Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 170. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2016 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeordneten Dr. h. c. Gernot Erler 16689 A Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 16689 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 5, 18 c und 24 a 16690 A Nachträgliche Ausschussüberweisungen 16690 A Begrüßung des Präsidenten der Staatsversammlung der Republik Slowenien, Herrn Milan Brglez 16700 D Tagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung des Ausbaus digitaler Hochgeschwindigkeitsnetze (DigiNetzG) Drucksache 18/8332 16690 C Alexander Dobrindt, Bundesminister BMVI 16690 D Herbert Behrens (DIE LINKE) 16692 A Martin Dörmann (SPD) 16693 C Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16694 C Thomas Jarzombek (CDU/CSU) 16696 C Lars Klingbeil (SPD) 16698 A Patrick Schnieder (CDU/CSU) 16699 B Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16700 B Udo Schiefner (SPD) 16701 A Ulrich Lange (CDU/CSU) 16701 D Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Erklärung nach § 30 GO) 16702 D Tagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Fluchtursachen bekämpfen – Aufnahmestaaten um Syrien sowie Libyen entwicklungspolitisch stärken Drucksache 18/8393 16703 B b) Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Uwe Kekeritz, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 25 Jahre Waffenstillstandsabkommen in der Westsahara – UN-Resolution 690 umsetzen, Referendum durchführen Drucksache 18/8247 16703 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Claudia Roth (Augsburg), Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Interministerielle Zusammenarbeit bei der Bewältigung der Fluchtkrise in Drittstaaten verbessern Drucksachen 18/6772, 18/8430 16703 C Dr. Gerd Müller, Bundesminister BMZ 16703 C Heike Hänsel (DIE LINKE) 16705 D Axel Schäfer (Bochum) (SPD) 16707 B Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16708 A Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) 16709 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16710 D Gabriela Heinrich (SPD) 16711 D Heike Hänsel (DIE LINKE) 16712 C Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) 16714 A Michelle Müntefering (SPD) 16715 B Tobias Zech (CDU/CSU) 16716 B Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Renate Künast, Dr. Konstantin von Notz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches zur Streichung des Majestätsbeleidigungsparagrafen (§ 103 StGB) Drucksache 18/8123 16717 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Abgeordneten Harald Petzold (Havelland), Frank Tempel, Dr. André Hahn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Neuordnung der Beleidigungsdelikte Drucksache 18/8272 16717 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16717 D Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) 16719 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 16721 A Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) 16721 C Dr. Eva Högl (SPD) 16723 A Detlef Seif (CDU/CSU) 16724 A Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16726 B Christian Flisek (SPD) 16727 C Thorsten Frei (CDU/CSU) 16728 D Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16729 A Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) 16730 C Thorsten Frei (CDU/CSU) 16730 D Dr. Johannes Fechner (SPD) 16731 B Alexander Hoffmann (CDU/CSU) 16732 B Tagesordnungspunkt 23: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2015 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kosovo über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Drucksache 18/8211 16733 A b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 24. September 2014 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Ruanda über den Luftverkehr Drucksache 18/8296 16733 A c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsgesetzes und zur Änderung des BVL-Gesetzes Drucksache 18/8335 16733 B Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit Beitragsgeldern der gesetzlich Versicherten sorgsam umgehen – Mehr Transparenz und bessere Aufsicht über die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Drucksache 18/8394 16733 B b) Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Matthias Gastel, Stephan Kühn (Dresden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Pkw-Maut zurückziehen und Konflikt mit der EU-Kommission beenden Drucksache 18/8397 16733 C Tagesordnungspunkt 24: b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aktualisierung der Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes Drucksachen 18/7988, 18/8431 16733 C c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über die weitere Bereinigung von Bundesrecht Drucksachen 18/7989, 18/8423 16733 D d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 11. Januar 2016 zur Änderung des Abkommens vom 12. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen Drucksachen 18/8208, 18/8400 16734 A e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 2453/15 Drucksache 18/8410 16734 B f)–i) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 309, 310, 311 und 312 zu Petitionen Drucksachen 18/8253, 18/8254, 18/8255, 18/8256 16734 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Aktuelle Entwicklungen beim EU-Türkei-Abkommen Jan Korte (DIE LINKE) 16735 A Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) 16736 B Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16737 C Uli Grötsch (SPD) 16738 C Nina Warken (CDU/CSU) 16739 B Sevim Dağdelen (DIE LINKE) 16740 B Dr. Lars Castellucci (SPD) 16741 C Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16743 A Andrea Lindholz (CDU/CSU) 16744 B Dr. Dorothee Schlegel (SPD) 16745 C Matern von Marschall (CDU/CSU) 16746 B Dr. Andreas Nick (CDU/CSU) 16747 B Tagesordnungspunkt 6: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts Drucksachen 18/7824, 18/8428 16748 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Eine halb barrierefreie Gesellschaft reicht nicht aus – Privatwirtschaft zu Barrierefreiheit verpflichten – zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Behindertengleichstellungsrecht mutig weiterentwickeln Drucksachen 18/7874, 18/7877, 18/8428 16748 B Andrea Nahles, Bundesministerin BMAS 16748 C Katrin Werner (DIE LINKE) 16749 D Uwe Schummer (CDU/CSU) 16751 B Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) 16752 A Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16753 C Kerstin Tack (SPD) 16754 D Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) 16756 A Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16756 C Namentliche Abstimmungen 16758 A, 16761 C Ergebnisse 16758 C, 16765 C Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Drohende Streckenstilllegungen verhindern – Keine Kürzung bei Regionalisierungsmitteln in Ostdeutschland Drucksache 18/8392 16762 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Drohende Streckenstilllegungen verhindern – Regionalisierungsmittel erhöhen Drucksachen 18/8074, 18/8362 16762 A Caren Lay (DIE LINKE) 16762 B Michael Donth (CDU/CSU) 16763 C Sabine Leidig (DIE LINKE) 16764 D Michael Donth (CDU/CSU) 16765 C Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16768 A Michael Groschek, Minister (Nordrhein-Westfalen) 16769 B Karl Holmeier (CDU/CSU) 16770 C Sebastian Hartmann (SPD) 16771 B Norbert Brackmann (CDU/CSU) 16772 B Namentliche Abstimmung 16773 B Ergebnis 16775 C Tagesordnungspunkt 7: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens Drucksachen 18/7457, 18/8434 16773 C – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/8435 16773 C Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) 16773 D Dr. Axel Troost (DIE LINKE) 16777 D Frank Junge (SPD) 16779 A Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16780 B Margaret Horb (CDU/CSU) 16781 B Dr. Jens Zimmermann (SPD) 16783 A Tagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung soldatenbeteiligungs- und personalvertretungsrechtlicher Vorschriften Drucksache 18/8298 16783 D Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg 16784 A Christine Buchholz (DIE LINKE) 16784 D Gabi Weber (SPD) 16785 D Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16787 C Ingo Gädechens (CDU/CSU) 16788 C Florian Hahn (CDU/CSU) 16789 C Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zukunft der Hebammen und Entbindungspfleger sichern – Finanzielle Sicherheit und ein neues Berufsbild schaffen – zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Geburtshilfe heute und in Zukunft sichern – Haftpflichtproblematik bei Hebammen und anderen Gesundheitsberufen entschlossen anpacken Drucksachen 18/1483, 18/850, 18/8426 16790 D Dr. Roy Kühne (CDU/CSU) 16791 A Cornelia Möhring (DIE LINKE) 16792 A Dr. Roy Kühne (CDU/CSU) 16792 D Bettina Müller (SPD) 16793 C Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16796 A Emmi Zeulner (CDU/CSU) 16797 B Birgit Wöllert (DIE LINKE) 16798 C Ute Bertram (CDU/CSU) 16799 B Tagesordnungspunkt 11: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Militärmission der Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte (EUTM Mali) auf Grundlage des Ersuchens der Regierung von Mali an die EU sowie der Beschlüsse des Rates der EU 2013/87/GASP vom 18. Februar 2013, zuletzt geändert mit dem Beschluss des Rates der EU 2016/446/GASP vom 23. März 2016 in Verbindung mit den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 2071 (2012) vom 12. Oktober 2012 und folgender Resolutionen, zuletzt 2227 (2015) vom 29. Juni 2015 Drucksachen 18/8090, 18/8284 16800 C – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/8285 16800 C Christoph Strässer (SPD) 16800 C Christine Buchholz (DIE LINKE) 16801 C Henning Otte (CDU/CSU) 16802 C Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16804 B Thomas Hitschler (SPD) 16805 A Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) 16806 A Michael Vietz (CDU/CSU) 16807 B Namentliche Abstimmung 16808 C Ergebnis 16810 C Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Roland Claus, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Markus Kurth, Corinna Rüffer, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: DDR-Altübersiedlerinnen und -Altübersiedler sowie DDR-Flüchtlinge vor Rentenminderungen schützen – Gesetzliche Regelung im SGB VI verankern Drucksachen 18/7699, 18/8429 16808 D Daniela Kolbe (SPD) 16809 A Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) 16813 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) 16814 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16815 D Dr. Martin Rosemann (SPD) 16816 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16817 A Jana Schimke (CDU/CSU) 16817 C Tagesordnungspunkt 13: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten Operation EU NAVFOR Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008 und weiterer Resolutionen, zuletzt 2246 (2015) vom 10. November 2015 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009 und weiterer Beschlüsse, zuletzt dem Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November 2014 Drucksachen 18/8091, 18/8286 16819 A – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/8287 16819 A Matthias Ilgen (SPD) 16819 B Sevim Dağdelen (DIE LINKE) 16820 B Jürgen Hardt (CDU/CSU) 16821 B Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16822 B Julia Obermeier (CDU/CSU) 16823 B Namentliche Abstimmung 16823 D Ergebnis 16826 D Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Harald Ebner, Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vorsorgeprinzip ernst nehmen – Keine erneute Genehmigung für Glyphosat Drucksache 18/8395 16824 B Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16824 C Hermann Färber (CDU/CSU) 16825 B Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) 16829 B Rita Hagl-Kehl (SPD) 16830 D Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16831 C Ingrid Pahlmann (CDU/CSU) 16832 A Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16833 C Ingrid Pahlmann (CDU/CSU) 16834 A Elvira Drobinski-Weiß (SPD) 16834 B Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) 16835 B Christine Lambrecht (SPD) (zur Geschäftsordnung) 16836 A Tagesordnungspunkt 15: a) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Birgit Wöllert, Hubertus Zdebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kohleausstieg einleiten – Strukturwandel sozial absichern Drucksache 18/8131 16837 A b) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Birgit Wöllert, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Fortsetzung der Braunkohlesanierung in den Ländern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nach dem Jahr 2017 Drucksache 18/8112 16837 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Annalena Baerbock, Stephan Kühn (Dresden), Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Braunkohlesanierung durch die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH fortsetzen Drucksache 18/8396 16837 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) 16837 B Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU) 16838 C Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) 16838 D Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16839 D Thomas Jurk (SPD) 16841 A Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16842 B Thomas Jurk (SPD) 16842 C Michael Kretschmer (CDU/CSU) 16843 A Ulrich Freese (SPD) 16844 D Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Willy-Brandt-Korps für eine solidarische humanitäre Hilfe Drucksache 18/8390 16846 A Inge Höger (DIE LINKE) 16846 B Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) 16847 A Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 16849 A Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) 16849 D Nächste Sitzung 16851 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 16853 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulrike Bahr, Elvira Drobinski-Weiß, Michaela Engelmeier, Karin Evers-Meyer, Ulrich Freese, Martin Gerster, Gabriele Groneberg, Michael Groß, Gabriele Hiller-Ohm, Christina Jantz-Herrmann, Cansel Kiziltepe, Hiltrud Lotze, Hilde Mattheis, Bettina Müller, Ulli Nissen, Achim Post (Minden), Stefan Rebmann, Andreas Rimkus, Johann Saathoff, Dr. Hans-Joachim Schabedoth, Dr. Dorothee Schlegel, Ewald Schurer, Stefan Schwartze, Svenja Stadler, Kerstin Tack und Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (alle SPD) zu den Abstimmungen über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts (Tagesordnungspunkt 6 a) 16853 C Anlage 3 Erklärungen nach § 31 GO zu den Abstimmungen über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts (Tagesordnungspunkt 6 a) 16854 C Heike Baehrens (SPD) 16854 C Dr. Matthias Bartke (SPD) 16855 B Marco Bülow (SPD) 16855 D Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Hubert Hüppe (CDU/CSU) zu den Abstimmungen über – den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts und – die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Behindertengleichstellungsrecht mutig weiterentwickeln (Tagesordnungspunkt 6 a und b) 16856 C Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Karamba Diaby, Ulrich Freese, Cansel Kiziltepe, Steffen-Claudio Lemme, Dr. Simone Raatz, Matthias Schmidt (Berlin), Swen Schulz (Spandau), Sonja Steffen und Stefan Zierke (alle SPD) zu der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Drohende Streckenstilllegungen verhindern – Regionalisierungsmittel erhöhen (Tagesordnungspunkt 8 b) 16856 D Anlage 6 Erklärungen nach § 31 GO zu der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Drohende Streckenstilllegungen verhindern – Regionalisierungsmittel erhöhen (Tagesordnungspunkt 8 b) 16857 C Frank Junge (SPD) 16857 C Thomas Jurk (SPD) 16858 B Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) 16858 D Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) 16859 B Dagmar Ziegler (SPD) 16859 D Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), Dr. Franziska Brantner, Ekin Deligöz, Dr. Thomas Gambke, Anja Hajduk, Dieter Janecek, Dr. Tobias Lindner, Omid Nouripour, Cem Özdemir, Brigitte Pothmer, Tabea Rößner, Kordula Schulz-Asche, Markus Tressel, Doris Wagner und Dr. Valerie Wilms (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten Operation EU NAVFOR Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008 und weiterer Resolutionen, zuletzt 2246 (2015) vom 10. November 2015 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009 und weiterer Beschlüsse, zuletzt dem Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November 2014 (Tagesordnungspunkt 13) 16860 C 170. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2016 Beginn: 9.01 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich zu unserer Plenarsitzung. Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich dem Kollegen Gernot Erler zu seinem 72. Geburtstag gratulieren, den er in der vergangenen Woche begangen hat. Herzliche Glückwünsche und alles Gute für das neue Lebensjahr! (Beifall) Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zu TTIP (siehe 169. Sitzung) ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Renate Künast, Dr. Konstantin von Notz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches zur Streichung des Majestätsbeleidigungsparagrafen (§ 103 StGB) Drucksache 18/8123 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Harald Petzold (Havelland), Frank Tempel, Dr. André Hahn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Neuordnung der Beleidigungsdelikte Drucksache 18/8272 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 23) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit Beitragsgeldern der gesetzlich Versicherten sorgsam umgehen – Mehr Transparenz und bessere Aufsicht über die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Drucksache 18/8394 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Matthias Gastel, Stephan Kühn (Dresden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pkw-Maut zurückziehen und Konflikt mit der EU-Kommission beenden Drucksache 18/8397 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Aktuelle Entwicklungen beim EU-Türkei-Abkommen ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annalena Baerbock, Stephan Kühn (Dresden), Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Braunkohlesanierung durch die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH fortsetzen Drucksache 18/8396 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Des Weiteren sollen die Tagesordnungspunkte 7 und 8 ihre Plätze tauschen. Der Tagesordnungspunkt 5 – erste Beratung des Entwurfs eines Bundespolizeibeauftragtengesetzes – wird abgesetzt. Stattdessen sollen die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 18/8123 und 18/8272 aufgerufen werden. Hier geht es um Änderungen des Strafgesetzbuches. Darüber hinaus sollen auch der Tagesordnungspunkt 18 c – Beratung der Beschlussempfehlung zum Antrag mit dem Titel „Dem CETA-Abkommen so nicht zustimmen“ – und der Tagesordnungspunkt 24 a – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes – abgesetzt werden. Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam: Der am 14. April 2016 (164. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften Drucksache 18/8034 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Der am 14. April 2016 (164. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Kultur und Medien (22. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosenversicherungsschutz- und Weiterbildungsstärkungsgesetz – AWStG) Drucksache 18/8042 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Die am 28. April 2016 gemäß § 80 Absatz 3 der Geschäftsordnung überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlich dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Unterrichtung durch die Bundesregierung Strategie zur Eindämmung von HIV, Hepatitis B und C und anderen sexuell übertragbaren Infektionen BIS 2030 – Bedarfsorientiert, Integriert, Sektorübergreifend Drucksache 18/8058 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Änderungen einverstanden sind. – Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist das so beschlossen. Dann rufe ich unseren Tagesordnungspunkt 3 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung des Ausbaus digitaler Hochgeschwindigkeitsnetze (DigiNetzG) Drucksache 18/8332 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss Digitale Agenda Die Aussprache dazu soll nach einer Vereinbarung zwischen den Fraktionen 60 Minuten dauern. – Auch dazu stelle ich Einvernehmen fest. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Dobrindt das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Werter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute eingebrachten Entwurf des sogenannten DigiNetz-Gesetzes stellen wir die drei Is in den Vordergrund unserer Digitalstrategie: Investition, Innovation und Infrastruktur. Das ist ein Meilenstein in der Gigabitstrategie der Bundesregierung mit dem klaren Prinzip: Jede Baustelle schafft Bandbreite. Das heißt, zukünftig gibt es eine Investitionskombination. Überall, wo der Bund in seine Netze investiert, wird automatisch Breitband mitverlegt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Das ist in einer Situation, die wir gern als Substanzrevolution von Wirtschaft und Gesellschaft beschreiben, die notwendige Maßnahme, um den dynamischen Innovationsphasen Rechnung zu tragen und den Ausbau der Glasfaser massiv voranzutreiben. Wir werden einen sprunghaften Anstieg beim Datenvolumen in den nächsten Jahren erleben. Bis 2020 wird sich das weltweite Datenvolumen verzehnfachen. Daran sieht man, wie dynamisch sich das Wachstum weiter abbilden wird. Wir erleben nach der Vernetzung der Menschen durch Communitys, soziale Netzwerke und Kommunikationsdienste wie Skype oder WhatsApp den nächsten Schritt dieser Revolution, nämlich die Vernetzung der Dinge, das Internet of Everything mit Industrie 4.0, Smart Home sowie dem automatisierten und vernetzten Fahren. Dieser Schritt ist so bedeutsam für uns, weil die Digitalisierung an dieser Stelle unsere Stärken erreicht. Als führende Industrienation, Weltmarktführer bei Maschinen und Autos sowie als Maßstab bei Infrastruktur und Bau sind wir schlichtweg das Land der Dinge. Wenn es nun um die Vernetzung der Dinge geht, ist genau das der Punkt, an dem die Stärken der Eigentümer der Maschinen die Nutzung der Daten mit voranbringen können. Das wird durch eine Reihe von Studien so belegt. Vor zwei Tagen gab es eine neue Studie der GfK. Deutschland ist inzwischen in Europa das am meisten vernetzte Land und weltweit unter den Top Fünf. Wir werden einen wesentlichen Teil der 50 Milliarden Dinge, die in den nächsten Jahren online verbunden werden, in Deutschland erleben. Allein 15 Milliarden davon werden – so die Prognosen – in Deutschland vernetzt. Jetzt geht es darum, dass wir diese Stärken auch strategisch einsetzen. Die Voraussetzung dafür ist eine leistungsfähige digitale Infrastruktur. Wir stehen bei dieser Digitalisierung, dieser Substanzrevolution, nicht nur in einem Wettbewerb der Unternehmen, wie es gerne immer wieder beschrieben wird, sondern in Wahrheit auch in einem Wettbewerb der Regionen der Welt. Diesen Wettbewerb gilt es weiterhin maßgeblich zu beeinflussen. Das kann nur mit Bandbreite funktionieren. Der klare Grundsatz lautet: Wer die Netze hat, erzielt die Wertschöpfung. Wer nicht komplett digitalisiert, verliert im internationalen Wettbewerb. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Die Aufgabe ist deswegen klar. Wir brauchen das stärkste Highspeednetz der Welt. Dafür haben wir in der Koalition zu Beginn der Legislaturperiode eine Gigabitstrategie gestartet mit drei Grundsäulen. Die erste war die Aktivierung des Marktes. Wir haben die Netzallianz Digitales Deutschland gegründet und alle investitions- und innovationswilligen Unternehmen für eine gemeinsame Initiative an einen Tisch gebracht. Die Unternehmen in der Netzallianz Digitales Deutschland haben für das Jahr 2016 zugesagt, 8 Milliarden Euro in den Ausbau der superschnellen Breitbandnetze zu investieren. Dieses Ziel wird auch erreicht werden. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer es glaubt, wird selig!) Damit haben wir uns im Wirtschafts-Digitalindex auf Platz vier vorgeschoben. Die Länge der verlegten Glasfaserkabel hat sich seit dem Beginn der Legislaturperiode mehr als verdoppelt. Das zweite Element ist die Förderung der Regionen. Wir haben im November des vergangenen Jahres das Bundesprogramm für superschnelles Breitband gestartet mit einem Volumen von insgesamt 2,7 Milliarden Euro für unterversorgte Kommunen und Landkreise. Das klare Prinzip lautet hier: Vorfahrt für Glasfaser. Wir haben seitdem bereits 340 Planungs- und Beratungsprojekte unterzeichnen können. Wir haben im April dieses Jahres, also im letzten Monat, die ersten Bescheide zur Förderung der konkreten Ausbauprojekte übergeben. Damit bewegen wir in einem allerersten Schritt 420 Millionen Euro Bundesmittel und tätigen damit eine Gesamtinvestition in Höhe von 1,2 Milliarden Euro in die Netze. Das heißt konkret: Wir bringen auf einen Schlag 55 Landkreise und Kommunen, mehr als 500 000 Haushalte und Gewerbebetriebe, an das superschnelle Breitbandnetz, wobei der ganz überwiegende Teil davon Zugang zum Glasfasernetz erhält. Insgesamt werden 26 000 Kilometer Glasfaser alleine mit diesem ersten Zuschlag mit Förderbeträgen ausgebaut. Das ist ein erheblicher Beitrag zum Ausbau der Glasfaser in Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Heute gehen wir mit dem DigiNetz-Gesetz das dritte Element der Gigabitstrategie an, um eine weitere Dynamisierung des Glasfaserausbaus in Deutschland zu erreichen. Wir öffnen damit zum allerersten Mal klassische Infrastrukturen dem Glasfaserausbau, heißt: Wo geeignete klassische Infrastrukturen wie beispielsweise Energie-, Schienen- oder Straßennetze mit freien Kapazitäten zur Verfügung stehen, können Digitalunternehmen zukünftig die Glasfaserinfrastruktur gleich mitinstallieren. Das schafft natürlich erhebliche Synergien, sorgt dafür, dass die Kosten gesenkt werden, und sorgt übrigens noch für etwas anderes: Viele unserer Bürger irritiert seit langer Zeit, dass bei dem Neubau einer Straße nach kurzer Zeit die Straße wieder in Teilen aufgerissen wird, um Kabel zu verlegen, um das Breitbandnetz auszubauen. Anschließend wird die Straße wieder zugeteert. Das hat zukünftig ein Ende. Überall da, wo der Bund investiert, überall da, wo klassische Infrastruktur neu entsteht, wird zukünftig automatisch in die Glasfaserinfrastruktur mitinvestiert. