE LINKE) 16250 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 16252 A Markus Paschke (SPD) 16253 C Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) 16255 B Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16255 D Dr. Matthias Bartke (SPD) 16257 A Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) 16257 C Kai Whittaker (CDU/CSU) 16258 D Katja Kipping (DIE LINKE) 16260 C Kai Whittaker (CDU/CSU) 16260 D Stephan Stracke (CDU/CSU) 16261 A Tagesordnungspunkt 21: a) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 30 Jahre Tschernobyl, 5 Jahre Fukushima – Atomausstieg konsequent durchsetzen Drucksache 18/7656 16262 A b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Atomkraftwerk Cattenom sofort abschalten Drucksache 18/7668 16262 B c) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine öffentlichen Forschungsgelder für den Wiedereinstieg in atomare Technologien – 6. Energieforschungsprogramm vollständig in Richtung Energiewende weiterentwickeln Drucksache 18/5211 16262 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für mehr Transparenz in der Internationalen Atomenergie-Organisation sowie eine starke und unabhängige Weltgesundheitsorganisation Drucksachen 18/7658, 18/8101 16262 C Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16262 C Steffen Kanitz (CDU/CSU) 16263 D Hubertus Zdebel (DIE LINKE) 16265 D Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin BMUB 16266 D Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) 16268 B Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16268 D Marco Bülow (SPD) 16270 B Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über die finanzielle Hilfe für Dopingopfer der DDR (Zweites Dopingopfer-Hilfegesetz) Drucksache 18/8040 16271 C Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI 16271 D Dr. André Hahn (DIE LINKE) 16273 B Michaela Engelmeier (SPD) 16274 B Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16275 B Johannes Steiniger (CDU/CSU) 16276 B Jeannine Pflugradt (SPD) 16277 C Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Sigrid Hupach, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Einrichtung einer Kommission beim Bundesministerium der Finanzen zur Evaluierung der Staatsleistungen seit 1803 Drucksache 18/4842 16278 D Halina Wawzyniak (DIE LINKE) 16278 D Margaret Horb (CDU/CSU) 16279 D Halina Wawzyniak (DIE LINKE) 16281 B Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16281 C Andreas Schwarz (SPD) 16282 C Markus Koob (CDU/CSU) 16283 C Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) 16285 A Zusatztagesordnungspunkt 7: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Aktuelle Tarifrunde im Bund und in den Kommunen – Den öffentlichen Dienst gerecht entlohnen Michael Schlecht (DIE LINKE) 16286 B Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) 16287 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16288 C Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD) 16289 D Oswin Veith (CDU/CSU) 16290 D Jutta Krellmann (DIE LINKE) 16292 A Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) 16293 A Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16294 A Michael Frieser (CDU/CSU) 16294 D Bernd Rützel (SPD) 16295 D Mark Helfrich (CDU/CSU) 16296 C Albert Weiler (CDU/CSU) 16297 C Nächste Sitzung 16298 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 16299 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen 16300 A 165. Sitzung Berlin, Freitag, den 15. April 2016 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte ich dem Kollegen Heinz Wiese nachträglich zu seinem 71. Geburtstag sowie dem Kollegen Ulrich Freese gratulieren, der am Dienstag seinen 65. Geburtstag gefeiert hat. Ihnen wollen wir alle guten Wünsche des Hauses ins neue Lebensjahr mitgeben. (Beifall) Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Die transatlantischen Beziehungen zukunftsfest weiterentwickeln Drucksache 18/8072 Dazu soll nach einer Vereinbarung der Fraktionen eine Aussprache von 77 Minuten stattfinden. – Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Peer Steinbrück (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich würde gerne einige Bemerkungen machen, die über den Text des Antrages von CDU/CSU und SPD hinausgehen. Dazu gehört am Beginn das Eingeständnis, dass die transatlantischen Beziehungen und namentlich auch die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht frei von mancher Befremdung und auch manchen Differenzen sind. Aus europäischer und deutscher Sicht spielt dabei die Entwicklungsgeschichte des Irakkriegs mit den fatalen Folgen einer Destabilisierung der ganzen Nahostregion eine erhebliche Rolle. Die NSA-Überwachungsaktivitäten haben uns empört, jedenfalls so lange, bis der BND bei ganz ähnlichen Aktivitäten erwischt wurde. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Die inzwischen sehr starke ideologische Aufladung des politischen Systems in den USA mit einer scharfen Polarisierung der Parteien im amerikanischen Kongress befremdet uns. Sie geschieht ausgerechnet in dem Land, das uns Deutschen die Demokratie, die Bedeutung von Checks and Balances und die zentrale Bedeutung, einen Kompromiss zu finden, maßgeblich beigebracht hat. Wir beobachten zusammen mit vielen Amerikanern im derzeitigen Präsidentschaftsvorwahlkampf eine Art Verwahrlosung der politischen Sitten. Gelegentlich geht jedenfalls mir die Frage durch den Kopf, ob die viel zitierte Wertegemeinschaft auf Donald Trump noch zutrifft. Die gesellschaftliche und politische Vorbildrolle, die die USA über lange Nachkriegsjahrzehnte gerade in Deutschland gehabt hat, ist jedenfalls deutlich getrübt. Fairerweise wird man allerdings auch sagen müssen, dass es aus US-amerikanischer Sicht ebenfalls einiges an Befremdung und Kritik gibt, was Europa und namentlich Deutschland angeht. Die Amerikaner können bis heute ein außen- und sicherheitspolitisch kohärentes Konzept Europas, in dem es selber Verantwortung für seine Sicherheit übernimmt, nicht erkennen. Auch wehren sie sich – teilweise nachvollziehbar, teilweise nicht – gegen erhebliche Vorwürfe, die ihnen gelegentlich wegen ihrer Polizistenrolle gemacht werden, die sie in vielen Regionen ausüben, während sie gleichzeitig für europäische Sicherheitsinteressen einspringen müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Wir sind zwar gelegentlich befremdet und halten das enorme amerikanische militärische Potenzial und seinen Einsatz für suspekt, aber wenn dann die sechste Flotte der Vereinigten Staaten von Amerika vor der östlichen Mittelmeerküste patrouilliert und Präsenz zeigt und Einsätze auch gegen den IS fliegt, ist uns dies ganz recht. Gelegentlich ist in dieser Debatte eine gewisse Heuchelei festzustellen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Namentlich auch die deutsche sicherheits- und bündnispolitische Zuverlässigkeit ist jedenfalls manchmal von den Amerikanern hinterfragt worden, nicht aktuell, aber in der Rückbetrachtung des letzten Jahrzehnts. Die Untätigkeit und Unwilligkeit der Europäer, die USA, die immerhin 70 Prozent des Verteidigungsbudgets der NATO finanzieren, gelegentlich auch zu entlasten, führt jedenfalls zu gewissen Missstimmungen in den USA. Das erstreckt sich aus der amerikanischen Sicht auch auf die Unfähigkeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion, den Euro zu stabilisieren und damit Ansteckungsgefahren für das globale Finanzsystem einzudämmen. Das führt zu dem nicht sehr schmeichelhaften politischen Attest, dass die Europäer selbst nicht in der Lage seien, sich zu organisieren. So sind die transatlantischen Beziehungen Mitte des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts keineswegs frei von Belastungen und Vorhaltungen. In Deutschland ist deshalb in manchen Debatten – wir werden das zugeben müssen – auch gelegentlich ein Antiamerikanismus festzustellen. Umgekehrt ist in den USA ein zunehmendes Desinteresse an Europa festzustellen mit einer deutlicheren Hinwendung zum asiatisch-pazifischen Raum. All dies vorausgeschickt und dessen unbenommen bleibt richtig, dass es keine andere so eng verbundene Staatengemeinschaft gibt wie die Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und zwar historisch, wirtschaftlich, zivilisatorisch, kulturell und mit den enormen Errungenschaften der beiden atlantischen Revolutionen von 1776 und 1789 mit den Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Menschenrechten und Marktwirtschaft. Das hat der deutsche Historiker Heinrich August Winkler das normative Projekt des Westens genannt. Ja, die Praxis mit ihren Unvollkommenheiten, mit ihren Defiziten, mit ihren Ungerechtigkeiten und auch gelegentlich mit den Verletzungen dieser Prinzipien entsprach und entspricht nicht durchweg diesem normativen Projekt. Aber die Grundrechtserklärung von Virginia 1776 und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 sind und bleiben einzigartige Errungenschaften, auf denen die Staatswesen in Europa und in den USA und unser gemeinsames Gesellschaftssystem des Westens nach wie vor aufbauen. Diese Errungenschaften finden sich nicht in einem eurasischen Modell des russischen Präsidenten Putin. Diese finden sich nicht in einem staatskapitalistischen System mit einem kommunistischen Überbau in China. Diese finden sich nicht in islamischen Staaten. Diese finden sich nicht in all den anderen Staaten autokratischer oder diktatorischer Provenienz, sondern diese finden sich hier. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wer auch immer deshalb die Frage – auch aufgrund gelegentlich auftauchender Kritik – nach einem anderen Partner, nach einem anderen Alliierten, mit dem wir in Europa unsere Werte und beständigen Interessen verfolgen können, auch nur unterschwellig stellt, der muss passen. Wer auch immer die Frage hinzufügt, ob Europa eines Partners auf der anderen Seite des Atlantiks bedarf, dem antworte ich mit einem klaren Ja. In einer gefährlichen Welt, in der einige Kräfte ihr Unwesen treiben, die nicht verhandlungsfähig und nicht verhandlungsbereit sind, mit den diversen Konflikten und auch neuen sogenannten hybriden Kriegen an der Peripherie Europas, bleibt eine transatlantische Rückversicherung für Europa von zentraler Bedeutung. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Eine solche Rückversicherung verlangt von uns Europäern und auch von uns Deutschen aber auch einen Beitrag, der sich gewiss auf diplomatische, humanitäre, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Anstrengungen erstrecken muss, der sich aber eben auch auf die Abschreckungsfähigkeit der NATO und die Einsatz- und Bündnisfähigkeit der Bundeswehr erstrecken muss. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dieser Satz ist in der deutschen Öffentlichkeit nicht sehr populär, aber er gehört in diese Debatte. Man kann nicht nach einer globalen Ordnung rufen, die uns möglichst viel Chaos, Anarchie und menschliches Leid erspart und dann der uns aus westlicher Sicht zwar nicht mehr singulären, aber jedenfalls immer noch dominant erscheinenden Ordnungsmacht, nämlich den USA, die Unterstützung verweigern. Dies ist widersprüchlich. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) All denjenigen – möglicherweise auch in diesem Hause –, die bei diesem Satz zögern oder sogar Zweifel an seiner Richtigkeit erwecken, stelle ich die Frage: Welche andere Ordnungsmacht hätten Sie denn lieber? (Volker Kauder [CDU/CSU]: Russland! – Gegenruf des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ist das langweilig, Herr Kauder!) Über die Sicherheitsaspekte, die ich bisher erwähnt habe, hinaus werden sich Europa und die USA mit massiven globalen Verschiebungen beschäftigen müssen. Der Anteil der Bevölkerung dieser beiden Kontinente bzw. Teilkontinente an der Weltbevölkerung ist in den letzten 40 Jahren auf 10 Prozent zurückgegangen, und er wird weiter schrumpfen. Der gemeinsame Anteil der USA und Europas am globalen Bruttonationaleinkommen ist in dieser Zeit von 60 Prozent auf 45 Prozent zurückgegangen, und er wird weiter abnehmen. Der Anteil dieser beiden Kontinente bzw. Teilkontinente am Welthandel ist von rund 30 Prozent auf inzwischen 20 Prozent zurückgegangen, und er wird weiter abnehmen. Das ist ein Indiz dafür, dass wir es mit globalen tektonischen Verschiebungen zu tun haben. Die Welt wird multipolarer mit dynamisch aufsteigenden Regionen. Darüber darf sich der atlantische Raum mit seinen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und auch technischen Errungenschaften nicht marginalisieren. Schließlich sind die globalen Herausforderungen wie der Klimawandel sowie die Bekämpfung von Terrorismus, organisierter Kriminalität, Pandemien und Steuerbetrug mit keiner anderen Macht zu lösen als mit den USA. Ohne das Gewicht der USA an der europäischen Seite werden diese Probleme nicht bewältigt werden können. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Auf die aktuellen zentralen Probleme und kritischen Einwände zu dem Projekt, das uns am meisten in den transatlantischen Beziehungen beschäftigt – das ist das Freihandelsabkommen TTIP –, will ich nur wenige Worte verwenden, nicht aus Geringschätzung gegenüber den Problemen und kritischen Einwendungen, sondern aus Zeitgründen. Mir sind – genauso wie Ihnen und weiten Teilen der Bevölkerung – alle diese Probleme bewusst. Ich will diese gar nicht in Abrede stellen. Aber ich möchte auf drei Aspekte in der Debatte über dieses Freihandelsabkommen aufmerksam machen. Erstens. Wer mit einem sehr skeptischen Blick auf die teilweise anarchische Entwicklung der Globalisierung schaut, wird für Leitplanken und Verkehrsregeln im weltweiten Handel eintreten und sich die Frage stellen müssen, ob in diesem Sinne TTIP nicht eine Chance ist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Zweitens. Wenn sich die Europäer und die Amerikaner nicht auf ein solches Freihandelsabkommen einigen – das kann passieren –, dann stellt sich die Frage, wer stattdessen die Spielregeln global bestimmen wird, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) und das vor dem Hintergrund der Dynamik anderer Weltregionen, die mit Sicherheit zu Ergebnissen kämen, die europäischen Standards und europäischen Vorstellungen nicht entsprechen würden. Die augenblickliche Debatte, die wir zur Lage der europäischen und deutschen Stahlindustrie führen, ist ein leichtes Indiz dafür, was es bedeuten würde, wenn andere die Leitplanken und Verkehrsregeln im weltweiten Handel bestimmen würden. Drittens. Ist TTIP über seine ökonomische Bedeutung hinaus nicht auch von einem erheblichen strategischen Stellenwert im Verhältnis von Europa zu den USA, oder wie würden sich die transatlantischen Beziehungen in ihrer Qualität entwickeln, wenn TTIP scheitern sollte? Diese drei Fragen möchte ich über die ziemlich niveaulose Debatte über das Chlorhähnchen hinaus stärker öffentlich debattiert haben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Mein Plädoyer für eine Revitalisierung der transatlantischen Beziehungen folgt keinem Verständnis eines subalternen oder bedenken- und kritiklosen Verhältnisses Europas zu den USA, sondern einer sehr nüchternen Sicht auf unsere beständigen europäischen und deutschen Interessen, getreu einem Zitat des ehemaligen britischen Premierministers Lord Palmerston aus dem 19. Jahrhundert, der einmal sinngemäß, bezogen auf England, gesagt hat, dass England weder ewige Freunde noch ewige Feinde, sondern nur beständige Interessen hat. Die beständigen Interessen Deutschlands und Europas gelten einem guten transatlantischen Verhältnis. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Stefan Liebich ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Stefan Liebich (DIE LINKE): Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn die transatlantischen Beziehungen wirklich die Bedeutung haben, die der Kollege Steinbrück eben beschrieben hat, dann finde ich es schon erstaunlich, dass kein einziger Minister an dieser Debatte teilnimmt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte mit einem Blick zurück beginnen. Heute vor 71 Jahren haben Truppen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens die niederländische Stadt Arnheim am Rhein endgültig erobert. Damit ist der Zweite Weltkrieg, den Nazideutschland entfesselt hat, seinem Ende entgegengegangen. Am 8. Mai war es so weit: Die Sowjetunion, die USA, Frankreich und Großbritannien haben Deutschland befreit, und dafür sind wir uneingeschränkt dankbar. (Beifall im ganzen Hause) Das alliierte Bündnis hat nicht lange gehalten. Deutschland wurde in West und Ost geteilt, und im Westen Deutschlands haben die USA eine Perspektive angeboten, aus Hunger und Not zu entfliehen und das Land aus den Ruinen wieder aufzubauen. Diese Hilfe wurde angenommen und war Grundlage für das Wirtschaftswunder der 50er-Jahre. Viele Menschen empfinden dafür große Dankbarkeit. Es hat sich ein festes Bündnis zwischen der Bundesrepublik und den USA entwickelt, und dieses Bündnis wurde nach dem Beitritt der DDR auch auf den Osten Deutschlands übertragen. Am 12. September 2001, also einen Tag nach den schrecklichen Terroranschlägen in New York City und Washington, hat Gerhard Schröder gesagt: Es geht um die Tatsache, dass Deutschland fest an der Seite der Vereinigten Staaten steht und uneingeschränkt – ich betone das: uneingeschränkt – Solidarität übt. Uneingeschränkte Solidarität – das war lange das Dogma im Umgang mit den Vereinigten Staaten. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeiten haben sich geändert. Unser Bild von den USA ist nicht mehr von den 50er-Jahren, der Nachkriegszeit geprägt – Rock ‘n‘ Roll, Kaugummi, Elvis Presley – oder von den Protesten gegen den Vietnamkrieg und den Koreakrieg. Ich glaube, dass die heutige Generation tatsächlich mehr über 9/11, über Bushs Krieg gegen den Terror, über die Lügen über Massenvernichtungswaffen im Irak, über die Bespitzelung der US-Geheimdienste auch hier in Deutschland nachdenkt und dass sie an US-Bürger wie Snowden und Manning denkt, die als Whistleblower wichtige Verdienste haben. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Charles de Gaulle hat gesagt: Zwischen Staaten gibt es keine Freundschaft, sondern nur Allianzen. Die Allianz zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA hat sich über die Jahrzehnte geändert. Ich würde sagen: Sie ist erwachsen geworden. Unter Erwachsenen kann man auch Nein sagen, und man muss Nein sagen, wenn etwas erwartet wird, was man falsch findet. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es war deshalb richtig, dass die damalige Bundesregierung dem Irakkrieg George W. Bushs widersprochen hat. Die Folgen dieses Krieges, wie zum Beispiel die Entstehung der Terrororganisation Daesh oder ISIS, bekommen wir bis heute zu spüren. Es war richtig, dass sich Deutschland nicht am NATO-Einsatz in Libyen beteiligt hat, den vor allem Hillary Clinton vorangetrieben hat. Dieser Krieg hat eine ganze Region destabilisiert. Aber auch die USA haben sich verändert. Die Brücke über den Pazifik ist mittlerweile wichtiger für viele dort als die über den Atlantik. Da nostalgisch-sentimental zu werden, ist sinnlos. The Times They Are a-Changin‘, die Zeiten ändern sich eben. Der Präsidentschaftswahlkampf zeigt das in aller Schärfe. In den USA wird so erbittert gestritten wie wohl nie zuvor. Über Amerikas Rolle in der Welt, Herr Steinbrück, ob die USA überhaupt noch eine globale Ordnungsmacht sein wollen oder können, darüber gibt es Streit. Die Frage der Krankenversicherung, der Cannabislegalisierung, des Verbots von Abtreibungen, die Frage, wer wen heiraten darf, die Frage, ob man sich Kuba oder Iran annähert oder lieber nicht – es ist für uns nicht egal, wer dieses Land regiert, auch für uns hier in Deutschland nicht. (Beifall bei der LINKEN) Schauen Sie sich den Präsidentschaftskandidaten Donald Trump an, einen Sexisten, einen Rassisten, der eine Mauer zu Mexiko errichten will, der sich nicht vom Ku-Klux-Klan distanziert, der für Foltermethoden ist, die noch schärfer sind als Waterboarding, oder Ted Cruz, einen religiösen Fanatiker, der die Gesundheitsversicherung wieder abschaffen will, der das Atomabkommen aufheben will, der auf noch mehr Militär setzt und von dem viele nicht ganz zu Unrecht sagen, dass er vielleicht nicht so laut ist wie Donald Trump, aber noch gefährlicher. Auf der anderen Seite gibt es jemanden wie den Senator Bernie Sanders aus Vermont, der sich selbst demokratischer Sozialist nennt, was in den USA früher ein politisches Todesurteil gewesen wäre. Ich konnte es kaum glauben: Vorgestern waren fast 50 000 Menschen in Manhattan auf den Beinen, um ihm zuzujubeln. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das war eine der größten Wahlkampfkundgebungen in der US-Geschichte. Er will die Superreichen besteuern. Er will die Unigebühren abschaffen. Er will den Mindestlohn anheben. Er will die Spaltung zwischen Arm und Reich bekämpfen, und er wendet sich gegen ungerechte Freihandelsabkommen. (Beifall bei der LINKEN) Ein demokratischer Sozialist für das Weiße Haus – ich würde mich wirklich freuen, wenn es so käme; aber selbst wenn nicht: Die Politik der Demokraten hat er jetzt schon verändert. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die USA sind eben mehr, mehr als Wall Street, Pentagon und Langley. Bruce Springsteen hat gesungen: „Born in the USA“. Er hat jetzt ein Konzert in North Carolina abgesagt, weil dort eine gesetzliche Diskriminierung von Transsexuellen stattfindet. Auch das ist Amerika. (Beifall der Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE] und Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Es gibt das andere Amerika. Es ist bunt. Es ist weltoffen. Es ist tolerant. Es ist progressiv. Schon allein deshalb kann Antiamerikanismus niemals links sein. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ist das logisch? Nein!) Die Welt ist eine andere geworden. Die Antworten sind häufig noch die alten. Das muss und darf nicht so bleiben. Es ist Zeit für eine neue transatlantische Partnerschaft, die auf globaler Gerechtigkeit, auf Respekt und auf Frieden basiert. Sie könnte mit einem wichtigen Signal begonnen werden: dem Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Peter Beyer ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Peter Beyer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte damit starten, dem Kollegen Sven Volmering zu seinem heutigen 40. Geburtstag herzlich zu gratulieren. (Beifall) Dann wäre auch das in die Debatte eingebracht. Meine Damen und Herren, in den vergangenen Debatten – – Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich vermute, Herr Kollege, dass da wenig zu debattieren ist. Peter Beyer (CDU/CSU): Das stimmt. Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Sachverhalt ist ziemlich eindeutig. (Heiterkeit) Peter Beyer (CDU/CSU): Danke für den Hinweis, Herr Präsident. Ein Hinweis, der von Ihnen kommt, ist natürlich immer richtig. (Heiterkeit – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bringt eine Minute!) – Alles meine Redezeit; das stimmt. Meine Damen und Herren, ich fange noch einmal an. (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Nein, nein, nein! Das gilt als geredet! – Heiterkeit) Also: In den transatlantischen Debatten in den vergangenen Jahren haben wir uns eigentlich immer nur einzelnen Elementen dieses sehr wichtigen Verhältnisses gewidmet. Es waren besondere Anlässe. Es ging dabei um Jubiläen. US-Präsidenten haben wichtige Reden in dieser Stadt gehalten. „Mr. Gorbachev, open this gate! Mr. Gorbachev, tear down this wall!“ Oder: „Ich bin ein Berliner“. So etwas haben wir zum Anlass genommen. Es ging auch um komplizierte, problematische Themen wie den NSA-Abhörskandal oder TTIP. Deswegen ist es richtig, dass wir heute – darüber freue ich mich – im Plenum nach einigen Jahren zum ersten Mal wieder eine Generaldebatte, eine breit angelegte Debatte zu den transatlantischen Verhältnissen führen. Meine Damen und Herren, warum ist es wichtig, sich den transatlantischen Beziehungen breit angelegt zu widmen? Weil wir feststellen werden – wem es noch nicht klar ist, der möge jetzt zuhören –, dass uns weitaus mehr verbindet, als uns trennt. Die transatlantischen Beziehungen sind nicht von ungefähr eine der wichtigsten Säulen der deutschen Außen-, Sicherheits- und auch Wirtschaftspolitik. Eine Bestandsaufnahme wird uns sehr rasch zu der Erkenntnis führen, dass Deutschland den Vereinigten Staaten von Amerika sehr viel verdankt. Ich nenne den Marshallplan. Ich nenne die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten während der Zeit des Kalten Krieges ein Garant der Freiheit waren. Ich nenne auch die Wiedervereinigung, die ohne die Vereinigten Staaten nicht möglich gewesen wäre. Umgekehrt haben viele Deutsche daran mitgewirkt, die Vereinigten Staaten so aufzubauen, wie wir sie heute kennen. Erst vor kurzer Zeit haben 50 Millionen US-Bürger – das ist ungefähr ein Sechstel der dortigen Bevölkerung – angegeben, deutsche Wurzeln zu haben. Das ist die größte Gruppe dort. Elvis Presley wurde in der Debatte schon einmal genannt. Da fällt mir noch ein: Auch er hat deutsche Wurzeln. Seine Familie hieß ursprünglich Pressler; es waren Deutsche. Auch in diesem Bereich gibt es transatlantische Beziehungen. Das ist letztlich ebenfalls eine Säule. Das geht bis hin zu zwei ehemaligen US-Präsidenten, die direkt deutsche Wurzeln haben. Meine Damen und Herren, das alles ist Teil unserer gemeinsamen transatlantischen Geschichte, in der auch Deutsche in unserem Partnerland, in den USA, ihre Spuren hinterlassen haben. Die amerikanischen Freunde erkennen den deutschen Beitrag zur Entwicklung ihres Landes durchaus an. Ich zitiere an dieser Stelle den ehemaligen Transatlantik-Koordinator und Vorsitzenden der Deutsch-Amerikanischen Parlamentariergruppe, Hans-Ulrich Klose: Sie haben uns politisch dadurch gedankt, dass sie die Wiedervereinigung möglich gemacht haben. Es sind eben diese gemeinsamen Werte, die wir natürlich auch immer wieder hinterfragen müssen, die uns aber mit gemeinsamen Interessen wie keine zwei anderen Partner auf der Welt verbinden. Wir sind auch strategischer Partner – wahrscheinlich der einzige wirkliche Partner der USA. Auf wen sonst sollte man sich trotz der Krisen und Probleme, die auch wir in Europa haben, in den USA stützen bei der Bewältigung internationaler Krisen und globaler Fragen, wenn nicht auf uns Europäer? Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört aber auch – ich bin dankbar, dass meine beiden Vorredner, insbesondere Kollege Steinbrück, darauf hingewiesen haben –, die Probleme anzusprechen. Der NSA-Abhörskandal wurde bereits genannt. Ich könnte eine ganze Reihe von anderen Dingen, die in einem sehr komplexen, historisch gewachsenen Verhältnis nun einmal passieren, nennen. Diese müssen wir ansprechen. Stefan Liebich hatte es so definiert: Die transatlantischen Beziehungen sind erwachsen geworden. – Dem stimme ich durchaus zu. Meine Damen und Herren, ich habe aber manchmal den Eindruck, dass wir in den transatlantischen Beziehungen irgendwie gefangen sind, festsitzen zwischen einer Vergangenheit, die ich gerade kurz skizziert habe, und der Zukunft, den Zukunftsthemen und dass wir hier Orientierung brauchen. Dabei sollte es doch gar nicht so schwierig sein, Orientierung zu finden. Denn es gibt eine ganze Palette globaler Herausforderungen, bei denen wir wissen, dass es wenig klug und auch überhaupt nicht machbar ist, einzelstaatliche Lösungen zu finden – übrigens auch keine Lösungen, die wir nur in Europa oder nur in den Vereinigten Staaten angehen können. Da müssen wir uns zusammentun und überall dort, wo wir gemeinsame Interessen haben, die Kräfte bündeln. Das betrifft Themen wie die Sicherheit, den Kampf gegen den Terrorismus und die Bewältigung der Herausforderungen bei den Klimaveränderungen. Im Zusammenhang mit Wirtschaftsthemen möchte ich das Augenmerk kurz auf das Freihandelsabkommen TTIP, das gerade verhandelt wird, lenken. Wir sind ja bereits wichtige Handelspartner. Nun soll der bedeutendste Wirtschaftsraum der Welt geschaffen werden. Kollege Steinbrück hat die Verlagerung des geopolitischen und bevölkerungsentwicklungsmäßigen Gewichts in den USA, aber auch weltweit angedeutet. Das ist eine Wahrheit, die wir einfach zur Kenntnis nehmen müssen, insbesondere dann, wenn wir uns einmal selbst die Frage stellen: Wie wollen wir eigentlich hier in Deutschland und Europa in Zukunft leben? Die Antwort muss doch lauten: auch in Zukunft in Sicherheit und relativem Wohlstand. Und noch einmal möchte ich betonen, dass wir das alleine nicht hinbekommen. Dazu braucht es einen starken Partner, und da sind uns die Vereinigten Staaten von Amerika und übrigens auch die Kanadier am nächsten. Dann kann das funktionieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wenn ich von den Kanadiern spreche, möchte ich natürlich auch nicht unerwähnt lassen, dass es auch hier im transatlantischen Verhältnis ein Megaprojekt gibt, das es noch zu ratifizieren bzw. umzusetzen gilt: das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada, abgekürzt CETA, das als Blaupause für TTIP gelten soll. Es ist final verhandelt und kürzlich noch um ein Investitionsschutzkapitel erweitert worden, das jetzt auch den Sorgen der Bevölkerung, der Öffentlichkeit Rechnung trägt. Es muss jetzt zügig die Voraussetzung geschaffen werden, dass das umgesetzt wird, dass wir es ratifizieren können, damit es im Laufe des nächsten Jahres, 2017, auch tatsächlich in Kraft treten kann. Auch für TTIP gilt: Es geht voran, und es geht gut voran. Bei allen Zweifeln, die ich hier immer wieder höre angesichts eines solchen Projekts: Bei dem transatlantischen Projekt unserer Zeit, bei dem es eben nicht nur um blanke Wirtschaftszahlen, sondern auch um geopolitische und geostrategische Aspekte, Klugheit und Richtigkeit geht, geht es voran. Zuversichtlich bin ich, dass wir noch während der Amtszeit der derzeitigen US-Administration, die ja immerhin noch bis zum 20. Januar 2017 geht, zu guten Ergebnissen kommen. Gerade in der heutigen Zeit ist es richtig, wieder Brücken zu schlagen, teilweise angekratztes Vertrauen im transatlantischen Verhältnis wiederherzustellen und aufzubauen, gegenseitiges Verständnis für unterschiedliche Ansichten über durchaus gleichgelagerte Sachverhalte zu gewinnen. Das geht natürlich am besten, indem man sich wechselseitig begegnet und miteinander redet. Viele Austauschprogramme leisten das bereits, von den politischen Stiftungen über die transatlantischen Vereinigungen wie Atlantik-Brücke, GMF, Aspen und wie sie alle heißen, bis hin zur AmCham, die in diesem Bereich gute Arbeit leistet. Deswegen ist es gut, dass bereits zum fünften Mal der amerikanische Präsident in wenigen Tagen hier nach Deutschland zur Hannover Messe kommt. Die Vereinigten Staaten sind dieses Jahr Partnerland. Hier wird es wieder Gelegenheit zu vielen Begegnungen auf vielen Ebenen, auch auf hochrangiger Ebene, geben. Das schafft Brücken und schafft Vertrauen, das wir zueinander haben und das wir weiterentwickeln müssen. Lassen Sie uns die transatlantische Partnerschaft für eine gemeinsame globale Strategie eines geschlossenen, der Zukunft zugewandten Westens nutzen. Lassen Sie uns gemeinsam mit den Amerikanern und den kanadischen Freunden Teil des Teams sein, das den Westen rekonstruiert, nicht territorial, wie es der eine oder andere östlich von uns auf dem Globus machen möchte, sondern durch strategisch kluge Arbeitsteilung bei den globalen Herausforderungen. Denn es geht um unser Land, unsere Sicherheit und nicht zuletzt um die Sicherung unseres Wohlstands. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Jürgen Trittin ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Deutsche haben zu den USA eine besonders enge Beziehung. Das kann man daran sehen, wie die US-Präsidentschaftswahlen hier verfolgt werden: Trump gegen Cruz, Sanders gegen Clinton. Dies alles wird verfolgt – Herr Liebich hat das schon angesprochen –, als würde man mitwählen. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen für die transatlantischen Beziehungen. Es zeigt, dass sie tief in der Gesellschaft, bei den Menschen verwurzelt sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das macht auch die Spannung darüber aus, was dabei herauskommt, was uns erwartet. Ein neuer Kurs der Isolation? Eine Abschottung, wofür Ted Cruz und Trump zum Beispiel plädieren? (Peter Beyer [CDU/CSU]: Warten Sie es einmal ab!) Eine interventionsfreudigere Präsidentin wie Hillary Clinton? (Peter Beyer [CDU/CSU]: Sie sind noch nicht einmal Kandidaten!) Die Frage stellt sich natürlich auch und gerade vor dem Hintergrund: Wie war das bis jetzt? Ich will an dieser Stelle eines deutlich sagen: Die acht Jahre der Obama-Administration waren gute Jahre für die transatlantischen Beziehungen. Präsident Barack Obama war ein kluger Präsident, manchmal auch klüger als die Bundeskanzlerin. Er war nämlich schon 2003 gegen den Irakkrieg, mit dessen Folgen wir noch zu tun haben. Er war mit seiner Gesundheitsreform ein mutiger Präsident. Manche halten ihn für einen schwachen Präsidenten. Das ist ein Irrtum. Schwach war sein Vorgänger. Der Unilateralismus eines George W. Bush hat im Ergebnis zu weniger Ansehen, weniger Macht und weniger Handlungsspielraum für die USA geführt. Das ist die Ursache für die Überdehnung der einstigen Supermacht USA gewesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Obama hat aus dieser Erkenntnis nur die Konsequenz gezogen, nämlich umgestellt auf eine kluge Realpolitik. Er hatte die Erkenntnis, dass auch die Supermacht USA die Folgen der Globalisierung nicht alleine bewältigen kann. Er hat auf Kooperation gesetzt. Das hat er getan beim Klimaabkommen in Paris. In Kioto standen sie noch abseits. Jetzt haben sie durch ihre Kooperation mit China dieses Abkommen überhaupt erst möglich gemacht. Dann gibt es auch eine andere transatlantische Gemeinsamkeit, nämlich die Konsequenz, dass jetzt über Dekarbonisierung nicht nur in Schlusserklärungen von Elmau geredet wird. Nein, man sollte doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass jenseits des Atlantiks die Familie Rockefeller sagt: Wir investieren künftig nicht mehr in fossile Energien. – Vielleicht kommt das auch bei Sigmar Gabriel irgendwann einmal an. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich will sehr deutlich sagen, dass es die Obama-Administration gewesen war, die – auch gegen eine Mehrheit im Kongress, die dafür gewesen ist, den Ukraine-Krieg und die Krise dort mit Waffenlieferungen zu verschärfen – durchgesetzt hat, dem Verhandlungskurs der Europäer und der deutschen Bundesregierung in dieser Frage den Rücken freizuhalten. Auch das hat letztendlich Minsk möglich gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Natürlich bin ich bei Ihnen, Herr Liebich: Atomwaffen in Büchel – das ist ein schlechtes Kapitel. Ich bin auch bei all denen, die sagen: Obamas Vision einer nuklearwaffenfreien Welt ist noch nicht Wirklichkeit geworden. – Aber ich möchte auch auf eines hinweisen: Der einzige wirkliche Schritt nuklearer Abrüstung der vergangenen Jahre ist mit diesem Präsidenten möglich gewesen: Es ist selbstbewussten Europäern – zusammen mit den USA und zusammen mit China und Russland – gelungen, ein nukleares Wettrüsten mit dem Iran im Nahen Osten zu unterbinden. Das wollen Ted Cruz und Donald Trump jetzt rückgängig machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich finde, das ist eine gute Bilanz. Das knüpft übrigens an Vorarbeiten deutscher Außenminister, Fischer, Westerwelle, Steinmeier, an. Es gibt aber natürlich Dinge, wo man auch Klartext reden muss. Warum zum Beispiel gibt es – obwohl man jetzt dabei ist, mit Russland zu verhandeln – für Syrien immer noch kein UN-Mandat? Wir Deutsche sollten klarmachen, dass wir den Willen zur Kooperation begrüßen. Aber Kooperation ist noch kein Multilateralismus im Rahmen der Vereinten Nationen. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, ein Beispiel, das auch die Stärke von Demokratien aufzeigt. Obama hat jetzt in einem Interview gesagt, sein schlimmster Fehler war die Intervention in Libyen. – Da war Frau Merkel übrigens klüger. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!) Ich sage das an dieser Stelle, weil damals eine ganze Batterie von Leitartiklern in diesem Land geschrieben hat, diese Haltung – sie wurde übrigens von fast allen Parteien in diesem Hause getragen – sei Antiamerikanismus. Nein! Ich glaube, es war richtig, vor einer Intervention zu überlegen, was das an Konsequenzen haben kann. Deswegen glaube ich, dass diese Selbstkritik berechtigt war. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Natürlich muss man darüber sprechen, dass unter der Präsidentschaft Obamas der Drohnenkrieg ausgeweitet worden ist. Das geschah übrigens auch über Ramstein. Wir alle wissen, dass dies im Kampf gegen den Terrorismus vielfach eben nicht hilfreich war. Im Gegenteil: Dieser Drohnenkrieg in Somalia, im Jemen und in Pakistan hat weite Teile dieser Regionen destabilisiert. Und wir wissen: Destabilisierte Räume sind Räume für Terrorismus. Ich glaube, an dieser Stelle ist dann auch Klartext angesagt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Manchmal stellt man ja fest, dass die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sehr ähnlich sind. Rechten Terror gibt es – angefangen bei Timothy McVeigh – in den USA ebenso wie bei uns, wo es um den NSU geht. Es gibt islamistische Terroristen in San Bernardino, aber auch in Europa, in Molenbeek und hier. Ich glaube, dass wir eine gemeinsame Herausforderung haben, dem zu begegnen. Dem wird man übrigens nicht mit neuen Mauern begegnen können, sondern nur, wenn man darauf setzt, dass wir unsere Werte – nämlich demokratische Gesellschaften, die auf Teilhabe abzielen – wirklich ernst nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist der tiefe Grund für die Freundschaft und die Zusammenarbeit mit den USA. Dabei sollte man sich vor Überheblichkeit schützen. Gerade im Zusammenhang mit TTIP gibt es auch solche Stimmen, nach dem Motto: Hier in Europa ist alles gut, und in den USA ist alles schlecht. – Ich will Ihnen nur ein Beispiel geben: Kennen Sie den Unterschied zwischen Good Governance und Bad Governance? Good Governance: Die USA haben eine Environmental Protection Agency. – Wir haben Alexander Dobrindt. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja, Gott sei Dank! – Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Das ist jetzt aber ein Kalauer!) Die einen sorgen mit Milliardenstrafen dafür, dass VW geltendes Recht einhält; die anderen tragen großes Karo zur Schau und tauchen ansonsten ab. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deswegen glaube ich, meine Damen und Herren, dass wir uns auch bei TTIP darum bemühen sollten, voneinander zu lernen, um den jeweils besseren Standard durchzusetzen. Aber das, lieber Kollege Steinbrück – ich teile ja Ihre strategische Überlegung –, was da im Rahmen der realen Geschichte, der TTIP-Verhandlungen, passiert, ist doch kein „levelling up“, vielmehr ist es ein „race to the bottom“, das hier organisiert wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was erzählen Sie denn dem deutschen Mittelständler, der künftig in den USA weiter mit „‚Buy American‘-clauses“ konfrontiert sein wird, mit Regeln, die bei uns gegen den Binnenmarkt verstoßen? Das ist doch gegen die Marktwirtschaft und gegen den Mittelstand. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie sagen, es solle neue Leitplanken geben. Schauen Sie sich doch mal die Kapitel zur regulatorischen Kooperation an! Dann stellen Sie fest: Hier wird ein bürokratisches Monster geschaffen, das gerade verhindern soll, dass besser demokratisch reguliert wird, dass es mehr Leitplanken gibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist das Gegenteil von dem, was Sie uns zurzeit bei TTIP versprechen. Meine Damen und Herren, wie man so etwas organisiert, erleben wir jeden Tag im TTIP-Leseraum. Wir können jetzt diese Debatte gar nicht miteinander führen, weil das Einzige ist, was ich dazu sagen kann – um Thomas de Maizière zu zitieren –: Das könnte die Bevölkerung schwer verunsichern. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das ist übrigens der Grund, warum am 23. April viele Menschen in Hannover gegen TTIP demonstrieren werden. Diejenigen, die da demonstrieren, sind aber keine Antiamerikaner. Sie wissen: Nur fairer Handel ist freier Handel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Sie können sich dabei auf viele Menschen, auch in den USA, berufen. Ich zitiere: … wir sollten … auf … Regelungen verzichten … die Unternehmen das Recht einräumen, ausländische Regierungen gerichtlich dazu zu zwingen, Umweltstandards zu senken oder das öffentliche Gesundheitswesen zu verschlechtern … Hillary Clinton. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Oder: Ich glaube an fairen Handel, von dem der Mittelstand und … Familien profitieren, nicht nur große multinationale Konzerne. Bernie Sanders. Also: Demonstrieren wir nächste Woche Samstag gemeinsam im Geiste von Sanders und Clinton für fairen Freihandel, für soziale Marktwirtschaft und Demokratie. Das ist gelebte deutsch-amerikanische Freundschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält jetzt die Kollegin Dagmar Freitag für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dagmar Freitag (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das transatlantische Verhältnis – ein immer wieder polarisierendes Thema. Die einen denken an Persönlichkeiten wie Martin Luther King mit seiner weltberühmten Rede „I have a dream“ auf den Stufen des Lincoln Memorials. Andere haben ein geradezu verklärtes Bild von dem „sweet land of liberty“, das für viele als Einwanderungsland so attraktiv ist. Dagegen haben wir natürlich auch andere Assoziationen, die uns – ich muss das einräumen – manchmal einigermaßen fassungslos machen: Guantánamo, Waterboarding, die laschen Waffengesetze, der ungeheure Einfluss der Waffenlobby auf politische Entscheidungsträger, Schüsse weißer Polizisten auf farbige Landsleute oder auch die Todesstrafe, die es immer noch in vielen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten gibt. Diese wenigen Beispiele sind – je nach Standpunkt – Gründe entweder für einen geradezu plumpen Antiamerikanismus oder aber für ein relativ verklärtes Bild dieses Landes. Beides ist aus meiner Sicht nicht gerechtfertigt. Die Beziehungen zu Kanada und den Vereinigten Staaten haben für unser Land – Herr Kollege Steinbrück hat nachdrücklich darauf hingewiesen – eine besondere Bedeutung. Unbestritten ist aber auch: Es hat immer wieder Irritationen gegeben. Wir müssen daran arbeiten, sie abzubauen, und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks. Dabei ist natürlich ein kritischer Blick völlig unverzichtbar. Denn nur so kann eine Partnerschaft, die Werten verpflichtet ist, auch wirklich gelebt werden. Klar ist aber auch: Diese Partnerschaft hat nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. Ich würde sagen: Vielleicht ist sie heute wichtiger denn je. Denn in einer globalisierten Welt sehen sich Deutschland und natürlich auch Europa ganz gewaltigen Herausforderungen gegenüber. Außenminister Steinmeier hat zu Beginn seiner zweiten Amtszeit davon gesprochen, dass die Welt aus den Fugen geraten sei. An dieser Zustandsbeschreibung, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sich bis heute nichts geändert – leider! Brutale Bürgerkriege, zerfallende Staaten, auch zunehmende Wetterextreme – all das löst Fluchtbewegungen von Millionen von Menschen aus. Deren Folgen kann kein Staat im Alleingang bewältigen. Diese und weitere Herausforderungen machen klar: Deutschland und Europa brauchen verlässliche Partner. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben mehrfach darauf hingewiesen: Gute transatlantische Beziehungen sind keine Selbstverständlichkeit, kein Selbstläufer. Ein Beispiel, das zugegebenermaßen keine weltpolitische Bedeutung hat, aber für den Deutschen Bundestag, für uns alle hier, von besonderer Bedeutung ist, ist das Parlamentarische Patenschafts-Programm. Das US State Department hat vor zwei Jahren einseitig die paritätische Finanzierung, die über 30 Jahre funktioniert hat, aufgekündigt und damit dieses wunderbare Austauschprogramm letztlich infrage gestellt. Dieses Programm hat immerhin mehr als 23 000 junge Menschen aus unseren Ländern in das jeweilige Partnerland geführt, hat die Gelegenheit gegeben, Kultur und vieles andere kennenzulernen, die Sprache zu lernen. Es war klar erkennbar: Die Prioritäten des State Department hatten sich auch bei diesen Austauschprogrammen auf andere Regionen dieser Welt verlagert. Dann ist es parteiübergreifend durch Gespräche zwischen Abgeordneten gelungen, die Finanzierung auf den alten Ansatz zurückzuführen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen dieses Hauses, aber auch den Kollegen auf amerikanischer Seite – namentlich möchte ich G. T. Thompson und Jim McDermott nennen – dafür zu danken, dass es gemeinsam gelungen ist, das Programm zum alten Ansatz zurückzuführen. Das ist eine gute Nachricht für Deutschland und für die USA. Es ist vor allen Dingen eine gute Nachricht für junge Menschen beider Länder. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Und es zeigt eines: Das letzte Wort haben nicht Ministeriale, sondern die Parlamentarier. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Peter Beyer [CDU/CSU]) Herausforderungen sind dazu da, angenommen zu werden. Die Suche nach Lösungen – so schwer sie manchmal auch sein mag – kann auch zusammenschweißen. Wir haben es heute Morgen mehrfach gehört: Die transatlantischen Beziehungen sind weit mehr als nur eine Zweckgemeinschaft. Deshalb lohnt es sich, daran zu arbeiten, dafür zu kämpfen. Wir sind dazu bereit. Der vorliegende Antrag zeigt auf, in welche Richtung es weitergehen soll. Ich bin froh, dass wir heute Morgen Gelegenheit hatten, dies sehr deutlich zu machen. Auch das ist ein Zeichen an die andere Seite des Atlantiks. In diesem Sinne werbe ich um die Zustimmung für unseren Antrag. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Klaus Ernst das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die bisherige Debatte zeigt – und das ist unbestritten –, dass ein Amerika in der Form nicht existiert, sondern dass es Licht und Schatten gibt. Das Problem ist: Wie reagiert unsere Bevölkerung auf Vorgänge, die die Debatte in den letzten Monaten und Jahren belastet haben? Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die Beziehungen zu den Vereinten Staaten von Amerika auf gemeinsamen Werten – ich zitiere –, auf den Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Marktwirtschaft und Respekt vor dem Individuum gründen. (Peter Beyer [CDU/CSU]: So sieht es aus!) – So sieht es aus, aber leider nicht immer in der Praxis. Amerika hat eben zwei Seiten. Das ist in den Reden, die wir hier gehört haben und denen ich nur zustimmen kann, deutlich zum Ausdruck gekommen. Nur: Wenn wir selber nicht versuchen, in den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten diese Werte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, hochzuhalten und zu verteidigen, auch wenn Dinge passieren, die wir nicht wollen, dann wird die Bevölkerung eher ein negatives Bild von Amerika und übrigens auch von uns selber erhalten. Ich frage mich nach wie vor: Welche Konsequenzen wurden eigentlich aus dem Abhörskandal – die Kanzlerin wurde ja nun abgehört, das ist bekannt – gezogen? Inwieweit sind wir tatsächlich bereit, die Werte, auf die wir uns beziehen und die Sie in Ihrem Antrag hervorheben, zu verteidigen, auch im Verhältnis zu den USA? (Beifall bei der LINKEN) Aber wenn jemand sagt: „Das ist nicht in Ordnung, dass wir das nicht tun“, dass wir als Europäer zu unterwürfig seien, dann kommt der Vorwurf des Antiamerikanismus. Dabei bezieht sich die Kritik auf sehr konkrete Vorgänge, durch die diese Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Sie in den Vordergrund stellen, verteidigt werden sollen. Insofern möchte ich den Vorwurf des Antiamerikanismus in dieser Debatte mit aller Schärfe zurückweisen. Es gibt Kritik, die ist berechtigt, und das ist kein Antiamerikanismus. (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Warum gibt es die gegen Russland eigentlich nicht?) Meine Damen und Herren, ich erinnere an die McCarthy-Zeit in Amerika, in der Chaplin und andere vor einen Ausschuss für antiamerikanische Umtriebe gezerrt wurden. Ich habe durch diesen Vorwurf des Antiamerikanismus den Eindruck, einige wollen die McCarthy-Zeit in Europa wieder einführen. Bitte, das brauchen wir nicht, das ist nicht notwendig, und das können wir lassen. (Beifall bei der LINKEN – Peter Beyer [CDU/CSU]: Das ist ja Unsinn, was Sie erzählen!) Jetzt kommen wir zu den zentralen Werten Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, und dann komme ich, Herr Steinbrück, auch auf die von Ihnen erwähnten Abkommen mit den USA und Kanada. Die Verhandlungen finden und fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, übrigens auch weitgehend unter Ausschluss der Abgeordneten, und zwar bis heute. Ich frage mich, wo da die Grundlagen dieser transatlantischen Freundschaft, nämlich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, sind. Zur Demokratie gehört eben auch Transparenz, und die haben Sie nicht hergestellt. (Beifall bei der LINKEN – Peter Beyer [CDU/CSU]: Das hat damit nichts zu tun!) Nach wie vor sind Schiedsgerichte vorgesehen. Der Deutsche Richterbund sagt: Die Schaffung von Sondergerichten für einzelne Gruppen und Rechtsgesuche ist der falsche Weg und rechtlich nicht akzeptabel. – Meine Damen und Herren, auch das hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun. Im Übrigen: Bei den Abkommen sind besondere Gremien vorgesehen, die an den Entscheidungen der Parlamente vorbei Regelungen setzen können, die völkerrechtlich verbindlich sind. Auch das hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun. Die Entscheidung, dass man CETA und TTIP vorläufig in Kraft setzt, also bevor Parlamente darüber bei der Behandlung eines entsprechenden Gesetzes überhaupt debattiert haben, wertet Wolfgang Weiß, Professor Dr. Wolfgang Weiß, folgendermaßen: Er sagt: Es ist verfassungsrechtlich und demokratiepolitisch unakzeptabel, dass die vorläufige Anwendung eines Abkommens an den Parlamenten vorbei erfolgt. – Meine Damen und Herren, auch das hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deshalb sage ich Ihnen: Das, was Sie hier praktizieren, oder das, was Sie hier versuchen zu praktizieren, nämlich ein Gebilde auf vernünftige Werte zu beziehen, während diese Werte in der Praxis, insbesondere im Zusammenhang mit den Handelsabkommen, der Realität nicht standhalten, führt dazu, dass sich Bürgerinnen und Bürger wehren und dass sie – meines Erachtens ist das eigentlich nicht richtig – das Verhältnis der Europäer zu den USA generell infrage stellen. Diese Handelsabkommen nützen nicht den Bürgern in den USA, sie nützen nicht den Bürgern in Europa. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist für die absolute Minderheit, was Sie da sagen!) Deswegen werden sie abgelehnt, und deshalb traut sich auch kein Präsidentschaftskandidat in Amerika, gegenwärtig im Wahlkampf für diese Handelsabkommen einzutreten. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen und diesen Unfug lassen. Ich danke fürs Zuhören. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute viele gute Reden zum Thema „transatlantische Partnerschaft“ gehört. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das war sie gerade! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die letzte gehörte nicht dazu!) Dafür möchte ich danken, das gilt fraktionsübergreifend. Wir haben aber das eine oder andere gehört, auf das ich kurz eingehen möchte. Das eine oder andere fehlt vielleicht noch. Herr Liebich, wenn Sie für Herrn Sanders hier im Deutschen Bundestag die Lanze brechen, dann müssen Sie überlegen, ob das in Amerika wirklich als Unterstützung dieses Kandidaten aufgefasst wird. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Auf jeden Fall!) Ich fürchte, das ist ein – wie nennt man das? – Danaergeschenk, was Sie da bringen. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Keine Sorge!) Herr Trittin, vor zwei Jahren haben Sie einen Europawahlkampf geführt mit der Legende vom Chlorhühnchen. Leider setzen Sie diese Legendenbildung weiter fort. Zum Thema Handelsabkommen möchte ich nur zwei Dinge konkret anmerken: Erstens. Die Vorstellung, wir Europäer würden den Amerikanern einen Gefallen tun, wenn wir ein solches Abkommen abschließen, ist Unsinn. Umgekehrt: Wir sind die Nation, Deutschland in Europa, bei der mit Abstand die meisten Arbeitsplätze vom Außenhandel abhängen. Deswegen ist es in erster Linie in unserem, im deutschen und im europäischen, Interesse, dass wir zu einem guten und hohe Standards sichernden Handelsabkommen mit den USA und mit Kanada kommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Zweitens zum Thema Inhalte. Wir haben jetzt ein gut ausgehandeltes, faires Abkommen der Europäischen Union mit Kanada, CETA, auf dem Tisch liegen. (Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) Das ist der Beleg dafür, dass die Europäische Kommission, dass die neue Handelskommissarin, Frau Malmström, der Generaldirektor Demarty und der Chefunterhändler Bercero eine gute Arbeit machen und dass wir darauf setzen dürfen, dass das, was wir, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, der Kommission als Leitplanken, als Verhandlungsmaßstab für dieses Abkommen mitgegeben haben, auch umgesetzt und durchgesetzt wird. Da alle europäischen Parlamente, auch der Deutsche Bundestag, eines Tages einem Eins-zu-eins-Text des Abkommens in der jeweiligen Sprache zustimmen müssen, bevor es in Kraft tritt, bitte ich Sie wirklich: Lassen Sie uns doch die Verhandler ihre Arbeit machen, und belasten wir das Thema nicht mit neuen Legenden. Es schadet im Übrigen auch uns, wenn wir die Perspektiven auf das Handelsabkommen so einseitig verschieben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn wir auf den Zustand der transatlantischen Partnerschaft blicken, können wir feststellen, dass – der Ukraine-Konflikt ist ein Beispiel dafür – die amerikanische Führung seit einigen Jahren stärker auf Europa setzt, stärker auf den partnerschaftlichen Ansatz gemeinsam mit uns, auch stärker auf die Meinung und die Position der Europäer, sie umgekehrt aber auch mehr Verantwortungsbereitschaft und eine stärkere Übernahme von Verantwortung von uns erwartet. Ich plädiere dafür, dass wir uns dieser Aufgabe stellen, dass wir darüber im Einzelfall diskutieren, wir diese Aufgabe aber ernsthaft wahrnehmen und alle Anstrengungen unternehmen, ein guter Partner in dieser Zusammenarbeit zu sein, der entsprechend seiner Leistungsfähigkeit das Nötige tut. Die Amerikaner haben nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Marshallplan ein großartiges Beispiel gesetzt, indem sie den Wiederaufbau Europas und nicht zuletzt Deutschlands ermöglicht haben. Wenn Sie Luftbilder von Aleppo sehen, fühlen Sie sich frappierend erinnert an Luftbilder von Dresden vom Februar 1945. Es wird unsere gemeinsame Aufgabe sein, den Wiederaufbau Syriens, aber auch den Wiederaufbau Libyens und anderer Regionen, die in dieser Art und Weise zerstört sind, die keine Heimat für Menschen mehr sein können, zu gewährleisten. Wir können nicht darauf vertrauen, dass wiederum die Amerikaner in ihr Geldsäckel greifen und das alles finanzieren. Vielmehr werden sie auf uns setzen, auf Europa setzen. Sie werden darauf setzen, dass wir unseren Beitrag zum Wiederaufbau leisten. Ich bin dafür, dass wir uns dafür einsetzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Wir haben in der transatlantischen Partnerschaft gegenwärtig einen Kontakt auf Regierungs- und Parlamentsebene, wie er enger möglicherweise allenfalls in den Jahren 1989/1990 im Zusammenhang mit der deutschen Einheit gewesen ist. Zum fünften Mal kommt der amerikanische Präsident nach Deutschland. Als der neue Speaker, der neue Mehrheitsführer im Abgeordnetenhaus der Vereinigten Staaten von Amerika, vergangene Woche seine Reise auf dieser Seite des Atlantiks beendete, hat er als einziges Land Deutschland besucht. Er hat den Bundestagspräsidenten getroffen und mit ihm über die Zukunft der transatlantischen Beziehungen gesprochen. Das ist ein klares Zeichen dafür, dass gerade auch Deutschland in dieser transatlantischen Partnerschaft eine starke Rolle zukommt. In den letzten zwölf Monaten waren mehr Abgeordnete aus Amerika, Mitglieder des Kongresses, hier in Deutschland als jemals zuvor. Ich glaube, dass auch mehr deutsche Abgeordnete nach Amerika gereist sind als jemals zuvor. Das sind ganz wichtige und gute Entwicklungen und Anknüpfungspunkte. Wir haben die Mittel für den German Marshall Fund, der unsere Antwort auf die großzügige Marshallhilfe der Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg war – er wurde von Willy Brandt ins Leben gerufen –, aufgestockt. Der Staatsminister im Außenministerium hat, glaube ich, gerade gestern die Finanzzusage gemacht, mit der die Arbeit dieser wichtigen Institution auf höherem Niveau fortgeführt werden kann. Aber es muss eben auch jede Generation ihr Narrativ, ihre Geschichte der transatlantischen Freundschaft, der transatlantischen Partnerschaft neu erfinden. Deswegen bin ich dafür, dass wir die Agenda der Themen der transatlantischen Partnerschaft, über die außen- und sicherheitspolitischen Fragen und die wirtschaftspolitischen Fragen – TTIP – hinaus, erweitern um die Themen, die gerade die junge Generation ansprechen. Amerika schaut auf Deutschland und Europa, wenn es zum Beispiel um die Energiewende geht. Es gibt ganz viele Kontakte, auch auf Ebene der Bundesländer, zu den US-Bundesstaaten. Es gibt zum Beispiel einen ständigen Energiedialog Deutschlands mit Minnesota, bei dem es um die Frage geht: Wie geht Deutschland diesen Weg? Das Wort „Energiewende“ ist ähnlich wie der Begriff „Kindergarten“ in die amerikanische Sprache eingegangen, zumindest bei denen, die sich mit diesen Themen befassen. Wir als Deutsche sind für die Amerikaner auch ein gutes Beispiel für die Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit durch gute Ausbildung. Wenn ich als Koordinator für die transatlantische Zusammenarbeit nach Amerika reise und dort unterwegs bin, bekomme ich immer einen Termin beim Gouverneur oder bei dem für Bildung im jeweiligen Staat Zuständigen, weil die Amerikaner sich enorm für das interessieren, was wir bei der Bildung von Jugendlichen und der Vermeidung von Jugendarbeitslosigkeit beim Übergang von der Schule ins Berufsleben auf die Beine stellen. Da schaut sich Amerika einige Dinge von uns ab. Dieses Pfund sollten wir herausstellen. Wir sollten dafür sorgen, dass in unseren Austauschprogrammen die gesellschaftliche Wirklichkeit in unseren Ländern immer gut abgebildet wird. Ich glaube, dass bei den Schülern und Studenten, die aus Amerika zu uns kommen, die African Americans oder die Amerikaner asiatischer oder lateinamerikanischer Herkunft noch unterrepräsentiert sind. Bei uns sind in den Austauschprogrammen möglicherweise diejenigen Jugendlichen unterrepräsentiert, die aus Migrantenfamilien kommen. Ich kann die Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages bei der Auswahl von Kandidaten für diese Programme nur bitten und auffordern, auch einen Blick darauf zu wenden, dass die deutsche Gesellschaft und die amerikanische Gesellschaft sich ein Stück verändern. Ich glaube allerdings, dass wir da auf einem guten Weg sind. (Dagmar Freitag [SPD]: Sehr gut!) Wenn wir uns manchmal über Amerika ärgern, dann hat das vielleicht auch damit zu tun, dass wir glauben, dass wir Amerika so gut kennen. Ich nenne das Vertrautheitsillusion. Jeder von uns erlebt in seinem Alltag ständig amerikanische Alltagskultur; unsere Fernsehsendungen und Fernsehserien, Produktwelten usw. sind stark amerikanisch geprägt. Wenn die Amerikaner dann doch an dem einen oder anderen Punkt anders ticken als wir, dann sind wir entsetzt und schockiert. Das wären wir nicht, wenn es um einen anderen ausländischen Partner ginge. Umgekehrt ist es ähnlich. 30 Prozent der Amerikaner sind deutscher Abstammung, übrigens auch Paul Ryan; die Familie kommt nicht nur aus Irland, sondern auch aus Regensburg, wie er uns erzählt hat. Die Amerikaner sagen: Wir sind doch ursprünglich selbst Europäer. Warum versteht ihr uns nicht besser? Wir müssen klar feststellen: Es gibt Unterschiede zwischen dem amerikanischen Denken und dem deutschen und dem europäischen Denken. Aber diese Unterschiedlichkeit ist eine Chance, gemeinsam den besseren Weg zu finden. Wir sollten bereit sein, in dieser Partnerschaft mehr Verantwortung zu übernehmen, was die Außen- und Sicherheitspolitik und die Wirtschaftspolitik angeht. Die Welt braucht mehr transatlantische Partnerschaft. In diesem Sinne ist dieser Antrag ein starkes Bekenntnis zu diesem Weg auch in der Zukunft. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Trittin das Wort. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber Herr Kollege Hardt, Sie haben in Antwort auf mich über Ihr großes Vertrauen in die Verhandlungen durch die Europäische Union gesprochen. Ich will vorweg eine Bemerkung machen: Ich bin gebürtiger Bremer. Wir hatten schon Globalisierung im Mittelalter. Das hieß damals Hanse. Ohne die Hanse gäbe es heute keinen Bordeaux. Ich bin also kein Gegner des Freihandels. Vielleicht hätten Sie sich die Mühe machen sollen, auf die konkreten Argumente einzugehen. Ist es nicht wahr, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten es der Administration überhaupt nicht erlaubt, die Staaten der Föderation zu binden und beispielsweise Buy American Clauses zu verbieten? Ist das nicht ein Gefälle gegenüber der Europäischen Union, wo solche Ausschreibungen schlicht und ergreifend gegen die Regeln des Binnenmarktes verstoßen würden? Ich füge ein Zweites hinzu. Sie haben gesagt, dass Sie Vertrauen in die Kommission haben. Schauen Sie sich doch einmal die veröffentlichten Papiere zur regulatorischen Kooperation an, die aus Europa kommen. Die gleiche Kommissarin, die sagt, dass sie das Vorbeugeprinzip nicht verhandelt – das ist ein Kern europäischer Umweltpolitik –, legt ein Modell vor, wonach Regierungen gezwungen sind, ein Jahr im Voraus ihre Absichten bekannt zu geben, was sie möglicherweise regulieren würden. In dem Modell ist detailliert festgeschrieben, wer vorher zu befragen ist und wie auf Einwände zu reagieren ist, und es soll eine Pflicht geben, am Ende des Jahres einen Bericht darüber vorzulegen, was erfolgt ist und was nicht. Das ist ein bürokratisches Monster. Wenn sich das irgendeine Umweltpolitikerin oder ein Umweltpolitiker ausgedacht hätte, dann wären die Handelskammern, dann wären Sie auf den Barrikaden, um solch ein Monster zu verhindern. Hier sagen Sie, dass Sie Vertrauen haben, dass die Europäer das machen. Merken Sie sich eines: Ich habe vorhin bewusst gesagt, dass es nicht die Amerikaner sind, sondern dass es auch die Verhandlungsstrategie der Europäischen Union ist. Für diese Verhandlungsstrategie muss sich auch die Bundesregierung mitverantworten, weil sie am Ende im Rat zustimmen muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Zur Erwiderung, Herr Kollege Hardt. Jürgen Hardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Lieber Kollege Trittin, zunächst einmal muss ich konstatieren: Das Niveau der Diskussion steigt. Das finde ich gut. Wir reden jetzt nicht mehr über das Chlorhühnchen, sondern über konkrete, schwierig zu verhandelnde Dinge. Ich möchte kurz auf beide Punkte eingehen: Erstens. Natürlich kann die amerikanische Administration für alle Bundesentscheidungen garantieren, dass das im Sinne des Wettbewerbs möglich ist. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war nicht die Frage!) Sie kann auch für alle Investitionen in den Staaten, in denen Bundesfinanzmittel verwendet werden, garantieren. Was Kanada betrifft, haben wir erreicht, dass die Mitgliedstaaten, die Provinzen Kanadas, dem Handelsabkommen zustimmen, sodass das Abkommen auch mit Blick auf das, was in den Provinzen investiert wird, gilt. Ich glaube, das ist die richtige Marschrichtung für die Verhandlungen der Europäischen Kommission über dieses Thema. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns ein Stück weit in diese Richtung bewegen. Das Zweite ist das Thema „regulatorische Kooperation“. Klar ist, dass am Ende des Tages die Parlamente, die frei gewählten Volksvertreter, darüber entscheiden müssen, welche Regelungen sie in ihrem Raum anwenden. Aber ich finde es, wenn man einen gemeinsamen Handelsraum hat, gemeinsame Standards vereinbart hat und sich auf die wechselseitige Anerkennung von Standards verständigt hat, klug, dass man dann, wenn man neue Standards setzen will, weil neue Fragen aufkommen, auch darüber redet, ob man nicht gemeinsam einen hohen neuen Standard für das entsprechende Thema entwickelt. In diesem Sinne sind die regulatorischen Kooperationsräte zu verstehen. Letztlich müssen die Parlamente, der Kongress und das Europaparlament sowie die Parlamente der Mitgliedstaaten, entscheiden, was sie daraus machen. Deswegen habe ich vor dieser Art von Zusammenarbeit keine Angst. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Detlef Müller erhält nun das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Detlef Müller (Chemnitz) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Freund der USA hat man es heutzutage nicht leicht. Das Misstrauen in der deutschen Bevölkerung gegenüber dem mächtigen Verbündeten ist groß. War es kürzlich noch das Treiben der NSA, ist es heute die Rhetorik eines Donald Trump, die viele Deutsche verstört. Deswegen bin ich sehr dankbar für den vorliegenden Antrag, der die guten transatlantischen Beziehungen, die guten Beziehungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten sowie Kanada, angemessen, aber auch kritisch würdigt. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr gut!) In Ostdeutschland war die Bindung an die USA nie besonders ausgeprägt. Aber auch in Westdeutschland sehe ich eine wachsende Entfremdung von den USA mit ihrem militärischen Engagement in aller Welt, ihren mächtigen Geheimdiensten und der uns manchmal doch fremden politischen Kultur; auch der Folterskandal von Abu Ghuraib ist unvergessen. Nichtsdestotrotz gilt immer noch und weiterhin – ich zitiere aus dem Antrag –: Deutschland und Europa sind mit keiner Region der Welt so eng verbunden wie mit Nordamerika. Die Vereinigten Staaten und Kanada sind zentrale Verbündete und Freunde der Europäischen Union und Deutschlands. Das bisweilen wilde Treiben amerikanischer Geheimdienste kann die engen und freundschaftlichen Bande nicht zerschneiden. Es sind nämlich die Bande einer demokratischen Wertegemeinschaft. Wir brauchen die USA, gerade heute. Wir stehen deshalb zur transatlantischen Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik und in der NATO. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Die USA haben erstmals seit 40 Jahren Frankreich als wichtigsten Handelspartner Deutschlands abgelöst. Aber der wichtigste Aspekt sind, wie ich finde, die vielen freundschaftlichen und vertrauensbildenden Bande über den Atlantik hinweg: Freundschaften, familiäre Beziehungen, Schüleraustausche, Studienaustauschprogramme, gemeinsame Forschungsprojekte, kulturelle und sportliche Kooperationen, aber auch das Parlamentarische Patenschafts-Programm, dessen geplante Kürzungen von amerikanischer Seite zurückgenommen wurden; meine Kollegin Dagmar Freitag wies darauf hin. Immer aber gilt: Auch unter Freunden muss bisweilen hart und auf Augenhöhe verhandelt werden. Das gilt für das geplante Freihandelsabkommen TTIP genauso wie für das CETA-Abkommen mit Kanada. An dieser Stelle darf ich Ihnen, Herr Bundestagspräsident Lammert, aber auch Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ganz ausdrücklich danken. Die Einrichtung eines Leseraums im Bundeswirtschaftsministerium für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zur Einsichtnahme in die Verhandlungsdokumente war gegenüber den Amerikanern ein hartes Stück Arbeit. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen Frau Haßelmann danken!) Es war ein wichtiges Signal, dass wir als Parlamentarier demokratische Teilhabe und Transparenz einfordern. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das muss in den Räumen der Legislative geschehen, nicht in denen der Exekutive!) Aber ein kleines Räumchen und 371 Seiten Verhandlungsdokumente, deren Aktualität zweifelhaft ist – mit Querverweisen auf andere, nicht vorhandene Dokumente –, die ich als gelernter Lokomotivführer mit durchaus alltagstauglichen Englischkenntnissen bewältigen muss, können wirklich nur ein Anfang sein. Deswegen bitte ich darum, dass die konsolidierten Verhandlungsergebnisse schnellstmöglich auch auf Deutsch zur Verfügung gestellt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Für uns Parlamentarier ist dies die Grundlage für eine differenzierte Bewertung, ohne die eine Zustimmung zu den Dokumenten schwerlich möglich sein wird. Zur demokratischen Teilhabe gehört aber auch, dass beide Abkommen, TTIP und CETA, als sogenannte gemischte Abkommen behandelt werden, wodurch dann die EU-Mitgliedstaaten an der Ratifizierung mitwirken können. Nur so entsteht letztlich auch Vertrauen. Deswegen halte ich es nicht für förderlich, wenn über eine vorläufige Inkraftsetzung von Teilen CETAs nachgedacht wird. Freundschaftliche Bande pflegen wir über den respektvollen Umgang und das offene Wort. Unsere Kritik an der Anwendung der Todesstrafe, am nach wie vor existierenden Gefangenenlager in Guantánamo ist ebenso wichtig und richtig. Wir werden immer darauf pochen, dass Spähmaßnahmen unter Verbündeten tabu sind. Die Aussage der Bundeskanzlerin „Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht“ ist mittlerweile zu einem geflügelten Wort geworden. Aber natürlich hat sie mit dieser Aussage recht. Wir werden immer darauf drängen, dass geheimdienstliche Aktivitäten mit den Verbündeten abzusprechen sind und sich auf das Notwendigste beschränken müssen; aber wir werden dabei immer zu unseren Partnern auf der anderen Seite des Atlantiks stehen. Der Blutzoll, den die USA und, nicht zu vergessen, Kanada geleistet haben, um das Schlachten im Ersten und Zweiten Weltkrieg zu beenden, um Deutschland von der Nazibarbarei zu befreien, wird immer unvergessen bleiben. Als Chemnitzer weiß ich: Chemnitz wurde nicht nur von der Roten Armee, sondern auch von der US Army befreit. (Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Thüringen auch!) Trotz des weiten Atlantiks, der die USA und Kanada von Europa trennt, sind sie uns doch immer Verbündete, Partner, Freunde und Mitglieder einer gemeinsamen Wertegemeinschaft. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Vielleicht sollte ich in Ergänzung eines Hinweises, den der Kollege Müller gerade gegeben hat, was den Zugang zu Dokumenten angeht, hier noch einmal vortragen, was ich gestern im Ältestenrat mitgeteilt habe: Die Verpflichtung der Bundesregierung zur Unterrichtung des Bundestages über alle Angelegenheiten im Rahmen der Europäischen Union ist durch unseren jetzt möglichen Zugang zu den Verhandlungsdokumenten weder kompensiert noch aufgehoben. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es wird also weitere Unterrichtungspflichten geben. Es ist mit dem Wirtschaftsministerium geklärt, dass es regelmäßig zusammenfassende Berichte über den Verhandlungsfortschritt gibt. Das ist, glaube ich, eine wichtige Ergänzung im Hinblick auf die Transparenz, auf die wir gemeinsam großen Wert legen müssen. Was die die Öffentlichkeit verständlicherweise beunruhigende Frage des vermeintlich vorzeitigen Inkrafttretens ohne Beteiligung des Parlaments angeht, hat die rechtliche Prüfung ergeben, dass es jedenfalls mit Blick auf solche denkbaren Bestandteile eines solchen Abkommens, die der Zuständigkeit der nationalen Parlamente, in diesem Fall des Bundestages, unterliegen, keinerlei Möglichkeit der vorzeitigen Inkraftsetzung solcher Bestandteile des Vertrages ohne Beteiligung des Parlaments geben kann. Punkt! (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf der Regierungsbank wurde gerade der Kopf geschüttelt! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Böhmer hat mitgeschrieben für den Herrn Steinmeier!) Jetzt hat der Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Florian Hahn (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Großvater, Wilhelm Hahn, Geburtsjahr 1909, war Student der Ökonomie und hat Anfang der 1930er-Jahre am Studentenaustausch mit den USA teilgenommen. Ihn hat es dann nach Dayton, Ohio, verschlagen, wo dieses Jahr die Convention der Republikaner stattfinden wird. Er lernte dort die Schwester seines Austauschpartners und Freundes kennen, Ruth Assling – „Assling“ wie „Aßling“ nach dem oberbayerischen Dorf im Landkreis Ebersberg, angrenzend an meinen Wahlkreis –; die beiden heirateten und bekamen vier Kinder. Meine Großmutter verbrachte den Krieg als Amerikanerin in Deutschland. Das ist ein persönliches Beispiel für die zahllosen engen Beziehungen, die wir in vielfältiger Weise schon lange mit dem großen Bruder auf der anderen Seite des Teiches haben. Auch wenn zwischen den USA und Europa der Große Ozean liegt, durchleben wir oft ähnliche Trends und Entwicklungen, im Moment zum Beispiel eine Renaissance des Populismus: Ressentiments gegen die da oben, gegen Freihandel, gegen Fremde, Flüchtlinge und Billigproduzenten werden von Donald Trump und AfD gleichermaßen genutzt. Deren Aussagen sind so ähnlich, dass Zeitungen bereits ein Ratespiel daraus machen: Wer hat es gesagt – Frauke Petry oder Donald Trump? Für uns in der Politik ist eine andere Frage entscheidend: Was hat es bewirkt? Wir müssen abstrakte Ängste von berechtigten Anliegen unterscheiden. Das heißt für Europa und natürlich insbesondere für Deutschland, dass wir uns allen Facetten der Flüchtlingskrise stellen, auch den unbequemen Fragen und Handlungsoptionen. Die USA dagegen müssen sich eingestehen, dass das Bild vom Tellerwäscher zum Millionär längst Utopie ist. Wachsende Importe aus China und zunehmende Automatisierung haben zu einer brodelnden Mischung geführt. Die Finanzkrise war der Sargnagel für die Hoffnung vieler Wähler der Arbeiter- und Mittelklasse. Viele wurden zurückgelassen. Die Beschwerden dieser Wähler sind berechtigt. Vom aktuellen wirtschaftlichen Aufschwung profitieren nur wenige. Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks sind daher gefordert. Wir müssen die Komfortzone eingespielter Politikprozesse verlassen und die nationalen Trends ernst nehmen. AfD und Trump sind nur die Symptome eines drängenden Phänomens, dem verlorenen Vertrauen in eine demokratische Ordnung und eine liberale Marktwirtschaft. Wir stehen in der Verantwortung, den demokratischen Diskurs zu eröffnen. Es kann nur neue Gräben schaffen, wenn wir diesen Akteuren das demokratische Existenzrecht absprechen. Stattdessen müssen wir sie argumentativ stellen und sie auf ein Normalmaß zurückstutzen. Wir müssen die legitimen Bedürfnisse aufnehmen, statt sie volkspädagogisch wegzutherapieren – in den USA, in Europa und natürlich in Deutschland. Entscheidend hierbei sind unsere Übersetzungsleistungen. Wir müssen gemeinsam Chancen klar benennen, Erreichtes deutlich herausstellen und Herausforderungen ansprechen. Das transatlantische Handelsabkommen steht dafür exemplarisch. Die Facetten des Abkommens sind vielschichtig. Wir brauchen daher gute Dolmetscher, um die Chancen aufzuzeigen. Gleichzeitig müssen wir als Sprachrohr für die Bedenken der Bürger dienen und ihre Sorgen ernst nehmen. Niedrige Schutzstandards sind genauso tabu wie die Aufgabe unseres Rechtssystems. Als Verteidigungs- und Außenpolitiker appelliere ich an Sie, das Gesamtbild im Auge zu behalten. Die geostrategische Lage verändert sich. Handelsbeziehungen haben eine neue strategische Bedeutung. Die amerikanische und die europäische Wirtschaft sind seit jeher stark miteinander verflochten. Die Handelsbeziehungen machen die Hälfte der Weltproduktion aus: knapp 40 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsproduktes und rund 60 Prozent der Direktinvestitionen. Beim bayerischen Außenhandel nehmen die USA die erste Stelle ein, noch vor China und Österreich. Das Handelsvolumen in Bayern betrug 2015 fast 35 Milliarden Euro. Bayerische Unternehmen exportierten im Jahre 2013 fast fünfmal so viele Güter in die Vereinigten Staaten wie in die Russische Föderation. Das möchte ich vor dem Hintergrund mancher Diskussionen daheim und der Frage, wer für uns wirtschaftlich und für den Erhalt von Arbeitsplätzen wichtig ist, deutlich machen. So wie es bei der Montanunion um mehr als um den Zugang zu Kohle und Stahl ging, geht es bei TTIP um mehr als um Handel und Investment. Die USA und Europa blicken auf die gemeinsame geostrategische Herausforderung, den globalen ökonomischen Einfluss zu erhalten. Es geht um gemeinsame Maßstäbe, Standards und Regulierungen. Es geht darum, das Erreichte der letzten sieben Dekaden zu schützen. Das wissen im Übrigen, lieber Herr Trittin, auch kluge Köpfe in Ihren Reihen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber nur die klugen Köpfe!) Manchmal ist es auch die Aufgabe der Politik, Erinnerungen wiederzubeleben, als Zeitzeuge auf das Erreichte und unsere gemeinsamen Leistungen hinzuweisen. Die liberale europäische Nachkriegsordnung wäre ohne die Amerikaner nicht möglich gewesen. Lange Zeit war Europa und insbesondere Deutschland ein Konsument amerikanischer Sicherheitsgarantien. Die USA waren der Ziehvater Europas, der in einer gespaltenen Welt schützend vor uns stand. Die heutigen engen Beziehungen gründen im gemeinsamen Bemühen, den Kalten Krieg zu gewinnen. Erstmals sprach der ehemalige Präsident George Bush am 31. Mai 1989 in Mainz von einer neuen Rolle Deutschlands. Man sei mehr als Verbündete und Freunde, man sei „Partners in Leadership“. Fast im gleichen Satz nannte er in der Konsequenz die Notwendigkeit, als Akteur mehr Verantwortung in der Weltpolitik zu übernehmen. Dieser Appell galt nicht nur Deutschland; Europa sollte Position beziehen. Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen. Wir erleben ein neues internationales System, in dem unterschiedliche Herrschaftssysteme miteinander wettstreiten. Unsere liberale, pluralistische Demokratie konkurriert mit neuen Regimen, Ideen und Identitäten. Für uns heißt das: Die transatlantischen Beziehungen sind wichtiger denn je. Im Interview mit dem Journalisten Jeffrey Goldberg fordert Präsident Obama zu Recht eine neue Aufgabenteilung. Er spricht sich mit aller Deutlichkeit für ein strategisches Burden Sharing aus. Im Klartext: Europa muss einen größeren Anteil an der gemeinsamen Verantwortung des Westens tragen. Deutschland hat auf das veränderte strategische Umfeld reagiert. Wir haben uns zu einer Kehrtwende entschieden. Die Verteidigungsministerin setzt mit ihren Zusagen in Bezug auf das Budget, die Ausrüstung, das Personal und die Interoperationalität ein klares Zeichen für unsere transatlantischen Partner. Deutschland ist bereit, als eine Führungsnation Verantwortung zu übernehmen, militärisch und politisch. Auch das kommende Weißbuch soll das abbilden. Trotzdem: Die langen Jahre der Friedensdividende erfordern Geduld. Das gilt vor allem auch für die NATO. 2011 hörten wir noch pessimistische Äußerungen über die Zukunft der Allianz. „Lebendig, aber innerlich zerrissen“, schrieb eine Tageszeitung. Vor dem Hintergrund der Herausforderungen im Osten und im Süden haben wir 2014 in Wales zu einer neuen Bündnisstärke gefunden. 28 Staaten einigten sich auf militärische Schritte, mit Europa als Hauptakteur und den USA als Rückversicherung. Unsere gemeinsame militärische Präsenz in Osteuropa ist wichtig. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir einerseits Abschreckung, andererseits trotz aller Provokationen aber auch Augenmaß benötigen. Das habe ich erst nach Ostern bei meinem Besuch in Washington in vielen Gesprächen deutlich gemacht. Europa kennt die Risiken neuer Eskalationsspiralen. Bewährte Verträge sollten erhalten bleiben. Das gilt beispielsweise auch für die NATO-Russland-Akte. Präsident Obama liegt richtig, wenn er sagt, dass keine Regierung, keine Gesellschaft die aktuellen Herausforderungen alleine bewältigen kann. Als Politiker sind wir auf beiden Seiten des Atlantiks vor allem auch innenpolitisch gefordert, diese Botschaft zu vermitteln. Unsere Übersetzungsleistungen sind ebenso gefordert wie unser strategisches Denken. Perspektivisch wird es darum gehen, die Sicherheit des Westens neu zu erfinden. Bedrohungen wie transnationaler Terrorismus, Cyberangriffe und Radikalisierungen erfordern dies. Amerika bleibt dabei unser engster Partner. Diese Partnerschaft müssen wir – beide Partner – hegen und pflegen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Andreas Nick für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der bevorstehende Besuch von Präsident Obama in Hannover ist Anlass für diese Debatte (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Anlass für die Abwesenheit des Außenministers!) und auch Beleg dafür, wie eng und wichtig die transatlantischen Beziehungen auch im Jahr 2016 sind. Die Tradition der Verbundenheit reicht jedoch deutlich weiter zurück als das NATO-Bündnis und auch der Beitrag der USA zur deutschen Einheit, zum Marshallplan oder zur Berliner Luftbrücke. Schon die deutsche Freiheitsbewegung im 19. Jahrhundert wäre ohne das Vorbild der USA nicht denkbar gewesen. Bereits 1832 rief Philipp Jakob Siebenpfeiffer, Initiator des Hambacher Festes, dort aus: Wir beneiden den Nordamerikaner um sein glückliches Los, das er sich mutvoll selbst erschaffen hat. – 1848 waren die Vereinigten Staaten die einzige Großmacht ihrer Zeit, die sich bei der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche durch einen Gesandten vertreten ließ. Nach dem Scheitern der 48er-Revolution fanden viele deutsche Liberale eine neue Heimat in den USA, und auch während der Nazidiktatur waren die USA Zufluchtsort für zahlreiche Emigranten aus Deutschland. Uns verbindet eben mehr als historische Erfahrungen oder gemeinsame Werte. Laut einer aktuellen Studie haben mehr als die Hälfte der Amerikaner ein exzellentes Bild von Deutschland. Über 60 Prozent aller Amerikaner glauben, dass beide Länder eine enge Bindung haben und Deutschland eines der fünf wichtigsten Partnerländer der USA ist. Die USA waren und sind Garant für die europäische Sicherheit. Zusammen mit den Staaten der Europäischen Union sind sie weltweit unser wichtigster Partner und verlässlichster Verbündeter. Die transatlantische Partnerschaft ist neben der europäischen Integration der wichtigste Pfeiler deutscher Außenpolitik. Um es mit den Worten von Helmut Kohl zu sagen: Das Bündnis mit den freiheitlichen Demokratien des Westens ist der Kernpunkt deutscher Staatsräson. – Dieser Leitsatz hat auch im 21. Jahrhundert unverändert Gültigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Gleichwohl gibt es unter engen Partnern und Freunden auch immer wieder Meinungsverschiedenheiten, die zum Teil auch aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Erfahrungen oder kulturellen Prägungen erwachsen. Deshalb ist ein breiter Dialog und Gedankenaustausch zur Vertiefung des gegenseitigen Verständnisses, gerade auch unter Parlamentariern beider Länder, notwendig. Formate für diesen informellen Austausch sind daher unverzichtbar, beispielsweise das jährliche Congress Bundestag Forum, für dessen Organisation ich – sicher auch im Namen vieler Kollegen aus allen Fraktionen – dem GMF und der Bosch-Stiftung besonders danken möchte. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) Unsere Gesellschaften profitieren im 21. Jahrhundert wie nie zuvor in der Geschichte vom offenen Austausch. Die Ströme von Menschen und Gütern, von Kapital und Informationen, die uns verbinden, sind um ein Vielfaches wichtiger geworden als die Kontrolle über geografisch abgegrenzte Räume. Konnektivität zu ermöglichen, dafür einen verlässlichen Rahmen zu bieten, aber auch Schutz und Sicherheit vor äußerer Bedrohung zu gewährleisten, ist eine zentrale politische Aufgabe; Kollege Steinbrück hat das vorhin schon angesprochen. Deshalb ist das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP so wichtig, und deshalb bedarf es auch klarer Regeln etwa zum Fluggastdatenaustausch, wie sie gestern im Europäischen Parlament verabschiedet wurden. Für die weltweite Vernetzung steht aber kaum etwas mehr als das Internet, das World Wide Web. Das Netz ist ein Raum der Meinungsvielfalt und Teilhabe und nicht zuletzt ein Motor für Innovation, Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze der Zukunft. Regeln und Rahmenbedingungen für ein offenes und freies globales Netz können nicht alleine auf nationaler Ebene geschaffen werden. 2014 haben die USA angekündigt, die Kontrolle über ICANN, die Organisation zur globalen Vergabe kritischer Internetressourcen wie Domainnamen und IP-Adressen, abzugeben. Das ist ein wichtiger Schritt im Sinne eines offenen, dezentral kontrollierten Netzes auf Basis eines Multi-Stakeholder-Ansatzes. Es wäre zu begrüßen, wenn eine der nächsten Veranstaltungen des Internet Governance Forums der Vereinten Nationen bei uns in Deutschland stattfinden würde. Auf beiden Seiten des Atlantiks brauchen wir immer wieder eine Verständigung über die richtige Balance von Freiheit und Sicherheit in unseren offenen und pluralistischen Gesellschaften. Aber die Debatte um Informationssicherheit und Datenschutz ist nicht nur eine Frage zwischen Staaten und Regierungen, so wichtig etwa das Format des deutsch-amerikanischen Cyberdialogs ist. Wir brauchen Rechtssicherheit für alle Bürgerinnen und Bürger und für alle Unternehmen beim dringend notwendigen transatlantischen Datenaustausch. Deshalb ist eine verlässliche Nachfolgeregelung zu Safe Harbor unverzichtbar. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Gerade die global agierenden Unternehmen der Internetökonomie haben eine zentrale Rolle bei der Klärung der Frage, welche Zukunftsrechte nationale Regierungen auf die Daten ihrer Kunden beanspruchen. Die Klage von Microsoft gegen den Zugriff der US-Regierung auf ihre Datencenter in Irland verdeutlicht, dass diese Diskussion auch eine transatlantische Komponente hat. Auch die Europäer sollten sich hier in angemessener Weise einbringen; denn gerade die global agierenden Player der Internetökonomie wie Apple, Google oder Microsoft können aus ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse heraus durchaus wichtige Verbündete sein, wenn es darum geht, einen verlässlichen und international akzeptierten Rechtsrahmen auch im Washingtoner Politikbetrieb einzufordern. Meine Damen und Herren, die deutsch-amerikanischen Beziehungen müssen aber mehr sein als Traditionspflege oder die Angelegenheit von Regierungen. Sie brauchen auch in Zukunft eine breite gesellschaftliche Verankerung. Über Jahrzehnte haben die in Deutschland stationierten US-Soldaten nicht nur während ihrer Dienstzeit hier, sondern vor allem auch nach der Rückkehr in ihre Heimat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet. (Jürgen Hardt [CDU/CSU]: 17 Millionen!) Jeder deutsche USA-Reisende kennt die Erfahrung eines zufälligen Zusammentreffens mit Menschen, die begeistert von ihrer Zeit in Frankfurt, Heidelberg oder „K-Town“, Kaiserslautern, aber auch in Hahn, Bitburg oder Spangdahlem berichten. Viele dieser Standorte sind inzwischen Geschichte. Die Bedeutung dieses Kitts geht zurück. Wirtschaftliche Zusammenarbeit allein kann dies nicht ersetzen. Deshalb sind Austauschprogramme zwischen unseren Ländern wie unser Parlamentarisches Patenschafts-Programm so wichtig. Wir müssen aber auch neue gesellschaftliche Gruppen mit teils anderem kulturellen Hintergrund – Jürgen Hardt hat es vorhin schon angesprochen – für die Zukunft der transatlantischen Beziehungen gewinnen. Deshalb freue ich mich ganz besonders, Anfang Mai erstmals die Teilnehmer eines neuen Begegnungsprogramms im Bundestag begrüßen zu können, das gezielt junge Hispanics aus den USA und junge Deutsche mit türkischen Wurzeln zusammenbringt. Das ist ein wichtiger Beitrag zu einer neuen, bunteren transatlantischen Generation. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich danke dem American Institute for Contemporary German Studies, AICGS, für diese hervorragende Initiative, die auch mit ERP-Mitteln des Bundeswirtschaftsministeriums unterstützt wird. Liebe Kollegen, im November 2016 wird ein neuer amerikanischer Präsident gewählt. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Oder eine Präsidentin!) Auch in Deutschland verfolgen wir diesen Prozess mit Aufmerksamkeit und teilweise leider auch mit Sorge. Aber unser Vertrauen in die amerikanische Gesellschaft und Demokratie ist groß, dass am Ende eine verantwortliche Entscheidung einer breiten Mehrheit der amerikanischen Wähler stehen wird. Eines steht bereits so gut wie fest: Auch der neue Präsident oder die neue Präsidentin wird in den ersten Monaten nach Amtsantritt zu einem Besuch nach Deutschland kommen, und zwar aus Anlass des G-20-Gipfels im Juli 2017 in Hamburg. Wir setzen fest darauf, die transatlantischen Beziehungen auch mit neuen Partnern in Washington zukunftsfest gestalten und gemeinsam weiterentwickeln zu können. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den gemeinsamen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/8072 mit dem Titel „Die transatlantischen Beziehungen zukunftsfest weiterentwickeln“. Wer diesem Antrag zustimmen will, bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung Drucksache 18/8041 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Kipping, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die Gewährleistung des Existenz- und Teilhabeminimums verbessern – Keine Rechtsvereinfachung auf Kosten der Betroffenen Drucksache 18/8076 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grundsicherung einfacher und gerechter gestalten – Jobcenter entlasten Drucksache 18/8077 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Für die Beratung dieser Vorlagen ist eine Debattenzeit von 60 Minuten vorgesehen. Hat dagegen jemand Einwände? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller. (Beifall bei der SPD) Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich freue mich darüber, dass wir heute einen wahrhaftig langen Prozess endlich auf die Zielgerade bringen können. Dieser Gesetzentwurf basiert auf der sehr intensiven Arbeit der Bund-Länder-Arbeitsgruppe der ASMK – das sind die Arbeits- und Sozialminister der Bundesländer – zur Rechtsvereinfachung im SGB II. Ja, viele Beteiligte hätten gern noch weitere Änderungen erreicht. Ja, nicht auf alles, was wünschenswert gewesen wäre, konnten wir uns einigen. Aber jetzt können wir den Gesetzentwurf endlich im Bundestag beraten. Jeder Schritt in die richtige Richtung bringt uns voran. Das gilt im Leben allgemein und in diesem besonderen Fall auch. Ich kann sagen: Dieses Gesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung und in der Tat ein echter Fortschritt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Was erreichen wir? Wir erreichen, dass Leistungsberechtigte entlastet werden. Es werden aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern entlastet. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das sehen die selber anders!) Zudem werden auch – eine Vermutung, die sich bestätigen wird – die Sozialgerichte entlastet. (Beifall bei der SPD) Das Leistungs- und Verfahrensrecht wird an über 30 Stellen geklärt und vereinfacht. Das schafft Rechtssicherheit. Das vermeidet Widersprüche und Klagen. Damit ist es im Sinne von uns allen. Wo kommen wir ganz konkret voran? Zum Beispiel bei den Regelungen zur Anrechnung von Einkommen. Sie werden pauschalisiert und vereinfacht, etwa bei geringen Zinserträgen oder beim Bezug von Mutterschaftsgeld während des Mutterschutzes. Außerdem fallen, ich will sagen: unnötige Bescheide weg; denn der Bewilligungszeitraum wird von grundsätzlich 6 auf 12 Monate verlängert. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das war eh schon Praxis! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist schon so!) Damit sparen wir jedenfalls nach Adam Riese bestenfalls jeden zweiten Antrag. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) Das freut Antragsteller und Behörde gleichermaßen. Die Leistungsberechtigten erhalten mehr Beratung als früher. Stärker als bisher wollen wir außerdem ihre Potenziale in den Blick nehmen und sie mit einer Eingliederungsvereinbarung konkret einbinden. Neu, meine Damen und Herren, ist die nachgehende Betreuung, also der Brückenbau über die Arbeitsaufnahme hinaus. Wir bleiben dran und unterstützen weiter, um die Menschen selbst und ihr Arbeitsverhältnis in den Monaten nach Beschäftigungsaufnahme nachhaltig zu stabilisieren. Darin sehen wir einen sehr großen Fortschritt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gewinner sind aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern – und das genau im richtigen Moment: Viele Flüchtlinge, die im letzten Jahr zu uns gekommen sind, wechseln in der nächsten Zeit als Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge in den Rechtskreis des SGB II. Damit sie hier Fuß fassen und auf eigenen Beinen stehen können, wollen wir sie bestmöglich – wie alle anderen auch – betreuen und sie in Praktika, berufsbezogene Sprachkurse, Ausbildung und Arbeit vermitteln. Gleichzeitig wollen wir unsere Anstrengungen bei der Betreuung von Langzeitarbeitslosen verstärken. Für diese oftmals schwierige Arbeit brauchen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern Kraft und Zeit. Die geben wir ihnen mit den Rechtsvereinfachungen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir wollen, dass alle – ob sie schon lange ohne Arbeit sind oder sich hier ein neues Leben aufbauen wollen – die Chance auf einen erneuten oder einen erfolgreichen Neustart in Deutschland haben. Für diese Aufgabe brauchen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern Kapazitäten. Wir helfen mit diesem Gesetz, sie freizuschaufeln. Deshalb werden die Menschen, die neben Arbeitslosengeld I auch Arbeitslosengeld II beziehen, zukünftig von der Agentur für Arbeit betreut – wie alle anderen Versicherten, die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten. Auch darin sehen wir einen großen Fortschritt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, über eine Regelung – das will ich gern abschließend sagen – freue ich mich persönlich ganz besonders. Auszubildende sind künftig nicht mehr ausgeschlossen von Leistungen des SGB II. Das ist wirklich ein Meilenstein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Damit werden hoffentlich mehr junge Menschen, die bisher gar keine oder nur eine geringe Ausbildungsförderung erhalten, eine Ausbildung beginnen. Sie können nun ergänzende Leistungen aus dem SGB II erhalten und so ihre Ausbildung finanzieren. Ich fasse zusammen: Wir konzentrieren die Arbeit der Jobcenter. Wir vereinfachen das Leistungsrecht und erweitern Beratungsansprüche. Das sind in der Tat Fortschritte. Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung bei diesem Gesetz. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Katja Kipping (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Staatssekretärin, das war ja ein Paradebeispiel fürs Schönreden. (Beifall bei der LINKEN) Hartz IV basiert auf der Annahme, der Einzelne sei schuld an seiner Erwerbslosigkeit. Hartz IV basiert auf der Annahme, dass Erwerbslose Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse sind. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist ja nun eine Frechheit! – Zuruf von der CDU/CSU: Sie machen sie zur zweiten Klasse!) Von der Angst vor Hartz IV sind inzwischen auch Menschen betroffen, die noch einen Job haben; denn der Fall in Hartz IV kann sehr schnell gehen. Deswegen lassen wir als Linke, auch wenn Sie verbissen an Hartz IV festhalten, nicht locker und sagen immer wieder: Hartz IV gehört ganz grundsätzlich abgeschafft. (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig! Es gibt gar nichts mehr!) Was das Haus von Andrea Nahles nun als Gesetzentwurf vorgelegt hat, ist in vieler Hinsicht ein Offenbarungseid. Es ist bezeichnend, dass die Ministerin nicht einmal den Mumm hat, diesen Gesetzentwurf selber vorzustellen. (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der SPD) Dieser Gesetzentwurf macht doch deutlich: Sie wollen an Hartz IV nichts grundsätzlich ändern. Sie wollen von den alltäglichen Nöten der Menschen in Hartz IV nichts mildern. Ihnen geht es doch nur um einen reibungslosen Vollzug. Angeblich geht es um Rechtsvereinfachung und Bürokratieabbau. Doch nicht einmal diesem bescheidenen, selbstgesteckten Ziel wird der Gesetzentwurf gerecht. Es gibt ein Schreiben der Personalräte der Jobcenter, und darin heißt es, der Gesetzentwurf ist für die Belegschaften „nicht nur enttäuschend, er ist ärgerlich und selbst eine weitere Belastung“. Eine weitere Belastung, so sehen das die Personalräte der Jobcentermitarbeiter, die, die Ihren Gesetzentwurf am Ende ausbaden müssen. (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hören Sie einmal auf die!) Schaut man sich nun die geplanten Änderungen an, so ist klar: Schwarz-Rot plant keine Rechtsvereinfachung. Sie wollen einfach nur eine weitere Kelle Sanktionen obendrauf legen. Ich will das verdeutlichen. So soll innerhalb von Hartz IV ein zweites Repressionsinstrument ausgebaut werden. Das läuft unter dem Begriff „Ausweitung der Ersatzpflichtigkeit bei sozialwidrigem Verhalten“. Das ist die Sprache Ihres Gesetzes. Allein dieser Begriff ist entlarvend, und er verrät, wie die Bundesregierung über Erwerbslose wirklich denkt. (Beifall bei der LINKEN) Wer in Erwerbslosen mündige Bürgerinnen und Bürger sieht, der verwendet solche Begriffe auf keinen Fall. (Beifall bei der LINKEN) Eine solche Ersatzpflicht, also die Kürzung des Arbeitslosengeldes II, soll nun auch dann eintreten, wenn das sozialwidrige Verhalten die Hilfebedürftigkeit nicht nur herbeiführt, sondern sie „erhöht, aufrechterhalten oder nicht verringert wurde“. Übersetzen wir diese bürokratischen Formulierungen einmal ganz konkret in die Praxis. Eine Kürzung um 30 Prozent bedeutet für einen voll Bezugsberechtigten, dass ihm pro Monat nur noch 282,80 Euro für alle Kosten außer der Miete und den Heizkosten bleiben. 282 Euro im Monat – das bedeutet 9,43 Euro am Tag für alle Ausgaben. Wer von Ihnen käme mit 9,43 Euro über den Tag? (Dagmar Ziegler [SPD]: Darum geht es doch gar nicht! Sie verstehen das gar nicht!) Übrigens, Sie müssen auch noch Geld für den Fall zurücklegen, dass irgendwann einmal die Waschmaschine kaputtgeht. Kurzum: Anstatt die Hartz-IV-Sanktionen abzuschaffen, was so nötig wäre, plant Andrea Nahles ein zweites Repressionsinstrument. Ich habe den Eindruck: Seit der Einführung von Hartz IV sind Sie in puncto Erwerbslosigkeit keinen Deut klüger und keinen Deut sozialer geworden. (Beifall bei der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Sie haben es nicht verstanden!) Ursprünglich war geplant, die besonders harten Sanktionsregelungen abzumildern. Noch im Oktober letzten Jahres haben hier Rednerinnen der SPD gesagt, an die Sofortsanktionen bei den unter 25-Jährigen und den Jugendlichen und an die Sanktionierung bei den Kosten der Unterkunft müsse man heran. Alle Bundesländer waren sich darin einig, dass man das abmildern muss, mit einer Ausnahme, nämlich Bayern. Und was macht die Sozialministerin? Anstatt couragiert ihre Position zu vertreten, anstatt sich couragiert für Erwerbslose einzusetzen, knickt sie vor Horst Seehofer ein. Ich finde es beschämend, wie sich diese Bundesregierung von Horst Seehofer am Nasenring durch die Manege führen lässt. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unsere Position als Linke ist ganz klar: Wir befürworten jeden Schritt weg von diesen Sanktionen. Wir sagen aber auch ganz klar: Wir pochen auf das Grundrecht auf soziale Sicherheit. Deswegen meinen wir: Alle Sanktionen und Leistungseinschränkungen sowohl beim SGB II als auch bei der Sozialhilfe gehören abgeschafft, und zwar sofort. (Beifall bei der LINKEN) Dafür streiten wir nicht nur hier im Bundestag, sondern auch in den Landesregierungen. So hat sich beispielsweise das Sozialministerium von Thüringen, vertreten durch Heike Werner, gemeinsam mit den Brandenburgern im Bundesrat für diese Position stark gemacht. (Beifall bei der LINKEN) Zu den von Ihnen vorgesehenen Veränderungen gehört auch die Einschränkung bei rückwirkender Nachzahlung rechtswidrig vorenthaltener Leistungen. Das heißt in der Konsequenz: Es werden Menschen, deren Heizkosten systematisch zu niedrig angesetzt wurden, Schwierigkeiten haben, die vorenthaltenen Leistungen später rückwirkend wiederzubekommen, selbst wenn sie vor Gericht Recht bekommen; denn es wird nur noch für die Zukunft der höhere Betrag gezahlt und nicht für die Vergangenheit. Damit hat das Amt doch einen Anreiz, im Zweifelsfall immer gegen die Betroffenen zu entscheiden. Selbst wenn sie klagen und Recht bekommen, gilt das erst für die Zukunft. (Dagmar Ziegler [SPD]: Was Sie für einen Unsinn unterstellen! Das ist unglaublich!) Solange die Klage dauert – in der Regel dauert das recht lange –, müssen sie selber sehen, wie sie klarkommen; sie bleiben damit auf den Kosten sitzen. Sie sparen auf dem Rücken von Erwerbslosen und Aufstockenden. Sie gönnen diesen Menschen nicht einmal das Wenige, das ihnen laut Gesetz zusteht. Ich finde, das ist zutiefst schäbig. (Beifall bei der LINKEN) An diesem Beispiel wird einmal mehr deutlich: Hartz IV ist Ausdruck sozialer Kälte. Leider ist das nicht nur ein sprachliches Bild. Für Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind und deren Heizkosten vom Amt zu niedrig berechnet werden, ist das ganz konkreter Alltag. Sie müssen in der kalten Jahreszeit kalkulieren, wie viel Heizung und wie viel Wärme sie sich überhaupt noch leisten können. Geplant war Bürokratieabbau, herausgekommen ist noch mehr Ärger für Erwerbslose wie für Beschäftigte, also auf beiden Seiten des Tisches wird es für die Betroffenen schlimmer mit diesem Gesetz. Wenn ich mir die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzentwurfs ansehe, dann wundert mich das auch nicht. Wir haben immer angemahnt: Beziehen Sie doch die Fachleute der Praxis ein, das heißt die Betroffeneninitiativen, Sozialverbände, Gewerkschaften. Aber nein, die Regierung hat die Fachleute der Praxis, wie Gewerkschaften und Sozialverbände, im Übrigen auch die Opposition, komplett ausgegrenzt. Kein Wunder also, wenn so ein Murks herauskommt. (Beifall bei der LINKEN) Falls noch irgendjemand glaubte, man könnte das System Hartz IV mit kosmetischen Korrekturen verbessern, der wird durch die Geschichte dieses Gesetzentwurfs eines Besseren belehrt. Wenn das Fundament und die Wände eines Hauses dermaßen falsch konstruiert sind, dann nützt es eben nichts, wenn man die Farbe der Türklinken ändert. Deswegen sagen wir ganz klar: Hartz IV muss gänzlich abgeschafft werden. Wir streiten stattdessen für gute Arbeit und für eine sanktionsfreie Mindestsicherung von 1 050 Euro. Schwarz-Rot möchte die Sanktionslogik von Hartz IV noch verschärfen. Wir als Linke hingegen streiten für soziale Garantien des Lebens, für eine Gesellschaft, an der alle teilhaben können, in der sich alle entfalten können und in der alle frei von Existenzangst und frei von Bevormundung sind. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Karl Schiewerling für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Karl Schiewerling (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war mal wieder ein Lehrstück aus der Küche der Linken. Das kenne ich seit 2005. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Es ist ja nicht besser geworden mit Hartz IV!) Frau Kipping – das muss ich Ihnen sagen –, seitdem bleiben Sie sich treu, aber ich bleibe mir auch treu. Was ich Ihnen schon 2006 gesagt habe, sage ich Ihnen auch heute: SGB II ist ein lernendes System. Das merken Sie daran, dass wir schon das neunte Änderungsgesetz diskutieren. SGB II ist kein starres System. Jeden Monat gehen 90 000 Menschen aus der Grundsicherung heraus. Das heißt, wir haben es nicht mit einem monolithischen Block zu tun, sondern mit Entwicklungen. Hartz IV setzt auf Fordern und Fördern – ja, das ist richtig –, aber Hartz IV hat auch seine Grenzen; das will ich gern zugestehen. Weil wir in diesem Gesetz den Anspruch haben, jedem Einzelnen gerecht zu werden, und weil die Lebenssituationen der Menschen höchst unterschiedlich sind, werden, auch zu meinem Leidwesen, zu viele Klagen eingereicht. Das Gesetz, das wir heute auf den Tisch legen, ist zwischen 16 Bundesländern, unter anderem auch den Bundesländern, in denen Sie mitregieren, und der Bundesregierung abgestimmt. (Widerspruch bei der LINKEN) Deswegen wundere ich mich sehr darüber, in welcher Form Sie jetzt hier auftreten. Sie sagen, das sei alles nur eine Geschichte der Bundesarbeitsministerin. Es ist aber das Ergebnis der Bund-Länder-Gespräche. Ich kann nur hoffen und gehe davon auch aus, dass über die Länder die Praxis vor Ort, die Praxis der Agenturen und der Jobcenter, in dieses Gesetz eingeflossen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Schiewerling, darf die Kollegin Kipping dazu eine Zwischenbemerkung machen? Karl Schiewerling (CDU/CSU): Von mir aus ja; eine. (Heiterkeit – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und nicht so lange! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Drei Minuten steht in der Geschäftsordnung!) Katja Kipping (DIE LINKE): Werter Kollege Schiewerling, Sie haben hier den Eindruck erweckt, dass auch die Bundesländer, in denen die Linke mit in der Regierung ist, Thüringen und Brandenburg, diesen Gesetzentwurf so mittragen würden. Vor diesem Hintergrund frage ich: Ist Ihnen bekannt, dass es im Bundesrat – im Fachgremium für Soziales – genau diese beiden Bundesländer waren, die deutliche Veränderungen eingefordert haben, nämlich eine generelle Abschaffung der Sanktionen oder zumindest die Abmilderung, und dass sie insofern den vorliegenden Gesetzentwurf, weil das darin unterbleibt, nicht teilen und nicht zu verantworten haben? (Beifall bei der LINKEN) Karl Schiewerling (CDU/CSU): Frau Kollegin Kipping, ist Ihnen bekannt, dass die Bundesländer im Endeffekt auch mit Ihren Stimmen diesen Vereinbarungen zugestimmt haben? (Beifall bei der CDU/CSU) Sonst hätte es das Abstimmungsergebnis 15 : 0 nicht gegeben. (Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) Es kann ja sein, dass bei der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister andere Positionen vertreten worden sind. Aber hinterher ist unter denen, die bei den Ländern das Sagen haben, abgestimmt worden, und das ist das Ergebnis dieses Abstimmungsprozesses. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, das vorliegende Neunte SGB-II-Änderungsgesetz beinhaltet viele Regelungen, von denen ich hoffe, dass sie sich positiv auswirken. Es wird in einer Zeit vorgelegt, in der wir einen hohen Aufwuchs an Beschäftigung haben –731000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse seit dem letzten Jahr – sowie etwa 600 000 offene Stellen, also ein Arbeitsmarktumfeld, das für die Unterbringung auf dem Arbeitsmarkt günstiger eigentlich nicht sein kann. Deswegen, glaube ich, ist es gut, wenn wir uns mit diesem Gesetz jetzt auf die Personengruppen konzentrieren, die Probleme haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzukommen oder wieder in Beschäftigung zu kommen. Die Rechtsvereinfachungen dienen ja dazu, in den Ämtern den Einzelnen mehr helfen zu können. Aber ich sage auch sehr deutlich: Es gibt Zielgruppen, bei denen wir uns sehr schwer tun, sie überhaupt zu erreichen. Das ist eine Diskussion, die wir seit längerem im Deutschen Bundestag führen, zumindest so lange, wie ich dabei bin. Es geht um die Zielgruppe der jungen Menschen, die durch nahezu alle sozialen Raster fallen. Es sind junge Menschen, die von ihrer Familie nicht erreicht werden, weil schon ihre Herkunftsfamilie nicht mehr erreicht worden ist. Sie werden von der Schule nicht erreicht. Sie werden von der Agentur für Arbeit nicht erreicht. Sie werden von den Sozialämtern nicht erreicht. Die Problemlage dieser jungen Menschen, die in unserer Gesellschaft leben, wird sozusagen erst dann in der Öffentlichkeit bekannt, wenn sie so drängend ist, dass Polizei und Staatsanwaltschaft da sind, oder wenn beispielsweise ein 15-jähriges Mädchen vor der Niederkunft steht, ein Kind erwartet, und wissen will, wohin es sich wenden kann. Diese Situation erleben wir in einer Reihe von Einrichtungen, die sich um diese Jugendlichen, diese jungen Menschen kümmern. Diese sorgen dafür, dass die vielfältigen Lebenssituationen, die auch mit unterschiedlichen Sozialgesetzen hinterlegt sind, aufgegriffen werden, um den jungen Menschen tatsächlich helfen zu können. Da geht es dann um die Kinder- und Jugendhilfe, um das SGB VIII, es geht um das SGB III, um die aktive Arbeitsmarktförderung, es geht um die Grundsicherung, es geht um das Bildungs- und Teilhabepaket, es geht um die Sozialhilfe, und es geht nicht zuletzt – im SGB V – um die Fragen der psychischen Belastungen und der psychischen Hilfen. Alle diese Hilfen, die dringend notwendig wären, erreichen diese Zielgruppen nicht, weil sie kaum irgendwo aufgegriffen werden. Deswegen habe ich mich sehr darüber gefreut, dass es uns mit diesem Gesetzgebungsverfahren gelungen ist, einen neuen § 16 h im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch unterzubringen, der die Möglichkeit eröffnet, die Schnittstellen, an denen es heißt: „Dafür ist ja eigentlich jemand anderes zuständig“, zu überwinden und diesen jungen Menschen Hilfen aus einer Hand geben zu können. Meine Damen und Herren, ich habe mich sehr gefreut, dass dieses Anliegen in unserer Fraktion eine große Unterstützung erfahren hat durch unseren Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass dieses Anliegen von Anfang an eine persönliche Unterstützung erfahren hat durch die Bundeskanzlerin selbst, die in der Karwoche, also in der Woche vor Ostern, eine solche Einrichtung besucht hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich bin sehr froh und dankbar, dass die Bundesarbeitsministerin und das Bundesarbeitsministerium dieses Anliegen sieht und mitträgt und möchte an dieser Stelle neben der Bundesarbeitsministerin und der Fachabteilung insbesondere der Staatssekretärin Lösekrug-Möller für ihre Unterstützung sehr herzlich danken. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, mit diesem Akzent, den wir in diesem Gesetzgebungsvorhaben setzen, wollen wir deutlich machen, dass wir keinen verloren gehen lassen, dass wir alles daransetzen, um jedem Menschen in unserer Gesellschaft, mag er sich noch so schwertun, eine Perspektive aufzuzeigen und diesen Menschen zu helfen. Wir kümmern uns jetzt um die, denen kaum noch einer hilft. Das sind andere Töne – das will ich gerne zugestehen – als die sozialpolitischen Töne, die die Linken anschlagen. Uns geht es nicht darum, Hilfesysteme zu zerschlagen, sondern darum, bestehende Hilfesysteme so zu nutzen, dass die Hilfe bei den Menschen ankommt. Hartz IV muss nicht abgeschafft werden, Hartz IV muss immer wieder als lernendes System verändert werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ersetzt werden durch eine sanktionslose Grundsicherung!) Wir müssen den Menschen eine Perspektive geben, und diese Perspektive lautet: Wir lassen keinen durchs soziale Netz fallen; wir wollen den Menschen helfen. Das ist unser Anliegen, und dem dient auch dieser Gesetzentwurf. Ich danke Ihnen sehr. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Strengmann-Kuhn erhält nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Karl Schiewerling betont in seinen Reden immer gerne die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, den Anstieg der Beschäftigung – sogar der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung – und die gute ökonomische Situation. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Zu Recht!) Damit hat er auch recht. Aber was dabei vernachlässigt wird, ist, dass diese gute Situation der Wirtschaft bei vielen Menschen in Deutschland nicht ankommt. Wir haben seit Jahren ein Rekordmaß an Ungleichheit in Deutschland und ein Rekordmaß an Armut. Der soziale Zusammenhalt in Deutschland ist ernsthaft gefährdet, und da müssen wir unbedingt ansetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Jetzt kommen die geflüchteten Menschen zu uns. Das wird diese Spaltung, die wir in der Gesellschaft haben, zumindest kurzfristig noch weiter verstärken. Es ist schon gesagt worden: In den nächsten Wochen und Monaten erhalten die Menschen, wenn ihr Asylverfahren beendet ist, Leistungen gemäß SGB II. Das heißt, die Jobcenter werden zusätzlich belastet, bekommen zusätzliche Kundinnen und Kunden, wie es im Amtsjargon heißt. An dieser Stelle wäre es eigentlich völlig richtig, zu sagen: Wir vereinfachen die Grundsicherung, entbürokratisieren sie, machen Licht in dem Dschungel von Grundsicherungsleistungen, sehen zu, dass die Menschen, die Anspruch auf Grundsicherung haben, diesen auch leicht erhalten, um damit für ein Stück weit mehr soziale Sicherheit in Deutschland zu sorgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der zweite Punkt ist, dass wir dafür sorgen müssen, dass die Jobcenter tatsächlich entlastet werden, um die Geflüchteten in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Es darf aber auch nicht vergessen werden, die Langzeitarbeitslosen besser zu unterstützen und besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das war eigentlich das Ziel von Hartz IV. Die Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit ist ein Riesenproblem, das wir endlich angehen müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Der Ansatz, wir vereinfachen das System und entlasten die Jobcenter, wir gehen die soziale Spaltung in Deutschland an, ist eigentlich völlig richtig. Wenn man sich den Gesetzentwurf ansieht – die Staatssekretärin hat gesagt, da ist ein jahrelanger Prozess dahinter –, dann stellt man fest: Da ist nichts, da ist gar nichts. Man sieht daran, wie die Reihen heute hier besetzt sind und dass die Ministerin nicht anwesend ist, welchen Stellenwert dieser Gesetzentwurf auch für die Regierungskoalition hat, nämlich einen sehr geringen. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Die Staatssekretärin ist da! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Also, wir sind am stärksten hier!) Viele große Punkte sind in diesem Gesetzentwurf gar nicht angegangen worden, manche sind auch im Gesetzgebungsprozess herausgenommen worden. – In den Reihen der Union wird der Kopf geschüttelt. Warum ist die Ministerin nicht da und stellt den Gesetzentwurf selber vor, wenn es so ein großer Wurf ist? Es ist kein großer Wurf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Dann fragen Sie die SPD!) Es ist ein Bündel von bürokratischem Kleinkram, der die Jobcenter in dieser Situation mehr belasten wird, weil sie eine Fülle von neuen kleinteiligen Regeln wieder neu umsetzen müssen. Die Jobcenter müssen entlastet und nicht belastet werden, was der Gesetzentwurf machen wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wir haben deswegen einen Alternativantrag mit Alternativvorschlägen vorgelegt, mit dem das gesamte Grundsicherungssystem tatsächlich vereinfacht wird und die Jobcenter entlastet werden. Ein wichtiger Punkt wäre, erst einmal die Menschen aus Hartz IV herauszuholen, die gar nicht dorthin gehören. Ich habe eben schon gesagt, es ging eigentlich darum, eine Grundsicherung für Arbeitsuchende zu schaffen. Nun haben wir eine große Menge von Erwerbstätigen im Hartz-IV-System. Es gibt mehr Erwerbstätige als Langzeitarbeitslose, die Hartz IV beziehen. Wenn man die Kinder noch mitzählt, dann leben fast 50 Prozent der Hartz-IV-Bezieher in einer Bedarfsgemeinschaft, die Erwerbseinkommen hat. Die müssen wir aus dieser Sicherung herausnehmen. Sie sind dort, weil sie hohe Wohnkosten haben, weil sie Kinder haben. Deswegen müssen wir an dieser Stelle die vorgelagerten Sicherungssysteme stärken, um die Erwerbstätigen aus Hartz IV herauszuholen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wie gesagt: Viele Familien, viele Kinder sind dabei. Die Auszubildenden gehören eigentlich auch nicht dazu. Es ist für die Auszubildenden sicher ein Fortschritt, dass sie eine existenzsichernde Leistung bekommen. Aber eigentlich müsste es eine Grundsicherung für Auszubildende geben. Die bildungssozialen Sicherungssysteme BAföG etc. müssen gestärkt werden, damit sie gar nicht erst in Hartz IV kommen. Auch hier müssen wir die vorgelagerten Sicherungssysteme stärken, um die Auszubildenden herauszunehmen; denn auch die gehören nicht zu den Jobcentern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Jobcenter sollen sich auf die Arbeitslosen konzentrieren. Es sind einige Punkte im Gesetzgebungsprozess herausgefallen. Eine einfache Möglichkeit, die Jobcenter schnell und effektiv zu entlasten, wäre eine Aussetzung der Sanktionen, die sowohl die Jobcenter als auch die Betroffenen belasten. Wir brauchen ein Sanktionsmoratorium. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Dann würden gleich Kapazitäten frei. Aber das Wenigste wäre – das ist schon angedeutet worden –, dass die Punkte, die – bis auf Bayern und CSU – Konsens sind, wenigstens umgesetzt werden. Die verschärften Regelungen bei jüngeren Erwachsenen unter 25 Jahre und auch Sanktionen der Kosten der Unterkunft müssen beseitigt werden. Alle Praktiker sagen Ihnen: Das kann im Extremfall zu Obdachlosigkeit führen. Und, wie gesagt, die Sanktionen gegen die Jüngeren sind eher kontraproduktiv. Sie führen eher zu sozialer Ausgrenzung und den Problemen, die Karl Schiewerling eben zu Recht angesprochen hat. Deswegen müssten die Jüngeren genauso behandelt werden wie die Älteren. Das wäre ein wichtiger Punkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es gibt viele Brocken, die überhaupt nicht angegangen werden. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist ein bürokratisches Monster. Bei den Kosten der Unterkunft gibt es eine Fülle von bürokratischen Regelungen bzw. viele Sonderregelungen, welche die Jobcenter und die Kommunen teilweise überfordern. Es gibt viele Sonderregelungen im Hartz-IV-Gesetz, die diskriminierend sind und abgeschafft werden müssten. Teilweise sind im Gesetzentwurf neue Verschärfungen enthalten. Katja Kipping hat ein paar Beispiele genannt, die auch wir als Problem ansehen. Es handelt sich dabei nicht um Rechtsvereinfachung, sondern um Rechtsverschärfung. Eigentlich müsste man sich das gesamte System der Grundsicherungsleistungen einmal anschauen. Es gibt fünf verschiedene Grundsicherungsleistungen in drei verschiedenen Gesetzen. Die Regelungen in den einzelnen Gesetzen sind völlig unterschiedlich. Eine Große Koalition könnte sich einmal daranmachen und gleiche Sachverhalte auch gleich regeln. Damit hätte man eine Vereinfachung in der Verwaltung und bessere Transparenz für die Betroffenen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich will nur einen Punkt herausnehmen. Dabei geht es – das klingt erst einmal relativ technisch – um die Anrechnung von Partnereinkommen. Der Begriff „Bedarfsgemeinschaften“ – den gibt es bei Hartz IV im Sozialgesetzbuch II – ist vielleicht bekannter. Im Sozialgesetzbuch XII läuft die Einkommensanrechnung anders. Da gibt es eine individualisierte Leistung, wo auch Partnereinkommen – aber nur von Partnern, die mehr verdienen, als das eigene Grundsicherungsniveau ausmacht – angerechnet wird. Wenn man es im Sozialgesetzbuch II so machen würde wie im SGB XII, hätte das zur Folge, dass die Hilfe auf die Menschen fokussiert wird, die sie tatsächlich brauchen. Wenn es ein Paar gibt, wo eine Person wenig und die andere relativ viel verdient, dann werden beide von den Jobcentern betreut. Es müsste aber so sein, dass sich die Jobcenter auf die tatsächlich Arbeitslosen konzentrieren. All diese Probleme werden von der Großen Koalition nicht angegangen. Es wird nichts für den sozialen Zusammenhalt in dieser Gesellschaft getan. Diese Rechtsvereinfachung stellt eine verpasste Chance dar. Die Große Koalition hätte sie nutzen können. Wir haben einen Alternativantrag vorgelegt, der die Jobcenter tatsächlich entlasten, die Grundsicherung vereinfachen und den sozialen Zusammenhalt in Deutschland stärken würde. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank Herr Kollege Strengmann-Kuhn. – Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Der nächste Redner in der Debatte ist Markus Paschke für die SPD. Markus Paschke (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kipping, Sie haben vorhin ein Paradebeispiel erwähnt. Ich finde, Ihre Rede war ein Paradebeispiel für Schlechtreden und auch für Ignoranz. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir wollen mit den Rechtsvereinfachungen im SGB II nicht nur für die Ämter, sondern auch für die betroffenen Menschen Erleichterungen schaffen. Wir sagen: Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen. Deshalb werden wir die Jobcenter und die Betroffenen von Bürokratie entlasten. Somit bleibt mehr Zeit und mehr Energie für die Betreuung und die Förderung. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?) Ich will dies an einigen Beispielen deutlich machen. Eine wirkliche Erleichterung ist die Verlängerung des Bewilligungszeitraums. (Beifall bei der SPD – Katja Kipping [DIE LINKE]: Das ist doch schon Praxis!) Zukünftig müssen Anträge auf Leistung nur einmal im Jahr gestellt werden. Mit dieser Änderung entfallen somit pro Jahr rund 2,5 Millionen Weiterbewilligungsanträge. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung? Markus Paschke (SPD): Ich würde gern erst einmal fortfahren. Vizepräsidentin Claudia Roth: Auch nicht von Frau Pothmer? Markus Paschke (SPD): Auch nicht von Frau Pothmer. Vizepräsidentin Claudia Roth: Gut, alles klar. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Markus, das hätte ich von dir nicht erwartet!) Markus Paschke (SPD): Haben Sie sich einmal durch diese Anträge hindurchgekämpft? Ich mache das im Rahmen meiner Bürgersprechstunden regelmäßig. Das Rauschen im Blätterwald ist beeindruckend, das Arbeiten darin mühselig. Denn es geht nicht nur um die Anträge, sondern auch um die damit verbundenen Unterlagen, die aber nun nur noch einmal im Jahr eingereicht werden müssen. Ein weiteres Beispiel ist die Gesamtangemessenheitsgrenze für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Zukünftig zählt die Summe für die Bewertung der Angemessenheit einer Wohnung. Es spielt – solange sich die Summe im Rahmen der Gesamtangemessenheitsgrenze bewegt – keine Rolle mehr, ob eine höhere Miete für eine Neubauwohnung mit höheren Standards, dafür aber mit niedrigeren Heizkosten, gezahlt wird oder ob die Miete niedriger ist, die Heizkosten aber höher sind. Ich finde es gut, dass zukünftig SGB-II-Bezieher nicht mehr von modernen Wohnungen ausgeschlossen sind, anders als bisher, als nur die Miete, die lediglich einen Teil der Gesamtkosten ausmacht, mit einer Angemessenheitsgrenze belegt wurde. Ansprüche nach dem SGB II können zukünftig auch nicht mehr gepfändet oder übertragen werden. Das ist eine Forderung, die die Betroffenen und ihre Interessenvertreter schon lange gestellt haben. Nach bisheriger Rechtslage muss jede erwerbsfähige leistungsberechtigte Person bei Krankheit einen gelben Schein vom Arzt vorlegen. Das gilt auch für Personen, die aktuell für eine Arbeitsaufnahme gar nicht infrage kommen, weil sie zum Beispiel eine Schule besuchen und einen Schulabschluss machen. Das entfällt nun für viele. Ich finde, das ist ein großer Fortschritt für die Betroffenen und auch im Hinblick auf die Bürokratieentlastung. Mit dem Gesetzentwurf stärken wir auch die Eingliederungsvereinbarung. Dazu gehört eine stärkere Nutzung der Potenzialanalyse; denn nur wenn klar ist, wo Stärken und Schwächen liegen, können Hilfe und Unterstützung effektiv geleistet werden. Damit soll der Gedanke des Förderns mehr Bedeutung bekommen. Wichtig ist mir insbesondere, dass diejenigen, deren Arbeitslosengeld zu gering ist, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, also diejenigen, die aufstocken müssen, zukünftig bei Weiterbildungen und bei der Jobsuche von der Bundesagentur für Arbeit unterstützt, gefördert und betreut werden. (Beifall bei der SPD) Das hat auch mit Anerkennung und Würde zu tun; denn sie haben sich Ansprüche nach dem SGB III erarbeitet. Sie haben in der Regel wahrscheinlich nur zu wenig verdient, um Ansprüche zu haben, die ausreichend sind, um ihr Leben zu gestalten. – Ich finde, all das sind Schritte in die richtige Richtung. Last, but not least sind die Verbesserungen bei der Ausbildungsförderung ein ganz wichtiger Punkt. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Karl Schiewerling [CDU/CSU]) Bisher war es so, dass jeder, der eine Ausbildung aufnahm, mit dem Tag, als er sie begann, weniger Geld zur Verfügung hatte, als wenn er im System des SGB II geblieben wäre. Das haben wir jetzt für viele geändert. Sie bekommen nicht mehr weniger Geld, sondern sie haben mindestens die gleichen Ansprüche wie vorher, und das ist auch gut so. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Karl Schiewerling [CDU/CSU]) Es ist kein Geheimnis, dass wir von der SPD-Fraktion gern noch mehr für die Menschen in unserem Land erreicht hätten. So hege ich zum Beispiel immer noch die Hoffnung, dass wir es schaffen, im parlamentarischen Verfahren den Gesetzentwurf um eine Bagatellgrenze für Rückforderungen zu ergänzen. Denn auch das wäre eine spürbare Entlastung für alle Beteiligten. Es kann doch nicht sein, dass durch eine Rückforderung von 5 Euro in den Ämtern Arbeitskosten von 50 Euro entstehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das steht wirklich in keinem Verhältnis. Das gilt allerdings auch für die Blockadehaltung der CSU beim Thema der Sanktionen. Kürzungen bei den Kosten der Unterkunft sind nicht nur sinnlos, sondern einfach nur gefährlich; sie gefährden Mietverhältnisse. Auch die besonders scharfen Regelungen für unter 25-Jährige haben alle Experten als nicht zielführend bezeichnet. Sie bringen nichts. (Beifall der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, und was macht die CSU?) Wir haben das hinlänglich diskutiert. Die CSU verhindert leider bis heute eine faire Lösung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Buh! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schmeißt die doch mal raus aus der Koalition!) Wer ständig Sand ins Getriebe streut, kann nicht der Motor der Nation sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Da Horst Seehofer zu Recht die Entwicklungen bei der Rente kritisiert hat – er bezeichnet sie als neoliberal –, gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass sich diese Erkenntnis auch in Bezug auf die Sanktionen durchsetzt. Mein Fazit für heute: Es ist ein guter Entwurf, der in die richtige Richtung geht. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Oh nein, nein, nein! – Gegenruf von der SPD: Doch!) Ich denke, wir werden im parlamentarischen Verfahren sicher noch über das eine oder andere reden können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Markus Paschke. – Das Wort hat nun der sehr verehrte Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh!) – Wenn Sie wüssten, wie er sich neben anderen Kolleginnen und Kollegen für Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Mitarbeiterkommission des Bundestages einsetzt, dann würden Sie das „sehr verehrter Dr. Zimmer“ verstehen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ich verstehe das! Nichts anderes haben wir erwartet!) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Katja Mast [SPD]: Jetzt ist aber gut!) Nach so einer freundlichen Begrüßung fällt es ausgesprochen schwer, das ein oder andere schärfere Wort anzubringen. (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Du hast dafür eine Minute mehr Zeit!) – Sehr schön. Wenn ich eine Minute mehr Zeit habe, dann kann man das ganz gut gestalten. Das, was der Kollege Strengmann-Kuhn sagt, regt eigentlich immer zum Nachdenken an. Aber in diesem Fall ist die ein oder andere Replik erforderlich. Da ist zunächst einmal, lieber Wolfgang Strengmann-Kuhn, der Begriff des Bürokratiemonsters aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, der mich begrifflich doch sehr an das Bürokratiemonster erinnert, das der Wirtschaftsflügel in Bezug auf die Aufzeichnungspflicht nach dem Mindestlohngesetz sieht. Ich habe mich gefragt, ob die Grünen bei dem Vokabular angekommen sind, das sie eigentlich immer haben wollten. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geht das auch in einfacher Sprache?) Auch das Thema Armut ist angesprochen worden. Ich möchte an dieser Stelle zwei Hinweise zum Thema Armut geben. Wir haben eine Einkommensspreizung, die unter Rot-Grün bis 2005 zugenommen hat und seitdem relativ stabil ist; sie wird sich durch den Mindestlohn vermutlich etwas abschwächen. Ich will dafür plädieren, dass man mit dem Begriff „Armut“ etwas vorsichtiger umgeht. Er ist auf der einen Seite eine wissenschaftliche Kategorie – das wissen wir beide relativ gut –, aber auf der anderen Seite ist er auch ein Begriff, der einen hohen Polarisierungseffekt hervorrufen kann. Davor sollten wir uns ein wenig hüten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben im letzten Jahr – ich will nicht sagen: gefeiert – daran gedacht, dass vor zehn Jahren Hartz-IV und SGB II auf den Weg gebracht wurden. Wir haben inzwischen das neunte Änderungsgesetz zum SGB II auf den Weg gebracht. Wir haben also statistisch gesehen fast jedes Jahr ein Änderungsgesetz vorgelegt, mit dem wir nachsteuern, mit dem wir die Instrumente schärfen, mit dem wir Verwaltung vereinfachen, mit dem wir für mehr Effizienz sorgen und durch die Rückmeldung der Praktiker vielleicht auch für ein klein wenig mehr Gerechtigkeit in den Verfahren sorgen. Karl Schiewerling hat es auf den Punkt gebracht, indem er gesagt hat: SGB II ist ein lernendes System. Ich finde, das ist auch gut so. Im Jahr 2005 hatten wir eine sehr hohe Anzahl an Arbeitslosen. Mittlerweile konnten wir einen deutlichen Rückgang bei der Arbeitslosigkeit verzeichnen. Die Erfahrungen, die wir zwischenzeitlich mit diesem Instrument gesammelt haben, gehen also in unsere Erörterungen ein. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Dr. Franziska Brantner? Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Gerne. Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herzlichen Dank für die Zulassung der Frage. Sie haben gerade so schön gesagt, das SGB II sei ein lernendes System, und man würde es weiter verbessern. Daher meine Frage: Wie wollen Sie im parlamentarischen Prozess mit dem Entwurf zur Neuregelung der temporären Bedarfsgemeinschaften umgehen? Das hat wichtige Auswirkungen auf die Alleinerziehenden. Eigentlich haben wir gelernt, dass es in diesem Bereich eine Unterfinanzierung gibt, wenn sich Eltern die Aufgabe teilen. Wie wollen Sie als Abgeordneter der Regierungskoalition mit diesem Entwurf umgehen? Oder wollen Sie lieber aus den Erfahrungen lernen und den Alleinerziehenden, die sich die Betreuung partnerschaftlich aufteilen, unter die Arme greifen? Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Verehrte Frau Kollegin Brantner, ich spüre in Ihrer Wortmeldung ein gewisses Bedauern darüber, dass Sie das SGB II vor zehn Jahren zwar auf den Weg gebracht haben, aber mittlerweile nicht mehr in der Lage sind, an der Verbesserung des SGB II mitzuarbeiten, weil Sie seit zehn Jahren in der Opposition sind. Gleichwohl: Wir haben von der Bundesregierung und von den Bundesländern ein Paket vorgelegt bekommen, das wir heute in die parlamentarische Beratung einbringen werden. Wie der Kollege Paschke schon gesagt hat: Es gibt von der einen oder anderen Seite sicherlich noch Wünsche, die Regelungen auf die eine oder andere Art und Weise zu ergänzen. Das werden wir in den parlamentarischen Beratungen berücksichtigen. Ich bin mir sicher, dass die Frage, die Sie angebracht haben, auch ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Beratungen sein wird. – Danke schön. Meine Damen und Herren, ich will drei besondere Neuerungen hervorheben, die mir in diesem Zusammenhang wichtig sind. Eine hat Markus Paschke eben schon erwähnt. Das ist die Entschärfung der Schnittstelle von Ausbildungsförderung und Grundsicherung. Die berufliche Ausbildung soll nicht dadurch verhindert werden, dass weniger Geld da ist als nach SGB II. Ich glaube, das ist eine sinnvolle Ergänzung dessen, was wir gestern im Zusammenhang mit dem Gesetz zur beruflichen Weiterbildung diskutiert haben. Die Logik dahinter ist schlicht und einfach, dass Bildung und Weiterbildung nachhaltiger sind als die schnelle Vermittlung in den Arbeitsmarkt. Ich glaube, das ist eine gute Erkenntnis, die wir in den letzten zehn Jahren gewonnen haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Der zweite Bereich – Karl Schiewerling hat ihn erschöpfend behandelt – ist der neue § 16 h SGB II, der gewissermaßen einen Auffangtatbestand für diejenigen Jugendlichen schafft, die durch die Raster fallen und durch die Hilfesysteme nach SGB III und SGB VIII oder auch durch die bisherige Ausgestaltung der Hilfesysteme nach SGB II nicht erfasst werden können. Ein dritter Bereich, der mir ganz besonders wichtig ist, ist die Stärkung der Eingliederungsvereinbarung. Ich glaube, es ist ein zentrales Element des Förderns und Forderns, dass wir die Eingliederungsvereinbarung stärken, dass wir eine Potenzialanalyse vornehmen und dies auch regelmäßig überprüfen und fortschreiben. Ich glaube persönlich – und da schaue ich jetzt besonders auf die Kolleginnen und Kollegen von der Linken –, dass dies zusätzlich auf beiden Seiten zu einer gewissen Ernsthaftigkeit führt und vielleicht die eine oder andere Sanktion überflüssig macht. Das wäre auch in unserem Interesse. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, man darf immer noch träumen. Wenn es nach mir ginge, dann würde ich drei Bereiche anführen, in denen ich noch Wünsche für das parlamentarische Verfahren hätte. Der erste Bereich ist die Zwei-in-fünf-Regelung, dass man also innerhalb von fünf Jahren nur zwei Jahre lang fördern kann. Ich finde, wir sollten überlegen, ob wir unter bestimmten Bedingungen, meinetwegen mit einer degressiven Ausgestaltung oder einer Verpflichtungserklärung von Arbeitgebern dahin gehend, dass jemand übernommen wird, ein drittes Jahr fördern können. Ich glaube, von den Praktikern würde dies als sehr sinnvoll erachtet. Ich glaube, wir tun uns einen großen Gefallen, wenn wir dieses Thema ernsthaft im parlamentarischen Verfahren erörtern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Der zweite Bereich, der in diesem Zusammenhang steht, ist die Förderung von Vollzeitmaßnahmen für die berufliche Weiterbildung auch dann, wenn sie nicht um ein Drittel verkürzt werden. Der Bundesrat hat das vorgeschlagen. Das ist im Ministerium auf wenig Gegenliebe gestoßen, aber ich halte es für eine sehr sinnvolle Angelegenheit, unter bestimmten Bedingungen das dritte Jahr zu fördern. Auch hier kann man sich darüber unterhalten, ob man dies an Bedingungen knüpft wie etwa an die Zusage eines Arbeitgebers für eine spätere Übernahme. Das halte ich auch für eine ausgesprochen sinnvolle Sache. Der dritte Bereich sind AGHs und die Stärkung lokaler Akteure. Es ist ein lang gehegter Wunsch, dass wir uns bei den Arbeitsgelegenheiten sehr genau darüber unterhalten, wie wir es hinbekommen, dass diese Kriterien nicht strikt angewendet werden, sondern dass die Sozialpartner vor Ort erhebliche Entscheidungsmöglichkeiten haben. Ich denke, wenn wir die Sozialpartner vor Ort stärken, dann können die Kriterien weitgehend wegfallen. Das gibt dann zwar einige Probleme, was den Nachvollzug in Nürnberg angeht, aber das gibt den lokalen Akteuren vor Ort erheblich mehr Flexibilität. Meine Damen und Herren, wir haben jetzt einen ersten Schritt gemacht, wir gehen in das parlamentarische Verfahren. Wir haben an der einen oder anderen Stelle noch eine größere Wunschliste, das ist eine ganz natürliche Entwicklung. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hier bei uns auch! Auch wir haben eine Wunschliste!) Auch der Bundesrat wird noch etwas mitreden können. Auch die Opposition wird mitreden, verehrte Frau Pothmer, dessen bin ich mir sicher. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, lieber Kollege Zimmer. – Der nächste Redner ist Dr. Matthias Bartke für die SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Matthias Bartke (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Sommer 2014 gab es eine Koalitionsgruppe zur Flexirente. Die Arbeitsgruppe hatte damals länger als ein Jahr verhandelt. Unsere Fachsprecherin, Katja Mast, hatte das zum Anlass genommen, die Verhandlungsdauer mit der Schwangerschaft eines Nashorns zu vergleichen. (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Das Gesetz ist schöner als ein Nashorn!) Nun debattieren wir heute nicht über Rentenfragen, sondern über Rechtsvereinfachungen im SGB II, und die basieren auf den Vorstellungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe aus dem Jahr 2014. Um bei den Dickhäutern zu bleiben: Die 540 Tage einer Nashornschwangerschaft haben wir schon überschritten, die zwei Jahre einer Elefantenschwangerschaft sind in Sicht. Es steht zu hoffen, dass wir sie nicht erreichen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Im Vorfeld hat der bayerische Löwe Seehofer schon einmal gebrüllt. Löwen sind bekanntermaßen keine Dickhäuter. Herr Seehofer hat gesagt – das ist weniger spaßig –: Das Verwässern der Sanktionen bei Drückebergern wird die CSU verhindern. Ganz unabhängig vom Stil dieser Aussage ist sie inhaltlich falsch. Herr Seehofer bezog sich auf das Vorhaben unserer Ministerin Andrea Nahles, die verschärften Sanktionsregeln für unter 25-Jährige abzuschaffen und sie denen für ältere Arbeitsuchende anzupassen. Außerdem sollte die Kürzung bei den Kosten für Unterkunft und Heizung abgeschafft werden. Auf dieses Vorhaben hatten wir uns mit sämtlichen Experten bereits geeinigt. Gemeinsame Erkenntnis war: Die teilweise überharte Sanktionierung von Jugendlichen und die Streichung der Kosten für Unterkunft wirken kontraproduktiv. Herr Strengmann-Kuhn hat das eben durchaus zutreffend dargestellt. Deswegen sage ich: Schlecht gebrüllt, bayerischer Löwe! (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und? Konsequenz?) Nach der Verweigerungshaltung der CSU hat sich unsere Ministerin Nahles entschieden, die Verbesserung des Sanktionsregimes vom restlichen Gesetzgebungsverfahren abzukoppeln; denn die anderen mit dem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Rechtsvereinfachungen sind dringend notwendig. Wir wollen die unnötige Bürokratie in den Jobcentern abbauen. Die Jobvermittler sollen die Chance haben, ihrer Berufsbezeichnung gerecht zu werden, und nicht ihre ganze Energie auf Verwaltungsvorgänge verwenden müssen. Meine Damen und Herren von der Linken, erfreulicherweise konnten auch Sie sich durchringen, in Ihrem Antrag Vorschläge des Gesetzentwurfs zu begrüßen. Ich war, ehrlich gesagt, überrascht. Sie beziehen sich dabei insbesondere auf die Verlängerung der Dauer der Bewilligung der Bescheide auf zwölf Monate und die Einschränkung der Verpflichtung zur Krankmeldung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich sage Ihnen aber: Der Gesetzentwurf enthält noch deutlich mehr Verbesserungen. Leider haben Sie die nicht erkannt, und leider erheben Sie am Ende doch wieder nur Ihre alte Forderung, Sanktionen komplett abzuschaffen. Dabei war Ihr Antrag zu Beginn deutlich differenzierter. Sie haben ebenso wie ich kritisiert, dass die Sondersanktionen für Jugendliche und die Kürzung bei den Kosten der Unterkunft nicht abgeschafft werden. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung oder -frage von Herrn Birkwald von der Linken? Dr. Matthias Bartke (SPD): Da er das vorher schon so nett angekündigt hat, gerne. Vizepräsidentin Claudia Roth: Wie? So geht das aber nicht. So läuft das nicht – damit das ganz klar ist. (Heiterkeit – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Abgesprochene Zwischenfragen? Wo gibt es denn so was?) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Kollege Bartke, dass Sie die Zwischenfrage zugelassen haben. Sie haben eben gesagt, dass Sie sich dafür aussprechen, die verschärften Sanktionen für Jugendliche abzuschaffen. Das erkenne ich ausdrücklich an, auch wenn ich alle Sanktionen abgeschafft haben will. Ich frage Sie als SPD-Abgeordneten, weil die SPD das Familienministerium besetzt, warum Sie Alleinerziehende und Kinder mit diesem Gesetz so strafen. Ich zitiere aus der heutigen Ausgabe der Welt. Die Überschrift lautet: Hartz-IV-Reform trifft vor allem Trennungskinder – Bundesregierung will Alleinerziehenden Geld streichen, wenn der Nachwuchs tageweise beim anderen Elternteil ist. Die Kollegin Brantner hatte das Thema ja eben angesprochen. Es ist so, dass alleinerziehende Frauen, wenn sie das Kind für ein Wochenende zum Vater geben, Geld abgezogen bekommen. Das Kinderzimmer bleibt aber, die Zahnbürste bleibt, und alle anderen Aufwendungen für das Kind bleiben auch. Die Familienverbände sagen unisono: Das ist völliger Unsinn. Sie fordern im Gegenteil einen Umgangsmehrbedarf. Das fordert nicht nur ein Familienverband, sondern drei, und auch der Deutsche Juristinnenbund. Meine Frage an Sie, da die SPD die Familienministerin stellt: Warum belasten Sie Alleinerziehende, die zu 40 Prozent voll oder ergänzend auf Hartz IV angewiesen sind, mit diesem Gesetz so enorm? Ich finde, wir sollten etwas für Kinder und Jugendliche und für Alleinerziehende tun und sie nicht noch bestrafen. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Matthias Bartke (SPD): Um es vorab zu sagen: Die Frage war angekündigt, aber nicht der Inhalt der Frage. Deswegen sage ich Ihnen: Ich freue mich, dass Sie so konstruktiv an den Beratungen teilnehmen. Ich würde mich auch freuen, wenn Sie weiterhin so konstruktiv agierten (Katja Kipping [DIE LINKE]: Es wäre schön, wenn Sie etwas von den Vorschlägen übernehmen würden!) und in den Ausschussberatungen zur Sache argumentierten. Ich will jetzt nicht ins Detail gehen. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Jetzt bin ich aber auch auf die Antwort gespannt! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In unserem Antrag ist ein Vorschlag dafür! Den kann man übernehmen!) – Ich erläutere das nicht weiter. Es ist damit beendet. Der Gesetzentwurf enthält noch deutlich mehr Verbesserungen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Moment. War das jetzt die Antwort? Dr. Matthias Bartke (SPD): Das war die Antwort. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das war die Antwort?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Ach so, gut. Dr. Matthias Bartke (SPD): Zum Thema Sanktionen haben Sie eine Kleine Anfrage gestellt, über deren Beantwortung durch die Bundesregierung letzte Woche in der Presse breit diskutiert wurde. Da fand sich unter anderem die Schlagzeile: Fast 40 Prozent der Klagen gegen Sanktionen sind erfolgreich. Ich sage Ihnen, Herr Birkwald, ausdrücklich Danke für diese Anfrage. Die Zahlen alarmieren auch uns. Jede unrechtmäßige Sanktion ist eine zu viel. Auf die Gründe dafür müssen wir ein Auge haben, und wir müssen daraus unsere Konsequenzen ziehen. Aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen: Das wird nicht die Abschaffung der Sanktionen sein, wie Sie direkt wieder geschlussfolgert haben. In dieser Position hat uns die Mehrheit der Experten in der letztjährigen Anhörung bestätigt. Mir ist besonders wichtig, dass die Beratung als ausdrückliche Leistung des Gesetzes in den vorliegenden Gesetzentwurf eingeführt wird. Die Beratung ist in der Vergangenheit oft zu kurz gekommen. Ich wünsche mir, dass der fördernde Charakter dieser Regelung gelebt werden wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Eine Beratung ist erst dann durch Wertschätzung geprägt, wenn sie auf Augenhöhe erfolgt. Unter dieser Voraussetzung kann sie den Leistungsempfänger darin unterstützen, seine Hilfebedürftigkeit zu überwinden: Welche Möglichkeiten zum Nachholen von Qualifikationen gibt es? Wo bestehen Chancen zum beruflichen Aufstieg? Zukünftig soll außerdem für jeden erwerbsfähigen Leistungsberechtigten eine Potenzialanalyse der bisherigen Eingliederungsvereinbarung vorgeschaltet werden. Individuelle Potenziale statt standardisierte Verwaltungspraxis haben hier neuen Raum. In der Eingliederungsvereinbarung wird dann festgelegt, in welche Tätigkeitsbereiche vermittelt werden soll. Damit können Vermittlungen unterhalb vorhandener Qualifikationen verhindert werden. Mit dem Gesetz entfällt in Zukunft auch die Darlehensregelung, wenn eine Maßnahme nach Wegfall der Hilfebedürftigkeit weiter gefördert wird. Den Teilnehmern wird es so erleichtert, die Maßnahme abzuschließen. Außerdem müssen sie nicht mit Schulden in die Erwerbstätigkeit starten. Am Schluss noch zu einer mir besonders wichtigen Regelung, die auch schon Frau Staatssekretärin Lösekrug-Möller dargestellt hat. Auszubildende und Schüler, die BAföG erhalten, sollen künftig aufstockend Arbeitslosengeld II erhalten können. Wenn eine Ausbildung allein durch die Ausbildungsvergütung nicht finanziert werden kann, ist das meistens schon der Anfang vom Ende. Durch die Neuregelung werden Aufnahme und Absolvierung einer Ausbildung endlich erleichtert. Uns liegt am Herzen, dass wir für die Leistungsempfänger Verbesserungen erreichen. Ich bin überzeugt, dass wir mit dem Gesetzentwurf die besten Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Auch in meiner Fraktion sind wir noch nicht vollends zufrieden, und – Herr Schiewerling hat es eben angekündigt – wir werden noch über unterschiedliche Änderungswünsche gemeinsam diskutieren. Ich freue mich daher auf das Beratungsverfahren und setze auf die Zusammenarbeit auch mit Ihnen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Bartke. – Der nächste Redner in der Debatte: Kai Whittaker für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Kai Whittaker (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Politik beginnt ja bekanntlich mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Der eine muss sie etwas länger betrachten als der andere, um sie zu erkennen, aber am Ende bleibt es dieselbe Wirklichkeit. Wenn ich mir die eine oder andere Rede der Opposition hier anhöre, dann habe ich den Eindruck, dass Sie heute beim Betrachten noch etwas Nachhilfe brauchen. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Neue Brille!) Ich bin meinem AG-Chef Karl Schiewerling sehr dankbar dafür, dass wir heute dieses Gesetz auf den Weg bringen können, in dem wir nicht nur die technischen Vereinfachungen bei Hartz IV, auf die sich Bund und Länder geeinigt haben, durchsetzen, (Katja Kipping [DIE LINKE]: Meinen Sie die Wirklichkeit, mit 9 Euro am Tag auskommen zu müssen?) sondern auch noch einmal den Instrumentenkasten in den Blick nehmen. Warum ist der Instrumentenkasten so wichtig? Uns, der Union, ist es wichtig, Menschen wieder in Arbeit zu bringen anstatt sie teuer und ineffizient zu verwalten. Das ist der Punkt, den wir mit dieser Reform machen. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das passiert aber mit dem Gesetz nicht! Das ist überhaupt nicht drin!) Menschen, die lange arbeitslos sind, haben viele soziale Probleme und einen langen und steilen Weg zurück in die Arbeitswelt vor sich. Sie brauchen Hilfe, indem wir ihnen eine Treppe in diesen ersten Arbeitsmarkt bauen. Mit diesem Gesetz bauen wir ein paar Stufen in diese Treppe ein. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich möchte heute auf eine dieser Stufen hinweisen, weil sie mir persönlich sehr wichtig ist, nämlich die Öffnung der Integrationsbetriebe. Ich halte das für einen Meilenstein. Denn wir, die Union, waren immer der Ansicht, dass wir lieber Arbeit als Nichtstun finanzieren. Diese Integrationsbetriebe schaffen genau das. Sie sind ein gutes Beispiel. Sie sind ein Erfolgsmodell. Das ist der Unterschied zwischen uns und Ihnen: Sie wollen Langzeitarbeitslose in einem sogenannten dritten sozialen Arbeitsmarkt parken und sie so aus der Statistik heraushaben, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ordentlich bezahlen!) weil Sie den Glauben an diese Menschen verloren haben. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Die Statistik macht Ihre Regierung! Sie schönt die Statistik!) Das ist die Wahrheit. Wir hingegen möchten mit den Integrationsbetrieben ein Mittel finden, wie wir diese Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zurückbekommen. Diese Integrationsbetriebe sind kein dritter Arbeitsmarkt, und sie arbeiten auch nicht im zweiten Arbeitsmarkt, sondern sie sind mittendrin im wirtschaftlichen Leben im ersten Arbeitsmarkt. Deshalb halte ich diesen Schritt für wichtig. Wir öffnen den Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Langzeitarbeitslose. Es ist zugegebenermaßen eine vorsichtige Öffnung, weil wir die Integrationsbetriebe auch nicht überlasten wollen. Aber für über 80 000 Menschen in diesem Land ist das eine echte Perspektive, ein erster kleiner Schritt. Jede große Reise beginnt eben mit dem ersten Schritt. Deshalb bin ich darüber sehr glücklich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es gibt im Gesetzentwurf noch viele weitere Verbesserungen, die schon angesprochen worden sind: Wir führen ein Profiling ein. Da machen wir nichts anderes, als die Stärken der Langzeitarbeitslosen zu analysieren, um zu erfahren, was sie können und wo wir sie noch fördern können. Wir führen für Langzeitarbeitslose, die wieder in den ersten Arbeitsmarkt kommen, eine nachgehende Betreuung ein, damit sie stabil bleiben und nicht in die Langzeitarbeitslosigkeit zurückfallen. Wir machen auch im Bereich der Ausbildung etwas. 57 Prozent der Langzeitarbeitslosen haben keine Ausbildung. Würden sie eine machen, verdienten sie mit ihrem Azubigehalt weniger, als wenn sie weiterhin Hartz IV bekämen. Das habe ich nicht verstanden, das haben wir nie verstanden, und deshalb ändern wir das jetzt, indem wir Hartz IV für Langzeitarbeitslose, die eine Ausbildung machen wollen, öffnen. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Hartz IV ist schon lange offen für Langzeitarbeitslose!) Gibt es noch Potenzial nach oben, Herr Strengmann-Kuhn? Natürlich gibt es das. Es handelt sich um einen Gesetzentwurf der Ministerin. Das parlamentarische Verfahren beginnt erst. Jetzt sind wir gefordert. Ich denke, in den nächsten Wochen werden wir noch einige Verbesserungen in das Gesetz einfließen lassen können. Jetzt können Sie uns vorwerfen, das alles sei nur ein Reförmchen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das finden Sie doch auch!) Aber den Vorwurf, dass die Große Koalition nur noch kleine Gesetze durchbringt, lasse ich Ihnen nicht durchgehen. Denn wenn man sich grundsätzlich über Hartz IV unterhält, dann muss man feststellen, dass man auch bei Ihnen nicht wirklich fündig wird. Sie möchten Hartz IV am liebsten abschaffen: Augen zu, Geld an die Langzeitarbeitslosen überweisen und versprechen, dass Deutschland ein Land ist, in dem Milch und Honig fließen. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Völliger Blödsinn! – Katja Kipping [DIE LINKE]: Haben Sie mal unsere Vorschläge zum aktiven Arbeitsmarkt gelesen?) Aber Sie bringen mit diesen Maßnahmen keinen einzigen Menschen zusätzlich in Arbeit. Zugleich versteifen Sie sich nur auf das Thema „Sanktionen abschaffen“. Auch da hilft, finde ich, die Betrachtung der Wirklichkeit. Wir haben letztes Jahr gelernt, dass die Sanktionsrate in diesem Land bei circa 1 Prozent der Fälle liegt. 1 Prozent! (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das stimmt nicht! Nein, nein, nein!) In Großbritannien sind es 5 Prozent, in den Niederlanden sind es 35 Prozent. Wenn Sie sagen, dass in Deutschland eine Herrschaft des Sanktionsregimes besteht, muss ich Ihnen entgegnen: Das ist nicht der Fall. Ich finde, wir sind, was Sanktionen angeht, ziemlich harmlos unterwegs. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wenn es nur 1 Prozent ist, kann man es doch abschaffen!) Von den Grünen höre ich die Sätze, dass man das Verfahren vereinfachen und Hartz IV einfacher gestalten möchte. Das möchte ich auch sehr gerne. Aber wenn man sich Ihre Anträge anschaut, stellt man fest, dass sie genau das Gegenteil bewirken würden. Sie wollen letztlich eine komplett individuelle Betrachtung der Leistungen der Menschen. Für jeden einzelnen Euro, der ausgezahlt wird, soll eine individuelle Auswertung, eine individuelle Einschätzung vorgenommen werden, damit sich am Ende keiner beschweren kann. Damit sorgen Sie nur für Bürokratieaufwuchs. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich weiß wirklich nicht, was Sie da gelesen haben!) Wir brauchen eigentlich genau das Gegenteil, nämlich mehr Pauschalierung. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Klar, da sind wir uns sogar einig!) Wir bräuchten Pauschalierung bei den Wohnkosten, wir bräuchten Pauschalierung bei den Bagatellgrenzen etc. pp. Aber davon ist bei Ihnen momentan wenig zu sehen. Sie verlieren sich im Klein-Klein. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung oder -frage von Frau Kipping? Kai Whittaker (CDU/CSU): So kurz vor dem Ende meiner Rede, ehrlich gesagt, nicht mehr. Nein, danke. Ich möchte noch einmal deutlich machen: Wenn wir Hartz IV reformieren wollen, brauchen wir Pauschalierungen in der Art, wie ich es gerade gesagt habe. Wir brauchen auch eine wesentlich bessere individuelle Betreuung der Menschen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber dann machen Sie es doch, Herr Whittaker!) Denn wenn die Hälfte der Jobcenter-Mitarbeiter nichts anderes zu tun hat, als auszurechnen, wie viel Euro ein Mensch am Ende des Monats überwiesen bekommt, dann helfen wir zu wenig und verwalten zu viel. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum macht ihr es dann nicht?) Da müssen wir noch einmal ran. Ich muss aber ehrlich sagen: Ich sehe weder bei Ihnen von den Linken noch bei Ihnen von den Grünen den Willen, das zu tun. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber bei Ihnen, ja?) Wenn ich in die Gesichter hier schaue, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verzweiflung!) denke ich, dass ich Ihnen bei der Betrachtung der Wirklichkeit auf die Sprünge geholfen habe. Zumindest bestätigt sich Schopenhauers Aussage, der einmal festgestellt hat: Im Reiche der Wirklichkeiten ist man nie so glücklich wie im Reiche der Gedanken. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Whittaker. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Kipping. Katja Kipping (DIE LINKE): Herr Whittaker, Sie haben ja versucht, uns zu belehren, und den Eindruck erweckt, dass es Sanktionen nur bei 1 Prozent der Fälle gibt. Deswegen sei das alles nicht schlimm. Dazu muss ich sagen: Da sind Sie schlecht informiert. Ich beziehe mich hier auf Zahlen, die uns die Bundesregierung als Antwort auf eine Anfrage geliefert hat: Es sind 3 Prozent aller infragekommenden Personen, die sanktioniert werden. Wenn man zusammenzählt, wie viele Sanktionen verhängt worden sind, so stellt man fest, dass es im letzten Jahr fast 1 Million, nämlich 980 000, waren. Bei den unter 25Jährigen, bei den Jugendlichen liegt die Rate der Betroffenen sogar bei 4 Prozent. Hinzu kommt: Nicht nur diejenigen, gegen die tatsächlich eine Sanktion verhängt worden ist, sind davon betroffen, sondern auch viele andere, weil die Möglichkeit einer willkürlichen Kürzung wie ein Damoklesschwert über vielen hängt. Das führt natürlich auch zu entsprechenden Ängsten. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Whittaker, Sie haben die Möglichkeit zu einer Erwiderung. Kai Whittaker (CDU/CSU): Vielen Dank. – Frau Kollegin Kipping, ich beziehe mich auf eine Studie von Spermann, die vorletztes Jahr herausgekommen ist. Da ist von 1 Prozent die Rede. Aber ob es jetzt 1, 2 oder 3 Prozent sind: (Katja Kipping [DIE LINKE]: Antwort der Bundesregierung!) Im europäischen Vergleich ist Deutschland nicht das Land, als das Sie es hinzustellen versuchen. Es ist nicht so, dass wir hier mit der Sanktionsmachete herumlaufen und die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir versuchen, zu helfen, wo wir können. Andere Länder sind da wesentlich strenger unterwegs. Deshalb ist Ihre Aussage schlicht und ergreifend eine politische Nebelkerze. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zurufe von der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege. – Der letzte Redner in der Debatte – wir haben ja viel vom bayerischen Löwen geredet; jetzt kommt der Löwe aus dem Allgäu –: Stephan Stracke. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie die Latte aber hochgehängt!) Stephan Stracke (CDU/CSU): Liebe Frau Präsidentin, vielen herzlichen Dank für das sehr schöne Intro. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist tatsächlich in einer hervorragenden Verfassung. Dazu trägt Bayern als Jobmotor und Stabilitätsanker in vielen Bereichen maßgeblich bei. Wir haben weniger Arbeitslose, mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und deutlich über 630 000 offene Stellen. Davon profitieren natürlich auch diejenigen, die sich auf dem Arbeitsmarkt schwertun: Ältere, Menschen mit Behinderung, aber auch Langzeitarbeitslose. Sicherlich ist auch die Erkenntnis richtig, dass Langzeitarbeitslose zu wenig von dieser Entwicklung profitieren. Dabei haben wir schon einiges auf den Weg gebracht, um in diesem Bereich für Verbesserungen zu sorgen. Der Schlüssel liegt aber vor allem in einer persönlichen Beratung vor Ort. Genau da setzt der vorliegende Gesetzentwurf an. Mit diesem Gesetzentwurf werden das Leistungs- und Verfahrensrecht des SGB II und damit die Arbeit der Jobcenter deutlich vereinfacht. Unnötige Bescheide, Anrechnungsregeln, Verfahrensvereinfachungen – auf all das zielt der Gesetzentwurf ab, und wir nehmen damit in diesem Bereich eine zentrale Weichenstellung vor. Diese Erleichterungen sind in der Tat überfällig. Hierüber gab es schon eine lange Debatte. Es wurden durch eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe Vorbereitungen getroffen. Mich erstaunt, wie viele Vorschläge hier neuerdings vonseiten der Bundesländer auf den Tisch gekommen sind. Ich glaube, im Rahmen der anstehenden Debatte müssen wir uns auf das Wesentliche konzentrieren und dürfen uns nicht mit der Beratung kleinteiliger Vorschläge verzetteln. Ich bin auf die entsprechende Sachverständigenanhörung gespannt, die wir in diesem Bereich vornehmen wollen. Interessant ist im Rahmen dieser Debatte, welche Vorschläge vonseiten der Opposition unterbreitet werden. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Gute! Gute Vorschläge!) Oftmals zielen diese Vorschläge darauf ab, die Zielrichtung des Gesetzes zu sprengen. Sie stellen häufig ein ganzes Sammelsurium dar. Entscheidend ist aber wohl die Frage der Sanktionen. Die Linken fordern eine sanktionsfreie Mindestsicherung. Die Grünen positionieren sich mit der Forderung, die Sanktionen auszusetzen. Dem stellen wir entgegen: Wir halten an Sanktionen fest, weil wir sie für richtig erachten. Jeder hat Verantwortung: Verantwortung für sich, aber auch Verantwortung gegenüber denjenigen, die einem helfen und einen unterstützen. Deshalb ist es nur fair, dass es keine Leistung ohne Gegenleistung gibt. Für uns gilt das Prinzip des Förderns und Forderns. Dass der diesem Prinzip zugrundeliegende Gedanke jetzt auch von der Koalition noch einmal unterstrichen wird, zeigen die Ergebnisse des Koalitionsausschusses. Wir haben uns dort darauf verständigt, ein Integrationsgesetz auf den Weg zu bringen, gerade unter dem Leitgedanken des Förderns und Forderns. Das ist genau das Richtige. Was wir nicht tun, ist, zu lasche Sanktionen zu verhängen. Deswegen haben wir uns dagegen gesperrt. Wir sperren uns allerdings nicht gegen Vereinfachungen im Sanktionsrecht, etwa was Pauschalierungen oder anderes angeht. Aber Sanktionen müssen weiter wirksam bleiben. Sie müssen weiterhin wirksame Anreize bieten, damit diejenigen, die mit den Jobcentern zu tun haben, mit diesen kooperieren, aktiv nach Arbeit suchen und insgesamt rascher eine Arbeit aufnehmen. All dies ist in diesem Bereich unumstritten. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn wir über bestehende Instrumente reden, die wir unter Umständen gemeinsam ausbauen wollen, dann muss allerdings noch eine andere Sache stimmen, nämlich die Sicherstellung der Mittelausstattung der Jobcenter und eine faire Verteilung der Finanzlasten auf alle Bundesländer. Es gilt ja: Ohne Geld ist vieles nichts. Deswegen muss es auch um die Verteilung der Eingliederungsmittel im SGB II gehen. Das tun wir im Bereich der Flüchtlinge, indem wir dem Grundsatz folgen: Das Geld soll dorthin fließen, wo die Arbeit anfällt. Wir müssen noch genauer hinschauen, wo die Arbeit tatsächlich anfällt. Zum anderen müssen wir auch sehen, dass die Gelder dorthin fließen, wo die Langzeitarbeitslosen sind. In Teilen Deutschlands, auch in Bayern, haben wir es mit Menschen zu tun, die sich in einer Situation verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit befinden. Für diese sind höhere Aufwendungen nötig, um ihnen gute Chancen zu geben. Deswegen müssen wir die Mittelausstattung noch einmal verändern. Das werden wir im Rahmen der anstehenden Beratungen zu einem der Kernbestandteile machen. Ich freue mich auf die Beratungen. Ich glaube, das führt dazu, dass wir diesen Gesetzentwurf noch besser machen. Die Vorlage ist ganz ordentlich. Herzliches Dankeschön! (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Stracke. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/8041, 18/8076 und 18/8077 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, bitte ich alle, die nicht zuhören oder sich beteiligen wollen, um beschleunigte Platzwechsel. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 d auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 30 Jahre Tschernobyl, 5 Jahre Fukushima – Atomausstieg konsequent durchsetzen Drucksache 18/7656 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Atomkraftwerk Cattenom sofort abschalten Drucksache 18/7668 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine öffentlichen Forschungsgelder für den Wiedereinstieg in atomare Technologien – 6. Energieforschungsprogramm vollständig in Richtung Energiewende weiterentwickeln Drucksache 18/5211 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Federführung strittig d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für mehr Transparenz in der Internationalen Atomenergie-Organisation sowie eine starke und unabhängige Weltgesundheitsorganisation Drucksachen 18/7658, 18/8101 Ich würde gerne die Debatte eröffnen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, mir nicht den Rücken zuzudrehen, sondern Platz zu nehmen, damit wir mit der Debatte beginnen können. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre und sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich gebe der ersten Rednerin in dieser Debatte das Wort. Das ist Sylvia Kotting-Uhl für Bündnis 90/Die Grünen. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 26. April 1986 hat sich mir, damals Mutter mit kleinen Kindern, als Datum unauslöschlich eingebrannt. Natur, vor allem Regen, war plötzlich gefährlich, meine alternative Selbstanbauerei ungesünder als alte Konserven, Leben und Vertrauen in das Dasein plötzlich auf den Kopf gestellt und alles Handeln geprägt von der Sorge, die Kinder zu schützen. Was war das alles für ein Federstrich im Vergleich zum Leben der Menschen um Tschernobyl herum bzw. in Weißrussland – das Land, das den größten Niederschlag des atomaren Fallouts zu ertragen hatte. Schauen wir heute nach Tschernobyl, dann sehen wir, dass der damals von den Liquidatoren unter dem Einsatz der eigenen Gesundheit aufgebaute Sarkophag vor sich hin rottet. Das Gelände hat sich zu einem tödlichen Biotop entwickelt. Menschen kämpfen um ein bisschen Entschädigung vom Staat. Spricht man mit ihnen, dann hört man: Die meisten von ihnen leiden unter einem geschwächten Immunsystem. Sie haben Angst vor Krebs. – Junge Frauen, die Kinder von Tschernobyl, die nun ihrerseits Kinder bekommen, haben, leider berechtigt, eine sehr viel größere Angst als Frauen an anderen Orten der Welt, Kinder mit Schädigungen zur Welt zu bringen. 30 Jahre danach muss man sagen: Es ist noch lange nicht vorbei. Spreche ich mit Menschen in Fukushima, dann erfahre ich, dass auch dort die Angst um die Kinder präsent ist. Auffällig sind Anomalien an ihren Schilddrüsen. Bauern haben Sorge, ihre Existenzgrundlage vollständig zu verlieren, auch wenn sie nicht in belasteten Gebieten leben; denn keiner in Japan will ihre Produkte mehr kaufen. Ähnlich geht es den Fischern in der Präfektur Fukushima. Auch deren Fänge will niemand mehr kaufen, geschweige denn essen. Sie versuchen alles, um zu überleben. Und auf der Anlage wird alles versucht, um an dem Ort der Kernschmelzen die Folgen in den Griff zu bekommen. Ich war dort, und ich kann die Menschen, die dort arbeiten, nur bewundern. Sie schalten Hoffnung und die Gedanken an erreichbare Ziele ihres Tuns aus, weil sie sonst aufhören müssten. Sie versuchen alles und wissen fünf Jahre danach: Es ist noch lange nicht vorbei. Es gibt auch andere schwere Schicksale auf der Welt; das ist völlig richtig. Das alles ist aber so unnötig. Atomkraft ist eine Technologie, die die Welt nicht braucht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) In Deutschland sind wir auf dem Weg, diese Erkenntnis in die Realität umzusetzen. Und die Frage, die sich stellt, lautet: Was können wir tun, um andere Länder von der Richtigkeit dieses Weges zu überzeugen? Das Beste, was wir tun können, ist natürlich, ein gutes, gelingendes Beispiel zu geben, zu zeigen, dass Atomausstieg, Klimaschutz, hoher Lebensstandard und Wirtschaftskraft zusammengehen, ja, sich sogar gegenseitig befördern können und sich nicht im Wege stehen. Um glaubwürdig zu sein, muss man aber auch konsequent sein. Nicht konsequent ist es, einen Abschaltplan für Atomkraftwerke vorzulegen, aber keinen Abschaltplan für die Urananreicherungsanlage in Gronau und die Brennelementefabrik in Lingen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nicht konsequent ist es, sich nicht der Klage anderer Länder gegen die Subventionen für ein geplantes AKW-Projekt – ich rede von Hinkley Point in Großbritannien – anzuschließen. Nicht konsequent ist es auch, über Euratom und das nationale Energieforschungsprogramm viel Geld in die atomare Forschung zu stecken, übrigens ganz im Widerspruch zu Ihrem eigenen Koalitionsvertrag, in dem Sie festgeschrieben haben, dass die Energieforschung vollständig auf die Energiewende ausgerichtet werden soll. Das Argument, das ich höre, wenn ich das anspreche, lautet: Wir wollen national den Anschluss nicht verlieren. – Ich frage Sie: Den Anschluss woran, bitte? Den Anschluss an die Weiterentwicklung einer Technologie oder, im Falle des Ausstiegs, im Rahmen von Transmutation in den Wiedereinstieg in eine Technologie, von der wir hier in Deutschland sagen, dass ihr Risiko der Gesellschaft nicht mehr zumutbar ist? Wie konsequent ist das denn? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Anderen Bevölkerungen und Gesellschaften wollen wir zumuten, was wir hier für nicht mehr zumutbar halten? Solches Agieren macht neben der Geldverschwendung auch unser eventuell gutes Beispiel zahnlos. Unglaubwürdigkeit ist das Ende der Überzeugungskraft. Doch auch die deutsche Bevölkerung ist angesichts der Alterung der europäischen Atomkraftwerke bedroht. Die atomaren Altlasten an unseren Grenzen sind ins Gerede gekommen. Fessenheim, Cattenom, Doel, Tihange, Temelin, Beznau, Leibstadt sind Namen, bei denen man nicht an schöne Landschaften oder kleine Städtchen denkt, sondern an fehlende Sicherheitsvorkehrungen in Atomkraftwerken, mangelhafte Erdbeben- oder Überschwemmungsauslegungen und an Löcher in Herzen von Reaktordruckbehältern. Diplomatie und das Hoffen auf das eigene Beispiel geraten dort, wo die eigene Bevölkerung bedroht ist, an ihre Grenzen. Ursächlich für die prekäre Situation ist wieder einmal der uralte Euratom-Vertrag. Jedes Land übt seine Atomaufsicht souverän aus – das ist die Standardantwort der Bundesregierung auf meine Anfragen. Liebe Bundesregierung, ich vermisse Ihre Initiative zu einer Reform des Euratom-Vertrages. Ich vermisse Ihre Initiative, diesen Uraltvertrag, wenn er schon nicht abgeschafft werden soll, doch zumindest so grundsätzlich zu reformieren, dass Regelungen, wonach jedes Land völlig souverän und ohne Rücksicht auf die Nachbarn, die von einem GAU bedroht wären, die Aufsicht über seine Atomkraftwerke und deren Sicherheit ausübt, geändert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Hans Blix sagte nach dem GAU von Tschernobyl als damaliger Direktor der IAEO, angesichts der Wichtigkeit der Kernenergie könne die Welt jedes Jahr einen Unfall vom Ausmaß Tschernobyls ertragen. Ein Blick nach Tschernobyl 30 Jahre nach dem Unfall oder nach Fukushima 5 Jahre danach macht den ganzen Wahnsinn einer solchen Aussage klar. Lassen Sie uns mit allen Kräften und mit allen Mitteln dafür sorgen, dass Tschernobyl und Fukushima sich nicht wiederholen – nicht bei uns, nicht an unseren Grenzen, nirgendwo auf der Welt! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben Ihnen heute mit unserem zugegebenermaßen umfassenden Antrag einen ganzen Katalog von Maßnahmen vorgelegt, die genau dafür Hilfestellung geben. Ich bitte Sie, sich in den Beratungen auf uns zuzubewegen und am Ende diesen Antrag mit uns gemeinsam zu beschließen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Sylvia Kotting-Uhl. – Der nächste Redner in der Debatte: Steffen Kanitz für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Steffen Kanitz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erinnern in diesem Jahr an die katastrophalen Unfälle von Tschernobyl vor 30 Jahren und an die schrecklichen Ereignisse von Fukushima vor 5 Jahren. Völlig unabhängig davon, wie viele Tote wir durch diese Ereignisse zu beklagen haben, können und müssen wir feststellen: Jedes Opfer war eines zu viel. Wir denken aber nicht nur an die Opfer der Vergangenheit, sondern auch an die betroffenen Menschen in den Regionen von Tschernobyl und Fukushima, die dort heute noch leben. Wir müssen diese Regionen mit unserem Wissen und unserer Tatkraft finanziell unterstützen und auch weiterhin vor Ort humanitäre Hilfe leisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich stimme Ihnen zu, dass diese Katastrophen und ihre Auswirkungen ein sehr sensibles Thema sind. Jedoch ist es, glaube ich, wichtig, dass diese Vorfälle nicht – von keiner Seite – instrumentalisiert werden. Wir sollten vielmehr versuchen, diese Ereignisse, so schlimm sie auch waren, sachlich einzuordnen. Übertriebene Panikmache hilft, glaube ich, niemandem weiter. Ein Beispiel für diese Panikmache, die Sie betreiben, darf ich Ihnen kurz aus Ihrem eigenen Antrag vorhalten. Zu möglichen weiteren Risiken in Fukushima schreiben Sie – ich zitiere –: Ein weiterer Störfall könnte bereits durch ein mittleres Erdbeben ausgelöst werden. Erneut könnte eine große Menge Radioaktivität in die Atmosphäre gelangen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Aussage ist in etwa so zutreffend wie die These, dass Sie von einem Auto überfahren werden könnten, wenn Sie die Straße überqueren. (René Röspel [SPD]: Jetzt senken Sie aber die Wahrscheinlichkeit!) Ich halte das für höchst unseriös und bitte, in Zukunft darauf zu verzichten. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn ich mir nun die inhaltlichen Punkte Ihres Antrags zu Tschernobyl und Fukushima anschaue, kann ich Ihnen nur in Ihrem Bedauern um die vielen Opfer der Katastrophe zustimmen. Darin erschöpfen sich aber schon unsere Gemeinsamkeiten. Zunächst einmal verharmlosen Sie die Anstrengungen der Energiewende, die wir in Deutschland schon geschafft haben. Als einziges Land der Welt hat Deutschland aus den furchtbaren Ereignissen von Fukushima die drastische Konsequenz gezogen, vollständig aus der Kernenergie auszusteigen. Das ist eine riesige Aufgabe, der wir uns stellen, die aber erst einmal bewältigt werden muss. Dabei gilt es zunächst die dringendsten Probleme vor unserer eigenen Tür zu lösen, wie zum Beispiel den Netzausbau, die Speicherproblematik bei erneuerbaren Energien oder die auch für unsere Wirtschaft so wichtige Grundlastversorgung. (Zuruf von der CDU/CSU: Kostenexplosion!) Wir sind dabei ein gutes Stück vorangekommen. Wir haben nur noch neun Reaktoren in Betrieb. Letztes Jahr ging Grafenrheinfeld vom Netz. Im Jahr 2017 folgt Block B des Kernkraftwerks Gundremmingen. 2022 werden dann alle Kernkraftwerke in Deutschland abgeschaltet sein. Unsere Bemühungen in der Energiewende fordern alle Beteiligten, und wir tun alles dafür, dass es – Stichwort „Kosten“ – nicht zu einer Überforderung kommt. Die Welt wird uns erst folgen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wenn wir liefern, wenn die deutsche Energiewende gelingt. Es reicht also nicht aus, sozusagen immer nur zu fordern: „Folgt dem deutschen Weg!“ Wir müssen auch unter Beweis stellen, dass dieser Weg funktioniert. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am Scheitern arbeiten Ihre Kollegen gerade!) Auch Ihre Forderung, dass Deutschland vollständig aus der Nuklearforschung aussteigen soll, ist für mich völlig unverständlich. Gerade für den Kompetenzerhalt ist die Forschung von wesentlicher Bedeutung. Denn wir müssen für den sicheren Restbetrieb und den sicheren Rückbau der Kernkraftwerke dringend Know-how im eigenen Land halten. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wozu brauchen wir die Forschung?) Mir ist schleierhaft, wie Sie diese enorme Aufgabe angehen wollen, wenn Sie jede Form nuklearer Forschung verbieten wollen. (Beifall bei der CDU/CSU) Solange wir Zwischenlager betreiben und stillgelegte Kernkraftwerke rückbauen, brauchen wir weiterhin Kompetenz in den kommenden Jahrzehnten. Schon heute gibt es in Deutschland keinen einzigen Studiengang mehr mit kerntechnischem Bezug. Insbesondere beim Rückbau kerntechnischer Anlagen besitzen wir aber momentan eine einzigartige Kompetenz, für die ich werben will und für die wir, wie ich finde, auch alle gemeinsam in der Welt werben können, unabhängig davon, welche politische Couleur wir haben. Mir wäre es lieber, wenn wir international Kraftwerke zurückbauen, die vom Alter her die Höchstdauer überschritten haben, und dies mit deutschem Know-how, mit deutschen Ingenieuren tun würden, als wenn andere das tun. Also lassen Sie uns bei jungen Leuten dafür werben und ihnen sagen: Hier ist noch ein großes Zukunftsfeld vor euch. Hier könnt ihr arbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU) Zudem ist Ihre Forderung, die Reaktorsicherheitsforschung vom Bundeswirtschaftsministerium in das Bundesumweltministerium zu überführen, für mich nicht nachvollziehbar. Die nukleare Sicherheits- und auch Entsorgungsforschung ist schon jetzt ausschließlich sicherheitsorientiert. Es geht nicht um einen Wiedereinstieg in die Kernenergie zur Stromproduktion. Ihr Antrag zeigt aus meiner Sicht deutlich, dass die darin enthaltenen Forderungen nicht nur gegen international gültige Grundsätze verstoßen – die Joint Convention mit ihrem Trennungsgrundsatz ist angesprochen worden –, sondern auch klar gegen unsere Sicherheitsinteressen gerichtet sind. Ich glaube, das ist auch der Punkt: Mithilfe einer eigenständigen sicherheitsorientierten Forschung will sich die Bundesregierung und wollen wir uns in Deutschland die Kompetenz bewahren, die Sicherheit von Kernkraftwerken in Deutschland und auch in Europa weiterhin unabhängig beurteilen zu können und gegebenenfalls auch zu ihrer Verbesserung beizutragen. Wir brauchen auch weiterhin die Nuklearforschung im Bereich der Medizin, um Behandlungsmethoden gegen Krebs zu entwickeln. Wir brauchen die Materialforschung, um Alterungsprozesse in Kernkraftwerken prognostizieren zu können. Wenn Länder weiterhin ihre Kernkraftwerke betreiben, dann doch am liebsten mit deutschem Fachwissen und nach deutschen Sicherheitsstandards. Sie wollen die sichersten Nuklearanlagen der Welt, ohne in die dafür notwendige Forschung zu investieren. Das ist, um einmal ein Bild zu verwenden, in etwa so, als wenn Sie Ihre Mannschaft nach der ersten Halbzeit vom Platz nehmen und den Gegner bitten, den Spielbetrieb einzustellen. Mit dieser Einstellung, liebe Kolleginnen und Kollegen, überzeugen Sie kein Nachbarland davon, unsere Sicherheitsstandards zu übernehmen. (Beifall bei der CDU/CSU) Gerade in puncto Sicherheit gibt es noch einen weiteren Aspekt, bei dem ich ein sehr sensibles Vorgehen für geboten halte. Diesbezüglich werden aber, wie ich glaube, in Ihrem Antrag sehr bewusst oder auch unbewusst Ängste geschürt: Stichwort „Sicherheit der europäischen Kernkraftwerke“. Es ist ja vollkommen richtig, dass wir meldepflichtige Ereignisse nicht verharmlosen dürfen, sondern einordnen müssen. Das Beispiel Belgien ist genannt worden. Die Terrorangriffe in Brüssel und die Berichterstattung dazu, die uns in den Tagen danach erreichte, waren durchaus besorgniserregend. Da hieß es in Bezug auf Tihange, dass Betriebspersonal evakuiert worden sei. Und die Menschen haben den Eindruck bekommen, dass möglicherweise ein Anschlag kurz bevorsteht. Insofern ist es wichtig, einzuordnen, was passiert ist: Nach den schrecklichen Anschlägen von Paris hat sich Belgien entschlossen, eine allgemeine Sicherheitsstufe 3 auszusprechen, was dazu führte, dass auch kerntechnische Anlagen unter besonderen Schutz gestellt wurden. Als sich dann dieser schreckliche Anschlag in Brüssel ereignete, wurde die Terrorwarnstufe auf 4 erhöht, was zwangsläufig dazu führte – so ist es in jedem Handbuch vorgesehen –, dass das Betriebspersonal auf ein Minimum reduziert wurde. Es gab also keine überhastete Rückführung, keine Evakuierung der Menschen, sondern das war ein ganz normaler Vorgang, sofern man in diesem Zusammenhang davon sprechen kann. Noch ein paar Worte zu Ihren Ausführungen zur Brennelementeherstellung bei ANF in Lingen. Sie tun in Ihrem Antrag so, als würden dort Massen von hoch radioaktivem Abfall produziert. Ich war selbst dort und habe die Pellets in der Hand gehalten. Ich hatte einen Handschuh an. Der Handschuh diente nicht meinem Schutz, sondern dem Schutz der Pellets. Ich bin nicht verstrahlt worden. Es fallen eben keine hoch radioaktiven Abfälle an, sondern einzig und allein schwach radioaktive Abfälle in Form von Schutzkleidung und Reinigungsmaterial. Ein ganz wesentlicher Punkt ist: Lingen ist nicht nur in der Lage, Brennelemente zu fertigen, sondern auch dazu, alte aktivierte Brennelemente auseinanderzunehmen. Das ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für die Herstellung von Brennstofffreiheit beim Rückbau von Kernkraftwerken. Zudem bildet Lingen qualifizierten Nachwuchs in Sachen Strahlenschutz aus. Das führt dazu, dass wir kerntechnisches Know-how für den Rückbau von Kernkraftwerken in Deutschland erhalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. 