Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 168. Sitzung Berlin, Freitag, den 29. April 2016 Inhalt Tagesordnungspunkt 24: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Tschernobyl und Fukushima mahnen – Verantwortungsbewusster Umgang mit den Risiken der Atomkraft und weitere Unterstützung der durch die Reaktorkatastrophen betroffenen Menschen Drucksache 18/8239 16565 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Andrej Hunko, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Risiko-Reaktoren abschalten – Atomausstieg in Europa beschleunigen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 30 Jahre Tschernobyl, 5 Jahre Fukushima – Atomausstieg konsequent durchsetzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Atomkraftwerk Cattenom sofort abschalten Drucksachen 18/7875, 18/7656, 18/7668, 18/8266 16565 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine öffentlichen Forschungsgelder für den Wiedereinstieg in atomare Technologien – 6. Energieforschungsprogramm vollständig in Richtung Energiewende weiterentwickeln Drucksachen 18/5211, 18/8262 16565 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europaweiten Atomausstieg voranbringen – Euratom-Vertrag reformieren oder aussteigen Drucksache 18/8242 16565 D Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin BMUB 16566 A Hubertus Zdebel (DIE LINKE) 16567 D Steffen Kanitz (CDU/CSU) 16568 C Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16570 C Oliver Kaczmarek (SPD) 16571 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) 16572 B Florian Oßner (CDU/CSU) 16573 C Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16574 C Dr. Nina Scheer (SPD) 16575 A Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16576 A Marco Bülow (SPD) 16576 D Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU) 16578 A Tagesordnungspunkt 25: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Weiterentwicklung der Konzeption zur Erforschung, Bewahrung, Präsentation und Vermittlung der Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes Drucksache 18/7730 16580 B Monika Grütters, Staatsministerin BK 16580 C Sigrid Hupach (DIE LINKE) 16581 D Christina Jantz-Herrmann (SPD) 16583 C Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16585 B Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) 16586 D Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) 16587 D Klaus Brähmig (CDU/CSU) 16588 D Dietmar Nietan (SPD) 16590 A Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU) 16591 B Tagesordnungspunkt 26: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 289 zu Petitionen Drucksache 18/8092 16592 B Markus Paschke (SPD) 16592 B Katja Kipping (DIE LINKE) 16593 B Paul Lehrieder (CDU/CSU) 16594 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16595 B Katja Kipping (DIE LINKE) 16595 D Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16597 A Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU) 16598 B Udo Schiefner (SPD) 16599 B Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) 16599 C Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) 16601 B Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 16602 D Kerstin Kassner (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) 16603 D Tagesordnungspunkt 27: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zur Vergabe von Wegenutzungsrechten zur leitungsgebundenen Energieversorgung Drucksache 18/8184 16605 C Johann Saathoff (SPD) 16605 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) 16606 C Ingbert Liebing (CDU/CSU) 16607 C Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) 16608 C Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16609 B Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär BMWi 16610 C Barbara Lanzinger (CDU/CSU) 16611 B Bernhard Daldrup (SPD) 16612 B Tagesordnungspunkt 28: Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Matthias Gastel, Stephan Kühn (Dresden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Bundesverkehrswegeplan zum Bundesnetzplan weiterentwickeln Drucksache 18/8083 16613 C Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16613 C Patrick Schnieder (CDU/CSU) 16615 A Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16615 B Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16616 A Sabine Leidig (DIE LINKE) 16617 B Stefan Zierke (SPD) 16617 D Martin Burkert (SPD) 16619 B Thomas Jarzombek (CDU/CSU) 16620 C Gustav Herzog (SPD) 16621 D Sabine Leidig (DIE LINKE) 16622 B Ulrich Lange (CDU/CSU) 16623 D Nächste Sitzung 16625 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 16627 A Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über die Empfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 289 (Drucksache 18/8092) zur Petition 4-18-11-81503-001721 (Tagesordnungspunkt 26) 16628 A Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) 16628 A Cornelia Möhring (DIE LINKE) 16628 C Kersten Steinke (DIE LINKE) 16629 A Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) 16629 D Katrin Werner (DIE LINKE) 16630 B Birgit Wöllert (DIE LINKE) 16630 C Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) 16631 A Anlage 3 Amtliche Mitteilungen 16631 C 168. Sitzung Berlin, Freitag, den 29. April 2016 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich. Heute Morgen beschäftigen wir uns zunächst mit den Tagesordnungspunkten 24 a und 24 b sowie den Zusatzpunkten 6 und 7: 24 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Tschernobyl und Fukushima mahnen – Verantwortungsbewusster Umgang mit den Risiken der Atomkraft und weitere Unterstützung der durch die Reaktorkatastrophen betroffenen Menschen Drucksache 18/8239 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Andrej Hunko, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Risiko-Reaktoren abschalten – Atomausstieg in Europa beschleunigen zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 30 Jahre Tschernobyl, 5 Jahre Fukushima – Atomausstieg konsequent durchsetzen zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Atomkraftwerk Cattenom sofort abschalten Drucksachen 18/7875, 18/7656, 18/7668, 18/8266 ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine öffentlichen Forschungsgelder für den Wiedereinstieg in atomare Technologien – 6. Energieforschungsprogramm vollständig in Richtung Energiewende weiterentwickeln Drucksachen 18/5211, 18/8262 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europaweiten Atomausstieg voranbringen – Euratom-Vertrag reformieren oder aussteigen Drucksache 18/8242 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll diese Aussprache 60 Minuten dauern. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Barbara Hendricks. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Geschichte der Atomkraft war an ihrem Beginn eine Geschichte großer Euphorie. Ihre enormen Risiken wurden erst unterschätzt, dann heruntergespielt und sind erst Stück für Stück in das öffentliche Bewusstsein eingedrungen. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, an die wir in dieser Woche erinnern, ist einer der Wendepunkte dieser Geschichte. Sie zeigt: Das Risiko der Atomkraft ist nicht nur eine theoretische Größe. Die Katastrophe ist eingetreten mit verheerenden Konsequenzen. Meine Damen und Herren, ich war vor wenigen Wochen in Tschernobyl. Ich habe dort den Fortschritt der Arbeiten gesehen, die dazu dienen, den verunglückten Reaktor mit einer neuen Schutzhülle zu überziehen. Das ist eine ingenieurtechnische Meisterleistung, die dort vollbracht wird. Die Schutzhülle kostet ungefähr 2 Milliarden Euro. Insgesamt 45 Länder, darunter Deutschland, beteiligen sich an diesen Kosten. Russland ist auch dabei; das muss man, finde ich, in diesem Zusammenhang erwähnen. Gleichwohl erwartet niemand, dass diese Hülle länger als 100 Jahre hält. Die vor 30 Jahren notdürftig angebrachte Hülle kommt an ihre Grenze; ihre Lebensdauer wurde auf 20 bis 30 Jahre geschätzt. Die jetzt neu anzubringende große Hülle soll, wie gesagt, etwa 100 Jahre halten, in der Hoffnung und Erwartung, dass in dieser Zeit die Menschen, die nach uns kommen, technologische Kenntnisse haben, die wir jetzt noch nicht haben und die dann helfen würden, mit dem umzugehen, was dort für immer eine Gefahr darstellt. An dieser Stelle sehen Sie, was es bedeutet, wenn ein großer Unfall geschieht. Die Natur hat sich die gesperrte Region zurückerobert. Die Menschen dürfen in einem Umkreis von 30 Kilometern nie mehr siedeln. Gleichwohl arbeiten Menschen natürlich an diesem Reaktor. Sie arbeiten dort zwei Wochen und sind dann zwei Wochen zu Hause. In dem Ort Tschernobyl leben diese Arbeiterinnen und Arbeiter in den zwei Wochen ihrer Arbeit. Etwa 150 Menschen sind in ihre Heimatstadt Tschernobyl, die etwa 10 Kilometer von dem Reaktor entfernt liegt, zurückgekehrt. Diese 150 Menschen, die eigentlich widerrechtlich dort leben, haben gesagt: Wir sind älter, wir werden sowieso sterben, wir wollen in unserer Heimat sterben. – Das ist die Lage, mit der man es jetzt, 30 Jahre nach dem Unfall, dort zu tun hat. Die Stadt war einmal von etwa 200 000 Menschen bewohnt, und sie war damals eine sozialistische Musterstadt: alles neu, alles modern, Kulturhäuser, Schwimmbäder. Am 1. Mai, also fünf Tage nach dem Unfall, sollte ein großer Vergnügungspark eröffnet werden, der nun aber nie genutzt wurde. Da stehen jetzt überwucherte Autoskooter und Riesenräder. Es ist in der Tat eine total gespenstische Atmosphäre. Die Menschen, die gerne dort gelebt haben, weil es für junge Familien sehr angenehm war, wurden evakuiert – eigentlich ein paar Tage zu spät –, sind mit Bussen in viele verschiedene Richtungen weggebracht worden und haben sich nie wieder getroffen; denn sie sind in der großen Sowjetunion an verschiedenen Orten untergebracht worden. Menschenleer und still ist heute also, was einmal eine Stadt war. Meine Damen und Herren, es gibt Ereignisse, die brennen sich in unser Gedächtnis ein: die Aufnahmen aus dem Hubschrauber, die den brennenden Reaktorkern zeigen, die Strahlenmessungen am Boden und auch an Lebensmitteln hier bei uns, später dann die Geschichten von den Feuerwehrleuten, den Kraftwerksmitarbeitern und den Soldaten, die bei dem Versuch, die Katastrophe einzudämmen, dem Tod ins Auge sahen. Ich habe einen Kranz an der Gedenkstätte niedergelegt. Dort wird 23 Männer gedacht, die alle schon am 6. Mai, also weniger als zehn Tage nach dem GAU, tot waren. Von der Reaktorruine geht bis heute eine Gefahr für die Menschen durchaus in ganz Europa aus. Der Sarkophag über dem havarierten Reaktor 4, der 1986 hastig errichtet wurde, hat seine Altersgrenze erreicht. Es war deshalb ein wichtiger Erfolg der deutschen G-7-Präsidentschaft im vergangenen Jahr, dass die großen Industriestaaten gemeinsam mit vielen anderen Ländern die Finanzierung für den Weiterbau der neuen Schutzhülle fest zugesagt haben. Wir werden versuchen, auch darüber hinaus zu helfen. Weite Landschaften der Ukraine, Russlands und Weißrusslands sind bis heute belastet. Hunderttausende leiden unter den Folgen. Sie sind heimatlos, sie sind erkrankt oder sie pflegen kranke Angehörige. Wir lassen diese Menschen nicht allein. Das zeigt auch das Engagement der vielen ehrenamtlichen Gruppen aus ganz Europa, die sich den Opfern widmen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Tschernobyl gab denjenigen recht, die schon lange vor den Gefahren der Atomkraft gewarnt hatten, in Wyhl, in Brokdorf, in Wackersdorf, in Kalkar und an vielen anderen Orten. Gerade weil die Atomkraftgegner über lange Zeit so manches an Schmähungen über sich haben ergehen lassen müssen und sogar in die Ecke von Staatsfeinden gerückt wurden, sage ich heute in diesem Hohen Haus: Die Antiatomkraftbewegung war keine gegen den Staat gerichtete Bewegung. Ganz im Gegenteil: Es waren Freunde des Staates und der Gesellschaft, weil sie nicht hinnehmen wollten, dass wir alle den Risiken einer zu gefährlichen Art der Energieerzeugung ausgesetzt sind. Ich danke diesen Menschen heute ganz ausdrücklich; denn sie haben sich um unser Land verdient gemacht. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ulrich Petzold [CDU/CSU]) Meine Damen und Herren, dass es bis Fukushima brauchte, bis alle Fraktionen dieses Hauses sich hinter dem Ziel eines zügigen Ausstiegs aus der Atomenergie versammelt haben, gehört natürlich zur Geschichte dazu. Fukushima liefert den endgültigen Beweis, dass es auch in hochindustrialisierten Ländern mit hohen Sicherheitsstandards zu Ereignissen kommen kann, die zu nicht mehr beherrschbaren Störfällen führen. Auch dort mussten Hunderttausende ihre Heimat verlassen. Auch dort wurden unter anderem Mitarbeiter der Firma Tepco gesundheitlichen Risiken ausgesetzt, um die Katastrophe einzudämmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, 2022 wird das letzte deutsche Atomkraftwerk abgeschaltet. Unsere Arbeit ist aber noch nicht getan. Die Sicherheit der Atomkraftwerke muss bis zum letzten Betriebstag gewährleistet bleiben. In den vergangenen 30 Jahren haben Bund und Länder dafür gesorgt, dass die deutschen Atomkraftwerke ein hohes Sicherheitsniveau haben. Wir müssen für die gleiche Sicherheit sorgen, wenn wir die Meiler stilllegen und zurückbauen; das sage ich auch im Hinblick auf die Vorkommnisse im AKW Philippsburg. Wir werden die Bewertung des Sachverhaltes und die Maßnahmen des Betreibers EnBW und der baden-württembergischen Landesregierung abwarten. Klar ist aber, dass sowohl der Betreiber als auch die zuständigen Landesbehörden solche Täuschungen nicht dulden dürfen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gerade die letzten Wochen zeigen, dass trotz des deutschen Atomausstiegs Risiken bestehen bleiben. Radioaktivität macht an Grenzen ja nicht halt. Fessenheim, das nächst gelegene französische Atomkraftwerk, liegt, wie wir wissen, direkt am Rhein. Besondere Sorgen machen uns die belgischen Kraftwerke Tihange und Doel. Natürlich liegt die Entscheidung für oder gegen die Nutzung der Atomenergie in der nationalen Souveränität des jeweiligen Staates. Aber ich erwarte, dass unsere Nachbarn die Sorgen der Menschen in den Grenzgebieten ernst nehmen und für ein höchstmögliches Sicherheitsniveau sorgen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Das ist auch der Grund, warum ich die belgische Regierung gebeten habe, die Blöcke Tihange 2 und Doel 3 bis zur Klärung aller Sicherheitsfragen vom Netz zu nehmen. Ich bedauere sehr, dass dieser dringenden Bitte von belgischer Seite bislang nicht entsprochen wurde. Deutschland hat sich auf EU-Ebene mit Erfolg für die Festlegung von verbindlichen Sicherheitszielen in der Europäischen Union und für ein System wechselseitiger Kontrolle starkgemacht. Wir setzen uns außerdem für eine verpflichtende grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung ein, wenn unsere Nachbarn Laufzeiten verlängern. Wir werden uns weiterhin mit ganzer Kraft für ein hohes Sicherheitsniveau in Europa und weltweit einsetzen. Wir werben dafür, dass der Ausstieg aus der Atomenergie in Europa und möglicherweise auch weltweit Schule macht. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Atomenergie ist eine Sackgasse der technischen Entwicklung. Die Orte Tschernobyl und auch Fukushima sind dafür ewige Mahnungen. In Deutschland haben wir uns auf einen anderen Weg gemacht. Wir steigen um auf Energien, die Wohlstand ermöglichen, ohne Menschen und Umwelt zu gefährden. Wir stehen heute – ohne Zweifel – am Beginn des Zeitalters der erneuerbaren Energien. Lassen Sie uns diesen Weg entschlossen weitergehen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich Ihnen, Frau Ministerin, gerne zu Ihrem heutigen Geburtstag gratulieren. (Beifall) Ich verbinde damit die Erwartung, dass die heutige Debatte zu diesem Thema in Ihrem Verantwortungsbereich der erste Höhepunkt Ihrer heutigen Geburtstagsfeierlichkeiten sein wird. (Heiterkeit) Mit dieser Vorlage bitte ich jetzt den Kollegen Hubertus Zdebel an das Mikrofon, (Heiterkeit) der für die Fraktion Die Linke das Wort erhält. (Beifall bei der LINKEN) Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Hendricks, auch von meiner Seite: Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag. Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar für Ihre klaren Worte, die Sie zu den Atomreaktoren in Belgien gefunden haben; darauf komme ich in meiner Rede gleich zurück. Aber erst einmal Glückwunsch, auch von meiner Seite. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Tschernobyl und Fukushima sind eine Mahnung, dass der Atomausstieg nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und in der ganzen Welt erforderlich ist. Nur so können derartige Katastrophen wirksam verhindert werden. Diesem Anspruch hält die Politik der Bundesregierung allerdings nicht stand. Die heute vorliegenden Anträge von uns Linken und von den Grünen zeigen auf, dass es vielfältige Handlungsmöglichkeiten für eine Bundesregierung gibt, den Atomausstieg in Deutschland und Europa klarer und deutlicher auf die Tagesordnung zu setzen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Rahmen meiner Redezeit kann ich das nur an einigen wenigen Punkten deutlich machen. Meines Erachtens ist es nicht die Frage ob, sondern leider nur wann und wo eine Katastrophe wie in Tschernobyl und Fukushima passieren wird. Nicht auszuschließen ist, dass diese nächste Katastrophe Tihange sein könnte. Über Filz und Schlamperei in der belgischen Atomaufsicht berichtet aktuell die Süddeutsche Zeitung, vor allem über einen obersten Atomaufseher, der zuvor für den Tihange-Betreiber Electrabel gearbeitet hat. Dazu kommen jede Menge ungeklärte Fragen zu den Tausenden Rissen im Reaktordruckbehälter. Dass er einen schweren Störfall aushält, bezweifelt sogar das Bundesumweltministerium. Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist – auch für die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik –, dass endlich die Uranfabriken in Gronau und Lingen in den Atomausstieg einbezogen werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Darüber findet sich in dem Antrag der Großen Koalition, der heute auch vorliegt, bezeichnenderweise kein Wort. Hier AKWs abzuschalten und sie hinter der Grenze, wie in Doel und Tihange, mit Brennstoff zu versorgen, ist keine glaubwürdige Politik. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist Beihilfe zum Atomrisiko in den Nachbarstaaten, in Europa und in der Welt, und es ist ein Hinweis darauf, dass die Bundesregierung sich international eine Tür zu einer Zukunft der Atomenergie offenhält. Diese Tür muss so weit wie möglich geschlossen werden. Das ist übrigens auch ein Grund, warum wir den Atomausstieg gemeinsam mit vielen Anti-AKW-Initiativen und Umweltverbänden im Grundgesetz festschreiben wollen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Tschernobyl, Fukushima? Egal. Für ihre wirtschaftlichen Interessen halten Konzerne international an der Atomenergie ebenso fest wie Staaten, die damit auch ihre militärischen Machtansprüche aufrechterhalten. In diesem Zusammenhang, weil es auch zu den Risiken der Atomkraft gehört, ein Wort zu den sogenannten Ergebnissen der Atom-Finanzkommission, KFK, in der Vertreter und Vertreterinnen von CDU/CSU, SPD und Grünen dominierten und in die wir als Linke aus guten Gründen nicht berufen wurden. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Wirklich gute Gründe!) Diese Atom-Finanzkommission macht den Atomkonzernen gerade ein fettes Geschenk: Zum Schaden der Bürgerinnen und Bürger wird das gesetzlich festgeschriebene Verursacherprinzip für RWE, Eon usw. durch eine Art Ablasshandel einfach außer Kraft gesetzt. Circa 41 Milliarden Euro sind laut Ergebnissen dieser KFK vorgesehen, eine Summe, die von vorne bis hinten nicht ausreichen wird. Das wissen Sie alle. Der Co-Vorsitzende der Endlagersuchkommission, Michael Müller, hat völlig zu Recht vor kurzer Zeit von Kosten in Höhe von mindestens 70 Milliarden Euro gesprochen. Wenn man diese Summe mit den jetzt festgeschriebenen circa 40 Milliarden Euro vergleicht, ist völlig klar, wer letztlich die Rechnung dafür zahlen muss, obwohl es im Atomgesetz ganz anders geregelt ist. (Beifall bei der LINKEN) Bei der Suche nach solchen und ähnlichen Deals hat die Satiresendung heute-show vor einigen Wochen ein neues Element entdeckt: Va 119. „Va“ steht für „Verarschium“. (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) Die Atomkonzerne müssen weiter für die Kosten geradestehen, wie es seit Jahrzehnten gesetzlich vorgeschrieben ist. In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kanitz für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Steffen Kanitz (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich ausdrücklich den Wünschen des Bundestagspräsidenten anschließen und Ihnen, Frau Ministerin, im Namen meiner Fraktion herzlich zum Geburtstag gratulieren. Als kleines Geburtstagsgeschenk haben wir Ihnen einen schönen Antrag der Koalitionsfraktionen mitgebracht, (Zuruf von der LINKEN) der Sie auf Ihrem Weg unterstützen soll, in Europa für höchste Sicherheitsstandards bei den Kernkraftwerken zu werben. Also, alles Gute für Ihre Zukunft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Fukushima und Tschernobyl sind Synonyme für zwei folgenschwere nukleare Unglücke geworden. Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen möchten wir einen Beitrag dazu leisten, dass die Erinnerung an beide Katastrophen wachgehalten wird. Wir gedenken der Opfer und trauern mit den Angehörigen, wir verneigen uns in Dankbarkeit und Respekt vor den vielen Helfern, die unmittelbar nach den Katastrophen beherzt eingegriffen und noch größeren Schaden vermieden haben. Viele von ihnen haben diesen Einsatz mit ihrem Leben bezahlt. Auch wenn die Einschätzungen über die Anzahl der Folgetoten auseinandergehen, sind wir uns, glaube ich, alle einig: Jedes einzelne Opfer war eines zu viel. Es steht außer Frage, dass wir Japan und auch die Ukraine bei der Beseitigung der Folgen weiterhin unterstützen. Insbesondere in der Ukraine wollen wir bei der Bewältigung der medizinischen und sozialen Spätfolgen helfen. Für den Bau des neuen Sarkophags – die Ministerin hat es eben angesprochen –, der ab Ende 2017 die Umgebung vor weiterer Strahlung schützen soll, steuert allein Deutschland über 300 Millionen Euro bei. Diese Unfälle mahnen uns auch weiterhin zu höchster Sorgfalt und Vorsicht im Umgang mit dieser Technologie. Wir müssen alles dafür tun, dass etwas Vergleichbares nicht wieder geschieht. Dabei gehen wir nicht von der Unfehlbarkeit des Menschen aus, sondern legen Sicherheitssysteme so aus – das erwarten wir auch –, dass sie auf Fehler angemessen reagieren. In Deutschland leisten wir unseren Beitrag dazu, indem wir über höchste Sicherheitsstandards verfügen, indem wir eine Forschung und eine Entwicklung auf internationalem Spitzenniveau haben und indem wir einen offenen Umgang mit Fehlern praktizieren. Seit Inbetriebnahme des ersten Reaktors in Garching bei München im Jahr 1957 gab es keine schwerwiegenden nuklearen Vorfälle in kerntechnischen Anlagen in Deutschland. Deswegen möchte ich einen großen Dank an die Betriebsmannschaften der deutschen Kernkraftwerke aussprechen. Auch sie haben gute Arbeit geleistet. Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Rückblickend können wir ohne Schaum vor dem Mund feststellen, dass die Nutzung der Kernenergie einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik geleistet hat. Wir haben in dieser Zeit etliche Kompetenzen erworben, etwa im Betrieb von Kernkraftwerken, in der Bearbeitung von Sicherheitskonzepten und auch in der Erkundung. Das Fachwissen dieser Betriebsmannschaften ist auch in Zukunft unabdingbar. Wir sollten heute nicht leichtfertig die Belegschaft in Gorleben entlassen, weil wir dann möglicherweise in fünf Jahren, wenn wir mit der Erkundung beginnen, feststellen müssten, dass wir das nötige bergmännische Know-how in unserem Land nicht mehr haben. Wir sollten hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, weitsichtig handeln. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gerade als Folge unseres Ausstiegs wird das Thema „Kompetenz für den sicheren Rückbau von Kernkraftwerken“ immer wichtiger. Diesen bereits vorhandenen Sachverstand an den Standorten müssen wir bewahren und sollten ihn nicht schlechtreden. Dazu müssen wir gerade bei jungen Menschen für das Zukunftsfeld Rückbau Werbung machen. Wer sich einmal angesehen hat, wie ein Ringwasserbehälter mit Diamantseilsägen zerlegt wird, die extra zu diesem Zweck von der Betriebsmannschaft und den Ingenieuren konstruiert wurden, bekommt Lust darauf, bei dieser technisch anspruchsvollen Aufgabe mitzumachen. Hierbei hat Deutschland eine Vorreiterrolle. Wir werden sie nur erhalten können, wenn wir weiterhin über ausreichend qualifiziertes Personal verfügen. Dazu brauchen wir auch weiterhin eine Offenheit gegenüber neuen Technologien. Wir brauchen auch weiterhin eine Forschungslandschaft, die sich nicht an Ideologie, sondern am Einfallsreichtum zukunftsbegeisterter Menschen orientiert. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir brauchen eine Freiheit im Denken. Denn eine Einschränkung dieser Freiheit bedeutet, dass wir uns möglicher Zukunftschancen berauben. Mir scheint, dass der Gedenktag zu Tschernobyl von interessierter Seite genutzt wird, um Ängste zu schüren. (Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) Dabei gerät die Wahrheit häufig unter die Räder. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Wahrheit denn? Fukushima? Die Störfälle in Deutschland?) Anhand einiger kurzer Beispiele möchte ich das illustrieren. Das erste Beispiel ist Gundremmingen. Die Behauptung ist, es hätte einen Cyberangriff auf die in Betrieb befindlichen Reaktoren gegeben. Richtig ist: Es handelt sich um einen Rechner ohne Internetzugang, der nicht mit dem Betriebs- und Sicherheitssystem der Anlage verbunden ist. Der eigentliche Schutz der Reaktoren findet analog statt. Die Anlage war zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Das zweite Beispiel ist das Kernkraftwerk Fessenheim. Anfang März dieses Jahres erschien ein Bericht, demzufolge einer der „dramatischsten AKW-Unfälle in Westeuropa“ vorgefallen sei. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Atomkraft ist total sicher, oder?) Richtig ist: Selbst die grün-geführte Landesregierung in Baden-Württemberg hat schon 2014 bestätigt, dass der Vorfall ordnungsgemäß gemeldet wurde, die richtigen Maßnahmen eingeleitet und die notwendigen Informationen veröffentlicht wurden. Ich stelle fest: Es war eine Falschmeldung. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, Atomkraft ist total sicher? – Gegenruf von der CDU/CSU: Hat er ja nicht gesagt!) Ich komme nun zum Lieblingsbeispiel der letzten Wochen, zum Forschungszentrum Jülich. Ein Redaktionsnetzwerk meldete, Terroristen hätten Unterlagen über das Forschungszentrum Jülich gesammelt. Der Präsident des Verfassungsschutzes habe Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums über mögliche Anschlagspläne informiert. Richtig ist: Weder hat der Verfassungsschutz Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums über solche Vorgänge informiert, noch hatten das Bundes- und entsprechende Landesinnenministerium Kenntnis über solche Vorgänge. Diese Meldung ist frei erfunden. Sie können in Deutschland alles behaupten. Solange es um Kernkraft geht, können Sie davon ausgehen, dass jede Meldung ungeprüft übernommen und verteilt wird, (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Ihre Rede nicht!) sofern es sich um die Risiken der Kernkraft handelt. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!) Ein solches Vorgehen ist unzulässig und hat mit seriösem Journalismus nichts zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lügenpresse?) Ich will noch kurz auf ein Lieblingsthema der Opposition eingehen, den Euratom-Vertrag. Auch wenn Sie es nicht gern hören: Gerade der so häufig kritisierte Euratom-Vertrag leistet vor allem durch die Richtlinie über einen Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit kerntechnischer Anlagen einen wesentlichen Beitrag zu den von Ihnen geforderten höheren Sicherheitsstandards in Europa. Ziel ist es, die nukleare Sicherheit in Europa aufrechtzuerhalten und in allen Ländern zu verbessern. Ich denke, dieses in der Richtlinie verankerte Ziel entspricht genau unseren Interessen. (Beifall bei der CDU/CSU) Schon deshalb wäre es kontraproduktiv, den Euratom-Vertrag zu kündigen, unabhängig davon, dass wir dann auch sämtliche Mitspracherechte in internationalen Gremien verlieren. Wenn wir über Sicherheit sprechen, dann gilt das nicht nur für den Betrieb von nuklearen Anlagen, sondern insbesondere auch für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle. Hier laufen derzeit zwei Prozesse, die mich hoffen lassen, dass das Jahr 2016 als das Jahr in die Geschichtsbücher eingehen wird, in dem die noch offenen Fragen der Finanzierung des Kernenergieausstiegs auf der einen Seite und der Standortsuche auf der anderen Seite gelöst wurden. Die Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs hat in dieser Woche erste Ergebnisse zur Finanzierung der Endlagersuche vorgestellt, die man durchaus als historisch bezeichnen kann. Ich danke allen Beteiligten und gratuliere zu dem Ergebnis, das eben genau dem Verursacherprinzip entspricht und deutlich macht, dass wir natürlich einen Risikoaufschlag auf all die Rückstellungen, die jetzt schon gebildet worden sind, nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist jetzt an der Endlagerkommission, den letzten großen Meilenstein zu bewältigen. Ich bin durchaus optimistisch, dass wir das schaffen werden. Wir tagen nun seit zwei Jahren in intensiven Gesprächen und haben auf einem guten Weg des Vertrauens zusammengefunden. Der Grundkonsens, der uns alle einigt, war: Wir wollen einen Neustart der Endlagersuche auf Basis der weißen Landkarte. Das bedeutet für die CDU/CSU-Fraktion, dass alle Standorte gleichbehandelt werden. Gorleben muss sich wie jeder andere Standort auch an den wissenschaftlichen Kriterien messen lassen und kann nicht aufgrund von politischen Vorfestlegungen vorsorglich aus dem Verfahren genommen werden. Damit würden wir genau die Kritik bestätigen, die im Vorhinein an Gorleben geübt wurde. Wir können nicht alle Bundesländer für ein Verfahren der Endlagersuche öffnen und ein einziges Bundesland ausschließen. Das entspricht nicht dem Prinzip der weißen Landkarte. Das ist mit der CDU/CSU-Fraktion nicht zu machen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Kotting-Uhl erhält nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Ministerin, auch die Fraktion der Grünen gratuliert Ihnen natürlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben heute als Koalition einen Antrag vorgelegt, der viele richtige Forderungen enthält, die wir weitgehend teilen, die allerdings bei weitem nicht ausreichend sind, um dem Gedenken an Tschernobyl und Fukushima auch nur im Ansatz gerecht zu werden. Deswegen werden wir uns heute enthalten. Sie fordern in diesem Antrag unter anderem eine europäische Erinnerungskultur an die Katastrophe von Tschernobyl. Ich muss sagen: Diese Erinnerungskultur würde ich mir manchmal auch hier im Hohen Haus wünschen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn ich Ihre Reden höre, Herr Kanitz, muss ich bei aller sonstigen Wertschätzung, die wir uns durchaus gegenseitig manchmal ausdrücken, sagen: Sie werfen uns beständig vor, wir würden Ängste schüren und Panik machen, aber Sie reden Risiken herunter. Das machen Sie, und das ist deutlich unangemessener. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) In dem Antrag wird auch ein Lob für Japan ausgesprochen in der Hinsicht, Japan habe alles richtig gemacht und umgehend reagiert. Ich muss sagen: Nein, das stimmt nicht. Ich habe mit Menschen der früheren Stadtverwaltungen der toten Städte in der 9-Kilometer-Zone geredet. Sie haben mir erzählt, wie es danach war. Sie haben mir gesagt, dass Informationen nicht gegeben wurden, dass die Menschen nicht wussten, was zu tun war, dass Katastrophenpläne nicht funktionierten und es bis zu einem Jahr dauerte, bis Orte, die 4 oder 5 Kilometer neben den havarierten Reaktoren lagen, evakuiert waren. Ich will aber auf Japan gar nicht schimpfen. Ich will ehrlich sagen – deswegen ärgert mich auch dieses Herunterreden des Risikos so –: Jedes Land auf dieser Welt wäre bei der Bewältigung eines GAUs überfordert, jedes Land. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Lob für unser eigenes Land kann ich auch nicht uneingeschränkt teilen. Ja, wir haben im europäischen und vor allem im weltweiten Vergleich hohe und gute Sicherheitsstandards. Aber was ist zum Beispiel in Gundremmingen mit der mangelhaften Nachkühlversorgung? Was ist in Gundremmingen mit der mangelhaften Auslegung der Erdbebensicherheit gerade dieser Nachkühlsysteme? Was ist mit der Häufigkeit der Precursor-Zwischenfälle? Was ist mit der bayerischen Atomaufsicht, die all das herunterspielt, die das genauso herunterredet, Herr Kanitz, wie Sie in Ihren Reden die Risiken herunterreden? Was ist damit? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Was ist bezüglich der Vortäuschung von Untersuchungen im Hinblick auf die Instrumente, die man braucht, um die Sicherheit zu überprüfen? Ja, das wird jetzt aufgeklärt. Und: Ja, es ist nichts passiert. Aber zu Betrügereien und Schlampereien wie in Fessenheim, die zum Ausfall von Sicherheitseinrichtungen führen, darf es nicht kommen. Sie, Herr Kanitz, sagen: Es ist doch nichts passiert. – Auch die französische Atomaufsicht sagt: Es ist doch nichts passiert. – Das ist aber kein Anlass, zu sagen: Es ist alles gut. – Es geht doch nicht darum, wie es ausgeht, sondern um die Frage: Was hätte passieren können? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Quintessenz ist: Weder die Technik noch der Mensch können bei Atomkraftwerken für hundertprozentige Sicherheit garantieren. Die Folgeauswirkungen der Technologie Atomkraft sind, wenn etwas passiert, zu massiv und zu gravierend, als dass man die damit einhergehenden Sicherheitsdefizite, die Mensch und Technik notwendigerweise mit sich bringen, akzeptieren kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Ich komme noch auf zwei Punkte zu sprechen; viel mehr Zeit bleibt mir leider nicht. Zunächst zur Forschung. Wie ich gesehen habe, wird Herr Lengsfeld neun Minuten darüber reden. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Uns bleibt auch nichts erspart! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh nein! – Muss das sein?) Er wird vermutlich wieder loben, wie toll das alles ist und wie notwendig internationale Forschung ist. (Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Es tut mir ja leid, Frau Kollegin, aber so ist es nun einmal!) Ich möchte Ihnen nur eines sagen: Wir steigen hierzulande aus der Atomkraft aus, und das mit der Begründung, dass das Risiko der Bevölkerung nicht mehr zumutbar ist; das waren die Worte von Frau Merkel, und sie waren völlig richtig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Aber wir erforschen mit unserem öffentlichen Geld, mit Steuergeld, Technologien, deren Anwendung den Wiedereinstieg in atomare Technologie, ja sogar in atomare Großtechnologie bedeuten würde. Bei der Transmutation geht es um Stichworte wie Brüdertechnologie, Wiederaufarbeitungsanlagen und, und, und. Solche Technologien erforschen wir, wie gesagt, mit unserem Geld, um sie in anderen Ländern anwenden zu lassen. Gerade wird darüber entschieden, ob einer Empfehlung des Rates zugestimmt wird, in der steht: Wir wollen die Ausweitung der europäischen und der deutschen Nuklearindustrie in noch unerschlossene Märkte unterstützen. – Das heißt, wir unterstützen mit unserem öffentlichen Geld die Anwendung und Einführung einer solchen Technologie in Ländern, die heute vielleicht noch gar nichts damit zu tun haben, also die Anwendung einer Technologie, von der wir aus gutem Grund alle miteinander gesagt haben: Das damit verbundene Risiko ist unserer Bevölkerung nicht mehr zumutbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ist nicht glaubwürdig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Oliver Kaczmarek für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Oliver Kaczmarek (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einem Lob an den Bundestag beginnen, weil ich glaube, es ist aller Ehren wert, dass der Deutsche Bundestag heute zu einer guten Debattenzeit an die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima erinnert. Ich weiß, das findet in den betroffenen Ländern viel Beachtung. Es wird als ein Zeichen deutscher Solidarität empfunden. Deswegen: Es ist gut, dass wir diese Debatte heute zu dieser Zeit führen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte einen etwas anderen Akzent setzen und, wie auch die Ministerin, an die Betroffenen erinnern – an die, die schwer erkrankt sind oder deren Familienangehörige teilweise schon verstorben sind – und den Blick vor allen Dingen auf diejenigen richten, die sich heute um die Betroffenen kümmern: auf diejenigen, die Hilfstransporte oder Ärztefortbildungen auf dem Land organisieren, die mithelfen, Krankenhäuser zu ertüchtigen, um beispielsweise Schilddrüsenkrebserkrankungen zu bekämpfen, und diejenigen, die Erholungsaufenthalte für bislang mehr als 1 Million Kinder aus den betroffenen Regionen in Europa organisiert haben. Tschernobyl war vor 30 Jahren die größte Technikkatastrophe in Europa; das ist klar. Aber Tschernobyl war auch die Geburtsstunde der bis dahin größten Solidaritätsbewegung Europas. Deswegen ist diese Debatte auch der richtige Ort, um für die Solidarität und das Engagement im Rahmen der Tschernobyl-Hilfe Danke zu sagen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In diesen Wochen wird im Gedenken an Tschernobyl und Fukushima Solidarität in Europa gelebt. Allein im Rahmen der Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ finden in mehr als 200 Städten in 13 Ländern Europas Veranstaltungen statt. Die Schirmherrschaft hat dankenswerterweise wieder der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, übernommen, der vorvergangene Woche, glaube ich, 200 Helfer von Tschernobyl-Initiativen auf Einladung von Rebecca Harms im Europäischen Parlament in Brüssel begrüßt hat. Ich glaube, die Botschaft dieser Tschernobyl-Hilfe, dieser Solidaritätsbewegung, die sich hoffentlich auch auf die Betreuung der Opfer und Betroffenen von Fukushima weiter ausdehnen wird, ist eine Botschaft, die weit über die Solidaritätsbekundung allein hinausgeht; denn diese Aktivitäten symbolisieren in diesen Tagen: Europa vergisst Tschernobyl und damit die Betroffenen in Belarus, in der Ukraine und in Teilen Russlands nicht. Europa scheint im Moment auf der Suche nach einer gemeinsamen politischen Idee zu sein. Die betroffene Region ist eine, die von vielen politischen Widersprüchen betroffen ist. Es gibt Krieg in der Ukraine, wirtschaftliche Schwierigkeiten in Belarus und Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Russland. All diese Dinge zeigen: Die Zivilgesellschaft tritt für ein Europa ein, in dem man füreinander einsteht, das die Opfer nicht vergisst und das eine Zukunft ohne Atomkraft hat. Deswegen ist diese Botschaft weit darüber hinausgehend eine Ermutigung der Zivilgesellschaft an uns, an die Politik, für ein besseres Europa und für ein Europa ohne Atomkraft einzutreten. Das sollten wir beherzigen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Eva Bulling-Schröter ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, auch von meiner Seite herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. 1986, wenige Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, hat der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, CSU, erklärt, die Bundesregierung sehe „keinen Anlass, ihre eigene Kernkraftpolitik zu überprüfen“, das Restrisiko sei „theoretisch“. Wie theoretisch das war, haben wir 2011 gesehen, als in Japan, einem hochentwickelten Industrieland, ein mit Tschernobyl vergleichbarer Super-GAU stattfand, nämlich in Fukushima. Heute ist noch einer unter uns, der vor 30 Jahren als Forschungsminister in Bonn war: Heinz Riesenhuber von der CDU, ein großer Befürworter und Förderer der Atomtechnologie in Deutschland. Das blieb er auch nach Tschernobyl. Nach Fukushima ist aber auch er nachdenklich geworden, und in seiner letzten Rede zu Tschernobyl hat er vor kurzem zu großer Einmütigkeit der Fraktionen aufgerufen und ein flammendes Plädoyer für die Energiewende gehalten, die in Deutschland gelingen müsse, damit das Ausland sehe, dass es sich daran ein Beispiel nehmen könne. – So weit, so gut. Das ist gerade für unsere Nachbarn in Frankreich und in Großbritannien mit seinen unsäglichen Hinkley-Point-Plänen, aber auch für alle anderen Länder von großer Bedeutung. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Nina Scheer [SPD]) Was macht das Ausland? Das Ausland wundert sich gerade über Deutschland. Sie sagen: Ihr habt die Erneuerbaren wie verrückt gefördert, bezahlbar gemacht und daraus gelernt, und jetzt seid ihr dabei, sie auszubremsen und zu blockieren. Warum erntet ihr diese Früchte nicht? Die Bundesregierung ist mit dem EEG-Entwurf gerade dabei, die Energiewende zu drosseln und den Ausbau regenerativer Energien zu beschneiden und auszubremsen. Sie hat dies bereits 2012 mit der Solarenergie und 2014 mit der Bioenergie gemacht, die ihre Ausbauziele seither bei weitem nicht mehr erreichen. Das müssen sie aber, wenn wir aus der Atomenergie aussteigen wollen. (Beifall bei der LINKEN) Mit dem neuen EEG-Entwurf soll jetzt auch den Windanlagen an Land das Leben schwer gemacht werden. Ich sage Ihnen: Dieser fatale Kurs ist nicht geeignet, um die Versprechen von Paris einzulösen und die Energiewende mit der Kraft voranzutreiben, die eigentlich geboten wäre. (Beifall bei der LINKEN) Ich schlage jetzt einmal vor, dass Herr Riesenhuber – leider ist er nicht da – in Sachen EEG aktiv wird und endlich einmal mit Volker Kauder, Herrn Bareiß und noch einigen anderen Hardlinern aus der CDU, die es ausbremsen wollen, redet und versucht, ihnen beizubringen, was die Stunde geschlagen hat. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Lauter Ehrentitel! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: „Hardlinern“!) – Lesen Sie doch einmal Ihre eigenen Briefe, und lachen Sie nicht so! (Beifall bei der LINKEN) Jetzt komme ich zu Tschernobyl. Man geht heute von circa 100 000 bis 1,3 Millionen Toten aus. Die Schätzungen sind unterschiedlich. Allein 20 000 der 600 000 Liquidatoren starben infolge des GAUs. Jetzt können wir über Totgeburten, Säuglingssterblichkeit und Leukämie reden; das wissen Sie alles. Aber heute sind weltweit immer noch zehn Reaktoren nach Bauart von Tschernobyl in Betrieb. Das ist doch der große Skandal. Die Folgen von Tschernobyl sind spürbar. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Fleisch von Wildschweinen in Bayern zu sprechen kommen. Einige Jäger sitzen ja hier. (Heiterkeit) Die zulässigen Grenzwerte im Fleisch werden teilweise um mehr als das 16-Fache überschritten. Im Fleisch des Wildschweins werden bis zu 10 000 Becquerel gemessen. Euer Verbraucherministerium verschweigt das natürlich. Das darf in Bayern wieder niemand wissen. Das halte ich für einen Skandal. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Aber mein Wildschwein wird gegessen, Frau Kollegin! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das erklärt aber, warum der Seehofer so drauf ist!) Ein Computervirus im Atomkraftwerk jedoch wird gerade von Ihrer Partei, die sonst immer gegen Verbrecher und Terroristen vorgehen will, relativiert. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Das aber soll man am besten verschweigen. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Nein! Das Wildschwein wird gegessen!) Also, denkt daran: Ihr müsst noch viel tun. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Wir sagen: Atomkraftwerke müssen sofort und schnell abgeschaltet werden. Dann wird vieles besser. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Und die Wildschweine gegessen!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Florian Oßner für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Florian Oßner (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Bulling-Schröter, ich bedanke mich zu Beginn meiner Rede ganz herzlich: Derartige Lobeshymnen auf CSU-Politiker seitens der Linken und auch von Ihnen ist man tatsächlich gar nicht gewohnt. Noch einmal besten Dank dafür. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Datum 26. April 1986, welches sich in dieser Woche zum 30. Mal gejährt hat, wird für immer unauslöschlich mit dem Wort „Tschernobyl“ verbunden sein. Die Reaktorkatastrophe dort hat uns genauso wie das Unglück am 11. März 2011 in Fukushima drastisch vor Augen geführt, welche Risiken mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie verbunden sind. Mein tiefes Mitgefühl – das haben auch schon meine Vorredner zum Ausdruck gebracht – gilt natürlich zuallererst den Hinterbliebenen der Opfer und all jenen, die bis heute unter den Folgen leiden. Berücksichtigen sollte man hierbei aber auch die rund 600 000 Menschen, die von der damaligen Sowjetunion als sogenannte Liquidatoren eingesetzt waren und ihre Arbeit ohne einen besonderen Schutz bzw. ohne Kenntnis über die enorme Strahlenbelastung, der sie ausgesetzt waren, verrichtet haben. Der Umstand, dass die Katastrophe ihren Ursprung in einer staatlich angewiesenen Übung hatte, zeigt doch sehr deutlich, wie teilweise menschenverachtend das System in der damaligen Sowjetunion war. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch müssen wir uns immer wieder bewusst sein, dass über 300 000 Menschen in Tschernobyl und 185 000 Menschen in Fukushima aufgrund dieser beiden schweren Unglücke ihre Heimat verloren haben. Große Anerkennung gilt bei dieser Debatte all den vielen Initiativen, Organisationen und Einzelpersonen, die sich in der Folge der beiden Unglücke für die Opfer von Tschernobyl und Fukushima eingesetzt und engagiert haben und die es heute noch mit viel Hingabe tun. Herzlichen Dank für diese großartige Leistung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Heimat Niederbayern war noch Mitte des letzten Jahrhunderts eine der ärmsten Regionen Deutschlands. Heute gilt sie als einer der attraktivsten Lebensräume Europas mit innovativen Arbeitsplätzen, Vollbeschäftigung und sehr hoher Lebensqualität. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) In meinem Wahlkreis in der Region Landshut und Kelheim bin ich vom Atomausstieg und möglichen Risiken durch die grenznahen Kernkraftwerke direkt betroffen. 2022 – das hat die Frau Bundesministerin schon gesagt – geht in Essenbach/Niederaichbach mit Isar 2 das letzte KKW in Deutschland vom Netz. Die Kraftwerke Isar 1 und Isar 2 haben in den letzten Jahrzehnten einen maßgeblichen Beitrag zur Versorgungssicherheit in ganz Süddeutschland geleistet und damit auch für die starke Entwicklung unserer Heimat. Deswegen ist es mir wichtig und ein persönliches Anliegen, im Rahmen dieser Debatte die Gelegenheit zu nutzen, den vielen Beschäftigten in den deutschen Kernkraftwerken für ihre gute und zuverlässige Arbeit für unsere Sicherheit ein großes Lob auszusprechen. Ohne dieses Engagement hätten wir das große Vertrauen in diese Technologie nicht erreicht. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wie wir heute wissen, kam es aufgrund eines unzulässigen Experiments mit dem Turbinen-Generator-Satz der Kraftwerksanlage zu dem Unfall in Tschernobyl. Durch eine ganze Reihe von Bedienungsfehlern der unzureichend ausgebildeten Betriebsmannschaft – das ging bis hin zur vorsätzlichen Überbrückung von Abschaltsignalen – kam es zu einem sehr starken Leistungsanstieg bis zum Hundertfachen der Nennleistung. Erschwerend kamen natürlich noch die ungünstigen reaktorphysikalischen und sicherheitstechnischen Eigenschaften des RBMK-Reaktors, des sogenannten Tschernobyl-Typs, hinzu. Ein solcher Reaktor wäre hierzulande nie genehmigt worden; denn die Sicherheitsphilosophie und standards der ehemaligen Sowjetunion entsprachen bei weitem nicht den schon damals sehr strengen deutschen Anforderungen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ähnliches gilt auch für den Reaktorunfall in Fukushima. Die unzureichende Auslegung der Anlagen gegen Tsunamis war hier die wesentliche Ursache für die Ereignisabläufe. Auch in Bezug auf den Fall Fukushima muss klargestellt werden, dass ein derartiger Unfall in Deutschland kaum vorstellbar und faktisch unmöglich ist; denn der Restrisikobereich ist hierzulande bereits bei der Bemessung der Auslegungswerte für Kernkraftwerke gegen Einwirkungen von außen und auch bei der Genehmigung von Anfang an klar vorgegeben: Alle Anlagen sind so ausgelegt, dass sie mindestens dem 100 000sten jährlichen Erdbeben und dem 10 000sten jährlichen Hochwasser – bemessen am statistischen Mittel für die jeweilige geografische Lage – standhalten. Zum Unfallablauf hat aber auch die zum Beispiel gegenüber deutschen Kernkraftwerken geringere sicherheitstechnische Ausstattung der japanischen Anlagen beigetragen. So hätte zum Beispiel eine für deutsche Kernkraftwerke typische Sicherheitsauslegung – dabei geht es um Wasserstoffrekombinatoren und Systeme zur gefilterten Druckentlastung – einen Unfallablauf wie in Fukushima verhindern können. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Oßner, es gibt zahlreiche Wünsche, Ihre Rede mit zusätzlichen Fragen anzureichern. Florian Oßner (CDU/CSU): Diesen Wünschen werden wir natürlich gerecht. Präsident Dr. Norbert Lammert: Gut, aber natürlich nicht unlimitiert. Zwei würde ich einmal zulassen, und die rufe ich vielleicht einmal der Reihe nach auf. – Frau Kotting-Uhl, fangen Sie bitte an. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Oßner, danke, dass Sie die Frage zulassen. – Sie bezieht sich auf die von Ihnen gerade konstatierte Auslegung gegen Erdbeben, die bei uns in Deutschland genüge. Bei uns könne ein Erdbeben also nicht zu einem Schadensfall führen. Ich frage Sie, ob Sie wissen, dass die japanischen Atomkraftwerke sehr viel besser als die deutschen gegen Erdbeben ausgelegt sind. Das ist aus einem ganz einfachen Grund so: In Japan hat man schon immer – anders als bei uns – mit Erdbeben gerechnet, die höher auf der Erdbebenskala angesiedelt sind. Die Atomkraftwerke sind dort zum Teil gegen Erdbeben der Stärke 8 auf der Richterskala ausgelegt – weit weg von dem, mit dem man bei uns rechnet und wogegen die Kraftwerke bei uns ausgelegt werden. Haben Sie – das ist meine Frage – versäumt, zu realisieren, dass die Lehre aus Fukushima nicht die ist: „Hütet euch weltweit vor hohen Tsunamis und vor Erdbeben der Stärke 9 auf der Richterskala“, sondern dass sie lautet: „Erkennt, dass ihr Naturgewalten nicht richtig einschätzen könnt und dass die sich auch verändern“? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Florian Oßner (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Kollegin Kotting-Uhl, erst einmal vielen Dank für die Frage. – Ich muss noch einmal eines klarstellen: Auch japanische Ingenieure sind im Nachgang zu Fukushima gerade auch bei uns im Wahlkreis – im Atomkraftwerk Isar 2 – zu Besuch gewesen, um sich zu informieren, welche Sicherheitsvorkehrungen wir im Rahmen unserer Sicherheitsabläufe – dabei ging es um sieben bis neun Stufen – getroffen haben. Ich wäre in meiner Rede ohnehin in Kürze darauf eingegangen. Das heißt, diese Frage passte gut. Ich denke, selbstverständlich kann man sich nicht gegen alle Risiken weltweit schützen. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das muss bei Atomkraft gesichert sein!) Der größtmögliche Schutz ist aber, wie ich vorhin schon gesagt habe, gegeben – wir sprechen hier über das 100 000ste jährliche Erdbeben; das überlasse ich aber den Experten und Statistikern –, wenn man, wie im geschilderten Fall geschehen, die Risiken minimiert bzw. verschiedene hintereinander geschaltete Sicherheitsstufen implementiert. Wenn das der Fall ist, dann, denke ich, kann man von einem bestmöglichen Schutz in Bezug auf die Kraftwerke sprechen. (Bettina Hagedorn [SPD]: Der bestmögliche Schutz führt zum GAU!) Wie gesagt, auch die Japaner haben sich sehr eng mit uns über die Sicherheitsvorkehrungen ausgetauscht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Darf jetzt die Kollegin Scheer die zweite Frage stellen? – Bitte. Dr. Nina Scheer (SPD): Meine Frage geht in eine ähnliche Richtung. Ich bin, ehrlich gesagt, etwas irritiert, wenn in einer Gedenkdebatte – als solche kann man, denke ich, die heutige Debatte ansehen – mit Blick darauf, was dieses Gedenken an den schrecklichen Unfall vor 30 Jahren zwingenderweise auch für unsere zukünftige energiewirtschaftliche Positionierung bedeuten muss, ein entscheidender Redeanteil eines Koalitionspartners darauf gerichtet ist, die Beherrschbarkeit von Atomtechnologie und den Einzelfallcharakter vergangener Unfälle zu suggerieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Daher frage ich mich, ob unser Koalitionspartner an sich Restrisiken negiert. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das hat er nie gesagt!) Meinen Sie tatsächlich, dass die Atomtechnologie keine Restrisiken beinhaltet? (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das hat er nie behauptet!) Das frage ich mich, ehrlich gesagt, bei Ihren Ausführungen, und es würde mich interessieren, ob Sie etwas dazu zu sagen haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Florian Oßner (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Kollegin, ich tue mich tatsächlich ein Stück weit schwer, in Ihrem Redebeitrag eine Frage zu erkennen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das ist auch gar nicht erforderlich, verehrter Herr Kollege, weil die Möglichkeit der Wortmeldung diese Restriktion schon lange nicht mehr vorsieht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Florian Oßner (CDU/CSU): Aber ich gehe natürlich sehr gerne darauf ein. Ich denke, der gesamte erste Teil hat sich einzig und allein darauf beschränkt, der Opfer – ich habe die Zahlen genannt; womöglich ist es Ihnen entgangen – und auch aller Helfer und all derer zu gedenken, die heute noch unter den Folgen leiden. Ich denke, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Aus diesem Grund habe ich das auch angesprochen. In dieser Hinsicht sind wir absolut einer Meinung. Es ist sehr, sehr wichtig, dass man auch die Risiken im Blick behält und diese, so gut es geht, beherrschbar macht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Bla, bla!) Die Einrichtungen zur Auslegung der Wasserstoffrekombinatoren, von denen ich vorhin gesprochen habe, wurden bereits ab dem Jahr 1979 nach dem Three-Mile-Island-Störfall in Harrisburg, Pennsylvania, in unsere Kernkraftwerke eingebaut. Das war natürlich ein wichtiger Schritt für die Risikominimierung. Wären diese auch in Fukushima implementiert gewesen, hätte man das eine oder andere sicherlich besser in den Griff bekommen können. Nicht umsonst haben sich nach dem Unfall in Fukushima – jetzt komme ich auf Ihre Frage zurück, Frau Kotting-Uhl – die japanischen Kraftwerksbetreiber in den deutschen Kernkraftwerken – auch bei mir im Wahlkreis – diese Systeme zeigen lassen. Anschließend wurden die abgeschalteten Anlagen entsprechend nachgerüstet, was ich sehr beachtenswert finde. Dies sagt meines Erachtens sehr viel über das große Vertrauen weltweit in die hohen Sicherheitsstandards in Deutschland aus. Deshalb, meine lieben Linken und Grünen: Hören Sie bitte auf, diese vorbildlichen Sicherheitsstandards ständig schlechtzureden und in der Bevölkerung Angst zu schüren! Auch damit macht man keine vernünftige Zukunftspolitik. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Trotz der hier herrschenden sehr hohen Sicherheitsstandards ist der schrittweise und verkraftbare Ausstieg aus der Kernenergie – jetzt kommt etwas, das Ihnen sicherlich sehr gut gefällt – die richtige Konsequenz. Diesen Weg gilt es auch konsequent weiterzugehen. Dafür bedarf es eines weiteren Ausbaus der erneuerbaren Energien. (Klaus Mindrup [SPD]: Auch Windkraft in Bayern!) Eine Schlüsselrolle werden aber auch innovative Speichertechnologien, zum Beispiel die Speicherung durch die Wasserstofftechnik, einnehmen. Meine Damen und Herren, wie wir in unserem Antrag abschließend festgestellt haben, stehen wir auch weiterhin vor großen Herausforderungen, die es anzupacken gilt. So wollen wir unter anderem die Fusions- und Nuklearforschung in Deutschland zukünftig auf Sicherheits- und Entsorgungsforschung – ich betone: auf Sicherheitsforschung – fokussieren und damit zum Kompetenzerhalt in Deutschland beitragen. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geht doch gar nicht!) Auch um schlussendlich ein Endlager für hochradioaktive, wärmeentwickelnde Abfallstoffe zu finden, bedarf es des aktuellsten und neuesten Standes in Wissenschaft und Forschung. In dieser Frage sind wir uns auch in der Endlagerkommission einig. Vielen Dank an das Bundesumweltministerium mit der Bundesumweltministerin Barbara Hendricks an der Spitze für die Unterstützung. Auch vonseiten der CSU herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Des Weiteren wollen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien nicht nur in Deutschland, sondern auch durch Kooperationen mit anderen Staaten weltweit vorantreiben. Dies gilt auch für unsere erworbenen Kenntnisse im Bereich der nuklearen Sicherheit sowie bei der Entsorgungsfrage. Dies ist aus meiner Sicht eine einmalige wirtschaftspolitische Chance, unseren Kompetenzvorsprung in Deutschland zu nutzen. Aus diesem Grund bitte ich um Zustimmung für den Antrag der Koalitionsfraktionen. Herzliches „Vergelts Gott“ fürs Zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Oliver Krischer das Wort. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegen Kanitz und Oßner, Sie haben in Ihren Reden Risiken verharmlost und die Errungenschaften der Atomkraft hochgelobt. (Florian Oßner [CDU/CSU]: Sie müssen zuhören! Das ist an Fakten orientiert!) Am 30. Jahrestag von Tschernobyl habe ich fast das Gefühl, dass nun noch eine Forderung nach Laufzeitverlängerung kommt. Sie sind noch immer nicht im Nachatomkraftzeitalter angekommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU) Wer hier solche Reden hält, hat die Lehren aus Tschernobyl und Fukushima nicht verstanden; aber das gehört dazu. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Regen Sie sich wieder ab! – Florian Oßner [CDU/CSU]: Aber Sie haben es verstanden?) Man muss gar nicht weit schauen und nur an die Westgrenze unserer Republik, nach Belgien gehen. Genau zum Jahrestag von Tschernobyl hat die Regierung von Belgien angekündigt, dass sie nun flächendeckend Jodtabletten verteilen lässt. Die Regierung von Belgien weiß offensichtlich, warum sie das tut. Dort werden nämlich Atomkraftwerke betrieben, deren Weiterbetrieb unverantwortlich ist. Diese Atomkraftwerke gehören genauso abgeschaltet wie die Atomkraftwerke in Cattenom, Fessenheim, Beznau und Temelin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich finde es richtig, dass die Städteregion Aachen mit Unterstützung Dutzender Kommunen aus Deutschland, Luxemburg und den Niederlanden sowie mit Unterstützung der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen nun gegen Belgien klagt. Da wird Neuland beschritten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Frau Hendricks, bei aller gebotenen Zurückhaltung anlässlich Ihres Geburtstags finde ich, dass bei Ihrem Engagement gegen die grenznahen AKW-Standorte noch Luft nach oben ist. Ich würde mich freuen, wenn die Bundesregierung die Klage der Städteregion Aachen unterstützen würde. Das wäre das richtige Zeichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wir müssen mit unseren Nachbarstaaten darüber reden, wie wir unsere Energiewende auch in diesen Staaten umgesetzt bekommen. Es ist doch verrückt, dass wir in den Niederlanden, in Belgien und Deutschland massenweise Gaskraftwerke haben, deren Kapazitäten nicht genutzt werden und die stillstehen, und gleichzeitig Schrottreaktoren, die Risse aufweisen und deren Betrieb auch nach Einschätzung der Bundesregierung unverantwortlich ist, weiterbetreiben. Es wäre doch Aufgabe dieser Bundesregierung, in den Nachbarstaaten nach Lösungen zu suchen, wie zumindest diese Schrottreaktoren abgeschaltet werden können. Da vernehme ich aber nichts. Das Problem dieser Bundesregierung ist, dass sie AKWs in Deutschland abschalten – auch wenn man manchmal bei ihren Reden daran zweifeln kann –, aber den Atomausstieg nicht ins Ausland tragen will. Da gibt es in Ihrem Antrag einen verräterischen Satz. (Florian Oßner [CDU/CSU]: Da haben Sie lange nach suchen müssen!) Er lautet, Deutschland könnte für die Energiewende im Ausland werben. Nein, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, Deutschland muss für die Energiewende im Ausland werben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das ist die notwendige Konsequenz aus 30 Jahren Tschernobyl und fünf Jahren Fukushima. Nur wenn Sie das tun, ist das, was Sie hier machen, auch authentisch. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun Marco Bülow für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Marco Bülow (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, auch von mir herzlichen Glückwunsch und viel Kraft für die weiteren Herausforderungen. Wir sprechen heute über den 26. April vor 30 Jahren, als ein Atomkraftwerk in die Luft geflogen ist und wir erst Tage später mitbekommen haben, was passiert ist. Ich war damals Schüler. Ich habe mich gefragt: Warum macht man so etwas? Warum sind die Erwachsenen so dumm, eine Technologie einzusetzen, die ihre Kinder maßlos gefährdet? Gibt es eigentlich keine Alternativen? Seit 30 Jahren treibt mich dieses Thema um. Auch nach 30 Jahren haben wir es noch nicht geschafft, weltweit oder zumindest europaweit aus dieser Technologie auszusteigen. Vor fünf Jahren geschah das Gleiche in Fukushima. Meine Tochter war gerade geboren. So wird mich das Thema wahrscheinlich auch die nächsten Jahre immer noch umtreiben, und es wird dafür sorgen, dass ich mich weiter dafür engagiere, dass nicht nur wir in Deutschland aussteigen, sondern dass wir auch europaweit und weltweit aus dieser Technologie aussteigen. Erst dann gibt es die wirkliche Sicherheit vor Atomenergie. Das sollten uns die Jahrestage lehren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 30 Jahre später stehen wir hier und debattieren. Wir haben in Deutschland den Ausstieg beschlossen. Wir haben heute einen Antrag vorgelegt, der, denke ich, deutlich macht, dass die Mehrheit des Hauses für den Ausstieg ist. Aber auch ich muss zugeben: Herr Oßner, Ihre Rede hat mich nicht gerade ermutigt, dass wir weiter vorankommen. Ich glaube nicht, dass in der Union komplett alle es so sehen, dass dieser Ausstieg richtig ist. Trotzdem bedanke ich mich, gerade bei Steffen Kanitz, für die sachorientierte Zusammenarbeit. Ich glaube, wir sind ein Stück weitergekommen, auch wenn wir natürlich nicht in allen Dingen einig sind. Darum muss weiter hier gerungen werden. Das werden wir von unserer Seite auch tun. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Steffen Kanitz [CDU/CSU]) Es haben einige gewürdigt – der Würdigung möchte ich mich anschließen –, dass es viele Organisationen gibt, die sich dafür engagieren, nach Tschernobyl der Opfer nicht nur zu gedenken, sondern den Opfern vor allen Dingen zu helfen. Aber es ist ein bisschen so wie mit der Tafel: Eigentlich müsste man Armut und Hunger abschaffen, gerade in einem reichen Land wie Deutschland, und nicht Armenspeisungen durchführen. Deswegen möchte ich, dass sich irgendwann erübrigt, dass den Opfern einer Katastrophe geholfen werden muss; ich möchte, dass neue Katastrophen gar nicht erst entstehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eine dieser Hilfsorganisationen betreibt ein Projekt mit dem schönen Namen Nadeshda; das heißt Hoffnung. Genau sie sollten wir versprühen. Wir brauchen diese Hoffnung, und dazu brauchen wir den Umstieg. Wir brauchen die Energiewende, und dazu brauchen wir den Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Energien in Deutschland, dann aber auch europaweit, damit wir diese Hoffnung in die ganze Welt tragen können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 30 Jahre nach Tschernobyl und 5 Jahre nach Fukushima haben wir folgende Situation: Viele denken, in Fukushima sei jetzt alles in Ordnung. Aber an den Jahrestagen erfährt man, dass nicht alles in Ordnung ist. So wurde am Mittwoch bei der großen Veranstaltung der SPD deutlich gemacht, dass immer noch jeden Tag 400 Tonnen radioaktives Wasser austreten, die nicht aufgehalten werden können. Jeden Tag 400 Tonnen! Es werden Barrieren aufgebaut, es werden Eismauern gebaut, und es werden Brunnen gebaut. Man sieht daran, dass auch ein Hochtechnologieland wie Japan nach fünf Jahren die Situation immer noch nicht in den Griff bekommt. Daran sieht man: Erstens. Menschliches Versagen ist immer möglich. Zweitens. Auch technisches Versagen ist immer möglich. Wir sind nicht in der Lage, die großen Katastrophen in den Griff zu bekommen. Das zeigt doch, dass diese Risikotechnologie keine Zukunft hat und wir darauf verzichten müssen, weil wir sie nicht beherrschen können, und zwar nirgendwo auf der Welt, auch nicht in Deutschland. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 30 Jahre später sieht man, dass die Atomkraftwerke an den Grenzen Deutschlands Pannenreaktoren sind. Man sieht, dass die Aufsichtsbehörde in Belgien stark in der Kritik ist. Diese Kritik geht nicht von linken „Spinnern“ oder Leuten, die das schon immer gesagt haben, aus; nein, insgesamt gibt es eine heftige Diskussion in Belgien über die Aufsichtsbehörde, in der sich die Mitglieder selbst nicht grün sind, in der es riesigen Streit gibt und der man nicht trauen kann, dass sie genau das offenlegt, was offengelegt werden muss. (Beifall der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir dürfen uns nicht einmischen, aber wir dürfen immer wieder darauf hinwirken – das ist sogar unsere Pflicht; deshalb danke ich unserer Ministerin –, dass unsere Nachbarländer erkennen, was unsere Sorgen sind. Wir müssen dafür sorgen, dass wir in Europa einen anderen Weg gehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich muss dazu sagen: Es ist wichtig, dass wir immer wieder darauf dringen. So lese ich in einer aktuellen EU-Parlamentsvorlage – das steht dort wortwörtlich –: Neue Kernkraftwerke sind die entscheidende Quelle für die Grundlast auch in Zukunft. – Wenn ich so einen Satz lese, dann sage ich: Die Ministerin hat recht, dass sie der Antiatomkraftbewegung für ihr Engagement gedankt hat. Wir brauchen diese Bewegung und die Gegner der Atomkraft aber auch in Zukunft, damit wir verhindern, dass Europa die Atomkraft weiter ausbaut. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wir müssen endlich aus der Atomenergie aussteigen. Das muss das Ziel sein, und dafür werden meine Fraktion und ich weiter kämpfen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Philipp Lengsfeld ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Er spricht für die Fraktion CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte meine Rede zu diesem Thema mit einem Bekenntnis starten: Ich war tatsächlich schon immer gegen die Atomkraft. Zugegeben, meine Motivation als Jugendlicher war sicherlich auch ein Stück weit politisch geprägt; denn ich bin in Ostberlin eher SED-kritisch aufgewachsen, und in den Jahren vor dem Mauerfall waren die Genossen von der SED noch nicht die stringenten Atomkraftgegner, als die sie sich heute darstellen. (Christian Haase [CDU/CSU]: Ah, Wendehälse!) Aber da bis auf die Grünen alle Fraktionen hier im Haus eine Lernkurve durchgemacht haben, will ich da weder zu streng noch zu einseitig sein. Ich habe meine Haltung auch im Studium der Physik, während der Promotion oder in späteren Lebensabschnitten nicht grundlegend geändert. Dies hat natürlich auch sehr gute Gründe. Sie sind hier genannt worden. Ich wiederhole sie: Die Atomkraft hat das Sicherheitsproblem – gar keine Frage –, wie unter anderem die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima unterstrichen haben. Die Atomkraft hat das Problem der Lagerung der langlebigen Abfälle; auch das ist erwähnt worden. Jedes Problem ist für sich sehr gravierend. In der Kombination ist die Technik tatsächlich unattraktiv und nicht mehr zeitgemäß. Das gilt für die Kernfusion übrigens nicht. Aber ich möchte hier trotzdem für mehr Augenmaß in der deutschen Debatte werben. Dazu muss ich noch einmal einige Gedanken auf die beiden schon erwähnten Katastrophen verwenden. Natürlich muss bei einer Erinnerung immer auch eine Analyse erfolgen. Starten wir mit Tschernobyl, der Reaktorkatastrophe in der Sowjetunion. Hier erscheint mir die momentane deutsche Erinnerung größtenteils doch recht einseitig; denn diese Katastrophe hat nicht nur die Probleme der Atomkraft verdeutlicht, sondern in genauso krasser Weise die Schwächen und Unmenschlichkeiten des sowjetkommunistischen Systems aufgedeckt. Auch daraus kann man etwas lernen. (Beifall des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]) Der Sowjetkommunismus hat immer seine Wissenschaftlichkeit betont. Der gesamte Ostblock wurde durch Ingenieure und durch eine ingenieursgeprägte Weltsicht dominiert. Die Natur war etwas – das kann man zum Beispiel in einem der schlechteren Brecht-Gedichte nachlesen –, was sich der neue Sowjetmensch untertan macht. Die Atomkraft war die fast perfekte Energieform für diese Art Weltsicht. Aber diese Überheblichkeit gepaart mit Herrschaftswissen, totaler Intransparenz und einer nicht gewünschten, oft aktiv unterdrückten Verantwortungs- und Fehlerkultur führte in der Nacht zum 26. April 1986 direkt in die Katastrophe. Der Unfall von Tschernobyl war nämlich die Folge eines geplanten Testexperiments – mein Kollege hat es erwähnt – am gerade einmal drei Jahre alten Reaktor. Leider hatte diese neue Generation von sowjetischen grafitmoderierten Siedewasserreaktoren inhärente Designschwächen, die aber ein wohlgehütetes Geheimnis waren. Diese Schwächen offenbarten sich in der Phase der Vorbereitung des Experiments. Statt aber abzubrechen, überbrückte das Personal mehrere Sicherheitsstrecken, um das von oben gewünschte Experiment durchführen zu können. Trotz zunehmender, immer ernsterer Warnsignale wurde der aufwendige Test nicht etwa abgeblasen, sondern letztlich gestartet, und damit wurde der Reaktor direkt in die Luft gejagt. Auch in unmittelbarer Reaktion kam es zu katastrophalen behördlichen Fehlleistungen. Es wurde versucht, die Katastrophe in der systemüblichen Art zu vertuschen. Evakuierungen fanden zu zaghaft und viel zu spät statt. Die 1.-Mai-Parade in Kiew fand statt trotz massiver Risiken und Belastungen der Bevölkerung. Die Katastrophe von Tschernobyl, ihre Vor- und Nachgeschichte sind ein wesentlicher Grund, warum das Sowjetsystem wenige Jahre später zerbrochen ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Reden Sie mal über Fukushima!) Der Unfall von Fukushima stellt sich dagegen doch etwas anders dar. Ja, auch die Katastrophe von Fukushima hat die Schwächen der Atomkraft brutal aufgedeckt – gar keine Frage –: ein sehr unwahrscheinliches Restrisiko – aber es ist nun einmal vorhanden –, nämlich die Kombination von Erdbeben und Tsunami, die nicht genügende Redundanz der Sicherung der Kühlsysteme des sehr alten Reaktors und die Grundcharakteristika der Technik. Trotzdem, Frau Kollegin Kotting-Uhl, ist die Bilanz hier eine völlig andere. Der Unfall von Fukushima war ein Kollateralschaden einer gigantischen Tsunamikatastrophe – das wurde hier gar nicht in dieser Deutlichkeit gesagt –, die circa 18 000 Menschen in Japan das Leben gekostet hat. Und: Die japanischen Behörden haben ganz anders reagiert als die sowjetischen. Vielleicht hätte man es noch besser machen können, aber sie haben konsequent evakuiert; sie haben konsequent Jodtabletten verteilt. (Ulli Nissen [SPD]: Das hilft uns ja weiter! Also: Jodtabletten für alle! – Weiterer Zuruf von der SPD: Super!) – Ja, es ist einfach so. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der atomare Tod kommt langsam!) Ohne Fukushima in irgendeiner Weise kleinreden zu wollen: Es muss konstatiert werden, dass zumindest nach aktuellem Kenntnisstand auch fünf Jahre nach der Katastrophe kein Todesfall auf die Verstrahlung im Zuge des Unfalls zurückzuführen ist. Warum diskutiere ich diese Punkte so ausführlich? Weil es niemandem nützt, wenn man eine Technik einfach nur dämonisiert und nicht auch den zwingend notwendigen abgewogenen und umsichtigen Umgang mit jeglicher Technik mitdenkt. Es reicht nicht, immer nur auf einer Technik herumzuhacken. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn es auch mancher nicht hören will: Radioaktivität ist auch ein natürlicher Prozess. Gammastrahlen sind Teil des elektromagnetischen Spektrums. (Ulli Nissen [SPD]: Oh Mann! Ich kriege gleich eine Krise!) Strahlenschutz und Reaktorsicherheit genügen physikalischen Gesetzen, (Ulli Nissen [SPD]: Wo sind wir denn heute?) die eigentlich leicht zu verstehen sind, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Wir sollten deshalb weg von Panikmache (Ulli Nissen [SPD]: Panikmache?) und hin zu rationalen Abwägungen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auf Basis von diffusen, teils völlig irrationalen deutschen Ängsten werden wir mit anderen Nationen nicht auf Augenhöhe verhandeln können. Gehen wir in diesem Licht die im Zusammenhang mit den Jahrestagen der beiden Reaktorkatastrophen diskutierten Themen, die hier heute immer erwähnt wurden, noch einmal durch: Starten wir mit den Reaktoren unserer Nachbarn! In den Verhandlungen mit unseren Nachbarländern mit dem völlig berechtigten Anliegen, überalterte Reaktoren abzuschalten, müssten wir eigentlich nicht nur appellieren, sondern zahlen. Ich sage mal: 1 Milliarde Euro, 2 Milliarden Euro aus der jährlichen 25-Milliarden-EEG-Umverteilung wären sicherlich sehr hilfreich und könnten bestimmte Denkprozesse stark beschleunigen. Aber dies ist momentan natürlich weder politisch noch rechtlich abzubilden. Nachdenken sollten wir darüber vielleicht trotzdem. (Ulli Nissen [SPD]: Ja, nachdenken sollte man, bevor man eine solche Rede hält!) Auch der sehr zügige massive Ausbau von Wind- und Solarenergie in diesem Land hilft nicht – Herr Krischer, da können Sie noch so sehr den Kopf schütteln –, sondern ist eine zusätzliche Belastung auch in diesen Verhandlungen; denn er macht unser Netz instabiler und unsere Abhängigkeit von den Nachbarnetzen größer. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Versorgungssicherheit ist auch ein Sicherheitsthema. Ein größerer Blackout in Deutschland oder Europa (Ulli Nissen [SPD]: Wo planen Sie das Atomkraftwerk?) wäre keine Unbequemlichkeit, sondern eine Katastrophe größeren Ausmaßes. Deshalb können wir zum Beispiel in den Fragen der Atomverträge nicht wie der Elefant im Porzellanladen agieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulli Nissen [SPD]: Wer ist der Elefant im Porzellanladen? Das sind doch Sie!) Zuletzt zur Forschung; Frau Kotting-Uhl, Sie warten schon darauf. Ich bin der festen Überzeugung (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, was hilft es uns?) – Ihnen hilft das nicht, aber vielleicht anderen im Land –, (Marco Bülow [SPD]: Eltern, die ihre Kinder durch Schilddrüsenkrebs verlieren, werden sich bestimmt damit trösten!) dass auch in Zukunft eine sichere, also auch versorgungssichere, bezahlbare und saubere Energieversorgung aus einem Mix bestehen wird. Aber selbst wenn dem nicht so wäre, selbst wenn Sie mit Ihrem 100-Prozent-Glauben recht hätten: Es ist keine gute Portfoliopolitik, alles auf eine Karte zu setzen – erst recht nicht in einem Forschungsportfolio. (Ulli Nissen [SPD]: Sie planen den Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg, oder?) Deshalb: Finger weg von der Sicherheitsforschung! Finger weg von den kleinen Resten der Kernforschung! Und vor allem: Finger weg von der Fusionsforschung! Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Ulli Nissen [SPD]: Unglaublich diese Rede! Unglaublich! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Selbst den eigenen Leuten peinlich!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über die vorliegenden Anträge. Unter dem Tagesordnungspunkt 24 a geht es um die Abstimmung über den Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 18/8239 mit dem Titel „Tschernobyl und Fukushima mahnen – Verantwortungsbewusster Umgang mit den Risiken der Atomkraft und weitere Unterstützung der durch die Reaktorkatastrophen betroffenen Menschen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter dem Punkt 24 b unserer Tagesordnung stimmen wir über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit auf der Drucksache 18/8266 ab. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/7875 mit dem Titel „Risiko-Reaktoren abschalten – Atomausstieg in Europa beschleunigen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/7656 mit dem Titel „30 Jahre Tschernobyl, 5 Jahre Fukushima – Atomausstieg konsequent durchsetzen“. Wer stimmt der Beschlussempfehlung des Ausschusses zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist mit den gleichen Mehrheiten die Beschlussempfehlung angenommen. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung, hier auf der Drucksache 18/8266, empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/7668 mit dem Titel „Atomkraftwerk Cattenom sofort abschalten“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Mit der gleichen Mehrheit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Unter dem Zusatzpunkt 6 geht es um die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Keine öffentlichen Forschungsgelder für den Wiedereinstieg in atomare Technologien – 6. Energieforschungsprogramm vollständig in Richtung Energiewende weiterentwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8262, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/5211 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Schließlich wird unter Zusatzpunkt 7 interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/8242 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist einvernehmlich, und damit ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Weiterentwicklung der Konzeption zur Erforschung, Bewahrung, Präsentation und Vermittlung der Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes Drucksache 18/7730 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Innenausschuss Auch hierzu soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung 60 Minuten debattiert werden. Wenn diejenigen, die daran in besonderer Weise beteiligt sind, Platz genommen haben, eröffne ich die Aussprache. Ich erteile das Wort der Staatsministerin Monika Grütters. (Beifall bei der CDU/CSU) Monika Grütters, Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin: Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht kennen Sie ja das schmale Büchlein Reisende auf einem Bein, das Herta Müller nach ihrer Flucht aus Rumänien vor 28 Jahren veröffentlicht hat. Es ist ein Buch über das Gefühl des Fremdseins fern der Heimat, über das Aufbrechenmüssen und das Nicht-ankommen-Können, über den Verlust des Gleichgewichts, wenn man mit dem Standbein noch im früheren Leben steht. Reisende auf einem Bein waren die Heimatvertriebenen und später auch die deutschstämmigen Aussiedler aus dem östlichen Europa. Die Pflege des Kulturguts ihrer Herkunftsgebiete, im Bundesvertriebenengesetz festgeschrieben als eine gemeinsame staatliche Aufgabe von Bund und Ländern, half ihnen dabei, am Ende dann doch mit beiden Beinen in der neuen Heimat anzukommen. Bis heute ist es ein wichtiges Anliegen, das reiche kulturelle Erbe der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln, so wie es § 96 des Bundesvertriebenengesetzes vorsieht. Die Mittel dafür kommen am Ende dann Archiven, Museen, Forschungsinstituten und mittlerweile vier Juniorprofessuren zugute. In meinem Etat hat die Förderung mit rund 23,7 Millionen Euro im Jahr 2015 eine Höhe erreicht, die auch monetär unsere sehr große Wertschätzung für das gemeinsame kulturelle Erbe im östlichen Europa zum Ausdruck bringt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Nicht zuletzt angesichts der EU-Beitritte der östlichen Nachbarstaaten – das ist ja eine Entwicklung, die sich erst im Verlauf der Anwendung dieses Paragrafen ergeben hat – und der neuen Qualität der Zusammenarbeit geht es nun darum, die Förderkonzeption aus dem Jahr 2000 – so alt ist sie nämlich schon – im europäischen Geist weiterzuentwickeln. Darauf haben sich die Regierungsparteien auch im Koalitionsvertrag verständigt. Wir möchten die Grundlage, die im demografischen Wandel Bestand hat und die getragen ist von unseren gewachsenen Bindungen in Europa, neu formulieren. Dabei geht es erstens darum, den Erinnerungstransfer von einer Generation zur nächsten sicherzustellen. Das, was die Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur im Allgemeinen betrifft, bezieht sich auf das Thema Umgang mit unseren östlichen Nachbarn und den Vertriebenen der ersten Generation. Je weniger Zeitzeugen es gibt – auch aus diesem Bereich –, desto wichtiger wird eine professionelle und zeitgemäße Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Es geht zweitens darum, neue Partner zu finden und neue Zielgruppen zu erschließen. Neben Vertriebenen und Flüchtlingen sind das mittlerweile ganz besonders die Spätaussiedler, die eine starke gemeinschaftliche und gesellschaftliche Kraft geworden sind. Ihre Bedeutung soll sich unter anderem in der Erforschung und Vermittlung ihrer Kultur und Geschichte auch in regionalen Museen spiegeln. (Beifall bei der CDU/CSU) Es geht drittens darum, europäische Kooperationen zu stärken. Sie wissen selbst um die Situation in vielen Ländern des östlichen Europas. Wer mit Partnern vor Ort kooperieren möchte, muss Geld mitbringen. Deswegen werden wir mehr Geld und Mittel in die Hand nehmen für unsere bundesgeförderten Museen, die Vermittlungs- und Forschungseinrichtungen. Schließlich geht es viertens darum, die Chancen der Digitalisierung auch in diesem Bereich zu nutzen. Sie ist hier wie überall wichtig. Wir wollen eine digitale Infrastruktur für die Wissenschaft und die Museen entwickeln. Guter Wille allein reicht natürlich nicht aus, um all das umzusetzen, was wir uns im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung von § 96 des Bundesvertriebenengesetzes vorgenommen haben. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben mir bereits für das Jahr 2016 zusätzliche Mittel zur Erfüllung dieser Aufgaben, die zum Teil auch in diesen Politikbereich fallen, zur Verfügung gestellt. Dafür danke ich Ihnen, dem Hohen Haus, sehr. Doch wir brauchen mehr als ein einmaliges Signal: Wir brauchen einen dauerhaften Aufwuchs, um den gesamten Förderbereich zukunftsorientiert aufzustellen. Dafür setze ich mich natürlich auch in den fortlaufenden Haushaltsberatungen ein. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ebenso – auch das ist mir wichtig – setze ich mich für die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ein. Am 1. April – das war ja erst vor kurzem – hat die promovierte Historikerin Gundula Bavendamm ihr Amt als neue Direktorin angetreten. Ich bin mir sicher, dass sie als durchsetzungsstarke, erfahrene und erfolgreiche Museumsmanagerin das Know-how mitbringt, um den weiteren Ausbau des für uns so wichtigen Ausstellungs-, Informations- und Dokumentationszentrums mit der notwendigen Überzeugungskraft engagiert und zügig voranzutreiben. Die Kollegin Lotze hat bei ihrer Vorstellung gesagt: Die lässt sich die Butter nicht vom Brot nehmen. – Ich glaube, das ist in diesem Bereich und bei dieser Aufgabe eine ganz wichtige Eigenschaft. Sie hat das AlliiertenMuseum hervorragend geleitet. Deshalb freue ich mich, dass wir sie für diese wichtige Aufgabe gewinnen konnten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine Hoffnung ist, meine Damen und Herren, dass uns die deutschen Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung auch in besonderer Weise fähig machen zur Empathie mit Menschen, die heute hier bei uns in Deutschland Zuflucht suchen. Auch wenn man die Flucht aus Syrien, Irak oder Afghanistan heute aus vielerlei Gründen nicht direkt mit der Vertreibung aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern vergleichen kann, so sind die Erfahrungen der „Reisenden auf einem Bein“, wie es Herta Müller ausgedrückt hat, heute wie damals vielfach ähnlich. Gerade die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa kann sehr wohl helfen, nicht nur die Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, sondern auch die Krisen und Konflikte, in deren Angesicht Europa sich heute in der Welt bewähren muss. Es geht um Themen, die Deutschland und Europa heute mehr denn je beschäftigen: um Fragen des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen, um Fragen der wechselseitigen Wahrnehmung und Anerkennung. Die Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz ist damit aktueller denn je. Mit ihrer Weiterentwicklung sorgen wir dafür, dass sie auch in Zukunft einen maßgeblichen Beitrag zum Zusammenhalt in Deutschland und in Europa leisten kann. Für Ihre Mitarbeit und Hilfe sind wir Ihnen dankbar. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Sigrid Hupach hat nun für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Sigrid Hupach (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gegenstand dieser umfangreichen und zu prominenter Zeit angesetzten Debatte ist ein dünnes Papier der Bundesregierung. Unter der Überschrift: „Erinnerung bewahren – Brücken bauen – Zukunft gestalten“ wollen Sie die im Jahr 2000 verfasste Konzeption zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa weiterentwickeln. Ich bin gespannt, womit Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, diese Debatte füllen wollen. Mit dem unkonkreten Inhalt des vorliegenden Papiers kann Ihnen das eigentlich nicht gelingen. Worin besteht der Fortschritt und worin die Weiterentwicklung? Zunächst einmal fallen einige Unterschiede auf. Im Titel ist nicht mehr nur von der „Erforschung“ und „Präsentation“ deutscher Kultur und Geschichte die Rede, sondern außerdem von „Bewahrung“ und „Vermittlung“. Im Unterschied zur Konzeption aus dem Jahr 2000 tauchen Begriffe wie „transnational“, „multikulturell“, „multireligiös“ und „multiethnisch“ auf. Auch die kulturelle Vielfalt hat Eingang in die Konzeption gefunden. 2000 war das Stichwort „Vielfalt“ noch negativ belegt. Damals galt es nämlich – ich zitiere –, die „Vielfalt und Vielzahl vom Bund geförderter Einrichtungen“ zu reduzieren und regional neu zu strukturieren. Auch findet sich in der Einleitung schon ein Verweis auf den historischen Kontext, in den Flucht und Vertreibung einzuordnen sind, nämlich das verbrecherische NS-Regime mit seiner Expansions- und Vernichtungspolitik. Und etwas nebensächlich, aber immerhin, wird bei der Projektförderung auch die Erforschung und Vermittlung des jüdisch-deutschen Erbes im östlichen Europa genannt. Diese Änderungen waren längst überfällig. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Das ist aber nicht inhaltsleer!) Allerdings muss sich nun noch erweisen, dass das nicht nur Worthülsen und leere Versprechungen bleiben. Angesichts der unkonkreten Ausführungen sind hier Zweifel mehr als angebracht. Ich glaube nicht, dass das alles ausreicht, um die Kulturförderung nach § 96 Bundesvertriebenengesetz wirklich weiterzuentwickeln und sie an die aktuellen Herausforderungen anzupassen. Sie wollen die Landsmannschaften und Organisationen der Heimatvertriebenen wieder verstärkt einbinden (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch richtig so!) und erhoffen sich davon „zukunftsweisende Maßnahmen und Kooperationsoptionen“. Im Jahr 2000 wollten Sie eine Professionalisierung gerade durch eine Zurücknahme der Landsmannschaften erreichen. Nun sollen diese wieder gestärkt werden. Wenn man sich die letzten Tweets von Erika Steinbach in Erinnerung ruft, so fragt man sich wirklich, was mit dem – ich zitiere aus der Konzeption – „fortdauernden Beitrag zu einer gelingenden Integration, den der Bund der Vertriebenen … und seine Landesverbände leisten“, gemeint sein soll. Ich finde, das ist bloß noch zynisch. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweitens sind Zweifel angebracht, weil Sie in Ihrem Papier ein rosarotes Bild von Europa zeichnen, das so gar nicht mit der aktuellen Situation übereinstimmt. Man darf doch nicht die Augen davor verschließen, dass wir es in Europa angesichts der aktuellen Flucht- und Migrationsbewegungen mit einer verheerenden Abschottungspolitik und mit einer erschreckenden, rückwärtsgewandten Renationalisierung zu tun haben. Der von Ihnen beschriebene Dialog seit 1953 hat ja offenbar gerade nicht dazu geführt, dass es gegenwärtig in Europa ein übergreifendes Verständnis für das Schicksal und das Leid von Geflüchteten gibt – abgesehen natürlich vom solidarischen Handeln vieler Einzelner. (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Wem machen Sie da jetzt den Vorwurf?) – Hören Sie doch weiter zu. – Das hat auch damit zu tun, dass Flucht und Vertreibung durch das Bundesvertriebenengesetz immer noch national thematisiert werden. Damit bin ich beim dritten Punkt: Das Bundesvertriebenengesetz ist über 60 Jahre alt, atmet den Geist seiner Entstehungszeit und geht eben vom Nationalen aus, von der deutschen Kultur und Geschichte. So zieht es sich eben auch durch die Kulturförderung nach § 96. Bis auf den bereits erwähnten Spiegelstrich zum jüdisch-deutschen Erbe unter dem Punkt „Projektförderung“ ist in der gesamten Konzeption an keiner Stelle von anderen Opfergruppen die Rede, insbesondere nicht von Sinti und Roma. Angesichts der europäischen Dimension von Flucht und Vertreibung im Zuge des Zweiten Weltkrieges ist das aber ein völlig überholter Ansatz. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Fraktion hat sich bereits vor zehn Jahren in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ für ein Ende dieser speziellen Kulturförderung ausgesprochen. Gemeint ist damit nicht eine Einkassierung der bereitgestellten Mittel, sondern eine Eingliederung in die allgemeine Kulturförderung, sodass dieser Teil der deutschen, der europäischen Geschichte und Kultur als selbstverständlicher Teil der allgemeinen Arbeit der Institutionen definiert werden kann. (Beifall bei der LINKEN) Gerade auch in Osteuropa haben wir gut funktionierende Strukturen und Förderprogramme: vom Deutschen Akademischen Austauschdienst über die östlichen Partnerschaften, das Institut für Auslandsbeziehungen und die Goethe-Institute. Es gibt seitens des Bundes viele verschiedene, aber leider parallel verlaufende Ansätze. Wäre es nicht klug gewesen, dies alles in einer wirklichen Weiterentwicklung zusammenzubringen? Warum haben Sie nach den Querelen um die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und nach der Kritik an der Einführung des Vertriebenengedenktages nicht eine wirklich zukunftsweisende Idee entwickelt? Erst recht angesichts der globalen Herausforderungen durch aktuelle Migrationsbewegungen wäre das mehr als angebracht gewesen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich bin überzeugt, dass in den aktuellen Bezügen das eigentliche Potenzial steckt, um auch bei denen, die nicht mehr zur Erlebnisgeneration gehören, Interesse an der Vergangenheit zu wecken und um Flucht und Vertreibung in einem viel größeren, allgemeineren Kontext zu thematisieren, als das in der nationalen Nabelschau je gelingen kann. Die von Ihnen in der Konzeption genannten Herausforderungen für die Erinnerungskultur ohne Zeitzeugen und in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft sind keineswegs ein Spezifikum der Vertriebenen. Wenn Sie dafür wirklich zeitgemäße Ansätze suchen, dann empfehle ich Ihnen, sich Rat bei den NS-Gedenkstätten zu holen. Diese haben sich von Orten des Gedenkens immer stärker hin zu zeitgeschichtlichen Museen entwickelt. Neben Forschung und Bildung erfüllen sie auch weiterhin humanitäre Aufgaben und bemühen sich um den baulichen Erhalt der authentischen Orte. Ich habe meine Zweifel, ob die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung mit dem zukünftigen Deutschlandhaus eine vergleichbare zukunftsweisende Funktion zu erfüllen vermag. In der vorliegenden Konzeption wird der Stiftung eine Rolle für den grenzüberschreitenden Austausch und Dialog zugeschrieben. Vor acht Jahren ist die Stiftung gegründet worden, und im Ergebnis sind die Gräben bisher eher vertieft worden. Es hat gerade keine Versöhnung stattgefunden. Vor vier Wochen hat Frau Dr. Bavendamm ihr Amt als Direktorin angetreten. Jetzt sollte man ihr erst einmal Zeit lassen, ihre Ideen zu entwickeln und vorzustellen. (Dr. Bernd Fabritius [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Einige hoffnungsvolle Signale gab es bereits. Im Interview mit Deutschlandradio Kultur hat sie einen grundlegenden Richtungswechsel in der Stiftung angekündigt. Sie hat in diesem Gespräch erneut klargestellt, dass sie sich nicht als Dienstleisterin des Bundes der Vertriebenen versteht. Dennoch: Die bisherigen Querelen um die Stiftung haben nicht nur etwas mit Personen zu tun, sondern sie hatten vor allem auch strukturelle Ursachen – bedingt durch den Stiftungsrat, der unserer Ansicht nach völlig falsch zusammengesetzt ist. In diesem hat der Bund der Vertriebenen fast ein Drittel aller Sitze inne, (Dr. Bernd Fabritius [CDU/CSU]: Lernen Sie einmal rechnen!) und aus dem parlamentarischen Raum ist die Opposition gar nicht vertreten. Wir halten das nach wie vor für ein falsches Signal. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir hoffen sehr, dass es Frau Dr. Bavendamm gelingt, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insbesondere aus Osteuropa zu finden, die die Stiftungsarbeit im Beraterkreis begleiten. Aus diesem Grunde möchte ich zum Schluss an einen weiteren Vorschlag der Linken erinnern, den wir damals in die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ eingebracht hatten: die Gründung von multinationalen Stiftungen nämlich, in denen neben Bund und Ländern auch die osteuropäischen Staaten und auch die Opfergruppen als gleichberechtigte Partner vertreten wären. (Beifall bei der LINKEN) Diese Stiftungen könnten in multi- und bilateralen Projekten das soziokulturelle Zusammenleben der deutschsprachigen Bewohner Osteuropas mit denen anderer Kultur und Sprache erforschen und im Kontext heutiger Probleme in Erinnerung halten. Ich finde, das ist auch heute, fast zehn Jahre später, noch ein bestechender und überzeugender Vorschlag. Schade, dass Sie es nicht gewagt haben, eine wirkliche Neukonzipierung anzugehen, und sich leider vor den aktuellen Herausforderungen wegducken. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Jantz-Herrmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christina Jantz-Herrmann (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eingangs möchte ich die Gelegenheit nutzen und herzliche Grüße und Genesungswünsche an meine liebe Kollegin Hiltrud Lotze aus unserem Haus übermitteln, die heute aus Krankheitsgründen leider nicht persönlich hier stehen kann. (Beifall) Sie hat sich in den vergangenen Monaten unermüdlich für das so wichtige Thema, über das wir heute reden, eingesetzt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) In weniger als zehn Jahren feiern wir den 300. Geburtstag von Immanuel Kant. Sein Werk gehört zum Schwierigsten und Klügsten, was die Philosophie jemals hervorgebracht hat. Immanuel Kant hat auf Deutsch geschrieben. Er wurde in Königsberg geboren, dem heutigen Kaliningrad, einer Stadt, die einmal in Ostpreußen lag und heute zu Russland gehört. Immanuel Kant war Deutscher, aber in erster Linie war Immanuel Kant Europäer. Was hat Kant mit der Kulturförderung nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes zu tun, über dessen Weiterentwicklung wir heute hier debattieren? Nun, so wie Immanuel Kant und Königsberg sind auch andere Orte und Geschichten in den Regionen Osteuropas, in denen seit Jahrhunderten Deutsche leben, ein Erbe, mit dem sich alle dort lebenden Völker auseinandersetzen, dessen Geschichte zunehmend angenommen, erforscht und weiterentwickelt wird. Kant gehört ebenso dazu, wie er zu unserer deutschen Geschichte gehört. Indem wir diese gemeinsame Vergangenheit aufarbeiten und miteinander darüber diskutieren, schaffen wir etwas sehr Wertvolles, und zwar ein gemeinsames europäisches Identitätsbewusstsein. Indem wir diese einzigartigen Kulturlandschaften, in denen Deutsche jahrhundertelang gelebt haben, im Sinne ihrer früheren und heutigen Bewohner bewahren, sie in Erinnerung rufen und das Erbe pflegen und weiterentwickeln, leisten wir einen wertvollen Beitrag für Europa insgesamt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Und das genau ist die Aufgabe des § 96 des Bundesvertriebenengesetzes. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Förderung von Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa ist eine Erfolgsgeschichte. Für dieses Thema interessieren sich nicht mehr nur die Betroffenen, die damals geflüchteten und vertriebenen Menschen, sondern der Interessentenkreis geht mittlerweile weit darüber hinaus. Schüler, Studierende, Wissenschaftler, auch Menschen ohne einen familiären Vertriebenenhintergrund fragen nach, interessieren sich genau für diese Geschichte, die wir zwar deutsch nennen, die aber vielmehr multikulturell, multiethnisch und multikonfessionell ist. Die derzeitige Fördergrundlage, die diese Erfolgsgeschichte mitbegründete, ist die sogenannte Konzeption 2000, die von der damaligen rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2000 verabschiedet wurde. Die Konzeption setzt auf Professionalisierung, Regionalisierung und die Öffnung für eine europäische Ausrichtung der Förderung. All diese Ansätze haben sich durchaus bewährt. Die Mitarbeiter in den geförderten Museen und wissenschaftlichen Instituten leisten eine hervorragende Arbeit. Gerade die wissenschaftliche Basis hat die Wege zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit vieler unterschiedlicher Partnereinrichtungen im östlichen Europa geebnet. Aber seit dem Jahr 2000, in dem wir die Förderkonzeption geschrieben haben, hat sich einiges verändert. Europa hat sich verändert: 2004 sind alle drei baltischen Staaten, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn, 2007 dann Rumänien und Bulgarien und 2013 auch Kroatien der EU beigetreten. Die Kulturförderung nach § 96 findet damit innerhalb der EU statt. Die Erzählung von deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa muss in diesen neuen europäischen Kontext gebettet werden. Deswegen haben wir uns im Koalitionsvertrag gemeinsam mit der Union darauf verständigt, die Förderkonzeption des § 96 weiterzuentwickeln mit dem Ziel, die europäische Integration zu stärken. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Noch etwas hat sich in den mehr als 15 Jahren, die seit 2000 vergangen sind, verändert: die Zielgruppen, die wir mit der Konzeption ansprechen. Ich erwähnte es bereits: Das Interesse an der Thematik weist schon lange über den Kreis der eigentlich Betroffenen hinaus. Das ist ein großer Erfolg; denn überall in der geschichtlichen Aufarbeitung stehen wir vor der Herausforderung, dass die Erlebnisgeneration schwindet. Von denjenigen, die Heimatverlust und eine oftmals traumatische Flucht verarbeiten mussten, leben leider nur noch wenige. Es sind die Landsmannschaften, die durch ihre erfolgreiche Arbeit, durch ihre Projekte viele Verbindungen in ihre Heimatregionen pflegen und aufrechterhalten und damit einen wichtigen Teil zum Erhalt und zur Bewahrung der deutschen Kultur in den Ländern Osteuropas leisten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Allein schon ihr Wissen, die Geschichten der Heimat und die Geschichte ihrer Flucht – all das muss uns im Gedächtnis bleiben. Das, was mündlich erzählt werden kann, muss lesbar werden und für die Zukunft bewahrt werden. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass dieser Teil unserer Geschichte in unseren Erinnerungskanon gehört, dass er gewürdigt und erinnert wird. Die geplante Dauerausstellung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung wird dies als einen elementaren Teil aufgreifen. Es muss aber auch diejenigen geben, die sich für diese Geschichte interessieren, ohne sie miterlebt zu haben. Es liegt daher in unser aller Interesse, dass sich auch Menschen ohne Vertriebenenhintergrund für die deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa interessieren. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die Kulturförderung muss auch diese Menschen, vor allem auch die jungen Menschen, ermuntern, unsere Geschichte zu erforschen, auf Spurensuche zu gehen und unsere Verbindungen ins östliche Europa zu stärken. Für uns ist die jetzt vorliegende Weiterentwicklung des § 96 Bundesvertriebenengesetz tragbar, jedoch nicht unbedingt überzeugend. Die Förderkonzeption hält an den Grundzügen der gewachsenen Förderstruktur fest. Weiterhin werden sechs Museen und vier Forschungseinrichtungen institutionell gefördert; gleichzeitig hat die Weiterentwicklung der Förderkonzeption den Anspruch, zukunftsweisende Maßnahmen und Kooperationsoptionen zu entwickeln. Aber statt den Fokus zu weiten, verengt die vorliegende Konzeption den Blick dabei stark auf die Rolle der Landsmannschaften und den Bund der Vertriebenen. Um es nochmals deutlich zu sagen und nicht missverstanden zu werden: Die Perspektive der Vertriebenen und ihrer Nachkommen bleibt weiterhin von zentraler Bedeutung. Aber unser Ziel sollte doch auch sein, das Interesse von Menschen ohne persönlichen Vertriebenenhintergrund aufzunehmen. Es ist ein Versäumnis der vorliegenden Konzeption, dass gerade bei der Ansprache der jüngeren Generation nur das Interesse bei den Nachkommen der Erlebnisgeneration von Flucht, Vertreibung und Aussiedlung gesehen wird und dass explizit in der Förderkonzeption nur die Jugendorganisationen der Landsmannschaften als junge Interessengruppen genannt werden. (Beifall der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Verständlich ist der Blick zurück. Das Vergangene ist zu vergewissern, aber bei der Weiterentwicklung der Förderkonzeption sollte die Zukunft im Vordergrund stehen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Zielausrichtung sollte auch in Richtung Europa gehen. Eine richtungs- und zukunftsweisende Konzeption mit den Worten zu beginnen: „Unter großen Opfern haben bis zu 14 Millionen Deutsche als Vertriebene und Flüchtlinge ihre Heimat verlassen.“, wie im Entwurf des Hauses BKM zunächst vorgeschlagen, lenkt den Blick in die Vergangenheit. Wir als SPD-Bundestagsfraktion begrüßen daher ausdrücklich, dass unsere Anmerkung aufgenommen wurde, den Grund für eine Weiterentwicklung, nämlich die verstärkte europäische Integration, an den Anfang zu stellen und damit das richtige Signal auszusenden. (Beifall bei der SPD) Damit wird keinesfalls das große Leid negiert, das insbesondere die deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge gegen und nach Ende des Zweiten Weltkriegs tragen mussten. Neben der leider starken Fokussierung auf eine bestimmte Interessengruppe beinhaltet das Papier aber besonders in den Fördergrundsätzen gute Punkte, wie wir finden. So muss die Erforschung und Vermittlung des jüdisch-deutschen Erbes im östlichen Europa in die Förderkonzeption aufgenommen werden – ein längst fälliger Schritt. Auch zeitgemäße mediale Vermittlungs- und Arbeitsformen – ich nenne dabei das Stichwort „Social Media“ – sind nun Kriterien der Förderung. Wichtig für die SPD ist, dass die exzellente wissenschaftliche Basis mit der Weiterentwicklung bestehen bleibt und weiter ausgebaut wird. Genau das ist hierbei der Fall. Es wäre aber auch möglich gewesen, das große Potenzial, das in der Kulturförderung nach § 96 Bundesvertriebenengesetz steckt, mit einer Weiterentwicklung noch stärker auszuschöpfen, die breite Öffentlichkeit anzusprechen und dieses interessante Themenfeld für viele Interessierte, ob nun mit oder ohne Vertriebenenhintergrund, zu stärken. Das Interesse ist da. Bei der handwerklich guten Förderkonzeption – – Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin, Sie müssen allmählich – – Christina Jantz-Herrmann (SPD): Das mache ich gerne. Ich bin beim letzten Satz, Herr Präsident. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das tut mir leid. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich das andächtig abgewartet. (Heiterkeit) Christina Jantz-Herrmann (SPD): Bei der handwerklich guten Förderkonzeption hätten wir uns mehr Mut seitens der BKM gewünscht. Vielen Dank, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Schauws erhält nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Monaten und Wochen haben wir viel über das Thema Flucht gesprochen und in diesem Zusammenhang auch über den Stand der europäischen Integration – gerade gestern im Plenum aufgrund unseres grünen Antrags zum Flüchtlingsschutz und zur fairen Verantwortungsteilung in einer geeinten Europäischen Union. Die Flüchtlingsfrage droht die EU zu spalten. Rechtspopulisten und -extremisten befinden sich fast überall auf dem Vormarsch, und die Frage, für welche gemeinsamen Werte die Europäische Union derzeit zusammensteht, wird heftig diskutiert. In diesem Kontext sprechen wir heute erneut über die Förderung der Kulturarbeit nach § 96 Bundesvertriebenengesetz und seine zukünftige Weiterentwicklung. Es wäre eine gute Chance, um in der Praxis ein altes Gesetz neu aufzustellen. Sie als Bundesregierung hätten jetzt die Chance, eine moderne und zukunftsgewandte Bundesvertriebenenarbeit zu konzipieren. Leider ist davon aber hier wenig zu spüren. Im Vorwort ist zunächst die Rede davon, Erinnerung zu bewahren, Brücken zu bauen und Zukunft zu gestalten – hehre und wichtige Ziele. Aber wenn man dann einmal genauer schaut, wie Sie das ausfüllen, sieht man, dass es in der Neukonzeption leider wenig Konkretes und leider noch weniger Zukunftsgewandtes gibt. Ich fange einmal mit dem ersten Ziel an: Erinnerung bewahren. Es ist natürlich und selbstverständlich, an das millionenfache Leid und Schicksal von 12 Millionen Vertriebenen hierzulande zu erinnern. Flucht, Gewalt und Ausgrenzung und der tägliche Kampf ums Überleben, all das gehört zu den Erfahrungen vieler deutscher Familien. Ihre Geschichten sind natürlich Teil der deutschen Erinnerungskultur. Aber wir können nicht über ihr Schicksal sprechen, ohne dabei den historischen Kontext zu thematisieren, den Kontext von nationalsozialistischem Terror, Krieg und Befreiung. Dieser wichtige Grundsatz ist aber leider bei der Gründung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung lange verleugnet worden. (Dr. Bernd Fabritius [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!) Man hatte leider den Eindruck, als solle hier vor allem ein sichtbares Zeichen für die Opferrolle der Deutschen entstehen. Wir Grüne haben das immer kritisiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Seit März gibt es nun mit Gundula Bavendamm endlich eine neue Direktorin nach vielen Jahren der Skandale, Rücktritte sowie heftiger Kritik aus dem Ausland. Es besteht nun auch nach Aussage der Bundesregierung für zentrale erinnerungspolitische Vorhaben ein kleiner Hoffnungsschimmer auf eine Besserung. Damit dieser Hoffnungsschimmer nicht gleich wieder erlischt, braucht es jetzt die schon lange angemahnte Neuzusammensetzung des Stiftungsrates; die Kollegin hat es eben angesprochen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sigrid Hupach [DIE LINKE]) Alle Gruppen, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind, sollten hier vertreten sein, also auch der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und Vertreterinnen und Vertreter von Migranten- und Flüchtlingsorganisationen. Dieser Schritt ist längst überfällig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sigrid Hupach [DIE LINKE]) Dieser Schritt ist auch ein wichtiges Signal ins Ausland. Denn ohne ernstgemeinte Veränderungen werden keine internationalen Mitglieder für den wissenschaftlichen Beraterkreis zu gewinnen sein. Zu groß ist inzwischen das Misstrauen gegenüber der Stiftung und auch gegenüber dem Handeln der Bundesregierung. Hier muss verlorengegangenes Vertrauen wiederhergestellt werden. Darum: Werden Sie hier endlich tätig! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Nicht zuletzt braucht die Stiftung vor allem einen ernstgemeinten inhaltlichen Neuanfang. An die Geschichte der deutschen Vertriebenen kann nur im europäischen Kontext und in Bezug auf aktuelle Flucht und Vertreibung angemessen erinnert werden. Vielversprechend klingt daher zunächst das Ziel, Brücken bauen zu wollen und die europäische Integration zu fördern. Aber im Schlusswort tauchen plötzlich Begriffe wie eigene kulturelle Selbstvergewisserung auf, und es ist vom „Anderen“ die Rede. Interkulturelle Zusammenarbeit und Förderung der europäischen Integration sieht meiner Meinung nach anders aus. Es kann bei so einer Institution doch nicht darum gehen, dass die Deutschen zu sich selber finden, sondern darum, dass die Europäerinnen und Europäer zueinanderfinden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wer wirklich einen Beitrag zur europäischen Integration leisten will, muss verstärkt Kooperationen fördern und Austausch auf Augenhöhe ermöglichen. Da passiert aus meiner Sicht viel zu wenig. Er muss auch darauf aufmerksam machen, dass Europa sich schon immer durch Migration und kulturelle Vielfalt ausgezeichnet hat. Das gilt auch für Osteuropa. Hier kann und sollte die Arbeit im Rahmen des Bundesvertriebenengesetzes verstärkt anknüpfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte damit zum letzten Ziel der Neukonzeption übergehen: Zukunft gestalten. Gerade jetzt, wo fast überall in Europa Ressentiments gegenüber Migrantinnen und Migranten und Geflüchteten zunehmen und Rechtspopulisten und extremisten auf dem Vormarsch sind, ist das eine umso wichtigere Aufgabe. Hier sollte unserer Ansicht nach gemeinsam mit den Partnern in Osteuropa durch die Auseinandersetzung über die Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus für gesellschaftliche Ausgrenzung und Vertreibung sensibilisiert werden. Das kann letztlich auch dazu beitragen, das Bewusstsein für aktuelle rechtsextreme Hetze und antidemokratische Entwicklungen zu schärfen. Das heißt mit Blick auf das Bundesvertriebenengesetz, auch Vorschläge zu machen, wie vor allem junge Menschen zukünftig besser einbezogen und erreicht werden können. Hier bleiben Sie als Bundesregierung Antworten schuldig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der Tatsache, dass in den letzten Monaten Hunderttausende Menschen neu bei uns in Deutschland angekommen sind, und angesichts der Tatsache, dass unsere Gesellschaft schon längst, spätestens seit der sogenannten Gastarbeiterzeit, vielfältiger geworden ist, stellt sich mir mit Blick auf unsere aktuelle Erinnerungspolitik in Deutschland nicht nur die Frage, wie wir in Zusammenarbeit mit den östlichen Partnerinnen und Partnern zu einem interkulturellen Erinnern kommen, sondern auch, was eine zunehmend vielfältiger werdende Gesellschaft für unsere offizielle Erinnerungskultur in Deutschland bedeutet. Denn Migrantinnen und Migranten sowie Geflüchtete, die nach Deutschland kommen, bringen ihre eigenen Erfahrungen und Geschichten mit. Damit steht die bisherige Erinnerungskultur in Deutschland vor der längst überfälligen Aufgabe, aus den verschiedenen Perspektiven und Erzählungen endlich gemeinsame Leitbilder und Geschichten des Erinnerns zu entwickeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) In der öffentlichen Debatte spielen die individuellen Erinnerungen und Geschichten von Migrantinnen und Migranten nach wie vor kaum eine Rolle. Die Schoah ist und bleibt der zentrale Bezugspunkt der Erinnerungskultur in Deutschland. Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehe ich wichtige Aufgaben und Herausforderungen für die aktuelle und zukünftige Erinnerungspolitik. Diese gilt es jetzt anzugehen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält Christoph Bergner für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wer sich mit der Entwicklung und Geschichte des Bundesvertriebenengesetzes beschäftigt, wird mitbekommen, dass diese Geschichte, die über 60 Jahre umfasst, durch ständige Modernisierungen, Novellierungen und Anpassungen an veränderte Verhältnisse gekennzeichnet ist. Ich erinnere an die Novellierungen, die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zusammenhingen und zu einer Neuordnung der Aussiedleraufnahme geführt haben. Ich erinnere auch an Anpassungen, die im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt unserer östlichen Nachbarn geschehen sind. Dabei hat sich das Bundesvertriebenenrecht von einem Recht der unmittelbaren Kriegsfolgenbewältigung immer mehr zu einem Recht, das Beiträge zur nachhaltigen Friedenskonsolidierung leistet, gewandelt. Die vorgelegte Weiterentwicklung der Konzeption der Beauftragten für Kultur und Medien steht in genau diesem Kontext der Entwicklung: von unmittelbarer Kriegsfolgenbewältigung zu nachhaltiger Friedenskonsolidierung im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Neben die Verarbeitung des Kulturbruches nach Ende des Zweiten Weltkrieges durch Flucht und Vertreibung, neben die Herausforderungen, die seinerzeit geprägt waren durch die Rettung unmittelbar, akut gefährdeten Kulturgutes und die Notwendigkeit einer empathischen Erinnerungskultur für Vertriebene, neben diese Grundsätze, die nach wie vor Bedeutung haben, tritt immer mehr der Beitrag der deutschen Kultur im östlichen Europa zu einem gesamteuropäisch zu verstehenden kulturellen Erbe. Dies kommt, meine Damen und Herren, in der vorliegenden Konzeption überzeugend zum Ausdruck. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie verbindet die national-kulturellen Traditionen im Sinne eines gemeinsamen, nationenübergreifenden europäischen Kulturverständnisses. Nirgends ist mir das in jüngerer Zeit so deutlich geworden wie beim Besuch des Breslauer Oberbürgermeisters, der im Unterausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik über die Konzepte zum Programm des Kulturhauptstadtjahres berichtete. An den Ausführungen des Oberbürgermeisters ist klar geworden, dass die deutschen kulturellen Prägungen seiner Stadt zu einem europäischen Markenzeichen der Gegenwart geworden sind und wie wertvoll für ihn die Kombination aus deutscher Geschichte und deutschen Prägungen der Vergangenheit und dem europäischen Verständnis der Gegenwart ist. In Erwiderung auf Frau Hupach möchte ich sagen: Wer anderes als die Deutschen selbst soll denn für die Pflege des deutschen Beitrages zu einem europäischen Kulturprojekt Verantwortung tragen? Niemand wird erwarten, dass wir das deutsche Kulturerbe gewissermaßen in die Hand von Polen und anderen zur Betreuung geben. Dann sollten wir uns auch darüber freuen, dass ein polnischer Oberbürgermeister unsere Kooperation bei der gemeinsamen europäischen Kulturpflege verlangt und fordert, und dafür bietet das Konzept sehr gute Voraussetzungen. (Beifall bei der CDU/CSU – Sigrid Hupach [DIE LINKE]: Besser mal zuhören! Das war nicht meine Kritik!) Ich hoffe, dass das Konzept auch dazu beitragen kann, zukünftige Herausforderungen zu bewältigen. Ich will nur ein Beispiel herausgreifen: Die Europäische Kommission und das Europaparlament haben 2018 zum Europäischen Kulturerbejahr ausgerufen. Unter dem Motto „Sharing Heritage“ sollen übergreifende, eine europäische Kulturidentität begründende Beispiele gesucht werden – insbesondere in der Bautradition. Ich bin mir sicher, dass Zeugnisse deutscher Kulturtradition im Osten wertvolle Beiträge dazu leisten können. Als Beispiele nenne ich die Kirchenburgen in Siebenbürgen, den Kaschauer Dom in Kosice in der Slowakei mit seinem gotischen Turm – das östlichste gotische Bauwerk in Europa –, die Jahrhunderthalle in Breslau. Ich könnte diese Aufzählung fortführen, und ich möchte appellieren, dass auf der Basis des vorgelegten Konzeptes eine Beteiligung am Europäischen Kulturerbejahr in Erwägung gezogen wird. Aber, meine Damen und Herren, die deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa gehen über die Grenzen der EU hinaus. Ein Anliegen ist mir hier besonders wichtig: Wir dürfen die Kultur der russlanddeutschen Kolonisten und ihr Deportations- und Vertreibungsschicksal nicht vergessen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin froh, dass sich das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte im Konzept wiederfindet, und will nur darauf hinweisen, dass sich hier Begegnungsmöglichkeiten ergeben. Dies konnte ich gerade auch in der letzten Woche bei einem Besuch in Aserbaidschan wieder feststellen, als ich erlebte, dass dort – und zwar von der einheimischen Bevölkerung – Helenendorf und Annenfeld als deutsche Gründungen – die Deutschen sind 1941 deportiert worden – und die Schwabendörfer in der Gegend von Tiflis gepflegt werden und man zusammen die Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Ansiedlung der Deutschen im Kaukasus in den Jahren 2017 und 2018 vorbereitet, den man gemeinsam begehen will. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an ein Wort unseres früheren Außenministers Hans-Dietrich Genscher, das mir sehr wertvoll geworden ist und das ich leider nur aus dem Gedächtnis zitieren kann. Auf einem Forum mit kasachischen Teilnehmern sagte Hans-Dietrich Genscher: In unserer Gesellschaft sollten wir Nachbarn nicht allein darüber definieren, ob wir eine gemeinsame Grenze haben, und wir sollten unseren Begriff von Nachbarschaft nicht nur auf eine gemeinsame Grenze beziehen. – Unter Verweis auf die Russlanddeutschen in Kasachstan, die weitgehend Nachkommen von Deportierten waren, sagte er weiter: Der Umstand, dass in kasachischen Dörfern deutsche Familien neben kasachischen Familien gelebt haben, macht uns zu Nachbarn im Sinne einer kulturellen Nachbarschaft. (Beifall bei der CDU/CSU) Damit komme ich abschließend zu einem besonderen inhaltlichen Ansatz für diese Konzeption und für die Arbeit nach dem § 96 Bundesvertriebenengesetz: Wir haben die Chance, kulturelle Nachbarschaft zu gestalten. Wir sollten nicht immer wieder alte Feindbilder pflegen, die mit Blick auf das Bundesvertriebenenrecht nie richtig waren, und den Eindruck erwecken, Frau Schauws und Frau Hupach, als würde diese Arbeit Keile in unsere europäische Nachbarschaft treiben. Stattdessen sollten wir nach Gemeinsamkeit suchen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Matthias Schmidt für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus Erinnerung erwächst Verantwortung. Diese oft hergestellte Verknüpfung hat auch heute nicht an Bedeutung verloren. Dieser kurze Satz hat es in sich; denn er betrifft Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Auftrag, der damit verbunden ist, ist vielschichtig und groß, und er entwickelt sich weiter, von Generation zu Generation. Bei der Frage nach der Erinnerung geht es um die Frage der Wurzeln: Wo kommen wir her? Welche Wege sind wir gegangen? Welche Spuren – man könnte auch sagen: welchen kulturellen Fußabdruck – haben wir hinterlassen? Diese Fragen betreffen oft Gruppen mit gleichen oder ähnlichen Erfahrungshorizonten und sind doch zugleich ganz und gar individuell. Die uns vorliegende Konzeption will den Auftrag aus § 96 Bundesvertriebenengesetz, dem sogenannten Kulturparagrafen, fortentwickeln, Erinnerung an die „deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa“ bewahren, eine Geschichte, die viele Jahrhunderte zurückgeht. Millionen von Deutschen haben nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verloren. Sie mussten sich umorientieren und haben Leidvolles erfahren. Das dürfen und das wollen wir auch nicht vergessen. Zugleich sind wir gefordert, diesen Auftrag zur Bewahrung und Vermittlung von Erinnerung weiterzuentwickeln. Europa hat sich verändert, ist größer geworden und damit auch vielfältiger. Junge Menschen – eine wichtige Zielgruppe, Frau Kollegin Grütters, die Sie noch ergänzen können – suchen in diesem Europa nach Identität. Hier kann und sollte Kulturförderung einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass junge Menschen historische Entwicklungen nachzeichnen können. (Beifall bei der SPD) Sie sollen verstehen, dass Geschichte viele Blickwinkel einnimmt und auch Leidensgeschichten in sich trägt. Wer seine Wurzeln kennt, kann sich im Leben besser verwirklichen. Im Jahr 2000 hatte die rot-grüne Bundesregierung einen wichtigen Meilenstein dafür gelegt. Die Strukturen der Förderung nach § 96 Bundesvertriebenengesetz wurden systematisiert und fortentwickelt. Das war gut so und hat sich bewährt. Über die Berichte der Bundesregierung erfahren wir regelmäßig, dass die Museen, Forschungseinrichtungen, die Kulturinstitute und die vielen zivilgesellschaftlichen Akteure eine anspruchsvolle und großartige Arbeit leisten. Das verdient unser aller Respekt. Nun hat sich die Große Koalition die Aufgabe gegeben, dieses Konzept mit dem Ziel verstärkter europäischer Integration weiter fortzuentwickeln und damit auch weiterzudenken. Damit ist die Aufforderung verbunden, Strukturen zu hinterfragen, Prozesse zu beleuchten und Veränderungen anzupacken. Was das heißen kann, dazu gehen die Meinungen auch in diesem Haus durchaus auseinander. Vieles ist diskutabel. Bewegen müssen wir uns in jedem Fall. Lassen Sie mich dazu einen Satz im Koalitionsvertrag aufgreifen, der die europäische Dimension für das Hier und Heute verdeutlicht: Die Koalitionsparteien stehen zur gesellschaftlichen wie historischen Aufarbeitung von Zwangsmigration, Flucht und Vertreibung. Damit stehen wir ad hoc im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlingssituation. Dr. Bergner, Sie hatten die empathische Erinnerungskultur für die Vertriebenen genannt. Ich finde, wir müssen das zur Empathie für Flüchtlinge weiterentwickeln. Viele Menschen kommen zu uns und bereichern unseren Kulturschatz mit eigenen kulturellen Fußabdrücken. Auch sie werden sich irgendwann auf die Suche nach ihrer Identität begeben und dabei auch Fragen an uns richten. Wir müssen und wir wollen sie für die europäische Geschichte und damit auch für unsere Geschichte sensibilisieren. Diesen Blickwinkel müssen wir einnehmen, wenn wir den Auftrag „Erinnerung bewahren – Brücken bauen – Zukunft gestalten“ auf breitere Füße stellen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie uns – Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss – mutig sein, damit wir am Ende das erreichen, was Europa und auch Deutschland dringend brauchen: im Bewusstsein um das Vergangene eine gute Zukunft für alle zu gestalten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Klaus Brähmig für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Klaus Brähmig (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Als die britische Königin Elizabeth II. aus Anlass ihres Staatsbesuches in der Bundesrepublik Deutschland im vergangenen Jahr auf die engen Beziehungen des Vereinigten Königreichs zu Europa einging, verdeutlichte sie dies sinnbildlich an den schottischen Wurzeln eines Mannes aus Ostpreußen, eines Mannes, der, genau gesagt, aus Königsberg stammte und mit seinem Wirken Weltgeschichte geschrieben hat: Immanuel Kant. Die Rede der Königin macht eines deutlich: Kein Philosoph, kein Deutscher wird mit seinen Werken häufiger in Reden internationaler Staats- und Regierungschefs zitiert als eben Immanuel Kant, dessen Geburtstag sich im Jahr 2024 zum 300. Male jährt. Was will ich damit sagen? Mit der heutigen Aussprache würdigt der Deutsche Bundestag zum wiederholten Male in einer Kernzeitdebatte den Kulturraum, dem der Ostpreuße Immanuel Kant entstammte. Es sind dies die früheren Ostgebiete des Deutschen Reiches und die historischen Siedlungsgebiete der Deutschen in Mittelost- und Südosteuropa. Als Kerngebiet der deutschen Geschichte und als Heimat von Millionen Deutscher und ihrer Vorfahren zählen diese Kulturlandschaften bis heute zum Urbestand unserer Kultur. Die bis heute dort lebenden Mitglieder der deutschen Minderheit sind augenfälliges Beispiel dieser langen historischen Verbindung. Für unser Land, seine Geschichte und unser nationales Selbstverständnis sind diese geografischen Regionen und ihre Metropolen wie Königsberg, Breslau, Danzig, Stettin oder Thorn von zentraler Bedeutung. Es war nicht zuletzt der damalige Direktor des British Museum in London, Neil MacGregor, der in seiner international vielbeachteten Deutschland-Ausstellung zum Jahreswechsel 2014/2015 auf diesen bedeutenden Sachverhalt hingewiesen hat. Die von der Bundesregierung nun vorgelegte Konzeption zur Weiterentwicklung und Pflege der Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa ist ein richtungsweisendes Dokument; denn sie legt ein starkes Bekenntnis zur essenziellen Bedeutung dieses Kulturbereiches ab. So wird die Kulturförderung gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz zu Recht als „Beitrag zur kulturellen Identität Deutschlands und Europas“ gekennzeichnet. Die neue Konzeption stellt die ostdeutsche Kulturarbeit wieder in einen angemessenen historischen Rahmen und erkennt die bleibende Aktualität des Themas „Flucht und Vertreibung“ an. Sie würdigt den Beitrag der deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge sowohl zum Wiederaufbau nach dem Krieg als auch zur Kulturarbeit seit über 65 Jahren. Darüber hinaus nimmt sie die deutschen Minderheiten im Ausland anerkennend in den Blick. Relevante Akteure des Kulturbereichs, wie beispielsweise in der jüngsten Kulturpolitischen Korrespondenz kommentiert, stimmen dieser Bewertung zu. Die Konzeption der Bundesregierung ist mit dem Zusatz „Erinnerung bewahren – Brücken bauen – Zukunft gestalten“ untertitelt. In diesem Zusammenhang ist es von größter Bedeutung, dass die Konzeption auch die Rolle und das fortbestehende grenzüberschreitende Engagement der deutschen Heimatvertriebenen würdigt, die unter großen Verlusten ihre Heimat verlassen mussten. Auch die heutige Relevanz des Themas in der deutschen Gesellschaft, in der „gut jeder vierte Deutsche einen persönlichen oder familiären Bezug zu den deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen sieht“, bleibt nicht unerwähnt. Aus diesem Grunde ist es richtig, von einer grundlegenden qualitativen Verbesserung zu sprechen, die der Bundesregierung mit dieser Weiterentwicklung der Förderkonzeption aus dem Jahr 2000 gelungen ist. Das klare Bekenntnis, dass der Förderauftrag des § 96 Bundesvertriebenengesetz nicht mit dem Erlöschen der Erlebnisgeneration endet, sondern eine zukunftsweisende Bedeutung entfaltet, verstärkt die positive Zielrichtung der Konzeption. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Kulturbereich steht in vielen Fällen aber auch vor wichtigen Weichenstellungen. Dies gilt auch in finanzieller Hinsicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Mitglieder der deutschen Erlebnisgeneration von Flucht und Vertreibung, die sich bis in die Gegenwart in zutiefst anerkennenswerter ehrenamtlicher Weise um das Andenken an die verlorene Heimat verdient gemacht haben, möchten ihr Engagement nun in jüngere Hände legen. Hierbei müssen wir vonseiten der Politik die notwendige Hilfestellung geben. Vor allem muss unter allen Umständen vermieden werden, dass durch mangelnde Sensibilität in der Gegenwart Teile des unter schwierigsten Bedingungen geretteten und anschließend über mehr als 70 Jahre bewahrten ostdeutschen Kulturguts verloren gehen. Originalobjekte aus dem historischen deutschen Osten sind nicht reproduzierbar. Die heute debattierte Konzeption erkennt diese wichtige Aufgabe an. Ein hervorragendes Beispiel dafür, wie deutsches Kulturerbe dauerhaft für die uns nachfolgenden Generationen gesichert werden kann, ist die vor wenigen Wochen vertraglich vereinbarte Überführung der Bestände des Museums Stadt Königsberg aus Duisburg in das Ostpreußische Landesmuseum Lüneburg. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auf diese Weise werden die weltweit größte Einzelsammlung zu Immanuel Kant und bedeutende Bestände zur ebenfalls aus Königsberg stammenden Malerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz zusammenhängend erhalten. Mittels der Sammlung des Ostpreußischen Landesmuseums und der Überlieferung zur früheren Provinzhauptstadt Königsberg wird es künftig möglich sein, die Bestände in ihrem geschichtlichen und geografischen Kontext zu präsentieren. Dies ist von allergrößter Bedeutung. Allein die geschichtliche Tatsache, dass Immanuel Kant seine Heimatstadt und die sie umgebende Provinz zeitlebens nie verlassen hat, macht eines deutlich: Ein wirkliches Verständnis Kants ohne die Berücksichtigung der ihn umgebenden und prägenden Kulturlandschaft Ostpreußens muss unvollständig bleiben. Diese umfassende Einbettung wird künftig in Lüneburg möglich sein. Ich lade übrigens alle Kollegen herzlich ein, Ostpreußen einmal zu besuchen. Es ist immer eine Reise wert. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Es gilt nun, den Bund und das Land Niedersachsen dafür zu gewinnen, mittels einer baulichen Erweiterung des Ostpreußischen Landesmuseums um einen dritten Bauabschnitt die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Dies ist meines Erachtens alternativlos. Wie wenige andere Themen eignen sich die Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa für eine intensive Zusammenarbeit mit unseren östlichen Nachbarn. So sollten wir beispielsweise den 300. Geburtstag von Immanuel Kant im Jahre 2024 nutzen, um mittels der Brückenfunktion des nördlichen Ostpreußens den kulturellen Dialog mit Russland im Rahmen einer Kant-Dekade zu intensivieren. Die gemeinsame Wertschätzung des Lebens und Wirkens Kants, aber auch der deutschen Geschichte in der heutigen Oblast Kaliningrad ist ein Themenfeld von größter deutsch-russischer Übereinstimmung. Diesen glücklichen Umstand dürfen wir nicht ungenutzt verstreichen lassen. Hochgeschätzte Zuhörer, lassen Sie mich abschließend etwas zur Zukunft der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung sagen: Mit der Wahl von Dr. Gundula Bavendamm zur neuen Direktorin und ihrem klaren Bekenntnis zur Stiftungskonzeption in ihrer heute gültigen Form hat dieses zentrale Erinnerungsvorhaben der Bundesregierung eine gute Zukunft vor sich. Indem die geplante Dauerausstellung ihren Schwerpunkt auf die Flucht und Vertreibung der Deutschen legen wird, wird die Einrichtung ihrem wichtigen Auftrag gerecht. Ein bedeutendes Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte wird damit in der Hauptstadt Berlin präsent bleiben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Dietmar Nietan hat für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dietmar Nietan (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts dieser bitteren Vergangenheit müssen wir unsere Anstrengungen für eine bessere Zukunft vereinen. Wir müssen der Opfer gedenken und dafür sorgen, dass es die letzten waren. Jede Nation hat das selbstverständliche Recht, um sie zu trauern, und es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass Erinnerung und Trauer nicht missbraucht werden, um Europa erneut zu spalten. Deshalb darf es heute keinen Raum mehr geben für Entschädigungsansprüche, für gegenseitige Schuldzuweisungen und für das Aufrechnen der Verbrechen und Verluste. Die Europäer sollten alle Fälle von Umsiedlung, Flucht und Vertreibung, die sich im 20. Jahrhundert in Europa ereignet haben, gemeinsam neu bewerten und dokumentieren … (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Wir sind überzeugt davon, dass die Ergebnisse dieses europäischen Dialoges einen wichtigen Beitrag zur Vertiefung unseres gegenseitigen Verständnisses und zur Stärkung unserer Gemeinsamkeiten als Bürger Europas leisten werden. So lautet die gemeinsame Erklärung von Bundespräsident Johannes Rau und dem polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski aus dem Jahr 2003. Ich finde, sie ist ein guter Rahmen für das, worum es in der heutigen Diskussion und bei der Weiterentwicklung und Umsetzung des § 96 Bundesvertriebenengesetz gehen muss. Eigentlich weht dieser Geist schon im Gesetzestext. Wenn wir ihn uns genau anschauen, stellen wir fest, dass die Arbeit zur Sicherung des Kulturguts „in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes“ verrichtet werden soll. Sie merken an dieser Aufzählung im Gesetzestext, dass es keine Priorisierung gibt, sondern alle Aspekte wichtig sind. Das ist der Punkt, über den wir diskutieren müssen: Wie sorgen wir dafür, dass durch Multiperspektivität und Pluralität sichergestellt wird, dass wir wirklich der gesamten Dimension der Erinnerung gerecht werden, und das auf eine Weise, dass sie einen Beitrag zur Gestaltung einer besseren Zukunft leistet, die nicht, wie Aleksander Kwasniewski und Johannes Rau gesagt haben, zu neuen Spaltungen und Missverständnissen führt? Das ist die zentrale Herausforderung. Ich will noch einmal deutlich unterstreichen, was Christina Jantz-Herrmann gesagt hat. Es geht nicht darum, die Leistungen der Landsmannschaften auf irgendeine Weise zu diskreditieren oder kleinzureden. Wenn wir aber Heraushebungen, die interpretiert werden könnten als Bevorzugung einzelner Akteure, in den Mittelpunkt der Weiterentwicklung stellen, dann führt das zu Missverständnissen und Missperzeptionen, die nicht das Einigende, sondern das Trennende wieder nach oben spülen. Ich glaube, der zentrale europäische Ansatz ist das richtige Mittel und die richtige Antwort auf den aufkommenden Nationalismus in Europa und die Vereinnahmung der Geschichte durch nationalistische Kräfte. Ich will an dieser Stelle sagen, dass es mich mit großer Sorge erfüllt, dass zurzeit der polnische Kulturminister versucht, in die eigentlich schon fertige, mit internationalen Partnern entwickelte Konzeption des Danziger Museums für den Zweiten Weltkrieg einzugreifen, weil ihm die Multiperspektivität und Internationalität des Ansatzes nicht gefällt und er es gerne wieder in den Kontext eines nationalen, polnischen Erinnerns stellen will. Wenn wir uns solchen Tendenzen entgegenstellen, sind wir am glaubwürdigsten, wenn wir keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass unsere Weiterentwicklung der Konzeption multiperspektivisch, gleichberechtigt und plural ist sowie immer im Geiste der Versöhnung Europas zu sehen ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich will an dieser Stelle deutlich sagen, dass sich viele noch immer engagieren, damit es in diese Richtung geht. Ich glaube, dass wir mit der neuen Direktorin Gundula Bavendamm eine gute Wahl getroffen haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass sie ihre Arbeit sehr gut machen wird. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Lassen Sie mich noch der Kollegin Hiltrud Lotze – sie kann nicht anwesend sein – und Bernd Fabritius danken, der als neuer Präsident des BdV deutlich Akzente setzt, die dazu geeignet sind, nach vorne zu schauen und zu versöhnen. Bernd, dafür einen herzlichen persönlichen Dank! (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich danke auch Markus Meckel, der nicht mehr Mitglied des Parlaments ist. Er hat mit vielen Intellektuellen, Geschichtswissenschaftlern und Politikern aus Mittel- und Osteuropa an diesem gemeinsamen Zeichen gearbeitet. Ich will noch einmal an seinen Aufruf aus dem Jahr 2003 erinnern, in dem es deutlich heißt: Wenn es in der Mitte Europas gelingt, in der Erarbeitung einer gemeinsamen Konzeption für ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen und durch seine Errichtung uns gemeinsam dieser schwierigen Geschichte zu stellen, wäre dies ein wichtiges Zeichen der Aussöhnung und des gegenseitigen Verständnisses für ganz Europa. In diesem Sinne möchte ich enden mit dem Schlusswort des Aufrufs aus dem Jahre 2003. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Nietan, auch wenn der Dank hier im Hause sicherlich breit getragen wird, heißt das nicht, dass Sie die Redezeit nun verdoppeln können. Dietmar Nietan (SPD): Nein, das möchte ich nicht. Deshalb möchte ich mit folgendem Schlusssatz enden, Frau Präsidentin: Lasst uns diese Arbeit gemeinsamer Erinnerung beginnen und so miteinander an der Zukunft bauen! Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung informiert heute über die Weiterentwicklung einer Konzeption, die nicht mehr und nicht weniger leisten muss, als den vielleicht gefährdetsten Teil unserer Kultur zu sichern, weiterzuentwickeln und in die Zukunft zu tragen. Das ist eine Reichweite, die offenbar nicht jedem in diesem Raum bewusst ist. Ich kann es nur immer wieder deutlich betonen: Sicherung der Kultur der Deutschen aus den Siedlungsgebieten im östlichen Europa, die Pflege der immateriellen Werte, der Bräuche und Traditionen sowie des vielfältigen geistigen Wirkens als Teil des gesamtdeutschen kulturellen Erbes im Sinne des § 96 ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die uns alle angeht und der wir in einer Verantwortung für kommende Generationen nachkommen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dietmar Nietan [SPD]) Investitionen in Kulturpflege zählen mit zu den nachhaltigsten Investitionen, die ich mir vorstellen kann. Gerade in dem sensiblen Bereich der Kulturpflege der deutschen Heimatvertriebenen, einer Menschengruppe, deren Erlebnisgeneration uns langsam, aber sicher verlässt und in welcher wir einen Erinnerungs- und einen Identitätstransfer schaffen müssen, sind Investitionen und Nachhaltigkeit unerlässlich. Wir dürfen diesen Bereich nicht kaputtsparen, wie das noch unter dem Vorwand einer Professionalisierung im Naumann’schen Konzept angelegt war und welches wir durch diese Konzeption endlich überwinden. Die vorliegende Weiterentwicklung setzt wieder die richtigen Zeichen. Es geht um einen partizipativen Ansatz, der allen Aspekten einer lebendigen, zukunftsorientierten und professionellen Kulturarbeit Rechnung trägt, und es geht nicht um Heraushebung, sondern um Beseitigung eines weitestgehenden Ausschlusses, für den es keine Gründe gab. Dafür danke ich ausdrücklich der Bundesregierung und der für diesen Bereich verantwortlichen Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die diese wichtige Weichenstellung umgesetzt hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) Ich freue mich besonders, dass die Selbstorganisationen der deutschen Heimatvertriebenen und Aussiedler wieder stärker eingebunden werden und deren gute Arbeit, die – übrigens grenzüberschreitend – ausdrücklich auch in den Herkunftsgebieten, Frau Kollegin Hupach, Anerkennung erfährt, so weiter ermöglicht wird. Denn gerade sie sind wichtige Partner, wenn es um den Erhalt dieses kulturellen Schatzes geht. Wir dürfen sie mit dieser Arbeit nicht alleine lassen. Gerade deshalb gibt es § 96 BVFG mit einem klaren, verbindlichen gesetzgeberischen Auftrag. Mit der Weiterentwicklung der Konzeption werden wieder Kulturreferenten für Regionen vorgesehen, die aus unerklärlichen Gründen vorher abgeschafft worden waren. Diese sind unerlässlich. Auch die Förderung einiger Museen wird verbessert, was ich nur begrüßen kann. Museen machen Kultur und Geschichte für jedermann greifbar und erfahrbar und sind so wichtige Eckpfeiler der Darstellung und Vermittlung dieser Inhalte. Eines darf man nicht verkennen: Kulturarbeit und Erinnerungstransfer sind identitätsstiftend. Und vergessen wir nicht die Kultur in den Heimatgebieten. Hier haben der Zweite Weltkrieg und das folgende Unwesen der kommunistischen Herrschaft ihr Übriges geleistet. Siebenbürgen, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde als Teil Rumäniens während des Kommunismus zu einer wirtschaftlich notleidenden Region, blieb aber unglaublich reich an Kultur, an Traditionen und an Bräuchen. Hermannstadt, die wunderbare Stadt, in der ich aufwachsen durfte, wurde um 1147 gegründet; die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 1191. Dort entstand damals ein überwiegend moselfränkisch basierter Dialekt, eine Ausgleichsmundart, das Siebenbürgisch-Sächsisch. Wer versteht denn morgen noch, wenn ich sage: „Wo Kängd uch Hangd Paluckes werjen, do äs menj Himet Sieweberjen“? Auf Hochdeutsch: Wo Kind und Hund Paluckes würgen, ist meine Heimat Siebenbürgen. – Siebenbürgisch-Sächsisch ist eine der ältesten noch erhaltenen deutschen Siedlersprachen aus dem 12. Jahrhundert, die heute noch von etwa 200 000 überwiegend in Deutschland lebenden Personen gesprochen wird. Es wäre schön, wenn das so bliebe. Paluckes, ein einfacher, aber umso schmackhafterer Maisbrei, steht in der zitierten Redewendung übrigens als Metapher für eine von Wohlstand und Reichtum gelöste, unbedingte Liebe zu Heimat, zu Kultur und zu Traditionen. Diese dürfen wir nicht aufgeben. Das Bewusstsein dieser Identität und die Rückkopplung zu den Heimatgebieten macht Heimatvertriebene und die heute in den Heimatregionen als deutsche Minderheit lebenden Heimatverbliebenen zu wichtigen Brückenbauern im Europa des 21. Jahrhunderts. Diese Verbindung gilt es zu fördern und auszubauen. Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen: Das kulturelle Erbe der deutschen Heimatvertriebenen gehört uns allen. Es darf nicht, in Kisten verpackt, in Archiven verschwinden oder totgespart werden. Es muss lebendig bleiben und unter Einbeziehung der Kultureinrichtungen der Heimatvertriebenen finanziell so ausgestattet und gefördert werden, dass es im grenzüberschreitenden Austausch mit unseren Partnern in Europa gesichert und zukunftsorientiert weiterentwickelt werden kann. Mit der aktuellen Konzeption leisten wir genau das. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/7730 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 289 zu Petitionen Drucksache 18/8092 In dieser Sammelübersicht sind die Eingaben betreffend das Arbeitslosengeld II zusammengefasst. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Markus Paschke für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Markus Paschke (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Selten haben wir als Mitglieder des Petitionsausschusses hier im Plenum des Deutschen Bundestages die Möglichkeit, so öffentlich über an uns herangetragene Petitionen zu reden. In diesen Petitionen werden ja die Probleme der Bürgerinnen und Bürger aufgegriffen. Auf Antrag der Linken reden wir heute über die Petition von Frau Inge Hannemann, die für die Linken Abgeordnete in der Bürgerschaft der Hansestadt Hamburg ist. In ihrer Petition fordert sie, dass alle Sanktionen und Mitwirkungspflichten abgeschafft werden. Letztendlich also möchte Frau Hannemann eine Art bedingungsloses Grundeinkommen. Aber ich sage: Geld allein genügt nicht. Das bedingungslose Grundeinkommen löst nicht die Probleme der Menschen. Die meisten von ihnen wollen aus der Arbeitslosigkeit heraus und am Arbeitsleben teilhaben. Auch ich meine, dass wir die Sanktionspraxis verändern müssen. Ich sage allerdings auch deutlich, dass ich Sanktionen nicht generell abschaffen will. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Wir müssen eine Balance zwischen Fordern und Fördern schaffen, mit dem Ziel, allen Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, wieder eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dafür ist Arbeit ein wesentlicher Faktor. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Schwerpunkt im SGB II muss auf dem Fördern liegen; dann kann man auch fordern. Erziehung gehört allerdings nicht zu den Zielen der Grundsicherung. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! – Katja Kipping [DIE LINKE]: Schön wär’s! Schikane!) Deshalb: Wer sich mutwillig verweigert, der sollte auch sanktioniert werden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dabei dürfen allerdings die Kosten für Wohnung und Heizung in keinem Fall gestrichen werden; (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) denn das Anwenden des Sozialgesetzbuches kann und darf nicht die Gefahr von Obdachlosigkeit heraufbeschwören. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich bedauere zutiefst, dass die entsprechenden Vorschläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe nicht aufgegriffen wurden. 15 von 16 Bundesländern hatten sich für diese Reform ausgesprochen. Falls jemand nicht weiß, welches Bundesland sich nicht der Auffassung der anderen Bundesländer angeschlossen hat: (Katja Kipping [DIE LINKE]: Bayern!) Das war Bayern. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist immer dasselbe!) Da die CSU Bestandteil der Großen Koalition in Berlin ist, kann man daraus schließen, woran das gescheitert ist. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Ist ja noch nicht durch! Das können Sie noch ändern!) Auch schärfere Sanktionen für unter 25-Jährige sind – das haben uns alle Experten in einer Anhörung gesagt – schädlich. Sie führen dazu, dass sich jugendliche Arbeitslose komplett aus unserer Gesellschaft verabschieden. Statt Kooperation erfolgt Resignation. Das ist also völlig konträr zu dem, was wir wollen. Wir dürfen keinen Jugendlichen verlieren oder gar verloren geben. Hamburg und mittlerweile auch viele andere Kommunen beweisen mit ihren Jugendberufsagenturen, (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Union sollte mal besser zuhören! Er redet Wahres!) dass man erfolgreich ist, wenn man auf Sanktionen weitgehend verzichtet. Vertrauen und Hilfsangebote sind also das Mittel der Wahl. Bei Leistungen nach dem SGB II handelt es sich auch um einen Interessenausgleich, um einen Interessenausgleich zwischen Leistungsempfänger und Leistungsgeber. Leistungsgeber, das sind wir alle, das ist unsere Gesellschaft. Ich denke, unsere Gesellschaft hat einen Anspruch darauf, dass sich jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, diese Unterstützungsnotwendigkeit zu beenden. Aber: Wir haben auch die Pflicht, diejenigen, die sich bemühen, zu unterstützen, egal in welchem Bereich sie Unterstützung benötigen. Weil dieser Interessenausgleich in der Petition keine Rolle spielt, lehnen wir den Änderungsantrag der Linken heute ab. Danke schön. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schwaches Argument!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Katja Kipping (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stehe heute hier, um für ein wichtiges Petitionsanliegen zu werben. Es geht um Freiheit, um Sanktionsfreiheit. Kurzum: Es geht um die Abschaffung des Hartz-IV-Sanktionssystems, die längst überfällig ist. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Paschke, wenn Sie hier Sanktionsfreiheit fälschlicherweise gegen das Recht auf einen guten Arbeitsplatz auszuspielen versuchen, dann muss ich noch einmal eines in Erinnerung rufen: Betroffen von Hartz-IV-Sanktionen sind nicht nur Erwerbslose, die verzweifelt nach einem Arbeitsplatz suchen, sondern auch Aufstockende. So zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Kindern, die zwar einen 30-Stunden-Arbeitsplatz hat, aber, weil der Lohn so niedrig ist, dass sie damit nicht über die Runden kommt, Anrecht auf aufstockende Leistungen hat. Man ahnt, wie sich eine solche Frau im Alltag abhetzen muss. Job, Kinder und dann noch die gesamte Ämterbürokratie zu managen, das ist wahrlich kein Pappenstiel. Dieser Frau ist einmal ein Termin durchgerutscht, weil sie auf Arbeit gefragt war, (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Oh Gott! Dann wird sie sicherlich nicht gleich sanktioniert werden!) und sie wurde sofort sanktioniert. Allein dieses Beispiel macht deutlich: So kann es nicht weitergehen. (Markus Paschke [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!) – Das ist ein realer Fall. Er wurde ordentlich recherchiert und nachgewiesen. (Beifall bei der LINKEN) Initiiert wurde diese Massenpetition von Inge Hannemann. Inge Hannemann folgt dieser Debatte übrigens zusammen mit dem Team von sanktionsfrei.de oben auf der Tribüne. Schön, dass ihr da seid! (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Inge kennt das Jobcenter von innen als Mitarbeiterin, und sie sitzt jetzt für die Linke in der Hamburger Bürgerschaft. Sie hat mir gesagt: Aus meiner jahrelangen Erfahrung weiß ich: Jede Sanktion wirkt kontraproduktiv, weil sie die Betroffenen in die Resignation treibt. 90 000 Menschen unterstützen diese Petition. Ich finde, allein diesen 90 000 schulden wir, dass wir das jetzt nicht einfach zur Seite schieben, sondern an diesem Thema dranbleiben, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zumal das Ziel der Sanktionsfreiheit auch von großen Organisationen unterstützt wird: Diakonie, Parität, IG Metall. Die Diakonie begründet ihre Positionierung übrigens damit, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist und man das Ebenbild Gottes nicht sanktioniert. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Wenn die Linken Gott anführen, wird es ganz eng in diesem Land!) Solch eine christliche Nächstenliebe überzeugt selbst mich als Konfessionslose. (Beifall bei der LINKEN) Ja, wir als Linke kämpfen schon lange gegen die Hartz-IV-Sanktionen, und das aus gutem Grund; denn die Angst vor diesem Sanktionssystem führt dazu, dass Menschen in Bewerbungsgesprächen familienunfreundliche Arbeitszeiten und niedrige Löhne akzeptieren. Dieses Sanktionssystem ist also auch ein Angriff auf die Arbeitsstandards. Es abzuschaffen, ist also sowohl im Interesse von Erwerbslosen wie auch im Interesse von Beschäftigten, die gute Arbeit wollen. (Beifall bei der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Schwachsinn!) Eine Sanktion entspricht einer Kürzung von Grundrechten. Ich bin überzeugt: Grundrechte kürzt man nicht. Auch deshalb hat die Linke im Petitionsausschuss beantragt, „die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen“. Dazu muss man wissen: Das deutsche Petitionsrecht kennt als intensivste Form der Zustimmung keine andere Formulierung als diese. Doch SPD wie CDU konnten sich im Ausschuss nicht einmal dazu durchringen, die Petition zur Berücksichtigung an die Bundesregierung zu überweisen. Hier wird es doch wieder einmal offensichtlich: Sie wollen die Bundesregierung nicht mit den Nöten der Erwerbslosen und Aufstocker behelligen. Ihre Ablehnung der Petition zeigt einmal mehr: Sie verstehen sich weniger als Vertretung der Bevölkerung, Sie verstehen sich vor allem als Vollstreckerin der Wünsche der Bundesregierung, und das finde ich höchst peinlich. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Markus Paschke [SPD]: Wir verstehen uns als Vertreter der gesamten Bevölkerung!) Wenn Sie sich so aufregen: Sie haben ja die Möglichkeit, mir das Gegenteil zu beweisen. Sie können beim Rechtsvereinfachungsgesetz sehr wohl noch eine Änderung vornehmen. (Dagmar Ziegler [SPD]: Wir lachen nur über Sie! Wir regen uns nicht auf!) Wenn Sie die besonders scharfen Sanktionen abschaffen wollen, dann setzen Sie sich doch einmal durch, dann hauen Sie mit der Faust auf den Tisch und lassen Sie sich hier nicht ständig von Bayern vorführen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mit der Ablehnung der Petition wird wieder einmal mehr deutlich: Ein würdevolles Leben in diesem Lande steht unter Vorbehalt. Wer nicht spurt, bekommt die Existenznotpeitsche zu spüren. Das bedeutet politisches Mittelalter, und ich finde, das müssen wir überwinden. (Beifall bei der LINKEN) Besonders empörend ist doch Folgendes: Selbst innerhalb der strengen Gesetzeslage werden fehlerhafte Sanktionen verhängt. Bei 36 Prozent aller Widersprüche, bei 40 Prozent aller Klagen bekommt der Kläger ganz oder teilweise recht. Das heißt also, auch bei den Sanktionen gilt: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Deshalb ist es umso wichtiger, dass es Initiativen wie sanktionsfrei.de gibt. Diese Onlineplattform möchte Menschen, die von Sanktionen bedroht sind, ermuntern, sich auch juristisch zu wehren. Hut ab vor eurem Engagement! (Beifall bei der LINKEN) Ich verspreche zum Abschluss: Wir als Linke werden weiterhin unermüdlich gegen das Hartz-IV-Sanktionssystem kämpfen. So wie wir beim Mindestlohn nicht nachgelassen haben, so werden wir in diesem Fall auch nicht Ruhe geben, bis das Hartz-IV-Sanktionssystem abgeschafft und durch gute Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzt ist. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So machen wir das! – Dagmar Ziegler [SPD]: In der Linkenfraktion lässt sich gut arbeiten, oder? Schauen Sie sich einmal die Arbeitsverhältnisse mit Ihren Mitarbeitern in Ihrer Fraktion an!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke! Auf die Initiative Ihrer Fraktion hin beraten wir heute eine Sammelübersicht von 103 verschiedenen Petitionen hier im Plenum des Bundestages. Mich hat erstaunt, dass unsere Ausschussvorsitzende, Frau Steinke, hier nicht reden durfte, und dass dafür mit Katja Kipping eine ausgewiesene Arbeitsmarktpolitikerin gesprochen hat. (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das ist zum Glück egal, zu welchem Tagesordnungspunkt die redet!) – Stellen Sie bitte eine Frage, dann habe ich mehr Zeit, Frau Kollegin. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Die kann auch eine persönliche Erklärung abgeben, wenn es die Präsidentin erlaubt!) Lassen Sie sich gesagt sein, Frau Kipping: Nicht wer am lautesten schreit, hat recht. Auch wenn Sie eine Forderung hier immer wieder und, wie vorhin, sehr voluminös wiederholen, wird sie davon nicht richtiger. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie waren, Frau Kollegin Kipping, in der Zeit Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales, in der dieses Problem materiell-rechtlich im Ausschuss für Arbeit und Soziales behandelt wurde. Im letzten Jahr waren Sie bereits nicht mehr Ausschussvorsitzende, da waren Sie Fraktionsvorsitzende. (Widerspruch bei der LINKEN – Katja Mast [SPD]: Parteivorsitzende!) – Oder stellvertretende, was weiß ich. – Auf jeden Fall: Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat am 14. Januar 2015 die jetzt hier zur Debatte stehende Petition beraten. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Wenn Sie die Fakten genauso schlecht recherchieren wie meine Position, dann wundert mich gar nichts mehr!) Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat am 29. Juni 2015 eine umfangreiche Ausschussanhörung durchgeführt, auch zu dieser Petition. Dieser war die sogenannte Hannemann-Petition zugrunde gelegt, über die wir jetzt im Rahmen des Änderungsantrags gesondert beraten. In dieser Ausschussanhörung war auch die von Ihnen zitierte Diakonie zugegen. Wir haben also genau dieses Problem, die Frage der Sinnhaftigkeit einer Abschaffung von Sanktionen im Hartz-IV-Bereich, im federführenden Ausschuss eingehend beraten. Am 23. September 2015 hat der Ausschuss für Arbeit und Soziales abschließend über die Petition beraten und mitgeteilt, dass dem Anliegen nicht entsprochen werden konnte. Was Sie jetzt über den Petitionsausschuss hier versuchen, ist, so eine Art Superrevisionsinstanz zu schaffen. Das heißt, Sie stellen das Fachwissen des Petitionsausschusses im Bereich Arbeit und Soziales über das, was der Ausschuss für Arbeit und Soziales in dieser Sache schon entschieden hat, und das kann eigentlich so nicht richtig sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Udo Schiefner [SPD] – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so billig, Herr Lehrieder! Das ist so billig! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 90 000 Unterschriften!) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, vor dem Hintergrund der altbekannten Forderung nach Abschaffung der Sanktionsmöglichkeiten bei Hartz IV haben wir im federführenden Ausschuss – ich habe auf die Daten hingewiesen –, aber auch schon in der öffentlichen Anhörung des Petitionsausschuss das ganze Anliegen sehr eingehend geprüft, und wir sind mehrheitlich zu der Auffassung gekommen, dass das Verfahren abgeschlossen werden soll. Daran wird sich auch durch die heutige Debatte nichts ändern. Wir haben nicht nur in dieser Wahlperiode, sondern auch in den vergangenen Wahlperioden, in denen Sie, Frau Kipping, Vorsitzende des federführenden Ausschusses waren, ausführlichst darüber debattiert und werden entsprechend handeln. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung? Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ja, selbstverständlich, von Frau Pothmer immer gerne. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank. – Herr Lehrieder, Sie haben gerade die Anhörungen zum Thema Sanktionen angesprochen. Sie haben darauf hingewiesen, dass die Mehrheit der Sachverständigen sich eindeutig positioniert hat und dass Sie dem folgen. Haben Sie auch zur Kenntnis genommen, dass sich die absolute Mehrheit aller Sachverständigen in jeder Anhörung zu diesem Thema dafür ausgesprochen hat, dass die Sondersanktionen für unter 25Jährige in jeder Hinsicht kontraproduktiv sind? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wären Sie bereit, diesem Votum der Sachverständigen auch Folge zu leisten? Ansonsten muss hier auch die Frage erörtert werden: Welchen Sinn haben Anhörungen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Liebe Frau Kollegin Pothmer, herzlichen Dank für die Frage. Es ist natürlich so, dass in jeder Sachverständigenanhörung unterschiedliche Meinungen geäußert werden. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist aber keine unterschiedliche Meinung geäußert worden! – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es waren alle einer Meinung, Herr Lehrieder!) Natürlich wird der Ausschuss aus der Sachverständigenanhörung einen Schluss ziehen müssen. Das haben wir damals im Ausschuss für Arbeit und Soziales getan, und zwar mit der Begründung: „Fördern und Fordern“ betrifft nicht nur die über 25Jährigen, sondern auch die Heranwachsenden, die Jugendlichen, die durch Sanktionen zum Einhalten von Terminen angehalten werden. Ich möchte auf Ihre Einlassung, Frau Kipping, noch eingehen. Wenn ich beim Jobcenter einen Termin unverschuldet versäumt habe, dann gibt es keine Sanktionen. – Frau Kipping hat eine Frage. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Sie lassen die Frage oder Bemerkung zu? Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ja, freilich. Vizepräsidentin Petra Pau: Bitte schön. Katja Kipping (DIE LINKE): Herr Lehrieder, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es formal, laut Gesetz nicht möglich ist. Tatsache aber ist: Der von mir zitierte Fall ist nicht ausgedacht, sondern von einer ehemaligen Mitarbeiterin eines Jobcenters geprüft worden. Selbst Ihre Bundesregierung hat bestätigt, dass ein Teil der Widersprüche recht bekommt, dass also falsche Sanktionen verhängt werden. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Es werden auch manchmal Fehler gemacht!) Das Problem ist nur: Wenn einmal jemand sanktioniert ist, dann muss man sich erst einmal wehren. Die Bearbeitung des Widerspruchs dauert eine ganze Weile. (Dagmar Ziegler [SPD]: Das hat mit dem Gesetz nichts zu tun!) Das Klagen dauert eine ganze Weile. Wir reden hier über Leute, die kein finanzielles Polster haben, die womöglich gar kein Geld mehr haben, um bis zum Monatsende über die Runden zu kommen. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Als wenn das so schwer ist, eine Maßnahme oder einen Termin zu besuchen!) Vor diesem Hintergrund können Sie es sich nicht so einfach machen und es den Mitarbeitern in den Jobcentern in die Schuhe schieben, dass es deren Fehler sei; denn sie stehen unter einem enormen Einsparungsdruck. Deswegen frage ich Sie: Was gedenken Sie zu tun, damit es wenigstens nicht zu falschen Sanktionen kommt? (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Billig!) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Frau Kollegin Kipping, herzlichen Dank für die Frage. Sie gibt mir die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass auch bei Sanktionen über Lebensmittelgutscheine das Existenzminimum immer gewahrt wird. Das heißt, wer einen Widerspruch oder eine Klage eingereicht hat – wo Menschen handeln, können auch Fehler passieren; da gebe ich Ihnen recht –, wird nicht in seinem Existenzminimum beschnitten. Statt einer Zahlung bekommt er Lebensmittelgutscheine. Das ist für eine Übergangszeit zumutbar. Das System von Hartz IV „Fördern und Fordern“ ist hier nicht unlogisch. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Wo sollen die den denn einlösen! Haben Sie einmal versucht, so einen Gutschein einzulösen?) – Bitte? (Katja Kipping [DIE LINKE]: Haben Sie einmal versucht, so einen Gutschein einzulösen? – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ist das jetzt ein Gespräch?) – Ich selber habe noch keine Kürzung erhalten, Frau Kollegin Kipping. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber sich mit Leuten unterhalten! – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Frau Präsidentin!) Über die Frage der verbesserten Einlösbarkeit von Lebensmittelgutscheinen werden wir uns sicherlich Gedanken machen, wenn so etwas vorkommt. Aber das Problem gibt es nicht flächendeckend. Noch einmal: Es wird deswegen niemand in seinem Existenzminimum beschnitten. Es muss niemand verhungern. Die Skandalisierung, die Sie als Linkspartei immer wieder zum HartzIV-System vortragen, hat keine Grundlage. Eine motivierte Gruppierung, die Massenpetitionen einreicht, reicht allein nicht aus, um die Sinnhaftigkeit des Systems von „Fördern und Fordern“ – bleiben Sie bitte stehen, Frau Kipping, ich bin noch nicht fertig – infrage zu stellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Eine Gruppierung von 90 000 Leuten!) Das wird durch die Lautstärke und durch Wiederholen auch nicht wahrer. Meine Damen und Herren, wir haben das Thema ALG II nicht nur im Bereich Arbeit und Soziales – dorthin gehört es fachlich – lange gemeinsam debattiert. (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) – Herr Ernst, eine Frage, bitte! Sie wedeln in der letzten Reihe mit den Armen. Stellen Sie mir eine Frage, dann kann ich darauf eingehen. – Auch im Petitionsausschuss haben wir die Sanktionen bei der Besprechung zahlreicher Eingaben bereits behandelt; ich habe darauf hingewiesen. So wurde die Leitakte dieser Sammelübersicht beispielsweise im Rahmen einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses beraten – auch das habe ich bereits gesagt –, an der auch die zuständige Parlamentarische Staatssekretärin, Frau Kollegin Lösekrug-Möller, und damit die Bundesregierung beteiligt war; sie hat auch ausführlich Stellung bezogen. Was Sie heute fordern, ist eine erneute Überweisung der Petitionen an die Bundesregierung, die auch nicht zu einer neuen Erkenntnis führen würde, weil wir genau diese Massenpetition der öffentlichen Anhörung zugrunde gelegt hatten. Meine Damen und Herren, zudem gab es vier Stellungnahmen des zuständigen Ministeriums. Auch da war die Regierung beteiligt. Betreiben Sie bitte auch hier insoweit keine Legendenbildung. Es handelte sich um ein sogenanntes Verfahren nach § 109 der Geschäftsordnung des Bundestages. Schließlich führen wir die heutige Debatte im Deutschen Bundestag. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, sehr geehrte Frau Ausschussvorsitzende Steinke, sehr geehrte Frau Kollegin Kipping, auf all diesen Diskussionsebenen des parlamentarischen Verfahrens haben Sie diesbezüglich unsere Argumente und auch die der Bundesregierung zur Kenntnis genommen und auch Ihre Ansichten ausführlich darlegen dürfen. Die Tatsache, dass Sie nunmehr eine Sammelübersicht mit über 100 Petitionen im Plenum beraten möchten, lässt bei mir den Eindruck entstehen, dass es Ihnen gar nicht darum geht, den einzelnen Petenten zu helfen. Sie benutzen vielmehr die Petenten, um hier zum wiederholten Mal die Abschaffung der HartzIV-Sanktionen auf großer Bühne zu fordern, um zu skandalisieren. Ich will Ihnen eines sagen: Ich bin in den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestag gegangen, weil mir die Anliegen der kleinen Leute wichtig waren. Es kann nicht darum gehen, dort im Nachhinein mit großem Buhei die Schlachten zu wiederholen, die in den Fachausschüssen bereits geschlagen wurden. Liebe Frau Kollegin Kipping, missbrauchen Sie den Petitionsausschuss nicht für die Skandalisierung irgendwelcher Vorgänge, die längst in den Fachausschüssen behandelt worden sind. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das steht in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages!) Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich freue mich auf den nächsten Antrag zur Abschaffung von Sanktionen im HartzIV-Bereich. (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Man kann Gesetze ändern! Dazu ist der Deutsche Bundestag da!) Es wird von Ihnen in Kürze – das ist so sicher wie das Amen in der Kirche – wieder ein solcher Antrag kommen. Wir werden wieder mit großer Gründlichkeit darüber beraten. Ob wir zu einem anderen Ergebnis kommen werden, kann ich Ihnen nicht versprechen, Frau Kipping. Alles Gute. Ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenende. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir heute die Petition von Inge Hannemann diskutieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Herr Lehrieder, wir diskutieren heute eben nicht einen Antrag im Ausschuss für Arbeit und Soziales, sondern eine Petition. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!) Der Petitionsausschuss sollte sich endlich etwas ernster nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Die Petition von Inge Hannemann war öffentlich stark präsent. Zuletzt hatten 91 500 Menschen die Petition mitgezeichnet. Bei der öffentlichen Anhörung hat nicht einmal der Europasaal ausgereicht. Die Anhörung wurde zusätzlich in einen anderen Saal übertragen. Das zeigt, das Thema Sanktionen treibt viele Menschen um. Sinn und Zweck von Petitionen ist es doch, etwas über die Stimmung in der Bevölkerung zu erfahren, eine Einschätzung zu erhalten, ob Gesetze ihre Ziele erreichen und welche Probleme bestehen. Mein Verständnis bei solchen herausragenden Petitionen ist: Wir sollten die Argumente ernst nehmen und bedenken, einfach mal innehalten und den Blickwinkel etwas weiten. Damit meine ich nicht nur uns, den Petitionsausschuss, sondern auch die Bundesregierung. Weil diese Petition stellvertretend für viele, viele Einzelpetitionen steht, hätte sie es wahrlich verdient, dass sich die Bundesregierung damit beschäftigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Die Petition zeigt: Die Sanktionen sind umstritten. Dafür gibt es durchaus bedenkenswerte Argumente. Haben Erwerbslose aufgrund von Sanktionen weniger Geld, dann kann das vielfältige Folgen haben. Es besteht die Gefahr der Obdachlosigkeit, der Mangelernährung und der Entstehung von Schulden. Vor allem führen Sanktionen häufig zu einem Rückzug aus dem sozialen Umfeld. Gesellschaftliche Isolation macht etwas mit den Menschen; es entstehen Selbstzweifel, Unsicherheit, Ängste. All das ist nicht förderlich für eine Integration in den Arbeitsmarkt. Das sollten Sie endlich einmal bedenken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Sanktionen suggerieren auch, Arbeitslosigkeit sei selbstverschuldet. Aber was sind denn die Gründe, warum Menschen lange arbeitslos bleiben? Geringe Qualifikation, Krankheit; manche sind nur zu alt, manche haben die falsche Nationalität, manche sind alleinerziehend. Unsere Arbeitswelt ist nicht inklusiv, sondern sehr exklusiv. Das ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches und letztendlich auch ein politisches Problem; denn es fehlt an Unterstützung, es gibt zu wenig finanzielle Mittel und somit zu wenig passende Angebote. Sanktionen helfen da nicht weiter. Langzeitarbeitslose brauchen vielmehr Chancen und Perspektiven. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Sehr geehrte Regierungsfraktionen, wir kennen Ihre Haltung, aber Sie haben doch selbst in Ihrem Koalitionsvertrag Handlungsbedarf ausgemacht. Warum tun Sie dann nichts? Ein Beispiel: Ein Großteil der Sanktionen erfolgt aufgrund von Meldeversäumnissen. Da sind Sanktionen zu hart, und sie verändern auch nichts; das zeigen die alljährlich hohen Zahlen. Die Frage müsste doch vielmehr sein: Wie kann das vermieden werden? Was ist da schiefgelaufen? Vor allem ist es ein extrem bürokratischer Aufwand; Inge Hannemann hat es in der Anhörung sehr deutlich belegt. (Katja Mast [SPD]: Die Frage ist doch, ob die Grünen die Sanktionen abschaffen wollen oder nicht, Beate!) Sanktionen binden viel Zeit, viele Kräfte und letztendlich viel zu viel Geld. Zeit und Engagement brauchen wir an anderer Stelle, und zwar bei der Beratung und Unterstützung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katja Mast [SPD]: Abschaffen oder nicht, Beate?) – Dazu komme ich noch, liebe Kollegin. Dann geht es noch um die verschärften Sanktionen für die unter 25Jährigen; es gab eben schon eine entsprechende Frage dazu. Sie sind nicht akzeptabel, und das war – auch ich sage es noch einmal – auch die Meinung der Expertinnen und Experten bei allen öffentlichen Anhörungen. Es gibt eine Studie aus NRW zu den Sanktionen, aus der deutlich hervorgeht: Sanktionen erhöhen nicht die Motivation. Im Gegenteil: Junge Menschen reagieren nur mit kurzfristigen Jobs. Das ist keine nachhaltige Strategie. Vor allem verlieren sie auch das Vertrauen in die Jobcenter und sind nur noch schwer erreichbar. Besonders harte Strafen sind hier der absolut falsche Weg. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis – insbesondere die Damen und Herren der CSU –, und schaffen Sie die verschärften Sanktionen für junge Menschen ab! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Notwendig wären darüber hinaus ein Wunsch- und Wahlrecht, damit die Angebote wirklich passen, Ombudsstellen, um Konflikte zu vermeiden und zu lösen, und notwendig wären vor allem Hilfe und Unterstützung auf Augenhöhe. Immerhin spricht die Bundesagentur für Arbeit immer von „Kunden“, dazu braucht es eine partnerschaftliche Zusammenarbeit. Deshalb fordern wir, liebe Katja Mast, ein Sanktionsmoratorium, (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) bis freie, faire Regeln etabliert sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Denn wir wollen eine armutsfeste Grundsicherung. Wir wollen, dass bei der Integration in den Arbeitsmarkt auf Unterstützung, Motivation und Chancen gesetzt wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vor allem – ganz kurz zurück zum Anfang – wünschen wir uns einen Petitionsausschuss, der offen ist für Anregung und Kritik; denn nur wer die Anliegen der Menschen kennt, macht auch gute Politik. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Katja Mast [SPD]: Klare Ansagen sind etwas anderes, Beate!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU): Mehrere Beratungen in den Ausschüssen Arbeit und Soziales und Petition, mehrere Debatten hier im Plenum, öffentliche Anhörungen im Petitionsausschuss und im Ausschuss Arbeit und Soziales – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! –, und wieder einmal debattieren wir heute über die Abschaffung der Sanktionen im SGB II. Sozialleistungen bedarfsunabhängig und voraussetzungslos zu leisten, das ist im deutschen Sozialrecht nicht vorgesehen. In der Sammelübersicht 289 zu Petitionen, über die wir heute debattieren, geht es um 103 Petitionen. Sie von den Linken aber greifen in Ihrem Änderungsantrag eine von Ihnen öffentlich platzierte Petition heraus, sie beleuchten ausschließlich die Perspektive dieser einen Petentin und erklären diese für allgemeingültig. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie scheren somit alle Anliegen der 103 Petitionen über einen Kamm. Aber ich frage Sie: Sind die darin geschilderten Verläufe nicht sehr unterschiedlich und auch individuell? (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer! Immer!) Lassen Sie mich aus einer anderen Petition dieser Sammelübersicht berichten. In einem Schreiben teilt ein Petent dem Jobcenter mit, dass er seinen Termin beim Ärztlichen Dienst nicht wahrnehmen werde, da er hierfür keinen Anlass sehe. Gleichzeitig sagt er den Termin beim Ärztlichen Dienst selbstständig ab. Ziel dieses Untersuchungstermins war es, die Erwerbsfähigkeit des Petenten und damit seine körperliche Leistungsfähigkeit festzustellen. Dieser Fall zeigt eine fehlende Mitwirkung des Petenten. Der Petent ist seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen. Aber das Mitwirken des Betroffenen ist doch wichtig, um ihm in der Beratungskette des Jobcenters entsprechende Angebote machen zu können. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie wollen doch hier nicht allen Ernstes behaupten, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es sich bei der Mitwirkungspflicht um eine Form von Gängelung von Menschen im SGBII-Bereich handelt. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Artikel 1 Grundgesetz!) Vielmehr ist es eine notwendige Maßnahme, um gemeinsam miteinander arbeiten zu können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) Auch diese Schilderung des Sachverhalts entspricht der Realität. Sie entspricht vereinzelt dem Alltag von Jobcentermitarbeitern. Zur Realität gehört auch – das sollten wir einmal zur Kenntnis nehmen –, dass das Bundesverfassungsgericht sowohl 2010 als auch 2012 festgestellt hat, dass Sanktionen weder gegen das Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums noch gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit verstoßen. Die Parlamentarische Staatssekretärin Lösekrug-Möller hat dies bei der öffentlichen Anhörung im Petitionsausschuss zu diesem Thema noch einmal betont. Zur Wahrheit gehört auch – das wurde heute Morgen schon angesprochen –, dass beim SGB II das Fördern und Fordern im Vordergrund steht und nicht das Sanktionieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Sanktionen stehen erst am Ende einer langen Beratungskette. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Personal!) Unser Sozialgesetz erwartet Mitwirkung, indem Termine wahrgenommen und persönliche Unterlagen eingereicht werden, (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) ebenso dass auf Angebote zur Weiterbildung reagiert wird und Vorschläge zur Beschäftigung angenommen werden. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit gerade denjenigen Menschen gegenüber, die diesen Sozialstaat durch ihre Erwerbstätigkeit erst ermöglichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Beratungsangebote, Hilfen und Unterstützung können nur in wechselseitigen Beziehungen erfolgreich sein, und die Mitarbeiter in den Jobcentern engagieren sich großartig. Unsere Aufgabe in der Politik ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit erfolgreiche Arbeitsvermittlung stattfinden kann. Wir sind dabei, Rechtsvereinfachungen und Änderungen im SGB II vorzunehmen. Den Grundsatz unserer Sozialgesetzbücher, die Mitwirkungspflicht, werden wir nicht aufgeben. Von daher ist die Abschaffung von Sanktionen für uns kein Thema. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Udo Schiefner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Udo Schiefner (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kipping, ich muss hier einmal ganz deutlich sagen: Wer dem Mindestlohn nicht zustimmt, darf meiner Meinung nach nicht mit Belehrungen oder Vorwürfen in dieser Debatte kommen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh nein!) Ihr Beitrag zielte mehr auf Effekthascherei ab als auf eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Auch das muss man an dieser Stelle deutlich sagen. Ich möchte für meine Fraktion noch einmal betonen: Erstens. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Schiefner, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Birkwald? (Günter Baumann [CDU/CSU]: Es wird nicht besser dadurch!) Udo Schiefner (SPD): Bitte. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Herr Kollege, haben Sie herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Der gesetzliche Mindestlohn ist nicht eine Erfindung der SPD. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Der gesetzliche Mindestlohn wurde das erste Mal von unserer Vorvorvorgängerpartei, der PDS, in den Deutschen Bundestag eingebracht. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Kerstin Griese [SPD]: Franz Müntefering!) Als Zweite hat die Gewerkschaft NGG einen gesetzlichen Mindestlohn gefordert. Drittens. Ich erinnere mich an eine Parteiveranstaltung der SPD auf Bundesebene, auf der die heutige Bundesministerin für Arbeit und Soziales als Juso-Vorsitzende einen gesetzlichen Mindestlohn forderte. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann doch nicht sein! Wir reden über was anderes!) Die flammende Gegenrede dazu stammte von Franz Müntefering. Daraufhin hat sich die SPD gegen einen Mindestlohn ausgesprochen. (Katja Mast [SPD]: Wer hat es gemacht? Wir haben es gemacht!) Viertens. Es gab x-mal Antworten aus dem Bereich der Sozialdemokraten, dass ein gesetzlicher Mindestlohn Unsinn sei und dass das nur die Tarifpartner klären könnten. (Lachen bei der SPD) Nur aufgrund des Druckes der PDS, der Linkspartei, der WASG und der Linken gibt es überhaupt in diesem Land einen gesetzlichen Mindestlohn. (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Ei, ei, ei! – Und der SPD!) Als Letztes möchte ich Ihnen sagen: Die Linke hat diesem Mindestlohn nicht zustimmen können, weil er mit 8,50 Euro viel zu niedrig ist. (Beifall bei der LINKEN) Heute braucht man 11,68 Euro, um nach 45 Jahren harter Arbeit eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu haben. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht die Debatte nicht wirklich besser!) Wir Linken wollen einen Mindestlohn ohne alle Ausnahmen. Bitte: Was sagen Sie dazu? (Beifall bei der LINKEN – Katja Mast [SPD]: Wer hat ihn gemacht, den Mindestlohn?) Udo Schiefner (SPD): Lieber Kollege, was ich dazu sagen würde, wäre wahrscheinlich ein den Nachmittag füllendes Programm. Aber eines möchte ich doch feststellen: Ich möchte hier nicht die historische Debatte führen. (Zurufe von der LINKEN) Letztlich ist entscheidend, was am Ende herauskam. (Beifall bei der SPD) Das sind dank der Sozialdemokratie 8,50 Euro. (Lebhafter Beifall bei der SPD) Wäre man Ihrem Weg gefolgt, hätte man gar nichts. Ich sage ganz deutlich: 8,50 Euro sind in der Tat wirklich eine untere Grenze. Daran werden wir noch arbeiten. Aber wir waren diejenigen, die den Mindestlohn letztlich durchgesetzt haben. Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. (Lebhafter Beifall bei der SPD – Zurufe von der LINKEN) Auch den zweiten Punkt dazu möchte ich ansprechen. Dass Sie die NGG erwähnt haben, macht mich stolz als NGG-Mitglied – damit Sie das auch einmal wissen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deshalb habe ich es doch gesagt!) Auch ich habe dort für den Mindestlohn gekämpft. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber lange vor der SPD!) – Das spielt doch keine Rolle. Am Ende haben wir den Mindestlohn. Wir haben ihn dank der SPD. (Zurufe von der LINKEN) – Da können Sie noch so laut dazwischenrufen. Ihre geschichtliche Abhandlung war sehr interessant, aber am Ende ist entscheidend, was herauskommt, und das sind 8,50 Euro. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können wir mal über Sanktionen reden?) Meine Damen und Herren, um es deutlich zu machen – Kollege Paschke hat es auch schon auf den Punkt gebracht –: Ja, wir müssen die Praxis der Sanktionen beim Arbeitslosengeld II prüfen. Werden die Regelungen richtig angewandt? Werden sie auch richtig umgesetzt? So viel zum Handlungsbedarf, den wir natürlich auch erkennen. Aber wir sagen ganz klar: Nein, wir können und wollen Sanktionen nicht komplett abschaffen, denn sie gehören zum Prinzip des Förderns und Forderns. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich halte auch nichts davon, auf das Mitwirken der Menschen zu verzichten. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann wird denn geprüft?) Keine Erwartungen an die Menschen zu haben, ist kein Zeichen von Respekt in diesem System, das wir für absolut richtig halten. (Beifall bei der SPD – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss doch erst mal Strukturen schaffen, die das Fördern ermöglichen, bevor man fordert!) Ich halte nochmals fest – das wurde auch schon deutlich –: Aus Sicht der SPD gibt es Grundbedürfnisse, die von Sanktionen ausgenommen bleiben müssen. Das sind das Wohnen, das Heizen, die medizinische Versorgung sowie ausreichendes Essen. Das versteht sich für Sozialdemokraten von selbst, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Und auch für Christdemokraten! – Heiterkeit bei der SPD) – Und auch für Christdemokraten, danke Herr Kollege Mattfeldt. Auch wenn wir dem Anliegen der Petition nicht folgen, meine ich, dass wir schon stolz auf unser Petitionsrecht sein können, darauf, dass wir diese Petition an so prominenter Stelle debattieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Denn es wird deutlich: Die Petition ging an den richtigen Adressaten, den Deutschen Bundestag, den Gesetzgeber. In Petitionen geht es immer auch um die Nebenwirkungen von Gesetzen und Verordnungen. Darum haben wir den Handlungsbedarf bei der Überprüfung. Aber es geht auch darum, dass Petitionen genau geprüft und genau beurteilt werden, um letztlich eine Entscheidung zu treffen. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und dann vom Tisch gewischt werden!) Dies ist nur möglich durch das transparente Petitionsrecht, das Artikel 17 Grundgesetz vorgibt. Sie haben eben selber den Prozess geschildert, der bei dieser Petition hinter uns liegt. Am 17. März 2015 gab es eine öffentliche Anhörung. Die Petentin hatte Gelegenheit, ihr Anliegen persönlich vorzutragen. Wir haben diskutiert mit der Petentin und Vertretern der Bundesregierung. Man kann nicht sagen, dass diese Petition nicht ausführlich im Petitionsausschuss behandelt wurde. (Zuruf von der LINKEN: Das ist auch nicht das Problem! – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hatten auch keine andere Wahl!) Wer das sagt – das muss man ehrlich und offen deutlich machen –, nimmt nicht wahr, dass wir ein ganz transparentes Verfahren hatten. Letztlich haben wir entschieden. (Zuruf von der LINKEN: Entscheidend ist das Ergebnis!) Die Entscheidung, denke ich, muss man in dieser Form respektieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das hat mit Demokratie zu tun! Das ist fremd für manche!) Ich denke, wir sollten die Bürgerinnen und Bürger ermutigen, von ihrem Petitionsrecht Gebrauch zu machen. Denn nur so werden wir über die Nebenwirkungen von Gesetzen und Verordnungen informiert. Jeder hat das Recht, seine Anliegen, seine Bedürfnisse, seine Anregungen im Rahmen des Petitionsrechts einzufordern und beim Petitionsausschuss einzureichen. Da ist nicht entscheidend, wie viele Unterschriften oder Klicks im Internet gesammelt wurden. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Richtig!) Es ist auch unwichtig, ob das Anliegen gelikt wurde. Jede Petition – dies möchte ich noch einmal betonen – wird im Petitionsausschuss dieses Hauses ernst genommen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Kersten Steinke [DIE LINKE]) Das sollten Sie bitte schön nicht infrage stellen. Unsere Arbeit im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages unterscheidet sich deutlich von den sogenannten Erregungsplattformen – so nenne ich es einmal –, die sich in den Weiten des Internets tummeln. Das ist auch gut so. Es gibt viele private Plattformen, da steht zwar auf der Packung Petition, es ist aber keine Petition drin. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das mit der Petition von Frau Hannemann zu tun?) Jetzt liest man in diesen Tagen auch noch, dass sie unter dem Verdacht stehen, Nutzerdaten missbraucht zu haben; das nur am Rande. Vor diesem Hintergrund – die heutige Debatte beweist im Gegensatz dazu doch wieder einmal mehr den Wert der echten Petition – kann ich Sie alle nur aufrufen, die Bürgerinnen und Bürger auf der Besuchertribüne, aber auch diejenigen, die dieser Debatte am Fernseher folgen: Nutzen Sie Ihr Petitionsrecht. Es lohnt sich. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Andreas Mattfeldt hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich nun auf den Sachverhalt zur Abschaffung von Sanktionen für SGB-II-Empfänger eingehe, lassen Sie mich erst einmal ein wenig über die Sinnhaftigkeit dieser heutigen Debatte sprechen. Sie lässt mich schon ein wenig zweifeln, ob Sie, die Linke, überhaupt daran interessiert sind – Kollege Schiefner hat es eben gesagt –, allen Petenten die gleiche Aufmerksamkeit zuzubilligen, oder ob Sie nur dort aktiv sind, wo es Ihnen politisch in den Kram passt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Widerspruch bei der LINKEN) Aus gutem Grund war und ist es gängige Praxis, die Sammelübersichten zu Petitionen nicht im Plenum des Bundestages, sondern im zuständigen Ausschuss zu beraten. Über jede einzelne Petition hier im Plenum zu debattieren – das muss man einfach sagen –, wäre weder inhaltlich noch organisatorisch noch zeitlich zu leisten. Dann müsste sich das Plenum des Bundestages nur noch mit Petitionen befassen. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das wäre toll!) Darum sind die Petitionen im Petitionsausschuss genau richtig aufgehoben. Dort haben wir den Raum, um auf sachlicher Ebene auf jede Petition einzugehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Kommen wir einmal zu einem Beispiel in der Übersicht. In der Petition 60 schreibt der Petent in der Begründung zur Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen, diese seien unverantwortlich gegenüber den Einzahlern. Wissen Sie, als Familienvater, als Haushaltspolitiker, aber vor allem auch als jemand, der nicht sein ganzes Leben im oder vom öffentlichen Dienst gelebt hat, interpretiere ich es für die fleißigen Einzahler genauso, aber natürlich in eine andere Richtung. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Angestellten dort zahlen übrigens auch ein!) Auch ich sage: Eine Abschaffung von Sanktionen ist unverantwortlich und setzt genau das falsche Signal. Deshalb ist Ihre Forderung hier heute ganz deutlich abzulehnen. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Tosender Beifall!) Eine Abschaffung der Sanktionen wäre unverantwortlich gegenüber denjenigen, die jeden Tag hart arbeiten, damit dieser Sozialstaat und damit auch die Hartz-IV-Leistungen finanziert werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie denn damit sagen?) Im Sinne des Forderns und des Förderns wollen wir Hartz-IV-Beziehern helfen, wieder eine Arbeit zu bekommen. Die gute Lage am Arbeitsmarkt mit der geringsten Zahl an Arbeitslosen seit 25 Jahren und der höchsten Zahl der Beschäftigten – es sind fast 44 Millionen Menschen – und 640 000 offenen Stellen bietet hierzu eine ausgesprochen gute Ausgangslage. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Genau!) Dies war nicht immer so. Ich gebe ja zu, dass es 2005 bei über 5 Millionen Arbeitslosen weitaus schwieriger war, nach Verlust des Jobs wieder in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was will er uns damit sagen?) Heute sieht das zum Glück anders aus, dank kluger Politik und auch dank der Einführung der Hartz-IV-Gesetze, die wir, die Union, immer mitgetragen haben. Sie von den Grünen haben sie übrigens mit eingeführt; davon wollen Sie heute anscheinend nichts mehr wissen. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Manche sind eben einsichtig! – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind ja lernfähig! – Günter Baumann [CDU/CSU]: Das haben sie vergessen!) Heutzutage fällt es auch bei geringerer Qualifikation erheblich leichter, einen Job zu finden, als 2005. Als Unternehmer in der Lebensmittelbranche weiß ich, wovon ich hier spreche. Meine Damen und Herren, der Steuerzahler investiert erheblich, um gerade von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Menschen mit Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen zu helfen. Dies geschieht natürlich in der Erwartung, dass diese Maßnahmen dazu beitragen, dass der von Arbeitslosigkeit Betroffene – man darf übrigens sagen: auch mit eigener Anstrengung – wieder einen Job findet. Ihr Vorschlag, keine Sanktionen auszusprechen, wenn zum Beispiel vereinbarte Termine beim Jobcenter ignoriert, Weiterbildungsmaßnahmen grundlos abgebrochen oder Vorstellungstermine nicht wahrgenommen werden, würde bedeuten, dass wir die Hälfte des Prinzips „Fördern und Fordern“ einfach streichen. Das Fordern, das zumindest bei den meisten Menschen auch notwendig ist – das gilt übrigens auch für mich ganz persönlich –, fände dann nicht mehr statt. Wenn Sie die Sanktionen abschaffen, fordern Sie die Menschen nicht mehr. Das bedeutet für mich, Sie geben diese Menschen de facto auf. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das ist doch Quatsch! Was für eine absurde Argumentation! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach was! – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch absurd, Herr Mattfeldt!) Wir von der Union geben keinen Menschen auf, auch und gerade, weil wir wissen, dass es Lebenssituationen gibt, die nicht einfach sind. (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Kipping [DIE LINKE]: Das ist echte Argumentation!) Meine Damen und Herren, ich kann und will den fleißigen Mitarbeitern in unserem Unternehmen nicht erklären, warum sie jeden Tag pünktlich zur Arbeit erscheinen müssen, während ein Hartz-IV-Empfänger, wenn es nach Ihnen ginge, ohne jede Gegenleistung bedingungs- und sanktionslos jeden Monat sein Geld bekommen soll. (Dagmar Ziegler [SPD]: So ist es!) Ich weiß, Sie wollen das nicht hören – einige, gerade die Mitglieder des Petitionsausschusses, wissen, dass ich Mitglied im Club der deutlichen Aussprache bin; daher müssen Sie das ertragen –: Ja, ich habe es in unserem Unternehmen leider nicht nur einmal erlebt, dass es eben auch Langzeitarbeitslose gibt, denen man eine echte Chance auf dem Arbeitsmarkt bzw. eine Chance, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren, geben möchte, diese aber häufig nicht einmal zum Vorstellungsgespräch erscheinen oder schon nach ein oder zwei Tagen – bitte verzeihen Sie meine Ausdrucksweise – einfach ab und an keinen Bock mehr haben, zu arbeiten. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Mattfeldt, das sind ganz miese Unterstellungen!) Natürlich – das weiß ich – ist das nicht die Mehrheit. Aber gerade für diese schwierigen Fälle brauchen wir Sanktionen, übrigens auch – diese Menschen vergessen Sie in Ihrer Argumentation immer –, um uns vor diejenigen zu stellen, die ernsthaft daran interessiert sind, wieder einen Job zu finden. Das ist zum Glück die große Mehrheit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Mattfeldt, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Müller-Gemmeke? Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Aber selbstverständlich. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, dass ich eine Frage stellen darf. Nachdem ich Ihrer Rede eine Weile zugehört habe, habe ich immer mehr den Eindruck, dass Sie indirekt, zwischen den Zeilen, permanent den Eindruck erwecken wollen, als wenn die Sanktionen notwendig wären, weil Langzeitarbeitslose in der Regel einfach nicht arbeiten wollen. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Das hat er überhaupt nicht gesagt! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Nein, das stimmt nicht! – Er hat doch gesagt, das ist die Ausnahme!) – Das schwingt für mich die ganze Zeit mit. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja, weil Sie das gerne so hätten!) Daher möchte ich nachfragen, ob das wirklich Ihre Haltung und Ihre Meinung ist. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Nein!) Zum Zweiten möchte ich fragen, ob Sie wirklich meinen, dass die Strukturen momentan so ausgestaltet sind, dass Langzeitarbeitslose tatsächlich passende Angebote, Chancen bekommen und dass ihnen Perspektiven eröffnet werden. Denn trotz guter Konjunktur – Sie haben das ausgeführt – ist es definitiv so, dass sich die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt hat. Da muss man sich die Strukturen und die Mittel doch einmal anschauen und überlegen, wie so etwas passieren kann. (Beifall der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Katja Kipping [DIE LINKE]) Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Liebe Frau Müller-Gemmeke, vielleicht haben Sie nicht richtig zugehört. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!) Sie interpretieren meine Worte so, wie Sie es gerne hätten. Die Lebenswirklichkeit sieht eben anders aus, als Sie sie darstellen. Gerade wir von der Union stellen sehr viel Geld für Weiterbildungsmaßnahmen bereit, um die Langzeitarbeitslosen, bei denen es manches Mal wirklich Vermittlungshemmnisse gibt, so zu qualifizieren, dass sie eine Arbeit bzw. eine Beschäftigung aufnehmen können. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum hat sich die Langzeitarbeitslosigkeit dann verfestigt?) Frau Müller-Gemmeke, wir wissen aber, dass der Mensch so ist, wie er ist. Der Mensch braucht das ein oder andere Mal – gerade wenn er seit vielen Jahren beschäftigungslos ist – auch einen gewissen Druck, damit er Termine wahrnimmt, zu Vorstellungsgesprächen erscheint und diese Maßnahmen aufnimmt, und ich darf Ihnen sagen: Wenn die Gesellschaft bereit ist, dem jeweiligen in Not befindlichen Menschen Mittel für einen vorübergehenden Zeitraum zu geben, dann ist es doch nun wirklich nicht zu viel verlangt, dass dieser Mensch dann auch etwas zurückgibt. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn hier jemand etwas missverstehen will, dann versteht er das Prinzip „Leistung – Gegenleistung“ nicht. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Anreize“!) – Nun bin ich dran, Frau Müller-Gemmeke. Wir sollten hier kein Zwiegespräch führen. Ich glaube, das wäre nicht im Sinne des Plenums. Frau Müller-Gemmeke, ich komme aus der Wirtschaft und weiß sehr wohl, dass es heute Stellen gibt, die eben nicht für jeden Langzeitarbeitslosen geeignet sind. Wir können aber doch nicht die Augen davor verschließen, dass wir in Deutschland 640 000 unbesetzte Stellen haben, und das sind nicht nur hochqualifizierte Stellen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also dann stimmt doch was mit den Strukturen nicht!) Diese Stellen können auch Langzeitarbeitslosen angeboten und von ihnen in Anspruch genommen werden. (Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt Platz – Cajus Caesar [CDU/CSU], an Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Aufstehen! – Gegenruf der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat lang genug herumgeschwafelt! Er hat nicht geantwortet!) Meine Damen und Herren, vielleicht sollten wir jetzt auch einmal die Fakten betrachten. Gerade bei den Ausführungen der Grünen und der Linken hat man den Eindruck, als würde in Deutschland permanent sanktioniert werden. Das ist eben nicht Fall. Im Gegenteil: Wir müssen uns manchmal fragen, ob wir hier nicht sogar zu großzügig sind. Sie wissen ganz genau, dass eben nicht immer beim ersten Versäumnis, sondern in fast allen Fällen erst nach der dritten Ermahnung sanktioniert wird. (Cajus Caesar [CDU/CSU]: Ja!) Lediglich 3 Prozent der SGBII-Empfänger wurden 2015 sanktioniert. Allein hieran sehen Sie, dass diese Motivationshilfe sehr zurückhaltend eingesetzt wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken und – das muss ich jetzt auch sagen – der Grünen, es bleibt wohl dabei, dass wir von der Union uns um die Langzeitarbeitslosen, die enorme Anstrengungen unternehmen, um wieder einen Job zu finden, und um diejenigen kümmern, die diese sozialen Errungenschaften mit harter Arbeit finanzieren, während Sie ausschließlich die Interessen derjenigen vertreten, die einfach keinerlei Anstrengungen unternehmen wollen, um wieder einen Job zu bekommen. (Widerspruch bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb sind die Vorschläge, Sanktionen abzuschaffen, abzulehnen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Kipping [DIE LINKE]: Vielen Dank! Ihre Rede werden wir weitertragen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich Ihnen zur Kenntnis: Mir liegen sieben persönliche schriftliche Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Entsprechend unseren Regeln nehmen wir sie zu Protokoll.1 Ich gebe das Wort an die Kollegin Kerstin Kassner zu einer persönlichen Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung. (Beifall bei der LINKEN) Kerstin Kassner (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es vorweg: Ich werde dagegenstimmen, dass diese Petition damit erledigt ist. Ich werde dafür stimmen, dass sie zur Berücksichtigung an die Bundesregierung, an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, überwiesen wird, (Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das wird nicht ganz reichen!) weil ich denke, dass hier noch viel getan werden muss. Gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung kann ich das mit ein paar Worten begründen: Ich bin 2013 sehr bewusst in den Petitionsausschuss gegangen. Ich denke, eine Politik macht nur Sinn, wenn wir sie ganz nah an den Sorgen, Problemen und Hinweisen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ausrichten. Die Petitionen, die auf unseren Tisch kommen, sind wirklich ein Seismograf für das, was die Menschen empfinden. (Beifall bei der LINKEN) Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Ich spreche keiner meiner Kolleginnen und keinem meiner Kollegen im Petitionsausschuss – das gilt für alle, die dort sind – ihren Arbeitswillen, ein wirkliches Herangehen und echtes Abarbeiten und ihr Kümmern ab, wenn es um die Anliegen der Petenten geht. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Alle!) – Alle, die dort sind. Allerdings muss ich eins sagen: Es gibt Unterschiede. An dieser Petition wird der Unterschied sehr deutlich. Immer dann, wenn man sich von seinen Überzeugungen, seinen Erfahrungen verabschiedet und sich zum verlängerten Arm der Bundesregierung macht, dann wird zweifelhaft, ob es wirklich die Aufgabe eines Parlamentes ist, so zu handeln. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Nur eine Begründung, keine Rede!) Es ist unser Anspruch als Mitglied dieses Bundestages, die Sorgen, Probleme und Nöte der Menschen in unserem Land tatsächlich aufzunehmen, uns darum zu kümmern und ihre Forderungen in Gesetze zu gießen. Das müssen wir unserem Gewissen und unseren Wählern gegenüber verantworten. Diese Pflicht haben wir. Der Umgang mit dieser Petition macht mich wirklich wütend. Mehr als 90 000 Unterstützer für eine Petition haben wir in unserem Petitionsausschuss nicht oft. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Erklärung zur Abstimmung!) Es ist wirklich sehr deutlich zum Ausdruck gebracht worden, welche Sorgen die Menschen haben und wie wenig die Sanktionen an den Bedingungen für die Menschen tatsächlich ändern. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Frau Präsidentin, das ist keine Erklärung zur Abstimmung! – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das Thema hatten wir gestern schon mal! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist extra Redezeit, Frau Pau! – Günter Baumann [CDU/CSU]: Das geht nicht!) – Natürlich geht das. Ich erkläre, warum ich so stimmen werde. (Beifall bei der LINKEN) Die Sanktionen werden die Situation nicht ändern. Es wird weiter viele Langzeitarbeitslose geben. Die Bedingungen, unter denen die Menschen zu leben haben, werden dadurch schwieriger. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Frau Präsidentin!) Vizepräsidentin Petra Pau: Und deshalb? Kerstin Kassner (DIE LINKE): Ich möchte, dass die Petition an die Bundesregierung überwiesen wird. (Christel Voßbeck-Kayser [CDU/CSU]: Das ist eine Rede! Schon seit drei Minuten!) Ich sage noch einmal ganz deutlich, dass die Bundesregierung mit dieser Petition nicht unbedingt gezwungen ist, den Ansatz vollständig umzusetzen. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Das ist länger als die normale Redezeit! – Christel Voßbeck-Kayser [CDU/CSU]: Das ist gegen die Geschäftsordnung!) Vielmehr muss sie sich mit dem berechtigten Anliegen auseinandersetzen. (Beifall bei der LINKEN) Ich finde, das ist das, was wir von der Regierung verlangen müssen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben wir alles getan! – Christel Voßbeck-Kayser [CDU/CSU]: Hier wird das Plenum missbraucht!) Deshalb – das sage ich ganz deutlich – habe ich den Antrag gestellt, dass wir der Bundesregierung diese Petition überweisen, (Dagmar Ziegler [SPD]: Das haben Sie schon dreimal gesagt!) damit sie in der Lage ist, sich mit diesem, wie ich finde, berechtigten Anliegen auseinanderzusetzen. (Zurufe von der CDU/CSU: Frau Präsidentin!) Vizepräsidentin Petra Pau: Deshalb stimmen Sie wie ab? Kerstin Kassner (DIE LINKE): Ich sage es ganz deutlich: (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Jetzt ist Schluss!) Wir haben hier im Plenum immer das letzte Wort zu allen Petitionen. Meist wird die Abstimmung in einem formalisierten Verfahren durchgeführt. Aber angesichts dieser Petition mit 90 000 Unterstützern ist es an dieser Stelle wichtig, dass wir alle uns dazu positionieren. (Christel Voßbeck-Kayser [CDU/CSU]: Eine Erklärung kann nicht fünf Minuten dauern!) Sie haben jetzt die Möglichkeit, Ihre Haltung zu dieser Petition zu ändern. Deshalb möchte ich an Sie alle appellieren, sich an die Erkenntnisse aus den Anhörungen zu erinnern, (Günter Baumann [CDU/CSU]: Unvorstellbar!) dass nämlich die Sanktionen gerade für junge Menschen wirklich kontraproduktiv sind. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ganz im Gegenteil!) Daher sollten Sie sich noch einmal überlegen, an diesem Gesetz tatsächlich Änderungen vorzunehmen, die diesen Forderungen Genüge tun. (Beifall bei der LINKEN) Ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie mir zugehört haben. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Nein!) Ich denke, es ist ein sehr wichtiges Anliegen (Günter Baumann [CDU/CSU]: Es geht noch weiter!) und eine sehr gute Möglichkeit, sich mit dem, was Menschen bewegt, auseinanderzusetzen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Damit alle wissen, auf welcher Geschäftsgrundlage wir verhandeln: Nach § 31 unserer Geschäftsordnung ist es möglich, am Ende der Aussprache vor der abschließenden Abstimmung eine mündliche Erklärung, die nicht länger als fünf Minuten dauern darf, (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Zum Abstimmungsverhalten!) oder eine kurze schriftliche Erklärung abzugeben. Genau das ist hier geschehen. Die fünf Minuten waren nicht ausgeschöpft. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Zur Abstimmung!) – Eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten. – Das diskutieren wir nicht hier im Plenum. (Beifall bei der LINKEN) Wenn es Beschwernisse gibt, haben wir verabredet, diese an einem anderen Ort zu behandeln, so wie das auch gestern geschehen ist. (Dagmar Ziegler [SPD]: Genau! Das kommt!) Ansonsten: Zumindest ich persönlich habe gehört, wie die Kollegin abstimmen will. Alles andere werden wir dann an anderer Stelle klären. Wir kommen zur Abstimmung über die Sammelübersicht 289. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/8236 vor. Über diesen stimmen wir zuerst ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Damit kommen wir zur Abstimmung über die Sammelübersicht 289 auf Drucksache 18/8092. Wer stimmt für die Sammelübersicht? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 289 ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zur Vergabe von Wegenutzungsrechten zur leitungsgebundenen Energieversorgung Drucksache 18/8184 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Sobald die notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionen abgeschlossen sind, können wir fortfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Johann Saathoff (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Prooten is een Saak, man Doen is een Ding“ hätte ich jetzt gesagt, wenn ich meine Muttersprache benutzt hätte. Das kann man wörtlich fast nicht übersetzen. Man kann es aber sinnbildlich mit den Worten „Reden ist Silber, und Handeln ist Gold“ übersetzen. Und handeln wollen wir jetzt. Wir sind in der ersten Lesung zur Reform des § 46 EnWG. Und es ist gut, dass wir in der ersten Lesung dazu sind. Am 3. Februar hat es einen Kabinettsbeschluss dazu gegeben. Ich denke, wir können an dieser Stelle schon zu Beginn der parlamentarischen Verhandlungen miteinander konstatieren, dass dieser Gesetzentwurf ein Entwurf ist, der den Kommunen entgegenkommt und ihnen auch hilft. Worum geht es in diesem Gesetzentwurf? Es geht um die Vergabe von Konzessionen, also um die Betriebserlaubnis von Strom- und Gasnetzen. Und diese Betriebserlaubnis ist verfassungsgemäß den Gemeinden – ich betone das ausdrücklich – und nicht nur den Kommunen – das ist ein Unterschied – überlassen. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass es mit diesem Gesetzentwurf erstmalig auch einen richtig fairen Interessenausgleich zwischen Alt- und Neukonzessionären gibt und dass die Gemeinden in der Rechtssicherheit massiv gestärkt werden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht in diesem Gesetzentwurf um den Kaufpreis für die Netze. Lange Zeit war unklar, wie hoch der Kaufpreis tatsächlich sein würde. Jetzt ist der objektive Ertragswert festgelegt worden. Das ist gut so, und das erzeugt ein ganzes Stück Rechtssicherheit und Klarheit für die Kommunen. Es geht darum, dass man, wenn man die Vergabe der Netze abgewickelt hat, nicht noch jahrelang in Rechtsunsicherheiten sein muss, sondern dass die Rückobliegenheiten des Altkonzessionärs begrenzt werden. Die Verfahren werden deutlich kürzer. Das begrüßen wir ausdrücklich. Wir hätten gerne noch zusätzlich aufgenommen, dass der Streitwert tatsächlich in der Höhe auf 100 000 Euro begrenzt wird, sodass es auch in dieser Beziehung kein Damoklesschwert für die Gemeinden gibt. Wir begrüßen ausdrücklich, dass es einen Auskunftsanspruch der Gemeinden gibt. Das heißt, die Gemeinden können künftig entscheiden, in welchem Verfahren sie mitbieten wollen. Früher mussten sie raten. Ausdrücklich zu begrüßen ist auch, dass im Gesetzentwurf festgelegt ist, dass die Pflicht zur Fortzahlung der Konzessionsabgabe über das eine Jahr hinaus – so war es bisher geregelt – unbegrenzt weiterbesteht, sodass niemand in zeitliche Not gerät und aus dieser zeitlichen Not heraus vielleicht eine Entscheidung treffen muss, die er später einmal bereut. Es gibt aber auch Diskussionsbedarf, insbesondere bei den Kriterien. Ich will aber von vornherein sagen, dass mir als ehemaliger Bürgermeister – man könnte auch sagen: Altbürgermeister – ganz wichtig ist, dass die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft künftig Berücksichtigung finden können. Das ist ganz, ganz wichtig; denn die Bedingungen sind nicht überall in Deutschland gleich. Diese Berücksichtigung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft war für die Gemeinden ein ganz wichtiges Thema, und diese wird stattfinden. Ich glaube, dass wir keinen Bedarf haben, noch einmal besondere Kriterien herauszustellen. Ich habe ein bisschen Sorge, dass, wenn wir in § 46 EnWG die Kriterien Versorgungssicherheit und Kosteneffizienz noch einmal extra aufführen, obwohl sie in § 1 des EnWG schon enthalten sind, der eine oder andere Jurist auf die Idee kommen könnte, dass diese Kriterien wichtiger seien als andere Kriterien, weil sie zweimal genannt werden. Mir geht es darum, dass die Kriterien aus § 1 EnWG gleich häufig genannt werden und mit gleichem Gewicht gelten. (Beifall bei der SPD) Ich freue mich über konstruktive Beratungen miteinander. Aber ich finde, dass wir auch zügig beraten sollten. Denn wir brauchen jetzt endlich nach langer Zeit Rechtssicherheit für die Kommunen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zweieinhalb Jahre habt ihr gebraucht!) Ich habe anfangs gesagt: Reden ist Silber, Handeln ist Gold. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns den Kommunen beweisen, dass wir das ernst meinen, und lassen Sie uns dafür sorgen, dass dieser Gesetzentwurf zügig Recht und Gesetz wird. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, lange hat es gedauert. Es gab ja, wie ich denke, eine Verschleppung dieses wichtigen Themas der Vergabe der Verteilnetze bei Strom und Gas. Wir als Linke haben dazu schon vor langer Zeit einen Antrag eingebracht. Bereits der Koalitionsvertrag enthält das Versprechen, bei Neuvergabe der Verteilnetze die Rechtssicherheit zu verbessern; denn die Regelung im Energiewirtschaftsgesetz hierzu ist mehrdeutig und liefert die Kommunen einem großen Prozessrisiko aus; Sie haben es kurz angesprochen, Kollege Saathoff. Viele Vergaben sind jetzt leider schon gelaufen – auch so kann man Probleme lösen – und oft zuungunsten der Kommunen entschieden worden. Es ist ja ein offenes Geheimnis, dass bei diesem Thema die CDU ein Problem mit ihren eigenen Bürgermeistern hat, allen voran dem CDU-Bürgermeister von Titisee-Neustadt, Armin Hinterseh, der derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht klagt. Ich wünsche ihm alles Gute und viel Erfolg. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Er will es sich einfach nicht gefallen lassen, dass seine Kommune das Verteilnetz nicht an sich selbst vergeben darf. CDU-Kollege Bareiß aus dem benachbarten Wahlkreis – er wohnt nämlich sozusagen direkt nebenan – hat ganz deutlich gesagt, dass für ihn nicht die kommunalen Interessen im Mittelpunkt stehen, sondern angeblich die Kunden. Hört! Hört! Ich sehe da aber keinen Widerspruch, (Johann Saathoff [SPD]: Ich auch nicht!) sondern eher besondere Interessen gewisser Herren und ein Misstrauen gegenüber den Kommunen. Das finde ich schade, denn – das kann ich nur noch einmal sagen – hier werden die Interessen der Kommunen ignoriert. Wir halten das für falsch und für ignorant. (Beifall bei der LINKEN) Auch die Chefin des baden-württembergischen Städtetags und Mitglied des Bundesvorstands der CDU – sie ist also nicht irgendjemand – kritisiert ganz massiv Ihr Vorgehen. Wir kritisieren das auch. Deswegen haben wir im Bundestag Anträge dazu eingebracht und das Thema immer wieder angesprochen. Wir lehnen es ab, dass Kommunen heute gezwungen sind, die Konzession ihres Verteilnetzes ohne Berücksichtigung kommunaler Belange auszuschreiben und zu vergeben. (Beifall bei der LINKEN) Seitdem sind ja bereits etliche Konzessionen neu vergeben worden – auf einer gesetzlichen Grundlage, die überaus unklar und schwierig ist. Der Regelungsbedarf an dieser Stelle ist himmelschreiend. Aber Sie sitzen das Thema aus. Ich halte das für peinlich und schlimm; das zeigt nur, dass Sie von der CDU/CSU gerade nicht an der Seite der Kommunen stehen. (Beifall bei der LINKEN – Ingbert Liebing [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!) Bürgerenergie, regionale Wertschöpfung, Ökostadtwerke, Stärkung der Kommunen, Regionalisierung der Energieversorgung – all das ist für Sie von der Union anscheinend kein Thema. Denn der Besitz des Verteilnetzes ist eine wichtige Voraussetzung für Kommunen, die eine eigenständige Energieversorgung, zum Beispiel ein Ökostadtwerk, entwickeln wollen. Aber diese Entwicklung wollen Sie offensichtlich nicht. Das sehen wir auch am EEG-Entwurf, mit dem Sie die dezentrale Energiewende torpedieren und durch Ausschreibungspflicht zentralistische Tendenzen unterstützen. Zwischen 2007 und 2014 sind 85 Prozent der rund 1 400 Verteilnetze an den alten Konzessionär vergeben worden. Hier sind Chancen für eine dezentrale Energiewende vertan worden, weil in Berlin nicht gehandelt wurde – vertan für weitere 20 Jahre! Man muss wissen: Die Konzessionen laufen 20 Jahre. Vorher kann man sie nicht kündigen. In dem Gesetzentwurf sprechen Sie sich ausdrücklich gegen Inhousevergaben aus, wofür wir, Die Linke, uns entschieden einsetzen. Wir sind dafür von Ihnen von der Union ja immer gegeißelt worden – mit dem alten Vorwurf, wir wollten Staatswirtschaft und lehnten Wettbewerb ab. Wir sagen: Das ist Unsinn und blanker Hohn gegenüber den Kommunen. Inhousevergaben gibt es in den Niederlanden, und zwar sehr erfolgreich; sie sind vollständig durch das Europarecht gedeckt. Ja, und dort – jetzt erschrecken Sie vielleicht – gibt es sogar ein Privatisierungsverbot für Verteilnetze, das 2013 als europarechtskonform vom Europäischen Gerichtshof bestätigt wurde. (Beifall bei der LINKEN) Wir, die Linke, finden innovative Ökostadtwerke gut – dafür gibt es viele Beispiele; da gibt es wirklich tolle Sachen – so wie das im hessischen Wolfhagen. Dort hat man sogar einen Teil des Stadtwerks in eine Bürgerenergiegenossenschaft ausgelagert, die wiederum Anteile am Stadtwerk besitzt. Das ist eine Form von Bürgerbeteiligung, und Bürgerbeteiligung wollen viele Menschen. Es gibt eine ganze Reihe von Politikern, die in ihren Wahlkreisen ständig über Bürgerbeteiligung reden. Wenn es aber in Berlin wirklich ernst wird, dann stimmen sie dagegen. Ich sage: Wir brauchen eine solche Bürgerbeteiligung. Auch im Sinne der Klimabeschlüsse sind Bürgerenergie und örtliche Netze eine ganz wichtige Sache. Das vorliegende Gesetz verhindert leider die Vergabe an die Kommunen. Deshalb sagen wir Nein. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Ingbert Liebing hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf den ersten Blick mag es so anmuten, dass wir nur über einen einzelnen Paragrafen des Energiewirtschaftsgesetzes sprechen, eine Kleinigkeit. Aber es ist ein Paragraf mit großer Bedeutung für die Energiewirtschaft, für die Verteilnetzbetreiber und eben auch für die Kommunen als Konzessionär, die die Konzessionen für die Leitungsnetze vergeben. Hier hat es in der Vergangenheit große Rechtsunsicherheiten gegeben. Es gab viele Prozesse, die die Vergabe der Konzessionen in die Länge gezogen und für Unsicherheit gesorgt haben, sodass Investitionen in das Netz auf der Strecke geblieben sind. Dieser Zustand ist unbefriedigend gewesen. Wir wollen das nun mit dem vorliegenden Gesetz ändern. Der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung nun vorlegt und den wir als Koalition durch die parlamentarischen Beratungen bringen wollen, ist gut. Aber selbstverständlich gilt: Auch ein guter Gesetzentwurf kann noch verbessert werden. Kollege Saathoff hat schon auf einige Diskussionspunkte hingewiesen, mit denen wir uns in den parlamentarischen Ausschussberatungen noch befassen werden. Aber ich bin sicher: Wir sind mit diesem Gesetzentwurf schon auf einem guten Weg, liebe Freunde. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Unser oberstes Ziel bei diesem Gesetz ist, mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Es geht eben nicht um die Punkte, die Sie in den Vordergrund gestellt haben, Frau Bulling-Schröter, es geht nicht um Schlagworte wie Rekommunalisierung. Aber wenn wir Rechtssicherheit durch entsprechende Regelungen schaffen, handeln wir auch im Interesse der Kommunen. Hier mehr Rechtssicherheit zu schaffen, dient doch allen Beteiligten. Das gilt für die Alt- und Neukonzessionäre genauso wie für die Kommunen, die das Konzessionsverfahren zu regeln haben. Deswegen leistet mehr Rechtssicherheit auch einen Beitrag zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung vor Ort und hilft den Kommunen, die schwierigen Rechtssituationen und Rechtsstreitigkeiten der Vergangenheit zu überwinden. Auch das dient den Kommunen, meine Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir reden hier über die Verteilnetze. Gerade die Verteilnetze sind wichtig für den Erfolg der Energiewende; denn über 90 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien wird in die Verteilnetze eingespeist. Deswegen brauchen wir auch Investitionen in die Verteilnetze. Investitionen erreichen wir nur dann, wenn wir Rechtssicherheit haben. Auch das ist ein wichtiges Argument dafür, dass wir mehr für Rechtssicherheit tun. Dabei bekennen wir uns zum Wettbewerb, Frau Bulling-Schröter. Da sind wir in der Tat inhaltlich anderer Auffassung. Es geht nicht um Inhousevergabe, sondern wir wollen den Wettbewerb. Aber wir wollen ihn rechtssicher gestalten. Das ist im Übrigen auch in der Familie der kommunalen Unternehmen unstrittig. Ich darf aus einer Stellungnahme des Verbandes kommunaler Unternehmen zitieren, in der es ausdrücklich heißt: Der Wettbewerb um Strom- und Gasnetzkonzessionen, der seit den 90erJahren im EnWG verankert ist, hat sich in den letzten Jahren als wichtiges Element der Förderung des Wettbewerbs auf den Energiemärkten … etabliert. Als „wichtiges Element“ – das ist eine positive Würdigung des Wettbewerbs. Daran halten wir fest. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie mal weiter! Danach kommt die Inhousevergabe!) Dem widerspricht eine Inhousevergabe. Wir setzen auf den Wettbewerb. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie weiter, was im Text noch kommt!) Wettbewerb braucht aber rechtssichere Spielregeln, und die schaffen wir mit diesem Gesetzentwurf. Es sind fünf Aspekte, die ich aus meiner Sicht kurz skizzieren und begründen möchte. Das wichtigste Anliegen ist, dass wir beim Netzkaufpreis Klarheit schaffen. Auch Kollege Saathoff hat schon positiv gewürdigt, dass mit dem Vorschlag des objektivierten Ertragswerts der Streit beendet wird, ob nun das Ertragswertverfahren oder das Sachwertverfahren gewählt wird. Dieser Streit kann nicht mehr vor Gericht ausgetragen werden. Wir schaffen hier Klarheit. Wir schaffen Klarheit für die Kommunen, welche Auskunftsrechte sie bekommen. Denn wie sollen Kommunen vernünftig ausschreiben, wenn sie nicht über alle Informationen vom Altkonzessionär verfügen, die sie brauchen? Auch das regeln wir. Die zeitlich gestaffelte Rügeobliegenheit ist wichtig; denn es kann nicht sein, dass zwei Jahre nach Abschluss eines Verfahrens noch der Rechtsweg beschritten werden kann. Wir setzen eine enge Frist von wenigen Wochen, innerhalb der eine Vergabe gerügt werden kann. Danach gilt eine Entscheidung. Auch das schafft Rechtssicherheit. Das gilt auch für die Vorschrift, dass die Konzessionsabgabe zwingend fortzuzahlen ist, sodass ein Klageweg nicht davon befreit, die Konzessionsabgabe zu leisten. Auch dies liegt im Interesse der Kommunen und schafft ebenfalls Rechtssicherheit. Der letzte und fünfte Punkt ist für mich auch im Interesse der Kommunen sehr wichtig, weil wir neben den Kriterien, die § 1 Energiewirtschaftsgesetz als Vergabekriterien aufgibt, auch festlegen, dass örtliche Belange ein Kriterium sein können. Damit bekommen die Kommunen mehr Gestaltungsmöglichkeiten in die Hand. Das ist gut, das stärkt die Kommunen, und es zeigt, dass das, was Sie hier beschrieben haben, es sei ein Gesetzentwurf gegen die Interessen der Kommunen, mit der Wirklichkeit des Gesetzestexts nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Wir geben hiermit den Kommunen mehr Möglichkeiten in die Hand, ihre örtlichen Belange mit einzubeziehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Liebing, gestatten Sie eine Bemerkung oder Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter? Ingbert Liebing (CDU/CSU): Ja. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Danke schön, Kollege Liebing. – Ich habe hier die Zeitung Kontext:Wochenzeitung, bestimmt kein linkes Propagandablatt. In einem Artikel geht es genau um diese Kommunalverfassungsbeschwerde, die der Bürgermeister von Titisee – Sie kennen den Fall sicher – eingereicht hat. Zu dem grundgesetzlich verbrieften Recht auf Selbstbestimmung, um das es vor dem Verfassungsgericht geht, schreibt diese Zeitung: … „weil das Thema fast alle Städte und Gemeinden betrifft“, so das geschäftsführende Vorstandsmitglied Gudrun Heute-Bluhm auf Kontext-Anfrage. Die ehemalige Oberbürgermeisterin von Lörrach – sie ist Mitglied des Präsidiums des CDU-Vorstandes, also nicht irgendjemand – führt die Kritik an der herrschenden Rechtsprechung weiter aus: „Es ist für uns nicht nachvollziehbar, weshalb es der Kommune nicht möglich sein soll, parallel in einem Verfahren nach einem Konzessionär oder nach einem Kooperationspartner zu suchen und die jeweiligen Angebote gegeneinander abzuwägen.“ Stattdessen seien die Kommunen heute gezwungen, die Konzession ohne Berücksichtigung kommunaler Belange auszuschreiben und zu vergeben. Erst dann dürfe sich die Kommune überlegen, ob sie sich eine Kooperation mit dem Neu-Konzessionär vorstellen könne. Das ist doch eine deutliche Kritik von Vertretern Ihrer Partei. Dabei geht es doch um genau das, was ich angesprochen habe. Dennoch sagen Sie, dergleichen gebe es überhaupt nicht. Das ist ein Widerspruch. Ich verstehe Sie jetzt gar nicht. Ingbert Liebing (CDU/CSU): Frau Kollegin Bulling-Schröter, Sie haben doch vorgelesen, was Frau Gudrun Heute-Bluhm, die ich gut kenne und sehr schätze, gesagt hat. Sie hat den jetzigen Zustand kritisiert. Das, was sie kritisiert hat, wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir tragen der Kritik doch Rechnung. Frau Heute-Bluhm hat den aktuellen Zustand kritisiert. Es geht darum, dass wir die Verhältnisse, die wir heute haben, mit der Verabschiedung unseres Gesetzentwurfs ändern. Damit wird auch dem Anliegen von Frau Heute-Bluhm Rechnung getragen. Ich bin überzeugt: Wir sind mit diesem Gesetzentwurf zum Leitungsrecht bei der Erreichung des Ziels einer rechtssicheren Konzessionsvergabe auf einem guten Weg. Wir werden sehen, ob wir noch bessere, rechtssichere Formulierungen finden. Sie sind immer das Ergebnis intensiver Beratungen im Ausschuss. Ich bin sicher: Am Ende werden wir zu einem guten Ergebnis kommen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es vorab noch einmal klar zu sagen: Der Betrieb von Strom- und Gasverteilnetzen ist Teil kommunaler Daseinsvorsorge. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!) Für uns ist klar: Die Kommunen und niemand anders sollen entscheiden, wer die Netze betreibt. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau! – Johann Saathoff [SPD]: Tun sie auch!) Das einmal vorausgeschickt. Ich habe, ehrlich gesagt, überhaupt kein Verständnis dafür, dass Sie in § 46 dieser Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz, die ja in einem SPDgeführten Ministerium ausgearbeitet worden ist, nicht verankern, dass es eine Inhousevergabe an eine Kommune geben kann. In allen anderen Bereichen und auch im europäischen Ausland ist das üblich. Warum nicht hier? Das entzieht sich meiner Kenntnis. Das ist der erste große politische Mangel dieses Gesetzentwurfes. Der Kollege Liebing hat bei der Wiedergabe der Stellungnahme natürlich genau an der Stelle aufgehört, vorzulesen, an der der VKU die Möglichkeit zur Inhousevergabe fordert. Eine solche Vergabe wäre unbürokratisch machbar. Sie würde das Verfahren vereinfachen; damit würde das klar und deutlich geregelt. Wir haben in Deutschland 900 Verteilnetzbetreiber, die überwiegend in kommunaler Hand sind. Diese beweisen jeden Tag, dass die Kommunen gut und vernünftig Netze betreiben können. Warum soll man angesichts dessen keine Inhousevergabe möglich machen? Das verstehe ich nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Sie sagen nun, Sie wollen mehr Rechtssicherheit für den Fall schaffen – das steht in Ihrem Koalitionsvertrag –, dass der Konzessionär gewechselt werden soll. Das ist bitter nötig; das ist vollkommen klar. Man muss an dieser Stelle aber vielleicht auch ein Wort darüber verlieren, wer eigentlich dafür verantwortlich ist, dass wir diese Rechtsunsicherheit haben. Verantwortlich dafür ist Schwarz-Gelb. Ich glaube, Herr Pfeiffer, Herr Liebing, auch Sie waren schon dabei, als Schwarz-Gelb 2010 genau diesen § 46 des Energiewirtschaftsgesetzes, von dem die heutige Rechtsunsicherheit ausgeht, geschaffen hat. Die Union ist dafür verantwortlich; sie hat das Ganze sehenden Auges herbeigeführt. Ich kann mich gut an Sachverständigenanhörungen erinnern, in denen all das beschrieben worden ist, was Sie jetzt hier beklagt haben. Dass wir dieses Problem haben, liegt in der Verantwortung der vorigen Bundesregierung, in der die Union nun einmal die zentrale Verantwortung trug. Das zu sagen, gehört an dieser Stelle auch dazu, meine Damen und Herren. Jetzt einmal ganz offen gesprochen: Zweieinhalb Jahre ist Ihre Koalition alt. Nun endlich bekommen wir diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich meine, er ist ein wichtiger Schritt; er ist aber kein epochales Werk. Am Ende geht es eigentlich nur um zwei Paragrafen. Durch die von Ihnen angestrebte Problemlösung verbessern Sie in der Tat ein paar Dinge; das muss man Ihnen zugestehen. Endlich wird es, wie Sie ja schon sagten, eine Regelung hinsichtlich des Kaufpreises geben. Hier den Ertragswert zugrunde zu legen, das ist richtig. Aber die eigentliche Problematik, auf deren Basis die Konzessionsverträge angegriffen werden – ich meine die Bezugnahme auf § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes und die unbestimmten Rechtsbegriffe – und die die Vielzahl sich widersprechender Gerichtsurteile auslöst, lösen Sie überhaupt nicht. Das alles lassen Sie so, wie es ist. Sie machen es sogar noch komplizierter. Sie führen weitere Begriffe ein wie „netzwirtschaftliche Anforderungen“ oder „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ – ich habe nichts gegen die Berücksichtigung von Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft –, die zu Rechtsunsicherheit führen werden. Das wird wieder juristische Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Wettbewerbern um das Netz nach sich ziehen. Insofern löst dieser Gesetzentwurf nicht die eigentliche Problematik. Das können Sie auch in den zahlreichen Stellungnahmen nachlesen, die Sie ebenso wie ich bekommen haben. Ihr Gesetzentwurf wird an dieser Stelle den Anforderungen an mehr Rechtssicherheit nicht gerecht. Er ist am Ende weiterhin, wenn § 46 so bleibt, wie von Ihnen jetzt geplant, ein Beschäftigungsprogramm für Anwälte und Gerichte. Das haben Kommunen und Netzbetreiber an dieser Stelle nicht verdient. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]) Man kann ja fragen – Herr Beckmeyer spricht gleich noch; das BMWi und die dort arbeitenden Menschen sind ja nicht dumm; die wissen, was sie tun; denen ist das alles klar; die verfolgen auch die Debatten; die kennen die Gerichtsurteile –: Warum gibt es diese Unklarheit? Warum wird in dem Entwurf, der uns jetzt hier vorliegt, diese Unsicherheit produziert? Ich glaube, dahinter steckt ein bisschen System – (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Jetzt kommen wieder die Verschwörungstheorien!) das ist genau der Grund, weshalb die Union schon 2010 diese Rechtsunsicherheit sehenden Auges geschaffen hat –: Man will verhindern, dass Stadt- und Gemeinderäte ihren bisherigen Konzessionär – in aller Regel RWE, Eon oder EnBW – wechseln, also zu einem anderen Anbieter gehen oder ein eigenes kommunales Stadtwerk gründen. Es geht am Ende darum: Es soll den Konzernen nicht das Geschäft weggenommen werden. Das kann man am besten dadurch erreichen, dass man Rechtsunsicherheit schafft, sodass vor jeder Entscheidung in einer Ratssitzung gesagt wird: Macht das nicht mit einem anderen Netzbetreiber, denn dann lauft ihr in Rechtsunsicherheit hinein! (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Das sind übelste Unterstellungen!) Somit werden viele Netzübernahmen überhaupt nicht in Angriff genommen. Das, glaube ich, steckt am Ende dahinter. Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen ganz klar: Dieser Gesetzentwurf ist kommunalfeindlich, er läuft den Zielen einer dezentralen Energiewende zuwider, und er dient am Ende den Interessen der Konzerne, die derzeit die großen Netzbetreiber sind. Wir treten gern für mehr Rechtssicherheit ein. Wir haben dazu Vorschläge gemacht; die Linken haben dazu Vorschläge gemacht; darauf kann man sich gern verständigen. Aber dieser Gesetzentwurf löst die Probleme nicht, und das hören Sie auch allerorten aus der kommunalen Familie. Das können Sie auch nicht schönreden, indem Sie diese Probleme an der Stelle einfach ignorieren. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Uwe Beckmeyer. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bulling-Schröter, Herr Krischer, jeder bastelt sich seine Wahrheit selber, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Sie auch!) wenn er ins Gesetz schaut; jedenfalls habe ich den Eindruck. Es steht etwas klar sozusagen als Überschrift darüber: Rekommunalisierung der Energieversorgungsnetze. – Das ist etwas, über das wir lange debattiert haben, das auch im Bundesrat beraten worden ist. Merkwürdigerweise hat uns der Bundesrat gerade in dieser Frage recht gegeben. Er unterstützt ausdrücklich diese Positionierung. (Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich will an dieser Stelle sagen: Rekommunalisierung ohne wettbewerbliches Verfahren schließt das Gesetz aus. Rekommunalisierung ja, aber bitte mit wettbewerblichem Verfahren! Das ist der Unterschied. Wir geben nicht einfach etwas preis. Nach 20 Jahren ist es vielleicht ganz klug, einmal über die Netze, den Zustand der Netze, die Qualität der Netze zu sprechen und sich Klarheit darüber zu verschaffen, was das bedeutet. Also, es geht um einen fairen Wettbewerb bei der Vergabe der Energieversorgungsnetze, die wir nicht durch Gerichte klären lassen wollen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber genau das werden sie wieder tun!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will noch etwas zum Inhalt ausführen: Streitigkeiten um den Netzkaufpreis wollen wir vermeiden. Dazu wird klargestellt, dass sich der Preis nach den Erlösen zu bemessen hat, die mit dem Netz zu erzielen sind. Wenn Fehler im Vergabeverfahren frühzeitig geltend gemacht werden, ist das okay. Wer sich aber nicht rechtzeitig rührt, kann das Verfahren nicht mehr angreifen. So wird das gesamte Vergabeverfahren aus unserer Sicht deutlich robuster. Ebenfalls wird klar geregelt, welche Daten der aktuelle Netzbetreiber an die Gemeinde herausgeben muss. So wird Transparenz geschaffen, was einen fairen Wettbewerb um die Energieversorgungsnetze unterstützt. Der Entwurf enthält weiterhin die Klarstellung, dass bei der Auswahl des künftigen Netzbetreibers auch die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft Berücksichtigung finden dürfen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber dann machen Sie es so, dass es konkret ist, was es bedeutet!) Das, denke ich, stärkt die kommunalen Interessen, die beim Betrieb der örtlichen Verteilnetze von besonderer Wichtigkeit sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Netzwirtschaftliche Belange, meine sehr geehrten Damen und Herren, Versorgungssicherheit und Kosteneffizienz dürfen dem jedoch nicht entgegenstehen. Dies schafft einen sachgerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Allgemeinheit und den Belangen der jeweiligen Gemeinde. Ich glaube, dafür müssen wir letztendlich sorgen. Und das tun wir auch, indem wir auch weiterhin daran festhalten, dass bei schwebenden Verhandlungen der Gemeinde die Konzessionsabgabe nicht vorenthalten werden darf, damit sie nicht finanziell ausgehungert wird. Meine Damen und Herren, was die Inhousevergabe angeht, sage ich noch einmal ganz klar: Ohne wettbewerbliches Verfahren geht es nicht. Das ist auch mehrheitlich die Haltung der Länder. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir dafür sorgen, dass die notwendige Qualität im Netz auch tatsächlich erreicht wird. In diesem Punkt erhält die Bundesregierung auch Unterstützung vom Bundesrat, der entsprechende Anträge im Plenum abgelehnt hat. Hier ist besonders zu bedenken, welche enormen Herausforderungen die Energiewende für den Betrieb der Stromnetze mit sich bringt. Millionen dezentraler Erzeugungsanlagen sind sicher und auch kosteneffizient in das System zu integrieren. Insofern, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist es uns wichtig, dass mit dieser Gesetzesnovelle die so wichtige energiewirtschaftliche Praxis auch tatsächlich geübt wird. Daher bitte ich um zügige Beratung. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zügig? Nachdem Sie zweieinhalb Jahre darauf gesessen haben?) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Barbara Lanzinger für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht noch einmal zusammenfassend: Heute haben wir die erste Beratung dieses Gesetzentwurfs. Die Formulierung im Titel „Vergabe von Wegenutzungsrechten zur leitungsgebundenen Energieversorgung“ klingt ein bisschen kompliziert. Das hört sich schwieriger an, als es ist. Insgesamt ist es aber sehr wichtig. Kurzum geht es – das als Wiederholung – um die Rechte zur Nutzung der Gas- und Stromverteilnetze. Warum behandeln wir das Thema? Die Verteilnetze sind zum Beispiel auch jene Stromleitungen, die auf regionaler und kommunaler bzw. gemeindlicher Ebene – Herr Saathoff hat ja schon betont, dass hier die gemeindliche Ebene in den Vordergrund zu stellen ist – den Strom bis hin zum einzelnen Verbraucher transportieren. In den Verteilnetzen findet die Energiewende statt. Sie sind von zentraler Bedeutung. Die Wegenutzungsrechte sind – auch das ist schon erwähnt worden – spätestens alle 20 Jahre in einem wettbewerblichen Verfahren neu zu vergeben. In den letzten Jahren hat es in der Tat eine Vielzahl gerichtlicher Auseinandersetzungen gegeben. Auch das führt zu Verzögerungen im Netzausbau, der dringend benötigt wird. Aus diesem Grund brauchen wir – ich betone es noch einmal – Rechtssicherheit. Diese zu schaffen, haben wir auch im Koalitionsvertrag festgelegt. Das setzen wir jetzt um. Dies dient der Energiewende und den Kommunen bzw. Gemeinden und auch dem Allgemeinwohl. Im Großen und Ganzen sind die Inhalte des Gesetzentwurfs positiv zu bewerten. Die Vorschriften zur Vergabe von Wegenutzungsrechten werden konkretisiert. Die Planungssicherheit beim Netzübergang für die beteiligten Unternehmen und Gemeinden wird damit verbessert, und es wird mehr Rechtssicherheit gewährleistet. Auf einige Punkte will ich noch einmal konkret eingehen. In § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes ist unser grundlegendes Ziel festgelegt, nämlich „eine möglichst sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas“. Das ist auch der Zweck des heute zu beratenden Gesetzes. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die Wegenutzungsrechte in einem wettbewerblichen Verfahren alle 20 Jahre vergeben. Das ist kein Selbstzweck. Die Kommunen besitzen bei den Wegenutzungsrechten ein fast natürliches Monopol. Sie haben dabei eine durchaus marktbeherrschende Stellung. Der Wettbewerb um die Wegenutzungsrechte erfolgt somit nicht unbedingt im freien Markt. Die Laufzeitbegrenzung verhindert, dass das Verteilnetz vor diesem Hintergrund erstarrt. Ansonsten bestünde die Gefahr ineffektiver Ewigkeitsrechte. Eine durchaus mögliche Folge: steigende Nutzungsentgelte und somit höhere Strompreise. Das wäre zum Nachteil von Verbrauchern, Gewerbe und Industrie. Auch der Wettbewerb um die Wegenutzung dient dem Wohl des Endverbrauchers. Nur durch ein transparentes und diskriminierungsfreies Auswahlverfahren kann der geeignetste Netzbetreiber gefunden werden. In diesem Zusammenhang wird immer wieder der Punkt Rekommunalisierung aufgebracht, kombiniert mit der Forderung nach einer Inhousevergabe, das heißt Direktvergaben an kommunale Unternehmen ohne ein wettbewerbliches Auswahlverfahren. Das lehnen wir ab. Wir wollen den Wettbewerb. Lassen Sie mich betonen: An Rekommunalisierung habe ich nichts auszusetzen, wir alle nicht. Ganz im Gegenteil: Die kommunalen Akteure, Bürgerinnen und Bürger sind in die Energiewende einzubeziehen. Das schafft Akzeptanz. Bereits heute können wir einen Trend zur Rekommunalisierung erkennen. Seit 2005 wurden mehr als 200 Konzessionen von kommunalen Unternehmen übernommen. Aber auch nur dann, wenn dem ein wettbewerbliches Verfahren vorausgegangen ist, ist es auch richtig. Nur so wird der geeignete Netzbetreiber gefunden. Von Kommune zu Kommune gibt es unterschiedliche Rahmenbedingungen. Keine Kommune ist gleich. Die Entscheidung zur Übernahme von Netzen ist immer eine Einzelfallentscheidung. Deshalb muss die Kommune auch im Wettbewerb mit anderen prüfen, ob sie ein Netz übernehmen kann, ob sie dazu geeignet ist, ob sie das Know-how hat. Das kann der Fall sein – vielleicht in der Regel –, ist es aber nicht immer automatisch. Deshalb dürfen wir nicht vergessen: Bei einer Übernahme von Wegenutzungsrechten und Netzen besteht neben den hohen Kaufkosten in der Regel auch erheblicher Investitionsbedarf in die Energienetze. Es ist wichtig, dass Kommunen am Wettbewerb teilnehmen und die Auswahl anhand wettbewerblicher Kriterien auf Grundlage der in § 1 genannten Ziele erfolgt. Wettbewerb hat hier eine durchaus heilsame Wirkung. Letztendlich soll nicht die Kommune von der Ausschreibung profitieren, sondern der Kunde. Der Endverbraucher soll von dieser Ausschreibung profitieren. Darum geht es. Deshalb ist eine ausschließliche Inhousevergabe einfach nicht richtig. (Beifall bei der CDU/CSU) Das heißt jedoch nicht, dass Kommunen keinen Gestaltungsspielraum mehr erhalten sollen. Ganz im Gegenteil – Kollege Liebing hat es erwähnt –: Um die kommunalen Interessen zu stärken, ist es bedeutend, dass die örtlichen Rahmenbedingungen in den Auswahlkriterien Beachtung finden können. Genau das sieht der Gesetzentwurf vor. Entscheidungsspielraum bei der Formulierung und bei der Gewichtung der Auswahlkriterien wird gewährleistet. Das ist ein absolut richtiger Schritt. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Die Verteilnetze sind ein essenzieller Baustein im Rahmen der Energiewende. Die Kommunen sind ein ganz zentraler Akteur. Wir wollen auch weiterhin eine gute Energieversorgung für die Allgemeinheit – sicher, preisgünstig, verbraucherfreundlich, effizient und umweltverträglich – mit einem zunehmenden Anteil an erneuerbaren Energien. Dafür müssen wir auf allen Ebenen zusammenarbeiten. Auch dahin gehend werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf durchaus auf Herz und Nieren überprüfen. Ich freue mich schon auf die weiteren Beratungen zu diesem Gesetzentwurf. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner in dieser Debatte hat Bernhard Daldrup von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Bernhard Daldrup (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen alle: Die Kommunen sind Motor bei der Energiewende, sie sind Multiplikator. Sie sind es nicht alleine, aber sie sind es ganz maßgeblich. Das weiß auch das Bundeswirtschaftsministerium, das deshalb einen Entwurf vorgelegt hat, der – das ist jenseits der Kritik, glaube ich, im Detail unbestritten – ein maßgeblicher Fortschritt gegenüber dem Status quo ist. Ich will an dieser Stelle sagen, dass es eine entsprechende Unterstützung – das hat auch der Staatssekretär gesagt – seitens des Bundesrates gibt, dass es positive Reaktionen der kommunalen Spitzenverbände gibt, dass es positive Reaktionen des VKU gibt, zwar nicht in jedem Punkt, aber die große Linie wird begrüßt. Das kann nicht als Indiz dafür genommen werden, dass wir etwas Kommunalfeindliches machen würden. Das zu behaupten, ist einfach nur Unsinn. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es geht um Rechtssicherheit, um Informationen, um Bewertungsfragen – das alles ist hier schon angesprochen worden – und um einen Konfliktpunkt, der die Rechte der kommunalen Selbstverwaltung betrifft. Wenn man über die kommunale Selbstverwaltung redet und sich dabei auf das Grundgesetz bezieht – in Artikel 28 wird Bezug genommen auf „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ –, dann kann man, Herr Krischer, nicht mehr von einem unbestimmten Rechtsbegriff reden. Es muss im Rahmen eines solchen Gesetzgebungsverfahrens zulässig sein, sich auf das Grundgesetz zu beziehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben es aber nicht mit einem einfachen Thema zu tun; ich weiß das. Es gibt viele Abstimmungen dazu. Aber unbestritten ist, dass der verbesserte Auskunftsanspruch der Kommunen ein Fortschritt ist. Positiv ist die zeitliche Staffelung bei der Möglichkeit, Rügen auszusprechen. Gut ist auch die Klarheit über die Fortzahlung der Konzessionsabgabe. Gut ist, dass es Klarheit über die Bestimmung eines angemessenen Netzkaufpreises im Rahmen des objektivierten Ertragswertverfahrens gibt. All das ist positiv. Dann zu sagen, dieser Entwurf sei kommunalfeindlich, ist nur noch Oppositionsrhetorik – das muss man doch schlicht und ergreifend sagen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich will gar nicht bestreiten, dass uns das Thema der Inhousevergabe vielleicht ein bisschen trennt. Ich würde mir auch ein bisschen mehr wünschen. Ich weiß aber auch: Viele Stadtwerke scheuen einen solchen Wettbewerb überhaupt nicht; denn sie sind gut – besser jedenfalls, als manche glauben. Trotzdem: Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, dass man den Wind des Wettbewerbes einziehen lassen will; anderes wäre mir lieber. Aber darüber können wir noch einmal reden. Das BMWi hat viele Erwartungen der Kommunen erfüllt. Dafür herzlichen Dank! Ich hoffe, dass wir im Laufe der Beratungen eine stärkere Verankerung der kommunalen Selbstverwaltung erreichen werden. Es ist richtig: Die netzwirtschaftlichen Anforderungen – darüber ist eben gesprochen worden –, insbesondere Versorgungssicherheit und Kosteneffizienz, sind schon Teil kommunalpolitischer Entscheidungen. Sie stehen aber nicht über anderen Fragen der kommunalen Selbstverwaltung; es gibt keine solche Hierarchie. Deswegen wäre es aus unserer Sicht durchaus überlegenswert, ob wir uns nicht im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens auf die Anregung des Bundesrates verständigen könnten, die Zielhierarchie herauszunehmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das ist doch mal ein guter Vorschlag!) – Ja, ist doch nicht schlecht! Ich mache öfter mal gute Vorschläge. Hören Sie einfach zu. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist super! Herr Beckmeyer, haben Sie das gehört?) – Er hat zugehört. Ich will es für Sie, Herr Krischer, vielleicht sogar ein bisschen deutlicher machen; denn Sie sollen wissen, dass ich da gar keinen Konflikt sehe. Der Hinweis in der Begründung, man bilde das Urteil des Bundesgerichtshofes ab, stimmt. Er stimmt aber nur deswegen, weil der Vorrang der kommunalen Selbstverwaltung im entsprechenden Paragrafen nicht entsprechend normiert ist. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) Wenn das erfolgen würde, wäre es ein Stück weit einfacher. Wir werden darüber diskutieren; so ist das im Gesetzgebungsverfahren üblich. Ich glaube aber, zunächst einmal feststellen zu können – auch mit Ihrer freundlichen Unterstützung –: Es gibt einen guten Gesetzentwurf, der endlich den Status quo deutlich verbessert, unter dem die Kommunen gelitten haben. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, einen schlechten Gesetzentwurf, den man vielleicht noch besser machen kann!) Dafür sehr herzlichen Dank an das Ministerium. Wir werden eine schöne Beratung haben. Sie sind herzlich eingeladen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, schließe ich diese Debatte. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/8184 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Matthias Gastel, Stephan Kühn (Dresden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den Bundesverkehrswegeplan zum Bundesnetzplan weiterentwickeln Drucksache 18/8083 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Das ist dann so beschlossen. Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben, kann ich die Debatte eröffnen. Ich eröffne die Debatte. Als erste Rednerin hat Dr. Valerie Wilms für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Jetzt kommen wir beim letzten Tagesordnungspunkt zu einem ganz wichtigen Thema: Bundesverkehrswegeplan. Deutschland hat eines der dichtesten und komplexesten Verkehrsnetze der Welt; ich glaube, darüber sind wir uns alle einig. Für unseren Verkehrsminister ist das Ganze offensichtlich zu komplex. Denn anders ist nicht zu erklären, warum er sich beim Bundesverkehrswegeplan mal wieder so heillos verzettelt hat. Eine der wichtigsten Aufgaben des Verkehrsministers in dieser Wahlperiode ist es, einen umfassenden Plan zur langfristigen Entwicklung der Verkehrswege vorzulegen. (Kirsten Lühmann [SPD]: Genau!) Mit fast zweijähriger Verspätung, Kollegin Lühmann, haben wir jetzt mal so etwas wie einen Entwurf bekommen, der aufschrecken lässt. (Lachen des Abg. Michael Donth [CDU/CSU]) Der Plan ist unvollständig und nicht bezahlbar. Wenn der Entwurf so bleibt, wie er jetzt ist, können zentrale Aufgaben nicht erfüllt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So schlecht ist er auch nicht!) Damit können weder die Verkehrsprobleme der Zukunft gelöst werden noch ein wirksamer Beitrag zum Klimaschutz geleistet werden. Klimaschutz: Fehlanzeige! Aber das ist bei dem Abgasminister sowieso kein Wunder. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Thomas Lutze [DIE LINKE]) Die meiste Energie scheint der Minister in seine persönliche PR-Strategie zu stecken. Deswegen müssen wir hier klarstellen, dass die meisten Versprechen nichts anderes als Augenwischerei sind. Es ist schlicht unwahr, dass die Projekte finanzierbar sind. Vielleicht nehmen Sie einmal den Taschenrechner, werte Kolleginnen und Kollegen, Herr Staatssekretär, und rechnen nach. Erstens. Es fehlt über die Hälfte der geplanten Schienenprojekte; denn es wurde nicht einmal geschafft, diese zu prüfen. Sie wissen auch noch nicht, bis wann Sie diese prüfen wollen. Zweitens. Die Hälfte aller Straßenneubauten soll erst nach Ablauf des Planes, also nach 2030, umgesetzt werden. Sie haben uns in Wirklichkeit also gleich den übernächsten Bundesverkehrswegeplan mit vorgelegt. Drittens. Es fehlt jede Berücksichtigung von Kostensteigerungen. Viertens. Es fehlt selbst bei den Berechnungen des Ministers mindestens 1 Milliarde Euro jährlich. Aber die Bezahlbarkeit ist bei weitem nicht das einzige Problem. Der Bundesrechnungshof, den wir alle so sehr lieben, (Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Ministerium nicht!) hat nachgewiesen, dass die Berechnungen nicht nachvollziehbar sind. Zack, damit kracht Ihr ganzes Gebäude zusammen. Aber auch damit ist es noch nicht genug. Das Umweltbundesamt bescheinigt, dass elf der zwölf Ziele aus dem eigenen Umweltbericht des Ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur – vielleicht ein bisschen mehr Digitales als echter Verkehr – nicht erreicht werden. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) Selbst die Kabinettskollegin, Bundesumweltministerin Hendricks, distanziert sich vom Vorschlag des Herrn Dobrindt. (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Thema Kohärenz!) Der Minister bekommt sein Papier von allen Seiten links und rechts schön um die Ohren gehauen. So etwas passiert, werte Kolleginnen und Kollegen, wenn die PR wichtiger ist als der Inhalt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) So etwas passiert, wenn ein Minister im Grunde ein Generalsekretär geblieben ist. Wäre er es doch tatsächlich geblieben! (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann hätte man der Republik viel ersparen können!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss sich das alles auf der Zunge zergehen lassen: Seit fast fünf Jahren werden Gutachter, Ministerien und Verwaltungen beschäftigt, ohne dass etwas Brauchbares dabei herauskommt. Das liegt nicht daran, dass dort schlechte Arbeit gemacht wird, mitnichten. Es liegt daran, dass der Fisch – wie heißt es so schön? – vom Kopf her stinkt. Es fehlen bei Herrn Dobrindt Willen oder Fähigkeit, Ziele zu formulieren. Das beste Navigationsgerät führt nirgends hin, wenn kein Ziel eingegeben wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Bundesverkehrswegeplan könnte tatsächlich etwas erreichen, wenn man ihn richtig anpacken würde. Aber Fehlanzeige! Deswegen muss das Vorhandene mindestens zu einem Bundesnetzplan aller Verkehrswege weiterentwickelt werden. Das heißt, einzelne Projekte dürfen nicht mehr isoliert betrachtet werden, sondern es kommt auf das Zusammenwirken aller Verkehrsmittel an. Dazu brauchen wir klare Vorgaben, wie die Klimaschutzziele von Paris erreicht werden können. Bisher geht es nur aufwärts mit den CO2Emissionen im Verkehr. Dazu müssen wir ein Vorrangnetz in einem Netzplan definieren, das Deutschland intelligent in Europa einbindet. Ein vernünftiger Netzplan muss endlich auch Prioritäten setzen. Es braucht den Mut, die Projekte in eine echte Rangfolge ohne lokale Rücksichtnahme zu bringen. Es ist doch völlig klar, dass manches wichtiger ist. Die jetzigen groben Kategorien sind Augenwischerei. Sie bedeuten eben nicht, dass der sogenannte „Vordringliche Bedarf zur Engpassbeseitigung“ zuerst realisiert werden muss. Hier wird sich um eine klare Aussage gedrückt, und zwar aus einem einzigen Grund: Es soll nach wie vor möglich sein, Wahlkreise zu beglücken. (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Es kommt vielen Wahlkreisabgeordneten dieser Koalition nämlich nicht darauf an, Verkehrsprobleme zu lösen. (Gustav Herzog [SPD]: Schade, Sie haben keinen Wahlkreis!) – Schreien Sie ruhig laut, Herr Herzog, Sie erreichen sowieso nichts. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Gustav Herzog [SPD]: Ich habe meinen Wahlkreis gewonnen!) Viel wichtiger ist Ihnen, weiterhin jedes Jahr Millionen Euro nach Hause in eine Ortsumfahrung zu lenken. So geht es nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So viele gibt es doch gar nicht!) Es ist beschämend, wie wenig der Minister hinbekommt. Für so etwas gab es auf Spiegel Online einen bezeichnenden Begriff – ich zitiere –: „Achtung, Lusche am Steuer“. Aber noch ist der Bundesverkehrswegeplan nur ein Entwurf. Noch ist es möglich, daraus wirklich etwas Brauchbares zu machen, wenn das Ganze grundsätzlich überarbeitet und zu einem Netzplan weiterentwickelt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein System von vernetzten Verkehrswegen statt ein Sammelsurium an lokalen Wünschen. Menschen und Wirtschaft wollen nicht mehr mit platten Parolen hinters Licht geführt werden. Wir müssen weg von der Wünsch-dir-was-Politik, aber dazu braucht es Mut. Wir brauchen Mut in der Politik und keine Luschen. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Patrick Schnieder von der CDU/CSU das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Patrick Schnieder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube, ich muss erst noch einmal klarstellen, worum es hier geht: Wir reden über den Bundesverkehrswegeplan 2030. Das, was Sie hier gerade präsentiert haben, war ein Zerrbild der Wirklichkeit. Das hatte mit dem, worüber wir reden, überhaupt nichts zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deshalb müssen wir noch einmal darüber reden, was hier Thema ist. Der vorliegende Entwurf des Bundesverkehrswegeplans 2030 bedeutet Vorfahrt für Mobilität, ist eine Antwort auf die Herausforderungen, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) die die Verkehre stellen. Wir müssen Antworten darauf geben, was wir in der Verkehrspolitik machen wollen. Was Sie hier vorgestellt haben, ist ein Konzept, wie Mobilität nicht aussehen soll. Das sind überhaupt keine Antworten auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind Phrasen!) Deshalb kann ich nur feststellen: Dieser Entwurf des Bundesverkehrswegeplans, über den wir reden, verwirklicht genau die Ziele, die wir uns vorher gesetzt haben. Wir bekommen von fast allen Seiten, mit Ausnahme von Ihnen, Zustimmung zu dem, was vorgelegt worden ist, weil genau diese Ziele verwirklicht werden. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Außer in der eigenen Bundesregierung!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu? Patrick Schnieder (CDU/CSU): Aber bitte, gerne. Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Kollege Schnieder, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie sagen: Dieser Bundesverkehrswegeplan gibt Antworten auf die Frage, wie wir unsere Ziele erreichen können. Ihnen sind sicherlich die Klimaziele, die im Rahmen des Pariser Abkommens unterschrieben worden sind, bekannt. Auch aus den internen Beratungen der Bundesregierung wird Ihnen bekannt sein, welchen Beitrag der Verkehrssektor dazu leisten soll. An welchen Stellen dieses Entwurfs des Bundesverkehrswegeplans 2030 sehen Sie Ansätze, die darauf hoffen lassen, dass man diese Ziele im Verkehrssektor zumindest ansatzweise erreichen kann? Patrick Schnieder (CDU/CSU): Wenn man in den Entwurf schaut, insbesondere in den anhängenden Bericht, kann man deutlich sehen, dass wir auch CO2Minderungsziele erreichen. (Günter Lach [CDU/CSU]: So weit hat er nicht gelesen!) Deshalb verstehe ich nicht, worüber Sie hier reden. Das hat jedenfalls nichts mit dem zu tun, worüber Sie geredet haben. Das ist in der Tat richtig. Eines muss man zu den CO2Minderungszielen anmerken: Der Verkehrssektor kann zwar einen großen Beitrag leisten, aber es ist eine Illusion, zu glauben, dass wir das alles über einen Bundesverkehrswegeplan regeln und erreichen können. Was wir darüber erreichen können, das wollen wir auch angehen. Sie können mir nicht erzählen, dass wir viel für die Umwelt tun würden, wenn wir Staustrecken bestehen lassen, wenn wir Engpässe nicht beseitigen, wenn wir nicht in die Infrastruktur investieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Mit diesem Bundesverkehrswegeplan leisten wir auch zur Erreichung dieser Ziele einen großen Beitrag. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Straßenbau für Klimaschutz, oder wie verstehe ich das?) Sie haben in Ihrer Antragsbegründung – das gilt auch für das, was Frau Dr. Wilms gerade ausgeführt hat – auf skurrile Art und Weise durchblicken lassen, wie Sie auf diesen Plan schauen. Das war ja in großen Teilen eine Selbstanklage. So liest sich auch Ihr Antrag. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nur Ihre Interpretation!) Das, was Sie beschreiben und kritisieren, ist im Grunde Ihr Werk. Den Bundesverkehrswegeplan 2003 haben Sie ja mitgeschrieben; er trägt Ihre Handschrift. Das, was Sie jetzt kritisieren, haben Sie selbst mit verbockt. Wir geben jetzt Antworten auf die Herausforderungen, die entstanden sind. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie geben Antworten? Sie formulieren nicht einmal Fragen!) Und Ihr einziger Lösungsvorschlag, den Sie im Antrag formulieren, ist: Stopp, wir machen jetzt gar nicht weiter. – Das kann nun wirklich nicht die Antwort auf die Herausforderungen sein, vor denen wir stehen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege Schnieder, es gibt den Wunsch nach einer zweiten Zwischenfrage. Patrick Schnieder (CDU/CSU): Bitte sehr. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Frau Wilms hat doch gerade geredet!) Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich bin ein bisschen erstaunt, dass Sie behaupten, dass wir gar nichts mehr machen wollen. Ich zitiere aus unserem Antrag: 3. bis zum Beschluss eines zum Bundesnetzplan weiterentwickelten Bundesverkehrswegeplans keine weiteren Neubauprojekte zu beginnen, um den Handlungsspielraum nicht weiter einzuschränken ... Das ist etwas ganz anderes, als gar nichts Neues mehr machen zu wollen. Wir sind dagegen, dass ständig etwas anfinanziert wird, dass irgendeiner von Ihnen mit der großen Geldschütte durch das Land läuft und irgendwo eine Brücke hinsetzt, die man nachher nicht weiter anschließen kann. Können Sie bestätigen, dass es angesichts dieser Tatsachen völlig unmöglich ist, Ihre Versprechungen im Bundesverkehrswegeplan einzuhalten? Sie schaffen es nämlich gar nicht, das tatsächlich durchzufinanzieren. (Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!) Patrick Schnieder (CDU/CSU): Liebe Frau Kollegin Dr. Wilms, das ist Ihre Behauptung, aber sie hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Denn es ist anders als im Bundesverkehrswegeplan 2003. Wir haben hier keine reine Wunschliste. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, Sie haben eine Wunschliste! Da steht nur die Hälfte des Geldes! – Gegenruf von der CDU/CSU: Wunschlisten machen die Länder!) Wir wollen nicht „Wunsch und Wolke“ hineinschreiben, sondern wir haben eine realistische Vorstellung davon niedergeschrieben, was wir bis 2030 umsetzen können. Deshalb gilt die Aussage: Was dort im Vordringlichen Bedarf erscheint, wird auch realistisch umgesetzt werden können. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann bin ich gespannt, wann!) Wir wollen Mobilität ermöglichen, Sie scheinen das Gegenteil zu wollen. Deshalb bin ich froh, dass es hier andere Mehrheiten gibt, die dann einen solchen Plan durchsetzen werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Erster Punkt. Es ist sicherlich eine der Grundvoraussetzungen für diesen Bundesverkehrswegeplan, dass wir eine realistische Perspektive in den Blick nehmen und dass hier klare Finanzierungsperspektiven aufgezeigt werden. Wir werden einen Plan vorlegen, der nicht vollkommen überzeichnet ist. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist nicht vollkommen überzeichnet? Schön, dass das im Protokoll steht!) – Ja. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist nur überzeichnet!) – Der ist nicht überzeichnet. Da haben Sie schon etwas anderes vorgelegt. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Gebt doch mal dem Kollegen Krischer eine Baldriantablette!) Zweiter Punkt. Wir orientieren uns ganz klar am Prinzip „Erhalt vor Neubau“. Auch das bestreiten Sie. Da kann ich nur sagen: Ziehen Sie den Vergleich. Für Erhalt werden wir etwa 70 Prozent der verfügbaren Projektmittel aufwenden. Im alten Bundesverkehrswegeplan waren es nur 56 Prozent. Das ist ein deutlicher Zuwachs. Wir treffen – dritter Punkt – klare Prioritäten. Das gilt schon für die Betrachtung der verschiedenen Verkehrsträger. Auf die Straße wird knapp die Hälfte der Mittel entfallen, auf Bahn und Wasserstraßen die andere Hälfte. Auch das ist eine deutliche Veränderung bzw. Verschiebung gegenüber dem alten Plan und entspricht den Forderungen und Zielsetzungen, die wir uns vorher gegeben haben. Das betrifft aber auch die Priorisierung der Maßnahmen innerhalb der einzelnen Verkehrsträger. Auch da haben Sie vorhin Dinge erzählt, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. In Hauptachsen werden 75 Prozent der Mittel investiert. Ich weiß nicht, wie man darauf kommen kann, dass wir nur in Ortsumgehungen oder in regionale Verkehre investieren würden. Das Gegenteil ist der Fall; ich will das hier festhalten. Es gibt eine klare Prioritätensetzung bei den Projekten. (Beifall bei der CDU/CSU) Vierter Punkt. Engpassbeseitigung ist das nächste Stichwort. Allein 1 700 Straßenkilometer – Ausbau, Erhaltung – und 700 Schienenkilometer werden zur Engpassbeseitigung ertüchtigt. Auch da muss ich fragen: In welcher Welt leben Sie, wenn Sie nicht erkennen, dass das zur Engpassbeseitigung gehört? Das ist ein Schwerpunkt in diesem Bundesverkehrswegeplan. Fünfter Punkt – dieser zieht sich auch durch Ihren Antrag –: Wir machen zum ersten Mal eine Öffentlichkeitsbeteiligung. Ich kann nicht verstehen, dass Sie in Abrede stellen, dass wir in transparenter Weise unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger diesen Plan vorlegen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sechs Wochen über Ostern!) – Ja, sechs Wochen lang. Das ist doch keine Frage der Qualität, ob ich sechs Jahre oder sechs Wochen dafür vorsehe. Denn wer Interesse an einem Projekt hat, wird sich in sechs Wochen dazu äußern und seine Meinung vorbringen können. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber über Ostern? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hätten Sie das mal in den Sommerferien gemacht!) – Viele sind jedenfalls in der Lage, das zu tun. Wenn Sie das nicht schaffen, müssen Sie nicht andere dafür in Haftung nehmen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben zwei Jahre gebraucht, und die Leute haben nur sechs Wochen Zeit!) Wenn ich das gesamte Werk betrachte, muss ich sagen: Alle Ziele, die wir uns gesetzt haben, werden wir damit erreichen. Bei aller Feinjustierung, die wir noch vornehmen müssen, gilt: Die großen Linien stimmen. Ich würde Ihnen wünschen, dass Sie irgendwann in der Wirklichkeit ankommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Sabine Leidig von der Linken das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Leidig (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Der Regierungsentwurf für den Bundesverkehrswegeplan 2030 zielt auf mehr Verkehr und Straßen ab. Er ist umwelt- und klimaschädlich und geht an den Mobilitätsbedürfnissen der Bevölkerung vorbei. Deshalb sagen wir: Er muss vom Tisch. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke fordert einen ganz anderen, einen demokratischen Bundesmobilitätsplan. Wir brauchen einen völlig anderen Ansatz. Die Kommunen brauchen Spielraum für eine Verkehrswende, die von den Leuten schon begonnen wird. Die Bahn muss endlich in der Fläche ausgebaut und nicht weiter abgebaut werden. (Beifall bei der LINKEN) Es muss auch eine ernsthafte Ausrichtung an den Klimazielen stattfinden. Ich weiß gar nicht, ob Sie sich dessen bewusst sind: Bis zum Jahr 2050 dürfen wir fast überhaupt kein CO2 mehr ausstoßen. Wir verbrauchen heute ungefähr 5 000 Liter Öl pro Person. Wenn wir ernsthaft herangehen würden, das zu ändern, um sozusagen schrittweise dem Ziel näher zu kommen, müssten wir zu einer Reduktion auf ein Zehntel dieser Zahl kommen: nicht mehr 5 000 Liter, sondern nur noch 500 Liter. Dann hätten wir eine Chance, diese Klimaschutzziele ohne einen richtig katastrophischen Knall zu erreichen. Davon sind Sie himmelweit entfernt. Dazu haben Sie überhaupt keinen Plan. Die Präsidentin des Umweltbundesamtes, Frau Krautzberger, sagt: Der Entwurf des Bundesverkehrswegeplanes ... verfehlt elf der zwölf im eigenen Umweltbericht gesetzten Ziele. Und: Durch den zu starken Fokus auf die Straße zementiert der Entwurf weitgehend die nicht nachhaltige Verkehrspolitik der vergangenen Jahre. Ich füge hinzu: Dafür geben Sie 264 Milliarden Euro aus. Sie machen nichts, um diese ambitionierten Ziele, die Sie sich vertraglich selbst gegeben haben, zu erreichen. Das halte ich für absolut unverantwortlich. (Beifall bei der LINKEN) Ich will an einem Beispiel ausführen, warum ich der Meinung bin, dass das Geld, das da ausgegeben wird, viel stärker in die kommunale Bestimmung gegeben werden muss. Eines der Autobahnprojekte, die in diesem Verkehrswegeplan stehen, ist die A 100 in Berlin: 6,9 Kilometer mitten durch dichtbewohntes Stadtgebiet für sage und schreibe 1 Milliarde Euro. Das ist das teuerste und dümmste Straßenbauprojekt, das man sich überhaupt vorstellen kann. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auf der offiziellen Seite des Berliner Senats schreiben die Verantwortlichen zum Thema Verkehr: Wussten Sie, dass der Kfz-Verkehr seit etwa dem Jahr 2000 kontinuierlich abnimmt, obwohl die Bevölkerung in Berlin seit fünf Jahren wächst? (Zuruf des Abg. Gustav Herzog [SPD]) Wussten Sie, dass rund die Hälfte der Haushalte in Berlin überhaupt kein eigenes Auto hat? Wussten Sie, dass die Fahrgastzahlen im öffentlichen Nahverkehr in Berlin in den letzten Jahren deutlich angestiegen sind? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wussten Sie, dass es mehr als doppelt so viele Fahrräder wie Pkw pro 1 000 Einwohner in Berlin gibt? Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin Leidig, lassen Sie eine Zwischenfrage zu? Sabine Leidig (DIE LINKE): Gerne. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Bitte. Stefan Zierke (SPD): Frau Leidig, danke, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. – Sie zählen viele Punkte auf, die aus Ihrer Sicht sicherlich sachlich begründet sind. Haben Sie auch, weil Sie gerade die A 100 in Berlin ansprechen, den Umstand zur Kenntnis genommen, dass gerade bei diesem Projekt viele Bürger, viele Institutionen die Möglichkeit genutzt haben, in das entsprechende System genau die sachlichen Begründungen, die Sie hier aufzählen, einzugeben, um damit das Projekt noch einmal neu zu bewerten? Es geht darum, ob die A 100 wirklich um diesen Bestandteil verlängert werden soll oder nicht. Es geht ja um den letzten Abschnitt, den Sie hier beschreiben. Es geht nicht um die ganze A 100. Sabine Leidig (DIE LINKE): Genau. Stefan Zierke (SPD): Von daher denke ich, dass die Bürger und die kommunale Ebene doch exzellent beteiligt sind, wenn es um genau diese Abschnitte geht. Man konnte sachliche Begründungen für den Senat oder für das Bundesministerium geben. Sind Sie da nicht meiner Meinung? Sabine Leidig (DIE LINKE): Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass es völlig berechtigt ist, dass die Bürgerinnen und Bürger dort alle ihre Einwände einbringen. Es gibt eine seit Jahrzehnten arbeitende Bürgerinitiative, die wirklich hervorragendes Material erarbeitet hat, das zeigt, warum dieser Weiterbau der Autobahn für die Stadt und für alle völliger Unsinn ist. (Beifall bei der LINKEN) Das Entscheidende ist aber – das ist, glaube ich, auch in Berlin der Knackpunkt –, dass sich die Verantwortlichen entschieden haben, dieses Projekt zu verwirklichen, weil die 1 Milliarde Euro, wenn sie es nicht verwirklichen würden, nicht in den Straßenbau in Berlin, sondern in den Straßenbau in einem anderen Bundesland fließen würde. Wirklich notwendig wäre – das ist unser Plädoyer –, dass über das Geld in den Kommunen entschieden wird, dass also die Kommunen, die Regionen oder die Ballungszentren entscheiden: Mit dieser 1 Milliarde Euro bauen wir bessere und mehr Fahrradwege, damit reparieren wir unsere kaputten Straßen, sodass die Fahrradfahrer nicht dauernd hinfallen, und damit bauen wir unser öffentliches Nahverkehrssystem aus. – Das wäre notwendig. Ich sage Ihnen Folgendes: Die Baudezernentin von Bremerhaven hat neulich an einem Gespräch mit einigen Mitgliedern des Verkehrsausschusses teilgenommen. (Stefan Zierke [SPD]: In meiner Frage ging es um Berlin! Ist die Frage damit beantwortet? – Gegenruf von der SPD: Ja, die Frage ist beantwortet!) – Na ja, okay. Wenn Sie sie als beantwortet ansehen, ist das okay. Aber ich führe das noch aus. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Es ist so gedacht, dass man auf eine Frage antwortet; das ist völlig richtig. Ich glaube, das ist jetzt geklärt. Sabine Leidig (DIE LINKE): Es ist in Ordnung; das betrifft sowieso das Thema, über das ich sprechen möchte. – Wir haben in dem Gespräch mit Vertretern des Deutschen Städtetages ein paar wirklich spannende Dinge erfahren. Die Baudezernentin von Bremerhaven sagte: Ich brauche Geld für den Rückbau von Straßen. Unsere Infrastruktur ist auf berufstätige Männer, die Auto fahren, ausgelegt. Davon gibt es immer weniger; es ist weniger als ein Drittel der Bevölkerung. Ich brauche in unserer Stadt etwas ganz anderes. Dafür habe ich überhaupt kein Geld. – Die Stadtbaurätin von München sagte: Wir wollen Regionalentwicklung machen. Das Ballungszentrum quillt über. Wir haben außerhalb von München Kasernengelände. Wenn man sie erschließen will, damit dort Wohnen und Arbeiten möglich ist, braucht man eine Bahnanbindung. – Das sind die wirklichen Herausforderungen und die Themen, die bearbeitet werden müssen. (Beifall bei der LINKEN – Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Jetzt wird der Grünenantrag mal richtig interpretiert!) Sie sagen einfach: Das ist Sache der Kommunen, der Länder usw. – Aber so ist es eben nicht. Der Bund legt die Maßstäbe fest und gibt die Marschrichtung vor. Solange Sie daran festhalten, dass das Geld entweder für Straßen verbaut wird oder gar nicht, geben Sie den Menschen vor Ort nicht die Möglichkeit, die Verkehrswende in ihrem Sinne zu gestalten und ihre Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen. Das ist aber genau das, was passieren muss: Wir brauchen eine Demokratisierung bei der Mittelverwendung im Zusammenhang mit der Infrastrukturentwicklung auch beim Verkehr. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte noch einen Satz zum Antrag der Grünen sagen. Sie wollen den Bundesverkehrswegeplan weiterentwickeln. Ich bin ein bisschen traurig, dass Sie sich so sehr auf die innere Logik dieses Verkehrswachstumsprogramms, das uns hier vorgelegt wird, einlassen. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie einfach einmal richtig lesen!) Sie sagen im Grunde: Wir können das besser machen. – Ich will nicht sagen, dass jede einzelne Ihrer Forderungen unvernünftig ist. Es gibt sicherlich einige Ansätze, die auch wir für richtig halten. Aber ich finde, das klingt sehr nach Reparaturbetrieb und nicht nach einer wirklichen Alternative. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ja, das Gefühl hatte ich auch!) Sabine Leidig (DIE LINKE): Ich habe doch noch eine Minute. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Minus, Entschuldigung! Sie haben schon eine Minute überzogen. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Sabine Leidig (DIE LINKE): Oh, dann komme ich zum Schluss; pardon. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Vielleicht sollte man mehr Geld in Bildung investieren! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das Ding läuft rückwärts!) Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass wir in unserem Antrag fordern, diesen Plan zurückzuziehen und ein wirklich alternatives Mobilitätskonzept vorzulegen, das das Verkehrswachstum beendet, den Verkehr zielgerichtet von den Straßen auf Schienen verlagert – Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte wirklich zum Schluss! Sabine Leidig (DIE LINKE): – und Mobilität im Einklang mit Klimaschutzzielen ermöglicht. Danke. (Beifall bei der LINKEN – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Wir sollten mehr Geld in Bildung investieren!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Martin Burkert von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Martin Burkert (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Entwurf des Bundesverkehrswegeplans liegt seit März dieses Jahres vor. Er ist eine gute Vorlage – das will ich ausdrücklich sagen – im Hinblick auf die langfristige Planung und Prioritätensetzung im Bereich des deutschen Verkehrsnetzes. Wir reden über ein Gesamtvolumen von 264,5 Milliarden Euro. Dass diese Investitionen wichtig, richtig und notwendig sind, wird darin ausdrücklich geschildert. Ich will deshalb darauf hinweisen, Frau Wilms, dass die gesamte Verkehrsbranche diesen Entwurf des Bundesverkehrswegeplans positiv bewertet. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Reden Sie mal mit den Kommunen!) Es gibt hier fast keine negativen Stimmen, und das ist auch zu Recht so. Wir haben wichtige Neuerungen verankert. Im Fokus stehen dabei die überregionalen Verkehrsprojekte, die auf das Gesamtverkehrsnetz wirken. Daneben haben wir den notwendigen Schwerpunkt „Erhalt vor Neu- und Ausbau“ gesetzt. 69 Prozent der gesamten Gelder sind für den Erhalt vorgesehen. Zum Vergleich: Im Bundesverkehrswegeplan 2003 waren dies 56 Prozent. Außerdem haben wir die grundsätzliche Festlegung getroffen, dass es beim Aus- und Neubau um viel befahrene Verkehrswege, Lückenschlüsse und Engpassbeseitigung geht. Für uns als Sozialdemokraten, als SPD, war es darüber hinaus besonders wichtig, dass wir in den Koalitionsverhandlungen eine sechswöchige Öffentlichkeitsbeteiligung durchgesetzt haben. Bis zum 2. Mai 2016 können Sie sich unter www.bvwp.de noch beteiligen. Ich rufe dazu auf. Diese Bürgerbeteiligung ist ein sinnvolles Instrument. Ich sage Ihnen deshalb: Den Antrag und die Kritik der Grünen teile ich nicht. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Meinung?) Wir haben im neuen Bundesverkehrswegeplan 41,3 Prozent der Mittel für die Schiene, 49,4 Prozent für die Straße und 9,3 Prozent für die Wasserstraßen vorgesehen. Aus meiner Sicht müssen wir auch ein besonderes Augenmerk auf die Infrastruktur für den Schienengüterverkehr richten. Wenn man sich die Verkehrsprognosen anschaut, dann stellt man fest, dass für den Schienengüterverkehr bis 2030 eine Zunahme von sage und schreibe 42,9 Prozent prognostiziert wird. Mehr Güterkapazitäten auf der Schiene sind also dringend notwendig. Daneben müssen die Straßeninfrastruktur entlastet und die Klimaschutzziele – darin sind wir uns einig – erreicht werden. Ich sage: Das geht nur mit einer Stärkung der Schiene. Deswegen verbietet es sich übrigens auch, dass man bei der DB Cargo einen Schrumpfkurs forciert. Auch darüber wird zu reden sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Einen Kritikpunkt muss ich hier aber anbringen: Bei dem Abschnitt über die Schienenprojekte im Bundesverkehrswegeplan, lieber Herr Staatssekretär, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hört nicht zu!) könnte man schon den Eindruck gewinnen, dass er ein wenig oberflächlich bearbeitet wurde. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!) Ich will dazu ein Beispiel aus Bayern nennen, nämlich VDE 8 – Hochgeschwindigkeitstrasse München–Berlin –, das letzte Verkehrsprojekt Deutschen Einheit, das noch nicht umgesetzt ist. Warum hier Teilstrecken des wichtigen Schienenprojekts zwischen Nürnberg und Erfurt aus dem Bezugsfall genommen und neu berechnet werden sollen, ist nicht erklärbar. Es geht faktisch um den Güterzugtunnel in Fürth und die Ausbaustrecke in Bamberg. Einzelabschnitte bleiben im Bezugsfall, andere sollen neu berechnet werden. Hier sehe ich einen dringenden parlamentarischen Handlungsbedarf. Ein anderes auffälliges Beispiel: Dass die sogenannte Mottgers-Spange im Entwurf des Bundesverkehrswegeplanes noch aufgeführt wird, muss aus bayerischer Sicht ebenfalls grundlegend hinterfragt werden, haben sich doch zumindest alle Verantwortlichen aus Bayern hier dafür ausgesprochen, dass diese Variante nicht mehr weiterverfolgt werden sollte. Wir sind auf den Dialog und auf das Moratorium, das in Hessen stattfinden wird, sowie die dortigen Antworten gespannt. Mir ist das alles bekannt. Aus bayerischer Sicht sage ich: „Ein totgerittenes Pferd braucht man auch nicht mehr zu satteln“, um das einmal deutlich zum Ausdruck zu bringen. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie ja absteigen!) Ein Ausbau zwischen Frankfurt und Fulda wäre an dieser Stelle sicherlich sinnvoller. Ein Wort noch ans Ministerium, lieber Herr Staatssekretär. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hört aber immer noch nicht zu!) Der fortschreitende Rückbau von Personal in der Eisenbahnabteilung im BMVI ist meiner Meinung nach ein sichtbar falsches Signal. Gegenüber der Deutschen Bahn AG muss das Verkehrsministerium auch in Bezug auf die Bearbeitungsstärke Koch und nicht Kellner sein. Der Beweis kann ja noch angetreten werden, aber das muss man hier auch einmal sagen. Als bayerischer Verkehrspolitiker möchte ich abschließend ganz allgemein die Perspektive des Freistaats ansprechen: Wir begrüßen es, dass vieles umgesetzt wird. Das ist gut für die Menschen vor Ort. Eine Steigerung der Pkw-Zahlen in ganz Deutschland um 10 Prozent bedeutet für das Transitland Bayern 30 Prozent mehr Verkehr. Deswegen sind die Projekte zu Recht entsprechend benannt. 365 Projekte für die Straße und 220 Ortsumgehungen wurden angemeldet, leider keine Priorisierung; das hätten wir uns gewünscht, Kollege Lange. Aber ich bin überzeugt, wir werden da einiges zurechtrücken können. Ich glaube, wenn sich vor Ort über die Parteigrenzen hinweg alle einig sind, dass Projekte zurückgestuft oder ganz aus dem Plan herausgenommen werden, dann sollten wir das auch tun, um dann Geld für wichtige Projekte zur Verfügung zu haben. Ich bin überzeugt: Wir werden noch in diesem Jahr einen guten Bundesverkehrswegeplan beschließen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Thomas Jarzombek von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heute einiges dazu gehört, wie sich die Grünen vorstellen, eine Bundesverkehrswegeplanung durchzuführen. Ich kann Ihnen sagen: Die Menschen in diesem Land sind froh, dass die Grünen gerade nicht die Bundesverkehrswegeplanung bis 2030 machen. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) Sie reden so viel vom Fahrradverkehr und Ähnlichem. Bei der letzten Wahlwerbesendung im Fernsehen sah ich einen Ministerpräsidenten der Grünen, der mit einer S-Klasse durchs Land gefahren ist. (Michael Donth [CDU/CSU]: Jawohl!) Offensichtlich wurde hier bei Ihnen schon ein gewisser Modifikations- und Anpassungsbedarf befriedigt. Ich kann etwas Positives zu Ihrem Antrag sagen: Er enthält eine wirklich ehrliche Analyse der Verkehrspolitik aus der rot-grünen Regierungszeit. Sie schreiben, die bisherige Bundesverkehrswegeplanung stehe „in einem eklatanten Missverhältnis zu vorhandenen Haushaltsmitteln“. – Das stimmt. Ich weiß gar nicht mehr, ob es Bodewig, Stolpe oder Klimmt war: (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gab auch so viele grüne Verkehrsminister!) Es war jedenfalls ein Verkehrsminister der rot-grünen Regierung, der den letzten Bundesverkehrswegeplan im Jahr 2003 aufgestellt hat. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die SPD widerspricht gar nicht!) Die Erfindung dieses Ministers bestand in der Planungsreserve; das kann man auch heute noch nachlesen. Sie gewährleistet ein zusätzlich umsetzbares Baupotenzial, das dann aktiviert werden kann, wenn es bei anderen Vorhaben zu Verzögerungen bei der Realisierung kommt. So hat er das damals gesagt. Meine Damen und Herren, diese Planungsreserve hat dazu geführt, dass manche Investitionsrahmenpläne dreifach überzeichnet gewesen sind. Jetzt wollen Sie doch nicht allen Ernstes uns den Vorwurf machen, dass wir immer noch dabei sind, eine unglaubliche Bugwelle von teilweise Fantasieprojekten, die Sie in die Welt gesetzt haben, abzubauen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie setzen das aber fort!) Insofern, glaube ich, sollten Sie eher ein Lob für uns haben, dass die Finanzierung bei diesen Projekten jetzt realistisch ist. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch mal den harten Schnitt! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie uns aber erklären!) – Den harten Schnitt, liebe Frau Kollegin Wilms, fordern Sie in Ihrem Antrag. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Aber daran sieht man, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit mit jedem Oppositionsjahr weiter abnimmt. (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht nimmt sie auch in jedem Regierungsjahr weiter ab!) Sie wissen doch, wie der Bundesverkehrswegeplan aufgestellt wird. Dafür sind jahrelange Berechnungen, Gutachten, Planungen, Bürgerbeteiligungen, Beteiligungsverfahrens in den Ländern und alles Mögliche gemacht worden. Wenn Sie heute fordern, alles wieder auf null zu stellen, dann haben wir auf Jahre eine Zeit völliger Unsicherheit und ohne Planungsstrategie. Da Sie fragen, was diesem Plan zugrunde liegt, erkläre ich das vielleicht noch einmal. Das könnte man nachlesen. Man hätte auch heute Morgen um 7.30 Uhr zum Termin mit der DB gehen können. Sie waren doch auch da, Herr Krischer. Da wurden doch die nationalen Korridore, die Sie fordern, recht klar erklärt. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich? – Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Kollege Gastel und ich waren da! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Daran kann er sich gar nicht erinnern!) – Ach, der Kollege Krischer war um 7.30 Uhr noch nicht da. Das nehme ich zur Kenntnis, das ist kein Problem. Der Kollege Gastel wird Ihnen sicherlich berichtet haben, was die Strategien sind. Sie konnten die nationalen Korridore, die heute Morgen vorgestellt wurden, doch sehr gut sehen. Dass diese mit den europäischen TEN-Korridoren korrespondieren, ist sinnvoll. Genauso sinnvoll ist, dass ein Ausbau des 740Meter-Netzes geplant ist, damit auch längere Güterzüge überall durch Deutschland fahren können, und dass es die Knotenpunkt- und Engpassbeseitigung gibt. Ich lese Ihnen das mal vor: Bei der Schiene ist es so, dass Engpässe auf einer Länge von 700 Kilometern abgebaut werden. Damit werden 11 400 Stunden an sonst jährlich zu erwartender Wartezeit abgebaut. Das entspricht schon einmal 11 Prozent der zu erwartenden Zugverspätungen. Über 1 Milliarde PkwKilometer und 780 000 LkwFahrten pro Jahr werden damit vermieden. Das ist Engpassbeseitigung, weil wir uns ganz gezielt auf die Knoten fokussieren. Das ist auch bei der Straße der Fall. Deshalb gibt es auch die neue Kategorie: Vordringlicher Bedarf – Engpassbeseitigung. Das liegt daran, dass der Kern dieses Bundesverkehrswegeplans die Beseitigung von Engpässen ist. Eine weiterer Kernaussage lautet: Erhalt vor Neubau. Ich vergleiche einfach einmal: In dem letzten von Ihnen aufgestellten Bundesverkehrswegeplan 2003 war die Quote nahezu fifty-fifty. Wir sind jetzt bei 69 Prozent Erhalt und 31 Prozent Neubau. Insoweit ist das eine vernünftige und nachhaltige Politik. Es ist eine Politik, die wirklich vor Ort hilft. (Beifall bei der CDU/CSU) Da Sie immer noch auf dem Rechnungshof und dem NKV herumreiten: Ich habe einmal im BWLStudium gehört, dass man Kosten nicht berechnen kann, weil alle Gemeinkosten am Ende doch sehr willkürlich sind. Ich glaube auch, dass in der gesamten NKVRechnung eine ganze Reihe willkürlicher Komponenten enthalten sind. Wenn der Rechnungshof sich immer wieder darauf fokussiert und sagt, dass eine Schleuse unwirtschaftlich sei, weil er sie nur als Schleuse betrachtet und nicht sieht, dass sie einen Engpass für den gesamten Binnenwasserweg, der an ihr dranhängt, darstellt, dann ist das, finde ich, eine sehr willkürliche Kostenbetrachtung. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deshalb klingt Rechnungshof immer fast so wie TÜV; aber in Wahrheit liegen hier schwere systematische Fehler vor. Darüber müssen wir, glaube ich, noch einmal reden. Der Bundesverkehrswegeplan hat jetzt ein Gesamtvolumen von 264 Milliarden Euro. Dieses Volumen ist zum ersten Mal ein realistisches. Damit werden wir in Deutschland viele gute Projekte realisieren können – auch diejenigen, die mir selber am Herzen liegen und wofür ich mich einsetze, nämlich beispielsweise für das fünfte und sechste Gleis zwischen Duisburg und Düsseldorf, den bestmöglichen Lärmschutz beim Rhein-Ruhr-Express und den Regionalhalt in Benrath. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Gustav Herzog von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Gustav Herzog (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei den gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Grünen und der Union musste ich etwas schmunzeln. Die Grünen haben beim Bundesverkehrswegeplan mitgewirkt, und kurz danach war die Union in der Regierungsverantwortung. Wir müssen also sehen, dass wir alle für den heutigen Zustand die Verantwortung tragen. Deswegen ist etwas mehr Zurückhaltung in dieser Frage geboten. Und so schlecht war das ja auch wirklich nicht. Vor wenigen Tagen hat mir Staatssekretär Ferlemann eine Liste darüber zugeschickt, was denn aus dem letzten Bundesverkehrswegeplan im Bereich Fernstraße erledigt worden ist. Danach liegen wir für das Jahr 2014 bei 70 Prozent. Wenn man jetzt das hineinrechnet, was damals als Planungsreserve angenommen worden ist, dann kann man sagen, dass wir insgesamt gute Arbeit im Bereich Neu- und Ausbau geleistet haben. Ich gebe allen recht, die sagen, wir hätten mehr im Bereich des Erhalts tun müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grünen verlangen, dass wir den Bundesverkehrswegeplan weiterentwickeln. Deswegen lohnt sich der Blick zurück auf das Jahr 2003. Hat es denn eine Weiterentwicklung zu diesem Entwurf gegeben? Ja, es hat sie, was das Verfahren angeht, gegeben. Noch niemals war das Verfahren so transparent und mit so viel Bürgerbeteiligung versehen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) Frau Kollegin Wilms, es wurde bewusst ein erster Arbeitsentwurf erstellt. Die Regierung sagt: Wir nehmen den Sachverstand der Bürgerinnen und Bürger bzw. aller, die sich beteiligen wollen, um aus einem guten Plan einen besseren zu machen. Und das Sahnehäubchen setzen wir als Parlament dann darauf. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auf Ihre eigene Umweltministerin hören Sie nicht mehr, oder?) Ich komme zu den Inhalten, die dieser Plan enthält. Ich glaube, die Opposition war richtig erschrocken, als der Bundesverkehrsminister den Plan im Ausschuss vorlegte; denn alle ihre Erwartungen – die darauf hinausliefen, wir würden jetzt nur noch Straßen bauen und keinen Erhalt mehr vornehmen; also all das, was Sie sich so an Kritik vorgenommen haben – haben sich nicht erfüllt. Diese Kritik können Sie doch einpacken. (Zuruf der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) Sie ist einfach nicht gerechtfertigt, weil das, was im Koalitionsvertrag festgelegt worden ist und was wir am 25. März letzten Jahres gemeinsam im Deutschen Bundestag beschlossen haben, vollzogen worden ist: Erhalt vor Neubau, eine ausgewogene Verteilung auf die Verkehrsträger und Beseitigung von Engpässen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Leidig zu? Gustav Herzog (SPD): Aber immer doch, gerne. Sabine Leidig (DIE LINKE): Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Also, wir sind gar nicht erschrocken, weil wir es gar nicht anders erwartet haben. Ich möchte Ihnen aber schon ganz ernsthaft, Kollege Herzog, eine Frage stellen. Es gibt die Vorstellung, dass wir in 34 Jahren – um mehr Zeit geht es nicht; es ist wahrscheinlich so, dass wir es noch erleben können – mit null Öl- und CO2Emissionen auskommen sollen. Können Sie sich vorstellen, wie das mit der Infrastruktur realisiert werden soll, auf die Sie jetzt zusteuern? Das interessiert mich einfach. Ich finde es auch schwer vorstellbar, aber meine Wahrnehmung ist, dass die Menschen vor Ort eine viel größere Vorstellungskraft haben und vieles davon schon realisieren. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie haben doch geredet!) Es gibt praktisch gegen alle großen Autobahnausbau- und -neubauprojekte seit Jahren Bürgerinitiativen. Ich möchte gerne wissen: (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt mal eine Frage, bitte! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Frage!) Welche konkrete Vorstellung haben Sie davon, wie dieser Umbau stattfinden soll? Gustav Herzog (SPD): Frau Kollegin Leidig, ich glaube, Sie machen einen grundlegenden Denkfehler, weil Sie der Auffassung sind, die Straße, die Schiene oder die Wasserstraße produzieren CO2 oder NOx. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Aber das, was darauf fährt!) Das ist nicht der Fall. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Natürlich!) Es sind die Verkehrsmittel, die darauf bewegt werden. Jetzt erläutere ich Ihnen meine Version: Auf der Wasserstraße werden die Schiffe mit Wasserstoff- und Brennstoffzelle fahren. Wir werden den Schienenverkehr, ob Nahverkehr, Fernverkehr oder Güterverkehr, bis 2050 zu 100 Prozent mit grünem Strom versorgen, und es wird auch weiterhin der Individualverkehr mit dem Pkw stattfinden. Mit der Elektromobilität werden wir dafür sorgen, dass kein CO2Ausstoß erfolgt. Aber weiterhin wird die Straße, ob Bundesstraße oder kommunale Straße, notwendig sein. Das werden wir in 2050 haben: CO2freier Verkehr auf Straße, Schiene und Wasserstraße. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Und die Lkws? Das ist eine absurde Vorstellung: Lkws mit Elektromotor!) Ich war gerade bei der Frage der Kollegin Wilms nach einem Vorrangnetz. Frau Kollegin Wilms, wenn Sie sich die Arbeit machen, das nachzulesen, was wir im Bundesverkehrswegeplan zur Engpassbeseitigung skizziert haben, zum Beispiel bei TENProjekten und den Wasserstraßen der Kategorie A, dann stellen Sie eine große Übereinstimmung fest. Das, was Sie als Vorrangnetz wünschen, ist bereits im Plan abgebildet. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit den Ortsumfahrungen, Herr Kollege? 25 Prozent Ortsumfahrungen!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe ein anderes Problem. Wir haben einen Plan. Wir haben Geld. Aber wir suchen die Ressource, um das alles in den nächsten Jahren umzusetzen. Wir haben heute Morgen die Vertreter der DB AG gezielt gefragt, wie sie das alles umsetzen wollen. Wir wissen aus der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung, dass dringend Personal für Planung und Bau benötigt wird. Wir wissen auch, dass die Länder häufig nicht in der Lage sind, all das umzusetzen, was wir für notwendig halten. Von daher sollten wir in Zukunft das Augenmerk verstärkt darauf richten, wie wir all das Gute, das wir im Deutschen Bundestag beschließen werden, dann auch dem Bürger und der Bürgerin zur Verfügung stellen können. Der Entwurf des Bundesverkehrswegeplans ist positiv bewertet worden. Der nordrhein-westfälische Verkehrsminister hat ihn als größtes Antistauprogramm für sein Land bezeichnet. (Martin Burkert [SPD]: Welcher denn?) Bei Bayern tue ich mich etwas schwer, Kollege Burkert, weil ich nicht genau weiß: Wer ist wofür oder gegen etwas, und zwar parteiübergreifend? Aber die anderen, die sich mit Verkehrspolitik beschäftigen, finden es gut. Ich nehme es als ein positives Signal, dass es auch seitens derjenigen, die immer darauf achten, ob die Ahrensburger Liste und die Düsseldorfer Liste berücksichtigt worden sind, eine große Übereinstimmung gibt. Da haben wir unsere Hausaufgaben gemacht. Weil alle Parteien bis auf die Linke am 13. März in drei Ländern in Regierungsverantwortung hineinmanövriert wurden, halte ich fest: Auch in den Koalitionsverträgen in den drei Ländern findet der Bundesverkehrswegeplan mit geringen Abweichungen Zustimmung. Ich will mich noch in drei Punkten mit den Kritikern auseinandersetzen. Erstens, der Klimaschutz. Frau Kollegin Leidig, es geht um den Bundesverkehrswegeplan, nicht um den Klimaschutzplan der Bundesrepublik. (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das muss doch zusammenpassen!) Es findet aber in diesem Plan eine sehr sorgfältige Abwägung statt, welche Auswirkung welcher Investitionsanteil bei den verschiedenen Verkehrsträgern hat. Eine Erhöhung der Investitionen auf 62 Prozent bei der Schiene würde lediglich zu einer Einsparung von 1 Million Tonnen von 190 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2030 führen. Der gesellschaftliche Anspruch der Leichtigkeit und Sicherheit des Verkehrs überwiegt hier eindeutig. Den zweiten Punkt – Thema Klimaschutz – habe ich schon genannt: Wir müssen darauf setzen, dass die Verkehrsmittel, die genutzt werden, CO2-frei unterwegs sind. Was den Flächenverbrauch angeht, habe ich einen Blick in die große Liste des Umweltbundesamtes geworfen. Damit werden wir uns insgesamt noch sehr sorgfältig auseinandersetzen. Zum Lückenschluss der A 1 zwischen Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sind drei Projekte vorgesehen, darunter eines über eine Strecke von 10 Kilometern und eines über 6 Kilometer. Zwei dieser Projekte sollen umgesetzt werden; eines wurde vom UBA gestrichen. Das ist nicht logisch. Deswegen müssen wir uns noch einmal damit befassen. Es kann jedenfalls nicht allein um den Flächenverbrauch gehen. Abschließend will ich noch etwas zur Verlagerungsperspektive sagen. Wir geben deutlich mehr Geld für Schiene und Wasserstraße aus, als diese an Verkehrsleistungen erbringen. Frau Kollegin Leidig, im Übrigen stellt der Bund den Ländern 8 Milliarden Euro an Regionalisierungsmitteln für den Schienenpersonennahverkehr zur Verfügung. Das ist mehr, als wir für die Straße ausgeben. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Aber deutlich zu wenig!) Das ist mehr, als wir für die Schiene ausgeben. Das ist mehr, als wir für den Fernverkehr ausgeben. Das ist mehr, als wir für die Wasserstraße ausgeben. Ihre Behauptung, der Bund komme seiner Verantwortung für den kommunalen Verkehr nicht nach, geht völlig an der Wirklichkeit vorbei. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Sie geben 7 Milliarden Euro für die Dieselsubventionen aus! Das ist Unsinn! Da machen Sie sich etwas vor!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte hat Ulrich Lange von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Ulrich Lange (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, er liegt endlich da. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am Boden!) Natürlich freuen wir uns über den ersten Entwurf eines Bundesverkehrswegeplans. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind denn die Schienenprojekte?) Wir haben überwiegend große Zustimmung erfahren. Liebe Kollegin Leidig, Sie haben schon eine sehr selektive Wahrnehmung, (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ich habe eine andere Perspektive! Zum Glück!) wenn Sie sich nur mit Bürgerinitiativen, die dagegen sind, auseinandersetzen. Wir sprechen genauso gern mit Bürgerinitiativen, die dafür sind, weil wir auch einmal für etwas sein wollen und sein können. (Beifall bei der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Würde ich ja gern!) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, es ist wirklich müßig, aber das Spiel läuft immer gleich: Für Sie ist Doppelzüngigkeit typisch, wenn es um das Verhältnis zwischen Berlin und den Ländern geht. Sie verhalten sich immer gleich. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hier in Berlin sagen Sie, man könne mit diesem Bundesverkehrswegeplan überhaupt nichts anfangen. Ich darf zwei Ihrer Länderkollegen zitieren. Der Verkehrssenator Joachim Lohse aus dem Stadtstaat Bremen sagt – Frau Kollegin Leidig, vielleicht hören auch Sie zu, da Sie sich über diesen Stadtstaat geäußert haben –: „Aus Bremer Sicht ist der neue Bundesverkehrswegeplan ein voller Erfolg.“ (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da geht es um die A 100!) Aus Baden-Württemberg hören wir von Winnie Hermann, dem Minister der Spatenstiche in den letzten Wochen und Monaten – das hat ihm richtig gut gefallen; bei jedem Spatenstich wollte er gleich einen neuen Spaten für den nächsten Stich haben –, zum neuen Bundesverkehrswegeplan: „Es bleiben da nur wenige Wünsche offen.“ (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das sagt ein Grüner! Alle Achtung!) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, ein bisschen mehr innere Stringenz täte Ihnen wirklich gut. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das von der CSU!) Wir haben einen durchfinanzierten Bundesverkehrswegeplan. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben für einen Investitionshochlauf gesorgt. Wir haben die Wende hin zu mehr finanziellen Mitteln für die Verkehrsinfrastruktur und alle Verkehrsträger geschafft. Das ist eine große Leistung der Großen Koalition. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ein Schönrechner! – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich gespannt, ob die kommen!) Wir haben die Beseitigung des Engpasses beim vordringlichen Bedarf priorisiert. Aber wir haben mit unserem Beschluss auch klar festgelegt: Es gibt zunächst einen vordringlichen Bedarf und dann einen weiteren Bedarf. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und einen potenziellen Bedarf!) Wir bewegen uns also in zwei Blöcken mit klaren Aussagen. Wir haben zudem Netzzusammenhänge berücksichtigt. (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es sind 70 Prozent der Schiene noch nicht einmal bewertet!) Schauen Sie sich den Bundesverkehrswegeplan doch einmal genau an. Lesen bildet! Wir haben die Umweltverträglichkeit im Rahmen der Strategischen Umweltprüfung überprüft. Da wir hier einen Bundesverkehrswegeplan vorlegen, kann ich manche Kritik nicht ganz nachvollziehen. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben die Ortsumgehungen damit zu tun?) Für uns gilt noch immer, dass die verkehrlichen Belange und die Umweltbelange gegeneinander abzuwägen sind und dass an der einen oder anderen Stelle die verkehrlichen Belange überwiegen müssen. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Denn am Ende gilt immer noch: Mensch vor Maus. (Beifall bei der CDU/CSU) Das, was Sie wollen, wäre ein sofortiger Stopp Ihres eigenen Gesetzes. Nein, das machen wir nicht; denn wir sind gesetzestreu. Das gilt für uns Parlamentarier ebenso wie für die Bundesregierung. Wir werden das, was beschlossen wurde, umsetzen. Das geschah damals nicht mit unserer Mehrheit; aber wir arbeiten gemeinsam daran seit vielen Jahren, und zwar in den unterschiedlichsten Konstellationen, übrigens auch ganz intensiv mit den Grünen in den Ländern, wenn es um die Umsetzung einiger Projekte geht, die auch sie nicht stoppen. Orientieren Sie sich bitte auch hier an der Realität. 141,6 Milliarden Euro für den Erhalt zeigen auch die neue Qualität des Bundesverkehrswegeplans. Dem Grundsatz „Erhalt vor Neubau“ wurde weiß Gott Rechnung getragen. Liebe Kollegin Wilms, weil Sie es von mir auch heute Nachmittag unbedingt noch einmal hören wollen: Ja, zum Glück haben wir Ortsumfahrungen; denn es gibt viele gute und wichtige Ortsumfahrungen. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) Sie sind wichtig zur Entlastung der Menschen. Ortsumfahrungen sind nicht grundsätzlich negativ. Viele Ortsumfahrungen sind einfach verkehrlich gut. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben mit dem Entwurf des Bundesverkehrswegeplans etwas Positives auf den Weg gebracht. Jetzt ist eines gefordert: Auch die Länder müssen mitziehen; denn der Bund allein kann es nicht. Nur, eines geht in Zukunft nicht mehr: der Fingerzeig auf den Bund, weil nicht gebaut werden kann, ganz egal aus welchem Land und von welcher Regierung er kommt. Wir haben einen Verkehrswegeplan in Arbeit, der bald fertig ist, und wir haben einen Finanzierungshochlauf. Liebe Länder, jetzt seid ihr dran, zu planen und Baurecht zu schaffen. Ihr könnt nicht mehr mit dem Finger auf den Bund zeigen. In diesem Sinne: Packen wir es an. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/8083 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf Mittwoch, den 11. Mai 2016, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein schönes, erholsames Wochenende. Bis bald. (Schluss: 14.02 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 29.04.2016 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 29.04.2016 Bleser, Peter CDU/CSU 29.04.2016 Böhmer, Dr. Maria CDU/CSU 29.04.2016 Castellucci, Dr. Lars SPD 29.04.2016 Dehm, Dr. Diether DIE LINKE 29.04.2016 Fuchs, Dr. Michael CDU/CSU 29.04.2016 Gabriel, Sigmar SPD 29.04.2016 Gohlke, Nicole DIE LINKE 29.04.2016 Grindel, Reinhard CDU/CSU 29.04.2016 Gröhe, Hermann CDU/CSU 29.04.2016 Held, Marcus SPD 29.04.2016 Holmeier, Karl CDU/CSU 29.04.2016 Janecek, Dieter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 29.04.2016 Klingbeil, Lars SPD 29.04.2016 Kühn (Tübingen), Christian BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 29.04.2016 Kühn-Mengel, Helga SPD 29.04.2016 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 29.04.2016 Lotze, Hiltrud SPD 29.04.2016 Ludwig, Daniela CDU/CSU 29.04.2016 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 29.04.2016 Maizière, Dr. Thomas de CDU/CSU 29.04.2016 Middelberg, Dr. Mathias CDU/CSU 29.04.2016 Müller, Bettina SPD 29.04.2016 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 29.04.2016 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 29.04.2016 Scheuer, Andreas CDU/CSU 29.04.2016 Schulte, Ursula SPD 29.04.2016 Steffel, Dr. Frank CDU/CSU 29.04.2016 Strobl (Heilbronn), Thomas CDU/CSU 29.04.2016 Thönnes, Franz SPD 29.04.2016 Ulrich, Alexander DIE LINKE 29.04.2016 Veit, Rüdiger SPD 29.04.2016 Veith, Oswin CDU/CSU 29.04.2016 Vogt, Ute SPD 29.04.2016 Weinberg, Harald DIE LINKE 29.04.2016 Weisgerber, Dr. Anja CDU/CSU 29.04.2016 Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 29.04.2016 Whittaker, Kai CDU/CSU 29.04.2016 Wicklein, Andrea SPD 29.04.2016 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 29.04.2016 Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über die Empfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 289 (Drucksache 18/8092) zur Petition 4-18-11-81503-001721 (Tagesordnungspunkt 26) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Ich stimme für die Petition von Inge Hannemann, und damit stimme ich heute mit weiteren 90 000 Unterstützerinnen und Unterstützer dieser Petition zu. Ich stimme für die Petition von Frau Hannemann, weil man von Hartz IV nicht leben kann. Genau das ist aber von der Mehrheit der hier im Bundestag vertretenen Parteien politisch gewollt: Hartz IV heißt Armut und Entbehrung per Gesetz. Deshalb hat Die Linke als einzige Partei von Anfang an Nein dazu gesagt. Ich stimme dafür, Sanktionen abzuschaffen, weil im vergangenen Jahr in den Amtsstuben der Jobcenter und der Optionskommunen knapp eine Million Mal Sanktionen verhängt wurden: 416 292 Menschen wurden 2015 erstmals mit der Kürzung des Existenzminimums bestraft. Die meisten davon nur wegen Meldeversäumnissen. Einem nackten Menschen kann man nicht in die Tasche greifen. Aber wissen Sie, was diese Zahl bedeutet? Genau das. Einem von 200 Menschen in diesem reichen Land wurde 2015 noch einmal in die Tasche gegriffen, obwohl man mit Hartz IV eh nichts in der Tasche hat. 108 Euro waren das im Durchschnitt. Einem von 200 Menschen in unserem Land wurde 2015 damit das Existenzminimum verweigert, einem von 200 Menschen wurden die Menschenrechte gekürzt. Das darf nicht sein. Darum stimme ich für die Petition. Inge Hannemann zitiert in ihrer Petition das Bundesverfassungsgericht: Das Existenzminimum gehört zur Menschenwürde. Es ist ein unverfügbares Grundrecht und muss zu jeder Zeit garantiert werden. Richtig, sage ich, und deshalb stimme ich heute gegen die Beschlussempfehlung des Ausschusses. Der Sozialstaat soll die Menschenwürde schützen und soll vor Zukunftsängsten schützen. Doch die Sanktionen bewirken das genaue Gegenteil, sie machen Angst. An dieser Angst haben die Arbeitgeber in den Jahren seit der Einführung von Hartz IV nicht schlecht verdient: Die Zunahme von Leiharbeit und Niedriglöhnen seit der Einführung von Hartz IV wäre ohne Sanktionen kaum möglich gewesen. Deshalb ist meine Stimme für die Petition zur Abschaffung der Sanktionen auch eine Stimme für gute Arbeit und gute Löhne. Cornelia Möhring (DIE LINKE): Dem ablehnenden Abschluss der Petition von Frau Hannemann kann ich nicht zustimmen. Dass die Petition von Frau Hannemann mit Ablehnung abgeschlossen wurde, ist ein Armutszeugnis. Die Petentin und mit ihr die 90 000 Unterstützerinnen und Unterstützer der Petition fordern die Abschaffung der Sanktionsregelungen bei Hartz IV (SGB II) und in der Sozialhilfe (SGB XII). Hierbei geht es um nicht weniger als die Achtung der Menschenwürde: Die Garantie des menschenwürdigen Existenz- und Teilhabeminimums ist ein in Artikel 1 und 20 Absatz 1 Grundgesetz (GG) verankertes Grundrecht jedes Menschen, der sich in Deutschland aufhält. Das Sozialstaatsgebot verpflichtet den Staat, dieses Grundrecht zu gewährleisten. Die Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums durch Sanktionen verletzt dieses Grundrecht. Was diese Verletzung für den Alltag der von Sanktionen betroffenen Menschen bedeutet, hat Frau Hannemann als langjährige Mitarbeiterin in einem Jobcenter in Hamburg in der öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses eindrücklich geschildert: Sanktionen entwürdigen die Leistungsberechtigten, sie bedeuten im Effekt Elend und Ausschluss. Sanktionen erzeugen Zukunftsängste, sind psychisch stark belastend. Verlust von Selbstvertrauen, Schlafstörungen oder Depressionen sind keine seltenen Erscheinungen. Viele Betroffene werden mit der Situation nicht fertig und werden krank. Insbesondere bei jungen Erwachsenen nehmen Sanktionen sogar Wohnungslosigkeit in Kauf. Nicht selten führen Sanktionen in die soziale Isolation, weil mit Rückzug aus dem eigenen Umfeld reagiert wird. Oftmals verschulden sich sanktionierte Menschen, um überhaupt noch halbwegs über die Runde zu kommen. Sanktionen werden – so hat es auch Hannemann in der öffentlichen Sitzung ausgeführt – von den Betroffenen als Strafen verstanden; Strafen für ein Verhalten, welches die Jobcenter als falsch bewerten. Sanktionen behandeln damit erwachsene Menschen wie unmündige Kleinkinder, denen ein Erziehungsberechtigter sagt, was es zu tun und zu lassen hat. Das Jobcenter wird im Auftrag des Gesetzgebers zu einem „Erziehungsberechtigten“. Eine Funktion, die dem Jobcenter nicht zukommt, denn: Leistungsberechtigte sind keine unmündigen Kinder, sondern vollwertige Mitbürgerinnen und Mitbürger, deren Würde und Autonomie zu respektieren ist. Hannemann macht das Problem konkret deutlich: Leistungsberechtigte haben vielfach gute Gründe, den Anforderungen der Jobcenter nicht nachzukommen, sei es die x-te als sinnlos empfundene, aber trotzdem vom Jobcenter auferlegte Maßnahme, sei es der berechtigte Widerstand gegen einen nicht existenzsichernden Job. Hannemann sagt zu Recht: Die betroffenen Menschen wissen selbst am besten, welche Maßnahmen hilfreich und nützlich sind und welche Auflagen ihrer Würde widersprechen. Statt Hilfe und Unterstützung bei ihren eigenen Anstrengungen erfahren die Menschen in den Jobcentern einen bürokratischen Apparat, der sie entwürdigt und maßregelt. Es fehlt den Jobcentern massiv an Zeit und Empathie für das Eingehen auf die individuellen Nöte und Bedürfnisse der hilfeberechtigten Personen. Hilfe und Unterstützung statt Gängelung und Entwürdigung – das ist das Leitmotiv von Inge Hannemann. Fast eine Million Sanktionen werden pro Jahr ausgesprochen. Die Leistung wird im Durchschnitt jeder Sanktion um über 100 Euro reduziert. Wird mit diesen beiden Eckdaten gerechnet, so spart die öffentliche Hand Jahr für Jahr fast 200 Millionen Euro an vorenthaltenen Leistungen. Der Staat spart damit auf Kosten der Hartz-IV-Berechtigten, auf Kosten also von Menschen, die in Armut leben. Sanktionen unterschreiten Leistungen, die bereits unabhängig von den Kürzungen bereits viel zu gering sind. Ein Leben in Hartz IV bedeutet – politisch gewollt – ein Leben in Armut und Entbehrung. Eine Kürzung dieser bereits unzureichenden Leistung führt zu erheblichen sozialen Verwerfungen. Diese die Würde des Menschen verachtende Praxis muss endlich ein Ende haben. Kersten Steinke (DIE LINKE): Dem ablehnenden Abschluss der Petition von Frau Hannemann kann ich nicht zustimmen. Die Petentin fordert mit guten Gründen die Abschaffung der Sanktionsregelungen bei Hartz IV (SGB II) und in der Sozialhilfe (SGB XII). 91 500 Menschen haben die Petition unterstützt. Frau Hannemann hat in einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses aus ihrer Erfahrung als langjährige Mitarbeiterin in einem Jobcenter in Hamburg deutlich gemacht, dass Sanktionen die Leistungsberechtigten nicht nur entwürdigen, sondern auch Elend und Ausschluss statt Hilfe und Unterstützung bedeuten. Dieser Argumentation und der Forderung der Petition kann ich mich aus Gesprächen mit Betroffenen nur anschließen. Fast eine Million Sanktionen werden pro Jahr ausgesprochen. Die Leistung wird im Durchschnitt jeder Sanktion um über 100 Euro reduziert. Dadurch kann der Staat Jahr für Jahr fast 200 Millionen Euro an vorenthaltenen Leistungen auf Kosten der Ärmsten sparen. Sanktionen stellen eine Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums dar. Es ist nicht zu akzeptieren, wenn in einem reichen Land wie Deutschland Menschen – trotz anerkannter Hilfebedürftigkeit – existentieller Not bis hin zu Obdachlosigkeit ausgesetzt werden. Mit Bezug auf das Bundesverfassungsgericht wird ausgeführt, dass die Garantie des menschenwürdigen Existenzminimums durch die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot ein zwingender Auftrag an den Staat ist. Das Existenzminimum ist stets und zu jeder Zeit zu garantieren, so die Urteile. Mit diesem Grundrecht ist eine Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums durch Sanktionen nicht zu vereinbaren. Diese Einschätzung der Petentin wird mittlerweile auch geteilt von dem Sozialgericht Gotha (S 15 AS 5157/14). Das Sozialgericht führt die verfassungsrechtlichen Bedenken an den Sanktionsregeln bei Hartz IV aus und hat die Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Mehr als jeder dritte Widerspruch und 40 Prozent aller Klagen gegen Hartz-IV-Sanktionen bekommen Recht. Sanktionen sind für die Betroffenen Strafen. Sanktionen behandeln damit erwachsene Menschen wie unmündige Kleinkinder, denen ein Erziehungsberechtigter sagt, was es zu tun und zu lassen hat. Das Sanktionsregime unterstellt, dass die Erwerbslosigkeit und die Hilfebedürftigkeit der Betroffenen in erster Linie ein Ergebnis falschen Verhaltens sei und durch Sanktionsandrohungen korrigiert werden könne. Das Jobcenter wird im Auftrag des Gesetzgebers zu einem ,,Erziehungsberechtigten“. Eine Funktion, die dem Jobcenter nicht zukommt, denn: Leistungsberechtigte sind keine unmündigen Kinder, sondern vollwertige Mitbürgerinnen und Mitbürger, deren Würde und Autonomie zu respektieren ist. Die Petentin macht das Problem konkret deutlich: Leistungsberechtigte haben vielfach gute Gründe, den Anforderungen der Jobcenter nicht nachzukommen, sei es die x-te als sinnlos empfundene, aber trotzdem vom Jobcenter auferlegte Maßnahme, sei es der berechtigte Widerstand gegen einen nicht existenzsichernden Job. Hannemann sagt zu Recht: Die betroffenen Menschen wissen selbst am besten, welche Maßnahmen hilfreich und nützlich sind und welche Auflagen ihrer Würde widersprechen. Statt Hilfe und Unterstützung bei ihren eigenen Anstrengungen erfahren die Menschen in den Jobcentern einen bürokratischen Apparat, der sie entwürdigt und maßregelt. Es fehlt den Jobcentern massiv an Zeit und Empathie für das Eingehen auf die individuellen Nöte und Bedürfnisse der hilfeberechtigten Personen. Hilfe und Unterstützung statt Gängelung und Entwürdigung – das ist das Leitmotiv von Inge Hannemann, denn Arbeitslosigkeit ist das Ergebnis der strukturellen Probleme des Kapitalismus. Betroffene werden zu Tätern der Arbeitsmarktkrise umgedeutet. Zudem blendet das Aktivierungskonzept aus, dass Hartz-IV-Leistungsberechtigte bereits jetzt vielfältig aktiv sind – sie gehen bereits Erwerbsarbeit nach (sogenannte Aufstocker), sie leisten Erziehungs- oder Pflegearbeit, sie sind ehrenamtlich aktiv. Sie suchen aktiv nach Erwerbsarbeit. Die Bereitschaft zur Erwerbsarbeit muss ihnen nicht aufgezwungen werden. Im Gegenteil: Die Betroffenen empfinden die Erwerbslosigkeit als Ausschluss aus einem wichtigen Aspekt der sozialen Teilhabe. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Ich stimme der Ablehnung der Petition von Inge Hannemann nicht zu. Es gibt gute Gründe, die Sanktionsregelung bei Hartz IV (SGB II) und der Sozialhilfe (SGB XII) abzuschaffen. Mit 90 000 Stimmen für die Petition war das Quorum für eine öffentliche Sitzung des Petitionsausschusses deutlich überschritten – was die gesellschaftliche Brisanz und das hohe Interesse der Bürgerinnen und Bürger zeigt. Sanktionen bewirken, dass das menschenwürdige Existenz- und Teilhabeminium unterschritten wird und Menschen in Not in noch größere Not gezwungen werden, Unterversorgung und drohende Obdachlosigkeit inklusive. Fast eine Million Sanktionen werden pro Jahr ausgesprochen. Mit Bezug auf das Bundesverfassungsgericht führt die Petentin mit Recht aus, dass das menschenwürdige Existenzminimum durch die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot zwingender Auftrag des Staates ist. Auch einer juristischen Prüfung hält die Sanktionspraxis oft nicht stand, wie kürzlich eine kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Katja Kipping zeigte. Sanktionen entmündigen die von Hartz IV und Sozialhilfe betroffenen Menschen und despektieren deren Würde und Autonomie. Statt Hilfe und Unterstützung erfahren sie einen bürokratischen Apparat, der sie maßregelt und gängelt. Sanktionen führen stärker zu sozialem Rückzug, belasten den gesundheitlichen Zustand und die subjektive Befindlichkeit der Sanktionierten, wie eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zu Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen bei Hartz IV und Sozialhilfe aufzeigt, die im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales, NRW, erstellt wurde. Die Sanktionspraxis unterstellt den Menschen in Hartz IV und Sozialhilfe, dass sie durch eigenes falsches Verhalten in diese Hilfebedürftigkeit geraten sind oder verbleiben. Die Sanktionen nehmen den Menschen das Recht, Nein zu sagen – zu unzumutbaren Arbeitsbedingungen, -zeiten oder zu geringen Löhnen, und zermürbt sie. Die Konzessionsbereitschaft – also die Bereitschaft dahin gehend, Zugeständnisse zu machen, steigt. Profiteure dieser Praxis sind bekanntlich die Leiharbeitsfirmen, die die Betroffenen in nicht nachhaltige Jobs und prekäre Lebenssituationen trotz Arbeit zwingen. Wie schon in unserem Antrag „Sanktionen bei Hartz IV und Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe abschaffen“ (18/1115) dargelegt, sind Sanktionen nicht nur in Bezug auf Demokratie und Verfassungsrecht abzulehnen, sie sind überdies arbeitsmarktpolitisch geradezu sinnlos. Katrin Werner (DIE LINKE): Dem ablehnenden Abschluss der Petition von Frau Hannemann kann ich nicht zustimmen. Die Petentin fordert mit guten Gründen die Abschaffung der Sanktionsregelungen bei Hartz IV (SGB II) und in der Sozialhilfe (SGB XII). 90 000 Menschen habe die Petition unterstützt. Damit war das Quorum für eine öffentliche Sitzung des Petitionsausschusses deutlich überschritten. Frau Hannemann hat in dieser öffentlichen Sitzung aus ihrer Erfahrung als langjährige Mitarbeiterin in einem Jobcenter in Hamburg deutlich gemacht, dass Sanktionen die Leistungsberechtigten entwürdigen und im Effekt Elend und Ausschluss statt Hilfe und Unterstützung bedeuten. Dieser Argumentation und der Forderung der Petition kann ich mich mit meinen eigenen Erfahrungen nur anschließen. Fast eine Million Sanktionen werden pro Jahr ausgesprochen. Die Leistung wird im Durchschnitt jeder Sanktion um über 100 Euro reduziert. Wird mit diesen beiden Eckdaten gerechnet, so spart die öffentliche Hand Jahr für Jahr fast 200 Millionen Euro an vorenthaltenen Leistungen. Der Staat spart damit auf Kosten der Ärmsten, auf Kosten der Hartz-IV-Berechtigten und ihrer Kinder. Das Sanktionsregime unterstellt, dass die Erwerbslosigkeit und die Hilfebedürftigkeit der Betroffenen selbstverschuldet seien. Die falschen Verhaltensweisen, so die Unterstellung weiter, könne durch „Aktivierung“, durch Sanktionsandrohungen korrigiert werden. Diese Vorstellung geht an der Wirklichkeit vorbei. Zunächst ignoriert die Idee der Aktivierung die Tatsache, dass Arbeitslosigkeit das Ergebnis der strukturellen Probleme des Kapitalismus ist. Stattdessen werden die Betroffenen zu den Verantwortlichen der Arbeitsmarktkrise umgedeutet. Zudem blendet das Aktivierungskonzept aus, dass Hartz-IV-Leistungsberechtigte bereits jetzt vielfältig aktiv sind – sie gehen bereits Erwerbsarbeit nach (sogenannte Aufstocker), sie leisten Erziehungs- oder Pflegearbeit, sie sind ehrenamtlich aktiv, sie suchen aktiv nach Erwerbsarbeit. Die Bereitschaft zur Erwerbsarbeit muss ihnen nicht aufgezwungen werden. Im Gegenteil: Die Betroffenen empfinden die Erwerbslosigkeit als Ausschluss aus einem wichtigen Aspekt der sozialen Teilhabe. Die Vorstellung einer „Hängemattenmentalität“ bei den Betroffenen, die quasi mit Gewalt ausgetrieben werden müsse, geht an der Wirklichkeit vorbei und befördert soziale Diskriminierung und Stigmatisierung. Birgit Wöllert (DIE LINKE): Dem ablehnenden Abschluss der Petition von Frau Hannemann – mit der Forderung, die Normen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch ersatzlos zu streichen, die Möglichkeiten von Sanktionen bzw. Leistungseinschränkungen vorsehen – kann ich nicht zustimmen. Die Petentin fordert mit guten Gründen die Abschaffung der Sanktionsregelungen bei Hartz IV (SGB II) und in der Sozialhilfe (SGB XII). 91 500 Menschen haben die Petition unterstützt. Frau Hannemann hat in einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses aus ihrer Erfahrung als langjährige Mitarbeiterin in einem Jobcenter in Hamburg deutlich gemacht, dass Sanktionen die Leistungsberechtigten nicht nur entwürdigen, sondern auch Elend und Ausschluss statt Hilfe und Unterstützung bedeuten. Sanktionen stellen eine Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums dar. Es ist nicht zu akzeptieren, wenn in einem reichen Land wie Deutschland Menschen – trotz anerkannter Hilfebedürftigkeit – existentieller Not bis hin zu Obdachlosigkeit ausgesetzt werden. Mit Bezug auf das Bundesverfassungsgericht wird ausgeführt, dass die Garantie des menschenwürdigen Existenzminimums durch die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot ein zwingender Auftrag an den Staat ist. Das Existenzminimum ist stets und zu jeder Zeit zu garantieren, so die Urteile. Mit diesem Grundrecht ist eine Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums durch Sanktionen nicht zu vereinbaren. Diese Einschätzung der Petentin wird mittlerweile auch vom Sozialgericht Gotha (S 15 AS 5157/14) geteilt. Das Sozialgericht führt die verfassungsrechtlichen Bedenken an den Sanktionsregeln bei Hartz IV aus und hat die Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Zudem sind Hartz-IV-Sanktionen grundrechtswidrig, weil sie das ohnehin zu geringe Existenzminimum kürzen. Sie verletzen das Recht auf Berufsfreiheit, weil schon die Sanktionsandrohung einen faktischen Zwang ausübt, einer nicht frei gewählten Arbeitstätigkeit nachzugehen. Hinzu kommt, dass jedem dritten Widerspruch und 40 Prozent aller Klagen gegen Hartz-IV-Sanktionen stattgegeben wird. Hier entstehen hohe Kosten, die bei Abschaffung der Sanktionen wirksamen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zugutekommen könnten. Statt Hilfe und Unterstützung bei ihren eigenen Anstrengungen erfahren die Menschen in den Jobcentern einen bürokratischen Apparat, der sie entwürdigt und maßregelt. Es fehlt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jobcenter massiv an Zeit, um auf die individuellen Nöte und Bedürfnisse der hilfeberechtigten Personen einzugehen. Menschen, die von Sanktionen betroffen sind, haben nur selten die Möglichkeit, die finanziellen Einbußen zu überbrücken. Die Folgen sind abzusehen und belegt: Durch Leistungskürzungen werden Betroffene in die soziale Isolation getrieben, der Weg zurück auf den Arbeitsmarkt und in die Mitte der Gesellschaft wird erschwert oder gar verhindert. Viele, besonders junge Erwerbslose, brechen nach Sanktionserfahrungen ihren Kontakt zu den zuständigen Behörden ab und verschwinden damit sowohl aus der Statistik als auch aus den öffentlichen Unterstützungssystemen. Positive Effekte auf den Arbeitsmarkt sind dagegen nicht spürbar. Aus den vorgenannten Gründen stimme ich gegen die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses, das Petitionsverfahren abzuschließen. Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Die Petition von Frau Hannemann verfolgt ein richtiges Ziel. Der Hartz-IV-Regelsatz soll das Existenzminimum sichern. Der Regelsatz ist ohnehin schon viel zu knapp bemessen. Davon sollen Menschen das bezahlen, was sie zu ihrer Existenz, also zum Nötigsten, brauchen. Von diesem Geld darf grundsätzlich nichts mehr weggekürzt werden. Denn das bedeutet, Menschen staatlicherseits in existentielle Not zu stoßen. Die Jobcenter verhängen Sanktionen für geringfügigste Regelverletzungen, in den meisten Fällen dafür, dass Termine versäumt wurden. Wir wissen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jobcenter, dass Sanktionen eingesetzt werden, um die Ausgaben der Jobcenter zu reduzieren. Das führt zusätzlich zu einer exzessiven Anwendung von Sanktionen. Dass diese rechtlich oft nicht gerechtfertigt sind, beweist die hohe Zahl von erfolgreichen Widersprüchen und Klagen. Und dabei kennen bei Weitem nicht alle Betroffenen ihre Rechte und wissen, dass sie Einspruch erheben können. Das Sanktionsregime bedeutet deshalb andauernde Rechtsbrüche durch eine staatliche Einrichtung. Es soll Menschen Angst machen und sie gefügig machen, damit sie jeden noch so schlechten Job annehmen, der ihnen angeboten wird. Dieses Vorgehen ist einer Demokratie unwürdig. Es ist ein dauernder Angriff auf die Menschenwürde. Frau Hannemann hat mit ihrem Anliegen daher vollkommen Recht. Hartz IV und sein Sanktionsregime gehören abgeschafft. Wir brauchen eine sanktionsfreie soziale Mindestsicherung, die ein Leben in Würde ermöglicht. Es stünde dem Bundestag gut zu Gesicht, sich für die Grundrechte von Millionen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes einzusetzen, die unter dem Hartz-IV-Sanktionsregime existenziell zu leiden haben. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Der Bundesrat hat in seiner 944. Sitzung am 22. April 2016 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz zur Umsetzung der prüfungsbezogenen Regelungen der Richtlinie 2014/56/EU sowie zur Ausführung der entsprechenden Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 im Hinblick auf die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (Abschlussprüfungsreformgesetz – AReG) – Gesetz zu dem Vertrag vom 28. April 2015 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die polizeiliche Zusammenarbeit und zur Änderung des Vertrages vom 2. Februar 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 und die Erleichterung seiner Anwendung – Gesetz zu dem Vertrag vom 24. Oktober 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die Nutzung und Verwaltung des Küstenmeers zwischen 3 und 12 Seemeilen – … Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des Europarats im Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni 2015 Drucksachen 18/7983, 18/8129 Nr. 1.1 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des Europarats im Zeitraum vom 1. Juli bis 31. Dezember 2015 Drucksachen 18/7984, 18/8129 Nr. 1.2 Innenausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Zwölfter Bericht der Bundesregierung nach § 5 Absatz 3 des Bundesstatistikgesetzes für die Jahre 2009 und 2010 Drucksachen  17/6236, 18/641 Nr. 1 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung nach § 5 Absatz 3 des Bundesstatistikgesetzes für die Jahre 2011 und 2012 Drucksachen 17/14424, 18/641 Nr. 22 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung nach § 5 Absatz 3 des Bundesstatistikgesetzes für die Jahre 2013 und 2014 Drucksachen 18/4532, 18/4732 Nr. 2 Ausschuss für Wirtschaft und Energie – Unterrichtung durch die Bundesregierung Erfahrungsbericht zum Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz (EEWärmeG-Erfahrungsbericht) Drucksachen 17/11957, 18/770 Nr. 15 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Zweiter Erfahrungsbericht zum Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz (2. EEWärmeG-Erfahrungsbericht) Drucksachen 18/6783, 18/6933 Nr. 1.5 Verteidigungsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Vierter Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz (Berichtszeitraum 1. Januar 2011 bis 31. Dezember 2014) Drucksachen 18/7410, 18/7605 Nr. 4 Ausschuss für Verkehr und digitale Agenda – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ÖPP-Projekte im Betrieb Drucksachen 18/6898, 18/7116 Nr. 2 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit – Unterrichtung durch die Bundesregierung Umweltbericht 2015 Auf dem Weg zu einer modernen Umweltpolitik Drucksachen 18/6470, 18/6605 Nr. 1.7 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Dokumentennummer Drucksache 18/7733 Nr. A.1 Ratsdokument 5801/16 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Dokumentennummer Drucksache 18/7612 Nr. A.30 Ratsdokument 14992/15 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Dokumentennummer Drucksache 18/7934 Nr. A.26 Ratsdokument 5857/16 1)  Anlage 2 --------------- ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 168. Sitzung, Berlin, Freitag, den 29. April 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 168. Sitzung, Berlin, Freitag, den 29. April 2016 16581 Plenarprotokoll 18/168