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Das gilt übrigens auch für Neubaugebiete im Wohn- und im Gewerbebereich. Das Phänomen, dass man Neubaugebiete erschließt und eine alte Kupferinfrastruktur verlegt, hat jetzt ein Ende. Es wird in Zukunft im Neubaubereich nichts anderes mehr als Glasfaser geben. Das sind die notwendigen, innovativen Schritte, um die Zukunftsfähigkeit der Breitbandnetze zu erhalten. Ich darf ein Beispiel dafür bringen, was dies an Kosteneinsparung mit sich bringt. Jede Verlegung von 1 Meter Glasfaser kostet durchschnittlich rund 80 Euro. Wenn wir die Glasfaser gleich mitverlegen, wenn wir ohnehin in unsere Infrastruktur investieren, dann sinken die Kosten auf 17,50 Euro. Das heißt, wir haben rund 80 Prozent Kosteneinsparung, die wir wiederum nutzen können, um zusätzlich zu investieren. Das ist der richtige Weg, den wir jetzt gemeinsam gehen. Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen der Koalition im Verkehrsausschuss, die es möglich gemacht haben, dass wir diese weitreichenden Entscheidungen hin zur Gigabitgesellschaft jetzt treffen können. Das DigiNetz-Gesetz schafft mehr Bandbreite, es schafft weniger Bürokratie, es schafft Einsparungen in Milliardenhöhe und es stärkt das Highspeednetz der Welt. Das ist meine Gigabitstrategie, das ist die Gigabitstrategie der Bundesregierung für den Ausbau der digitalen Netze in Deutschland. Wir bewegen uns mit großen Sprüngen auf die Gigabitgesellschaft und Bandbreite für alle zu. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herbert Behrens ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Herbert Behrens (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Erläuterung für die Zuhörer auf den Tribünen: Auch wenn im Titel, etwas verkürzt, vom Ausbau digitaler Hochgeschwindigkeitsnetze die Rede ist, gilt, dass wir gerade darüber heute nicht reden. Wir reden vielmehr über die Umsetzung einer Richtlinie der EU, in der es darum geht, diese Netze erleichtert auszubauen. Leider sind wir beim Ausbau noch weit hinter dem zurück, was nötig ist. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das lässt sich auch nicht hinter wortgewaltigen Darstellungen verbergen, wie sie vom Verkehrsminister kommen. Er spricht, geradezu bombastisch, vom Sprung in die Gigabitgesellschaft, etwa indem er sagt: Wir machen Deutschland fit für die Gigabitgesellschaft. Jede Baustelle bringe Bandbreite, wurde eben noch einmal gesagt. Im Gesetzentwurf steht, „ohne die Umsetzung der Maßnahmen der Kostensenkungsrichtlinie“ werde „auf die Chance verzichtet, auf allen Stufen des Ausbaus digitaler Hochgeschwindigkeitsnetze Kosten zu senken oder zu vermeiden“. 20 Milliarden Euro sollen in den nächsten drei Jahren eingespart werden, wenn der Glasfaserausbau vorangetrieben wird. Dass dies gelingt, wird doch nur vom Verkehrsminister, nur von Herrn Dobrindt, behauptet. Wenn ich mir einmal die Stellungnahmen der Verbände ganz genau anschaue – ich meine damit nicht nur die uns nahestehenden Verbände, sondern alle –, dann komme ich zu dem Ergebnis: Es muss wahrgenommen werden, dass es intensive, fundierte Kritik der Verbände an diesem Gesetzentwurf gibt. Einige der Kritikpunkte möchte ich nennen. Die EU-Richtlinie wird vom Bundesverband Breitbandkommunikation kritisiert. Es wird insbesondere darauf hingewiesen: Das, was an Einsparvolumen angekündigt worden ist, ist überhaupt nicht realisierbar, weil es voraussetzt, dass bis zu 80 Milliarden Euro investiert werden müssen. Von diesen Summen sind wir weit entfernt. Das heißt, das angekündigte Einsparvolumen wird es überhaupt nicht geben. Wir haben es mit einem Gesetzentwurf zu tun, mit dem man sich im Wesentlichen um die Umsetzung einer EU-Richtlinie kümmert. Diese Richtlinie ist seit 2014 in Kraft. Eigentlich sollte sie schon zum 1. Januar 2016 in nationales Recht umgesetzt sein und die Zukunft des Breitbandausbaus regeln. Geregelt sein sollte auch, ob zukünftig vorhandene Infrastruktur, seien es Ver- und Entsorgungsleitungen der Kommunen oder auch andere Leitungen, intensiver genutzt werden sollte, weil es günstiger zu sein scheint. Auch der Zugang zu bereits verlegten Kabeln und Leerrohren soll geregelt werden. Aber so flott geht es nun doch nicht mit dem schnellen Internet aus dem Hause Dobrindt. Man könnte ja geneigt sein, zu glauben, dass besonders gründlich gearbeitet wird, wenn alles ein bisschen länger dauert, zu glauben, dass die Vorschläge und Anregungen der betroffenen Länder und Kommunen einbezogen werden oder dass die Verbände, die kommunalen Verbände und auch die privaten Wirtschaftsverbände, gefragt werden, was in diesem Gesetz geregelt werden muss, um den Sprung in die Gigabitgesellschaft wirklich zu vollziehen. Das scheint nicht passiert zu sein. Die Kritik ist, wie gesagt, vernichtend, insbesondere in Bezug auf das Einsparvolumen von 20 Milliarden Euro. Der Verband kommunaler Unternehmen, VKU – inzwischen trägt dort eine ehemalige Staatssekretärin Verantwortung –, spricht von einem inkonsistenten Gesetz, von überhöhten Erwartungen und davon, dass die konventionelle Verlegung oft kostengünstiger sei als die jetzt hier angedachte. Das bestätigte auch mir ein Netzbetreiber, und er nannte mir auch Zahlen. Er sagte: 1 Meter Tiefbau im klassischen Sinne kostet zwischen 20 und 30 Euro. Die komplizierte, technisch sehr aufwendig umzusetzende Idee, die Ver- und Entsorgungsinfrastruktur oder sogar das Gasnetz zu nutzen, kostet 80 Euro. Das heißt, wer hier von Infrastrukturkosteneinsparungen spricht, der hat irgendetwas nicht mitbekommen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Verband der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten schreibt in seiner Stellungnahme, die Kostenreduzierung sei extrem hoch angesetzt. Auch private Kabelanbieter wie beispielsweise Unitymedia sagen, die Zahlen seien sehr hoch gegriffen und in keiner Weise belegt. Auch das ist ein Hinweis, den wir auf jeden Fall wahrnehmen müssen. Was ist statt dieser vollmundigen Ankündigungen notwendig? Erstens. Die bereits vorhandene Infrastruktur beim Netzausbau muss konsequent genutzt werden. Wir brauchen da nichts Neues zu erfinden. Schließlich sind Ver- und Entsorgungsleitungen schon heute nutzbar, aber sie werden nicht genutzt. Ich habe die Gründe dafür eben genannt. Es ist einfach teurer, diese vorhandene Infrastruktur zu nutzen. Das alles fordert beispielsweise auch der Bundesrat; er fordert, dort offensiver heranzugehen. Dazu gehört beispielsweise, dass man Einsicht in den Infrastrukturatlas bekommt. Heute ist es nur möglich, diesen Atlas, in dem alle Ver- und Entsorgungsleitungen verzeichnet sind, einzusehen, wenn man ein konkretes Projekt vor sich hat. Das ist zu wenig, um wirklich eine wegweisende Strategie zu entwickeln, die im Vordergrund sieht, dass wir unversorgte Gebiete mit Glasfaserkabel versorgen müssen. Also an dieser Stelle muss der Gesetzentwurf umgeändert werden. Er sieht hier lediglich vor, dass Investoren – private oder öffentliche – in diese Liste hineinschauen können sollen. Insofern muss dieser Atlas „geöffnet“ werden. Zweitens. Wir brauchen verlässliche und realisierbare Investitionen in den Netzausbau. Ankündigungen bringen keinen Euro. Es reicht nicht aus, ausschließlich an den Rahmenbedingungen herumzudoktern, um die Investoren einmal so weit zu bringen, dass sie nun doch ihr Geld in dieses Feld investieren. Der Breitbandausbau mit Glasfaser ist eine öffentliche Aufgabe. Dazu gehören Investitionen aus dem Bundeshaushalt. Andere Staaten haben es vorgemacht. Da sind wir heute im Industrieland Deutschland noch weit hinten dran. Das sagen uns die Zahlen. Drittens. Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Kostenreduzierung gehört auch dazu, dass parallele Netze verhindert werden, dass der sogenannte Überbau verhindert wird. Wenn das nicht geschieht, werden Investitionen von privaten, aber auch von öffentlichen Investoren entwertet. Das bedeutet einen massiven volkswirtschaftlichen Schaden, und das ist eindeutig das Gegenteil von Kosteneinsparung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die Linke hat immer wieder die fehlenden öffentlichen Investitionen im Glasfaserausbau kritisiert. Angesichts dieses Gesetzentwurfs wird sich das nicht ändern. Wir haben gefordert, dass die Telekom AG als marktbeherrschendes Unternehmen, an dem der Bund ja zumindest immer noch beteiligt ist, eine besondere Rolle spielen muss. Doch die Telekom wird nicht mit Forderungen konfrontiert, sondern im Gegenteil, sie wird geschützt, wenn es darum geht, dass andere Anbieter ihre Infrastruktur – gegen Gebühr selbstverständlich – mit nutzen wollen. Die Telekom soll die Infrastruktur ja nicht einfach altruistisch kostenlos zur Verfügung stellen. Interessant ist dabei auch, dass von der Telekom an diesem Gesetz keine laute Kritik kommt. Nur dort, wo das Recht auf Zugang zu ihrer Infrastruktur aufgerufen wird, wird sie mit einem Mal rührig und meldet sich zu Wort. Die Bundesregierung ist aufgefordert, Unternehmen nicht ständig zu pampern, um sie zu Investitionen zu bringen, wenn sich die renditeorientierten Unternehmen nicht bewegen. Wir brauchen auch keine weiteren Strategien – die haben wir wirklich in Hülle und Fülle –, sondern wir brauchen eine konsequente, eine einheitliche, eine abgesprochene, koordinierte Strategie der zuständigen Ministerien. Daran fehlt es bisher für die Zukunft. Ich fürchte, dass wir an dieser Stelle auch mit dem DigiNetz-Gesetz überhaupt keinen Schritt weiterkommen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Martin Dörmann das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Martin Dörmann (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Schnelles Internet für alle“, das ist das erklärte Ziel der Koalition. Bis 2018 soll jeder Haushalt in Deutschland über eine Versorgung mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde verfügen. 2014 haben wir hier im Bundestag einen Antrag verabschiedet, der ein Maßnahmenpaket beschrieben hat, um dieses sehr ambitionierte Ziel auch tatsächlich zu erreichen. Denn es sei daran erinnert: Zu Beginn der Wahlperiode lag die Versorgungsquote bei gerade einmal 60 Prozent. Jetzt liegen wir immerhin schon bei über 70 Prozent. Aber wir alle wissen, genau die letzten 30 Prozent sind die, die am schwersten zu erschließen sind. Das liegt an den bestehenden Wirtschaftlichkeitslücken insbesondere aufgrund der Kosten für Tiefbauarbeiten, namentlich für die Verlegung von Glasfaserleitungen. Gerade hier setzt der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf für ein DigiNetz-Gesetz an. Vorgesehen sind darin beispielsweise eine verbesserte Nutzung bestehender Infrastrukturen, eine verpflichtende Mitverlegung von Leerrohren und Glasfaserleitungen oder auch ein transparenteres Informationssystem. Das alles zusammen wird die Kosten signifikant senken und einen wesentlichen Beitrag zu einem günstigeren und damit schnelleren Breitbandausbau leisten. Wir werden im parlamentarischen Verfahren selbstverständlich genau prüfen, lieber Kollege Behrens, wo noch Nachbesserungen am Gesetzentwurf nötig sind, damit dieser eine optimale Wirkung erzielen kann. Ich bin ganz zuversichtlich, dass uns das gelingen wird. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Okay!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, noch einmal darauf hinzuweisen, was wir in den letzten beiden Jahren bereits auf den Weg gebracht haben, und das war viel: Im letzten Jahr haben wir in einem nationalen Konsens mit den Ländern zusätzliche Funkfrequenzen für mobiles Breitband freigemacht. Durch hohe Versorgungsauflagen werden bis 2018 mindestens 98 Prozent der Haushalte in Deutschland auch mobil mit schnellem Internet versorgt werden. Damit ist Deutschland europaweit führend. Mit den Einnahmen aus der Versteigerung der Digitalen Dividende II sowie zusätzlichen Mitteln im Bundeshaushalt werden insgesamt 2,7 Milliarden Euro für Breitbandförderprogramme zur Verfügung gestellt. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber ganz wenig!) Allein das Bundesförderprogramm hat ein Gesamtvolumen von 2 Milliarden Euro, erstmals überhaupt in dieser Größenordnung. Es läuft seit November letzten Jahres, und zwar äußerst erfolgreich; denn voraussichtlich schon bis Ende dieses Jahres werden die kompletten 2 Milliarden Euro Bundesmittel vergeben sein. Wir sollten deshalb schon die Beratungen zum Bundeshaushalt 2017 nutzen, um zu überlegen, ob wir dieses sehr erfolgreiche Programm nicht noch weiter finanzieren können, um gegebenenfalls noch bestehende Lücken zu schließen. Besonders erfreulich ist dabei Folgendes: Es zeigt sich, dass 70 Prozent der Gelder in sogenannte reine FTTB-Projekte gehen, also in Projekte, die den direkten Glasfaseranschluss bis ans Haus mit sich bringen. Und: Der Hebeleffekt beträgt 1 : 2. Das heißt, für jeden Euro öffentlicher Förderung werden zusätzlich private Investitionen in Höhe von 2 Euro ausgelöst. Wenn man das einmal bezogen auf die genannte Gesamtsumme von 2,7 Milliarden Euro zusammenrechnet, kommt man auf ein Volumen von über 8 Milliarden Euro für den Breitbandausbau; das haben wir durch unsere Entscheidung angeschoben. Ich glaube, das kann sich sehen lassen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Gut ist auch, dass sich die Koalition gerade in dieser Woche darauf verständigt hat, durch eine Änderung des Telemediengesetzes die WLAN-Störerhaftung aus der Welt zu schaffen und damit die Nutzung öffentlichen WLANs nachhaltig zu stärken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir sind auf einem konsequenten Weg, um das ehrgeizige Ziel einer flächendeckenden Versorgung mit Hochleistungsnetzen bis 2018 zu erreichen und damit allen die Teilhabe an der digitalen Gesellschaft zu ermöglichen. Ich glaube, man kann sogar sagen: 2016 wird somit zum bislang besten Jahr für schnelles Internet werden. Schon heute ist aber absehbar, dass die Bandbreitenbedarfe weiter wachsen werden. Gerade eine Industrienation wie Deutschland muss sich darauf einstellen und sollte vorwegschreiten. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat deshalb beim letzten IT-Gipfel festgestellt: Unser Ziel sollte sein, im Jahr 2025 die modernste digitale Infrastruktur der Welt zu haben. – Denn: Die digitale Welt wird immer datenintensiver. Die Netze der Zukunft brauchen stetig höhere Kapazitäten für höheren Down- und Upload sowie bessere Latenzzeiten. Die Hersteller stehen bereit, neue Dienstleistungen und Industrieverfahren massentauglich zu machen. Industrie 4.0, das Internet der Dinge, oder Virtual Reality sind in aller Munde. Der Weg in die Gigabit-Gesellschaft erfordert neue Konzepte und einen konsequenten Netzausbau, vor allem den weiteren Ausbau von Glasfaserleitungen. Auch hierfür ist das vorliegende DigiNetz-Gesetz eine wichtige und notwendige Weichenstellung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich deshalb zum Schluss zusammenfassen: Wir haben in der Koalition in den vergangenen zwei Jahren den Grundstein dafür gelegt, schnelles Internet für alle auch tatsächlich zu verwirklichen. In den Reden der Opposition zu Beginn der Legislaturperiode wurden große Zweifel daran geäußert. Wir haben einfach Fakten sprechen lassen. Es ist klar: Die Programme sind erst seit November bewilligt. In diesem Jahr werden noch die restlichen bewilligt. Dann wird ausgebaut, und dann werden wir diesem Ziel sehr nahe sein. Da, wo es noch Lücken gibt, müssen wir nachjustieren. Dann haben wir eine gute Grundlage. Darauf aufsetzend gehen wir in die Gigabitgesellschaft; denn uns allen ist klar: Schnelles Internet ist nicht nur eine Sache von 2018; schnelles Internet ist die Voraussetzung dafür, dass unsere Industrienation Deutschland, dass wir alle eine gute wirtschaftliche Zukunft haben, und daran arbeiten wir. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Tabea Rößner erhält nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Dörmann! „Deutschland hat kein schnelles Internet“ – das sagt nicht irgendwer, sondern der Bundeswirtschaftsminister und noch amtierende Parteivorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Erfahrung haben wir schon immer gemacht: Totgesagte leben länger!) und zwar in seiner „Digitalen Strategie 2025“. Ich teile diese Beobachtung. Die Aussage ist äußerst bemerkenswert; denn sie kommt von einem Mitglied der Bundesregierung, die sich ja eine flächendeckende Breitbandversorgung mit 50 Mbit/s bis 2018 auf die Fahnen geschrieben hat. Wenn also Bundeswirtschaftsminister Gabriel das so sagt, dann gesteht er das Versagen der eigenen Regierung ein. Das finde ich schon sehr bemerkenswert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der SPD) Armer Minister Dobrindt! Das war nicht nett vom Kollegen. Es war ehrlich, aber es war ganz und gar nicht nett. (Gustav Herzog [SPD]: Alles zitieren!) Und dann macht der Wirtschaftsminister auch noch immer weiter. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was?) – Ja. – Er fordert massiven Glasfaserausbau, Investitionen in Milliardenhöhe. Da frage ich mich: Wie sieht eigentlich die Aufgabenverteilung bei Ihnen im Kabinett aus? (Karl Holmeier [CDU/CSU]: Das geschieht alles!) Im Prinzip hat er ja recht, der Herr Gabriel. Schade, dass er heute nicht da ist; denn so etwas hört er ja nicht allzu oft in diesen Tagen. (Sören Bartol [SPD]: Das ist wirklich unterste Schublade! – Gustav Herzog [SPD]: Gabriel hat immer recht!) Die Analyse stimmt, die Handlungsoptionen auch. Wir brauchen einen massiven Ausbau mit Glasfaser in Deutschland. (Kirsten Lühmann [SPD]: Das haben wir gerade eben gesagt! Das tun wir ja auch!) Nur: Wenn er das wirklich so meint, dann hätte der Wirtschaftsminister ganz sicher nicht den Vectoring-Antrag der Telekom so massiv pushen müssen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Martin Dörmann [SPD]: Stimmt doch gar nicht!) Nun musste es kommen, wie es kam: Die Bundesregierung hat sich ordentlich blamiert. Vorgestern teilte die EU-Kommission, übrigens durch den deutschen Kommissar Oettinger, mit, dass sie den Vectoring-Beschluss einer vertieften Prüfung unterziehen werde. Und das ist auch richtig so. Der Beschluss der Bundesnetzagentur ist nämlich kontraproduktiv, und er verzögert den Ausbau von hochleistungsfähigem Internet in Deutschland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Thomas Oppermann [SPD]: Unsinn!) Es braucht eben mehr und nicht weniger Wettbewerb. Stattdessen werden die Konkurrenten künstlich ausgebremst und das Monopol der Telekom wiederbelebt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb wäre es gut und wichtig, wenn dieser Beschluss noch einmal überdacht werden würde. Aber zu den Ministern Gabriel und Dobrindt. Es braucht noch nicht einmal die interkoalitionäre Opposition, um festzustellen: Die Breitbandpolitik der vergangenen Jahre hat uns überhaupt nicht vorangebracht: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) too little, too late. (Kirsten Lühmann [SPD]: Da hätten Sie dem Kollegen Dörmann zuhören müssen! Dann wüssten Sie, dass das nicht stimmt!) Erst bekam Bundesminister Dobrindt jahrelang kein Geld, und jetzt dürfte es für die Breitbandziele der Bundesregierung deutlich zu spät sein. Laut Breitbandatlas waren Ende 2015 erst 70,1 Prozent der Haushalte mit 50 Mbit/s versorgt. Wie bitte schön sollen denn bis 2018 die restlichen 30 Prozent geschafft werden? (Martin Dörmann [SPD]: Habe ich doch vorhin erklärt!) Das vorliegende Gesetz wird hier – so viel können wir mit Sicherheit sagen – nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Es wird jedenfalls nicht dafür sorgen, dass Deutschland über Nacht zum Gigabitland wird. Dafür braucht es dann tatsächlich Investitionen in Milliardenhöhe. (Martin Dörmann [SPD]: Machen wir!) Und auch hier: too late. Das DigiNetz-Gesetz ist die Umsetzung der EU-Kostensenkungsrichtlinie. Nur: Die ist ja schon zwei Jahre alt, und sie hätte bis zum 1. Januar 2016, also vor über fünf Monaten, umgesetzt sein müssen. Droht da etwa ein Vertragsverletzungsverfahren? Und es sieht nicht so aus, als ob dieses Gesetz problemlos durch den Bundesrat ginge. Wer sich die Stellungnahme des Bundesrates und die Entgegnung der Bundesregierung anschaut, merkt ganz schnell: Da gibt es noch einige ungeklärte Differenzen. Alles in allem: Kein guter Start für dieses Gesetz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Martin Dörmann [SPD]: Ja, alles parlamentarisch!) Die Umsetzung der Kostensenkungsrichtlinie soll – wenig überraschend – Kosten senken. Bis zu 80 Prozent der Breitbandausbaukosten entfallen auf den Tiefbau. Die Bundesregierung glaubt, dass durch Mitverlegung von Rohren der Ausbau bis zu 25 Prozent weniger kosten würde. Wir haben heute schon gehört: Angesichts der Gesamtkosten für einen flächendeckenden Netzausbau von geschätzten 80 Milliarden Euro sollen das bis zu 20 Milliarden Euro sein, so der Gesetzentwurf. Aber mal ehrlich: Jedem Controller würde bei dieser Milchmädchenrechnung ganz schön schwindelig werden. Ihre Rechnung funktioniert nämlich nur, wenn man davon ausgeht, dass ein flächendeckender Glasfaserausbau auch zu 100 Prozent durch Mitverlegung realisiert werden würde. Tatsächlich wird hier eine Datenlücke kaschiert. Es gibt keine Aussage dazu, in welchem Ausmaß die bisher nicht mit mindestens 50 Mbit/s versorgten Gebiete durch Mitverlegung erschlossen werden können. Nur auf diesen Anteil wäre das Einsparpotenzial auch zu berechnen. Einfacher gesagt: Es ist schön und gut, eine EU-Richtlinie zur Kostensenkung umzusetzen, sie kann aber ein Gesamtkonzept zum Breitbandausbau nicht ersetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihr Gesetzentwurf sieht vor, dass bei mit öffentlichen Mitteln finanzierten Bauarbeiten im Verkehrsbereich oder bei der Erschließung von Neubaugebieten nicht nur Leerrohre, sondern auch Glasfaserkabel mitverlegt werden sollen, auch wenn es für das Netz noch gar keinen Betreiber gibt. Leerrohre verstehe ich. Aber warum soll die öffentliche Hand Glasfaserkabel verlegen, wenn es keinen Betreiber gibt? Das erscheint nur auf den ersten Blick sinnvoll, auf den zweiten drohen Fehlinvestitionen; denn Versorgungsunternehmen sind nicht zwangsläufig Experten für Telekommunikationsnetze. Sie können nicht beurteilen, welche Technik zu welchem Zeitpunkt verbaut werden muss, welcher Typ von Glasfaser verwendet werden soll oder wo beispielsweise ein Technik-Shelter benötigt wird. Ohne ein überregionales Ausbaukonzept und eine konkrete Netzplanung nützt auch das Verlegen von Kabeln nichts. Darum finde ich es weitaus sinnvoller, wenn erst einmal nur Leerrohre verlegt werden, die die Betreiber später nutzen können. Das spart den Kommunen Geld, und trotzdem werden die Kosten für die Tiefbauarbeiten gesenkt. Damit schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für mich ist auch nicht nachvollziehbar, warum es den Anspruch auf Anschluss eines Gebäudes an ein Hochgeschwindigkeitsnetz gibt, aber keine Vorgaben für die gebäudeinterne Infrastruktur. Es wäre doch sinnvoll, wenn vor allem größere Gebäude wie Bürogebäude oder große Mietshäuser vom Keller bis zu den Wohnungen von Anfang an mit Infrastruktur für Hochgeschwindigkeitsnetze ausgestattet wären. In Spanien gibt es entsprechende Regelungen. Da frage ich mich: Warum nicht auch hier? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Bundesregierung geht offenbar davon aus, dass es reicht, wenn Inhouseklingeldraht verlegt wird, womöglich gar direkt auf den Beton getackert, statt Leerrohre, die man später auch für Glasfaser nutzen könnte. Das ist so von gestern, das kann man kaum glauben. Ich frage mich auch: Warum nutzen Sie nicht die Gelegenheit zu einer umfassenden Open-Access-Verpflichtung? Wenn Unternehmen dadurch Geld sparen, dass sie Leerrohre mitbenutzen können oder sich die Kosten für Bauarbeiten sparen, entsteht ihnen doch sozusagen ein geldwerter Vorteil. Der sei ihnen ja gegönnt, aber im Gegenzug wäre es doch nur konsequent, wenn diese Unternehmen dann auch andere Anbieter auf ihre Leitungen lassen würden. Schließlich wollen wir mit dem Gesetz nicht die Entstehung neuer Monopole fördern, sondern wir wollen einen funktionierenden Infrastrukturwettbewerb ermöglichen. Ich finde, darüber könnten Sie ruhig einmal nachdenken. Sehr geehrte Damen und Herren, „Deutschland hat kein schnelles Internet“, und bis 2018 – so viel deutet sich an – werden wir auch keins haben. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss. – Denn Deutschland hat auch keine schnelle Bundesregierung. Dieser Gesetzentwurf setzt zwar größtenteils eine EU-Richtlinie sinnvoll um, nur kommt diese Umsetzung reichlich spät. Wenn Minister Dobrindt sagt: „Bandbreite für alle“, dann hoffentlich auch für sein Ministerium. Es wird nämlich höchste Zeit, dass das Ministerium auch einmal seine Arbeitsgeschwindigkeit erhöht. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Thomas Jarzombek ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Rößner, Sie haben hier gerade ein Bild skizziert – da kommen einem ja fast die Tränen. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, die sollen einem auch kommen!) Ich weiß nicht, ob es eine kluge Strategie der Opposition ist, wenn man das Land immer schlechtredet. Das bringt Sie nicht nach vorne. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einfach mal nach Höxter fahren, nicht immer nur nach Düsseldorf! – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Realitätsfern! – Zurufe von der SPD) – Wenn sich dem schon Leute aus der SPD anschließen, finde ich das gefährlich für die SPD und ihre Perspektive in der nächsten Legislaturperiode. Meine Damen und Herren, wenn wir über die Frage reden, ob Deutschland ein schnelles Internet hat oder nicht, dann schauen wir doch mal auf Zahlen, die BITKOM im Jahr 2014 veröffentlicht hat. Die Frage war, wie hoch eigentlich die tatsächliche Nutzung von Internetanschlüssen ist. Dieser Punkt ist doch viel entscheidender als die Frage, was theoretisch möglich ist. Und sieh an: Deutschland liegt deutlich über dem EU-Durchschnitt, auf Platz 5; denn 85 Prozent der Haushalte nutzen Breitbandanschlüsse. Auf Platz 1 liegt Finnland mit 88 Prozent. Das heißt, wir sind hier in der absoluten Spitzengruppe. Bei der Diskussion über Gigabit und Glasfaser und alle möglichen anderen Technologien, die wir hier immer wieder führen, vergessen wir manchmal einen ganz entscheidenden Punkt: Es kommt nicht nur auf die Geschwindigkeit des Internets an, sondern auch darauf, dass Menschen es sich leisten können. Das, finde ich, ist ein ziemlich wichtiges Argument. In den 20 Jahren, die mittlerweile seit der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes vergangen sind, sind die Preise heruntergegangen. Im Gegensatz zu manchem, der das als Problem beschreibt, empfinde ich das überhaupt nicht als Problem. Ich glaube, es ist gut, dass sich auch Menschen ohne ein hohes Einkommen in Deutschland einen Breitbandinternetanschluss leisten können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Das ist der Grund, warum die Nutzung in Deutschland möglicherweise höher ist als in anderen Ländern. Ziehen wir den Vergleich mit den USA. Da gibt es eine ganz andere Situation: Die Versorgung ist dort gerade in den ländlichen Räumen extrem schlecht. Da kann man in der Regel bei AT&T wählen, ob man einen Anschluss mit 3 oder 6 Mbit haben will. Und dann ist man noch verdammt gut im Rennen. In vielen Bereichen sieht es noch deutlich schlechter aus. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deutschland ist da nicht besser! Deutschland ist im Ranking ganz schlecht!) Schauen wir auf die Glasfasernetze in Städten der USA. Da findet man Angebote für 150 Dollar im Monat. So, wie man es vielleicht von amerikanischen Unternehmen fast erwarten würde, wird das Nutzerverhalten manchmal auch noch vom Netzbetreiber analysiert, damit den Nutzern bessere Werbung zugeschickt werden kann. Wenn man das nicht will, muss man noch einmal mehr bezahlen. Ich möchte nicht, dass Deutschland ein Land ist, in dem man 150 Euro im Monat zahlen muss, um an das Internet angeschlossen zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Deshalb ist das, was die Regierung macht, gut, und sie ist hier auch flott unterwegs. Frau Kollegin Rößner, Sie haben vorhin gesagt, wir hätten hier irgendwelche Schwierigkeiten, eine Kostensenkungsrichtlinie der EU umzusetzen. Die Wahrheit ist, dass wir schon im Jahre 2012 eine Novelle des Telekommunikationsgesetzes verabschiedet haben und wir viele der Dinge, die später in der Richtlinie standen, hier im Deutschen Bundestag schon vor vier Jahren implementiert haben. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie viel hat’s gebracht?) Wir legen jetzt auch an bestimmten Stellen nach. Um die konkreten Punkte zu benennen: Nachdem wir die TKG-Novelle 2012 verabschiedet haben, ging es darum, dass Kabelschächte mitgenutzt werden können. Das erste Unternehmen, das dies beantragt hat, war eine dänische Firma, die Kabel zur Insel Sylt verlegen wollte. Sie wollte in den wunderbaren Schächten, die die Deutsche Bahn dort dank des Hindenburgdamms hat, über den man schön mit dem Zug nach Sylt fahren kann, Kabel verlegen. Dann gab es jahrelangen Streit, jahrelanges Theater, aber am Ende hat man sich durchgesetzt. Die Kabel wurden verlegt, und das ist auch richtig. Ich weiß: Techniker hassen nichts mehr, als wenn andere Techniker in ihrer Infrastruktur herumfummeln. Das ist so; das kann ich auch absolut nachvollziehen. Aber: Wir müssen eben diese passiven Infrastrukturen nutzen. Sie haben vorhin etwas über Glasfaserkabel gesagt, die jetzt beim Bau von Straßen verlegt werden sollen. Ich fahre morgens gerne schon mal mit dem Fahrrad über die Karl-Liebknecht-Straße – so gerne fahre ich da eigentlich auch nicht. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Da war vier Monate lang eine irre Baustelle. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Berlin sind nur Baustellen!) Der ganze Verkehr stand still, die ganze Straße wurde aufgerissen. Irgendjemand hat mir gesagt, dass da neue Leitungen und Kanäle verlegt werden. Da habe ich mich jeden Morgen, als ich da vorbeigefahren bin: Warum legt da keiner ein Glasfaserkabel rein? Jetzt ist alles wieder zubetoniert, und es sind keine Kabel da. Was wir künftig brauchen, sind Glasfaserkabel in den Straßen, an denen Laternen stehen. Unser Ziel ist doch die fünfte Mobilfunkgeneration, und dafür brauchen wir alle 200 Meter Sender. Wo sollen die denn hin? Das kann ja nur an Straßenlaternen und an ähnlichen Infrastrukturen passieren. Wenn doch sowieso schon Leitungen und Kanäle verlegt werden, dann sollten wir das reine, unbeschaltete Kabel, das sogenannte Dark Fiber, dort verlegen. Damit ist noch keine technologische Entscheidung getroffen. Das ist einfach nur ein dumpfes Stück passiver Infrastruktur, das erst dann aktiv wird, wenn es beleuchtet wird. Das wird dann die Entscheidung von Betreibern sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich möchte der Bundesregierung ein Kompliment machen: Wir haben in dieser Wahlperiode vieles erreicht. Das Erste ist: Wir haben die Frequenz im Bereich 700 Megahertz bereitgestellt. Ab dem nächsten Jahr gibt es doppelt so schnelles Breitbandinternet. Auch hier sind wir Vorreiter in Europa. Wir verhandeln gerade, dass das ab 2020 europaweiter Standard wird. Wir bekommen im nächsten Jahr auch noch Full HD über Antennenfernsehen – ein sehr positiver Nebeneffekt für die Medienpolitiker, weil es so wieder attraktiv wird. Zweitens. Wir haben zum ersten Mal ein richtiges Breitbandförderprogramm in Deutschland mit einem Volumen von 2,7 Milliarden Euro aufgelegt. Das läuft jetzt im ländlichen Raum an. Die Regierung arbeitet echt schnell und hat schon viele Förderbescheide erteilt. Drittens. Wir bringen ein DigiNetz-Gesetz auf den Weg, damit Neubaugebiete an das Glasfasernetz angebunden werden, damit überall, wo die Straße aufgemacht wird, Kabel verlegt werden. So werden wir auch in diesem Bereich besser. Viertens. Wir haben endlich die Störerhaftung beim WLAN beseitigt. Das ist ein großer Schritt; denn irgendwas muss man mit den Gigabitanschlüssen doch anfangen können. (Heiterkeit des Abg. Herbert Behrens [DIE LINKE]) Insofern: Teilen ist doch eine gute Sache an dieser Stelle. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Fünftens. Wir sorgen für Netzneutralität auf europäischer Ebene. Sie liegen ganz schön schief, wenn Sie wieder einen nationalen Alleingang machen wollen. Das führt nur zu einem Flickenteppich. Sechstens. Wir wollen Netze der fünften Generation schaffen. Dafür schafft das DigiNetz-Gesetz exzellente Grundlagen für Datenleitungen. Ich freue mich auf die Beratung der unzähligen Details. Wir werden in den nächsten Wochen sicherlich noch einiges zu tun haben. Ich glaube aber, mit diesen sechs Maßnahmen werden wir den Breitbandausbau in Deutschland substanziell nach vorne bringen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Lars Klingbeil ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Lars Klingbeil (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will ausdrücklich sagen, dass der Zugang zum schnellen Internet Grundlage für Wohlstand, für Wachstum, aber auch für Teilhabe in dieser Zeit ist und wir als Parlament aufgefordert sind, sicherzustellen, dass dieser Zugang zum schnellen Internet überall in Deutschland stattfinden kann. Zugang schafft Zukunft. Wir reden hier im Parlament in unterschiedlichsten Arbeitsgruppen und in Parlamentsdebatten sehr viel und immer wieder über neue technologische Entwicklungen, über Industrie 4.0, über die Veränderung der Arbeitswelt in Form von Arbeit 4.0; über das Internet der Dinge ist heute Morgen auch schon geredet worden. Ich sage Ihnen: Wir als Parlament müssen darauf achten, dass diese technologischen Entwicklungen, diese Zukunftsentwicklungen überall in Deutschland stattfinden können und dass das nicht nur ein Thema ist, das in den Großstädten eine Rolle spielt. Die Sicherung der Zukunftschancen und das Bemühen um Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, das ist unsere Aufgabe, die wir als Parlament haben. Ich möchte, dass auch der ländliche Raum von einem Zugang zum schnellen Internet profitiert, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn ich in meinem Wahlkreis in der Lüneburger Heide unterwegs bin und dort auf Bürgermeister treffe, dann ist der Zugang zum schnellen Internet häufig das Thema Nummer eins. Über Zugang zum schnellen Internet entscheidet sich heutzutage die Perspektive einer Kommune im ländlichen Raum. Wenn man mit Neubürgern redet, dann stellt man fest, dass Entscheidungen, wo man hinzieht, auch anhand der Frage getroffen werden: Bekomme ich dort Zugang zu schnellem Internet? (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das wissen wir doch schon lange!) Wenn ich mit Unternehmen rede, muss ich feststellen, dass Unternehmen abwandern, leider auch bei mir im Wahlkreis, wenn sie keinen Zugang zu schnellem Internet haben. Es geht hier wirklich um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Wir sehen an diesen Entwicklungen auch, dass digitale Infrastruktur die Zukunftsvoraussetzung Nummer eins ist. Liebe Kollegin Rößner, ich will hier deutlich sagen: Man kann sich immer mehr wünschen, und Sie wissen, dass auch wir in der SPD Druck machen, damit mehr passiert. Aber der Vorwurf an diese Regierung, hier wäre nichts passiert, ist schlichtweg falsch. Es ist viel passiert in dieser Koalition, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe gesagt: Zu langsam!) und wir haben schon vieles auf den Weg gebracht, um digitale Infrastruktur zu sichern. Wir setzen heute die Kostenreduzierungsrichtlinie der EU um. Das mag angesichts der einzelnen darin enthaltenen Schritte recht banal klingen. Auf einmal redet man darüber, ob wir Leerrohre mitnutzen können, ob wir bei der Erschließung von neuen Wohngebieten auch automatisch Glasfaser verlegen. Das mag erst einmal banal klingen, aber es ist notwendig, dass wir das heute auf den Weg bringen. Außerdem ordnet sich das in ein Gesamtkonzept ein, das wir als Große Koalition seit zweieinhalb Jahren verfolgen. Ich will an die Punkte anschließen, die Kollege Jarzombek aufgeführt hat – auch Martin Dörmann hat darauf hingewiesen –: Wir haben im Koalitionsvertrag das Ziel formuliert, mindestens 50 Mbit/s bis 2018 flächendeckend zur Verfügung zu stellen. Wir arbeiten sehr hart an diesem Ziel. Ich bin mir recht sicher: Wir werden dieses Ziel erreichen. Damit schaffen wir eine gute Grundlage in Deutschland. Wir haben gestern den Durchbruch beim Thema „offenes WLAN“ erreicht. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir warten auf den Gesetzentwurf!) Es ist ein ganz wichtiger Punkt für die digitale Infrastruktur, dass wir jetzt überall in Deutschland flächendeckend offene WLAN-Netze bekommen werden. Ein großer Dank an den Koalitionspartner, dass wir gestern den Durchbruch hinbekommen haben. Das ist ein ganz wichtiges Signal für die digitale Infrastruktur in Deutschland. Wir werden bald Innenstädte mit offenen WLAN-Netzen haben, die aus diesem Grund aufblühen. Dafür ein großes Dankeschön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nachdem wir die Grundlagen für eine Grundversorgung mit 50 Mbit/s und für offene WLAN-Netze geschaffen haben, geht es jetzt darum, darüber zu reden, wie wir endlich eine Glasfaserstrategie in Deutschland umsetzen können. Wir müssen doch selbstkritisch feststellen, dass wir diesbezüglich bei weitem noch nicht so weit sind, wie wir eigentlich sein müssten. In Sachen Glasfaserausbau liegen wir sogar hinter Rumänien; das streitet hier keiner ab. Wir haben aber bereits einiges gemacht, und wir wollen jetzt als Große Koalition noch eins draufsetzen. Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der Kostenreduzierungsrichtlinie, den wir heute in erster Lesung beraten, ist dabei ein weiterer wichtiger Schritt: Wir wollen Synergien nutzen, wir wollen Informationen zur Verfügung stellen, und wir wollen schauen, was wir bei Neubauten verbessern und wie wir Neubaugebiete besser anschließen können. Wir werden den Bürokratieabbau vorantreiben. Wir machen Tempo beim Glasfaserausbau. Es wird eine neue Dynamik entstehen. Ich will den Skeptikern entgegenhalten: Lassen Sie sich überzeugen, dass dieses Gesetz, das wir hier verabschieden werden, am Ende zu mehr Glasfaser in Deutschland führen wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir führen aktuell auch eine Debatte über Vectoring. Das Vectoring wird jetzt erst einmal durch die Europäische Kommission vertieft geprüft. Ich hoffe, wir erhalten mit Blick auf die Förderung von Vectoring schnell Klarheit. Es wurden auch hier im Parlament schon häufig Debatten darüber geführt, ob Vectoring die richtige Strategie ist oder nicht. Wir brauchen jetzt aber Klarheit, wie es mit Vectoring weitergeht. Herr Dobrindt, ich hoffe, dass diese Debatte über Vectoring nicht zu einer erheblichen Verzögerung des von Ihnen geplanten Breitbandausbaus führt. Wir brauchen eine schnelle Klärung. Wir als Parlament müssen uns aber auch bewusst machen, dass Vectoring nur eine Brückentechnologie ist. Wir müssen auf Glasfaser setzen. Daran müssen wir arbeiten. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat vorgeschlagen, im Rahmen der „Digitalen Strategie 2025“ eine Glasfaserstrategie auf den Weg zu bringen. Ich wünsche mir, dass wir als Parlament gemeinsam daran arbeiten, dass wir in Deutschland mehr Glasfaser bekommen. Das, was heute vorliegt, ist ein guter Auftakt. Das wird aber nicht ausreichen. Wir müssen als Bundesregierung und Bundestag diesbezüglich noch mehr tun. Aber auf alle Fälle ist es ein guter Auftakt. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens werden wir natürlich schauen – Martin Dörmann hat es vorhin gesagt –, wo wir diesen Gesetzentwurf noch verbessern können. Das ist aber ein weiterer richtiger Schritt, um die digitale Infrastruktur in Deutschland auszubauen und zu verbessern und damit für die Zukunftsfähigkeit des Landes zu sorgen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Schnieder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Patrick Schnieder (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leistungsfähige Breitbandinfrastruktur ist Teil der modernen Daseinsvorsorge. Ohne flächendeckende Breitbandversorgung wird Deutschland insgesamt nicht zukunftsfähig, nicht wettbewerbsfähig sein: Wir hätten keine flächendeckende Teilhabe an diesem Medium, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft würde leiden, und auch gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland wären ohne flächendeckende Breitbandversorgung nicht gewährleistet. Deshalb ist es ein wichtiges Ziel – dies haben wir uns ja gesetzt –, bis 2018 eine flächendeckende Versorgung mit einer Mindestbandbreite von 50 Mbit/s zu verwirklichen. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber nur ein Zwischenschritt!) – Das ist in der Tat ein Zwischenschritt, ein Zwischenziel, weil wir wissen, dass der heutige Maßstab morgen schon nicht mehr ausreichen wird. Diese Bundesregierung hat in den letzten Jahren enorme Anstrengungen unternommen, um dieses Ziel, dieses Zwischenziel zu erreichen, und die Weichen gestellt, um die Voraussetzungen für eine zukunftsfähige Infrastruktur in Deutschland zu schaffen. Dazu zählt nicht nur das Breitbandförderprogramm, das der Bund aufgelegt hat – schon nach den ersten Förderbescheiden können wir feststellen, dass es einen enormen Anschub gibt –, sondern auch die Abschaffung der Störerhaftung, die wir gestern auf den Weg gebracht haben, wodurch eine flächendeckende WLAN-Versorgung möglich wird. Mit dem Entwurf eines DigiNetz-Gesetzes, das wir heute in erster Lesung beraten, unternehmen wir einen weiteren wichtigen Schritt. Das muss man zusammen als Strategie betrachten. Zwar sind all diese Punkte auch für sich genommen wichtig, aber eine Maßnahme alleine wird keinen Fortschritt bringen. Deshalb kann ich nur sagen: Das, was wir bisher auf den Weg gebracht haben, und die Möglichkeiten, die wir mit dem DigiNetz-Gesetz schaffen wollen, werden dem Breitbandausbau in Deutschland weiteren Schub geben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich will den Blick nicht nur auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft im internationalen Vergleich richten, sondern ich möchte den Blick auch auf die Regionen in Deutschland legen. Wir haben dort noch ein Ungleichgewicht. Gerade in ländlichen Regionen haben wir viele weiße Flecken. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Blick auch auf diese ländlichen Regionen richten. Liebe Frau Kollegin Rößner, Sie sagen, dass wir kein schnelles Internet haben. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt Gabriel! Nicht ich!) Aber Sie und auch wir beide wissen, dass das so nicht stimmt. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!) Wir haben viele Regionen, in denen wir noch nicht ausreichend schnelles Internet haben. Wir wissen aber auch – wir beide zumal, die wir aus Rheinland-Pfalz kommen –, dass gerade dieses Bundesland, in dem Ihre Partei mitregiert hat und weiter mitregiert, nach der TÜV-Studie und auch nach anderen Studien im letzten Drittel der Bundesländer beim Breitbandausbau liegt. Sie können doch froh sein, dass der Bund nicht nur so viele Mittel in die Hand nimmt, sondern auch mit Gesetzesinitiativen wie der vorliegenden die Weichen stellt, dass wir gerade in ländlichen Räumen, in unterversorgten Räumen endlich einen ordentlichen Schritt nach vorne kommen. (Beifall bei der CDU/CSU – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber der Bund nimmt doch gar kein Geld in die Hand!) Da wir schnell vorankommen wollen, da wir den Ausbau nachhaltig gestalten wollen, das heißt mit einer zukunftsfähigen Technologie, also mit dem ganz schnellen Internet, da wir angesichts der hohen Investitionen kostengünstig bauen wollen, ist das DigiNetz-Gesetz ein wichtiger Meilenstein bei der Umsetzung der Breitbandstrategie. 80 Prozent der Kosten, die anfallen, sind Grabungskosten. Deshalb ist es ein wichtiger Schritt, dass wir die Mitbenutzung von vorhandener Infrastruktur regeln und die Verlegung von Glasfaser bei größeren öffentlichen Baumaßnahmen zur Pflicht machen. Außerdem schaffen wir Informationsmöglichkeiten. Ich will hier nicht beckmesserisch über den letzten Euro reden. Aber wer infrage stellt, dass wir damit wesentlich Kosten einsparen, der geht an der Wirklichkeit vorbei. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Schnieder, darf die Kollegin Rößner eine Zwischenfrage stellen? Patrick Schnieder (CDU/CSU): Aber bitte sehr. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kollege Schnieder, vielen Dank, dass ich diese Zwischenfrage stellen darf. Sie wissen – wir kommen beide aus Rheinland-Pfalz –: Die Landesregierung hat erstmals in der letzten Wahlperiode Geld in die Hand genommen. Deshalb frage ich Sie: Wie viel Geld hat denn die Bundesregierung für den Breitband- und insbesondere auch Glasfaserausbau in den vergangenen Jahren in die Hand genommen, um tatsächlich nach vorne zu kommen? (Martin Dörmann [SPD]: 2 Milliarden Euro!) Wie viel Geld wird in der Zukunft tatsächlich eingespeist? Ich meine jetzt nicht das Geld, das über die Frequenzversteigerung eingenommen wurde; denn die Frequenzen fallen zum Teil in die Länderkompetenz. Insofern ist es nicht originär Geld, das der Bund aus seinem Haushalt zur Verfügung stellt. (Martin Dörmann [SPD]: Natürlich! Doch!) Also, was zahlt die Bundesregierung darüber hinaus tatsächlich für den Breitbandausbau? (Martin Dörmann [SPD]: 2 Milliarden Euro!) Patrick Schnieder (CDU/CSU): Liebe Frau Kollegin Rößner, ich bin für diese Frage sehr dankbar. Bevor wir jetzt einmal herausrechnen, was über die Versteigerung hinaus zusätzlich verausgabt wird, muss man zunächst einmal feststellen, dass das Land Rheinland-Pfalz in den letzten vier Jahren in summa 28 Millionen Euro zur Verfügung gestellt hat. Nach Adam Riese und Eva Zwerg sind das 7 Millionen Euro pro Haushaltsjahr. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nach der Bundesregierung gefragt!) Schauen Sie einmal, was die Bayern machen: In vier Jahren bis 2018  1,5 Milliarden Euro! (Beifall bei der CDU/CSU) Allein das zeigt, wo das Land Rheinland-Pfalz, in dem Ihre Partei an der Regierung beteiligt ist, steht. Deshalb sollten wir alle froh sein, dass der Bund endlich die Initiative ergreift, damit wir flächendeckend eine vernünftige Versorgung mit schnellem Internet in Deutschland bekommen (Zuruf des Abg. Gustav Herzog [SPD]) und dass auch die Länder, die das bisher nicht so prioritär gesehen haben, endlich einen ordentlichen Anschub vom Bund bekommen, dort mehr zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was gibt der Bund? – Zuruf des Abg. Sören Bartol [SPD]) Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das DigiNetz-Gesetz ist das Ergebnis guter Arbeit. Wo noch nachgebessert werden muss, werden wir das auch tun. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe keine Antwort bekommen!) Eines steht fest: Noch nie wurde in einer Legislatur so viel für den Breitbandausbau bewegt. Das DigiNetz-Gesetz ist der nächste wichtige Baustein, mit dem wir den Abstand auf die führenden Breitbandnationen weiter verkürzen. Deshalb spreche ich ein großes Lob und große Anerkennung an die Bundesregierung, an unseren Minister und an die Kolleginnen und Kollegen, die das mit auf den Weg gebracht haben, aus. (Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie sind eine Antwort schuldig geblieben! – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe keine Antwort bekommen!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne haben der Präsident der Staatsversammlung der Republik Slowenien, Milan Brglez, und seine Delegation Platz genommen, die ich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Bundestages herzlich hier bei uns begrüßen möchte. (Beifall) Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns über die gute und immer engere Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern, insbesondere auch zwischen unseren Parlamenten, und ganz besonders über die auch gestern in den Gesprächen noch einmal bekräftigte Absicht zur Zusammenarbeit bei notwendigen gemeinsamen europäischen Lösungen für die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Alles Gute für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken! Nächster Redner ist der Kollege Udo Schiefner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Udo Schiefner (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um einen wichtigen Schritt hin zu einer leistungsfähigen digitalen Infrastruktur. Ich möchte betonen: Der Bund und die Koalition müssen sich hier nicht verstecken. Wir tun in diesem Bereich Erhebliches, und wir stellen auch erhebliche Mittel zur Verfügung. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche denn? Vielleicht können Sie es ja beantworten!) Dies ist eine wichtige und richtige Entscheidung dieser Regierungskoalition. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir wissen, dass für Hochgeschwindigkeitsnetze erhebliche Investitionen erforderlich sind. Dabei geht es nicht darum, ob in Millisekunden Bilder von uns im Wahlkreis ankommen. (Gustav Herzog [SPD]: Doch, auch!) Dabei geht es auch nicht nur darum, dass Bilder auf Facebook schnell verschickt werden können. Es geht um wesentlich mehr; das wissen auch wir im – wie es der Minister immer sagt – „Ausschuss für Mobilität und Modernität“. Ich möchte heute Morgen nur ein Thema, das in diesem Ausschuss eine Rolle spielt, beleuchten, nämlich das Thema „Transport und Logistik“; denn gerade in diesem Bereich ist Digitalisierung viel mehr als ein knackiges Schlagwort oder eine schöne Zukunftsfantasie. Für die Unternehmen der Logistikbranche ist modernste Dateninfrastruktur bereits heute wettbewerbsentscheidend. Wo Industrieproduktion und Logistik perfekt miteinander verbunden sind, können Synergien genutzt werden. Produktionsabläufe können beschleunigt, Lieferfristen verkürzt und Prozesse standardisiert werden. Wir erwarten von den Transporteuren im Kleinen und im Großen, dass sie schnell, effizient, kostengünstig und zuverlässig liefern. Transport und Logistik bilden das Rückgrat unserer Industrie, unserer Wirtschaft und unseres täglichen Lebens. Der Wirtschaftsstandort Deutschland hängt in hohem Maße von leistungsfähiger Logistik und diese wiederum von leistungsfähiger Infrastruktur ab, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hochgeschwindigkeitsnetze brauchen wir nicht für ein Navi oder für zuverlässige Stauwarnungen; das bekommen wir heute schon hin. Es geht um gewaltige Datenmengen, die versandt, ausgewertet und nutzbar gemacht werden müssen. Diese Datenmengen vertausendfachen sich alle zehn Jahre. Beim sicheren Datenaustausch geht es auch um Big Data. „Big Data“ bedeutet, maximale Datenmengen zu erfassen und auszuwerten. Aus der Masse der Daten können Muster herausgefiltert und im besten Falle intelligente Schlüsse gezogen werden. Meine Damen und Herren, der Verkehrsfluss kann dauernd ausgewertet, Gefahren und Behinderungen können in Echtzeit erkannt werden. Möglich ist das alles nur mit modernster Infrastruktur. Dafür setzen wir uns in dieser Koalition ein, und wir setzen auch Signale. „Modern“ bedeutet, dass jeder Ort in Deutschland digital in Hochgeschwindigkeit erreichbar werden muss. Indem wir das sicherstellen, stellen wir auch die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft sicher. Ich kann nur dazu auffordern, dieses Thema sachlich anzugehen und uns zu unterstützen, statt immer nur zu kritisieren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Ulrich Lange (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Breitbandausbau ist ein absoluter Kernbereich und ein absolutes Kernthema der Infrastruktur. Nicht umsonst heißt das Ministerium inzwischen Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. Liebe Kollegin Rößner, auch dieser Bereich kann in den letzten Wochen und Monaten eine hervorragende Leistungsbilanz vorlegen. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) Lieber Bundesminister, dafür ein herzliches Dankeschön. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wissen, wo wir angefangen haben und wo wir heute stehen. Da brauchen Sie nicht mit dem Daumen nach unten zu zeigen, Frau Kollegin Rößner. Ich werde Ihnen jetzt noch zwei Ihrer Fragen beantworten, damit es richtig peinlich für Sie wird. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich ist es für den Bundesminister!) Wir haben als erstes Land in Europa die Rundfunkfrequenzen versteigert. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) – Das stimmt, danke sehr. – Dieses Geld haben wir konsequent auch in den Ausbau der digitalen Infrastruktur gesteckt. Bund und Länder haben dies gemeinsam getan. (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt!) – Das stimmt auch. Zu Ihrer Frage, wie viel Geld der Bund gibt: Der Bund gibt über das Zukunftsinvestitionsprogramm noch einmal über 1 Milliarde Euro aus den zusätzlichen 10 Milliarden Euro. Stimmt das? (Zurufe von der CDU/CSU: Das stimmt auch!) – Ja, das stimmt auch. – Liebe Frau Kollegin Rößner, insgesamt sind das 2,7 Milliarden Euro von der Bundesseite für den Breitbandausbau. Ich glaube, da geht es jetzt in erster Linie darum, dass dieses Geld auch tatsächlich abgerufen, eingesetzt und verbaut wird, und darum, dass wir wirklich das schnelle Internet bekommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Anzahl der Förderbescheide, die in den letzten Wochen von unserem Ministerium herausgegeben werden konnten, zeigt auch: Es ist etwas in Bewegung gekommen in dieser Republik dadurch, dass wir das angepackt haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist dadurch deutlich mehr in Bewegung gekommen, als in den letzten Monaten und Jahren in den Ländern – mit Ausnahme Bayerns, dort waren es 1,5 Milliarden Euro; auch das stimmt – in Bewegung gekommen war. Insofern ist Ihre Kritik nicht nur unberechtigt, sie ist geradezu falsch. Packen Sie selbst an in den Ländern, in denen Sie mitregieren – und es sind ja nicht wenige –, und nehmen Sie sich an Bayern ein Beispiel! (Beifall bei der CDU/CSU – Abg. Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Nein, Sie waren schon dran. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Feige!) Jetzt zum DigiNetz-Gesetz: Es ist ein weiterer echter Hebel, den wir auf den Weg bringen. Es ist, wie es vorhin schon angesprochen wurde, ein Hebel, der auf einer Idee der letzten Bundesregierung basiert. (Abg. Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich erneut zu einer Zwischenfrage) – Ich habe gesagt: Nein. Daran ändert sich auch nichts. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wovor haben Sie Angst?) Sie können sich aber ruhig noch ein paar Mal melden. – Der Kollege Jarzombek hat es schon gesagt: Hier wird eine Idee der letzten Bundesregierung aufgenommen und durch die Europäische Kommission weiterentwickelt. (Zuruf der Abg. Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Ja, Frau Kollegin, wir können das nachher auf den Plätzen klären. Sie können sich schon einmal hinten anmelden. Wir haben hier also eine Idee aufgegriffen und weiterentwickelt: konsequente Öffnung alternativer Netzinfrastruktur, mehr Transparenz und – auch das ist wichtig – schnelle Entscheidungen durch die Bundesnetzagentur. Und eines ist klar: Wird eine Straße aufgegraben, dann sollte und muss dort Glasfaser verlegt werden. All das sind wichtige Entscheidungen. Es sind wichtige Dinge, die wir mit diesem Gesetz auf den Weg bringen. Wir von der Koalition setzen damit auch das um, was wir mit unserem Antrag im Sommer 2014 schon mit auf den Weg gebracht und definiert haben. Wir haben hier also gemeinsam konsequent gehandelt. Im parlamentarischen Verfahren werden wir sicher an der einen oder anderen Stelle noch einmal genauer hinschauen müssen, zum Beispiel, wenn es um das Thema „Glasfaserleitungen zu den Häusern“ und um die Frage geht, wie wir in den Häusern konkret damit umgehen. Dazu werden wir im Rahmen eines guten parlamentarischen Verfahrens Expertenanhörungen im Ausschuss durchführen. Ich bin mir sicher: Am Ende werden wir ein sehr gutes Gesetz erreichen, durch das alle Regionen Deutschlands mit schnellem Internet versorgt sein werden. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Bevor wir nun über die Überweisung des vorliegenden Gesetzentwurfes entscheiden, bekommt die Kollegin Rößner Gelegenheit zu einer Erklärung zur Aussprache nach § 30 unserer Geschäftsordnung. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich hätte gerne noch eine Frage an den Kollegen Lange gestellt, der mich ja angesprochen hat, und zwar, inwieweit die Koalition zur Kenntnis nehmen möchte und was sie dazu zu sagen hat, dass wir im internationalen Ranking nicht besonders gut dastehen. Vielleicht sind Ihnen die Zahlen nicht bekannt, aber beim Glasfaserausbau steht Deutschland im europäischen Ranking auf Platz 28 und weltweit auf Platz 51. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Dank Rheinland-Pfalz!) Das ist für eine führende Industrienation nicht besonders gut. Ich hätte gerne noch einmal eine Antwort auf die Frage bekommen, wie die Koalition dazu steht, dass die Bundesregierung da in den vergangenen Jahren wirklich nicht die richtigen Weichen gestellt und das Land nicht vorangebracht hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. Ulrich Lange [CDU/CSU] erhebt sich zu einer Erwiderung) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nein, auf Erklärungen zur Aussprache gibt es keine Möglichkeit der Erwiderung. Sie sollen ja nur der Klarstellung eigener Äußerungen dienen. (Ulrich Lange [CDU/CSU]: Sie hat mich etwas gefragt!) Wir entscheiden nun über die interfraktionell empfohlene Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksache 18/8332 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse. Ich darf fragen, ob dagegen Widerspruch erhoben wird. – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen damit zu den Tagesordnungspunkten 4 a bis 4 c: a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Fluchtursachen bekämpfen – Aufnahmestaaten um Syrien sowie Libyen entwicklungspolitisch stärken Drucksache 18/8393 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Uwe Kekeritz, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 25 Jahre Waffenstillstandsabkommen in der Westsahara – UN-Resolution 690 umsetzen, Referendum durchführen Drucksache 18/8247 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Claudia Roth (Augsburg), Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Interministerielle Zusammenarbeit bei der Bewältigung der Fluchtkrise in Drittstaaten verbessern Drucksachen 18/6772, 18/8430 Auch diese Aussprache soll nach einer Vereinbarung zwischen den Fraktionen 60 Minuten dauern. – Dazu stelle ich wiederum Einvernehmen fest. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Gerd Müller das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich das letzte Mal ein Projekt in Neu-Delhi besucht habe, fragte mich ein kleiner Junge mit funkelnden, treuen Augen, ob er mit nach Deutschland kommen darf. Wir finanzieren dort ein Projekt für Kinder, die Müll sammeln, um überleben zu können. 200 Millionen Kinder in Indien leben in Not und Elend. Ich konnte den Jungen nicht mitnehmen, aber ich habe ihm gesagt: Wir helfen dir vor Ort. Dies ist eine entscheidende Botschaft: Wir müssen mehr vor Ort tun. Wir können die Probleme nicht dadurch lösen, dass wir alle Menschen hierher holen. Das heißt aber, wir müssen mehr vor Ort tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich danke den Koalitionsfraktionen, dass wir dieses dramatische Thema, diese Herausforderungen heute einmal grundsätzlich diskutieren können. Der Antrag der Koalitionsfraktionen zeigt auf, dass die Migrations- und Fluchtbewegungen unserer Zeit viele Ursachen haben, die weit über das hinausgehen, was wir tagesaktuell diskutieren. Dies ist eine Generationenaufgabe und fordert von der Weltgemeinschaft eine ganz neue Dimension von globaler Zusammenarbeit und Verantwortung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Ursachen dafür sind im Antrag sehr präzise beschrieben; ich empfehle wirklich, ihn zu lesen. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) Das sind Naturkatastrophen, Stichwort „El Niño“. 10 Millionen Menschen sind auf der Flucht, weil eine Dürrekatastrophe sie um ihr Leben fürchten lässt. Andere Ursachen sind natürlich Kriege, nicht nur in Syrien und im Irak. Wir denken auch an den Jemen und viele andere Krisenherde. Aber grundsätzlich geht es um eine Entwicklung, mit der wir uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten beschäftigen müssen: eine dynamisch wachsende Weltbevölkerung. Am heutigen Tag wächst die Weltbevölkerung um 250 000 Menschen. 80 Millionen Menschen kommen jedes Jahr neu auf unseren Planeten. Diese Menschen wollen essen und trinken. Sie brauchen Arbeit, sie brauchen Zukunft. Es geht um das Thema Ernährungssicherung und um die Bekämpfung des Hungers. Wir stehen vor der großen Herausforderung des Klimawandels. Wissenschaftler sagen uns: Sollten wir durch gemeinsame Anstrengungen das 2-Grad-Ziel nicht erreichen, so werden sich 100 oder 200 Millionen Menschen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf den Weg in Richtung Norden machen, also auch in Richtung Europa. Auch Verteilungskonflikte und eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sind Fluchtursachen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Probleme werden in den kommenden Jahren eher zu- als abnehmen. Was viele übersehen, auch in der Diskussion in Deutschland, ist, dass 90 Prozent der derzeitigen Flüchtlinge Aufnahme in Entwicklungs- und Schwellenländern finden. Nicht wir in den reichen Industrieländern – in Deutschland, in den europäischen Staaten und in den USA – sind die Hauptbetroffenen. Zwei Drittel der Flüchtlinge sind Binnenvertriebene im eigenen Land. Die Reaktion der reichen Industriestaaten wie der USA und Staaten der EU darf nicht auf Abwehr und Zurückweisung beschränkt sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Es muss uns allen weltweit klar sein, dass wir heute in einem globalen Dorf, in einer Welt leben und dass auch wir durch unseren Lebens-, Konsum- und Wirtschaftsstil für die Ursachen der Krisen mitverantwortlich sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Wegducken vor der Verantwortung und Abschottung wird ebenso wenig die Lösung sein wie die Aufnahme aller potenziellen Flüchtlinge in Deutschland und den anderen Ländern Europas. Es bedarf vielmehr einer neuen globalen Verantwortungsethik weltweiten Handels, das heißt einer neuen Partnerschaft zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Dazu brauchen wir Handlungskonzepte auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene, die über die aktuellen Antworten weit hinausgehen. Im Antrag der Koalitionsfraktionen sind dazu ganz wichtige Vorgaben gemacht. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) Ich möchte einige Punkte aufgreifen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich an den Jungen in Indien denke, die Kinder in Aleppo oder die verfolgten und geschändeten Frauen der Jesiden in der Sindschar-Region, dann muss über all unserem Tun stehen: Die Würde des Menschen ist unantastbar und universell gültig. Jeder Mensch hat ein Recht auf Lebenswürde, auch der Junge in Neu-Delhi. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Daraus ergibt sich international, dass die Vereinten Nationen in die Lage versetzt werden, humanitäres Völkerrecht zu wahren und durchzusetzen. Meine Damen und Herren, das Bombardieren von Krankenhäusern in Aleppo, die Vergewaltigungslager in der Sindschar-Region und der Völkermord an den Jesiden sind Kriegsverbrechen und dürfen nicht ohne Folgen bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen die Vereinten Nationen stärken. Wir brauchen ebenso einen globalen Rahmen verbindlicher Normen zur Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele, die wir beschlossen haben. Wenn heute 20 Prozent der Menschen 80 Prozent der Ressourcen verbrauchen – das sind wir in den Industrieländern mit unserer Lebensweise – und 10 Prozent der Menschheit 90 Prozent des Vermögens besitzen, dann haben wir ein globales Gerechtigkeitsproblem, das auch Auslöser für Flucht und Migration ist. (Zurufe der Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deshalb brauchen wir auch Ihre Unterstützung, um weltweite Standards für einen fairen globalen Handel durchzusetzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Stoppen Sie doch die EPAs!) Wir müssen Überlebens-, Zukunfts- und Bleibeperspektiven für die Menschen in Krisen-, Konflikt- und Entwicklungsländern vor Ort schaffen. Dafür bedanke ich mich bei allen Abgeordneten im Bundestag und bei den Kollegen in der Regierung. Lösen wir die Probleme nicht vor Ort, so kommen die Menschen zu uns. Deutschland und die Kanzlerin gehen voran. Allein unser Ministerium hat die Mittel zur Bewältigung der Syrien-Krise in den letzten zwei Jahren verdreifacht. Wir reden nicht nur, sondern mit unserer Beschäftigungsoffensive „Cash for work“ schaffen wir bereits jetzt Arbeitsplätze für Flüchtlinge vor Ort im Nordirak, in Jordanien und im Libanon. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Michelle Müntefering [SPD]) 300 000 Kinder können mit unserer Unterstützung, mit deutschen Steuergeldern, zur Schule gehen. Wir haben ein Infrastrukturprogramm aufgelegt. Wir bauen zerstörte Dörfer wieder auf, führen die Menschen zurück, und wir helfen vor Ort. Ich sage an dieser Stelle den deutschen Finanzpolitikern in Bund, Ländern und Kommunen: Jeder Euro in Dohuk hat die 50-fache Wirkung eines Euros in Trier oder München. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Mit 300 Euro schaffen wir für einen Menschen vor Ort Bleibe und Verpflegung für ein ganzes Jahr. Die Menschen, die ich in Dohuk, Erbil oder in anderen Regionen getroffen habe, haben mir gesagt: Wir wollen vor Ort bleiben. Sobald es Sicherheit gibt, wollen wir wieder in unsere Dörfer, in unsere Heimatregionen zurückgeführt werden. Aber wenn ihr uns vor Ort nicht helft, dann bleibt uns nur die Chance, uns nach Deutschland oder Europa aufzumachen. – Deshalb drehen wir den Spieß um und geben den Menschen in ihren Regionen eine Bleibeperspektive. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dazu muss auch Europa seinen Beitrag leisten. Wir müssen Europa neu gestalten und wieder handlungsfähig machen. Ich könnte dazu eine eigene Rede halten. Europa braucht ein neues Nachbarschaftskonzept für die osteuropäischen Freunde und Partner, aber auch für den Mittelmeerraum, für Nordafrika und Ägypten. Europa braucht einen Flüchtlingskommissar statt vier Kommissare, die sich gegenseitig behindern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Europa braucht eine neue Haushaltsstruktur, die den neuen Herausforderungen gerecht wird, und zwar einen Flüchtlingsfonds von jährlich 10 Milliarden Euro und einen Marshallplan für den Wiederaufbau. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zusagen im Zusammenhang mit der Unterfinanzierung der UN-Hilfsprogramme müssen eingehalten werden. Ich erwarte in Istanbul, dass die Geberländer genau angeben, was sie seit der Londoner Konferenz eingezahlt haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Bundeskanzlerin hat Zeichen gesetzt. Deutschland finanziert inzwischen die Hälfte der Beiträge zum Welternährungsprogramm. Wir bilden aus. Wir bauen auf. Wir gliedern ein, und wir legen ein Rückkehrprogramm auf. Lassen Sie mich zum Schluss zusammenfassend sagen: Wir müssen Entwicklungspolitik weltweit in einer ganz neuen Dimension sehen und gestalten. Dafür brauchen wir unter anderem eine Verdoppelung der weltweiten Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und eine Vervielfältigung privater Investitionen in Entwicklungsländern mit neuen Instrumenten auch in Deutschland. Wir brauchen private Investitionen in nachhaltige Entwicklung. Die ADB-Jahrestagung in Frankfurt hat dazu entsprechende Standards vorgegeben. Ihr Gouverneur, Staatssekretär Fuchtel aus meinem Haus, hat dazu wichtige Vorarbeiten geliefert. Wir brauchen auch – das muss klar sein, meine Damen und Herren – eine faire Handelspartnerschaft zwischen Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Minister. Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr Präsident, mein letzter Satz. – Zeiten der Krise bieten uns auch die Chance für einen neuen Aufbruch. Nutzen wir diese Chance! Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Heike Hänsel das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Heike Hänsel (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Müller, Sie haben Ihre Rede mit dem Hinweis auf einen Jungen in Neu-Delhi begonnen, den Sie getroffen haben und der durch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt wird. Ich frage Sie aber: Was ist mit all den Flüchtlingskindern, die seit Monaten in Idomeni im Morast und unter menschenunwürdigen Bedingungen dahinvegetieren müssen, den Kindern, die nun von den griechischen Inseln in die Türkei und dann von der Türkei weiter nach Syrien zurückgeschickt werden? Es ist fraglich, ob sie es überhaupt überleben; denn türkische Grenzsoldaten schießen auf Flüchtlinge, auch auf Frauen und Kinder. Was ist mit all diesen Kindern? Das ist die Schande Europas. Selbst der Papst hat diese Politik, für die Sie Verantwortung tragen, scharf kritisiert. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt nun mehr Geld, Bildungsangebote und Arbeitsmöglichkeiten für die Flüchtlinge, die seit Jahren in den Nachbarländern der Kriegsregionen Syrien und Irak ausharren müssen. Das ist bitter nötig. Aber auch hier sehen wir die Folgen der verfehlten Politik der Bundesregierung. Sie hat viel zu lange, über Jahre hinweg, trotz zahlreicher Appelle von Hilfsorganisationen die Beiträge sehr gering gehalten und wollte noch 2014 die Beiträge für das Welternährungsprogramm sogar kürzen, und das trotz der großen Anzahl an Flüchtlingen. Wir haben das in jeder Haushaltsdebatte kritisiert und deutliche Erhöhungen gefordert. Seit Jahren ist hier eine Verfehlung der Bundesregierung festzustellen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir sind konfrontiert mit einem Höchststand bei den Flüchtlingszahlen weltweit. Herr Müller, Sie haben gesagt, es gehe um die Fluchtursachen. Aber in dem, was im Antrag von CDU/CSU und SPD niedergeschrieben ist, reden Sie nicht von den eigentlichen Ursachen, warum Millionen Menschen auf der Flucht sind. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie fliehen aus den Kriegsregionen Syrien, Irak, Libyen und Jemen. All diese Länder werden seit Jahren durch eine Kriegspolitik des Westens destabilisiert. Diese Politik hat zu einem Chaos in diesen Ländern beigetragen. Unter Führung der USA wurden diese Länder im Namen des sogenannten Krieges gegen den Terror massiv destabilisiert und zerstört. Den dort lebenden Menschen wurde jegliche Lebensperspektive genommen. Das zwingt die Menschen zur Flucht. Wir haben von Anfang an diesen Krieg gegen den Terror, der selbst Terror für die Menschen in der Region bedeutet, verurteilt und hier als einzige Fraktion abgelehnt. (Beifall bei der LINKEN) Deutschland beteiligt sich doch an all diesen Militäreinsätzen. 15 Jahre Krieg in Afghanistan! Die Situation ist fatal. Das ist eine Katastrophe für die Menschen in der Region. Deutschland unterstützt logistisch US-Drohnenangriffe in Pakistan oder im Jemen. Deutschland hat sich zum Beispiel an der Umsturzpolitik in Syrien beteiligt. In all diesen Regionen wird auch mit deutschen Waffen gemordet. Deswegen: Wer von der Bekämpfung der Fluchtursachen spricht, darf zu dieser Kriegspolitik, dieser Umsturzpolitik und den Waffenexporten nicht schweigen. (Beifall bei der LINKEN) Die deutsche Außenpolitik muss sich grundsätzlich ändern, wenn wir zur Überwindung der Fluchtursachen ernsthaft beitragen wollen. Wir wollen eine aktive Friedenspolitik, die sich nicht an NATO-Militärinterventionen beteiligt, die die Rüstungsexporte weltweit stoppt und die auch sämtliche Drohnenangriffe von deutschem Boden aus sofort unterbindet. (Beifall bei der LINKEN) Aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Frau von der Leyen rüstet sich jetzt für neue Kriegseinsätze. Sie will die Bundeswehr erstmalig wieder aufstocken und damit die Ära der Abrüstung beenden. Ich frage Sie, Herr Entwicklungsminister Müller: Was sagen Sie denn zu dieser Politik der neuen Aufrüstung und des neuen Wettrüstens? Das ist doch ein Wahnsinn. Was sagen denn die SPD und Außenminister Steinmeier dazu? Treten wir jetzt in eine neue Ära des Wettrüstens ein? Wo ist Ihre Friedenspolitik? (Beifall bei der LINKEN) Frau von der Leyen fordert 130 Milliarden Euro in den kommenden Jahren für die Bundeswehr. 130 Milliarden Euro sind mehr als die weltweiten Entwicklungsausgaben eines gesamten Jahres. Wir wollen nicht, dass dieses Geld für noch mehr Kriegseinsätze, für noch mehr Tod und Zerstörung verwendet wird, was immer wieder neue Flüchtlinge hervorbringt, sondern wir wollen, dass dieses Geld endlich in die soziale Entwicklung in den Ländern des Südens und auch in eine soziale Offensive hier in den Kommunen investiert wird. (Beifall bei der LINKEN) Wer Flüchtlinge schützen und Fluchtursachen bekämpfen will, muss auch ganz deutlich und scharf Nein zu diesem schmutzigen Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Despoten und Merkel-Freund Erdogan sagen; (Beifall bei der LINKEN) denn dieser Deal ist menschenverachtend. Flüchtlinge werden von der Türkei sogar in Kriegsgebiete zurückgeschickt. Gleichzeitig wird Erdogan dafür von der Bundesregierung und der EU mit 6 Milliarden Euro Steuergeldern belohnt. Das muss man sich einmal vorstellen: 6 Milliarden Euro für diese verbrecherische Politik von Erdogan, der eine Kriegspolitik gegen die eigene Bevölkerung betreibt, der Massaker an Zivilisten in den kurdischen Städten Diyarbakir und Cizre begangen hat, der die Enteignung von christlich-armenischen Kirchen durchgeführt hat und die Vertreibung von Kurden und Aleviten im Südosten der Türkei vorantreibt. Was sagen Sie denn eigentlich zu dieser Politik? Hier hört man auch von Ihnen, Herr Müller, herzlich wenig. Sie machen sich mittlerweile zum Komplizen dieser verbrecherischen Politik. (Beifall bei der LINKEN) Aber Erdogan ist nicht der einzige Despot, mit dem die EU nun beste Beziehungen pflegt. Das Magazin Monitor hat vor kurzem interne Berichte der EU-Kommission veröffentlicht, die neue Kooperationen mit afrikanischen Machthabern aufdecken, unter anderem im Sudan, in Eritrea, Äthiopien und Somalia. Dabei ging es darum, dass unter keinen Umständen dies an die Öffentlichkeit gelangen dürfte. Herr Müller, weswegen eigentlich nicht? Was haben Sie denn zu verschweigen? (Beifall bei der LINKEN) Warum war es denn so wichtig für die EU-Kommission, dass das nicht an die Öffentlichkeit kommt? Es zeigt nämlich, dass die EU mittlerweile vor nichts mehr zurückschreckt, wenn es um die Flüchtlingsabwehr geht. Äthiopien zum Beispiel, eine brutale Militärdiktatur, soll mit mehr Entwicklungsgeld belohnt werden, wenn es Flüchtlinge zurücknimmt. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Pfui!) Afrikanische Staaten jetzt mit mehr Entwicklungshilfe ködern zu wollen, damit sie ihre Grenzen zur Flüchtlingsabwehr hochrüsten und Rücknahmeabkommen abschließen, ist eine perfide Strategie. Je mehr Flüchtlinge zurückgenommen werden, desto mehr Entwicklungshilfe – das ist ein Missbrauch von Entwicklungsgeldern und menschenverachtend. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Statt diese Politik mit Afrika zu betreiben, brauchen wir endlich gerechte Handelsbeziehungen, die eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den afrikanischen Ländern ermöglichen. Seit Jahren kämpfen wir dafür, Herr Müller, dass deswegen die Freihandelsabkommen mit Afrika, die sogenannten EPAs, eben nicht abgeschlossen werden, sondern gerechte Handelsstrukturen aufgebaut werden. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. Heike Hänsel (DIE LINKE): Wer Fluchtursachen und nicht Flüchtlinge bekämpfen will, muss ein solidarisches und soziales Europa, ein friedliches Europa entwickeln. Die Linke wird weiter dafür kämpfen. (Beifall bei der LINKEN – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Allein! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Axel Schäfer ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man viel in anderen europäischen Ländern unterwegs ist und dort mit Abgeordneten, Vertretern der Regierungen und der Zivilgesellschaft redet oder wenn man außenpolitisch mit Partnern, auch in Kriegsgebieten, zu tun hat, wird man immer wieder eines feststellen: Die deutsche Bundesregierung, unser Land insgesamt, ist durch vielfältige Initiativen und aufgrund von Organisationen, aber vor allem wegen ihrer Verlässlichkeit ein wichtiger Ansprechpartner. Wir sind ein Garant dafür, dass wir in dieser Welt für den Frieden und für mehr Gerechtigkeit eintreten. Unser Land ist das Gegenteil von dem, was meine Vorrednerin eben ausgeführt hat. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Beteiligen Sie sich nicht an den Kriegen?) Glauben Sie mir: Ich war schon an vielen Orten unterwegs. Es ist völlig klar: Von Deutschland geht Vertrauen aus. Das ist auch dem persönlichen Wirken der beiden Minister zu verdanken, die für die Bereiche, über die wir heute diskutieren – Entwicklungszusammenarbeit und Außenpolitik –, verantwortlich sind. Entscheidend ist das ständige Bemühen um Lösungen und nicht um kriegerische Aktionen oder sonstige Aktivitäten. Genau das Gegenteil von dem, was Sie, Frau Hänsel, gesagt haben, ist der Fall. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wo leben Sie denn?) Das hat natürlich auch Konsequenzen. Wir werden das in der Haushaltsdebatte im September noch sehen. Heute ist weder Zeit noch Ort, das Ganze noch einmal auszuführen. Wir werden in der Haushaltsdebatte anhand von Millionen und Milliarden Euro noch einmal darlegen, was verändert und was verbessert worden ist. Genau darum wird es gehen. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sagen Sie doch etwas zu den 130 Milliarden Euro von Frau von der Leyen! Aufrüstung der Bundeswehr!) Dass bei der Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts, im Irakkrieg, Deutschland gesagt hat: „Wir beteiligen uns nicht an dem, was von der Bush-Administration völkerrechtswidrig gemacht wird“, ist die Grundlage für alle Gespräche, die Minister Müller, Minister Steinmeier und andere heute führen können; das Vertrauen in Deutschland als wichtige Friedensmacht in Europa ist vorhanden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es wird entscheidend darauf ankommen, dass wir uns innerhalb der EU – die EU ist nun einmal, was die Finanzen anbelangt, der wichtigste Player – für eine Politik einsetzen, die tatsächlich mehr Mittel zur Verfügung stellt, um Fluchtursachen zu bekämpfen. Dieser Einsatz innerhalb der Europäischen Union wird für uns wichtig sein. Diesen Einsatz werden wir leisten, und dabei müssen wir, bitte schön, ehrlich vorgehen. Es kann ja nicht sein, dass wir im Jahre 2013 auch aus Deutschland hören: „Wir müssen eigentlich den EU-Etat kürzen“, dass wir aber im Jahr 2016 sagen: Wir brauchen aus dem EU-Etat mehr Geld für die Fluchtursachenbekämpfung. – Entweder das eine oder das andere. Die SPD ist für mehr Geld für Fluchtursachenbekämpfung, auch über den EU-Etat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Noch etwas müssen wir hier kritisch beleuchten: Ich bin dagegen, dass auf die ODA-Quote die nationalen Mittel angerechnet werden, die wir für Flüchtlinge ausgeben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das würde dem widersprechen, was unsere auf Nachhaltigkeit angelegte Politik – Sie wissen, es gilt, mindestens 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe aufzuwenden – eigentlich sein soll, die aber in der Praxis noch nicht immer umgesetzt worden ist. Ich erlaube mir, zum Schluss mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten ein Zitat vorzutragen: Auf dem Wege zu einer neuen internationalen Ordnung dürfen wir eine der tragischsten Konsequenzen andauernder Konflikte und Spannungen nicht übersehen: nämlich die Millionen von Flüchtlingen, deren Leben entwurzelt wurde und die oft verzweifeltem Elend ausgesetzt sind. ... Die gesamte internationale Staatengemeinschaft muß Verantwortung übernehmen für die Existenzbedingungen jener Mitmenschen, die Opfer von Intoleranz und Brutalität werden. Die Last jener Länder, die in enger Nachbarschaft zu einem Regime leben, das einen Exodus von Flüchtlingen verursacht, sollte im Geiste der Solidarität mitgetragen werden von denen, die es besser haben. Das sagte Willy Brandt 1979 in seiner Einleitung zum Bericht der Nord-Süd-Kommission. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Davon ist die SPD leider weit entfernt!) Sie sehen, vor welchen Problemen wir stehen. Sie sehen aber auch genau an diesem Zitat, dass die Herausforderungen von heute viel mit Fehlern der Vergangenheit zu tun haben. Wir müssen dazu stehen und müssen auch die Konsequenzen ziehen. Wir sind mit der Politik dieser Bundesregierung dabei, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Claudia Roth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr verehrter, lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich dürfte ich hier heute gar nicht stehen. Warum? Als wir Grünen veranlassen wollten, dass unser eigener Antrag zur Fluchtursachenbekämpfung mit aufgesetzt wird, hieß es aus den Koalitionsfraktionen, das sei leider nicht möglich, denn der Grünenantrag sei einfach zu breit angelegt. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau!) Ich glaube, sehr viel deutlicher hätten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, Ihr mangelndes Verständnis dafür, was wirksame Fluchtursachenbekämpfung tatsächlich bedeutet, gar nicht zum Ausdruck bringen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wer nämlich Fluchtursachen bekämpfen will, der kann seine Politik gar nicht breit genug anlegen. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Genau!) Bei der Bekämpfung von Fluchtursachen geht es doch gerade um eine möglichst allumfassende Politik, die kein Ressort, die kein Ministerium außer Acht lässt und eben nicht nur den Minister für das gute Gewissen hier sprechen lässt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) die konsequent der Frage nachgeht, inwieweit das politische Handeln und Nichthandeln in unseren Partnerländern, aber eben auch bei uns in Deutschland dazu beitragen, dass über 60 Millionen Menschen ihre bisherige Heimat, ihr bisheriges Leben hinter sich lassen mussten. Fluchtursachenbekämpfung bedeutet dann zum Beispiel, die diplomatischen, die politischen Anstrengungen zur Beilegung aktueller Krisen und Kriege stärker zu vervielfachen und Deutschland wirklich zu einem Vorreiter in der zivilen Krisenprävention zu machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) Das muss doch unser Anspruch sein. Das muss doch der Anspruch der deutschen Bundesregierung sein. Fluchtursachenbekämpfung bedeutet auch, lieber Gerd Müller, Jemen nicht nur in einem Nebensatz zu erwähnen, sondern dann auch die milliardenschweren Rüstungsexporte in die Krisengebiete endlich einzustellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Fluchtursachenbekämpfung heißt, für eine wirklich faire Handelspolitik einzutreten, die eben nicht eine rücksichtslose maximale Marktöffnung für unsere Unternehmen zum Ziel hat, sondern sie beim Umweltschutz, bei den Arbeitnehmerrechten, beim Menschenrechtsschutz systematisch in die Pflicht nimmt. Und da haben wir erhebliche Zweifel, dass TTIP das leistet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fluchtursachenbekämpfung bedeutet schließlich, die wachsende globale Ungerechtigkeit ebenso konsequent anzugehen wie den fortschreitenden Klimawandel; das heißt, die Beschlüsse von Paris und New York nicht nur abzudrucken, sondern sie wirklich umzusetzen und damit jetzt anzufangen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weiter heißt das, die ärmsten Staaten der Welt umfassend zu unterstützen und – ja, Axel Schäfer – nicht die ODA-Quote nun durch die Anrechnung innerdeutscher Ausgaben für die Flüchtlingsversorgung oder durch die Vermischung mit Geldern für den Klimaschutz künstlich schönzurechnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) Insofern gebe ich Ihnen recht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von der Union: Unser grüner Ansatz ist viel breiter angelegt als Ihr heutiger Antrag, der sich letztlich doch kaum mit der im Titel benannten Bekämpfung von Fluchtursachen beschäftigt, sondern viel mehr mit der Unterstützung der Nachbarstaaten Syriens. (Stefan Rebmann [SPD]: Und wie geht es weiter?) Verstehen Sie uns bitte nicht falsch: Selbstverständlich sind Länder wie der Libanon, wie Jordanien, der Irak oder die Türkei, die für die Flüchtlinge aus der Hölle von Syrien die ersten Rückzugsorte sind, heillos überfordert. Selbstverständlich liegt das auch daran, dass wir diese Länder viel zu lange alleingelassen haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Selbstverständlich ist es allerhöchste Zeit, sie zu unterstützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) Aber damit bekämpfen wir doch keine Fluchtursachen in den Herkunftsländern! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) Wenn wir tatsächlich dafür sorgen wollen, dass weniger Menschen fliehen, und nicht nur erreichen wollen, dass weniger Menschen bei uns ankommen, dann müssen wir unsere Politik in vielen Feldern ganz grundlegend umgestalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) Und dann kann der Ansatz eben nicht breit genug sein, sondern dann muss er überall, in allen Bereichen, anfangen – und das besser heute als morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Michaela Engelmeier [SPD]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Wöhrl für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch wenn die Zahl der ankommenden Flüchtlinge bei uns sinkt, heißt das noch lange nicht, dass die Fluchtursachen verschwunden sind, heißt das noch lange nicht, dass wir aufhören können, die Fluchtursachen vor Ort zu bekämpfen. Im Gegenteil – ich glaube, dies ist auch durch meine Vorredner und Vorrednerinnen deutlich geworden –: Wir müssen noch intensiver an deren Bekämpfung arbeiten. Fakt ist: Der Konflikt in Syrien ist nicht beseitigt, im Gegenteil. Wir haben gestern neue Zahlen bekommen, nach denen allein im letzten Jahr 1,3 Millionen neue Binnenflüchtlinge dazugekommen sind – zusätzlich zu den bereits vorhandenen 6,6 Millionen. Wir wissen, dass die Situation in den Nachbarländern weiterhin sehr angespannt ist. Wir wissen auch, dass immer mehr Menschen aus der Subsahara in Libyen ankommen, um sich auf den Weg nach Europa zu machen. Das heißt: Der Schlüssel für die Lösung ist, die Fluchtursachen sowohl in den Herkunftsländern als auch in den Nachbarländern so zu bekämpfen, dass die Menschen in diesen Ländern eine Zukunftsperspektive haben. Wir müssen helfen, die Probleme vor Ort zu lösen; denn, wie der Minister gesagt hat, wenn wir es nicht schaffen, die Probleme dort zu lösen, werden die Probleme zu uns kommen. (Beifall bei der CDU/CSU – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt konkret!) Die wichtigste Ursache für Flucht und Vertreibung ist nach wie vor der Syrien-Konflikt. Ich habe es erwähnt: Inzwischen gibt es fast 8 Millionen Binnenvertriebene. Über 13,5 Millionen Menschen in Syrien, davon über die Hälfte Kinder, sind hilfsbedürftig. Trotz aller politischen Bemühungen gibt es leider noch keinen Erfolg in diesem Bereich. Es ist noch nicht zu einem Frieden gekommen – zu vielfältig, zu gegenläufig sind die Interessen. Die Terrorgruppen gehen weiterhin brutal vor. Assad versucht mit allen Mitteln, auch mithilfe brutalster Gewalt, an seiner Macht festzuhalten. Trotz brüchiger Feuerpause sieht man aber doch manchmal einen kleinen Hoffnungsschimmer. Wir haben es jetzt das erste Mal geschafft, mit Hilfskonvois mit Lebensmitteln und Gesundheitsversorgungsinstrumenten in besetzte Gebiete zu kommen, in Gebiete, die von Terrororganisationen oder von Assads Soldaten besetzt sind. Den Menschen dort konnten wir nach monatelangem Hunger und vielen Entbehrungen endlich wieder Nahrungsmittel geben. Wir erreichen leider nicht alle Gebiete, weil wir nicht überall hindürfen und jedes Mal eine Erlaubnis brauchen. Aber für einige Hunderttausend Menschen gibt es in diesem Bereich zumindest diesen Hoffnungsschimmer. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir sehen ebenfalls, dass Menschen wieder in ihre Gebiete zurückkehren können – zwar nicht in alle, aber wenigstens in einige – und versuchen, ihre zerstörten Häuser wieder aufzubauen. Wir versuchen hier, unterstützend tätig zu sein. Wir versuchen auch, vorbereitet zu sein, um mit weiteren Maßnahmen beginnen zu können, wenn nach erfolgreichen Friedensverhandlungen – darauf hoffen wir alle – der Frieden eintritt. Wir wollen mit Infrastrukturmaßnahmen und vielem anderen helfen, damit die Menschen dort wieder ein lebenswertes Leben haben. 4,8 Millionen syrische Flüchtlinge sind in Nachbarländer geflüchtet und haben dort großzügig Aufnahme gefunden. Aber diese Länder sind am Ende ihrer Kapazität. Sie stehen vor immens großen Herausforderungen. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Europa ist nicht am Ende seiner Kapazität!) Es sind Länder wie Jordanien, der Libanon und der Irak, die auch vorher schon Probleme hatten, die auch vorher schon eine hohe Arbeitslosigkeit hatten, die auch vorher schon – wie Jordanien – Wasserprobleme hatten. Diese Probleme werden jetzt durch die syrischen Flüchtlinge verstärkt. Im Libanon sind die Wohnungskosten um über 200 Prozent gestiegen. Viele syrische Flüchtlinge gehen in die Schwarzarbeit, weil sie keine Arbeitsgenehmigung haben. Ihre finanziellen Möglichkeiten sind erschöpft. Das bisschen Geld, das sie am Anfang hatten, ist aufgebraucht. Sie nehmen der einheimischen Bevölkerung so aber die Arbeitsplätze weg. In manchen Ländern, in Jordanien etwa, kommen die Lastwägen mit Wasser nur noch alle zwei Monate in die Dörfer, weil wegen der syrischen Flüchtlinge sehr viel mehr Wasser gebraucht wird. Man sieht, dass die Aufnahmewilligkeit dort an ihre Grenzen gekommen ist. Deswegen müssen wir schauen, dass wir unterstützen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Grundbedürfnisse. Unsere Aussage muss immer sein: Bleibt da, wo ihr seid! Wir versuchen, zu helfen, wo wir helfen können, ob das beim Aufbau der Dörfer, der Schulen oder in vielen anderen Bereichen ist. – Wir müssen schauen, dass die Spannungen, die es zwischen der Bevölkerung und den Flüchtlingen teilweise gibt, nicht immer mehr anwachsen, damit es nicht zum Eklat kommt. Wir fördern Bildung und Beschäftigung im Libanon. Wir bauen die Infrastruktur und das Gesundheitswesen im Irak auf. Wir helfen bei der Wasserversorgung in Jordanien. Wir versuchen, junge syrische Flüchtlinge oder überhaupt syrische Flüchtlinge mit einem Programm zu erreichen, das der Minister aufgelegt hat, nämlich „Cash for Work“. Sie sollen sich handwerkliche Fähigkeiten, etwa als Klempner oder als Schreiner, aneignen, damit sie beim Aufbau helfen können, damit sie die Möglichkeit haben, Geld zu verdienen, sodass sie ihre Familie ernähren können. Wir versuchen auch, die Gemeinden zu unterstützen, die Flüchtlinge aufgenommen haben, und wir werben sehr stark für Städtepartnerschaften – ich finde, das ist ein ganz wichtiger Punkt – zwischen deutschen Städten und Gemeinden in den Herkunftsländern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Stefan Rebmann [SPD]) Die Londoner Konferenz, an der 70 Staaten teilgenommen haben, hat 9,3 Milliarden Euro eingebracht. Wir hoffen natürlich, dass das nicht nur Zusagen waren wie in der Vergangenheit, sondern dass das Geld diesmal auch wirklich fließt. Deutschland wird sich mit 2,3 Milliarden Euro daran beteiligen. Davon gehen allein 570 Millionen Euro an das World Food Programme; denn es darf nicht mehr vorkommen, dass –wie im letzten Jahr geschehen – die Lebensmittelrationen gekürzt werden müssen und pro Person nur noch 13 Euro im Monat zur Verfügung stehen. Das bietet keine Lebensmöglichkeit. Wenn die Mütter sehen, dass ihre Kinder keine Nahrung mehr haben, wenn die Mütter sehen, dass die Kinder auch keine Ausbildung mehr bekommen, wenn die Mütter bzw. Familien so verzweifelt sind, dass sie ihre jungen Mädchen mit 10, 11 oder 12 Jahren an reiche Araber verkaufen müssen, damit sie zukünftig ihre Familien ernähren können, wenn Väter sehen, dass sie nicht die Möglichkeit haben, ihrer Familie durch Arbeit eine gewisse Existenzbasis zu verschaffen, dann werden diese Menschen nicht in diesen Ländern bleiben, dann werden sie sich auf den Weg machen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in einem Lager liegt heute bei 17 Jahren – mit steigender Tendenz. Wer schon einmal in solch einem Lager gewesen ist, kennt die Hoffnung, die am Anfang noch da war, die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr. Diese Hoffnung ist einer physisch greifbaren Hoffnungslosigkeit gewichen. Unsere größte Sorge gilt den Kindern. Kinder sind die Leidtragenden in diesem Bereich. 11 000 Kinder sind inzwischen durch den syrischen Konflikt gestorben, nicht nur durch Heckenschützen oder Fassbomben, sondern oft auch durch Mangelernährung, durch Krankheiten, die man hätte heilen können, wenn eine entsprechende Gesundheitsversorgung vorhanden gewesen wäre. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – So hoffen wir natürlich, dass wir mit unserer Hilfe vor Ort etwas ändern können. Wir können natürlich nicht die ganze Welt retten; das ist klar. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh Mann!) Aber wir können im Rahmen unserer Möglichkeiten versuchen, diesen Menschen vor Ort eine Chance zu geben, eine Zukunft zu geben, Perspektiven zu geben. Das wird nicht nur eine Aufgabe für uns und für heute sein, sondern es wird eine Aufgabe für die zukünftigen Generationen sein. Aber wir müssen dafür schon den Weg bereiten. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Katja Keul ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Minister Müller, gegen mehr Geld für Flüchtlingslager hat sicher niemand etwas. Aber Fluchtursachen werden Sie mit Geld alleine nicht bekämpfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die allermeisten Menschen sind bereit, viel Armut zu ertragen, um in ihrer Heimat zu bleiben. Die häufigste Ursache für Fluchtbewegungen sind und bleiben aber bewaffnete Auseinandersetzungen. Deswegen ist es so wichtig, rechtzeitig Krisenprävention zu betreiben und nicht tatenlos zuzusehen, wenn die Eskalation absehbar ist. In Ihrem Antrag nennen Sie als Beispiel Libyen. Nach dem Sturz Gaddafis in 2011 waren zwei Dinge absehbar: erstens, dass Libyen ohne Hilfe nicht in der Lage sein würde, die Kriegsverbrechen aufzuarbeiten und das Volk zu versöhnen, und zweitens, dass das Nachbarland Mali eine Destabilisierung durch die Rückkehr hochbewaffneter Tuareg-Kämpfer nicht überstehen würde. Beides haben wir ignoriert. Konsequenz: Heute verlängern wir zum dritten Mal den Bundeswehreinsatz in Mali, und Libyen ist zu einem Failed State geworden, in dem uns auch für Flüchtlingsfragen keine Ansprechpartner mehr zur Verfügung stehen. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die Grünen waren doch auch dafür!) Mit unserem Antrag wollen wir Grünen Ihr Augenmerk auf die nächste drohende Eskalation vor unserer Haustür richten. Vor 40 Jahren marschierte Marokko völkerrechtswidrig in die Westsahara ein und besiedelte das Land mit eigenen Staatsangehörigen, nachdem die Kolonialmacht Spanien sich zurückgezogen hatte. Die Saharauis nahmen daraufhin den Kampf auf und riefen ihren eigenen Staat aus, die Demokratische Arabische Republik Sahara. 1991, also vor 25 Jahren, konnte die UNO einen Waffenstillstand vermitteln. Grundlage dieses Waffenstillstandes war ein Referendum, das bis heute nicht durchgeführt wurde. Entgegen der Vereinbarung weigert sich Marokko bis heute, die Option einer Unabhängigkeit mit in das Referendum aufzunehmen. Dabei sind die technischen Voraussetzungen zur Bestimmung der Wahlberechtigten laut UNO längst geklärt. Der UN-Sonderbeauftragte Christopher Ross durfte in den letzten Jahren nicht einmal mehr in die besetzten Gebiete einreisen. Wer sich in der Westsahara zum Selbstbestimmungsrecht der Saharauis äußert oder womöglich das Wort „Besatzung“ benutzt, wird strafrechtlich verfolgt. Als im März der Generalsekretär Ban Ki-moon die Flüchtlingslager der Polisario auf algerischem Territorium besuchte und ebenfalls von Besatzung sprach, verwies Marokko aus Protest die Mitarbeiter der UN-Mission MINURSO des Landes. Wissen Sie, was das für ein Eklat für die UNO ist? Die Europäer und der Sicherheitsrat jedoch haben das einfach so hingenommen und den Generalsekretär im Regen stehen lassen. Dieser ungeheuerliche Vorgang ist eine Bedrohung für sämtliche Peacekeeping-Missionen der Vereinten Nationen. Wo kommen wir da hin? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD]) Was macht die Bundesregierung? Statt die Vereinten Nationen zu stärken, fährt de Maizière nach Marokko, um dem König anzukündigen, dass man sein Land jetzt als sicheren Herkunftsstaat anerkennen will, wenn er dafür die abgelehnten Asylbewerber zurücknimmt. Und nicht nur das: Erst im Dezember hat der EuGH in erster Instanz das Handelsabkommen der EU mit Marokko für rechtswidrig erklärt, weil es die Westsahara behandelt, als sei sie marokkanisches Staatsgebiet. Was macht der deutsche Innenminister? Er verspricht dem marokkanischen König, dass sich Deutschland für einen Erfolg der Berufung einsetzen wird. Ja was ist denn das für ein Rechtsstaatsbewusstsein? Seit wann nimmt die Exekutive Einfluss auf den Ausgang eines gerichtlichen Verfahrens? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das alles ist an Kurzsichtigkeit nicht mehr zu überbieten. Die junge Generation der Saharauis hat längst genug von 25 Jahren Waffenstillstand. Sie sehen, dass die Europäer sie nicht beachten, wenn sie nicht zu den Waffen greifen und selbst die UNO keine Unterstützung mehr bekommt. Wenn sie die Hoffnung verlieren, werden sie sich nicht einfach zum Sterben in die Wüste legen; da können wir sicher sein. Wenn sich die Europäer gegenseitig zuflüstern, dass eine Unabhängigkeit der Westsahara unrealistisch sei, dann sage ich Ihnen, was unrealistisch ist: Unrealistisch ist es, zu glauben, man könne einen Konflikt einfach aussitzen und ignorieren, bis er sich in Luft auflöst. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Der Konflikt wird sich nicht auflösen, und die Menschen, die davon betroffen sind, auch nicht. Übrigens haben Oxfam und das Welternährungsprogramm ihre Unterstützung für die Flüchtlingslager der Polisario reduzieren müssen. Wer eine weitere Fluchtursache verhindern will, muss sich endlich ernsthaft um eine Lösung dieses Konfliktes bemühen, zum Wohle der Menschen in der Westsahara, des gesamten Maghreb und letztlich auch der EU. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Gabriela Heinrich das Wort. (Beifall bei der SPD) Gabriela Heinrich (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Roth, Sie haben völlig recht: Wir müssen eine unheimlich breite Debatte führen. Das haben viele Beiträge gezeigt. Wer Fluchtursachenbekämpfung – blödes Wort; Vermeidung trifft es eher – betreiben will, muss sehr viel breiter diskutieren. Wir müssen diese Debatte führen. Aber gestatten Sie mir, dass ich heute zu unserem Antrag rede. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Im Titel steht: „Fluchtursachen bekämpfen“!) Dieser hat den Zusatz „Aufnahmestaaten um Syrien sowie Libyen entwicklungspolitisch stärken“. Deshalb werde ich mich darauf beziehen. Über 250 000 Tote, über 1 Million Verletzte und mehr als die Hälfte der Bevölkerung auf der Flucht: Das ist die aktuelle Situation in Syrien. Nicht erst, nachdem es einem Teil der Flüchtlinge gelungen ist, nach Europa, nach Deutschland zu kommen, geht uns dies etwas an. Wenn wir über Fluchtursachen reden, dann reden wir über Krieg, Hass und Gewalt und über Perspektivlosigkeit. Wir reden über Menschen, die die Hoffnung verloren haben, bald in ihre Heimat zurückkehren zu können, weil die Kämpfe immer weitergehen und der Frieden fast undenkbar scheint. Das geht uns etwas an. Deshalb bin ich den Ehrenamtlichen dankbar, die hier bei uns den Flüchtlingen helfen. Ich bin froh über das Engagement der Bundesregierung und insbesondere das Engagement unseres Außenministers Frank-Walter Steinmeier. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Er setzt sich für einen möglichen Frieden in Syrien und auch in Libyen ein. Ich glaube, das können auch Sie nicht bestreiten. Die Menschen kommen aus vielen Ländern zu uns. Sie suchen in Europa Sicherheit vor Bomben und Gewalt. Wir alle wissen, wie viele Menschen auf dem Weg zu einem sicheren Leben eben dieses Leben verloren haben. In Idomeni konnte ich letztens als Begleitung der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung mit einigen Syrern reden. Ja, sie harren dort unter unsäglichen Bedingungen aus, in der Hoffnung, dass sich die Grenze wieder öffnet. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Dann können sie doch jetzt gehen! Wege gibt es genügend!) Sie haben alles verkauft, was sie noch hatten, um die Flucht nach Griechenland zu finanzieren, obwohl sie in Idomeni vermeintlich schon in Sicherheit waren. Frau Hänsel, ich sage Ihnen: Zu dem Zeitpunkt, als ich in Idomeni war, ging dort das Gerücht herum, ein Ministerpräsident – ich glaube, aus Thüringen – habe angekündigt, man könne doch 2 000 der Flüchtlinge dort übernehmen. Was glauben Sie, was in einem Camp – es ist kein richtiges Camp, es gibt dort keine Rechtssicherheit – mit 12 000 Menschen passiert, wenn 2 000 Menschen denken, sie könnten den Weg antreten? (Katja Kipping [DIE LINKE]: Die anderen Länder hätten doch auch welche übernehmen können! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die Länder hätten doch auch alle aufnehmen können! So ein Quatsch! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie haben mehr Ministerpräsidenten als wir!) Ich sage, es ist auch schäbig, wenn Aktivisten dafür sorgen, dass die Menschen dort verharren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es ist schäbig von ihnen, die Menschen dort zu halten, indem sie ihnen Hoffnung machen, dass die Grenze wieder aufgeht. Darüber, dass wir hier eine europäische Lösung brauchen, bin ich mit Ihnen völlig einig. Aber es kann nicht angehen, dass Sie sich hierhinstellen und sagen: Nehmt sie halt alle auf, und dann sind die Sorgen erledigt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist lächerlich!