2016 ist das Jahr der Entscheidung für das Gelingen des sicheren und zeitnahen Ausstiegs aus der Kernenergie. Die Aussicht auf ein Endlager für hoch radioaktive Abfallstoffe ist ein wesentlicher Schlüssel dafür, dass wir bis 2022 aussteigen und die Hinterlassenschaften der Kernenergie auch für zukünftige Generationen sicher entsorgen können. Herr Trittin, die Finanzierung bildet die Grundlage. Der Bericht der Endlagerkommission bildet den Rahmen. Ebenfalls wollen wir in diesem Jahr das Standortauswahlgesetz novellieren. Ich möchte alle Beteiligten herzlich bitten, diesem Zeitplan zu folgen. Nach meinen Ausführungen wird es Sie nicht verwundern, dass ich Ihrem Antrag zum jetzigen Zeitpunkt nicht folgen kann. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kollege Steffen Kanitz. – Der nächste Redner in der Debatte: Hubertus Zdebel für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In diesen Tagen gedenken überall auf der Welt Menschen der Atomkatastrophen von Fukushima und Tschernobyl, die für Hundertausende Menschen Leid, Tod und Vertreibung zur Folge hatten und noch immer zur Folge haben. Beide Katastrophen müssen für uns alle eine Mahnung sein, dafür einzutreten, dass sich so etwas nirgends auf der Welt wiederholt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Atomenergie ist in allen Anwendungen derart zerstörerisch und letztlich nicht zu beherrschen, dass wir sie aus dieser Welt verbannen müssen, sowohl in Form von Atomwaffen als auch als Stromerzeugungsenergie in Atomkraftwerken. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir Linken haben bereits in der letzten Sitzung angesichts der Jahrestage der Katastrophen von Fukushima und Tschernobyl und unter dem Eindruck der Ereignisse zum Beispiel um die Risikoreaktoren Tihange, Doel, Cattenom und Fessenheim und andere einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der in vielen Punkten die gleiche Stoßrichtung wie die nun vorgelegten Anträge der Grünen hat. Wir müssen den Ausstieg in Deutschland forcieren. Wir müssen dabei auch die bislang beim Atomausstieg vergessenen Uranfabriken in Gronau und Lingen endlich einbeziehen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese versorgen brandgefährliche Atommeiler nicht nur in Belgien und Frankreich mit Brennstoff. Die deutsche Beihilfe zu einem nächsten Super-GAU im Ausland muss beendet werden, am besten sofort. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dazu gehört auch, dafür zu sorgen, dass die Konzerne, die sich jahrzehntelang eine goldene Nase mit der Atomenergie verdient haben, für die Milliarden Euro an Kosten des Atomausstiegs tatsächlich aufkommen und dass diese Kosten nicht bei den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern landen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen fordert die Linke gerade mit Blick auf die für Juni geplante Aufspaltung von Eon, das Nachhaftungsgesetz endlich im Bundestag zu verabschieden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist ein absoluter Skandal, dass das die ganze Zeit von der CDU/CSU-Fraktion blockiert wird, mit allen Milliardenrisiken, die damit verbunden sind. (Zuruf von der LINKEN: Eine Schande!) Da radioaktive Wolken keine Grenzen kennen, müssen die Atomgefahren in Europa insbesondere mit Blick auf die Uraltreaktoren verringert werden. Die Ängste der Menschen in den Grenzregionen zu Frankreich und Belgien – fahren Sie einmal nach Aachen! – sind weder irrational noch übertrieben. Hier kann und darf sich die Bundesregierung nicht länger diplomatisch zurückhalten und der Atomlobby im Ausland das Feld überlassen. Es braucht einen Atomausstieg in Europa, und das muss die Bundesregierung in ihrem Handeln in allen europäischen Gremien endlich deutlich machen. Sie muss die Initiative ergreifen und Vorschläge entwickeln. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das gilt auch für den Euratom-Vertrag; denn Euratom verfestigt die Förderung der Atomenergie und dient einzig der Atomlobby. Wir fordern stattdessen, den Euratom-Vertrag aufzulösen und zu einer Einrichtung einer alternativen europäischen Gemeinschaft zur Förderung von erneuerbaren Energien und Energieeinsparungen zu kommen. Das wäre der richtige Weg. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In diesem Sinne freuen wir uns, gemeinsam mit den Grünen in den Ausschüssen für eine europäische Atomausstiegsdebatte mehr Druck auf die Regierung zu machen. Es gibt Gründe genug, die Atommeiler endlich abzuschalten. Ein neuer und beklemmender Grund sind die wachsenden Terrorgefahren. Die Ereignisse in Belgien und Frankreich sollten uns allen eine Warnung sein. Erst gestern war zu lesen, dass Terrorverdächtige eventuell auch die ehemalige Atomforschungsanlage in Jülich ausgespäht haben. Das sei nur einmal erwähnt, auch wenn es nun unterschiedliche Meldungen dazu gibt. Es ist bislang nicht geklärt, ob das stimmt. (Widerspruch des Abg. Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]) – Hören Sie lieber zu! Unabhängig davon wurde gestern bekannt, dass im AKW Philippsburg in Baden-Württemberg ein Mitarbeiter eine regelmäßige Prüfung an einem Störfallmonitor zwar dokumentiert, tatsächlich aber nicht durchgeführt hatte. Gleiches hat sich offensichtlich auch am AKW Biblis in Hessen 2014 und 2015 ereignet. Das spricht in erster Linie für schwere Mängel in der Sicherheit. Wir Linken erwarten, dass sich die Bundesatomaufsicht dieser Fälle annimmt und den Ausschuss für Reaktorsicherheit umfassend über diese ganzen Vorgänge informiert. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich sage zum Schluss noch etwas zu Herrn Kanitz. Richtig ist: Wir sollten keine Panik machen. Da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu. Aber die Relativierung, die Sie dauernd betreiben, geht meines Erachtens auch nicht. Richtig ist vor allen Dingen, dass die noch in Betrieb befindlichen AKWs, die zur Stromproduktion nicht gebraucht werden, ein viel zu großes Risiko darstellen. Das wird immer deutlicher. Wir haben die Alternative, die Gefahren zu reduzieren, bevor es zu spät sein könnte. Abschalten heißt die einzige Möglichkeit. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Hubertus Zdebel. – Die nächste Rednerin ist Rita Schwarzelühr-Sutter für die Bundesregierung. (Beifall bei der SPD) Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Atomausstieg konsequent durchsetzen – was heißt das? Ich glaube, am heutigen Tag ist es wichtig, zu sagen, dass die Atomenergie aus unserer heutigen Sicht eine Sackgasse war, eine technologische Entwicklung, die einfach nicht zukunftsfähig ist. Orte wie Tschernobyl und Fukushima sind uns eine Mahnung und sollten uns auch in der nächsten Zeit immer wieder daran erinnern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben uns in Deutschland konsequent auf den Weg gemacht. Wir haben zuerst 2001/2002 unter einer rot-grünen Bundesregierung den Atomausstieg beschlossen. Viele haben sich den Atomausstieg damals etwas schneller vorgestellt, aber es gab einen Kompromiss mit den Energieversorgern. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima vor fünf Jahren ist dann der Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg tatsächlich in einem breiten politischen Konsens und vor allem gesellschaftlichen Konsens bekräftigt worden. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass damals der gesellschaftliche Konsens gefunden wurde, den man jetzt auch nicht mehr umkehren kann. Erstmals wurden feste Daten für die Abschaltung und die Stilllegung der Atomkraftwerke gesetzlich verankert. Acht Reaktoren gingen 2011 vom Netz, einer letztes Jahr, und die letzten werden dann 2022 abgeschaltet werden. Doch sicherlich ist es damit nicht getan. Die Gefahren von Unfällen müssen bis zum letzten Tag auf ein Minimum reduziert werden. Darüber hinaus müssen wir für die gleiche Sicherheit sorgen, wenn wir die Atomkraftwerke stilllegen und zurückbauen. Das ist schon eine Herausforderung; denn man muss die Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch wenn die Atomkraftwerke abgeschaltet werden, erhalten. Das ist eine Schwierigkeit, mit der wir uns auseinandersetzen. Der Ausstieg aus der Atomkraft heißt auch, sich mit den Folgefragen zu beschäftigen, nämlich der Entsorgung der radioaktiven Abfälle. Wir haben im vergangenen Jahr mit dem NaPro eine Bilanz gezogen. Wir haben geschaut, welche Abfälle wir zu entsorgen haben. Das war ein wichtiger Schritt. Die Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs und die Endlagerkommission arbeiten kräftig. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei ihnen bedanken; denn das sind Fragen, die wir heute lösen müssen und die wir nicht vor uns herschieben können. Wir haben da eine große Verantwortung. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir werden auf der Basis dieser Empfehlungen die nächsten Schritte einleiten. Die Umsetzung all dessen kann nur gelingen, wenn die Öffentlichkeit beteiligt wird und wir für Vertrauen und Akzeptanz auch in den Verfahren sorgen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Gerade die letzten Wochen zeigen, dass trotz des deutschen Atomausstiegs Risiken bleiben. Radioaktivität macht an Grenzen nicht halt. Fessenheim, das nächstgelegene französische Atomkraftwerk, liegt direkt am Rhein. Ich will nicht immer von meiner Heimat reden. Ich bin gut bedient mit Beznau, Leibstadt und Gösgen und den anderen kerntechnischen Anlagen in der Schweiz. Es gibt noch Tihange und Doel in Belgien. Wir nehmen die Ängste und Sorgen der Bevölkerung sehr ernst. Wir werden auch bei unseren Nachbarn nicht lockerlassen. Wir haben von Anbeginn dieser Legislatur an immer wieder den Dialog gesucht. Wir waren vor Ort und haben darauf hingewiesen, dass es durch die Alterung der Atomkraftwerke Sicherheitsbedenken gibt. Wir arbeiten mit ganzer Kraft auf ein hohes Sicherheitsniveau hin, und wir erinnern natürlich daran, dass Zusagen zu Abschaltungen, wie bei Fessenheim, auch eingehalten werden. Soweit es um die Verlängerung der Laufzeit von Reaktoren in anderen Staaten geht, haben wir gesagt: Wir wollen eine Umweltverträglichkeitsprüfung, die verpflichtend ist. – Das ist bis heute nicht so. Frau Kotting-Uhl, Sie haben die Souveränität der jeweiligen Staaten bei diesem Thema hinterfragt. Aber wollen wir, die wir auf erneuerbare Energien, auf eine Energiewende setzen, auf unsere Souveränität bei diesem Thema verzichten? (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist etwas ganz anderes! Es geht um Sicherheit! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sicherheit!) – Das ist nichts anderes. Wir sind aktiv dabei, auf europäischer Ebene genau das Thema Sicherheit in den Mittelpunkt zu stellen. Zu betrachten ist da zum einen die Technik und zum anderen immer wieder der Mensch, wie wir auch gestern in Philippsburg gesehen haben. Deswegen ist die Frage der Sicherheitskultur von großer Bedeutung. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben! – Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Versorgungssicherheit ist auch Sicherheit! Das ist auch klar!) – Zur Versorgungssicherheit haben wir, wie gesagt, einen gesellschaftlichen Konsens. Ich glaube, da sind wir in Deutschland gut bedient. Die deutsche Position können wir international nur dann erfolgreich durchsetzen – da komme ich wieder zu den Erneuerbaren –, wenn die anderen Staaten uns weiterhin als kompetent erachten. Deswegen ist der Kompetenzerhalt in unseren Gremien wichtig, und deshalb ist es wichtig, Forschung zu betreiben, auch am KIT in Karlsruhe, Frau Kotting-Uhl, wo es auch um Endlagerforschung geht. (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU] und Dr. Klaus-Peter Schulze [CDU/CSU]) Wir müssen die Kompetenz erhalten. Gucken Sie sich doch einmal die Altersstruktur der Forscher an! (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kompetenz können wir in der Asse besichtigen!) – Sie blicken immer nur zurück, Herr Trittin. Ich gucke auch mal nach vorne. Wenn uns diese Fragen eine lange Zeit beschäftigen, nicht nur 10 oder 20 Jahre, dann müssen wir schauen, wann die Kernphysiker in Rente gehen, und dafür sorgen, dass wir auch übermorgen noch welche haben, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen und uns Antworten geben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wenn wir den Atomausstieg konsequent fortsetzen, ist es wichtig, dass die Energiewende nicht nur national gelingt, sondern von uns auch global vorangetrieben wird. Wir haben schon im Vorfeld des Klimagipfels, auch zum Beispiel im Zusammenhang mit IRENA, deutlich machen können, dass wir als Industrieland da eine Vorreiterrolle haben und dass wir sie erfolgreich übernehmen. Deswegen denke ich, das beste Mittel, um den Atomausstieg konsequent zu betreiben, ist es, auf die erneuerbaren Energien zu setzen. Am Ende sollte es ein ökonomisches Argument sein, mit dem wir die anderen überzeugen, und nicht eine Änderung des Euratom-Vertrages; (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das eine könnte das andere unterstützen!) das ergibt sich dann automatisch durch die Erneuerbaren. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: Dr. Heinz Riesenhuber für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Zum Gedenken an Fukushima oder an Tschernobyl haben Herr Kanitz und Frau Kotting-Uhl in eindrucksvoller Weise etwas Richtiges gesagt. Was hier heute ansteht, ist die Frage: Wie gehen wir mit den Konsequenzen um, die wir daraus gezogen haben? Sie schreiben in der Überschrift eines Antrags „Keine öffentlichen Forschungsgelder für den Wiedereinstieg in atomare Technologien“. Das ist schon ein bisschen heikel. Das klingt so, als ob jemand von uns die Absicht hätte, einen Wiedereinstieg in atomare Technologien zu betreiben. Wir haben hier in diesem Hause über alle Fraktionsgrenzen hinweg beschlossen, dass wir aussteigen. Das ist ein sehr umfassendes und grundsätzliches Programm, ein volkswirtschaftliches Experiment von einem Ausmaß, das es noch nirgends gegeben hat. Der gleichzeitige Ausstieg aus der Kernenergie und aus den fossilen Energien – beides in einem begrenzten Zeitraum – ist ein Riesenprojekt. Das gelingt nur dann, wenn wir diese Einmütigkeit, mit der wir es damals beschlossen haben, auch jetzt, beim schwierigen Vollzug der einzelnen Schritte, bewahren, wenn wir uns auf das konzentrieren, was wesentlich ist und was die Sache voranbringt, und wenn wir die Schlachten der Vergangenheit hier nicht in Scharmützeln wiederholen. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass der Kurs der Bundesregierung in eine andere Richtung gehe, und Sie bringen dann drei Beispiele. Sie sagen, Transmutation sei eine schlimme Sache, für die die Bundesregierung Geld ausgeben würde. Wie ist die Sachlage? Erstens ist Transmutation, wenn sie denn gelingt – da habe ich durchaus noch offene Fragen; das Ganze befindet sich noch im Stadium der Grundlagenforschung –, eine reizvolle Idee zur Umwandlung langlebiger radioaktiver Isotope in kurzlebigere Stoffe. Zweitens ist es eine gute Sache, wenn wir die Menge an hochradioaktivem Abfall einschließlich die des Plutoniums um zwei Drittel reduzieren können. Was gibt die Bundesregierung für dieses inkriminierte Projekt aus? Sie gibt 66 607 Euro aus, nicht 66 Millionen Euro. (Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Peanuts!) Das ist gerade einmal so viel, wie ein braver Mitarbeiter verdient, der versucht, die Rechenprogramme für die Sicherheitsanalysen dieser Technologie zu begreifen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl? Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Aber gerne, mit Frau Kotting-Uhl rede ich mit Vergnügen. Nur stoppen Sie bitte die Uhr. (Heiterkeit) Vizepräsidentin Claudia Roth: Selbstverständlich, ist doch schon passiert. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Riesenhuber, dass Sie die Frage zulassen. – Die Höhe dieser Finanzmittel kann man nicht ganz beurteilen, da ja sehr viel Geld über Euratom, woran wir mit gut 20 Prozent beteiligt sind, in die Transmutation und übrigens auch nach Karlsruhe ins KIT fließt. Insofern ist das ein verschlossenes Buch, und wir wissen nicht, was da genau reinfließt. Ich möchte Sie aber zu Ihrer Aussage befragen, Transmutation sei eine gute Sache. Selbst die größten Befürworter der Transmutation gestehen zu, dass, wenn sie denn gelingt – klar, es gibt viele Zweifel, die auch Sie teilen –, nicht der gesamte Atommüll transmutiert werden kann. Ein Teil wird sich vermutlich dieser Transmutation entziehen, auch der verglaste Atommüll. Das heißt, man braucht auf jeden Fall zusätzlich ein vielleicht verkleinertes Endlager für 1 Million Jahre. Wenn ich eine Technologie, die noch erforscht und entwickelt wird, bewerte, dann gehe ich davon aus, dass sie gelingt und frage mich: Möchte ich sie haben? Transmutation bedeutet – deshalb unsere Formulierung vom „Wiedereinstieg“ –: Ich brauche eine Wiederaufarbeitung mit der entsprechenden Anlage, ich brauche eine Brütertechnologie. Im Grunde macht das nur Sinn – so forschen die Franzosen – in Verbindung mit der vierten Generation von Reaktoren, weil ich mir dann zumindest einbilden kann, dass ich einen Brennstoffkreislauf habe. Aber auf jeden Fall brauche ich mindestens eine Wiederaufarbeitungsanlage und einen Brüter. Die entscheidende Frage ist nun: Macht das Sinn für Deutschland? Ist das eine gute Sache für ein Land, das den Atomausstieg beschlossen hat? Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Kotting-Uhl, was die Kosten angeht, ist es tatsächlich so: Das BMWi zahlt 66 600 Euro für die Beteiligung an der Sicherheitsforschung mit Bezug zur Transmutation. Was die Gelder, die über Euratom fließen, angeht: Das ist komplizierter. Damit wird die Anlage MYRRHA in Belgien finanziert. Das ist ein Forschungsreaktor, der neben der Transmutationsforschung viele unterschiedliche Aufgaben einschließlich der Krebsforschung hat. Das heißt also, der Reaktor an sich macht in vieler Hinsicht Sinn, und der Beitrag, den wir leisten, ist winzig. Jetzt fragen Sie nach dem strategischen Ziel. Ich habe es Ihnen gesagt: Ich habe bei der Transmutation durchaus Vorbehalte. Aber ich werde mich hüten, bei einem Projekt, das einen Kern von Vernunft hat – und das hat es –, im Stadium der Grundlagenforschung zu sagen: Lasst die Finger davon. – Wir müssen für künftige Generationen die Möglichkeiten, zwischen Alternativen zu entscheiden, erweitern, nicht verengen. Wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, das Neue anzuwenden. Wir müssen hier die Forschung so offen anlegen in ihrer Freiheit, wie sie das Grundgesetz garantiert, dass die Möglichkeiten erhalten bleiben. Entscheidend wird dann sein, was wir technisch daraus machen. Das ist eine ganz andere Frage. (Beifall bei der CDU/CSU) Hier habe ich Zweifel an der technischen Vernunft des Gesamtkonzepts – das gebe ich zu –, zumindest dann, wenn ich mir anschaue, wie es sich heute darstellt. Ich habe in dieser Angelegenheit gewisse Vorbehalte bezüglich der denkbaren Kosten. Ich habe Zweifel, ob es wirtschaftlich ist. Trotzdem sage ich: Wenn wir mit 66 000 Euro den Zugang zu Wissen erhalten, das die Europäer gemeinsam erarbeiten, dann ist das etwas, was für uns nützlich ist. Ich war immer der Auffassung, dass denken nützt – selbst in der Politik. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Ein zweites Thema spreche ich hier sehr verkürzt an. Sie erwähnten gerade die Reaktoren der vierten Generation. Hier haben sich neun Nationen zusammengetan – übrigens gehört auch Euratom dazu –, um sich sechs verschiedene Reaktortypen anzuschauen, auch unter dem Aspekt, ob man andere Kühlmittel – metallische Kühlmittel, Helium oder was auch immer – einsetzen kann, um die Technik sicherer zu machen: proliferationssicher, sicher gegen Angriffe und sicher, was die Entsorgung anbelangt. Wir beteiligen uns nicht an diesem Projekt, sondern wir begleiten es mit einem Beitrag – er beträgt allenfalls 4 Millionen Euro –, der allerdings schwer abgrenzbar ist. Wir schauen uns hier die Sicherheitstechniken an, damit wir sprachfähig sind. Ein völlig anderes Thema ist die Fusion. Hier muss ich aufpassen, sonst halte ich dazu eine Grundsatzrede. Vor längerer Zeit, als ich angefangen habe, zu studieren, sagte man mir: Schöne Technik, dauert nur 30 Jahre. – Heute sagen mir die Leute: Schöne Technik, 30 Jahre. (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Eine Konstante!) Was man aber nicht übersehen darf, ist: Wir sind immer näher an die Kriterien herangekommen, die für das Brennen des Plasmas notwendig sind. Gegenüber den ersten Versuchen haben wir einen Faktor von 5 Millionen erreicht. Wir haben jetzt noch einen Faktor fünf zu meistern. Wir sind immer noch in der Grundlagenforschung; das räume ich ein. Wir wissen nicht, ob der Stellarator Wendelstein 7X die richtige Technologie ist, den unsere Leute in Greifswald mit großer Intelligenz entwickeln, oder ob es ein Tokamak wie ITER ist. Aber wir haben eine Chance – es wird später zu beurteilen sein, ob das Vorhaben erfolgreich ist –, Kernfusion, die etwas völlig anderes ist als Kernspaltung, zu betreiben. Das ist schon interessant. Bei einem Kernreaktor wie beispielsweise einem Leichtwasserreaktor kann ein GAU passieren. Wir haben darüber gesprochen. Wenn etwas bei einer Kernfusion passiert, geht der Ofen aus. Das ist alles. Die radioaktiven Abfälle sind zudem kurzlebiger und sehr viel weniger. Die Entsorgung ist ein geringeres Problem. Trotzdem sage ich: Auch hier ist Grundlagenforschung zwar prima. Aber wenn sich abzeichnet, dass wir es können, müssen wir noch schauen, ob diese Sache für uns und für die Zukunft wirtschaftlich ist. Angesichts der von mir genannten Aspekte plädiere ich dafür, erstens das Wissen zu erweitern und zweitens unsere Energien darauf zu konzentrieren, dass die Energiewende gelingt. Frau Kotting-Uhl, Sie haben ganz richtig gesagt – hier kann ich nur mit Leidenschaft zustimmen –: Die Energiewende muss so laufen, dass wir andere Länder davon überzeugen, dass sie vernünftig ist. – Das gelingt, wenn wir eine gute Forschung machen. Wir geben hier 600 Millionen Euro für erneuerbare Energien und Energieeffizienz im Rahmen des 6. Energieforschungsprogramms pro Jahr aus, zusätzlich 187 Millionen Euro aus dem Energie- und Klimafonds. Das Entscheidende ist aber die Umsetzung vor Ort: dass wir die Systeme integrieren und dass die Energieerzeugung versorgungssicher und umweltfreundlich, aber auch bezahlbar ist. Wenn die anderen nicht sehen, dass wir es können und dass es bezahlbar ist, dann reiten wir zwar voraus. Aber wir sind dann ein Vorreiter in majestätischer Einsamkeit, dem niemand folgt. Die Folge wird sein, dass wir die Kosten für unsere Energiewende – 25 Milliarden Euro im Jahr allein aufgrund des EEG – zu tragen haben, ohne dass das Klima geschützt wird, weil die anderen nicht mitmachen und uns nicht darin folgen, die Kernreaktoren abzuschalten. Deshalb muss das System, das wir anstreben, gelingen. Es wird entscheidend sein, dass wir nicht zu lange über die Dinge sprechen, wo wir unterschiedlicher Auffassung sind. Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch; wir sind ja verschieden. Viele von uns denken bei der Arbeit, und deshalb kann es kritisch werden. Wir müssen aber dort, wo wir einig sind, den Laden zusammenhalten, die Sache voranbringen und uns auf die Lösung der eigentlichen Probleme konzentrieren. Die Energiewende müssen wir insgesamt so hinkriegen, dass sich die Welt darüber freut. Sie soll sich darüber freuen, dass die Deutschen aus einem fröhlichen Geist heraus tüchtig sind, dass ihnen etwas eingefallen ist und dass sie einmütig dazu stehen: die Grünen, die CDU und sogar die CSU – und die SPD natürlich auch. (Heiterkeit) Es wäre ausgesprochen ärgerlich, wenn wir die SPD nicht mit der gleichen Herzlichkeit an unserer Seite willkommen hießen. Selbst die Linken mögen hier einmal nachdenklich werden. Wir müssen – das sollte uns gelingen – gemeinsam an den Problemen arbeiten, und wir sollten uns nicht an den Dingen aufhalten, wo wir durchaus ideologische Differenzen haben mögen. Vielmehr sollten wir Deutschland voranbringen, sodass wir hier eine gute Zukunft haben, an der sich andere erfreuen und bei deren Gestaltung sie mitmachen wollen. Das ist besser, als einen Prozess gegen Hinkley Point zu führen. Wir müssen es so machen, dass die Leute Lust darauf haben. „Nichts entsteht, es sei denn aus der Lust“, sagt der heilige Augustinus. Und in diesem Geiste wollen wir uns daranmachen, die Zukunft zu gestalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen herzlichen Dank, lieber Dr. Heinz Riesenhuber. – Ganz in diesem Geiste hat als letzter Redner Marco Bülow für die SPD das Wort. (Beifall bei der SPD) Marco Bülow (SPD): Danke, Frau Präsidentin! – Sehr geehrte Damen und Herren! Gigantische Subventionen, ein riesiger Aufwand über mindestens fünf Jahrzehnte hinweg, unkalkulierbare Risiken und vor allen Dingen Atommüll, wofür es immer noch kein Endlager gibt und worunter Generationen nach uns noch zu leiden haben werden, die nie mitbestimmen durften, ob sie diese Technologie haben wollten oder nicht: Das ist die Geschichte der Atomenergie bis heute. Für mich ist das einer der größten Irrwege, den die Menschen gerade im technologischen Bereich eingeschlagen haben. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das gipfelte leider in den Katastrophen von Tschernobyl und von Fukushima vor fünf Jahren, deren Opfern wir in der nächsten Sitzungswoche noch gedenken werden. Man muss sich gerade einmal Tschernobyl angucken: Dort wurden 200 000 Quadratkilometer kontaminiert. Das ist ungefähr viermal die Fläche der Schweiz und mehr als die Hälfte des deutschen Gebietes. Man muss sich einmal vorstellen, das wäre hier passiert. 300 000 Menschen haben auf Dauer ihre Heimat verloren. 600 000 Liquidatoren waren dort im Einsatz. Niemand kann genau beziffern, wie viele davon sterben mussten. Es gab aber auf jeden Fall sehr viele Opfer. Auch heute noch gibt es viele, die unter der Katastrophe leiden. Die meisten in Deutschland, auch wenn manche Zwischenrufe etwas anderes zeigen könnten, haben dazugelernt. Leider haben bei weitem noch nicht alle Länder in Europa dazugelernt. Ich bin daher für diese Debatte dankbar, die von der Opposition ausgeht. Auch bin ich dafür dankbar, dass wir in der Großen Koalition gemeinsam versuchen, einen Antrag auf den Weg zu bringen. Wir laden alle ein, dabei mitzumachen. Ich bin hoffnungsfroh, dass uns das gelingen wird. Des Weiteren bin ich dankbar, dass die Ministerin in Europa immer wieder deutlich gemacht hat, dass der Ausstieg aus der Atomkraft nicht das Einzelprojekt eines Landes sein darf, sondern dass auf Dauer Sicherheit nur gewährleistet ist, wenn wir in ganz Europa aus der Atomkraft aussteigen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will darauf zurückkommen, was es ausmacht, wenn in Europa etwas passiert. Es wäre nicht mit dem vergleichbar, was in Tschernobyl war. Das Land ist dort sehr dünn besiedelt. Die Pannenreaktoren in Europa stehen übrigens teilweise seit 40 Jahren. Wer in diesem Raum benutzt zu Hause noch Technik, die 40 Jahre und älter ist? Wahrscheinlich niemand. Aber gerade bei solch einer Hochsicherheitstechnologie, bei der so viel passieren kann, wird sie noch benutzt. Die Reaktoren werden leider nicht abgeschaltet. Wenn ein grenznahes Atomkraftwerk oder überhaupt ein Atomkraftwerk in Europa in die Luft fliegt oder gleiche Probleme aufweist wie das in Fukushima, dann müssten wir ganze Landstriche – Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz usw. – evakuieren. Das ist eine Aufgabe, ein Horrorszenario, das ich hier gar nicht an die Wand malen möchte. Man muss aber sagen: Genau darüber müssen wir hier diskutieren. Wir müssen weitermachen, müssen unser Engagement weiter intensivieren, damit Europa am Ende frei von Atomkraft ist. Zumindest habe ich mir die politische Aufgabe gestellt, daran weiter mitzuwirken. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir alle, gerade wir Deutschen, haben nach den Terroranschlägen in Belgien und Frankreich große Solidarität geübt. Aber wir müssen auch an die Solidarität der Franzosen und Belgier appellieren und sie bitten, diese Technologie gerade in den grenznahen Gebieten abzuschalten, auch um die Menschen hier zu schützen. Das gehört zur Solidarität dazu. Solidarität mit Blick auf die Terrorgefahr darf keine Einbahnstraße sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zum Schluss. Die Zukunft – da möchte ich an meinen Vorredner anknüpfen – müssen wir als Erstes im Blick haben. Ich glaube, die Zukunft der Energie kann nur heißen: erneuerbar und effizient. Wir haben die Energiewende eingeleitet. Gerade Menschen wie Hermann Scheer, Ernst Ulrich von Weizsäcker und Michael Müller, aber auch viele andere stehen dafür. Ich glaube, dass der Weg noch weit ist, und natürlich ist er nicht einfach. Ich glaube aber, dass wir nicht bremsen dürfen, dass wir nicht stoppen dürfen und dass die erneuerbaren Energien auch in Deutschland weiterhin unserer hauptsächlichen Aufmerksamkeit bedürfen – gerade damit wir den anderen Ländern deutlich machen können, dass es einen anderen Weg gibt. (Beifall bei der SPD) Ich denke, es muss unsere nächste Aufgabe sein, genau dafür zu sorgen. Ich glaube vor allem, dass wir es den nächsten Generationen schuldig sind, ihnen unser Land ohne weiteren Atommüll, ohne weitere Gefahren und mit einer Energieform zu hinterlassen, die friedlich ist, die sauber ist und die vor allen Dingen keinen Müll hinterlässt. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Marco Bülow. – Damit schließe ich diese Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/7656 und 18/7668 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Die Vorlage auf Drucksache 18/5211 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Da ist aber die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Ich lasse jetzt zuerst über den Überweisungsvorschlag von Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Ich frage Sie, wer für diesen Überweisungsvorschlag stimmt. – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke, abgelehnt CDU/CSU und SPD. Ich lasse jetzt über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen: Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit Zustimmung bei CDU/CSU und SPD und Ablehnung bei Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für mehr Transparenz in der Internationalen Atomenergie-Organisation sowie eine starke und unabhängige Weltgesundheitsorganisation“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8101, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/7658 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Jetzt kommt ein spannendes Thema. Sie sind alle herzlich eingeladen, sich zu beteiligen. Ansonsten bitte ich, zügig die Plätze zu wechseln bzw. den Saal zu verlassen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über die finanzielle Hilfe für Dopingopfer der DDR (Zweites Dopingopfer-Hilfegesetz) Drucksache 18/8040 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte die interessierten Kolleginnen noch einmal, Platz zu nehmen, um dem ersten Redner würdig zu lauschen bzw. ihm zu folgen, und das ist der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Schröder für die Bundesregierung. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Lauschen schon, aber folgen?) – Lauschen heißt ja nicht notwendigerweise folgen; manche folgen ihm ganz sicher. – Herr Schröder, Sie haben das Wort. Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Machenschaften der DDR-Diktatur wirken auch nach über 25 Jahren fort. Die Opfer des DDR-Unrechtsregimes leiden noch heute. Das gilt auch für den Bereich des staatlich organisierten Leistungssports. Ich spreche von den Opfern des DDR-Dopings. Ohne Rücksicht auf Gesundheit und Menschenwürde ging es den Verantwortlichen darum, durch möglichst viele Medaillen das sozialistische System als überlegen und besonders leistungsfähig darzustellen. Das DDR-Regime und der DDR-Sport haben dabei unheilvoll zusammengewirkt. Mit der Neuauflage des Dopingopferhilfefonds wollen wir das Leid der DDR-Dopingopfer anerkennen. Das ist mir angesichts der vielen Einzelschicksale, die unter gravierenden gesundheitlichen Folgen leiden, ein ganz besonderes Anliegen. Auch nach so langer Zeit dürfen wir die Augen vor dem Schicksal vieler ehemaliger DDR-Leistungssportler nicht verschließen. Sie leiden bis heute an den gesundheitlichen Spätfolgen des Dopings. Einige von ihnen werden jetzt denken: Wieso Opfer? Die DDR-Leistungssportler waren doch im Vergleich zu anderen DDR-Bürgern eher privilegiert. – Eine derartige Betrachtung greift allerdings zu kurz. Der Bundesgerichtshof hat dazu Folgendes festgestellt: „Auch wenn die DDR-Leistungssportler keine Systemgegner waren, so wurden sie doch zum Opfer des DDR-Systems, da ihnen ohne Rücksicht auf ihren Willen eine sogar ihrem Wissen vorenthaltene Aufopferung ihrer Gesundheit abverlangt wurde.“ Minderjährigen wurden im zentralgelenkten DDR-Sport ohne deren Wissen männliche Sexualhormone zur Leistungssteigerung gegeben. Das systematische Doping wurde nicht nur zentral organisiert, es wurde auch bewusst verschleiert und unterlag strenger Geheimhaltung. Den minderjährigen Sportlern und ihren Eltern wurde weisgemacht, sie würden harmlose Vitamine und Aufbaustoffe erhalten, und so wurden sie für staatliche Zwecke instrumentalisiert. Dabei wurde vor nichts zurückgeschreckt. Sehr bewegt hat mich die Berichterstattung über DDR-Turnerinnen. Sie wurden als Kinder mit Steroiden gedopt, um sie künstlich klein zu halten, um sie dann später als Jugendliche nach ihrer Karriere mit Wachstumshormonen wieder zu strecken. Meine Damen und Herren, das waren großangelegte unverantwortliche Menschenversuche. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) Viele DDR-Leistungssportler haben heute bleibende Gesundheitsschäden wie Organschädigungen und Tumore. Vor dem Bundesgerichtshof wurde ein Fall von damals minderjährigen Sportlerinnen verhandelt. Bei fünf der neun Schwimmerinnen wurden irreversible Gesundheitsschäden durch die Gabe künstlicher männlicher Sexualhormone festgestellt: Stimmvertiefung, vermehrte Körperbehaarung sowie Leberschädigungen, um nur einige Symptome zu nennen. Lassen Sie mich noch etwas zum Hintergrund des Fonds sagen: Bereits 2002 wurde ein Hilfefonds für DDR-Dopingopfer aufgelegt. Er endete mit dem Jahr 2007. Aus dem damaligen Fonds haben 194 DDR-Dopingopfer eine finanzielle Unterstützung in Höhe von rund 10 500 Euro erhalten. Es wurden mit Abstand nicht alle Dopingopfer erfasst. Die Frage, die sich uns gestellt hat, ist natürlich: Was war der Grund dafür? Viele Betroffene haben schlichtweg nichts vom Fonds aus dem Jahr 2002 gewusst, und die schweren Gesundheitsschäden als Folge des Dopings sind teilweise erst Jahre später aufgetreten. Auch haben viele Betroffene erst Jahre später überhaupt einen Zusammenhang zwischen den Schädigungen und dem Doping erkennen können. Meine Damen und Herren, die Beratungsstelle des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins wurde erst 2013 gegründet und klärt seitdem entsprechend auf. All das war ein langer Erkenntnisprozess für die Betroffenen. Deswegen müssen wir heute davon ausgehen, dass voraussichtlich 1 000 weitere DDR-Dopingopfer nach den damaligen Kriterien anspruchsberechtigt gewesen wären. Es ist somit ein Gebot der Gleichbehandlung, auch all denjenigen einen Betrag in Höhe von 10 500 Euro auszuzahlen, die nach den damaligen Kriterien des Dopingopfer-Hilfegesetzes 2002 anspruchsberechtigt gewesen wären. Mit dem vorgesehenen Einmalbetrag in Höhe von 10 500 Euro werden wir das Leid der Dopingopfer natürlich nicht nachhaltig lindern können. Wir können es auch nicht wiedergutmachen; das ist mir bewusst. Aber wir wollen mit dieser Zahlung unserer moralischen Verantwortung gerecht werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, es geht darum, den Dopingopfern jetzt wirklich schnell und unbürokratisch gerecht zu werden und ihnen zu helfen. Deshalb soll der Fonds nun erneut aufgelegt werden. Theoretisch können die Dopingopfer auch einen Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend machen, doch die Hürden sind enorm hoch, und die gestellten Anträge führen in der Regel nicht zum Erfolg. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können wir aber ändern!) Aus den letzten drei Jahren sind mir gerade einmal drei erfolgreiche Klagen bekannt. Eine Änderung des Opferentschädigungsgesetzes ist uns jedoch aus Gründen der Gleichbehandlung nicht möglich. Meine Damen und Herren, der vorgelegte Gesetzentwurf orientiert sich daher weitgehend am Dopingopfer-Hilfegesetz aus dem Jahr 2002 und enthält nur die entsprechenden Anpassungen, die notwendig sind. Anders als im Jahr 2002 legen wir jetzt einen Festbetrag fest. Im Jahr 2002 gab es ja noch eine große Diskussion darüber in der Regierungskoalition, damals bestehend aus SPD und Grünen, die das nicht wollten, und der damaligen Opposition, der CDU/CSU. Die Linke, bzw. die damalige PDS, hat sich sehr indifferent verhalten. Die meisten haben dagegengestimmt, einige haben sich, soweit ich das richtig nachgelesen habe, enthalten. Meine Damen und Herren, angesichts des schweren Schicksals vieler DDR-Dopingopfer und ihres teils sehr schlechten Gesundheitszustandes ist jetzt Eile geboten. Die Bundesregierung hat den Gesetzesentwurf deshalb als besonders eilbedürftig erklärt, und ich hoffe und wünsche mir sehr, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, das Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz noch vor der Sommerpause verabschieden und damit den Weg für eine Auszahlung an die Dopingopfer in der zweiten Jahreshälfte frei machen. Das Bundesministerium des Innern hat schon Anfang des Jahres die dafür erforderlichen administrativen Vorkehrungen getroffen und das Bundesverwaltungsamt mit den notwendigen Vorbereitungen beauftragt. Schon heute können sich die Betroffenen an die konkreten Ansprechpartner im Bundesverwaltungsamt wenden, damit das Geld, wenn die Voraussetzungen im Bundestag dafür geschaffen sind, möglichst schnell zur Verfügung gestellt werden kann. Die Entscheidung, den Fonds neu aufzulegen – das muss ich einräumen –, ist spät getroffen worden. Ich meine aber, nicht zu spät. Die Bundesregierung hat Verantwortung gegenüber den DDR-Dopingopfern übernommen, und wir haben gehandelt. Ich wünsche mir, dass der organisierte Sport, der Deutsche Olympische Sportbund als Nachfolgeorganisation des DDR-Sports ebenfalls seiner Verantwortung gegenüber den DDR-Dopingopfern gerecht wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das wäre sehr wichtig!) Auch wenn es Doping im staatlichen Auftrag war, so ist der Sport natürlich nicht frei von jeglicher Schuld gewesen. Das DDR-Regime und der DDR-Sport haben wirklich unheilvoll, kollusiv zusammengewirkt. Daher sollte auch der organisierte Sport seinen Beitrag leisten. Es gibt zum Beispiel Härtefälle unter den Dopingopfern der DDR, die einer weiteren Unterstützung bedürfen. Hier gäbe es Möglichkeiten, sich besonders zu engagieren. Insofern appelliere ich an dieser Stelle nochmals an den Deutschen Olympischen Sportbund, ebenfalls seiner Verantwortung gerecht zu werden. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Schröder. – Der nächste Redner in der Debatte: Dr. André Hahn für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. André Hahn (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Zweites Dopingopfer-Hilfegesetz ist seit langem überfällig. Deshalb sind wir als Linke und deshalb bin ich froh, dass nun endlich ein Gesetzentwurf der Bundesregierung auf dem Tisch liegt. Immerhin liegen zwischen der Verabschiedung des ersten Dopingopfer-Hilfegesetzes und dem jetzigen Entwurf 14 Jahre. Dieses erste Dopingopfer-Hilfegesetz trat 2007, also schon vor über acht Jahren, wieder außer Kraft. Lediglich 194 Betroffene haben damals eine Entschädigung erhalten. Die Zahl der tatsächlich Anspruchsberechtigten soll deutlich höher sein. Die Schätzungen liegen zwischen 1 000 und 2 000 ehemaligen Sportlerinnen und Sportlern. Einige von ihnen sind inzwischen leider bereits verstorben. Umso wichtiger ist es, dass der Gesetzentwurf jetzt nicht nur in erster Lesung auf den Weg gebracht, sondern möglichst auch noch vor der Sommerpause hier im Parlament verabschiedet wird. (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bis dahin sollten wir die Chance nutzen, am vorgelegten Gesetzentwurf einige Änderungen vorzunehmen. Ich möchte aus Sicht der Linken hier nur drei Punkte nennen: Erstens. Ich beginne mit dem Titel des Gesetzentwurfs, in dem leider wieder nur von finanzieller Hilfe für Dopingopfer der DDR die Rede ist. Die Position der Linken dazu ist ganz klar: Mehr als 25 Jahre nach der deutschen Einheit sollte endlich Schluss damit sein, die Opfer in Ost und West aufzuteilen. Das neue Gesetz muss für alle Dopingopfer gelten, egal ob sie in der DDR oder der alten BRD Leistungssport betrieben haben. (Beifall bei der LINKEN) Auch wenn die abschließenden Ergebnisse der unabhängigen Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin noch nicht vorliegen – was sich zuletzt dort abgespielt hat, ist wirklich ein Trauerspiel und wird den Sportausschuss noch beschäftigen –, so ist inzwischen doch wohl unstrittig, dass es in der DDR systematisches Doping gab, dass aber eben auch in der alten Bundesrepublik in erheblichem Umfang und zum Teil mit staatlicher Unterstützung im Leistungssport gedopt wurde. Deshalb sollten wir endlich allen Betroffenen in Deutschland, die die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, Zugang zu den Leistungen nach dem Dopingopfer-Hilfegesetz ermöglichen, unabhängig davon, wo sie geboren wurden oder ihren Sport betrieben haben. (Beifall bei der LINKEN) Zweiter Punkt. Die Dopingopfer sollen analog zum ersten Gesetz eine Einmalleistung in Höhe von je 10 500 Euro erhalten. Das klingt erst einmal nicht schlecht, ist aber mit Blick auf die zum Teil erheblichen Gesundheitsschäden, die sie infolge des Dopings nachweislich erlitten haben, eher eine symbolische Hilfe. Nach der Begriffsbestimmung „erhebliche Gesundheitsschäden“ in § 3 müssen die Betroffenen mehrheitlich eine anerkannte Schwerbehinderung haben. Wer sich jedoch mit dem Behindertenrecht und vor allem mit dem aktuell in der Diskussion befindlichen Bundesteilhabegesetz beschäftigt, der weiß, dass die meisten behindertenbedingten Nachteile letztlich nicht ausgeglichen werden und in vielen Fällen zu dauerhafter Verarmung der Betroffenen und zum Teil auch zur Verarmung ihrer Angehörigen führen. Deshalb ist unsere Verantwortung für diese Menschen mit der einmaligen Zahlung von 10 500 Euro nicht vom Tisch. Wir brauchen eine wissenschaftliche und politische Begleitung bei der Umsetzung des Gesetzes, um dann gegebenenfalls weitere erforderliche Maßnahmen beschließen zu können. (Beifall bei der LINKEN) Drittens. Wenn ich über Verantwortung rede, dann rede ich auch über die Verantwortung des DOSB als Nachfolgeorganisation der Sportverbände der alten BRD und der DDR. Hier will ich ganz deutlich sagen: Es reicht nicht aus, wenn der Deutsche Olympische Sportbund zwar verbal seine Bereitschaft erklärt, konstruktive Gespräche zu führen, und betont, dass er zu seiner moralischen Mitverantwortung steht, aber immer dann kneift, wenn es ernst wird und wenn es um eine finanzielle Beteiligung geht. Ich erwarte daher vom DOSB, dass er sich mit einem nennenswerten Betrag an dem einzurichtenden Hilfsfonds für die Dopingopfer beteiligt. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Eberhard Gienger [CDU/CSU]) Hier stimme ich auch Herrn Staatssekretär Schröder ganz ausdrücklich zu. Lassen Sie mich abschließend sagen: Das hier und heute diskutierte Dopingopfer-Hilfegesetz ist sicher nur ein kleiner, aber dennoch sehr notwendiger Teil in der gesamten Debatte um früheres und derzeitiges Doping im Sport. Die Linke unterstützt im Grundsatz den vorliegenden Gesetzentwurf ebenso wie das vor wenigen Monaten verabschiedete Anti-Doping-Gesetz und die anstehende Gesetzesänderung zur Strafbarkeit des Sportwettbetrugs. Wir benennen aber zugleich auch die Mängel an den Gesetzentwürfen in der Hoffnung, dass sich in der Koalition nicht Parteidogmen durchsetzen, sondern der Sportsgeist obsiegt und unsere konstruktiven Änderungsvorschläge wenigstens teilweise von der Koalition übernommen werden. In diesem Sinne: Sport frei und herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Jeannine Pflugradt [SPD]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Hahn. – Das Wort hat jetzt für die SPD-Fraktion Michaela Engelmeier. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Michaela Engelmeier (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unter der olympischen Idee versteht man eine Geisteshaltung, die auf der Ausgewogenheit von Körper und Geist beruht. Sport, Kultur und Erziehung sollen in einer Lebensweise verbunden werden, die auf Freude am körperlichen Einsatz, auf dem erzieherischen Wert des guten Beispiels und auf der Achtung fundamental und universal gültiger ethischer Prinzipien beruht. Zwar begrüßten in der ehemaligen DDR die Funktionäre und Trainer ihre Athletinnen und Athleten stets mit dem Gruß „Sport frei“, doch waren die Menschen weder frei noch konnten sie über ihren Körper frei verfügen. So schätzen Experten, dass in der DDR von 1974 bis 1989 etwa 12 000 Sportlerinnen und Sportler systematisch gedopt wurden. Mit dem vorliegenden Entwurf zum Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetz möchten wir unseren Beitrag zur öffentlichen Anerkennung leisten und stellen für Anspruchsberechtigte insgesamt 10,5 Millionen Euro zur Verfügung. Der erste Fonds war ein voller Erfolg, jedoch nur für die bereits angesprochenen 194 anerkannten Personen. Diese Lücke der Ungerechtigkeit möchten wir heute schließen. Gewiss kann dieser Fonds nur einen kleinen Beitrag leisten. Kein Geld der Welt kann für das angeordnete Staatsdoping entschädigen. So leben die Menschen und ihre Angehörigen noch heute mit den Folgen des körperlichen Missbrauchs. Mit der politischen Vorgabe des Staatsplans 14.25 zum Aufbau eines geheimen und umfassenden Systems des staatlich organisierten und erzwungenen Dopings bei Leistungssportlern verfolgte die DDR das Ziel, den sportlichen Ruhm des sozialistischen Vaterlandes zu steigern. Damit war dem Einsatz von perfiden Mitteln wie der Behandlung von Minderjährigen mit männlichen Sexualhormonen Tür und Tor geöffnet. Dabei spornte jeder Erfolg die damaligen Funktionäre noch mehr an mit dem Ergebnis, dass die DDR insgesamt 204-mal Olympiagold für sich verbuchen konnte. Somit bot der DDR-Hochleistungssport in besonderem Maße die Möglichkeit, internationales Ansehen zu erwerben. Nach dem Fall der Mauer kam es zu zahlreichen Gerichtsverhandlungen. Doch statt die Ärzte für ihre Handlungen mit dem Entzug ihrer Zulassung zu bestrafen, kamen sie meist mit geringen Strafen davon. Mehr noch: Aufgrund ihres Wissens waren sie nun für Sportverbände außerhalb unseres Landes interessant. Das und die derzeitigen Enthüllungen in Russland, Großbritannien usw. zeigen, dass das Thema Doping leider sehr aktuell bleibt. Anders als beim ersten Dopingopfer-Hilfegesetz von 2002 beteiligen sich diesmal weder der Deutsche Olympische Sportbund noch Jenapharm an der Ausgestaltung des Fonds. Gerade von einem Pharmaunternehmen, welches heute mit dem Slogan „Liebe. Leben. Gesundheit.“ wirbt, hätte ich mir mehr Verantwortung gewünscht. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Denn es leistete durch die Herstellung von Substanzen wie Oral-Turinabol, dem sogenannten „Blauen Blitz“, oder Mestanolon einen enormen Beitrag zum Staatsdoping. Der frühere Arzneimittelhersteller VEB Jenapharm produzierte die Medikamente einzig für Dopingzwecke. Sie waren nie zugelassen und kamen nie auf den Markt. Der Einsatz von nicht einmal in der DDR zugelassenen Medikamenten zur Leistungssteigerung ist durch Stasiakten und Zeugenaussagen bewiesen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam übrigens 2005 auch eine vom Nachfolgebetrieb Jenapharm in Auftrag gegebene Studie. Darüber hinaus deckt sie auf, dass das Unternehmen nicht nur Dopingmittel produzierte, sondern auch Präparate entwickelte, die die Dopingeinnahme verschleiern sollten. So sehen sich die Opfer im Nachgang als menschliche Versuchsobjekte der Pharmabranche. Schon Anfang der 1970er-Jahre waren dem Volkseigenen Betrieb Jenapharm, dem VEB Jenapharm, und den Verantwortlichen im Sport die schädlichen Nebenwirkungen bekannt. Im Nachgang zu den Olympischen Spielen in Montreal 1976 gab es wegen der starken Nebenwirkungen durch den „Blauen Blitz“, ein künstliches männliches Sexualhormon, die Anordnung, die Applikation sofort auszusetzen – ohne Erfolg. Zu groß war die Sorge, dass sich die Zahl der Siege der DDR verringern würde. Auch die Auflistung von verbotenen Wirkstoffgruppen durch das Internationale Olympische Komitee zwei Jahre zuvor, 1974, ließ die DDR-Staatsführung kalt. So waren die Funktionäre weiterhin um eine systematische staatliche Lenkung des verordneten Dopings bemüht. Den Athletinnen und Athleten hielten die damaligen Ärzte und Trainer bewusst die Information vor, was das für Pillen, Injektionen und Spritzen waren, die sie regelmäßig bekamen. Heute geht es uns nicht nur um Tumorbildungen, um Krebs als Folge jahrelanger Anabolikavergiftungen oder um lebensgefährliche Herzerkrankungen. Nein, es geht uns auch um Anerkennung für die Betroffenen, die nicht nur unter den körperlichen Folgen, sondern auch unter psychischen Belastungen leiden. Wie die Folgen für die Athletinnen und Athleten der DDR zeigen, ist Doping kein Wundermittel, sondern es birgt enorme Gefahren für Körper und Geist. Deswegen ist es uns wichtig, dass wir unseren Kampf gegen Doping weiterführen. Dabei ist uns mit dem Anti-Doping-Gesetz aus dem letzten Jahr ein Meilenstein gelungen. Denn immer noch greifen laut einer Studie der Deutschen Sporthilfe etwa 6 Prozent der Spitzensportler in Deutschland zu solchen Mitteln. Zum Schluss meiner Rede möchte auch ich an den Deutschen Olympischen Sportbund und an Jenapharm dringend appellieren, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Von ihnen geleistete Zahlungen von vor zehn Jahren waren ein richtiger Schritt. Öffnen Sie Ihre Herzen, öffnen Sie Ihre Schatullen, gehen Sie den Weg weiter, den Sie damals beschritten haben, und beteiligen Sie sich bitte an dem neuen Fonds! (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Michaela Engelmeier. – Nächste Rednerin in der Debatte: Monika Lazar für Bündnis 90/Die Grünen. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Endlich liegt er also vor, der Entwurf des Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetzes. Besser spät als nie, ist man versucht zu sagen; denn die zweite Auflage dieses Gesetzes ist mehr als überfällig. Da sind wir uns zum Glück alle einig; schließlich sind mittlerweile schon DDR-Dopingopfer gestorben. Dass wir dieses Thema hier im Bundestag beraten, ist auch ein Verdienst der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer weiß, wie lange die Regierungskoalition dieses Gesetzesvorhaben noch hinausgezögert hätte, hätten wir als Opposition nicht über Jahre hinweg konstant Druck gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich erinnere mich zum Beispiel noch sehr gut an eine Sportausschusssitzung vor circa einem Jahr und an die Worte des Parlamentarischen Staatssekretärs. Ich freue mich, dass die Regierung und auch Sie, Herr Schröder, ihre Meinung geändert haben. Bei dieser Sitzung habe ich nämlich gedacht: Zum Glück war sie nicht öffentlich. Ansonsten sehen wir das eher nicht so; aber das war keine schöne Auseinandersetzung, die wir geführt haben. Allerdings ist das Ergebnis entscheidend, und das geht in die richtige Richtung. (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Sag lieber, was er gesagt hat!) Mit dem Ersten Dopingopfer-Hilfegesetz konnte 2002 die Situation für viele vom DDR-Staatsdoping betroffene Sportlerinnen und Sportler zumindest vorübergehend gemildert werden. Wie wir heute wissen, wurden Kindern und Jugendlichen zwangsweise unter anderem Anabolika und Wachstumshormone verabreicht. Wer die als Vitamintabletten deklarierten Mittel nicht nehmen wollte, wurde meist, ohne es zu wissen, weiter gedopt, zum Beispiel in Form von Schokolade. Die Opfer leiden heute noch sowohl körperlich als auch psychisch. Das Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz ist, auch wenn der Entwurf reichlich spät kommt, eine wichtige Sache. Der erste Hilfsfonds hat immerhin schon – das wurde heute schon gesagt – 194 DDR-Dopingopfer entschädigt. Aber wie wir alle regelmäßig erfahren, melden sich immer noch weitere Opfer. Das liegt zum einen daran, dass bei vielen erst in jüngster Vergangenheit Spätfolgen auftraten, oder daran, dass diese Dopingopfer erst durch die mediale Aufmerksamkeit mitbekommen haben, dass die Krankheiten, die sie jetzt haben, eventuell auf die damalige Dopingpraxis zurückzuführen sind. Für uns können die einmaligen Zahlungen an die DDR-Dopingopfer allerdings nur ein Anfang sein. Sie sind notwendig, aber nicht ausreichend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Denn Opfer bleibender Schäden benötigen auch eine bleibende Hilfe. Die Einmalzahlung ist wichtig, und sie ist vor allem eine moralische Anerkennung des Zwangsdopings. Aber damit ist es noch nicht getan. Wir brauchen eine dauerhafte Unterstützung der Dopingopfer in Form einer Rente. Deshalb setzen wir uns weiter dafür ein, dass die DDR-Dopingopfer Zugang zu Renten nach dem Opferentschädigungsgesetz bekommen. Es ist schon angesprochen worden, wie langwierig und beschämend es ist, dass die Dopingopfer jahrelang quasi Bittsteller in den Sozialbehörden und auch vor Gericht sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Rechtsprechung der Gerichte ist leider nicht einheitlich; das Ganze ist wirklich sehr zäh. Hier gilt es, den Dopingopfern möglichst niedrigschwellig zu helfen und vor allem die bürokratischen Hürden abzubauen. Es ist auch wichtig, den Dopingopfer-Hilfe-Verein, den es ja seit Jahren gibt, und seine Beratungsstelle weiterhin finanziell und verstetigt zu fördern. Diese Förderung ist bis jetzt, so denke ich, auf einem sehr niedrigen Level. Wir alle bekommen etwas zurück, nämlich die fachliche Beratung. Sie ist sozusagen eine Peer-to-Peer-Beratung: Betroffene beraten Betroffene. An dieser Stelle möchte aber auch ich an den DOSB appellieren. Als Rechtsnachfolger des DDR-Sportsystems sollte auch der DOSB endlich Verantwortung übernehmen und erneut seinen finanziellen Beitrag leisten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Die Politik hat die ersten Schritte getan. Nun ist auch der organisierte Sport an der Reihe. An den DOSB gerichtet, sage ich deshalb: Lassen Sie diese Menschen nicht im Regen stehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Ich möchte die heutige Debatte nutzen, um an die Dopingpraxis in Westdeutschland zu erinnern; denn auch das gehört zu den dunklen Kapiteln der deutschen Sportgeschichte. Heute wissen wir: In den 1970er-Jahren bekleckerten sich besonders das Bundesinstitut für Sportwissenschaft und die Sportwissenschaftler der Uni Freiburg in Sachen Dopingbekämpfung nicht gerade mit Ruhm. Auch dieses Unrecht muss aufgeklärt werden. Doping schadet nicht nur den Sportlerinnen und Sportlern; Doping schadet auch dem Ansehen des Sports insgesamt. Nach den Korruptionsfällen in den Spitzenverbänden ist es auch und vor allem das Doping, welches die Integrität des Sports massiv beschädigt. Lassen Sie uns also die Aufarbeitung der Dopinggeschichte als Ansporn dafür nehmen, jetzt und in Zukunft für einen sauberen Sport zu kämpfen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Johannes Steiniger das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Johannes Steiniger (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich glaube, diese Debatte hat gezeigt: Es ist ein wahnsinnig ernstes Thema. Die Schicksale, die hier von verschiedenen Rednern beschrieben worden sind, machen betroffen. Lassen Sie mich, bevor ich auf das Dopingopfer-Hilfegesetz konkret zu sprechen komme und dabei in medias res gehe, zunächst einen kurzen Blick darauf werfen, was wir derzeit international in Sachen Doping erleben müssen. Wir sehen auf der einen Seite Marokko und Äthiopien, denen das Olympia-Aus droht, weil sie sich dem Kampf gegen Doping verweigern. Kenia, die Ukraine und Weißrussland weisen gravierende Defizite in der Frage der Bekämpfung von Doping auf. Der chinesische Schwimmverband soll Ergebnisse von positiven Proben vertuscht haben. Erst kürzlich haben wir Berichte über Doping aus England gehört. Ich glaube, es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass die Integrität des Sports und der olympische Gedanke gefährdet sind. Als Koalition machen wir deshalb Ernst im Kampf gegen Doping und haben im vergangenen Jahr das Anti-Doping-Gesetz verabschiedet. Dass es jetzt erste Ermittlungen gibt, zeigt: Dieses Gesetz greift. In diesem Zusammenhang zitiere ich einen ermittelnden Staatsanwalt im Fall von Doping beim Ringen. Dieser hofft, dass sich das – Zitat – „Kartell des Schweigens“ hinter den Dopingnetzwerken durch das Gesetz aufbrechen lässt. Um genau ein solches Netzwerk an Hintermännern geht es auch bei der Aufarbeitung des Zwangsdopings in der DDR. Im DDR-Dopingprogramm waren es allerdings keine privaten kriminellen Netzwerke, sondern es war der DDR-Unrechtsstaat selbst. Herr Dr. Hahn, das genau ist doch der Unterschied. Es gab das privat organisierte Doping auf der einen Seite und das von der DDR als Staat von oben herab organisierte Doping auf der anderen Seite, bei dem Sportlerinnen und Sportler ohne ihr Wissen gedopt wurden. Die Bundesrepublik Deutschland ist hier eben nicht der Rechtsnachfolger der DDR. Deswegen ist es richtig, wie wir an dieser Stelle das Dopingopfer-Hilfegesetz im Anschluss an das Gesetz von 2002 gemacht haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Im – auch das wurde schon erwähnt – sogenannten Staatsplanthema 14.25 gipfelte das geheime und flächendeckende System, in dem, staatlich organisiert und von oben erzwungen, Leistungssportler ohne ihr Wissen gedopt wurden. Das war vermutlich ein einzigartiger Missbrauch mit Medikamenten, ein großer Menschenversuch durch den Staat, wie das gerade eben auch der Staatssekretär gesagt hat. Die DDR war in der Folge eine der erfolgreichsten Sportnationen der Welt. 1988 in Seoul beispielsweise belegte sie Platz 2 im Medaillenspiegel. Wie wir heute aber wissen, meine sehr geehrten Damen und Herren, war dieser vermeintliche Erfolg sehr teuer erkauft. Nicht nur die Attribute des sauberen Sports, Fairness und Chancengleichheit, wurden nachhaltig beschädigt, sondern auch die Athletinnen und Athleten wurden durch einen verordneten Raubbau am eigenen Körper gesundheitlich, teilweise massiv, geschädigt. Wir haben heute einige Beispiele gehört. Gesundheitliche Folgeschäden sind unter anderem Krebs, Organversagen, Hormonstörungen oder Störungen des Bewegungsapparats. Im Übrigen kann man nur jedem empfehlen, einmal einen Blick auf die Homepage des Vereins doping-opfer-hilfe zu werfen, auf der die Bandbreite an Krankheiten sehr genau dokumentiert ist. Die Diskussion, die wir heute darüber führen, wie wir den Opfern von damals helfen können, ist auch ein Signal an die Sportler, die dieser Tage vielleicht mit dem Gedanken spielen, mithilfe von Doping ihre Leistung zu steigern: Ihr schadet der Integrität des Sportes. Ihr werdet auch dank des Anti-Doping-Gesetzes bestraft werden. Aber vor allem: Ihr geht ein enorm großes Risiko für eure Gesundheit ein. – Doping ist gefährlich. Doping lohnt sich nicht. Deswegen: Finger weg von Doping! (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zurück zum Dopingopfer-Hilfegesetz. Die Zahlen zeigen das Ausmaß des Zwangsdopings in der DDR. Über 10 000 Spitzenathleten im Leistungs- und Nachwuchssport wurden zu DDR-Zeiten gedopt. Wie perfide und systematisch gedopt wurde, zeigt sich in der Rolle des sogenannten Sportmedizinischen Dienstes, SMD. Die Spitzensportler in der DDR wurden nämlich nicht nur von ihren Trainern und Betreuern bewusst hinters Licht geführt, sondern auch von den lokalen Vereinsärzten, die das Vertrauen der Sportlerinnen und Sportler ausnutzten und sie täuschten. 1990 – diese Zahl ist interessant – umfasste allein der Sportmedizinische Dienst 600 Mitarbeiter. Man sieht, wie flächendeckend dieses Netz gewesen ist. Dessen Mitarbeiter haben sich ausschließlich mit dem Leistungssport befasst. Hier wird deutlich, wie stark und übermächtig der Staat auf der einen Seite war und wie klein dagegen der einzelne Sportler auf der anderen Seite gemacht wurde. Im Deutschlandfunk kamen unter dem Titel „Auf der Strecke geblieben. Die Opfer des deutsch-deutschen Medaillenrennens“ die Schicksale ostdeutscher Zwangsdopingopfer zur Sprache. Vor allem ihre Wut und Enttäuschung kamen zum Ausdruck. Die schockierenden Berichte darüber, zu welch krassen Mitteln sogar bei Minderjährigen gegriffen wurde, haben verschiedene Redner angesprochen. Die meisten Opfer haben erst Jahre nach dem Mauerfall von dem systematischen Doping an ihrem Körper erfahren. Für die Dopingopfer war und ist die Realisierung des Geschehenen ein schmerzhafter Prozess. Es ist unbegreiflich und nicht zu verstehen, dass man diese Schäden eben nicht selbst zu verantworten hat, sondern dass andere sie einem zugefügt haben. Das Erste und das jetzt folgende Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz sind ein starkes Zeichen dafür, dass die Bundesregierung und der Bundestag das Leid der Opfer und deren Schicksal anerkennen. Es geht eben nicht nur um eine finanzielle Einmalzahlung, sondern wir sagen auch: Wir erkennen dieses Leid und dieses Schicksal an. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Schröder hat bereits erläutert, wie dieses Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz an das erste Gesetz von 2002 anschließt. Ich möchte mich auch im Namen der AG Sport für die Initiative und das Engagement bedanken, und ich möchte auch appellieren, dass wir mit diesem Gesetz jetzt schnell, bis zur Sommerpause, fertig werden. Zusammenfassend will ich an dieser Stelle noch sagen, dass es uns als CDU/CSU-Fraktion wichtig war, dass jeder Geschädigte den gleichen Betrag erhält – unabhängig davon, wann der Antrag gestellt wurde, ob dies also von 2002 bis 2007 der Fall war oder ab jetzt geschieht – und dass die Ansprüche niedrigschwellig und kurzfristig geltend gemacht werden können. Durch die Abwicklung über das Bundesverwaltungsamt kann dies treffsicher geschehen. Wenn wir den Gesetzentwurf verabschiedet haben, ist es unser Auftrag als Gesetzgeber, den potenziell Anspruchsberechtigten mitzuteilen, dass sie von dem Dopingopfer-Hilfegesetz Gebrauch machen können. Meine Damen und Herren, ich wünsche mir sehr, dass wir mit diesem guten Gesetzentwurf ein Stück Gerechtigkeit für die Opfer des DDR-Dopings schaffen können, und ich freue mich, wenn wir das bis zur Sommerpause hinbekommen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Pflugradt für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jeannine Pflugradt (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir behandeln heute den Gesetzentwurf über eine finanzielle Hilfe für Dopingopfer der DDR, den Entwurf des Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetzes. Wir haben es heute schon mehrfach gehört: Es ist wichtig, dass wir darüber reden. Nach diesem Gesetz werden wir den Opfern des staatlich verordneten Dopings in der DDR finanzielle Hilfe gewähren. Voraussetzung hierfür ist, dass ihnen ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen Dopingsubstanzen verabreicht wurden und es wahrscheinlich ist, dass sie deshalb erhebliche gesundheitliche Schäden erlitten haben oder nach wie vor erleiden. Des Weiteren dürfen sie aus dem ersten Fonds keine finanziellen Hilfen erhalten haben. Es ist ganz einfach eine Frage der Solidarität, weitere Opfer genauso zu entschädigen, wie es der erste Fonds getan hat. Darum hätte auch ich es gut gefunden, wenn sich Jenapharm und der Deutsche Olympische Sportbund daran beteiligt hätten – einfach aus Gründen der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Eberhard Gienger [CDU/CSU]) Die SPD-Bundestagsfraktion bekennt sich heute jedenfalls erneut zu dieser moralischen Verpflichtung, und das möchte ich ganz intensiv betonen. Es muss einmal mehr ein deutliches Zeichen gesetzt werden, dass man angesichts der gesundheitlichen Schäden durch das staatlich verordnete Doping in der DDR nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann. Nach wie vor sind jedoch medizinische Fragen, die auch schon beim ersten Fonds im Vordergrund standen, noch nicht hinreichend geklärt. Dopinganalytiker und Endokrinologen bestätigen übereinstimmend, dass in jedem Einzelfall geprüft werden muss, ob die Ursache der gesundheitlichen Schäden tatsächlich in der Gabe von Dopingsubstanzen liegt. Ein wahrscheinlicher Zusammenhang ist kein ursächlicher Zusammenhang. Wenn wir nicht wollen, dass die Gelder, die wir für Dopingopfer bereitstellen, überwiegend für weitere medizinische Gutachten ausgegeben werden, dann müssen wir im Interesse einer guten, einwandfreien Regelung zu nachvollziehbaren Kriterien dafür kommen, wer Entschädigungsleistungen erhält und wer nicht. Nicht nachvollziehbar ist es, einen wahrscheinlichen Zusammenhang als einen ursächlichen Zusammenhang darzustellen. Natürlich bin ich dafür, das Unrecht an den Sportlerinnen und Sportlern aufzuklären, anzuerkennen und gerecht zu entschädigen. Ich bin aber für eine Differenzierung und genauere Betrachtung. Wir bewegen uns hier in einer sehr komplizierten rechtlichen Materie. Wir erwarten von den Opfern keinen Nachweis bis ins letzte Detail, sondern begnügen uns mit einer Wahrscheinlichkeit. Lassen wir die Entschädigungszahlungen auf Wahrscheinlichkeiten basieren, dann kann man an dieser Stelle eben nicht sehr viel mehr tun. Deshalb freue ich mich, dass in Mecklenburg-Vorpommern, an der Uniklinik Greifswald und an den Helios-Kliniken in Schwerin, zwei Studien zu diesem Thema geplant sind. Die eine ist eine Langzeitstudie, die andere ist eine etwa zweijährige Studie, die voraussichtlich ab dem Sommer die Daten analysieren und auswerten wird, die der Doping-Opfer-Hilfe-Verein sammelt. Vielleicht hätten wir vor der Auflegung des zweiten Fonds auf die Ergebnisse der Studie warten sollen; dann hätten wir eine genauere Datenbasis gehabt, um besser zwischen Wahrscheinlichem und Tatsächlichem zu unterscheiden. Darüber hinaus stellt sich für mich die Frage der Nachweispflicht im Antragsverfahren. Es gab Sportlerinnen und Sportler, die Kenntnis vom Einsatz von Dopingmitteln hatten und ihn billigend in Kauf genommen haben. Sicher, die Versuchung war groß. Der Staat begünstigte den Erfolg. Aus meiner Sicht gab es Täter, Mitwisser, Halbwissende und Menschen, die weggeschaut haben. Es gab tatsächlich aber auch Nichtwissende, Ahnungslose und Opfer. Diese Unterschiedlichkeit sollten wir beachten, wenn wir die Problematik angehen. Wir können auch heute nicht mit Sicherheit sagen, wer was wann mit oder ohne Wissen, gegen den Willen oder mit stillschweigendem Einverständnis eingenommen hat. Wir werden nicht mit absoluter Sicherheit den Nachweis des wissentlichen oder willigen Dopings führen können. Es wäre aber grundsätzlich falsch, daraus zu folgern, dass daher keine Entschädigung gezahlt werden sollte. Hier sind mit Sicherheit Menschen vorsätzlich manipuliert worden. Das ist eine Mahnung, dass sportliche Höchstleistungen nicht um jeden Preis erstrebenswert sind, weder für den persönlichen Ruhm oder zum Gewinnstreben noch zur staatlichen Repräsentation. Es ist eine Aufforderung, in dem Kampf nicht nachzulassen, die Prävention zu verstärken, die Kontrollen zu verbessern und Vergehen stärker und einheitlich zu sanktionieren. Das wünsche ich mir nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Auch in diesem Zusammenhang bin ich froh, dass wir das Anti-Doping-Gesetz bereits verabschiedet haben. Es hilft zwar nicht gegen vorsätzliches Staatsdoping, aber es bestraft diejenigen, die sportlichen Erfolg über Dopingsubstanzen zu erzielen versuchen. Mit diesem Gesetz geben wir keine endgültige Antwort auf die bestehenden Probleme des anhaltenden Dopings. Es vergeht kaum eine Woche, in der wir nicht von neuen Dopingfällen erfahren. Zumindest entschädigt es aber diejenigen, die durch den Staat bewusst einer möglichen Gefahr ausgesetzt waren und die benutzt und manipuliert wurden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/8040 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Sigrid Hupach, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einrichtung einer Kommission beim Bundesministerium der Finanzen zur Evaluierung der Staatsleistungen seit 1803 Drucksache 18/4842 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wenn alle teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen einen Platz gefunden haben, können wir die Debatte eröffnen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über einen Antrag, der den Weg dafür ebnen soll, einen Verfassungsauftrag einzulösen, und zwar noch bevor dieser schon 100 Jahre besteht. Es geht nicht um den Glauben von Menschen. Die Religionsfreiheit ist ein hohes Gut. Sie soll nicht angetastet werden, und das wird sie durch den vorliegenden Antrag auch nicht. Das zu erwähnen, ist mir auch angesichts der Geschichte meiner Partei ausgesprochen wichtig. Artikel 140 des Grundgesetzes macht Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung zum Bestandteil des Grundgesetzes. Die Weimarer Reichsverfassung stammt aus dem Jahr 1919. Der Artikel lautet: Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Jetzt kommt der entscheidende Satz: Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf. Es geht mithin um die Zahlungsverpflichtung des Staates an die Kirchen für die vor über 200 Jahren enteigneten kirchlichen Besitztümer. Über das ausgesprochen sinnvolle und hilfreiche Portal www.kleineanfragen.de lässt sich leicht herausbekommen, welchen Umfang diese Zahlungsverpflichtungen ausmachen. Knapp 13 Millionen Euro waren es 2015 in Schleswig-Holstein. Etwas mehr als 24 Millionen Euro waren es im Jahr 2015 in Sachsen. Knapp 24 Millionen Euro werden im Jahr 2016 in Thüringen fällig. In Berlin wurden im Jahr 2014 knapp 11 Millionen Euro an Staatsleistungen gezahlt. Wir wollen nun mit unserem Antrag dafür sorgen, dass eine Kommission zunächst prüft und bewertet, inwiefern die sogenannten Säkularisierungsverluste durch die seit 1919 gezahlten Leistungen angemessen ausgeglichen wurden, und dann Vorschläge unterbreitet, welche Konsequenzen der Gesetzgeber im Hinblick auf den zukünftigen Umgang mit diesen Zahlungen aus der Evaluierung ziehen sollte. Wir sind also nicht mehr ganz so revolutionär wie in der vergangenen Legislaturperiode. Da hatten wir nämlich einen Gesetzentwurf zur Ablösung der Staatsleistungen vorgelegt, den Sie damals abgelehnt haben. Nun wollen wir Ihnen quasi eine zweite Chance geben, den Verfassungsauftrag einzulösen, und zwar durch eine Win-win-Situation für alle. Da alle hier vertretenen Fraktionen in der vergangenen Legislaturperiode die Notwendigkeit der Einlösung des Verfassungsauftrags anerkannt haben, ist das meines Erachtens auch kein Problem. Ich zitiere Dieter Wiefelspütz, SPD: Ich bin also sehr dafür, … dass wir in Deutschland einen Diskussionsprozess organisieren – nicht nur hier im Parlament, sondern auch mit den Kirchen –, um darüber zu reden, wie das geht. Die Abgeordnete Flachsbarth, CDU/CSU: Gesprächen, die eine solche Ablösung im freundschaftlichen Einvernehmen intendieren würden, würden wir uns nicht entziehen … Selbst – hören Sie aufmerksam zu – Norbert Geis: Dazu sind Verhandlungen notwendig mit dem Ziel, eine einvernehmliche Regelung zu finden. Josef Winkler, Grüne: Wir sollten die Auseinandersetzung über Sinn und Zweck der Staatsleistungen und die rechtlichen Möglichkeiten ihrer Ablösung führen, … Wenn wir in dieser Legislaturperiode die Kommission einsetzen, dann kann diese bis zum Ende der Legislaturperiode ihre Ergebnisse vorlegen. Wir alle könnten uns dann dazu verhalten und sogar mit konkreten Aussagen, in welcher Höhe Staatsleistungen noch zu zahlen sind, ob überhaupt noch Staatsleistungen zu zahlen sind, in die Debatte gehen. Wir könnten damit sogar in den Wahlkampf gehen, wenn wir das möchten. Der nächste Bundestag kann dann auf der Grundlage der Empfehlungen der Kommission das Grundsätzegesetz zur Ablösung der Staatsleistungen beschließen. Wir alle hätten dann, bevor der Verfassungsauftrag 100 Jahre alt wird, diesen Verfassungsauftrag eingelöst. (Beifall bei der LINKEN) Meine Fraktion findet, dass es Zeit ist, dass dieser Auftrag eingelöst wird. Wenn ich noch einmal auf die Debatte in der vergangenen Legislaturperiode verweise und die eben genannten Zitate Ihnen noch einmal in Erinnerung rufe: Eigentlich sind ja alle hier der Meinung, dass dieser Verfassungsauftrag eingelöst werden sollte. Wenn das so ist, dann lassen Sie uns die Expertenkommission einsetzen. In der Kommission sollen Kirchenhistorikerinnen, Kirchen- und Verfassungsrechtlerinnen, Ökonominnen, aber auch Vertreterinnen der Länder und der beiden großen Amtskirchen mitarbeiten. Wir gehen mit diesem Antrag einen Schritt auf alle zu, nehmen alle Bedenken aus der vergangenen Wahlperiode auf, machen einen konkreten Vorschlag für einen Weg, wie man dem Verfassungsauftrag nachkommen kann. Aus sachlichen Gründen kann also eigentlich niemand diesem Antrag widersprechen. Deswegen bitte ich Sie: Stimmen Sie diesem Antrag einfach zu. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Margaret Horb das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Margaret Horb (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Jugendliche auf der Tribüne! Teil 2: Die Linke möchte eine Kommission einsetzen, um die Staatsleistungen an die Kirche zu evaluieren, also um den Geldwert festzustellen und zu überprüfen. Zum gleichen Thema haben Sie schon vor zwei Jahren eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Dort verraten Sie uns auch, wer Sie auf diese tolle und grandiose Idee gebracht hat. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Der Papst!) Es war – man höre und staune – nicht der Papst, sondern Wolfgang Kubicki mit einem Fachbeitrag auf focus.de. Die arme FDP! Zuerst fliegt sie aus dem Bundestag, und dann klaut ihr die Linke auch noch die Anträge. Das haben unsere Liberalen nicht verdient. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn sich die Linke aber in Zukunft finanzpolitisch an der FDP orientieren sollte, dann freuen wir uns ganz besonders auf die Debatten im Finanzausschuss und hier im Hohen Hause. Doch nun zur Sache. Was sind Staatsleistungen? In verschiedenen Phasen der deutschen Geschichte wurde den Kirchen vonseiten des Staates Vermögen entzogen, beispielsweise Ländereien. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: 1803!) Aus den Erträgen dieser Vermögenswerte hatte sich die Kirche bis dato finanziert. Mit den Enteignungen wurde den Kirchen somit ein Teil ihrer finanziellen Existenzgrundlage entzogen. Dafür entschädigen die Staatsleistungen. Staatsleistungen sind also keine Geschenke und auch keine Subventionen, sondern es sind historisch begründete Ersatzleistungen. Diese zahlt – hören Sie genau zu! – nicht der Bund, sondern diese zahlen die Länder. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Habe ich gerade vorgetragen! Hätten Sie mal zugehört!) Wahr ist, dass sowohl die Weimarer Reichsverfassung – darauf haben Sie zu Recht hingewiesen – als auch das Grundgesetz eine Ablösung der Staatsleistungen vorsehen. Wahr ist übrigens auch, dass die oft kritisierten Kirchen einer Ablösung der Staatsleistungen nicht im Wege stehen. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das habe ich ja gesagt!) Viele Bistümer und Landeskirchen haben hier – wie schon ausgeführt – Gesprächsbereitschaft signalisiert. Aber natürlich muss eine solche Ablösung fair ablaufen. Gelegentlich hört man die Behauptung, dass die Staatsleistungen bereits abgegolten seien, weil sie schon seit längerer Zeit gezahlt werden. Das ist geradezu absurd. Die Staatsleistungen basieren auf Verträgen zwischen den Kirchen und dem Staat. Das sind keine Ratentilgungsverträge. Wir bezahlen auch kein Haus und keine Kirche ab. Es handelt sich vielmehr um Entschädigungsleistungen, die auf Dauer angelegt sind. In einem Rechtsstaat ist ein geltender Vertrag ein geltender Vertrag. Dieser wird auch nicht dadurch hinfällig, dass er sehr alt ist. Nein, die Staatsleistungen müssten in Verhandlungen zwischen den Ländern und den Kirchen ordnungsgemäß abgelöst werden. Ablösung bedeutet Aufhebung der Zahlungen gegen Entschädigung. Wie hoch müssten nun die Entschädigungen ausfallen? Vom 18,6Fachen der aktuellen Zahlungen über das 20 und 25Fache bis zum 40Fachen findet sich hier in der Literatur alles. Nun könnte man meinen, dass die Linken genau dafür eine Kommission gründen wollen, um also herauszufinden, was denn der richtige Faktor ist. Um Transparenz und Klarheit geht es, könnte man meinen. Doch da kennen wir die Linke besser. Noch in der letzten Legislaturperiode haben Sie in diesem Haus einen Gesetzentwurf vorgelegt und wollten den Ländern vorschreiben, die Staatsleistungen abzulösen, wohlgemerkt mit einer Einmalzahlung in Höhe des Zehnfachen des bisherigen Jahresbetrags. Damals brauchten Sie keine Kommission, um die korrekte Höhe der Staatsleistungen zu bestimmen. Damals kannten Sie diese schon vorher. Daran sieht man, dass es Ihnen nicht darum geht, Transparenz zu schaffen. Vielmehr möchten Sie etwas ganz anderes. Sie wollen die Staatsleistungen abschaffen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Horb, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Margaret Horb (CDU/CSU): Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen. – Zu fordern, dass diese Staatsleistungen abgeschafft werden, ist Ihr gutes Recht. Leider geben Sie aber dabei – wie so oft – Geld aus, das Ihnen gar nicht gehört. Das ist in diesem Fall besonders perfide; denn – Kommission hin oder her – billig wird die Ablösung dieser Staatsleistungen für die Länder nicht. Ich habe mir für mein Heimatland Baden-Württemberg die entsprechenden Zahlen einmal genauer angeschaut. Im Jahr 2016 überweist Baden-Württemberg an die beiden katholischen Diözesen und die beiden evangelischen Landeskirchen Staatsleistungen in Höhe von nicht weniger als 118 Millionen Euro. Das ist zweifellos viel Geld, aber man muss auch bedenken, dass der Landeshaushalt selbst ein Volumen von über 46 Milliarden Euro hat. Bei den Staatsleistungen reden wir also hier von 2,5 Promille der Gesamtausgaben. Das ist haushalterisch tragbar. Wenn wir die Staatsleistungen ablösen, dann reden wir nicht mehr nur über 118 Millionen Euro in Baden-Württemberg. Wenn wir den Ablösefaktor von 18,6 zugrunde legen, dann landen wir bei einer Größenordnung von 2 Milliarden Euro, allein bezogen auf Baden-Württemberg. Das ist ein ganz schöner Brocken. 18,6 ist der kleinste Faktor, den ich in der seriösen Literatur habe finden können. Es gibt Wissenschaftler, die noch höhere Zahlen ansetzen. Solche Rechnungen muss man für jedes andere Bundesland auch anstellen – und das in einer Situation, in der ab 2020 für die Länder die Schuldenbremse greift. Das heißt nicht, dass man Staatsleistungen nicht ablösen kann. Inhaltlich können wir hinsichtlich der Staatsleistungen über alles reden, aber die Initiative dafür muss zwingend von den Ländern ausgehen; denn diese zahlen am Ende die Zeche. Gegen die Länder und ohne Absprache mit den Ländern werden wir dies mit Sicherheit nicht tun. Wir werden keine Evaluierungskommission einsetzen. Das wäre einfach unredlich. Liebe Linke, ich mache Ihnen jetzt einen Vorschlag. Sie sind an einigen Landesregierungen beteiligt. In Thüringen stellen Sie, sehr zu meinem Leidwesen, sogar den Ministerpräsidenten. Wenn Sie eine Kommission zur Evaluierung der Staatsleistungen gründen wollen, dann machen Sie es dort, in den Ländern; denn da gehören diese Kommissionen hin. Was hört man jetzt aus Erfurt zu den Staatsleistungen? Nichts. Im Bundestag die Anträge vorlegen, aber in den Ländern die Füße hochlegen. So geht das nicht, liebe Linke. (Beifall bei der CDU/CSU) Der historische Hintergrund und der Umfang der Staatsleistungen sind nämlich in den Ländern, wie bereits ausgeführt, höchst unterschiedlich. Eine Evaluierung sollte daher selbstredend vor Ort stattfinden. Jedes Bundesland hat die Möglichkeit, im Einvernehmen mit den Kirchen die Staatsleistungen zu verändern, umzugestalten, abzulösen und vorher meinetwegen auch eine Evaluierungskommission zu gründen. Wenn die Länder das tun – gut. Wenn sie das nicht tun, dann lässt das eigentlich nur den Schluss zu, dass die Länder mit dem derzeitigen System zufrieden sind. Noch einmal: Es sind die Länder, die dies bezahlen müssen. Die Länder brauchen den Bund nicht, wenn sie die Staatsleistungen ablösen wollen. Der vorliegende Antrag, den die Linke hier stellt, ist daher ein bisschen heuchlerisch, ein bisschen unredlich, aber auf jeden Fall unnötig. Also, liebe Linke, wenn ihr das nächste Mal einen Antrag von der FDP abschreibt, dann sucht euch bitte einen Vorschlag aus, der ein bisschen sinnvoller ist. Diesen Antrag werden wir vonseiten der CDU/CSU-Fraktion auf jeden Fall ablehnen. Ich hoffe, dass Sie mich bei Ihrem nächsten Antrag zitieren. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Wawzyniak das Wort. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Da Sie eine Zwischenfrage nicht zugelassen haben, muss ich eine Kurzintervention machen. – Zunächst möchte ich Sie darauf hinweisen, dass wir in der vorigen Legislaturperiode – das haben Sie zu Recht erwähnt – einen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Das war vor dem Beitrag von Herrn Kubicki. Wenn, dann hat Herr Kubicki bei uns abgeschrieben. Pech für die Liberalen. (Beifall bei der LINKEN) Ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht zugehört haben. Offensichtlich haben Sie nicht zugehört. Deswegen will ich das an dieser Stelle wiederholen: Ich habe an diesem Pult gesagt, dass wir die Einwände, die gegen den Gesetzentwurf in der letzten Legislaturperiode gekommen sind, aufgenommen haben und dass wir vor dem Hintergrund der Einwände diesen Antrag auf Einsetzung einer Kommission gestellt haben. In dieser Kommission – wenn Sie den Antrag noch einmal lesen möchten – sind im Übrigen Ländervertreter vorgesehen. Die Länder wären also mit am Tisch. Ein letzter Punkt. Sie haben gesagt, die Länder könnten die Staatsleistungen einfach ablösen. Ich habe vorhin in der Rede auch Artikel 138 Weimarer Reichsverfassung zitiert. Die Grundsätze für die Ablösung muss das Reich und jetzt, da das im Grundgesetz steht, der Bund aufstellen. Die Länder können überhaupt erst dann ablösen, wenn der Bund die Grundsätze aufgestellt hat. Deswegen macht eine Kommission beim Bundesministerium der Finanzen auch Sinn. Deswegen muss ich Ihnen leider sagen: Einmal zuhören, einmal lesen, das bringt eine bessere Rede. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Sie möchten erwidern? – Nein. Dann hat jetzt der Kollege Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon bezeichnend, dass Sie nicht geantwortet haben, Frau Horb; ich fand Ihre Rede auch ziemlich schade. Es ist so, dass man nicht wegnegieren kann, nicht wegschieben kann, was in der Verfassung steht. In der Verfassung steht sehr deutlich, dass es da eine Arbeitsteilung gibt. Die Grundsätze müssen wir hier festlegen, und dann sollen die Länder agieren. Deswegen kann man da gar keinen Bund-Länder-Konflikt aufmachen, wie Sie es gemacht haben. Das war ein bisschen billig parteipolitisch – bei einer Frage, bei der man doch zugeben muss, dass das heutzutage auch viele Menschen in den Kirchen nicht mehr verstehen. Dass auf der Grundlage einer historischen Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – das liegt schon arg weit zurück – heute Zahlungen zwischen Kirche und Staat erfolgen, in einer ganz vielfältigen und für viele Menschen intransparenten Art und Weise, ist nicht mehr vermittelbar, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) und zwar auf beiden Seiten nicht mehr vermittelbar. Dem Steuerzahler ist es nicht vermittelbar, der den Anspruch hat, dass transparent ist, für was eigentlich Leistungen gezahlt werden, was die Rechtsgrundlage ist. Es ist auch auf der Kirchenseite nicht vermittelbar. Viele Mitglieder sagen: Auch wir wollen eine Klarheit bezüglich der kirchlichen Finanzen und wollen, dass das nicht intransparent geregelt ist. Es ist außerdem nicht vermittelbar, dass es einen Verfassungsauftrag gibt, der jetzt fast 100 Jahre besteht – zunächst in der Weimarer Reichsverfassung, dann im Grundgesetz –, der Gesetzgeber auf Bundesebene, vorher auf Reichsebene, aber nicht die Kraft findet, die Eckwerte festzulegen. Das kann man doch niemandem mehr erklären. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich finde, dann darf man auch in der parlamentarischen Auseinandersetzung einmal anerkennen, dass vonseiten der Linksfraktion ein Vorschlag gemacht worden ist, bei dem vielleicht noch nicht alles so ist, wie wir es formulieren würden, der aber im Grundansatz trägt, nämlich jetzt in einer Kommission die Menschen, die daran beteiligt sind – von wissenschaftlicher Seite, von politischer Seite, Bund und Länder und natürlich auch die Kirchen –, an einen Tisch zu bringen, um einen Weg zu finden. Dieser Vorschlag ist gut. Ich darf sagen: Unsere Fraktion unterstützt ihn ausdrücklich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Er trägt genau dem Rechnung, was für Ihre Fraktion, Frau Horb, in der letzten Legislaturperiode gesagt worden ist: Eine einseitige Ablösung ohne solide Rechnungsbasis, ohne Einbeziehung der Länder und der Kirchen darf es nicht geben. – Das soll es auch nicht geben; Sie könnten zustimmen. Kollege Geis hat gesagt: „Es gibt in dieser Frage kein Gewohnheitsrecht.“ Ja, es muss jetzt eine Rechtsgrundlage geschaffen werden. Sie haben an einer Stelle natürlich recht: Die Länder haben – das ist, finden wir, ein gangbarer Weg – an einzelnen Stellen Ablösungsvereinbarungen getroffen. Eine solche gibt es in Nordrhein-Westfalen mit dem Bistum Paderborn. Das gab es auch schon in Bayern und in Hessen. Das kann durchaus ein Weg sein, aber er entbindet uns als Gesetzgeber auf Bundesebene nicht von dem Auftrag, den unsere Verfassung uns gibt, und dem sollten wir endlich nachkommen. In wenigen Jahren ist der 100. Geburtstag der Weimarer Reichsverfassung. Ich finde, bis dahin sollte man das wirklich geschafft haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Manfred Zöllmer [SPD]) Man muss eine Sache natürlich sehen, und da liegt die Schwierigkeit: Wenn nach den heutigen Zinssätzen – wir sind quasi bei null – entschädigt werden soll, dann kann man natürlich astronomische Zahlen zusammenrechnen. Das ist auch der Grund, warum die Ablösung bisher nicht geklappt hat. Es wird daher eines Entgegenkommens auch der Kirchen bedürfen, um eine Frage in der Zukunft so zu regeln, dass alle in diesem Land das unterstützen können. Deswegen muss man sich zusammensetzen. Mein Appell ist, dass sich alle Beteiligten an dieser Stelle bewegen, hier im Haus und in der Gesellschaft, um eine zufriedenstellende Lösung für die Zukunft zu finden; denn dass das viele Leute umtreibt, können Sie an der gesellschaftlichen Diskussion ja sehen. Ich will allerdings sagen, dass wir an einer Stelle auch ein bisschen Zweifel haben, was die Formulierung des Antrags angeht. Aber so etwas kann man sich im weiteren Verfahren im Ausschuss noch einmal anschauen. Bei Punkt 3 könnte der Eindruck entstehen, dass es rechtlich so ist: Das, was seit 1919 schon gezahlt worden ist, kann man sozusagen anrechnen. – Wir teilen diese Rechtsauffassung so nicht. Aber ich glaube, dieser Punkt muss nicht so bleiben. Man kann das im Ausschuss vielleicht noch einmal gemeinsam diskutieren und so formulieren, dass alle mitgehen. Ich hoffe und wünsche mir wirklich sehr, dass wir das gemeinsam hinkriegen. Zeiten von Großen Koalitionen sind ja manchmal auch Zeiten, in denen längerfristige Aufgaben endlich einmal angegangen werden. Vielleicht geben Sie sich ja einen Ruck. Hier vor dem 100. Geburtstag der Weimarer Reichsverfassung den Auftrag einzulösen, wäre wahrlich wirklich nötig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Andreas Schwarz für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Andreas Schwarz (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als mir mitgeteilt wurde, dass ich am heutigen Freitagnachmittag eine Rede halten darf, hat mich das erst einmal sehr gefreut, da zeitgleich auf der Tribüne eine Besuchergruppe aus meinem Wahlkreis Platz genommen hat. Herzlich willkommen, Memmelsdorf! (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN) Das Thema dieser Rede reicht bis ins Jahr 1803 zurück. Das war eine Überraschung für mich. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass die stolze Sozialdemokratie im Prinzip die älteste Konstante in diesem Hohen Hause ist. Aber nun weiß ich: Der Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 beschäftigt die Politik dieses Landes sogar noch länger. Worum geht es im Einzelnen? Im Jahr 1803 wurden im Rahmen der staatlichen Säkularisierung die Kirchen teilweise enteignet, etwa Klöster und Ländereien. Seither fließen Entschädigungszahlungen, um beispielsweise die Seelsorge trotzdem aufrechtzuerhalten. Im Jahre 1919 wurden viele Kirchenrechtsregelungen aus dem Kaiserreich in die Verfassung der Weimarer Republik aufgenommen, aber eben auch, dass die Regelungen zur Kirchenfinanzierung neu verhandelt und neu geordnet werden müssten. Der Artikel wurde ja schon genannt: In Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung ist das nachzulesen, und vom Kollegen Schick haben wir ja die Hausaufgabe bekommen, zum Jubiläum das zu erledigen. Dieser Auftrag wurde mit Artikel 140 im Jahr 1949 auch ins Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland übernommen. Seither – das ist sicherlich einigermaßen erstaunlich – ist wenig bis gar nichts passiert. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Kirchen in unserem Land tragen eine nicht hoch genug einzuschätzende Verantwortung für das Gemeinwohl in Deutschland. Nicht zuletzt in der Flüchtlingsfrage sind die Kirchen in unserem Land unverzichtbarer Partner einer humanen und menschenwürdigen Flüchtlingspolitik. Die kirchliche Seelsorge gibt den Menschen in unserem Land in einer immer schneller werdenden Welt Halt und Konstanz. Ohne die sozialen und karitativen Leistungen der Kirchen sähe mit Sicherheit der gesellschaftliche Zusammenhalt in unserem Land ganz anders aus. Diesen Umstand sollten wir natürlich auch bei der Debatte über die Finanzierung von Kirchen und Religionsgemeinschaften in unserem Land nicht vergessen. Vor einigen Jahren haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, bereits einen Gesetzentwurf zu diesem Thema eingebracht. Heute diskutieren wir einen Antrag zu diesem Thema. Sie fordern darin im Wesentlichen vier Punkte. Drei von diesen Punkten können wir mit Sicherheit etwas abgewinnen, einem jedoch nicht. Da dieser jedoch der zentrale Punkt des Antrags ist, können wir dem Antrag insgesamt nicht zustimmen. Sie fordern nicht zu Unrecht, dass es Zeit wird, den Umfang der Säkularisierungsverluste aus dem Jahr 1803 zu ermitteln. Dabei spielt natürlich eine Rolle, wie hoch die Entschädigungszahlungen seit dem Jahr 1919 sind. Ich glaube übrigens, dass die Differenz aus beiden Zahlen Sie eher überraschen würde als mich. Jetzt stoßen wir aber auf das aus meiner Sicht entscheidende Problem: In Ihrem Antrag fordern Sie die Einsetzung einer Kommission beim Bundesfinanzministerium, bestehend aus – ich zitiere –: Expertinnen und Experten wie (Kirchen-)Historikerinnen und (Kirchen-)Historikern, Kirchen- und/oder Verfassungsrechtlerinnen und -rechtlern, Ökonominnen und Ökonomen sowie Vertreterinnen und Vertretern der Bundesländer sowie der beiden großen Amtskirchen … Ich sage Ihnen, mit Verlaub, als Franke: Da wird hoffentlich eher der 1. FC Nürnberg wieder Deutscher Meister, als dass diese Kommission in absehbarer Zeit zu einem Ergebnis kommt. Wenn Sie schon in so einem großen Rahmen über Staatsleistungen und deren Zukunft diskutieren wollen, dann frage ich mich: Wo sind die anderen Religionsgemeinschaften, die von Staatsverträgen profitieren? Ob es nun die jüdische Gemeinde in Sachsen-Anhalt oder die in Hamburg lebenden Muslime und Aleviten sind: Sollen sie nicht an der Debatte beteiligt werden? (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Doch! Aber die sind nicht abzulösen!) Bei dem großen Rahmen, in dem eine solche Kommission tagen müsste, würde eine Lösung vermutlich noch weitere 100 Jahre dauern. Nein, ich glaube, Sie zäumen das Pferd mehr von hinten auf. Ja, wenn der Verfassungsauftrag erfüllt werden soll, muss der Bund irgendwann gesetzgeberisch tätig werden, in welcher Form auch immer. Aber zuvor muss es aus unserer Sicht Gespräche auf viel kleinerer Ebene geben. Die Staatsverträge sind zwischen Bundesländern und Kirchen geschlossen und können nur zwischen diesen einvernehmlich geregelt werden. Einige Bundesländer zahlen viel, wie wir gehört haben, andere zahlen weniger. Teilweise erfolgt auf der kommunalen Ebene schon gar keine Zahlung mehr. Das bedeutet, Gespräche zwischen Landeskirchen, Bundesländern und Kommunen sind nötig. Es gibt Signale: Sowohl Kirchen als auch Länder sind bereit, Gespräche zu führen. Erst danach kann nach unserer Auffassung der Bund hier tätig werden. Diese Gespräche sind unfassbar komplex; das weiß ich als ehemaliger Bürgermeister. Dazu kann sicherlich auch mein Kollege, der hier heute aus Memmelsdorf anwesend ist, einiges aus seinem Erfahrungsschatz berichten. Beispielsweise mit Kirchen über die Fragen von Unterhalt und Kirchenbaulast zu diskutieren, gestaltet sich sehr schwierig und ist auch sehr zeitaufwendig. Im Übrigen haben Sie ein Bundesland, in dem Sie einmal einen Testballon steigen lassen können, um zu sehen, ob Ihre Idee fruchtet und greift. Bis dahin bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit und wünsche allen ein schönes Wochenende. Danke. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Markus Koob für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Markus Koob (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute beschäftigen wir uns mit den Staatsleistungen an Kirchen, ein Baustein in den allgemeinen Finanzbeziehungen zwischen Staat und Kirche. Per Definition sind Staatsleistungen finanzielle Zuwendungen des Staates an die Kirchen, die die historische weitreichende Enteignung von kirchlichem Eigentum entschädigen sollen. Diese Leistungen sind also keine Subventionen, sondern Ersatz dafür, dass der Staat sich mehrfach in der Geschichte Kircheneigentum angeeignet hat. Entschädigungszahlungen für diese damaligen massiven Enteignungen werden noch heute an die beiden großen Amtskirchen in fast allen Bundesländern – mit Ausnahme von Hamburg und Bremen – erbracht. Im Jahr 2015 belief sich die gesamte Staatsleistung der 14 Bundesländer an die Kirchen auf 510 Millionen Euro. Das besondere Merkmal von Staatsleistungen ist: Es sind wiederkehrende Zahlungsverpflichtungen und keine Ratentilgung – das ist schon mehrfach erwähnt worden – mit einem festgelegten oder einem einseitig bestimmbaren Ende. Eine Ablösung müsste vielmehr eine volle Leistungsäquivalenz und nicht nur eine angemessene Entschädigung mit sich bringen. Mir drängt sich dabei, ähnlich wie der Kollegin Horb, der Verdacht auf, dass es der Linken gar nicht in erster Linie darum geht, sondern vielmehr darum, die Zahlung der Staatsleistungen so schnell wie möglich zu beenden. Sie haben auch in einem Nebensatz erwähnt, man könnte das auch im Wahlkampf zum Thema machen. Das fand ich erhellend; das gibt uns Auskunft darüber, was der eigentliche Ansatz dieses Antrages ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber Sie sind im Vergleich zum letzten Mal eleganter geworden, indem Sie nun vorschlagen, eine Kommission einzurichten, und nicht mehr gleich per Gesetz die Abschaffung fordern. Insofern haben Sie, was Ihren Stil angeht, etwas gelernt. Juristen würden es ein Dauerschuldverhältnis nennen. Im kirchenrechtlichen Fachjargon werden diese Staatsleistungen Dotationen genannt. Unabhängig davon, ob Jurist oder Kirchenvertreter: Jeder kann der Verfassung unmissverständlich den Auftrag entnehmen, dass die Staatsleistungen abzulösen sind. Darin sind wir uns einig. Das heißt im Klartext: Weg von der dauerhaften, hin zu einer einmaligen abschließenden und vor allem angemessenen Zahlung. Das Ziel der Ablösung ist also legitim, aber spannend ist die Frage des Wie. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis – Frau Kollegin Horb hat es auch schon gesagt –, wenn ich Ihnen sage, dass wir den Ansatz der Linksfraktion für falsch halten. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann machen Sie einen eigenen! Wenigstens das!) – Dazu komme ich gleich noch. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Da bin ich gespannt!) Staatsleistungen abzulösen, entspringt, wie gesagt, grundsätzlich einer allgemein akzeptierten Logik. Rechtsverhältnisse und Finanzbeziehungen von Staat und Kirchen sind in beiderseitigem Interesse zu entflechten. Das ist breiter Konsens. Konsens ist aber auch, dass das nur dann erfolgreich sein kann, wenn wir es in einem partnerschaftlichen Miteinander in Angriff nehmen. Vor allem zwischen den Gläubigern und den Schuldnern muss es ein partnerschaftliches Miteinander bei der Ablösung von Staatsleistungen geben. Und hier ist die Sachlage eindeutig. Schuldner sind die 14 Bundesländer, Gläubiger die Kirchen. Wie beenden nun Gläubiger und Schuldner dieses Zahlungsverhältnis? Wie können also die Staatsleistungen abgelöst werden? (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Rein grundsätzlich!) Darauf eine Antwort zu geben, ist schwer. Mit Sicherheit kann gesagt werden: Eine ersatzlose Aufkündigung seitens des Staates – also ein Zahlungsstopp ohne Kompensation – ist weder im Sinne der Verfassung, noch kann dies angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung der Kirchen von irgendjemandem gewollt sein. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das fordert auch keiner!) In der Theorie geht ja immer alles. In der Theorie könnten wir natürlich, wie von den Linken gewollt, eine Kommission einsetzen, die uns den Preis für die Ablösung bestimmt. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja!) Politik findet aber nicht im theoretischen bzw. im luftleeren Raum statt, sondern sie ist praktisch wie jede Bürgerin und jeder Bürger an Rahmenbedingungen gebunden. Selbst wenn wir unterstellen – ich verweise hier gerne wieder auf die Kollegin Horb –, dass der kleinste Ablösefaktor 18,6 angewendet werden würde, hätte das eine gewichtige Konsequenz. Wir würden dann über 9,5 Milliarden Euro reden, die den Bundesländern entzogen werden müssten. Der zentrale Ansatz, eine Kommission beim Bundesfinanzministerium einzurichten, ist in der Sache nicht richtig. Die konkrete Ausgestaltung der Staatsleistung ist in den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlich und schwer vergleichbar. So haben wir zum Beispiel in den ostdeutschen Bundesländern die Situation, dass die dortigen Kirchen aufgrund der deutschen Teilung jahrzehntelang von ihren Rechtstiteln gar keinen Gebrauch machen konnten. Deshalb sollte man nicht einen akuten gesetzlichen Handlungsbedarf beim Bund herbeireden, sondern vielmehr die Bundesländer konstruktiv unterstützen, individuelle Lösungen zu finden. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das ist ein Verfassungsauftrag!) Mein Heimatland Hessen hat das übrigens – Stichwort Ablösung von Kirchenbaulasten – vorbildlich gemacht. Im Jahr 2003 kam es unter der CDU-geführten Landesregierung mit dem damaligen Ministerpräsidenten Roland Koch zu einer bundesweit beachteten Rahmenvereinbarung zwischen Staat und Kirchen sowie Städten und Gemeinden. Konkret ging es dabei um die konfliktträchtige Frage, in welcher Höhe sich das Land Hessen an Bau und Unterhalt kirchlicher Gebäude beteiligen muss. Das war kein kleines Problem; denn hier ging es immerhin um 1 200 kirchlich genutzte Gebäude. Die hessische Landesregierung hat nicht nur das Problem identifiziert, sondern auch einen Lösungsprozess initiiert. Die Ablösung der kommunalen Kirchenbaulasten in Hessen ist seitdem eine vielzitierte politische Best Practice. Ich bin mir sicher, dass die hessische Staatskanzlei gerne auch Anrufe aus Thüringen entgegennimmt, um darzustellen, wie im Bereich der Ablösung von Staatsleistungen ein zielführender Lösungsprozess eingeleitet werden kann. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das löst den Verfassungsauftrag nicht!) In der Bundespolitik bestärkt uns das Beispiel Hessen jedenfalls. Wir müssen den Ländern hier die Flexibilität lassen, individuelle Lösungen im Zusammenwirken mit den Kirchen zu finden. Das ist gutes föderales Miteinander, das ist ein partnerschaftliches Miteinander von Staat und Kirche. Und dazu bekennt sich unsere Fraktion in aller Form. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sollten daher zunächst auf freiwillige, in Einzelfragen angemessene Lösungen zwischen den Beteiligten setzen. Der erste Schritt dazu ist, heute Ihren Antrag abzulehnen. (Lachen bei der LINKEN – Zuruf von der LINKEN: Das ist eine Logik!) Lassen Sie mich die Debatte bewusst im Geist christlicher Friedfertigkeit beenden. Denn am Ende einer solchen Debatte müssen wir den Kirchen vor allem auch angesichts ihres Beitrags in der gegenwärtigen Situation Dank und Anerkennung zollen. Hunderttausende Hauptamtliche und Ehrenamtliche in beiden Kirchen sorgen tagtäglich dafür, dass gesellschaftliches Leben in Deutschland funktioniert. In den Bereichen Pflege, Seelsorge, Betreuung, Bildung und Denkmalpflege sowie durch unzählige weitere Tätigkeiten tun Kirchen dies jeden Tag. Damit decken sie viele Bereiche ab, die für Staat und Gesellschaft von essenzieller Bedeutung sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Staat kann im 21. Jahrhundert nicht alle Aufgaben vollumfänglich übernehmen. Er ist auf Ehrenamt und Engagement angewiesen. Die Kirchen in Deutschland leisten auf diesem Gebiet enorme Arbeit und dienen in hervorragender Weise dem Gemeinwohl. Daher sind uns die gesellschaftliche Bedeutung und das Wirken der Kirchen besonders wertvoll. In der Tat sind 510 Millionen Euro für die Kirchen sehr viel Geld. Wenn wir das an ihren gesellschaftlichen Leistungen messen, wäre die Gesellschaft ohne die staatlichen Leistungen der 14 Länder an die Kirchen aber nicht reicher, sondern wesentlich ärmer. Das sollte es uns wert sein. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Lothar Binding für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Margaret Horb, mich hat die Schärfe in der Debatte ein kleines bisschen überrascht. Ich weiß nicht genau, was dahintersteckt; denn eines ist klar: Die soziale Arbeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften wird von allen im Haus geschätzt. Es gibt niemanden, der daran kratzt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das Engagement für Flüchtlinge, für Asylbewerber wird geschätzt. Es gibt niemanden, der das bestreitet. (Margaret Horb [CDU/CSU]: Das habe ich nicht bestritten!) Die Arbeit in der Entwicklungshilfe, der Entwicklungspolitik und für das Gemeinwesen wird geschätzt. Das wird nicht bestritten. Da muss man sich nicht verkämpfen, (Margaret Horb [CDU/CSU]: Habe ich nicht!) es darf auch nicht subkutan mitschwingen, so als ob es da Probleme gäbe. Es gibt durchaus Bürger, die eine ganz andere Frage stellen. Mich hat einer angerufen und gefragt, ob ich heute thematisieren würde, wie denn eigentlich die Reichtümer der Kirche bis 1803 entstanden sind. Diese Sache kirchenhistorisch aufzuarbeiten, wäre sehr kritisch; aber das ist heute nicht Thema. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein typischer Binding!) Insofern ist es ganz gut, wenn wir uns den rechtsförmlichen Dingen widmen. Man muss sagen: Der bayerische Landesbischof hat sein Befremden darüber zum Ausdruck gebracht, dass sein Gehalt aus dem Landeshaushalt bezahlt wird. Es ist also auch in Kirchenkreisen nicht immer ganz klar, wie diese Verbindung aussieht. Dieter Wiefelspütz hat am 27. Juni 2013 gesagt – ich will es zitieren –: Nach Art. 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 138 der Weimarer Reichsverfassung ist der Bund verpflichtet, ein Grundsätzegesetz über die Ablösung der Staatsleistungen an Religionsgesellschaften zu erlassen. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja, da hat er recht! Richtig!) Eigentlich ist alles klar. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb muss man gar nicht weiter darüber nachdenken. Die Rechtslage ist klar. Was die Dimension angeht, zitiere ich eine Frau, die es genau weiß, nämlich Kerstin Griese. Sie hat 2013 hier gesagt, dass der Betrag, um den es geht, 2 Prozent des Etats für die kirchliche Arbeit ausmacht. Es ist also auch aus Sicht der Kirche kein Betrag, der finanzpolitisch von der Bedeutung ist, mit der wir ihn heute betrachten. Also, die Rechtslage ist klar, die finanzpolitische Frage ist geklärt. Es ist also sinnvoll, das Thema zu behandeln. Ein bisschen peinlich ist es, dass es so lange gedauert hat. Da will ich vielleicht den Linken den Vorwurf machen: Der Antrag hätte schon etwa in den 20er-Jahren gestellt werden müssen. (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das muss ich sagen. Das sind halt Versäumnisse. Aber man muss auch über solche Dinge reden. Euer erster Gesetzentwurf zur Ablösung der Staatsleistungen kam im Jahr 2012. Diesmal soll evaluiert werden. Das finden die meisten hier gut. Ich persönlich finde es sehr gut. Ich würde dem Antrag auch zustimmen. Aber jeder im Haus weiß, dass in Regierungskoalitionen nur passiert, was beide verabreden. Da gehen wir fair miteinander um. Es bestand keine Chance, dass wir das in der Koalition so miteinander verabreden. Das hat auch die Rede von Frau Horb gezeigt. Insofern ist klar, wie wir uns hier verhalten. Es ist eine komplizierte Sache, überhaupt zu berechnen, wie hoch ein solcher Ablösebetrag sein müsste. Das ist sicherlich eine Frage, für deren Klärung man eine Kommission und wissenschaftliche Beratung braucht. Ganz besonders braucht man dabei eine Beteiligung aller, die davon betroffen sind. Wenn man fair mit dem Thema umgeht, dann findet man auch eine Lösung. Denn man muss sagen – ob wir nun in einem säkularen oder einem laizistischen Staat leben –: Auch die Kirche hat ein Interesse daran, solche Reibungspunkte zu beseitigen. Denn das ist ja doch eine Sache, über die immer wieder diskutiert wird. Wenn über 100 Jahre darüber diskutiert wird, dann könnten beide Seiten ein Interesse haben, das Problem zu lösen. Wir haben gesehen: Hamburg und Bremen haben Antworten gefunden. Solche Antworten könnten auch andere Länder finden. Wir werden heute zwar nicht diesem Antrag folgen, aber das Signal ist klar: Wir glauben, dass insgesamt eine Lösung gefunden werden muss. Vielleicht bekommen wir in der Großen Koalition, möglicherweise schon in der nächsten Zeit, einen Lösungsvorschlag in diese Richtung hin. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!) Man kann sich ja sehr sanftmütig annähern, in diesem Sinne: Wir finden eine Kommission, die noch mal darüber nachdenkt, ob sie darüber nachdenkt. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Schönen Dank, alles Gute. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4842 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Aktuelle Tarifrunde im Bund und in den Kommunen – Den öffentlichen Dienst gerecht entlohnen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Michael Schlecht (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Um 6 Prozent sollen die Einkommen im öffentlichen Dienst steigen, so die Forderung der Gewerkschaften. Ich sage: Recht haben sie! Das ist eigentlich das Mindeste. (Beifall bei der LINKEN) In den Tarifverhandlungen haben die Arbeitgeber, unter anderem Innenminister de Maizière, eine Erhöhung von gerade einmal 0,6 Prozent angeboten. Rechnerisch ergibt sich das aus den drei Nullmonaten und dem 1 Prozent, das es erst ab 1. Juni geben soll. Das ist eigentlich gar kein Angebot, das ist eine Zumutung. Nein, das ist im Grunde genommen eine Unverschämtheit. Es ist eine Provokation, mit einem solchen Angebot aufzuwarten. (Beifall bei der LINKEN) Im Jahr 2017 sollen die Beschäftigten dann noch einmal 2 Prozent mehr erhalten, jedoch auch erst Mitte des Jahres, zum 1. Juni. Damit reduziert sich die Erhöhung auf das Jahr umgerechnet auf gerade einmal 1,2 Prozent. Auch das ist wirklich skandalös. (Beifall bei der LINKEN) Dann wollen die Arbeitgeber auch noch, dass die Eigenbeiträge der Beschäftigten zur betrieblichen Zusatzversorgung in Stufen um bis zu 0,4 Prozent erhöht werden. Ich finde es eigentlich pervers, eine Minierhöhung anzubieten und gleichzeitig höhere Belastungen der Beschäftigten zu fordern. Verdi hat recht, wenn erklärt wird: Hände weg von unserer betrieblichen Altersversorgung, gerade in der heutigen Zeit, (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unbedingt!) in der sogar von der CSU die Perspektiven der Rente problematisiert werden. Wenn ich Krankenpfleger oder Erzieher wäre oder wenn ich bei der Müllabfuhr arbeiten würde, wüsste ich ganz genau, was ich zu tun hätte: Streiken! Das ist aus meiner Sicht die einzige Antwort, die jetzt angezeigt ist. Ich finde es sehr begrüßenswert, dass Verdi jetzt zu Warnstreiks aufruft. (Beifall bei der LINKEN) Die Vorstellungen der Arbeitgeber laufen letztendlich auf Reallohnverluste hinaus. Man kann nur staunen: So wenig wert ist ihnen die Arbeit der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Das finde ich wirklich zynisch. (Beifall bei der LINKEN) Die Schieflage zwischen den Reallöhnen, die faktisch seit 2000 stagnieren, und den Gewinnen, die seit 2000 preisbereinigt um mehr als 30 Prozent gestiegen sind, wird immer größer. Seit dem Jahr 2000 wurde im öffentlichen Dienst der verteilungsneutrale Spielraum, der die gesamtwirtschaftliche Produktivität und die Inflation umfasst, nicht ausgeschöpft. Der Rückstand, der sich in den letzten 15 Jahren ergeben hat, liegt mittlerweile bei 6 Prozent. Von daher ist vollkommen klar: Eine 6-prozentige Erhöhung, wie sie jetzt von Verdi gefordert wird, ist genau richtig und würde endlich diese skandalöse Lücke schließen. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb fordere ich die Bundesregierung und den Innenminister auf (Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU]: Hier!) – es ist irritierend, dass Sie bei Ihrer Fraktion sitzen –, auf die Forderung der Gewerkschaften einzugehen und sie zu erfüllen. Das wäre das Mindeste. Dann gibt es auch keine Warnstreiks mehr. (Beifall bei der LINKEN) Auch im Vergleich mit der Industrie ist der öffentliche Dienst abgehängt. Die Lücke beträgt rund 10 Prozentpunkte. Ist denn die Dienstleistungsarbeit an Menschen, die Pflegearbeit uns so viel weniger wert als das Zusammenschrauben von Autos? Ich finde, da läuft etwas vollkommen schief in dieser Gesellschaft. (Beifall bei der LINKEN) Steigende Löhne im öffentlichen Dienst sind ein wichtiger Beitrag zur Stärkung des privaten Konsums und damit der Binnennachfrage, und sie sind auch wichtig, um die Deflation zu bekämpfen. Herr de Maizière, die gleichen Politiker, die die EZB wegen der Nullzinspolitik schelten, sind jetzt dabei, eine Lohnerhöhung anzubieten, die absolut deflationär wirkt. Wenn Sie so weitermachen, dann hat die EZB nie eine Chance, aus ihrer Politik, die auch ich kritisch beurteile, herauszukommen. Es ist vollkommen abstrus, was Sie da hingelegt haben. (Beifall bei der LINKEN) Die Forderungen von Verdi kosten Bund und Kommunen etwa 6 Milliarden Euro. Angesichts eines Haushaltsüberschusses von 30 Milliarden Euro kann doch wirklich niemand behaupten, es sei kein Geld da. Um den Arbeitgebern beim Nachdenken zu helfen, kann ich jedenfalls den Beschäftigten nur empfehlen: Beteiligt euch massenhaft an den Warnstreiks, zu denen jetzt von den Gewerkschaften, von Verdi, aufgerufen wird! Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Armin Schuster für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 66 Jahre alt ist das Erfolgsmodell Tarifautonomie. – Ich fange jetzt nicht an, zu singen: 66 Jahre … Sie wissen, was dann kommt. – Es ist ein spezielles Recht der Verbände des Arbeitsmarktes, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge völlig frei von staatlicher Einflussnahme aushandeln zu können. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: So ist das!) Das der Linken zu sagen, ist völlig zwecklos; denn sie treiben das jedes Jahr. Ich richte mich an die Zuhörer – die Kollegen hier wissen das –: Das steht in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das, was die Linke hier beantragt und Herr Schlecht übelst vorgetragen hat, ist genau das, was wir nicht tun sollen. (Zurufe von der LINKEN) Frei von staatlicher Einflussnahme heißt nicht, über Tarifverhandlungen im Deutschen Bundestag zu debattieren, sich einzumischen oder gar zu versuchen, zu beeinflussen. Herr Schlecht, Sie versuchen, zum Streik aufzurufen. Sie nennen es eine Unverschämtheit und skandalös, was dort verhandelt wird. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Alles, was an dieser Debatte skandalös und unverschämt ist, ist, dass sie auf Ihren Antrag hin stattfindet. Das ist das Problem. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie müssen hier nicht reden, Herr Kollege!) Woher kommt das? Warum kapiert das die Linke seit Jahren nicht? (Zuruf von der CDU/CSU: Weil es Sozialisten sind!) Eine staatszentrierte sozialistische Denkweise legt gerne Löhne fest. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Leier! Leier! Leier! Das ist ja ein ganz neues Argument!) Kämen wir Ihnen da entgegen, wären demnächst die Brotpreise oder vielleicht die Milchpreise betroffen, ich weiß es nicht. (Zurufe von der LINKEN) Aber das ist nicht das Modell. Ich glaube, mit allen anderen Parteien hier im Deutschen Bundestag, mit uns, ist das nicht zu machen, und ich sage Ihnen noch etwas: Beide Verhandlungsführer, sowohl Herr Bsirske als auch Herr de Maizière, brauchen ausweislich der Ergebnisse der letzten Jahre garantiert keine Empfehlungen aus diesem Haus. Die sind selbst gescheit, die sind selbst gut. Das sieht man auch an den Ergebnissen, die wir hier Jahr für Jahr vorlegen. Auf diese komme ich gleich noch. Wenn wir überhaupt über etwas sprechen sollten, dann über das Danach; das sage ich jetzt bewusst in Richtung des Innenministers. Egal, was herauskommt – und ich bin ziemlich sicher, dass etwas Gutes rauskommt –, hätte ich doch schon gerne die inhaltsgleiche Übertragung: (Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU]: Wenn es nicht zu teuer wird!) für die Beamten, für die Versorgungsempfänger, für die Soldaten und für die Richter. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der LINKEN) Meine Damen und Herren, in der Debatte geht es um die Frage: Wie viel wert ist uns der öffentliche Dienst? Die Zehnjahresbilanz der Union in diesem Haus: Wir haben die Tarifergebnisse inhaltsgleich auf Beamten, Soldaten und Richter übertragen, und zwar permanent. 2012 und 2014 waren es über 10 Prozent. Wegen der Flüchtlingslage ist ein Besoldungsänderungsgesetz in Kraft, mit dem wir denen helfen, die mithelfen wollen, zum Beispiel durch Spesenabrechnungen oder Anreize für Pensionäre. Wir haben das Altersgeldgesetz und das Familienpflegezeitgesetz eingeführt, wir haben die Professorenbesoldung neu geordnet und ein Fachkräftegewinnungsgesetz verabschiedet, durch das Eingangsbesoldungen nicht, wie in bestimmten Ländern, abgesenkt, sondern heraufgesetzt werden, bei IT-Fachleuten und bei Ingenieuren auf A 10 bzw. A 11, usw. Das ist eine Liste des Vertrauens. Jetzt komme ich zu den Vergleichen. Der DGB stellt seit der Föderalismusreform ein Gehaltsgefälle von bis zu 18,5 Prozent zwischen den Bundesländern fest. Der Bund bewegt sich im obersten Drittel, beinahe an der Spitze. Dort oben sind noch Länder wie zum Beispiel Bayern zu finden. Da die Linke diese Aktuelle Stunde beantragt hat, habe ich mich gefragt: Was ist eigentlich mit Brandenburg? Ich muss mir ja das Land raussuchen, in dem Sie am meisten zu sagen haben. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Thüringen!) Nach der Vertrauensliste kommt jetzt die Trauerliste. Was ist denn mit Brandenburg? Wo steht ihr denn? Der Gymnasiallehrer, der in Bayern 60 000 Euro verdient, verdient bei euch nicht einmal 55 000 Euro. Der Polizeihauptmeister, der in Bayern 40 000 Euro verdient, verdient bei euch nicht einmal 36 000 Euro. Kehrt doch mal vor eurer eigenen Haustür und macht eure Hausaufgaben, bevor ihr hier komische Dinge vorschlagt. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) Es gab keine inhaltsgleiche Übernahme der Ergebnisse der Tarifverhandlungen in Brandenburg 2014 und 2015. Na wunderbar, herzlichen Glückwunsch! Und Sie stellen hier tolle Anträge. (Beifall des Abg. Albert Weiler [CDU/CSU]) Meine Damen und Herren, vor allen Dingen den Beamten und den Tarifbeschäftigten dort draußen sage ich: Entscheiden Sie sich nicht aufgrund einer solch sinnlosen Debatte, die die Linken hier initiiert haben. Entscheiden Sie sich, wem Sie vertrauen und wem Sie misstrauen. – An die Linke gerichtet, sage ich – Herr Schlecht, ich wollte das eigentlich nicht machen; aber ich mache es jetzt doch, weil Sie das Wort „pervers“ benutzt haben –: Prüfen Sie einmal Ihr Staatsverständnis. Nehmen Sie vielleicht einmal Rechtsunterricht; Verfassungsrecht oder so etwas wäre gut. (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist sehr komplex!) Ich sage das natürlich nicht zu Ihnen, aber draußen würde ich es so formulieren: (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Mechthild Rawert [SPD]: So hat es Böhmermann auch gemacht!) Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Klappe halten! (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Ha, ha, ha!) Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das war jetzt sehr qualifiziert, Herr Kollege!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Schlecht, auch ich muss sagen: Streckenweise hatte ich bei Ihrer Rede das Gefühl, mich verirrt zu haben, als sei ich nicht im Plenum des Deutschen Bundestages, sondern bei irgendeiner Veranstaltung von Verdi. (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE] – Zuruf von der LINKEN: Warum?) Man muss schon überlegen, was man von hier aus sagt. Ich kann Ihnen das spiegeln und eine andere Position aufzeigen. Ich bin ja schon ein bisschen länger dabei und kann mich an Aktuelle Stunden erinnern, die die FDP im Bundestag beantragt hat, beispielsweise bei Streiks der IG Metall. In dem Fall hat die FDP auf die Gewerkschaften draufgeschlagen. Sie ist dabei mit einer ähnlich groben, teils platten Rhetorik gegen Arbeitszeitverkürzungen vorgegangen, wie Sie jetzt umgekehrt auch. Damals habe ich mich genauso gegen Eingriffe in die Tarifautonomie vonseiten der Arbeitgeber, indirekt vertreten durch die FDP, gewehrt. Jetzt finde ich vor allen Dingen die Form, wie Sie hier Ihre Kritik äußern, zumindest fragwürdig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Der öffentliche Dienst ist ein bisschen was anderes!) – Ich höre den Zwischenruf, dass der öffentliche Dienst ein bisschen was anderes ist. Wir reden hier in erster Linie über Tarifautonomie. Da es um den öffentlichen Dienst geht, gibt es jenseits der aktuellen Tarifverhandlungen natürlich einiges dazu zu sagen. Zum Beispiel kann man sehr wohl etwas zur Finanzausstattung der Kommunen anmerken. Diesbezüglich stelle ich mit Blick auf mein Land Nordrhein-Westfalen fest, dass 40 Prozent der Kommunen ein Haushaltssicherungskonzept aufstellen mussten und die Große Koalition ihre Versprechen, die Kommunen finanziell zu entlasten, nicht wahrgemacht hat. (Dagmar Ziegler [SPD]: Aber das stimmt doch gar nicht!) Das ist ein Grund, warum Kämmerer berechtigte Tarifforderungen nur noch mit Bauchschmerzen oder gar nicht mehr erfüllen können. Das ist ein eminent politischer Punkt, und der gehört in den Deutschen Bundestag. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Aber es stimmt doch so nicht!) Die Große Koalition hat beispielsweise bei der Eingliederungshilfe im Zuge des Bundesteilhabegesetzes ein 5-Milliarden-Paket versprochen, was eine Entlastung für die Kommunen bedeutet hätte. Dieses Paket hat sich in den verschiedenen Verhandlungssträngen der Bund-Länder-Finanzverhandlungen verflüchtigt. Das ist das Problem, über das wir hier reden müssen; denn eine vernünftige Finanzausstattung der Länder und nicht zuletzt der Kommunen ist die Grundlage dafür, dass die Arbeitgeber bei Tarifverhandlungen auf berechtigte Forderungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingehen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir schon über Tarifautonomie sprechen, so muss ich doch daran erinnern, dass es die Große Koalition war, die mit dem Tarifeinheitsgesetz ihrerseits die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, auch in Tarifautonomie einzugreifen. Das, denke ich, sollte man im Hinterkopf behalten, wenn noch weitere Rednerinnen und Redner der Koalition die Linke zeihen, die Tarifautonomie zu beschädigen. Da sind Sie selbst nicht ganz unschuldig und unbeteiligt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Als rentenpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen muss ich jetzt doch noch auf einen inhaltlichen Punkt der Tarifverhandlungen eingehen, nämlich die Altersversorgung. Das ist ja einer der zentralen Streitpunkte: die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes. Was macht diese Bundesregierung? Sie versucht – zumindest verbal, ein Gesetz hat sie ja noch nicht eingebracht –, die Betriebsrente zu stärken; das behauptet sie zumindest. Sie möchte, nachdem sie eingesehen hat, dass die Riester-Rente ihre hoch gesteckten Erwartungen nicht erfüllt, die zweite Säule stärken. Es kann ja wohl nicht sein, dass Sie hier auf der einen Seite bundespolitisch etwas aufzubauen versuchen und das dann während der Tarifverhandlungen mit dem Hintern wieder einreißen, indem Sie die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst schwächen. Das kann nicht funktionieren. Das ist hochgradig widersprüchlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Mit Blick darauf muss man schon sagen, dass gerade die Zusatzversorgung im Alter beim öffentlichen Dienst auch ein wesentliches Element der Nachwuchsgewinnung ist. In der Nachbarstadt meines Wahlbezirkes, in Essen, gehen in den nächsten 15 Jahren 40 Prozent in der öffentlichen Verwaltung in den Ruhestand. Die haben schon jetzt ein richtig großes Nachwuchsproblem. Systemadministratoren und gute Verwaltungsjuristen bekommen Sie nicht für ein Butterbrot. Sie verdienen in der freien Wirtschaft teilweise sogar ein Mehrfaches. (Beifall der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE]) Neben der Arbeitsplatzsicherheit ist eine vernünftige Altersversorgung für diese Fachkräfte eben auch ein Argument, für den öffentlichen Dienst zu arbeiten. Wir alle, auch wir hier als Gesetzgeber, sind darauf angewiesen, dass wir einen guten und funktionierenden öffentlichen Dienst haben. Wer sonst sollte unsere Gesetze umsetzen? Ich bin allerdings guter Hoffnung, dass die Sozialpartner, dass Verdi das eigenständig hinbekommt, ohne dass wir hier Geleitzugdebatten dieser Art führen müssen, wie Sie sie, Herr Schlecht, eröffnet haben. Wir sollten uns auf die politischen Sachen konzentrieren. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Mahmut Özdemir für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige wollen offenbar eine Tradition daraus machen, dass wir im Deutschen Bundestag die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst begleitend debattieren, und dies, obwohl das Parlament bei den Verhandlungen über die Lohnsteigerungen nach wie vor nicht mit am Tisch sitzt. Deshalb bleibt die Frage nach der rationalen Berechtigung dieser Debatte weiterhin unbeantwortet, unbeantwortet, (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wir kontrollieren schon noch die Regierung!) obschon Recht und Gesetz eine klare Antwort darauf geben. Artikel 9 Grundgesetz weist die Auseinandersetzung über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ganz klar Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften zu. Jede politische Einflussnahme und Meinungsäußerung zu Forderungen der Arbeitgeber- oder der Arbeitnehmerseite ist damit unzulässig. Die Neutralität der Politik wird im besonderen Fall des öffentlichen Dienstes auch nicht durch den Status des Bundesministeriums des Innern als Verhandlungspartei durchbrochen. Wir halten fest: Das Anliegen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst nach einer Lohnerhöhung ist berechtigt. Die konkrete Höhe wiederum ist Sache der Verhandlungsparteien. Diese Haltung ist im Übrigen weder mit dem höflichen Entledigen von Verantwortung noch mit Desinteresse gleichzusetzen. Haltung zugunsten des öffentlichen Dienstes zeigen wir als Sozialdemokraten durch die Wahrnehmung parlamentarischer Pflichten und hier zuvörderst durch verantwortungsvolle Haushaltsgesetzgebung. Der Abschluss der Tarifvertragsparteien muss schließlich auch im Bundeshaushalt abgebildet werden. Niemals haben der Bund oder die Kommunen die Beschäftigten hier im Stich gelassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die derzeitigen Forderungen von 6 Prozent Lohnerhöhung und einer Anhebung der Ausbildungsvergütung um 100 Euro bedeuten für die Haushalte von Bund und Kommunen erhebliche Mehrausgaben, die wir zu berücksichtigen haben. Für den Bund würden die Mehrausgaben 1,7 Milliarden Euro und für die Kommunen etwa 5,6 Milliarden Euro betragen. Daher sollten wir besonnen auf das Verhandlungsergebnis der dazu Berufenen warten, statt hektisch und planlos Aktuelle Stunden einzuberufen. Der öffentliche Dienst braucht eine verlässliche Stellenausstattung, die sich in den Haushalten widerspiegelt. Auf diese Weise zeigt man als Abgeordneter verbindliche Solidarität mit den Staatsbediensteten. Übrigens: Nach drei Verhandlungsterminen sind die üblichen Rituale zwischen den Tarifvertragsparteien hinreichend zelebriert. Die Feuerwehrleute, die Beschäftigten bei der Müllabfuhr, die Erzieherinnen und Erzieher in den Kliniken und in der Pflege warten jetzt auf einen vernünftigen Verhandlungsabschluss. Im Interesse aller Betroffenen hoffe ich persönlich daher auf einen reibungslosen, gerechten und für beide Seiten guten Gewissens vertretbaren Abschluss. Obwohl wir als Parlament nicht am Verhandlungstisch sitzen, sollten wir die heutige Debatte, da sie nun einmal einberufen ist, als Anstoß dazu nutzen, auf Verbesserungen der gesetzgeberischen Rahmenbedingungen hinzuarbeiten; denn der öffentliche Dienst muss auch weiterhin gefragt und begehrt sein. Hierzu zählen in der aktuellen Entwicklung für mich zwei Punkte. Der Ausschluss von sachgrundlosen Befristungen gehört ins Gesetz. (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD] und Jutta Krellmann [DIE LINKE]) Eine Belastung der Tarifvertragsparteien mit diesen Aufgaben dürfen wir nicht zulassen. Hier müssen wir als Gesetzgeber eine ganz klare Entscheidung treffen. Insbesondere jungen Beschäftigten in öffentlichen Beschäftigungsverhältnissen müssen wir Sicherheit geben, wenn wir von ihnen erwarten, dass sie in diese Gesellschaft investieren, vom Ehrenamt bis in die Rentenkassen. (Beifall bei der SPD) Die Wertschätzung des öffentlichen Dienstes drückt sich letztlich nicht nur in Lohnsteigerungen aus. Vielmehr muss das Parlament mit dem Haushalt auch die konkrete personelle Ausstattung gewährleisten. Deshalb müssen wir die Aufstockung bei der Bundespolizei um 3 000 Stellen auch in anderen Bereichen konsequent als Beispiel nehmen. Wie wichtig haushalterischer Spielraum ist, um eine entsprechende Personalausstattung zu erhalten und aufzubauen, zeigen unsere Kommunen, seitdem in dieser Wahlperiode auf maßgebliche Initiative der SPD immense Anstrengungen unternommen worden sind, Städte und Gemeinden von Kosten zu entlasten. (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Da komme ich zum Bundesteilhabegesetz. Wenn Sie von einer geplanten Entlastung in Höhe von 5 Milliarden Euro sprechen, dann dürfen Sie nicht unter den Tisch kehren, dass bis dahin durch eine Finanzierung in den Haushalten 2015, 2016 und 2017 eine Brücke gebaut worden ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wie viel denn?) – Lesen Sie es im Haushalt nach; Sie haben mit am Tisch gesessen. Unser öffentlicher Dienst ist im Kontext des Flüchtlingszuzuges besonders in Vorleistung gegangen. Vom Bund bis in die Kommunen haben die Beschäftigten Überstunden angehäuft und das Bild von Bürokraten in verstaubten Amtsstuben vollends aus den Köpfen verdrängt. Aber die Anhäufung von Überstunden ist gleichsam ein Zeichen für eine mangelhafte Stellenausstattung. Hier müssen wir ganz dringend nachsteuern. (Beifall bei der SPD) Die angemessene Würdigung des öffentlichen Dienstes basiert nun auf einer kompromissfreudigen Kooperation zwischen dem Bundesministerium des Innern und den Kommunen auf der einen Seite und den Beschäftigtenvertretern auf der anderen Seite. Diese Kooperation ist der Garant für einen soliden Abschluss. Ich wünsche den Verhandlungsparteien in der nächsten Verhandlungsrunde gute Gespräche und einen würdigen Abschluss im Sinne unseres Gemeinwesens. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und ein herzliches Glückauf. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Armin Schuster [Weil am Rhein] [CDU/CSU]) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Oswin Veith das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bernd Rützel [SPD]) Oswin Veith (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hoffe, die Linke wird verstehen, dass ich es im Namen meiner Fraktion nicht gutheißen kann, dass wir uns mit der von Ihnen aufgesetzten Aktuellen Stunde wieder einmal in laufende Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst einmischen. Sie machen das eigentlich immer so. Vor zwei Jahren standen wir das letzte Mal hier, fast zur selben Zeit. Es ist bei Ihnen ein bisschen so wie bei Dinner for One – nur dass noch nicht Silvester ist –: the same procedure as every year. Letztes Mal hieß Ihr Begehren: Höhere Löhne für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Ein anderes Mal hieß es: Der öffentliche Dienst ist mehr wert. Heute heißt es: Den öffentlichen Dienst gerecht entlohnen. (Beifall bei der LINKEN) – Nur langsam! – Jedes Mal wollten Sie sich dabei in die laufenden Tarifverhandlungen einmischen, jedes Mal wollten Sie die Tarifvertragsparteien bevormunden, und jedes Mal wollten Sie den Verlauf der Tarifverhandlungen irgendwie beeinflussen. (Michael Schlecht [DIE LINKE]: Positiv!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, jedes Mal haben wir das abgelehnt. Das tun wir heute wieder, und das ist auch gut so. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will Ihnen auch sagen, warum wir das tun: weil Tarifverhandlungen immer auch Ausdruck der gelebten Tarifautonomie sind, sie ist durch unser Grundgesetz geschützt und gehört zum Grundpfeiler unserer sozialen Marktwirtschaft. Gott sei Dank ist das so; unseren Verfassungsvätern sei Dank. Wir haben in Deutschland seit Jahrzehnten ausgezeichnete Erfahrungen damit gesammelt, dass nicht die Politik die Löhne bestimmt. Daher finde ich es klug, dass die Tarifhoheit bei den Tarifpartnern verbleibt und wir uns nicht einmischen. Das sollte auch die Linke so langsam einmal einsehen und beherzigen. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Tun wir!) Wir bleiben bei unserem 67 Jahre alten Erfolgsmodell Tarifautonomie. Diese Freiheit hat sich in Krisenzeiten bewährt. Es hat sich gezeigt, wie gut die Tarifpartner zum Wohle unseres Landes damit umgehen. Schauen wir uns also einmal den Sachstand an; denn: Nicht an ihren Worten sollt ihr sie messen, sondern an ihren Taten. So heißt es schon bei Johannes. (Bernd Rützel [SPD]: Sehr schön!) Wir haben die Rahmenbedingungen deutlich verbessert. Dreimal wurden die Tarifabschlüsse inhaltsgleich auf die Bundesbeamten übertragen, und seit 2012 – auch Sie wissen das – wird die Sonderzahlung, auch als Weihnachtsgeld bekannt, wieder gewährt. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Alles erkämpft!) Mit dem Fachkräftegewinnungsgesetz haben wir eine Reihe von positiven Maßnahmen auf den Weg gebracht. Wir haben den Eintritt in den Ruhestand flexibler gestaltet, gleiche Rechte für Lebenspartnerschaften und die Familienpflegezeit im Beamtenrecht umgesetzt. Wir haben die Vergütung von Professoren verbessert, das Leistungsprinzip gestärkt und die Portabilität von Versorgungsanwartschaften geschaffen. Letztes Jahr konnten wir sogar Neuerungen umsetzen, die die Attraktivität des Soldatenberufs gesteigert haben. Der geschmeidige Begriff dafür hieß „Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz“. Wir haben unseren Zeit- und Berufssoldaten Wertschätzung ausgesprochen und mit den vielen Änderungen eine Angleichung der Rechtslage der Soldaten an Standards erreicht, die für andere Bundesbeamtinnen und -beamte längst galten. Im gleichen Jahr konnten wir unsere Flexibilität unter Beweis stellen, als der Arbeitsaufwand im BAMF überhandnahm. Wir haben reagiert und die Zahl der Mitarbeiter im letzten Jahr mehr als verdoppelt, nämlich von 3 500 auf 7 300. In einem weiteren Schritt haben wir finanzielle Verbesserungen, speziell für die Beamten beim BAMF, erreicht, indem wir die Zulage für Arbeit zu Unzeiten erhöht haben. Damit konnten wir deutlich entlasten. Bei all dem, was bereits auf den Weg gebracht wurde, ist es kein Wunder, dass der Bund im Vergleich zu den Ländern immer noch der beliebteste Arbeitgeber im öffentlichen Dienst ist. Dabei überzeugen nicht nur die Besoldung, sondern auch die Arbeitsbedingungen. All das ist gut für die Attraktivität des öffentlichen Dienstes auf Bundesebene. Moderne, attraktive und familienfreundlichere Arbeitsbedingungen tragen dazu bei, unseren öffentlichen Dienst noch attraktiver zu machen. Die konsequente Weitergabe der Tarifergebnisse ist dabei nur ein kleiner Baustein, um zukünftigen Arbeitskräften zu zeigen, dass sie beim Bund in guten Händen sind. All das, meine sehr verehrten Damen und Herren, belegt, dass wir es ernst meinen und uns an unseren Taten messen lassen. Sie von den Linken hingegen sind doppelzüngig. Hier fordern Sie immer gerne und immer viel, doch dort, wo Sie Verantwortung tragen und umsetzen könnten, machen Sie es nicht, so zum Beispiel in Thüringen, wo Sie nicht zeitgleich übertragen, sondern schon zum zweiten Mal in Folge ein ganzes halbes Jahr später. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Skandalös!) Ich sage: Wir werden diesem schlechten linken Beispiel nicht folgen, sondern unserem Bundesinnenminister den Rücken stärken bei seinem bereits angekündigten Bemühen, den berechtigten Anliegen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes nach angemessener Lohnerhöhung Rechnung zu tragen, ohne dass es Verhandlungsrituale oder gar Streiks bedarf. Dafür werben wir. Da alles schon auf gutem Wege ist, wie Sie gehört haben, war Ihre Aktuelle Stunde auch heute wieder einmal überflüssig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jutta Krellmann (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 30 Jahren nehme ich als Gewerkschaftssekretärin an Tarifverhandlungen teil. Ich bin in dieser Diskussion völlig irritiert. Als Bundestagsabgeordnete verstehe ich meine Rolle als die einer Arbeitgeberin. Herr de Mazière ist Verhandlungsführer des Bundes; er ist also nicht irgendjemand. Deswegen müssen wir doch mit ihm reden und mit niemand anderem. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Frieser [CDU/CSU]: Das ist grundfalsch, skandalös verkehrt!) Zwei Forderungen in der Tarifrunde im öffentlichen Dienst liegen mir deshalb besonders am Herzen: erstens die Übernahme der Auszubildenden und zweitens die Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Eine Übernahme der Auszubildenden ist in vielen Tarifverträgen mittlerweile gängige Praxis, insbesondere in den Industrietarifverträgen. Da muss der öffentliche Dienst unbedingt nachziehen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Auszubildende werden nicht gleich zu Beamten auf Lebenszeit, wenn man ihnen eine Festanstellung garantiert. Alle reden landauf, landab über den Fachkräftemangel. Wieso hält man nicht an denen fest, die man jahrelang teuer ausgebildet hat? Das ist aus meiner Sicht unklug und in der Diskussion um Fachkräftemangel echt schräg. (Beifall bei der LINKEN) Entweder haben wir tatsächlich einen Fachkräftemangel – dann brauchen wir die Ausgelernten als qualifiziertes Personal im öffentlichen Dienst –, oder das ganze Gerede vom Fachkräftemangel ist reines Gefasel und Geschwafel, um die Leute gefügig zu machen. Die zweite Tarifforderung, über die ich sprechen will, ist die Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen. Ich weise immer wieder darauf hin, wie auffallend hoch die Befristungsquote im öffentlichen Dienst ist. Können Sie sich vorstellen, was das für die Beschäftigten bedeutet? Dass die CDU/CSU das nicht kann – schade, dass Herr Oellers nicht da ist –, weiß ich aus mehreren Diskussionen. Dabei ist längst klar, dass Befristungen gute Arbeit verhindern. Sie, liebe SPD, die Sie sich die Forderung nach guter Arbeit immer wieder fett auf Ihre Fahnen schreiben, haben nach dieser Diskussion zwei Möglichkeiten. Erstens: Sie akzeptieren die Notwendigkeit zur Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen. (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist tausendmal bei uns nachzulesen! – Bernd Rützel [SPD]: Das haben wir doch schon oft gesagt!) Dann lassen Sie uns das endlich machen. (Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Lesen bildet!) Oder zweitens: Sie wissen um die Notwendigkeit der Abschaffung und wollen sie – das sagen Sie jedenfalls immer wieder –, aber kuschen weiterhin vor der CDU/CSU. (Dagmar Ziegler [SPD]: Was heißt hier „kuschen“? Das ist ein Vertrag!) Auf genau diesen Zirkus haben die Beschäftigten keine Lust mehr. Sie wollen endlich die notwendigen Verbesserungen, zumindest in ihrem Beschäftigungsbereich, durchsetzen. (Beifall bei der LINKEN) Die Kolleginnen und Kollegen mussten das Thema Befristungen auf die Tarifebene heben, weil die Bundesregierung ihrem Wunsch, an dieser Stelle endlich etwas zu machen, nicht nachgekommen ist. Es ist eigentlich Aufgabe des Gesetzgebers, das Problem der Befristungen für alle Beschäftigten zu regeln. Das ist seit Jahren nicht in Ordnung. Seit Jahren diskutieren wir darüber. Dass auf diesem Gebiet nichts passiert, das ist einfach ein Skandal. Herr Oellers, der, wie gesagt, leider nicht da ist, und die CDU/CSU können sich noch so sehr aufregen. Wir werden dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung setzen, sooft wir nur können. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Die Linke wird so lange Diskussionen über dieses Thema führen, bis die sachgrundlosen Befristungen endlich Geschichte sind. (Beifall bei der LINKEN) Leider stellen auch Arbeitgeber zunehmend Forderungen in Tarifrunden, so auch im öffentlichen Dienst. Die kommunalen Arbeitgeber wollen die tariflich geregelten Betriebsrenten kürzen. (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist alles nicht so neu!) Zur Erinnerung: Die Bundesregierung beabsichtigt die Absenkung des Rentenniveaus bis 2030 auf 43 Prozent, und das für alle Beschäftigten in Deutschland. Wenn jetzt die kommunalen Arbeitgeber daherkommen und die Betriebsrenten kürzen wollen, dann werden die Beschäftigten im öffentlichen Dienst doppelt bestraft: zum einen durch die Absenkung des Rentenniveaus insgesamt und zum anderen durch die Kürzung der Betriebsrenten. Die Bundesregierung denkt als Gegenstrategie gerade darüber nach, die Betriebsrenten zu stärken. Die kommunalen Arbeitgeber im öffentlichen Dienst machen genau das Gegenteil von dem, was im Moment diskutiert wird. Das geht doch gar nicht. Mit so etwas muss doch Schluss sein. Das läuft doch vollkommen gegeneinander. Das ist gegen die Interessen der Menschen gerichtet. (Beifall bei der LINKEN) Die Ausarbeitung der Leitlinien für gute Arbeit im öffentlichen Dienst können wir hier beeinflussen. Das ist alles eine Frage des politischen Willens. Wenn wir das wirklich wollten, dann könnten wir das auch. Es wäre möglich, dass wir dadurch Verbesserungen für alle Beschäftigten schafften. Bestimmte Tarifforderungen wären eigentlich gar nicht nötig, wenn das Thema gesetzlich längst geregelt wäre. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Krellmann, achten Sie bitte auf die Zeit. Jutta Krellmann (DIE LINKE): Ich wünsche den Beschäftigten im öffentlichen Dienst von meiner Seite aus auf jeden Fall viel Erfolg bei ihrem Versuch, ihre Forderungen durchzusetzen, und ich hoffe, sie bekommen das hin, weil sie das nicht nur für den öffentlichen Dienst, sondern für die Beschäftigten insgesamt machen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Matthias Schmidt für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Aktuelle Stunde, so steht es in unserer Geschäftsordnung, umfasst Themen von „allgemeinem aktuellen Interesse“. Man mag hinzufügen: mit Zuständigkeit des Bundestages. Das steht dort aber nicht. (Michael Schlecht [DIE LINKE]: Eben!) Darum konnten Sie genau dieses Thema hier auch zum Gegenstand einer Aktuellen Stunde erheben. Was das allgemeine und aktuelle Interesse ist, bestimmt allein der Antragsteller, in diesem Fall die Fraktion Die Linke. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Schlecht [DIE LINKE]: Wohl wahr!) – Genau. – Frau Sitte, Hut ab! Sie haben es sogar geschafft, mit diesem Thema Ihre Reihen halbwegs zu füllen, obwohl es tatsächlich unstrittig ist, dass es an dieser Stelle keine Zuständigkeit des Deutschen Bundestages gibt. Die Tarifrunde ist aus guten Gründen grundgesetzlich geschützt. Artikel 9 des Grundgesetzes ist inzwischen zitiert worden. Die Tarifvertragsparteien sollen frei von staatlichen Eingriffen und Bevormundungen im öffentlichen Dienst und außerhalb des öffentlichen Dienstes handeln können. Frau Krellmann, ich habe mir das, was Sie gerade gesagt haben, aufgeschrieben. Sie haben gesagt: Leider stellen auch Arbeitgeber Forderungen in den Tarifverhandlungen. – Ja, es ist genau das Wesensmerkmal von Verhandlungen, dass beide auf Augenhöhe miteinander reden und nach einem gemeinsamen Kompromiss suchen. Genau das müssen wir doch auch den Arbeitgebern zugestehen. Auch wenn wir alle persönlich eine Meinung zum Tarifkonflikt haben, sollten wir uns als Bundestag hier heraushalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Schlecht, ich bin mir nicht sicher, ob Sie den Gewerkschaften mit Ihrem Votum hier einen Gefallen getan haben; denn Sie haben sich in deren ureigenste Tätigkeit eingemischt und wollen sie bevormunden. Das ist an dieser Stelle doch überhaupt nicht nötig. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Was ist denn mit der Kontrollfunktion der Bundesregierung? Das Parlament hat eine Kontrollfunktion!) Auf der einen Seite werden 6 Prozent gefordert, auf der anderen Seite werden 1 Prozent plus 2 Prozent gleich 3 Prozent angeboten. Man kann hier noch einmal genauer nachrechnen, ob das wirklich stimmt, aber lassen wir den Tarifvertragsparteien doch Zeit und Raum zur freien Verhandlung ohne Einmischung von außen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Gleichwohl vielen herzlichen Dank an die Fraktion Die Linke dafür, dass sie dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat. Das gibt mir die Gelegenheit zur Analyse des öffentlichen Dienstes, und es wird Sie nicht überraschen: Ich komme zu einem Lob. Frau Krellmann, Sie haben gesagt, Sie sind 30 Jahre lang Gewerkschaftssekretärin gewesen. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Ich bin es noch!) – Sie sind es noch. – Ich bin vor etwas über 30 Jahren in den öffentlichen Dienst eingetreten und beobachte den öffentlichen Dienst seitdem sehr genau. Was vor 30 Jahren in den Amtsstuben los war, ist etwas ganz anderes als das, was heute dort los ist. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Ja, eben!) Damals gab es noch viele buchstäbliche Beamte und Angestellte mit Ärmelschonern, aber das hat sich kolossal gewandelt. Das liegt auch daran, dass wir im öffentlichen Dienst akademisch und nicht akademisch sehr gut ausbilden. Ein großes Lob geht hier an das Bundesverwaltungsamt und an die Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung. Die Beamten und Angestellten, die heute dort tätig sind, wissen, um was es geht. Denen ist der Wortlaut nicht wichtiger als der Sinn einer Vorschrift. Sie arbeiten für das Gemeinwohl – und das sehr erfolgreich. Wir alle bemerken nur dann, dass der öffentliche Dienst da ist, wenn einmal etwas nicht klappt. Manchmal sind wir daran auch selbst schuld. Wer hat nicht selbst schon einmal vergessen, den Reisepass zu kontrollieren, und kurz vor der Urlaubszeit festgestellt, dass der Reisepass abgelaufen ist? Andere Fälle sind auch hausgemacht. Die Berliner Bürgerämter sind hierfür ein gutes Beispiel. Das Land Berlin hat das nun aber auch begriffen und stattet sie wieder besser aus. Es gibt allerdings auch sehr viele positive Beispiele im öffentlichen Dienst, zum Beispiel die kommunalen Krankenhäuser, Kitas und grundsätzlich auch die Schulen, wobei natürlich klar ist, dass es bei den jetzigen Tarifverhandlungen gar nicht um die Landesbeschäftigten geht. Die Integration von Flüchtlingen ist schon genannt worden. Und uns Bundestagsabgeordneten helfen die Ministerien; sie unterstützen uns alle in unserer Arbeit als Parlamentarier. Der öffentliche Dienst ist gesamtgesellschaftlich wichtig und muss, damit dies so bleibt, für die Beschäftigten attraktiv bleiben. Dies haben die Tarifvertragsparteien im Blick, und die Verhandlungen sind bei ihnen in guten Händen. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schmidt, das allgemeine aktuelle Interesse an den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst lässt sich, glaube ich, nicht bestreiten, (Matthias Schmidt [Berlin] [SPD]: Das habe ich auch nicht!) erst recht nicht, wenn der Eindruck entsteht, dass die autonomen Verhandlungen nicht so geführt werden, wie es vielleicht möglich wäre, und aktuell wieder Streiks im öffentlichen Dienst drohen. (Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD]: Das ist das Recht der Arbeitnehmer!) Dann frage ich mich auch, ob die Bundesregierung die Situation ernst genug nimmt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Es ist völlig richtig: Die Tarifautonomie steht im Grundgesetz. Deswegen tun wir gut daran, uns nicht inhaltlich in diese Verhandlungen einzumischen. Deswegen will ich das nicht näher kommentieren, sondern ich möchte etwas zu der Art und Weise der Verhandlungsführung aufseiten der Bundesregierung sagen. Wenn der Bundesinnenminister nun verbreiten lässt, dass Ende April endlich gelingen wird, was in den ersten beiden Verhandlungsrunden bisher nicht gelungen ist, nämlich konstruktiv zu verhandeln, damit bald ein gerechter Abschluss erreicht wird, dann weiß ich nicht, was Sie damit meinen, Herr Schmidt, wenn Sie sagen, wir müssten den Verhandlungen jetzt noch mehr Zeit und Raum lassen. Ich glaube, Zeit und Raum waren ausreichend vorhanden, und ich frage mich, was eigentlich in den ersten beiden Verhandlungsrunden passiert ist. Für mich heißt das ganz konkret: Es wurde wertvolle Zeit vertan, die im Interesse der betroffenen Beschäftigten und der Bürgerinnen und Bürger, die nun eventuell wieder von Streiks betroffen sein werden, besser hätte genutzt werden müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Denn durch Streiks beweisen die Tarifparteien ja nur ihren Willen, aber neue Erkenntnisse bringen sie in der Regel nicht. Für den Bundesinnenminister gibt es gegenwärtig gar keinen Grund, an dem Willen der Gewerkschaften zu zweifeln. Deshalb muss man im Gespräch bleiben und sich entsprechend bewegen. Hier wäre ein selbstkritischer Blick auf die eigene Verhandlungsposition sicherlich hilfreich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Was aber auch kritisch überprüft werden sollte, sind einige Argumente, mit denen sich die Arbeitgeberseite in den letzten Tagen zu Wort gemeldet hat. Wenn beispielsweise mit den Kosten der Integration der nach Deutschland Geflüchteten argumentiert wird, die noch gar nicht abschätzbar seien, dann ist das aus meiner Sicht unsachlich und unklug. Das zeigt schon der gemessen am Gesamthaushalt überaus geringe Anteil von Ausgaben zum Zweck der Integration. Aber noch ein weiterer Punkt ist in diesem Zusammenhang anzusprechen. Es ist vor allem schlicht unverantwortlich, aus parteipolitischen Gründen die laufenden Verhandlungen zu nutzen, um Ängste zu schüren, indem mit Kosten in unbekannter Höhe argumentiert wird. Auch sollte nicht der Versuch unternommen werden, die eine Gruppe gegen die andere auszuspielen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich erwarte vielmehr vom Bundesinnenminister, dass alle bestehenden Spielräume konsequent genutzt werden. Denken Sie bitte an die Beschäftigten und vor allem auch an die von Streiks betroffenen Bürgerinnen und Bürger! Ganz herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Michael Frieser (CDU/CSU): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauern wird, bis die Grünen ihren Balanceakt hin zu den Linken tatsächlich erfolgreich bestehen. Kollege Kurth hat noch versucht, sie festzuhalten. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) Ich stelle dazu fest: In diesem Land ist weder der vorsätzliche Zeitdiebstahl unter Strafe gestellt (Mechthild Rawert [SPD]: Momo!) noch die Frage der Achtung vor allen Ausdrücken und Auswirkungen des Grundgesetzes. Es ist also zulässig, dass wir uns mit dieser Frage beschäftigen. Man muss aber aufpassen, dass man sich nicht zu sehr im Tonfall vergreift. Wenn beispielsweise die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen sagen, das Angebot der Arbeitgeberschaft sei ein Akt der Missachtung, der Geringschätzung oder der Ignoranz – konkret der Ignoranz gegenüber der Leistung des öffentlichen Dienstes –, dann ist das harter Tobak. Das ist, vor allem angesichts des Angebots, das vorgelegt wurde, nicht gerechtfertigt. Aber wissen Sie, was der Unterschied ist? Die Gewerkschaft darf das. Sie soll das sogar. Sie soll sogar Stellung beziehen, auch beim Betätigungsgebot, nämlich bei der Tatsache, dass sie sich öffentlich dazu äußern soll. Die Gewerkschaften sind dazu aufgefordert, ihre Positionen zu untermauern. Was aber nicht geht, ist, dass man hier so tut, als könne die Legislative in diesem Fall gute Ratschläge erteilen oder als könne sie in irgendeiner Art und Weise mithelfen. Nein, die deutsche Tarifautonomie braucht keine Hilfestellung. Auch die Gewerkschaften brauchen keine Hilfestellung bei der Frage, wie sie ihre Verhandlungen führen. Man darf sich als Bürger dieses Landes mit dieser Frage beschäftigen. Sie müssen aber sehr gut darauf achten, ob Sie als Teil des Deutschen Bundestages versuchen, auf diese Verhandlungen in irgendeiner Art und Weise Einfluss zu nehmen. Wenn diese Aktuelle Stunde einen Sinn haben soll, dann vielleicht eher als pädagogischer Ansatz. Dann wiederholen wir noch einmal, was Tarifautonomie bedeutet. Sie bedeutet nicht nur das Schließen von arbeitsrechtlichen Koalitionen. Sie bedeutet nicht nur das Zusammenfinden von Menschen, um ihre Positionen zu unterstreichen. Vielmehr bedeutet sie ganz bewusst die Gewaltentrennung. Sie bedeutet ganz bewusst, dass die Legislative nicht den Eindruck erweckt, sie würde die Rahmenbedingungen für diese Verhandlungen vorgeben. Deshalb sollten wir uns an dieser Stelle heraushalten. Das ist gelebte Tarifautonomie. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie passt das jetzt mit dem Tarifeinheitsgesetz zusammen?) Ich hätte diesen Impetus, dieses Aufregen, dieses Leidenschaftliche der Linken, zum Teil auch die Wortwahl, ja noch verstanden, wenn es in irgendeiner Weise um privates Kapital gehen würde, um das Kapital von Menschen, bei denen wir nichts hinzuzufügen hätten. Wir reden hier aber über Steuergelder. Wir reden hier über Kommunen, die wirklich jeden Euro und jeden Cent umdrehen müssen. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das ist doch genau der Punkt!) Wir reden darüber, dass wir in den Haushaltsberatungen uns gegenseitig jeden Euro abringen. Aber zu sagen, wir könnten darüber frei verfügen, das ist meines Erachtens tatsächlich eine Anmaßung, der Sie nicht erliegen sollten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Natürlich hat der deutsche öffentliche Dienst eine ganz besondere öffentliche Stellung. Diese Stellung hat er nicht nur den Bund, sondern auch die Kommunen betreffend. Das ist wesentlich mehr als nur die Vergütung. Das hat nämlich etwas damit zu tun, inwieweit der Arbeitgeber auf Bundes- und auf kommunaler Seite ein Arbeitgeber ist, bei dem man gerne arbeitet und als Mensch Interessen einbringt, auf der anderen Seite auch Wertschätzung für diese Arbeit erfährt. Dies drückt sich natürlich auch in Geld aus. Dies drückt sich natürlich auch in Leistungen aus. Dies drückt sich aber auch in der Tatsache aus, dass man auf die Interessen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wirklich eingeht. Deshalb lassen Sie mich sagen: Wir haben schon eine ganze Menge gemacht. Schauen wir einmal auf die Bilanz. Wir haben bei den Bundesbesoldungs- und -versorgungsgesetzen eine inhaltsgleiche Anpassung vorgenommen. Wir haben die ehebezogenen Regelungen auf die Lebenspartnerschaften übertragen. Wir haben für eine flexible Gestaltung des Übergangs in den Ruhestand gesorgt. Wir haben für die Soldaten das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz auf den Weg gebracht. Außerdem haben wir das Fachkräftegewinnungsgesetz auf den Weg gebracht. Ich will einmal die Punkte ansprechen, die Sie vorhin so in den Raum geworfen haben, als wären sie ungeregelt. Das ist nicht der Fall. Wir sind die Frage der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf angegangen. Wir haben die Frage der Tarifbeschäftigten des Bundes durch das Familienpflegezeitgesetz geregelt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Deutsche Bundestag hat die Rahmenbedingungen gesetzt, die er setzen konnte. Es ist Ihre Pflicht, im Rahmen der Ausgestaltung der öffentlichen Haushalte insbesondere gemeinsam mit uns darüber zu entscheiden, wie viel Geld wir zur Verfügung stellen können, damit die Menschen auch ordentlich bezahlt werden. Sie lassen sich hier darüber aus, inwieweit diese Tarifautonomie draußen auf der Straße gelebt wird. Das überlassen Sie bitte den Verhandlungspartnern, nämlich den Vertretern der Arbeitgeber auf der einen Seite und vor allem den Vertretern der Gewerkschaften auf der anderen Seite. Deshalb gilt mein Dank all denjenigen, die das ohne ungerechtfertigte und ungebetene Ratschläge gut und gerne tun. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Bernd Rützel für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Bernd Rützel (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Wenn wir heute über die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst sprechen, dann ist das keine Zeitvergeudung, Herr Frieser. Ich finde es gut, dass wir darüber sprechen; denn wir haben erst vor kurzem festgestellt, dass im öffentlichen Dienst in den nächsten Jahren sehr viele Menschen in den Ruhestand, in Pension und Rente, gehen und dass sehr viele junge Kräfte nachfolgen müssen. Deshalb ist es wichtig, dass wir darüber sprechen. Ich will heute etwas deutlicher werden, als ich es sonst tue, weil in den Verhandlungen die öffentliche Hand der Arbeitgeber ist. Zwei Anmerkungen: Erstens. Wenn man ein Angebot vorlegt, dann darf das nach meiner Meinung kein Angebot sein, das auf den ersten Blick gut aussieht, aber auf den zweiten Blick dann nicht so gut ist. Ich meine gar nicht den Inhalt, sondern die Art und Weise. Man muss die Menschen, unsere Beschäftigten, ernst nehmen und darf ihnen nichts vorgaukeln. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. 2 Millionen Beschäftigte – 150 000 Arbeitnehmer des Bundes, 1,2 Millionen Arbeitnehmer der Kommunen, 180 000 Beamte, 180 000 Versorgungsempfänger und im weiteren Sinne auch 235 000 Beschäftigte in der Bundesverwaltung – warten auf ein deutliches Zeichen. Anders ausgedrückt: Die Busfahrerin, der Erzieher, die Rettungssanitäterin oder die Plenarassistentin und der Saaldiener, sie alle haben gute Arbeit geleistet, und zwar unter nicht immer leichten Bedingungen. Sie haben sich das verdient und müssen nun eine deutliche Lohnerhöhung bekommen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gerade aktuell unter dem Druck der vielen Flüchtlinge in Deutschland leisten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst Beachtliches. Das muss auch berücksichtigt werden. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst garantieren, dass das Staatswesen funktioniert, dass die öffentliche Ordnung aufrechterhalten bleibt und dass wir uns auf die Arbeit der staatlichen Organe verlassen können. Daher haben sie nun Anspruch auf eine Beteiligung an der guten konjunkturellen Lage. Neben einer guten und deutlichen Einigung in den laufenden Verhandlungen liegt mir ein ganz anderer Aspekt am Herzen, der mir Sorgen macht. Es darf keine Tarifflucht im öffentlichen Dienst geben. Aber sie gibt es bereits. Es gibt in Deutschland bereits einige Gemeinden, die aus dem kommunalen Arbeitgeberverband ausgetreten sind und damit auch aus dem Flächentarifvertrag. Das verurteile ich scharf; denn diese Gemeinden haben keinen Grund dazu. Diese Bundesregierung hat die Kommunen entlastet wie keine andere zuvor. Mein Freund Oswin Veith hat das vorhin – wie andere Vorredner auch – deutlich dargelegt. Es ist ein völlig falsches Signal, wenn die öffentliche Hand auf diese Weise faire und transparente Arbeitsbedingungen für ihre Beschäftigten verhindert. Zum einen ist dies ein großer Schaden für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Zum anderen weist ein solcher Schritt in die völlig falsche Richtung. Wir kämpfen gemeinsam mit der Bundesregierung die ganze Zeit gegen die zunehmende Tarifflucht in der Privatwirtschaft. Dieses Ziel wird dadurch torpediert. Gerade im öffentlichen Dienst darf es keine Tarifflucht geben. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Ziel ist die Stärkung der Tarifbindung über alle Branchen hinweg. Der Flächentarifvertrag ist eine wesentliche Errungenschaft unserer funktionierenden Sozialpartnerschaft. Er ist ein wichtiges Instrument, um gerechte Löhne und Gehälter für die Beschäftigten auszuhandeln, und er schafft Frieden in den Betrieben. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Mark Helfrich hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Mark Helfrich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hätte es mir nicht träumen lassen, dass ich einmal hier an diesem Ort das Grundgesetz hochhalte, um die Tarifautonomie gegen die Einmischung von Linkenpolitikern dieses Landes zu verteidigen. Ich werde gleich dezidiert den Kolleginnen und Kollegen der Linken die Tarifautonomie gemäß Artikel 9 Absatz 3 – es lohnt sich, ihn zu lesen, Frau Kollegin – erläutern. Ich möchte feststellen, dass wir uns mit der initiierten Aktuellen Stunde in laufende Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst einmischen. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Hoffentlich positiv!) Aber mich wundert bei den Linken mittlerweile nichts mehr, nicht einmal der Widerspruch, dass sie beim Thema Tarifeinheit jegliche staatliche Regelung zur Tarifautonomie verdammen, während sie sich heute in aktuelle Tarifverhandlungen einmischen wollen. Wir haben in Deutschland ein grundgesetzlich geschütztes Recht für Tarifpartner, durch freie Vereinbarungen Tarifverträge auszuhandeln, ohne dass eine staatliche Stelle mitwirkt. Das nennt man Tarifautonomie. Die Quelle im Grundgesetz ist genannt. Das, was derzeit im öffentlichen Dienst passiert, ist gelebte Tarifautonomie. Der Begriff „Autonomie“ als solcher macht schon deutlich, dass die Beteiligten, nämlich die Gewerkschaften auf der einen Seite und die Arbeitgeberverbände auf der anderen Seite, ihre Angelegenheiten selbst betreiben und in Verhandlungen zu einem für beide Seiten vertretbaren Tarifabschluss kommen. Dass dem einen oder anderen aus Ihrer Fraktion der Rollenwechsel vielleicht manchmal schwerfällt und keine klare Unterscheidung zwischen Gewerkschaft und Fraktion erfolgt, mag ich Ihnen persönlich nachsehen. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Ich bin auch beides!) Sie haben grundsätzlich das Thema nicht verstanden. Ich will hier festhalten, dass die Tarifparteien keine Ratschläge aus der Politik bzw. aus dem Parlament benötigen. Wenn Sie es mir nicht glauben, dann lesen Sie es bei der Gewerkschaft Verdi nach: Ein Tarifvertrag ist ein schriftlicher Vertrag zwischen einem Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband und einer Gewerkschaft. Einmischung ist nicht erlaubt, – jetzt bitte gut zuhören - das gilt auch für den Staat. Die Politik ist also gut beraten, sich nicht einzumischen. Die CDU/CSU wird das auch nicht tun und wird sich dementsprechend in dieser Debatte verhalten. Wenn es der Linken tatsächlich um tarifbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ginge, dann hätten Sie zum Beispiel in Brandenburg fünf Jahre Zeit gehabt, entsprechend zu handeln. Dort ist die Linke Regierungspartei. Sie hätten durchaus die Möglichkeit, in Ihrer Arbeitgeberfunktion Einfluss zu nehmen. Mir ist nicht in Erinnerung, dass Sie von der Linken in den Tarifrunden 2011, 2013 oder 2015 über die von der Tarifgemeinschaft der deutschen Länder ausgehandelten Entgelterhöhungen hinaus mit gutem Beispiel vorausgegangen wären. Nein, Brandenburg hat natürlich eins zu eins alle drei Tarifrunden übernommen. Es gibt dort keine höheren Vergütungen. Es bleibt vielleicht noch die Hoffnung, dass sich demnächst in Thüringen, wo Sie als Arbeitgeber noch mehr Einfluss haben, etwas ändern wird. Ich habe recherchieren lassen, ob es sich vielleicht auf kommunaler Ebene bei der Linken anders verhält, ob es Oberbürgermeister oder Landräte gibt, die sich bei den kommunalen Arbeitgeberverbänden für entsprechend höhere Abschlüsse und freiwillige höhere Leistungen bzw. für eine Eins-zu-eins-Übernahme der Forderungen der Gewerkschaften einsetzen würden. Es ist ehrlicherweise nirgendwo überliefert, dass es derartige Forderungen seitens Ihrer Kommunalpolitiker gibt. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Die hängen alle in der Schuldenbremse!) – Ja, in der Tat, da sprechen Sie einen gewichtigen Punkt an. Wir haben bei den Verhandlungen, die anstehen, nicht nur Verhandlungen, die die Beschäftigten des Bundes betreffen, sondern auch die Beschäftigten der Kommunen. Dementsprechend müssen wir auch an dieser Stelle Rücksicht nehmen. Wir sind uns alle einig, dass der Staat, die Verwaltung, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst gerade in diesen schwierigen Monaten der Flüchtlingskrise sehr viel geleistet haben und dass wir darauf angewiesen sind, dass die Menschen gute Arbeit leisten und diese Arbeit gut entlohnt wird. (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist eine kontinuierliche Herausforderung!) Ich stimme dem Bundesinnenminister daher zu, dass das Anliegen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst nach angemessener Lohnerhöhung natürlich berechtigt ist. Am Ende des Tages müssen die Forderungen auch umsetzbar sein. Leider ist es nicht so, dass der Staat eine Kuh ist, die im Himmel frisst und auf Erden gemolken werden kann. Ich habe es bereits gesagt: Die Finanzlage der Kommunen ist in vielen Bereichen prekär. Das müssen wir bedenken. Lassen Sie also die Tarifparteien in Ruhe verhandeln und uns das Ergebnis der Tarifverhandlungen abwarten. Ich bin mir sicher, dass auch in dieser Tarifrunde eine für alle Beteiligten vertretbare Einigung erzielt wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Abschließend noch ein Hinweis dazu, wo wir tatsächlich etwas tun können, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken: Die Aufgabe des Deutschen Bundestages wird darin bestehen, für die knapp 300 000 Beamtinnen und Beamten des Bundes einschließlich der Soldaten und Richter eine möglichst inhaltsgleiche Übertragung des Tarifabschlusses zu gewährleisten. Das haben wir in den letzten Jahren geschafft. Das sollten wir zu gegebener Zeit entschlossen anpacken. Herzlichen Dank für Ihr Zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Albert Weiler für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Albert Weiler (CDU/CSU): Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Die Linke will sich abermals in die Aufgaben und Zuständigkeiten der Tarifparteien einmischen. Das haben wir oft genug gehört. Jetzt stellt sich aber die Frage: Warum? Ich sage Ihnen, warum: weil sie Geld daran verdient. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) Jetzt schauen wir einmal auf die offiziellen Seiten des Deutschen Bundestages. Die Linke klagt immer wieder über Mandatslobbyismus. Hier sage ich: Wasser predigen und Wein trinken. Die Linke leistet sich Abgeordnete, die sich neben ihrer eigentlichen Aufgabe in einem Nebenjob von Gewerkschaften zusätzlich ordentlich bezahlen lassen, (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das müssen Sie gerade sagen!) zum Beispiel die Sozialpolitikerin Frau Zimmermann oder auch Sie, Frau Krellmann, und die bis zu 42 000 Euro im Jahr verdienen. Das verdienen die meisten Menschen in Deutschland nicht. Sie vermischen Ihren hochbezahlten Nebenjob mit dem Bundestagsmandat und nutzen Ihre Position, um öffentlich auf Staatskosten Lobbyismus zu betreiben. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn Sie glauben, dass der Wähler das nicht erkennt, dann befinden Sie sich auf dem sogenannten Holzweg. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie bewegen sich auf ganz dünnem Eis!) Tarifverhandlungen werden am Verhandlungstisch der Tarifpartner geführt und nicht im Deutschen Bundestag. Die Arbeitgeber wollen eine zügige und konsensorientierte Tarifrunde. Streiks im öffentlichen Dienst gehen nur zulasten der kleinen Leute. Deshalb fordert zum Beispiel der Verband kommunaler Arbeitgeber zur konstruktiven Kompromisssuche auf. Das wünsche ich mir auch von Ihnen, besonders als Abgeordnete, aber auch als Gewerkschaftsvertreter. Wir stimmen dem deutschen Beamtenbund zu, wenn er sagt, dass die Flüchtlingssituation allen gezeigt hat, wie wichtig ein motivierter, funktionsfähiger und personell angemessen ausgestatteter öffentlicher Dienst ist. Ich stimme auch der Polizeigewerkschaft zu, wenn diese sagt, dass die Polizistinnen und Polizisten bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms Übermenschliches geleistet haben. Aber was ich nicht will, meine Damen und Herren, ist, dass es heißt: Wir erkaufen uns die Menschlichkeit. – Das würde keinem gerecht werden, weder den Ehrenamtlichen noch den Hauptamtlichen. Als ehemaliger Gewerkschafter stehe ich ganz klar für eine angemessene Tarifanpassung. Aber noch einmal: Die Diskussion gehört nicht in den Deutschen Bundestag, sondern an den Tisch der Tarifpartner. (Beifall bei der CDU/CSU) Als ehrenamtlicher Bürgermeister meiner Heimatgemeinde trage ich eine enorme Verantwortung für die Entwicklung meiner Gemeinde und für ein gutes Bildungs- und Freizeitangebot. Der Schuldenstand der Kommunen ist auf einem neuen Rekordniveau. Die Höhe der Verschuldung beträgt nunmehr 145 Milliarden Euro. Der Investitionsstau liegt bei weit über 100 Milliarden Euro. Eine Erhöhung der Tabellenentgelte um 6 Prozent und die anderen Forderungen bedeuten Mehrkosten in Höhe von etwa 6 Milliarden Euro, und das können wir uns nicht leisten. Das verhindert Investitionen, auch in den Kindergärten und Schulen, die dringend notwendig sind. Die Länder sind nicht bereit, das zu kompensieren. Bestes Beispiel – da sind wir wieder bei den Linken – ist die von Bodo Ramelow, also von den Linken, geführte Thüringer Landesregierung. Hier werden nicht einmal die Gelder, die der Bund für die Kommunen zur Beseitigung der Flüchtlingskrise bereitgestellt hat, eins zu eins weitergegeben. (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Jetzt bitte ich die linken Gewerkschaftsvertreter, die selbst noch aktive und bezahlte Gewerkschafter sind: Nehmen Sie bitte Einfluss auf die Gewerkschaft, dass ein moderates Tarifergebnis erzielt wird, das beide Seiten, sowohl die Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer, überleben lässt. (Mechthild Rawert [SPD]: Vor allem die Frauen hätten gern mehr Geld!) Zum Abschluss möchte ich noch einmal betonen: Ich bin für eine angemessene Anpassung der Löhne und Gehälter für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. Aber eine Forderung von 6 Prozent bei einer Inflationsrate von unter 1 Prozent ist weit von dem entfernt, was man Augenmaß nennt. Wenn die Kommunen pleitegehen, meine Damen und Herren, ist keinem geholfen, auch nicht den Mitarbeitern. An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal ganz herzlich bei den vielen Helferinnen und Helfern, ob ehrenamtlich oder hauptamtlich, bedanken, die in der schwierigen Zeit der Bewältigung der Flüchtlingskrise, bei der momentan Gott sei Dank Licht am Ende des Tunnels zu erkennen ist, tatkräftig mitgearbeitet haben. Ohne sie hätten weder die Länder noch der Bund dies alles stemmen können. Sie sollen eine angemessene Tariferhöhung bekommen. Aber bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, sehen Sie das nicht als Bezahlung in der Flüchtlingsarbeit. Menschlichkeit kann man sich nicht erkaufen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 27. April 2016, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen bis dahin alles Gute. (Schluss: 15.05 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15.04.2016 Bär, Dorothee CDU/CSU 15.04.2016 Barthle, Norbert CDU/CSU 15.04.2016 Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15.04.2016 Beckmeyer, Uwe SPD 15.04.2016 Bilger, Steffen CDU/CSU 15.04.2016 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 15.04.2016 Ebner, Harald BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15.04.2016 Ernstberger, Petra SPD 15.04.2016 Fuchs, Dr. Michael CDU/CSU 15.04.2016 Gabriel, Sigmar SPD 15.04.2016 Gottschalck, Ulrike SPD 15.04.2016 Grindel, Reinhard CDU/CSU 15.04.2016 Gutting, Olav CDU/CSU 15.04.2016 Hendricks, Dr. Barbara SPD 15.04.2016 Hochbaum, Robert CDU/CSU 15.04.2016 Huber, Charles M. CDU/CSU 15.04.2016 Jung, Andreas CDU/CSU 15.04.2016 Jung, Dr. Franz Josef CDU/CSU 15.04.2016 Kaster, Bernhard CDU/CSU 15.04.2016 Koenigs, Tom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15.04.2016 Korte, Jan DIE LINKE 15.04.2016 Kühn (Tübingen), Christian BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15.04.2016 Launert, Dr. Silke CDU/CSU 15.04.2016 Lemke, Steffi BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15.04.2016 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 15.04.2016 Leyen, Dr. Ursula von der CDU/CSU 15.04.2016 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15.04.2016 Müntefering, Michelle SPD 15.04.2016 Nietan, Dietmar SPD 15.04.2016 Özoğuz, Aydan SPD 15.04.2016 Pfeiffer, Dr. Joachim CDU/CSU 15.04.2016 Poschmann, Sabine SPD 15.04.2016 Rößner, Tabea BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15.04.2016 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15.04.2016 Schäuble, Dr. Wolfgang CDU/CSU 15.04.2016 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 15.04.2016 Schmitt, Ronja CDU/CSU 15.04.2016 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 15.04.2016 Steinbach, Erika CDU/CSU 15.04.2016 Strebl, Matthäus CDU/CSU 15.04.2016 Tack, Kerstin SPD 15.04.2016 Uhl, Dr. Hans-Peter CDU/CSU 15.04.2016 Veit, Rüdiger SPD 15.04.2016 Wagner, Doris BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15.04.2016 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15.04.2016 Wicklein, Andrea SPD 15.04.2016 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 15.04.2016 Zollner, Gudrun CDU/CSU 15.04.2016 Anlage 2 Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Der Bundesrat hat in seiner 943. Sitzung am 18. März 2016 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über Tabakerzeugnisse und verwandet Erzeugnisse Der Bundesrat hat hierzu ferner folgende Entschließung gefasst: Der Bundesrat verweist auf seine Stellungnahme vom 29. Januar 2016 (BR-Drucksache 630/15 – Beschluss –) und fordert die Bundesregierung erneut auf, sich gegen- über der Kommission für angemessene Übergangsfristen für die notwendigen Produktionsumstellungen der Hersteller einzusetzen. Die Anbringung der neuen Warnhinweise auf Verpackungen für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse sollte erst nach einer Übergangsfrist von 15 Monaten erfolgen. Begründung: Die Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (EU-Tabakerzeugnisrichtlinie) ist von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) bis zum 20. Mai 2016 in nationales Recht umzusetzen. Obwohl die EU-Tabakerzeugnisrichtlinie bereits am 29. April 2014 im Amtsblatt der EU veröffentlicht wurde, hat das zuständige Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft erst im Juli 2015 erste Referentenentwürfe für die notwendigen nationalen Umsetzungsregelungen vorgelegt. Die Beteiligung der Länder erfolgte erst im November 2015. Außer auf das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse (TabakerzG) wartet die Tabakindustrie gemeinsam mit ihren Zulieferern für Maschinen und Verpackungen auch noch auf die in der Tabakerzeugnisverordnung (TabakerzV) enthaltenen Vorgaben zur Umsetzung. Erst mit Inkrafttreten des TabakerzG und der TabakerzV herrscht Rechtssicherheit und die erforderliche Planungssicherheit für die notwendigen Investitionen. Selbst wenn beide nationalen Umsetzungsvorschriften noch im März 2016 verkündet würden, blieben den betroffenen Unternehmen höchstens noch zwei Monate, um die erforderlichen Umstellungen in den Produktionsabläufen durchzuführen. – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über die Vergleichbarkeit von Zahlungskontoentgelten, den Wechsel von Zahlungskonten sowie den Zugang zu Zahlungskonten mit grundlegenden Funktionen – Drittes Gesetz zur Änderung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes – Gesetz zur Änderung des Designgesetzes und weiterer Vorschriften des gewerblichen Rechtsschutzes – Gesetz zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes zur Einführung von Grundsätzen für die Kosten von Wasserdienstleistungen und Wassernutzungen sowie zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes – Gesetz zur Anpassung der Zuständigkeiten von Bundesbehörden an die Neuordnung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV-Zuständigkeitsanpassungsgesetz – WSVZuAnpG) Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mitgeteilt, dass sie die Anträge Reform der Pflegeausbildung auf gesichertes Fundament stellen auf Drucksache 18/5383 sowie Europaweiten Atomausstieg voranbringen – Euratom-Vertrag reformieren oder aussteigen auf Drucksache 18/6205 zurückzieht. Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Innenausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Wahlkreiskommission für die 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages gemäß § 3 des Bundeswahlgesetzes Drucksache 18/3980 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ergänzender Bericht der Wahlkreiskommission für die 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages Drucksache 18/7350 Ausschuss für Arbeit und Soziales – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren (Rentenversicherungsbericht 2013) und Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2013 Drucksachen 18/95, 18/305 Nr. 3 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und über das Unfall- und Berufskrankheitengeschehen in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2012 Drucksache 18/179 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren (Rentenversicherungsbericht 2014) Drucksache 18/3260 hier: Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2014 Drucksache 18/3387 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und über das Unfall- und Berufskrankheitengeschehen in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2013 Drucksachen 18/3474 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren (Rentenversicherungsbericht 2015) und Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2015 Drucksachen 18/6870, 18/7116 Nr. 1 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und über das Unfall- und Berufskrankheitengeschehen in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2014 Drucksachen 18/6980, 18/7116 Nr. 5 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/5459 Nr. A.3 Ratsdokument 9077/15 Drucksache 18/7934 Nr. A.1 Ratsdokument 6135/16 Innenausschuss Drucksache 18/6417 Nr. A.5 Ratsdokument 11958/15 Drucksache 18/6417 Nr. A.6 Ratsdokument 11977/15 Drucksache 18/6417 Nr. A.11 Ratsdokument 12043/15 Drucksache 18/6417 Nr. A.12 Ratsdokument 12044/15 Drucksache 18/6417 Nr. A.13 Ratsdokument 12046/15 Drucksache 18/6417 Nr. A.14 Ratsdokument 12047/15 Drucksache 18/6417 Nr. A.15 Ratsdokument 12048/15 Drucksache 18/6417 Nr. A.16 Ratsdokument 12049/15 Drucksache 18/6607 Nr. A.7 Ratsdokument 12190/15 Drucksache 18/6607 Nr. A.9 Ratsdokument 12459/15 Drucksache 18/6607 Nr. A.10 Ratsdokument 12460/15 Drucksache 18/7612 Nr. A.6 Ratsdokument 15391/15 Drucksache 18/7612 Nr. A.8 Ratsdokument 15398/15 Finanzausschuss Drucksache 18/7612 Nr. A.19 Ratsdokument 5515/16 Drucksache 18/7612 Nr. A.20 Ratsdokument 5516/16 Drucksache 18/7733 Nr. A.8 Ratsdokument 5636/16 Drucksache 18/7733 Nr. A.9 Ratsdokument 5637/16 Drucksache 18/7733 Nr. A.12 Ratsdokument 5640/16 Haushaltsausschuss Drucksache 18/7612 Nr. A.21 KOM(2015)801 endg. Drucksache 18/7612 Nr. A.22 KOM(2015)802 endg. Drucksache 18/7612 Nr. A.23 KOM(2015)803 endg. Drucksache 18/7612 Nr. A.24 KOM(2015)804 endg. Drucksache 18/7934 Nr. A.10 Ratsdokument 6091/16 Drucksache 18/7934 Nr. A.11 Ratsdokument 6100/16 Drucksache 18/7934 Nr. A.12 Ratsdokument 6336/16 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/7934 Nr. A.19 Ratsdokument 5574/16 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Drucksache 18/7733 Nr. A.20 Ratsdokument 5771/16 Drucksache 18/7733 Nr. A.21 Ratsdokument 5772/16 Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Drucksache 18/7612 Nr. A.32 EP P8_TA-PROV(2016)0020 Drucksache 18/7934 Nr. A.22 EP P8_TA-PROV(2016)0043 Drucksache 18/7934 Nr. A.23 EP P8_TA-PROV(2016)0044 Drucksache 18/7934 Nr. A.24 EP P8_TA-PROV(2016)0051 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 18/5286 Nr. A.16 Ratsdokument 8886/15 II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 165. Sitzung, Berlin, Freitag, den 15. April 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 165. Sitzung, Berlin, Freitag, den 15. April 2016 16231 Plenarprotokoll 18/165