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel zu? Gabriela Heinrich (SPD): Bitte. Heike Hänsel (DIE LINKE): Liebe Kollegin Heinrich, ich muss schon sagen: Wie Sie hier Ursache und Wirkung verdrehen, ist wirklich schändlich. Ich war letztes Jahr in so vielen Regionen, in denen Flüchtlinge ankommen: auf den griechischen Inseln, in den Balkanstaaten usw. Wenn es die freiwilligen internationalen Helfer nicht gegeben hätte, wären viele Flüchtlinge verhungert. Es gab fast keine Unterstützung von der internationalen Staatengemeinschaft. Auf Lesbos, auf Chios haben ausschließlich Freiwillige die Versorgung der Flüchtlinge übernommen. Es war niemand zu sehen, weder Vertreter der UN noch sonstiger großer Organisationen. Jetzt wollen Sie den Freiwilligen vorwerfen, sie seien verantwortlich dafür, dass die Flüchtlinge dort in einer schlechten Situation leben? Das ist ja wirklich zynisch. Was Bodo Ramelow angeht: Es war doch – genau umgekehrt – ein gutes Beispiel, mit dem er vorausgehen wollte. Er wollte zeigen: Wir nehmen Flüchtlinge aus Idomeni auf. – Wenn sich alle Bundesländer angeschlossen hätten, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dann hätten alle hierherkommen können. Es kann doch nicht sein, dass 12 000 Menschen für ein Land mit 80 Millionen Einwohnern plötzlich die riesengroße Gefahr sind. Wieso kann man keine menschliche Politik betreiben und die Leute hierherholen? Die Familien sind jetzt zerrissen. Das, was dort passiert, ist ein großes Drama, ein Trauerspiel. Insofern war es genau die richtige Antwort von Bodo Ramelow. (Beifall bei der LINKEN) Gabriela Heinrich (SPD): Kollegin Hänsel, ich halte diese Antwort von Bodo Ramelow trotzdem für falsch. Ich versuche, Ihnen zu erklären, warum. Wenn man in einer solchen Situation verhindert, dass die Menschen sich registrieren lassen, (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das muss jetzt nicht an der Registrierung scheitern!) in die umliegenden Camps gehen, die es ja gibt – die Voraussetzungen sind dort deutlich besser; ich habe sie mir angeschaut –, und versuchen, im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland zu kommen, dann sorgt man nicht dafür, dass es vorangeht. Natürlich können Sie sich hinstellen und sagen: Nehmen wir mal die 12 000 Flüchtlinge und demnächst 15 000 Flüchtlinge auf! – (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Was heißt hier „Nehmen wir mal …“? Die Leute sitzen dort fest seit einem halben Jahr!) Ich glaube aber, Deutschland und der Bundesregierung vorzuwerfen, dass im letzten Jahr nicht genug Menschen aufgenommen wurden, ist wirklich ein bisschen übertrieben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das war doch nicht der Vorwurf!) Die Frage ist halt, inwieweit wir sagen sollten, dass es immer so weitergeht. Ich würde jetzt gerne zu meiner Rede zurückkommen. (Beifall des Abg. Stefan Rebmann [SPD]) Sie haben Idomeni ins Spiel gebracht. An dieser Stelle mache ich jetzt weiter. – Manche der Menschen in Idomeni waren bereits drei Jahre in der Türkei. Sie haben fast ihr ganzes Geld verbraucht und sehen keinerlei Perspektiven, in ihrem Erstaufnahmeland Fuß zu fassen – nicht für sich, schon gar nicht für ihre Kinder. Der Rest des Geldes ist jetzt für Schlepper draufgegangen. Manchmal reichte er nur für ein Familienmitglied, das dann natürlich so schnell wie möglich seine Familie nachholen möchte. Sie fliehen erneut, weil sie wissen, dass es viele Jahre dauern kann, bis sie vielleicht jemals in die Heimat zurückkehren können. 4,8 Millionen syrische Flüchtlinge haben bisher in den Nachbarstaaten Syriens Aufnahme gefunden: in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, im Irak. Die wenigsten können arbeiten, unendlich viele Kinder können nicht in die Schule gehen, und die medizinische Versorgung ist mangelhaft. Mit unserem vorliegenden Antrag zielen wir darauf ab, neue Perspektiven zu schaffen. Dieser Aufgabe müssen wir uns, muss sich Europa stellen, und zwar unabhängig vom EU-Türkei-Abkommen. Das ist mir an dieser Stelle wirklich wichtig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Wir brauchen die Diplomatie, aber wir brauchen zuallererst humanitäre Hilfe, um Menschen in akuter Not auf der Flucht zu versorgen. Bei aller Kritik: Deutschland ist der drittgrößte bilaterale Geber im Bereich humanitäre Hilfe. Wir haben durchaus verstanden, dass die internationalen Hilfsorganisationen viel mehr Unterstützung brauchen, weil die Zahl der Flüchtlinge immer weiter ansteigt, und dies der erste Weg ist, um den Menschen direkt zu helfen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn wir die Entwicklungspolitik heranziehen, um Fluchtursachen zu vermeiden, dann geht es um längerfristige Perspektiven für die Flüchtlinge, aber auch für die Aufnahmeländer, weil Integration eben kein vorübergehendes Phänomen ist. Wenn wir in Deutschland ein Integrationskonzept auflegen, dann doch auch, weil es eben nicht vorübergehend sein wird. Deswegen unterstützen wir mit der Beschäftigungsinitiative „Cash for Work“, mit der bis zum Ende des Jahres mindestens 50 000 Jobs in Jordanien, im Irak und in der Türkei entstehen sollen, eben nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch die Aufnahmeländer. Deswegen setzen wir uns für die flächendeckende Absicherung des Schulunterrichts für alle Kinder in den Aufnahmestaaten ein. Wir müssen und wollen sicherstellen, dass keine verlorene Generation entsteht. Das sind wir den Kindern schuldig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn wir nachhaltig Fluchtursachen beseitigen wollen, dann müssen wir den Blick noch weiter richten. Wir wollen den Zivilen Friedensdienst weiter stärken mit Projekten zur Krisenprävention, Gewaltminderung und langfristigen Friedenssicherung, auch und gerade unter Beteiligung der Frauen. Dazu gehören auch die psychosoziale Unterstützung und die Arbeit mit traumatisierten Menschen. Wenn Syrien eine Zukunft haben soll, dann werden dort Menschen zusammenleben müssen, die sich derzeit noch mit Waffen gegenüberstehen. Natürlich hoffen wir auf einen Frieden in Syrien, aber er wird nur nachhaltig sein, wenn es gelingt, einen Wiederaufbau international zu organisieren und zu finanzieren. Wenn wir über den Nahen Osten reden, dann müssen wir auch über Libyen reden. Dort trägt der Präsidialrat noch nicht wie erhofft zur Stabilisierung des Landes bei, aber eine Stabilisierung ist die Voraussetzung dafür, in Libyen entwicklungspolitisch tätig zu werden. Auch hier geht es darum, ein Land zu unterstützen, aus dem viele Menschen aufgrund von Gewalt in die Nachbarländer geflüchtet sind, zum Beispiel nach Tunesien. Es geht aber auch um Libyen als Transitland. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass sich Hunderttausende Flüchtlinge in Libyen skrupellosen Schleppern ausliefern und die gefährliche Überfahrt nach Europa wagen. Die Stärkung der staatlichen Strukturen, der Frieden und irgendwann auch der Wiederaufbau sind entscheidend, um den Schleppern und den Terroristen in Libyen das Handwerk zu legen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. Gabriela Heinrich (SPD): Aus Sicht der SPD ist das, was im vorliegenden Antrag steht, auch ein Teil des richtigen Weges, den wir in Zukunft fortsetzen wollen und müssen, auch dann, wenn nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen und vielleicht wieder verstärkt die Frage im Raum stehen wird: Was geht uns das an? Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist die natürliche Aufgabe der Opposition, zu kritisieren, Mängel aufzudecken und diese Regierung zu noch besserer Arbeit anzuregen, zu motivieren. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen wir gerne!) Dennoch habe ich mich heute über einige Beiträge der geschätzten Kolleginnen wirklich sehr gewundert. Jetzt haben wir einen Minister in dieser Regierung, der für wirtschaftliche Zusammenarbeit steht und der von vornherein genau das sagt, was Sie einfordern. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sagt! Aber das Kabinett macht etwas anderes!) Es besteht doch große Einigkeit darüber, dass wir einen allumfassenden Ansatz brauchen, um die Fluchtursachen zu bekämpfen. Der Minister sagt: Natürlich ist es nicht damit getan – Frau Keul, Sie haben es angesprochen –, dass man Geld gibt, aber wir leisten einen großen Beitrag, einen der größten Beiträge, die überhaupt geleistet werden, und darauf darf man doch stolz sein, man darf doch zufrieden sein, und man darf doch hier im Deutschen Bundestag den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern danken, dass sie das Geld dafür zur Verfügung stellen und diese Maßnahmen ermöglichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben einen Minister – es mag Sie ja etwas beschämen, dass er dieser Regierung angehört und es nicht schon in früheren Regierungszeiten mehr Engagement gab; es darf Sie auch verwundern, dass er ein Christsozialer ist; (Tobias Zech [CDU/CSU]: Warum?) es gibt auch manchen bei uns, der sich darüber wundert –, der sagt: Wir brauchen einen umfassenden Ansatz, wir brauchen Klimaschutz, wir brauchen die Hilfe vor Ort, wir brauchen den Ansatz „Work for Life“, also Programme vor Ort. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Dann hören Sie mal auf den Papst! Der redet Ihnen ins Gewissen!) Das sind doch Dinge, die Sie immer gefordert haben. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sehr richtig!) Ich möchte Minister Müller an dieser Stelle einmal ganz herzlich danken. Für diesen Paradigmenwechsel steht er mit seiner Person, und darauf sind wir stolz. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie haben sich auch zur deutschen Außenpolitik geäußert. Auch dazu möchte ich etwas sagen. Frau Kollegin Hänsel, wesentliche Aussagen Ihrerseits sind ja im Grunde überhaupt nicht einlassungsfähig. Sie sagten, wir würden nur schmutzige Deals mit der Türkei machen, (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ach so! Das können Sie in jeder Zeitung lesen, Herr Wadephul!) wir würden nur tatenlos zusehen – das sagten auch Sie, Frau Kollegin Keul – und die UN nicht unterstützen. Dabei verkennen Sie natürlich, was wir machen; es ist vorhin schon darauf hingewiesen worden. Außenminister Steinmeier kann sich der Anfragen, im Rahmen der Außenpolitik als ehrlicher Makler aufzutreten, überhaupt nicht mehr erwehren. Natürlich wird Außenminister Steinmeier bereit sein, sich auch noch des Westsahara-Problems anzunehmen. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre schön!) Überall werden wir gefordert. Überall wird Minister Steinmeier gefordert. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das stimmt! Aber er kann sich äußern!) Im klassischen Nahostkonflikt zwischen Palästinensern und Israelis werden Anfragen an ihn gestellt. Und wer ist bei der Lösung des Syrien-Konflikts treibende Kraft neben Außenminister Kerry? Das ist Frank-Walter Steinmeier. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich sage: Wir sind stolz darauf, dass das die deutsche Außenpolitik ist. Sie haben die UN erwähnt. Wer unterstützt denn Staffan de Mistura? Wer entsendet mit Martin Kobler einen hochrangigen Diplomaten nach Libyen, um dieses schwierige Problem zu lösen? Das ist die deutsche Diplomatie. Ich möchte einmal allen Angehörigen des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik Deutschland sehr herzlich danken. Sie leisten einen großen Beitrag und bringen uns insgesamt nach vorne. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir haben hier so manche Türkei-Debatte geführt. Wahrscheinlich wird man in diesem Hause niemanden finden, der die innenpolitischen Maßnahmen und manches außenpolitische Agieren des derzeitigen Präsidenten der Türkei gutheißt; das ist doch völlig unstreitig. Aber wir sollten anerkennen und sehen, was die Türkei alles leistet – schließlich besteht Einigkeit, dass wir den Menschen nur vor Ort helfen können –: 2,5 Millionen Flüchtlinge befinden sich ständig in der Türkei. Und wir als Deutsche wissen doch, welche Probleme es machen kann, das der eigenen Bevölkerung zu vermitteln. Die wirtschaftliche Lage der Türkei ist nicht besonders einfach. Trotzdem erlaubt die Türkei den Flüchtlingen aufgrund dieses Abkommens, das übrigens nicht wir mit der Türkei geschlossen haben, sondern die Europäische Union, zu arbeiten. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ach so? Es weiß doch jeder, dass es im Bundeskanzleramt geschrieben wurde!) Wir wissen doch, wie schwer das war, als die mittel- und osteuropäischen Staaten der Europäischen Union beigetreten sind. Rumänen, Polen, Bulgaren etc. pp. haben wir doch auch nicht sofort auf den deutschen Arbeitsmarkt gelassen. Die Türken machen das. Das sind doch Schritte, die man anerkennen muss. Das kann man doch nicht alles diskreditieren. Das ist doch gut. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Insofern ist das doch ein sinnvolles Abkommen. Ich möchte mich hier den Ausführungen der Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion anschließen. Auch Frau Wöhrl hat die Maßnahmen, die wir vor Ort ergreifen, sehr eingehend geschildert. Das können wir nur im europäischen Rahmen erledigen. Abschließend möchte ich daher sagen, dass all das, was wir machen – das ist auch für die Bundeskanzlerin der wesentliche Anlass –, immer nur mit und durch Europa erreicht werden kann. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Europa muss von den Zuschauerbänken herunter. Europa muss mit aufs Spielfeld, und wir Deutsche müssen jeden Einsatz erbringen, damit Europa in dieser Art und Weise agiert. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist gut, dass wir mit diesen Maßnahmen vorangehen. Der vorliegende Antrag fasst das zusammen. Sie sollten ihm zustimmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Michelle Müntefering hat für die SPD-Fraktion als nächste Rednerin das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Michelle Müntefering (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Wadephul, ich bin bzw. wir als sozialdemokratische Fraktion sind so viel Lob von Ihnen gar nicht gewohnt. Dem Lob für unseren Minister, für die deutsche Außenpolitik, für die gemeinsame Außenpolitik und für die Entwicklungszusammenarbeit können wir uns nur anschließen. Denn es ist vollkommen richtig, dass wir für eine Friedenspolitik stehen und diese vorantreiben. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Echt?) Erlauben Sie mir eine Geschichte vorab, bevor ich zu der Frage der Fluchtursachen und Fluchtursachenbekämpfung komme, über die heute reichlich diskutiert wird. Im letzten Jahr habe ich vor ungefähr 600 ausländischen Studierenden gesprochen, die auf Einladung des DAAD mit einem Stipendium bei uns in Deutschland studieren. Auf der Bühne der Humboldt-Universität wurde darüber gesprochen, wie wir sie ins Land holen und ausbilden. Es ist erstaunlich, wie viele von ihnen später in ihr Land zurückgehen und dort für Wohlstand und Wachstum sorgen. Einer der Studenten meldete sich bei der Diskussion zu Wort – es war ein Student aus Afrika; er stand in der letzten Reihe – und fragte: Warum tun Sie das für uns? Was haben Sie davon? Ich fand, dass das eine kluge Frage war. Neben Dankbarkeit und wahrem Interesse schwang bei der Frage auch ein Misstrauen mit, das sich durch die Kolonialgeschichte und den Protektionismus der Wirtschaftsmächte in Europa tief in das Gedächtnis einiger Länder in der Welt eingegraben hat. Das zu verstehen, muss Teil dieser Debatte sein, in der wir über die Bekämpfung von Fluchtursachen sprechen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]) Dieser Protektionismus, der andere durch Zoll- und Handelspolitik strukturell benachteiligt, ist natürlich darauf angelegt, dass wir schneller und noch stärker wachsen. Das ist nichts anderes als globalisierter Eigennutz. Libyen ist nicht erst seit heute, sondern schon seit Gaddafi das Haupttransitland auf der zentralen Route von Nordafrika über das Mittelmeer nach Italien. Seit 2014 gelangten über 300 000 Flüchtlinge von dort aus nach Europa. Im Jahr 2015 haben 4 000 Menschen die Bootsflucht durch das Mittelmeer nicht überlebt. Seit dem Sturz Gaddafis wird offensichtlich, was den afrikanischen Kontinent schon sehr lange bewegt und inzwischen auch unseren. Der Gipfel in Valletta sollte die Lösung bringen: Geld für afrikanische Staaten, damit die Fluchtursachen vor Ort bekämpft werden können. Aber es stellt sich die Frage – vielleicht heute mehr denn je –, ob ein Hilfsfonds allein wirklich die Lösung sein kann, solange Märkte mit subventionierten Waren überschwemmt werden. (Beifall bei der SPD) Das ist ein Grund für die massenhafte Migration von Menschen aus Afrika Richtung Norden. Faires Handeln ist ein Gebot der Menschenrechte, das ökonomisch auch noch Sinn macht. Deswegen lautete die Antwort, die ich dem jungen Mann gegeben habe: Wir brauchen keine schwachen Partner in der Welt, wir brauchen starke Partner. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es wird uns dauerhaft nur gut gehen, wenn es auch anderen gut geht. Für unsere Außenpolitik heißt das, wegzukommen von einer Außenpolitik der Staaten hin zu einer Außenpolitik der Zivilgesellschaften. Denn eine Außenpolitik, die Zivilgesellschaften stärkt, ist auch eine Außenpolitik, die Fluchtursachen bekämpft. (Beifall bei der SPD) Als Sprecherin der sozialdemokratischen Fraktion für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik habe ich mich sehr gefreut, dass diese in dem Beschluss der Fraktionsvorsitzenden unserer Koalition jetzt endlich als wirksames Mittel bei der Bekämpfung von Fluchtursachen mit genannt wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Das Auswärtige Amt hat da in den letzten zwei Jahren Außerordentliches geleistet. Ich will nicht noch einmal wiederholen, was Kollege Wadephul gesagt hat, aber eines ist, glaube ich, klar: Auf dem Weltparkett und auch hier in Berlin sucht unser Außenminister mit unerschütterlicher Ruhe, die nur ein Ostwestfale mitbringen kann, (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ganz vorsichtig! Da gibt es noch andere!) nach diplomatischen Lösungen für den Frieden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir brauchen diese Diplomatie dringend, damit ein Boden für die Verständigung geebnet wird. Versöhnen statt spalten – auf dem Boden wirkt auch die dritte Säule unserer Außenpolitik, die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Humanitäre Hilfe ist mehr als ein Brot, ein Bett, ein Zelt. Es geht darum, Zukunftsperspektiven zu schaffen, Heimat zu stabilisieren und wieder aufzurichten. Lassen Sie mich sagen: Das Cash-for-Work-Programm ist gut. Aber vielleicht könnten wir noch etwas draufsetzen. „Education for Work“, das wäre eine Initiative, über die ich mich freuen würde. In diesem Sinne sollten wir das weiterentwickeln. Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte hat Tobias Zech für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Tobias Zech (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben viel über die Fragen gehört: Wie können wir Fluchtursachen vor Ort bekämpfen? Wie können wir den Menschen vor Ort helfen? Lassen Sie mich einen Blick auf die Frage werfen: Wie können wir den Ländern, die um die Katastrophengebiete herum liegen, helfen? Wir haben über die Türkei gesprochen, wir haben über Jordanien gesprochen, und wir haben über den Irak gesprochen. Das alles sind Länder, in denen momentan Flüchtlinge aufgenommen werden. Meine Damen und Herren, 90 Prozent der Flüchtlinge aus dem Syrienkrieg fliehen nicht nach Europa, sondern in diese Länder. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau! Das stimmt! Deshalb können wir auch welche aufnehmen!) Europa hat jahrelang dabei zugesehen, wie diese Länder mit dieser Katastrophe umgehen. Jetzt ist es Zeit, zu handeln; wir haben auch das richtige Team. Ich möchte gleich zu Beginn Minister Müller dafür danken, dass er dies sofort nach seiner Amtsübernahme erkannt und diese Länder massiv unterstützt hat, und das unter Ausreizung aller Ermessensspielräume, die der Bundeshaushalt hergibt. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Na ja! Bei 130 Milliarden Euro für die Bundeswehr gibt es schon noch Spielraum!) Sehr geehrter Herr Minister, vielen Dank! Sie haben Großes geleistet, und wir sind auf dem Weg, noch mehr zu leisten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte mich, wie es auch der Kollege Wadephul getan hat – Herr Staatsminister Roth, ich bitte, das auszurichten –, aber auch bei den deutschen Diplomaten und den deutschen BMZ-Mitarbeitern vor Ort bedanken. Ich bin oft im Libanon und in der dortigen Botschaft. Die Diplomaten vor Ort, die die Bundesrepublik – uns alle hier – vertreten, leisten Großes. Wir können auf diese Mitarbeiter stolz sein, und wir können stolz auf das sein, was sie tun. Sie verschaffen der Bundesrepublik nicht nur ein hervorragendes Antlitz, sondern sie vertreten auch unsere Interessen, und sie sind ein großer Beitrag zu unserem Erfolg. Ich bitte, diesen Dank weiterzugeben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kommen wir zur Türkei. Ich weiß, es ist momentan sehr einfach, auf die Türkei zu schimpfen. Ich habe, wie auch viele von Ihnen, Nizip und Kilis besucht. Wenn man dort in einem Lager mit 25 000 Menschen steht und sieht, welche Anstrengungen die Türkei unternommen hat, dann muss man – unabhängig davon, wie die Regierung momentan agiert – auch den dort Verantwortlichen, etwa der Bürgermeisterin von Gaziantep, den NGOs vor Ort und den türkischen Beamten danken, die sich schon seit Jahren um diese Menschen kümmern. Auch das gehört zur Wahrheit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Wir haben in der Türkei zumindest eine, ob sie uns gefällt oder nicht, stabile Regierung – noch. Es gibt aber andere Länder um Syrien herum – Sie erlauben mir, dass ich den Blick jetzt etwas stärker auf den Libanon lenke –, die keine stabile Regierung haben. Im Libanon zum Beispiel gibt es seit 2014 keinen Staatspräsidenten mehr. Der Libanon, meine Damen und Herren, ist das einzige Land im Orient, in dem ein früherer Staatspräsident noch lebt. Der Libanon könnte eine Modellregion sein. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der im Irak lebt auch noch!) – Das ist vielleicht nicht im Orient, Kollegin Roth; aber darüber können wir ja noch streiten. Dann sage ich: Der Libanon ist eines der wenigen Länder, in denen das der Fall ist. Kollegin Roth, können wir uns darauf einigen? (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na gut!) – Gut. – Aber ich glaube, wir sind uns einig, dass wir den Libanon als eine Modellregion betrachten können, als eine Modellregion, in der verschiedene Religionen und verschiedene soziokulturelle Gruppen in einer Demokratie friedlich miteinander gelebt haben. Ihnen müssen wir helfen. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Ich habe Kommunen in der Bekaa-Ebene und in Akkar besucht. In diesen ärmsten Provinzen leben 5 000 Einwohner und 5 000 Flüchtlinge. Hier funktioniert nichts mehr, weder bei der Wasserversorgung noch bei der Wasserentsorgung. Jeder von Ihnen, der auch Kommunalpolitiker ist – ich bin es seit 14 Jahren –, weiß, dass eine Kommune so etwas nicht stemmen kann. Diesen Menschen müssen wir vor Ort helfen. Nicht nur mit Geld, sondern auch politisch müssen wir dem Libanon helfen, diesen „governmental freeze“ zu überwinden und das zu werden, was das Land sein kann: eine Modellregion in diesem eskalierenden Konflikt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Lassen Sie mich noch erwähnen, warum es wichtig ist, dass wir auch mit Geld helfen. Ich selbst bin gelernter Einzelhandelskaufmann. Ich will damit sagen: Ich kann gut einkaufen. Alle Stereotypen, die man in diesem Zusammenhang äußern könnte, treffen auf mich nicht zu, weil ich während meiner Ausbildung zwei Jahre lang Tomaten nach Größe und Joghurts nach Datum sortiert habe. Ich habe versucht, für 21 Dollar im Libanon einzukaufen, und ich weiß, wie man Lebensmittel einkauft. Ich weiß, wo ich zugreifen muss, damit ich für wenig Geld viele Proteine bekomme. Ich habe es nicht geschafft. Deutschland hat als größter bilateraler Geber in London einen sehr großen Beitrag geleistet, was richtig ist. Darüber hinaus ist es unsere Verpflichtung, alle anderen Länder in Europa, aber auch in der Welt weiter dazu anzuspornen, sich auch zu beteiligen. Wenn ich nach Frankreich mit 70 Millionen Einwohnern und nach Italien mit 43 Millionen Einwohnern sehe, dann stelle ich fest, dass es in der Frage, wie man vor Ort helfen kann, noch Raum für Verbesserungen gibt. Ich kann es niemandem verdenken, dass er sich dann, wenn er seine Familie nicht ernähren kann, auf den Weg über das Meer macht. Der Minister hat es ausgeführt, und die Kollegin Wöhrl hat es ebenso sehr klar zum Ausdruck gebracht: Die humanitäre Hilfe, die wir leisten, geschieht nicht hier bei uns, sie geschieht vor Ort. Hier müssen wir mit Geld unterstützen. Wir müssen aber auch politisch unterstützen. Frau Kollegin Hänsel, deswegen sind Sie mit Ihren Ausführungen oft über das Ziel hinausgeschossen. Natürlich gehört die Sicherheitspolitik auch dazu. Ohne Sicherheit können Sie ein Land nicht entwickeln. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen: Ich war acht Jahre lang Soldat, und ich bin dankbar für die Entscheidung der Bundesministerin, dass wir nicht nur die Truppen verstärken, sondern auch deren Equipment verbessern. Wir können stolz sein auf unsere Soldaten. Sie sind teilweise unsere besten Entwicklungshelfer. Lassen Sie uns so weitermachen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Ich schließe diese Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/8393 und 18/8247 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich komme zu Tagesordnungspunkt 4 c, zur Beschlussfassung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Interministerielle Zusammenarbeit bei der Bewältigung der Fluchtkrise in Drittstaaten verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8430, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6772 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Ich rufe die Zusatzpunkte 2 und 3 auf: ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Renate Künast, Dr. Konstantin von Notz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches zur Streichung des Majestätsbeleidigungsparagrafen (§ 103 StGB) Drucksache 18/8123 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Harald Petzold (Havelland), Frank Tempel, Dr. André Hahn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Neuordnung der Beleidigungsdelikte Drucksache 18/8272 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Debatte. Als erster Redner in der Debatte hat Hans-Christian Ströbele von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, mit dem wir die Streichung des § 103 Strafgesetzbuch erreichen wollen, und zwar nicht erst in der nächsten Legislaturperiode, sondern jetzt, und zwar sofort mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wir brauchen in Deutschland keinen Strafrechtsschutz gegen Majestätsbeleidigung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Der Majestätsbeleidigungsparagraf passt nicht mehr in unsere Gesellschaft. Er ist auch nach Auffassung der Kanzlerin entbehrlich. Ich sage: Er ist nicht nur entbehrlich, sondern er ist auch gefährlich, weil die Kommentatoren immer wieder zu diesem Paragrafen geschrieben haben: Er verführt dazu, dass Despoten mithilfe dieses Paragrafen versuchen, zu verhindern, Kritik an ihren Fehlhandlungen öffentlich werden zu lassen. Das war schon immer eine Gefahr, und dieser wollen wir vorbeugen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir brauchen einen solchen Schutz auch nicht; denn auch Majestäten sind Menschen, und alle Menschen sind durch § 185 Strafgesetzbuch vor Beleidigungen geschützt. Wir müssen hier also keine Unterschiede machen, schon gar nicht in einer demokratischen Gesellschaft, in der es ja eigentlich gar keine Majestäten mehr geben soll. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wenn man die Zeitungen liest und die Kanzlerin im Fernsehen erlebt, dann weiß man, dass eigentlich alle dafür sind, diese Vorschrift abzuschaffen. (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Nein, ich nicht!) Man fragt sich: Wo ist eigentlich das Problem? Ich habe heute Morgen im Fernsehen gesehen, dass Sie noch ein Problem haben und das Außenministerium einbeziehen wollen. Aber die Kanzlerin hat schon angekündigt, dass von der Bundesregierung ein entsprechender Gesetzentwurf vorgelegt wird. Ich nehme an, das hat sie mit Ihnen abgesprochen. Der Bundesjustizminister hat auch schon einen Entwurf fertiggestellt. Er liegt also vor. Da sich hier alle einig sind, frage ich: Woran liegt es, dass das nicht ganz schnell verabschiedet werden kann? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Christian Flisek [SPD]) Ich sage: Das Problem ist die Majestät Erdogan, (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jawohl!) die ein nachhaltig gestörtes Verhältnis zur Pressefreiheit, zur Meinungsfreiheit und zur Kunstfreiheit hat, und das Problem ist die Kanzlerin, die versucht, diesem Herrn Erdogan, dieser Majestät, alles recht zu machen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Lächerlich!) Daraus ist das Problem entstanden, mit dem wir uns heute hier zu beschäftigen haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Kanzlerin hat am 15. April 2016 im Fernsehen eine Erklärung abgegeben, in der sie erklärt hat – das ist, glaube ich, einmalig in der Geschichte –, dass sie die Staatsanwaltschaft ermächtigt, auf den Strafantrag des Herrn Erdogan hin ein Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Herrn Böhmermann zu eröffnen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie wollen das Recht wegen eines Einzelfalls ändern! Sehr interessant! Einzelfallgesetzgebung!) Gleichzeitig, im gleichen Atemzug – zwei Sätze später –, sagt sie: Aber diese Vorschrift wollen wir abschaffen. – (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Bewusst falsch dargestellt!) Das soll allerdings erst im Jahr 2018 in Kraft treten, also in der nächsten Legislaturperiode. Ich glaube, einen solchen Vorgang hat es noch nicht gegeben. Ich habe einen solchen jedenfalls noch nicht miterlebt. Jetzt kommt das Nächste: Die Kanzlerin sagt: Wir machen das ja nur, weil wir uns in die Justiz nicht einmischen wollen. Die Justiz soll natürlich darüber entscheiden, ob hier ein Straftatbestand gegeben ist und ob man bestrafen soll. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das nennt sich Gewaltenteilung!) Das ist ja richtig. Nur, darum geht es überhaupt nicht. Die Justiz wird sich mit diesem Fall ohnehin beschäftigen und klären, ob das, was Herr Böhmermann gemacht hat, eine Beleidigung war oder ob es dafür Rechtfertigungsgründe – Pressefreiheit, Kunstfreiheit, Meinungsfreiheit – gibt. (Zuruf von der SPD: Genau!) Das wird die Justiz ohnehin prüfen. Hier ging es um eine politische Entscheidung der Kanzlerin: Gibt sie die Ermächtigung? Es ist nur in ganz wenigen Vorschriften des Strafgesetzbuches vorgesehen, dass die Bundesregierung eine Ermächtigung geben muss. Dabei wird sie sich natürlich nach politischen Überlegungen richten. Das Schlimmste daran ist aber, dass die Kanzlerin nicht sagt, worum es eigentlich geht. Die Verlogenheit dieser Politik führt zu Unzufriedenheit überall in der Gesellschaft. Sie sagt nicht, dass es darum geht, dass sie Herrn Erdogan besuchen und das Klima und die Stimmung dafür vorbereiten wollte und dass sie ihm recht gibt und sagt: Das wird jetzt hier in Deutschland verfolgt; ich haben die Ermächtigung erteilt. Dieser Kotau vor der Stimmungslage von Herrn Erdogan, dieser Majestät oder dieses Sultans, ist der eigentliche Grund. Das darf deutsche Politik nicht bestimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es darf auch nicht bestimmen, ob ein Strafverfahren durchgeführt werden muss. Das sind keine politischen Überlegungen. Die Kanzlerin weigert sich, hier im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit die eigentlichen Gründe zur Diskussion zu stellen. (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Sie kennen sie, oder was?) Man kann ja darüber diskutieren: Was tun wir alles für ein gutes Verhältnis zur Türkei? Was tun wir nicht? Wo ist da die Grenze? – Aber sie kann nicht drumherum reden. Wir verlangen von ihr, dass sie sagt, warum sie so entschieden hat, und dass sie diese ihre Auffassung hier zur Diskussion stellt. Der langen Rede kurzer Sinn: (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Lange Rede, wenig Sinn!) Da alle dafür sind, laden wir Sie ein, für unseren Gesetzentwurf zu stimmen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie können auch – wir sind da ganz flexibel – eigene Zusätze vorlegen. Dagegen haben wir gar nichts. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Zu lange Rede, kurzer Sinn!) Wir wollen nur, dass das Inkrafttreten dieser Streichung nicht erst in die nächste Legislaturperiode verschoben wird – wer weiß, was dann ist –, sondern wir wollen sie vom Fall Böhmermann abtrennen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann sind Sie auch die ganzen Probleme mit Herrn Erdogan los, weil in dem Augenblick das Verfahren gegen Herrn Böhmermann nicht mehr durchgeführt werden kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Volker Ullrich von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute zwei Gesetzentwürfe zur Neuregelung des § 103 Strafgesetzbuch. (Christian Flisek [SPD]: Zur Abschaffung, nicht zur Neuregelung!) Ich möchte vorausschicken, dass wir nicht den Fehler begehen sollten, ein Einzelfallgesetz zu debattieren. Es geht um die Regelung von Straftaten gegen Vertreter ausländischer Staaten. Vorausgeschickt sei auch, dass in der Frage von Meinungs- und Pressefreiheit eines festgestellt wird: Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Sie ist schlichtweg konstituierend für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft. Sie ist sehr weitgehend. Diejenigen, die im öffentlichen Leben stehen, müssen viel ertragen. Aber die Meinungsfreiheit ist auch nicht grenzen- und schrankenlos, sondern sie findet ihre Grenzen im Recht und in der Würde des anderen. Es ist ein Grundrecht in der Abwägung und keines ohne Grenzen. (Beifall bei der CDU/CSU) Über den § 103 Strafgesetzbuch lässt sich sehr trefflich streiten. Wenn man sich die Debatten der letzten Wochen so ansieht, ist es erstaunlich, wer sich alles zu § 103 Strafgesetzbuch geäußert hat und wer dessen sofortige Streichung verlangte. Teilweise wird der Eindruck erweckt, dass manche die Vorschrift sofort streichen wollten, ohne überhaupt zu wissen, dass sie jemals existiert hat. Offenbar plant auch Justizminister Maas, den § 103 sofort abzuschaffen. Aber wenn es ein solches Bedürfnis gäbe, sofort zu handeln: Warum hat er es denn nicht vorher getan? Warum jetzt erst einzelfallbezogen? (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Komische Logik!) Meine Damen und Herren, von einem Parlament wird nicht erwartet – das sollte nicht unser Leitbild sein –, zu schnell und zu hektisch zu handeln und Gesetzgebungsverfahren am derzeitigen Erregungsgrad sozialer Medien festzumachen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Dr. Eva Högl [SPD]: Es war die Kanzlerin!) Gesetzgebung braucht klare Orientierung, Nachdenken, Verlässlichkeit und Sorgfalt. Wir brauchen eine ernstzunehmende Verantwortung und keine Schnellschüsse. (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch kein Schnellschuss! Sie wollen es doch auch!) Das gilt insbesondere für das Strafrecht. Der Strafanspruch des Staates ist die einschneidendste Form, wie der Verfassungsstaat seinen Bürgern gegenübertritt. Das Strafrecht ist das schärfste Schwert des Staates. Deswegen hat der Gesetzgeber besondere Sorgfaltspflichten, wenn er über strafrechtliche Normen debattiert. Diese Sorgfaltspflicht, meine Damen und Herren, lassen die Gesetzentwürfe der Grünen und der Linken stark vermissen. Man könnte den Eindruck gewinnen, es ginge Ihnen gar nicht um Strafgesetzgebung, sondern darum, auf der Welle der ansonsten berechtigten Kritik gegen Erdogan zu surfen und damit taktisches Handeln zu produzieren, statt sorgfältiger Gesetzgebung. Das ist mit uns nicht zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Blödsinn! – Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: So ein Unsinn! Die Kanzlerin selber hat die Streichung gefordert!) Sie sprechen zunächst vom „Majestätsbeleidungsparagrafen“. Den Begriff des Majestätsbeleidigungsparagrafen hat in letzter Zeit vornehmlich die Boulevardpresse gebraucht. (Christian Flisek [SPD]: Der findet sich sogar in juristischen Kommentaren!) Das mag zur Vereinfachung eines Sachverhaltes zutreffend sein. Er ist aber fehl am Platz, wenn es um konkrete Rechtsfragen geht. Ich sage Ihnen: Unsere Fraktion ist nicht bereit, im Strafrecht eine Boulevardisierung der Begriffe und der Politik zu akzeptieren. Wir arbeiten hier sorgfältig. (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Flisek [SPD]: Man kann aber sorgfältig arbeiten und schnell zu Ergebnissen kommen!) Die Majestätsbeleidigung ist zunächst einmal die Beleidigung des eigenen Staatsoberhauptes, sofern er ein Monarch ist. Aber der § 103 Strafgesetzbuch schützt in erster Linie gar nicht die Ehre. Geschützt werden die auswärtigen Beziehungen des Bundes, die Integrität von auswärtigen Delegationen und Diplomaten, also der Respekt zwischen den Völkern und das Funktionieren des Völkerrechts. Das ist das Schutzgut. Das bitte ich Sie zur Kenntnis zu nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU) § 103 Strafgesetzbuch steht nicht allein. Er ist in ein System von weiteren Normen eingebettet; dazu gehört beispielsweise auch der Schutz ausländischer Flaggen und Hoheitszeichen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist doch kein Gesslerhut!) Wenn man § 103 Strafgesetzbuch isoliert streichen würde, dann hätte das zur Folge: Wenn Sie einen Diplomaten oder Regierungschef eines anderen Landes anspucken und sein Gesicht treffen, werden Sie nach Ihrer Rechtsart weniger hart bestraft, als wenn Sie die Flagge treffen, die am Auto angebracht ist. Ein solcher Wertungswiderspruch kann nicht sein. Deshalb sollte man die gesamten Paragrafen lesen. Man sollte den Paragrafen lesen, der § 103 vorausgeht, und den, der danach folgt. (Dr. Eva Högl [SPD]: Das können wir alles streichen!) Das lernt man im ersten Semester Strafrecht. (Beifall bei der CDU/CSU) Nun zum Gesetzentwurf der Linken. Kern Ihres Gesetzentwurfs ist die Streichung der Verunglimpfung des Bundespräsidenten. Aus unserer Sicht muss die Verunglimpfung des Bundespräsidenten bleiben, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie glauben doch selber nicht, was Sie da sagen!) nicht deswegen, weil der Bundespräsident als Person mehr Ehrenschutz verdient hätte als ein normaler Staatsbürger – insofern befindet sich auch der erste Bürger dieses Landes auf der gleichen Ebene –, sondern weil wir, indem wir den Bundespräsidenten schützen, auch unser eigenes Verfassungssystem schützen. Wir schützen den Respekt vor dem gewählten Staatsoberhaupt und die Selbstachtung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Daran werden wir nichts ändern. (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Flisek [SPD]: § 103 gilt für jeden Diktator dieser Welt! – Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) Trotzdem werden wir die Straftaten gegen ausländische Staaten einer konkreten, aber auch verantwortlichen und klug abgewägten Reform zuführen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wie Sie es bei Böhmermann gemacht haben!) Wir müssen darüber diskutieren, ob die Strafrahmen zueinanderpassen, ob es sein kann, dass die Strafrahmen bei Beleidigungsdelikten höher oder tiefer liegen als im Bereich der §§ 102, 103, 104 a Strafgesetzbuch. Wir müssen darüber reden, ob wir die Verfolgungsermächtigung durch die Bundesregierung beibehalten, die übrigens in der Strafantragsbefugnis ihre Entsprechung hat, wenn jemand einzelbeleidigt wird. Wir müssen darüber reden, ob sie beibehalten wird oder ob wir es als Aufgabe des Rechtsstaats und der unabhängigen Gerichte ansehen, nachzuprüfen, ob eine Beleidigung vorlag oder nicht. Wir müssen uns fragen, wie wir Hoheitszeichen und Flaggen ausländischer Delegationen schützen, wenn sie sich in offizieller Mission in Deutschland befinden und auch den Respekt dieses Landes verdient haben. Das sind Fragen, für deren Lösung wir uns die nötige Zeit nehmen sollten. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei Jahre oder was? Das ist ja unglaublich!) Nur kurzfristig zu sagen: „Es gibt eine gewisse Empörung in diesem Lande, und daraufhin ändern wir das Strafgesetzbuch“, ist unsorgfältig. Gegen ein solches kurzfristiges Handeln der Politik wenden sich die Menschen zu Recht. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Eva Högl [SPD]: Das war die Bundeskanzlerin, nicht irgendwer! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das sagt doch Frau Merkel! Das war doch Frau Merkel, die das gesagt hat! – Christian Flisek [SPD]: Mir sagen die Menschen ganz was anderes!) Ja, wir sind auch empört (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Über Frau Merkel!) darüber, dass in vielen Teilen der Welt Presse- und Meinungsfreiheit nicht in dem Maße gewährleistet werden, wie sie gewährleistet werden müssten. Wir sind empört darüber, dass auch ausländische Politiker den Rechtsstaat in Deutschland in Anspruch nehmen dürfen, obwohl sie selbst diesen Rechtsstaat in ihrem eigenen Land nicht im gleichen Maße gewährleisten. Auch das muss man sagen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu? Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Bitte. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege, ich höre Ihnen mit großem Interesse zu und frage mich, mit wem Sie das alles abgestimmt haben. Ich lese Ihnen nur einen kurzen Satz der Kanzlerin vor. In ihrer bekannten Rede vom 15. April 2016, die immer wieder gesendet worden ist, heißt es abschließend: Wir werden deshalb einen Gesetzentwurf zu seiner Aufhebung – gemeint ist § 103 – vorlegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Christian Flisek [SPD]: Nicht zu einer Reform! Aufhebung! – Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Nicht zu einer Reform! Genau!) Die Frage ist doch geklärt. Oder sollen wir der Kanzlerin nicht mehr glauben? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Christian Flisek [SPD]: Das weiß man bei der Union nicht so genau!) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Herr Kollege Ströbele, in diesem Lande werden die Gesetze durch das Parlament gemacht, nicht durch die Bundesregierung. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh! Oh!) Das sollten Sie wissen. Die Bundesregierung kann gerne einen Vorschlag machen. Wir werden darüber in Ruhe debattieren und eine Anhörung dazu durchführen. Wir werden aber nicht dem süßen Gift erliegen, ein Einzelfallgesetz zu machen, das verfassungswidrig wäre und das nur einer temporären Empörung entsprechen würde. (Christian Flisek [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! Da empfehle ich mal das Studium! Das ist ein Einzelfallgesetz! § 2 Strafgesetzbuch!) Wir haben in diesem Hohen Hause die Verpflichtung, gerade im Bereich des Strafrechts sehr besonnen, klug und verlässlich zu agieren. Das werden wir machen. Wir werden diese Aufgabe wahrnehmen, aber nicht, indem wir heute einem untauglichen, inhaltlich nicht abgestimmten und auch nicht sehr guten Vorschlag Ihrerseits zustimmen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Harald Petzold von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Besuchertribünen! Jetzt haben wir es also amtlich von der Unionsfraktion bekommen, dass die Kanzlerin offensichtlich den Vorschlag für ein verfassungswidriges Gesetz gemacht hat. Einen so starken Tobak hat noch nie ein Unionsvertreter hier am Rednerpult abgelassen. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte meine Rede mit einem Zitat beginnen: „Mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch, Herr Präsident!“ (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieser Satz wurde in diesem Haus einmal gesprochen. Der Urheber dieses inzwischen historischen Zitatjuwels aus der deutschen Parlamentsgeschichte kam damals glimpflich davon. Das lag vielleicht auch daran, dass Richard Stücklen, der seinerzeit als Vizepräsident der damaligen Sitzung so tituliert wurde, über einen gewissen Restposten an Humor verfügte. Ich habe mir mittlerweile sagen lassen, dass das A-Wort in Stücklens bayerischer Heimat manchmal sogar eine Art Belobigung sein soll. Der – ich zitiere wieder – nervenkranke Despot vom Bosporus ist dagegen ein eher missmutiger Zeitgenosse. Das wissen die am besten, die unter ihm zu leiden haben. Er gehört mit Sicherheit zum Kreis derjenigen, die diese Art bayerischer Belobigung allemal verdient hätten. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich frage: Sind noch ein paar Namen mehr gefällig? Assad in Syrien, Kim Jong-un in Nordkorea, Umar al-Baschir im Sudan, jeder Einzelne aus der Reihe dieser Blutrünstigen steht unter dem Schutz des § 103 unseres Strafgesetzbuches. Aus Staatsräson darf ich keinen dieser mordlüsternen Spießgesellen so kritisieren, wie das eigentlich nötig wäre, weil ich dann Gefahr laufe, ihn zu beleidigen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Das ist falsch!) Im Übrigen ist der Kollege Orban in Ungarn auch keiner, dem die Presse- und Meinungsfreiheit besonders am Herzen liegt. Oder was ist mit dem Kollegen Kaczynski in Polen oder dem Kollegen Putin in Russland? Von Donald Trump erhoffe ich mir, dass er nie in die Gesellschaft derjenigen vorrückt, die die Privilegien des § 103 genießen. Dieser Paragraf muss fallen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege Ullrich, wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie eigentlich gar nicht, dass dieser Paragraf gestrichen wird. (Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Wir wollen klug nachdenken! Wir denken nach, bevor wir handeln!) Warum will die Bundeskanzlerin die Streichung erst 2018? Was spricht gegen eine sofortige Streichung, wie sie die anderen Fraktionen einfordern? Hierfür kann es aus unserer Sicht nur eine Erklärung geben: Hier soll der Öffentlichkeit wieder einmal eine der berühmten Merkel’schen Beruhigungspillen verpasst werden, damit man ein Problem aussitzen kann. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Denn erst mit ihrer verhängnisvollen Kommentierung des sogenannten Schmähgedichts von Herrn Böhmermann hat die Staatsaffäre Böhmermann begonnen. Jetzt wollen Sie einfach Gras über die Sache wachsen lassen und dann so weitermachen wie bisher. Das macht die Linke nicht mit. (Beifall bei der LINKEN) Das Strafgesetzbuch regelt Beleidigungsdelikte grundsätzlich in den §§ 185 ff. Die Beleidigungsdelikte umfassen neben der Beleidigung die üble Nachrede und die Verleumdung. Dennoch enthält das deutsche Strafrecht seit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs einen Anachronismus, der nicht nur seinesgleichen sucht, sondern auch die Gleichheit aller vor dem Gesetz aushebelt, die sogenannten Sonderbeleidigungsdelikte. Das sind die Regelungen über die Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten, also der § 103, die Verunglimpfung des Bundespräsidenten, der § 90, sowie die üble Nachrede und Verleumdung von Personen des politischen Lebens, der § 188. Diese Sonderregelungen verstoßen gegen unser freiheitlich-demokratisches Grundverständnis; denn im Artikel 3 des Grundgesetzes steht: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Weder der türkische Präsident noch der Bundespräsident oder Personen des politischen Lebens sind gleicher, und niemand kann die Frage beantworten, warum wir Politikerinnen und Politiker gleicher als unsere Wählerinnen und Wähler sein sollen. (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Darum geht es doch gar nicht!) Die Linke ist die einzige im Bundestag vertretene Kraft, die neben der Abschaffung des § 103 Strafgesetzbuch auch die Abschaffung dieser eben genannten Sonderparagrafen fordert. Es ist einfach inkonsequent, den besonderen Schutz ausländischer Staatsoberhäupter abschaffen zu wollen, aber den des eigenen beizubehalten. (Beifall bei der LINKEN) Deswegen sagen wir: Wer auf halber Strecke stehen bleibt, indem er es bei der Streichung nur des § 103 des Strafgesetzbuchs belässt, der offenbart entweder, dass es ihm oder ihr nicht um die Sache geht, sondern nur darum, einer aktuellen Stimmung hinterherzulaufen, (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt nähert sich die Argumentation an!) oder dass sie oder er ein seltsames Verständnis unseres Grundgesetzes hat. Hinzu kommt, dass an verschiedenen Stellen des Strafgesetzbuches die Strafverfolgung von einer sogenannten Verfolgungsermächtigung abhängig gemacht wird. Ohne eine solche Verfolgungsermächtigung kann die Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die im Einzelnen genannten Straftaten nicht tätig werden, so auch im Falle Böhmermann. So wurde die Kanzlerin zur De-facto-Anklägerin. Das erinnert eher an Feudalabsolutismus. Auf jeden Fall widerspricht es der Gewaltenteilung in unserem Land; denn ob eine Strafverfolgung stattfindet, obliegt einzig und allein der Judikative. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So hat die Kanzlerin auch entschieden! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Genau!) Linke, SPD und Grüne haben zu Recht die Verfolgungsermächtigung durch die Bundesregierung im Falle Böhmermann kritisiert. Die drei SPD-Minister haben sogar im Kabinett ihre ewige Oppositionsrolle wieder heldenhaft gespielt. Aber auch hier ist die Linke wieder einmal die einzige im Bundestag vertretene politische Kraft, die durch eine Streichung dieser Verfolgungsermächtigung im Strafgesetzbuch eine strikte Gewaltenteilung einfordert. Liebe Besucherinnen und Besucher, Sie können damit sehen: Die Linke bleibt nicht auf halbem Wege stehen. Wir denken die Sache mit unserem Gesetzentwurf konsequent zu Ende. An die Kolleginnen und Kollegen der SPD möchte ich abschließend folgende Worte richten: Sollten Sie wirklich ein ernsthaftes Interesse an der Umsetzung Ihrer Ankündigung oder der Ankündigung von Justizminister Heiko Maas haben, so nutzen Sie die vorhandene parlamentarische Mehrheit hier im Deutschen Bundestag und stimmen unserem oder wenigstens dem Gesetzentwurf der Grünen zu. Wenn Sie mir jetzt wieder sagen wollen, das sei mit Ihrem Koalitionspartner, das sei mit der Union nicht zu machen, dann frage ich Sie allen Ernstes mit den Worten Ihres Neumitglieds, der Putzfrau Susanne „Susi“ Neumann: Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten? Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat Dr. Eva Högl für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Eva Högl (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, auch die Kunstfreiheit sind höchste Schutzgüter unseres Grundgesetzes. Sie stehen in Artikel 5 an prominenter Stelle und werden dort garantiert, und sie sind nicht verhandelbar – die erste Vorbemerkung. (Beifall bei der SPD) Die zweite Vorbemerkung. Alle Menschen genießen gleichermaßen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Achtung ihrer Würde, alle Menschen, egal ob sie arm oder reich, groß oder klein, dick oder dünn sind, ob sie Ausländer oder Inländer, ob sie Politiker oder dies nicht sind. Die Ehre eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin ist gleich viel wert. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deshalb soll das Strafrecht alle Menschen ohne Ansehen der Person vor tätlichen Angriffen und auch vor Beleidigungen und Verleumdungen schützen. Das ist ein ganz wichtiges Prinzip. Der Fall Böhmermann hat uns vor Augen geführt, dass wir im Strafrecht einige Sondertatbestände haben, die einige vielleicht schon gekannt haben, einige vielleicht aber auch nicht – ich schaue jetzt einfach einmal in die Runde –, und die uns zu der Überlegung geführt haben, diese Sondertatbestände zu streichen. Ich finde es absolut in Ordnung, dass wir darüber anlässlich eines Einzelfalls nachdenken; das ist absolut in Ordnung. Das heißt nicht, dass wir immer auf einen Einzelfall reagieren. Aber es heißt, dass wir einen Einzelfall zum Ausgangspunkt nehmen, um zu erkennen, dass bestimmte Dinge vielleicht nicht so sind, wie sie sein sollen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion stimmen absolut mit der Bundeskanzlerin überein, dass § 103 StGB gestrichen werden soll. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das hat unser Fraktionsvorsitzender und damit wir als erste Bundestagsfraktion – darauf lege ich hier schon ein bisschen Wert – schon am 12. April dieses Jahres öffentlich gefordert. Dabei bleiben wir auch. Ja, § 103 stammt aus einer vordemokratischen Zeit: Als er entstand, ging es um Majestätsbeleidigung. Ich glaube, wir sind uns alle hier in diesem Haus einig, dass dieser Paragraf nicht mehr in unsere Zeit passt. Die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter wird schärfer sanktioniert als die normale Beleidigung. Der Fall Böhmermann hat gezeigt, dass genau diese an sich gutgemeinte Regelung, die nämlich die diplomatischen Beziehungen schützen soll, das gerade nicht tut, sondern sogar zum Gegenteil führt, nämlich zu diplomatischen Verwicklungen. Denn neben dem ohnehin überzogenen Ehrenschutz, wie ich es eben schon dargelegt habe, führen auch die Voraussetzungen der Strafverfolgung zu Verwicklungen und zu Schwierigkeiten, nämlich beim § 104 a. Das vorgesehene Strafverlangen der türkischen Regierung hat zu Recht bei uns Befremden ausgelöst – ich glaube, das gilt für viele hier im Haus –; denn gerade die Türkei hat kein besonders gutes Verhältnis zu Presse- und Meinungsfreiheit. Das konnten wir nicht nur in den letzten Tagen und Wochen beobachten. Präsident Erdogan hat seit seinem Amtsantritt rund 2 000 Strafverfahren wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung einleiten lassen. Auch das gehört in unsere Diskussion. Vor diesem Hintergrund und wegen des hohen Stellenwertes der Meinungsfreiheit ist die Ermächtigung der Bundesregierung zur Strafverfolgung in der Öffentlichkeit nicht vermittelbar; auch diese Ermächtigung ist absolut unzeitgemäß. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Denn damit wird das Verhalten von Privatpersonen wie im Fall Böhmermann zu einer Staatsaffäre. Deswegen ist § 104 a zu streichen. Was ich besonders problematisch finde, ist, dass es sich im Fall Böhmermann gar nicht um eine normale Beleidigung handelt, dass seine Äußerungen vielmehr im Kontext einer Satiresendung geäußert wurden. Auch deswegen ist sehr kritisch zu beleuchten, dass nicht nur § 104 a grundsätzlich falsch ist und zum Gegenteil führt, sondern dass wir es auch gar nicht zulassen dürfen, dass ausländische Regierungen diese Vorschriften des Strafgesetzbuches zu ihren politischen Zwecken missbrauchen. Das ist eine ganz wichtige Frage, die wir hier miteinander erörtern müssen. Die jetzige Rechtslage führt dazu, dass letztendlich die Bundesregierung durch die Entscheidung darüber, ob sie eine Ermächtigung erteilt, in eine politische Zwangslage kommt, in der man eigentlich nur falsch handeln kann, in der es fast kein Richtig gibt. Das hat sich ja auch dadurch gezeigt, dass die Bundesregierung bei dieser Entscheidung erstens nicht einer Meinung war und dass sie es sich zweitens zu Recht sehr schwer gemacht hat, ob diese Ermächtigung erteilt werden soll. Wenn es zu diplomatischen Störungen kommt, dann führt diese Ermächtigung der Bundesregierung in § 104 a gerade zu dem Gegenteil dessen, was sie eigentlich bewirken soll, nämlich die diplomatischen Beziehungen zu schützen. (Beifall bei der SPD) Deswegen sagen wir ganz deutlich, dass es schwierig war, dass die Bundesregierung die Ermächtigung erteilt hat; ich habe es eben schon gesagt. Der Vorgang ist unterschiedlich bewertet worden. Ich persönlich, viele andere in der Bundestagsfraktion und auch die SPD-Minister haben die Entscheidung der Bundeskanzlerin für einen Fehler gehalten. Wir müssen auch schauen, dass kein politischer Schaden entsteht; denn allein dadurch, dass der Eindruck entsteht, man habe sich von Erdogan in die eine oder andere Richtung lenken lassen, ist schon politischer Schaden entstanden. Es ist absolut richtig, dass die Bundeskanzlerin direkt bei der Erklärung, dass die Ermächtigung erteilt wird, gesagt hat: Es ist Zeit, § 103 aus dem StGB zu streichen, weil er nicht in unsere Zeit passt. (Beifall bei der SPD) Deswegen: § 103 muss weg. Da sind wir uns hoffentlich alle einig. Die SPD-Bundestagsfraktion sagt: Auch § 104 a muss weg. Das sagen die Grünen leider nicht. Da enthält ihr Vorschlag eine Lücke, wie ich finde. Die Linken gehen leider nicht weit genug mit ihrem Vorschlag, weil sie es bei § 104 a belassen und nur die Ermächtigung der Bundesregierung herausstreichen wollen; die Regelung zum Verlangen des Staates auf Strafverfolgung wollen sie leider nicht streichen. Deswegen sind beide vorliegenden Gesetzentwürfe nicht geeignet, hier beschlossen zu werden. Die SPD-Bundestagsfraktion sagt: Beides weg, § 103 und § 104 a! Außerdem, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Unionsfraktion: Sofort streichen und nicht erst 2018! Dann würden wir hier die richtige Entscheidung treffen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Detlef Seif von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Detlef Seif (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich wollte eigentlich eine rechtspolitische Rede halten und mich im Wesentlichen nur an den Rechtsvorschriften entlang bewegen. Aber einiges, was die Kollegen Ströbele und Petzold gesagt haben, kann so nicht stehen bleiben, weil es nicht richtig ist. Kollege Ströbele hat eingeleitet mit den Worten: Wenn § 103 des Strafgesetzbuches abgeschafft wird, ist das Strafverfahren gegen Böhmermann beendet. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Meine Damen und Herren, das ist rechtlich falsch. (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Nein, das ist richtig! – Weitere Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erdogan hat einen Strafantrag nach § 185 des Strafgesetzbuches gestellt. (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Den hat er zusätzlich gestellt!) Allein deshalb wird ein Strafverfahren durchgeführt. § 103 des Strafgesetzbuches ist eine Spezialvorschrift; (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat Herr Ströbele aber auch betont! Sie haben offensichtlich nicht einmal zugehört!) sie führt zu einer Strafverschärfung. Aber es ist unwahr, wenn man sagt, das Verfahren wäre dann beendet. Nein, es wird ein Verfahren durchgeführt, (Beifall bei der CDU/CSU) und zwar von der Justiz. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von wem sonst?) – Ja, von wem sonst? Meine Damen und Herren, eines ist doch klar: Presse- und Meinungsfreiheit sind ein hohes Gut. Satire ist zulässig, ganz klar. (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Ach! – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Echt? Da haben wir ja Glück gehabt!) Aber, Herr Petzold, zu behaupten, dass man, wenn § 103 des Strafgesetzbuches bestehen bleibt, in seiner Meinungsfreiheit, in der Pressefreiheit beeinträchtigt ist, ist nicht richtig. Ich stelle immer wieder fest – insbesondere in der Bevölkerung, aber auch bei den Medien, teilweise auch bei Kollegen –, dass nicht allgemein bekannt ist, was Böhmermann in seinem angeblichen Schmähgedicht gesagt hat. Da werden nur Fetzen herausgerissen. Ich wollte es eigentlich nicht; aber ich lese Ihnen das einmal vor, damit man weiß, was hier überhaupt gesagt worden ist: (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Jetzt wird’s lustig!) Sackdoof, feige und verklemmt, ist Erdogan, der Präsident. Sein Gelöt stinkt schlimm nach Döner, selbst ein Schweinefurz riecht schöner. (Christian Flisek [SPD]: Jetzt passen Sie aber auf, dass Sie keine Anzeige bekommen! Das geht nämlich ganz schnell!) Er ist der Mann, der Mädchen schlägt und dabei Gummimasken trägt. Am liebsten mag er Ziegen ficken und Minderheiten unterdrücken, Kurden treten, Christen hauen und dabei Kinderpornos schauen. Und selbst abends heißt’s statt schlafen, Fellatio mit hundert Schafen. Ja, Erdogan ist voll und ganz ein Präsident mit kleinem Schwanz. Jeden Türken hört man flöten, die dumme Sau hat Schrumpelklöten. Von Ankara bis Istanbul weiß jeder, dieser Mann ist schwul, (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) pervers, verlaust und zoophil – Recep Fritzl Priklopil. Sein Kopf so leer wie seine Eier, der Star auf jeder Gangbang-Feier. Bis der Schwanz beim Pinkeln brennt, das ist Recep Erdogan, der türkische Präsident. (Christian Flisek [SPD]: Das hätte jetzt nicht sein müssen!) Meine Damen und Herren, darüber brauche ich nicht lange nachzudenken: Hier werden Ressentiments bedient. Hier wird eine Person in ihrer Ehre ganz klar angesprochen. Die Justiz hat zu entscheiden, ob diese Ausdrucksweise in dieser Form noch gedeckt ist von der Meinungs- und Pressefreiheit, und zwar unabhängig von § 103 des Strafgesetzbuches. (Christian Flisek [SPD]: Jetzt haben Sie das Gedicht auch aus dem Kontext gerissen!) Aber lassen Sie das einmal in Gänze auf sich wirken, ohne Ansehen der Person. (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Das war jetzt aus dem Zusammenhang gerissen, Herr Kollege! Unglaublich!) Versetzen Sie sich in Erdogan, und überlegen Sie, wie Sie dazu stehen würden. (Beifall bei der CDU/CSU) Jetzt kommen wir zur Rechtsdogmatik. Richtig ist, dass § 103 des Strafgesetzbuches eine Spezialvorschrift im Verhältnis zu den allgemeinen Beleidigungsvorschriften nach § 185 ff. vorsieht. Voraussetzung ist die Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts – der Kollege Ullrich hat das auch vorgetragen –, eines ausländischen Regierungsmitglieds, das sich in Deutschland aufhält, oder des Leiters einer diplomatischen Vertretung, also insbesondere eines Botschafters. Die Tathandlung muss in der Tat zunächst einmal den allgemeinen Beleidigungsvorschriften entsprechen, also allgemeine Beleidigung, üble Nachrede oder Verleumdung, und das legt dann den Schluss nahe: Aha, es handelt sich um ein typisches spezielles Beleidigungsdelikt. – Das Argument von den Grünen und den Linken ist: Die Würde des Menschen ist gleich, die Ehre ist gleich, und deshalb dürfe hier keine Ungleichbehandlung erfolgen. Meine Damen und Herren, die Strafverfolgung findet nur statt, wenn die Bundesrepublik Deutschland zu dem Staat, dessen Staatspräsident beleidigt worden ist, diplomatische Beziehungen unterhält. Die Gegenseitigkeit muss verbürgt sein, zum Zeitpunkt der Tatbegehung und zum Zeitpunkt der Prozessführung. Es muss ein Strafverlangen der ausländischen Regierung vorliegen. Dieses zusätzliche Strafverlangen der türkischen Regierung über die Botschaft – neben dem Strafantrag von Erdogan – ist auch erfolgt. Die Bundesregierung – das heißt in dem Fall insbesondere der Außenminister, auch wenn die Kanzlerin das erklärt hat – muss die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt haben. Es ist richtig, dass die Vorschrift auf die Historie zurückgeht: Preußisches Allgemeines Landrecht, 1794. Etliche Länder des Deutschen Bundes haben die Vorschrift übernommen. Sie wurde auch ins Reichsstrafgesetzbuch aufgenommen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde sie zunächst gestrichen. Warum? Weil Deutschland keine außenpolitischen Beziehungen unterhalten durfte, weil es keine Außenpolitik mehr machen durfte. Deshalb war der Zweck der Vorschrift, nämlich der Schutz der außenpolitischen Beziehungen, entfallen. Insoweit ist die Rechtsvorschrift erst 1953 eingeführt worden, in etwas modifizierter Form. Es ist also keine Vorschrift, die in dieser Form seit etlichen Hundert Jahren bestanden hätte. Wörtlich heißt es in der Begründung – der Kollege Ullrich hat es schon allgemein ausgeführt –: Solche Handlungen können geeignet sein, das friedliche Zusammenleben Deutschlands mit anderen Völkern zu beeinträchtigen, und sind daher im Interesse der Völkergemeinschaft unter Strafe zu stellen. … Die besondere Strafwürdigkeit der Tat ergibt sich daraus, daß sich in dem Angegriffenen die ausländische Staatshoheit verkörpert. Es handelt sich um den Schutz der zwischenstaatlichen Beziehungen und nicht um den besonderen Schutz der Ehre einer Einzelperson. So schon der Gesetzgeber in der Begründung aus dem Jahr 1953. Es ist somit erkennbar falsch, wenn man sich hier auf den Gleichheitsgrundsatz bezieht. Schutzgut sind die internationalen Beziehungen. Man muss daher wohl überlegen, wenn man an dieser Vorschrift Änderungen vornimmt, dass sie in einem System des Schutzes der internationalen Rechtsbeziehungen im Strafgesetzbuch steht. Die Kanzlerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass man hier genau hingucken muss, ehe man Änderungen vollzieht. (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Auch die Vorschriften „Verunglimpfung des Bundespräsidenten“ oder „Üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens“ verfolgen letztlich nicht den Ehrschutz. Die eine Vorschrift verfolgt den Schutz des Amtes des Bundespräsidenten. Personen, die in der Öffentlichkeit eine politische Tätigkeit ausüben, sind geschützt vor öffentlich ausgesprochener übler Nachrede oder Verleumdung, vor Tatsachenbehauptungen, die sich auf das Amt beziehen, weil sie sonst Gefahr laufen, in ihrer Amtsführung beeinträchtigt zu werden. Was ist daran falsch, jemanden, der eine Straftat begeht, nämlich sich ganz klar einer üblen Nachrede oder Verleumdung schuldig macht und damit die politische Existenz einer Person, die ein Amt ausübt, gefährdet, einer gewissen Strafverschärfung zu unterstellen? Man muss hier ganz genau hingucken. Der letzte Punkt. Mit dem Entwurf der Grünen ist es schwierig; er besteht nur aus drei Sätzen. Da ist bei den Linken schon mehr Differenzierung vorhanden. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollten es Ihnen einfach machen!) Bei dem Streichen der Strafverfolgungsermächtigung muss man unterscheiden; das ist schon gesagt worden. Einmal ist das an das Antragsdelikt anzulehnen; ich glaube, Kollege Ullrich hat das auch gesagt. Wenn zum Beispiel eine Körperschaft beleidigt wird, muss die Körperschaft der Verfolgung zustimmen. Wenn der Bundespräsident verunglimpft wird, muss er ihr zustimmen. Das ist quasi wie beim Antragsdelikt. Darüber hinaus gibt es aber auch noch andere Strafverfolgungsermächtigungen – ich komme dann auch gleich zum Ende; die Zeit ist fast abgelaufen –, und zwar im Bereich der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat. Bei der Aufnahme von Beziehungen zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Straftat und der Terrorismusfinanzierung, nämlich in den Fällen, in denen zumindest ein Teil der Tatbegehung außerhalb der Europäischen Union stattgefunden hat, soll der als außenpolitisch sinnvoll erachteten Handhabung dieser Rechtsvorschrift Rechnung getragen werden. Das ist der Grund, warum der Justizminister hier letztlich die Ermächtigung erteilen muss. Auch bei dieser Vorschrift macht es Sinn, sie in dieser oder zumindest ähnlicher Form beizubehalten. Was Sie heute vorgelegt haben, ist ein Schnellschuss. Diese Vorschriften dürfen angesichts der Systematik des Gesetzes und der Wichtigkeit des Themas nicht einzelfallbezogen, sondern müssen ohne Ansehen der Person angegangen werden. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, es wäre schön, wenn Sie Ihren Worten Taten folgen lassen. (Beifall des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) Detlef Seif (CDU/CSU): Jetzt kommt meine Tat. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Sie müssen zum Schluss kommen. Detlef Seif (CDU/CSU): Deshalb: Heute keine Änderung, erst darüber nachdenken, beraten, Sachverständigenanhörung, und dann sehen wir weiter. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat Renate Künast von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen und speziell Herr Seif! Die Indemnität schützt Sie ja; aber vielleicht können Sie uns nachher einmal verraten, was Sie eigentlich geritten hat, das Gedicht hier zum Vortrag zu bringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Niemand hat das getan. Ich muss ehrlich sagen: Ich fand das Gedicht von Böhmermann nicht besonders klug, nicht besonders intelligent; hohe Kunst war es auch nicht. Seine Redenschreiber sind schlecht. Wahrscheinlich war er nur neidisch auf extra 3 und dachte: Da setze ich was drauf. – Aber es war eingebettet in eine Gesamtkonstruktion Satire. Ich meine, wir dürfen uns durch einen Ausländer nicht vorschreiben lassen, was bei uns im Land Satire ist, wo immer er herkommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Das entscheiden wir selbst. Das legen bei uns die Gerichte aus. Deshalb wird die Frage, ob Herr Böhmermann mit seinem Vorspann und seinen Ziegenfantasien – krude; das sagt ja auch etwas über ihn aus – Satire ist oder sein kann, ein Gericht oder die Staatsanwaltschaft entscheiden. Ich glaube nicht, dass darin wirklich außenpolitischer Schaden liegt. Aber, ehrlich gesagt, war ich sehr peinlich berührt für dieses Haus, als Sie als Mitglied des Deutschen Bundestages diesen Text hier verlesen haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Zu Herrn Ullrich, der meinte, der Maßstab für Gesetze sei nicht der momentane Erregungszustand einzelner MdBs. Ich sage Ihnen einmal ehrlich: Erregt sind ja zwei, Herr Erdogan und danach Frau Merkel, die sich im Telefongespräch gleich distanzierte und, und, und. Herr Ullrich, Sie kommen hier mit der Sorgfaltseinrede. Ich sage Ihnen: Gerne beraten wir sorgfältig. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass wir vor dem 1. Januar 2018 in der Lage sein werden – so viel Kompetenz ist hier vorhanden; auch durch potenzielle Sachverständige –, sorgfältig über dieses Gesetz zu beraten und zu entscheiden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Das könnten wir innerhalb einiger Monate hinkriegen. Das ist doch fast eine Debatte aus Absurdistan. Die Bundeskanzlerin und Parteivorsitzende der CDU – nachdem sie erst einmal eine ordentliche Wende vollzogen hat in ihrer Auffassung – sagt, diese Regelung müsse man streichen, der Bundesjustizminister sagt es, alle Fraktionen im Haus sagen es, Sie haben als GroKo sogar eine 80-prozentige Mehrheit; aber es soll dann lieber nicht entschieden werden. Das riecht schon fast nach Arbeitsverweigerung. Ich sage Ihnen: Was nach Auffassung aller Fraktionen, aller Abgeordneter in diesem Hause – wir sind der Gesetzgeber, die Gesetzgeberin – 2018 falsch ist, kann auch heute nicht richtig sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Warum sollen wir das Ganze eigentlich zu den Staatsanwälten und Gerichten schieben? Sie wissen: Alle sind der Meinung, dass dieser Paragraf falsch ist und dass er abgeschafft werden soll. Insofern ist es keine normale Gesetzesberatung, bei der man ein Problem berät, von dem man nicht weiß, ob oder wie man es löst und ob man am Ende bei der alten Rechtslage bleibt. Nein, hier wissen wir schon, und zwar alle: Diesen Paragrafen soll es nicht mehr geben. Und wir nehmen diese heiße Kartoffel und werfen sie den Staatsanwälten und Gerichten zu, weil die erste Gewalt, die Gesetze machen muss, zu feige ist, sich dürfen zu trauen zum jetzigen Zeitpunkt? Was glauben Sie eigentlich, was passiert? Gehen Sie einmal zu den Kriminalgerichten in die Besenkammern, in die Hinterzimmer. Da stehen die Aktenwagen, die die Staatsanwälte da reinschieben. Anschließend werfen sie den Schlüssel weg, weil sie sich sagen: Wir sind ja nicht blöd, heute ein Verfahren mit aufwendiger Beweisaufnahme durchzuführen. – Das Gedicht, das Sie zitiert haben, würde dann auch noch von Anwälten in die Beweisaufnahme gezogen; wahrscheinlich würden noch Ziegen vor Gericht vorgeführt, meine Damen und Herren. (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Eine gruselige Vorstellung! Das werden die doch nicht durchziehen. Die werden diese Aktenwagen irgendwo verlustig gehen lassen. Ich finde, das ist dem Ganzen auch nicht würdig. Es ist nicht würdig, dass andere sagen, was bei uns Satire ist. Es ist aber auch nicht würdig, dass sich dieses Haus systematisch und kollektiv der Arbeit verweigert, was dann dazu führt, dass Staatsanwälte und Gerichte dies am Ende auch machen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt und sie mit ihren knappen Personalkapazitäten anderes zu tun haben, meine Damen und Herren. Tragisch ist, dass jetzt ein Gesamtkunstwerk, also der Vorspann und das Gedicht, entstanden ist, bei dem sich Erdogan Merkel zur Teilhaberin gemacht hat – und Herrn Seif jetzt auch noch. Ob das für Ihre Karriere förderlich ist, werden wir sehen. (Detlef Seif [CDU/CSU]: Sie gehören aber auch dazu, Frau Künast! Sie sind die Spitze des Kunstwerks!) Meine Damen und Herren, ich meine, wir müssen an dieser Stelle die Kunstfreiheit schützen. Lassen Sie uns diesmal ein wirklich zügiges Verfahren durchführen! Lassen Sie uns diese Situation nutzen, um auf etwas anderes hinzuweisen, nämlich dass in der Türkei 33 Journalisten im Gefängnis sitzen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Genau!) 7 000 Journalisten auf Weisung von Erdogan ihren Job verloren haben. Lassen Sie uns als Vorbild zeigen, was Freiheit ist und dass wir uns in dieser schizophrenen Situation nicht erpressen lassen. Dazu gehört nicht nur ein gewisses Standing, sondern auch, dass wir den Paragrafen abschaffen, den andere zu unserer Erpressung benutzen wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner spricht Christian Flisek von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Christian Flisek (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Seif, ich schließe mich den Vorbemerkungen von Frau Künast vollends an. Ich sage auch: Sie hätten sich das Zitat schlichtweg sparen können, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) insbesondere deswegen, weil Sie den Anspruch hatten, eine rechtspolitische Rede zu halten. Für eine rechtliche Beurteilung ist der Gesamtkontext entscheidend. Sie haben das Zitat aber aus dem Kontext herausgerissen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, die Entrümpelung des materiellen Strafrechts bedarf manchmal äußerer Anlässe, Anlässe, die man sich vielleicht nicht wünscht, die aber wiederum zeigen, wie sehr aus der Zeit gefallen mancher Straftatbestand unseres geltenden Rechts ist. Die Strafvorschriften der §§ 103 und 104 a StGB, über deren Abschaffung wir heute beraten, sind solche Vorschriften, die aus der Zeit gefallen sind. Aus Anlass der sogenannten Affäre Böhmermann, die eigentlich eine Affäre Erdogan ist, wurde uns dies drastisch vor Augen geführt. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE] und Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Regelungen des § 103 StGB, so wie wir sie heute kennen, gibt es schon seit den 1950er-Jahren. Aber erst in den 1960er-Jahren wurden sie massenhaft angewendet. Sie erlangten ihren heute noch gebräuchlichen Spitznamen, als der damalige Schah von Persien in jeder Kritik an seiner Person eine Beleidigung seiner selbst sah und eine Strafverfolgung dieser Majestätsbeleidigung durch den deutschen Staat verlangte. Den Schah von Persien gibt es heute nicht mehr; geblieben aber ist der Schah-Paragraf. Geblieben sind auch ausländische Staatsoberhäupter, die sich ziemlich schnell beleidigt fühlen. So konnte sich die Geschichte in der Vergangenheit auch wiederholen. Was 1964 die Redakteure des Kölner Stadt-Anzeigers waren, die sich mit einer Fotomontage über den Schah lustig machten, das war 1987 Rudi Carrell, der das iranische Staatsoberhaupt Ayatollah Chomeini verspottete, das war 2001 Jan Weiler, der das japanische Kaiserpaar auf die Schippe nahm, das sind heute die Redakteure von extra 3, das sind Jan Böhmermann und Mathias Döpfner. Wer diese Liste betrachtet, muss feststellen: Manchmal sagt die Einleitung eines Strafverfahrens mehr über den Anzeigenerstatter als über den Beschuldigten aus. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zur Analyse gehört auch, dass das Skandalisierungspotenzial im materiellen Recht dieser Vorschriften bereits angelegt ist; denn zur Staatsaffäre konnten sich einige dieser Fälle nur deswegen entwickeln, weil das Strafgesetzbuch die Bundesregierung derart einbezieht, dass sie zur Strafverfolgung wegen Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten ermächtigen muss. Was eine Privataffäre ist und eigentlich auch eine Privataffäre bleiben sollte, wird damit qua Gesetz zur Staatsaffäre gemacht. Diese Rechtslage ist unnötig und anachronistisch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie ist unnötig, weil auch bei Abschaffung der Sondervorschrift des § 103 StGB das ausländische Staatsoberhaupt – darauf ist hingewiesen worden – nicht schutzlos gestellt wird. Jede Person kann – wie jeder Bürger dieses Landes auch – nach den allgemeinen Beleidigungsparagrafen vorgehen. Die Bundesregierung ist dann außen vor. Anachronistisch ist diese Rechtslage, weil es im 21. Jahrhundert völlig unangemessen ist, ein Sonderstrafrecht für bestimmte Personengruppen festzuschreiben, die in besonderer Weise Gegenstand einer kritischen Berichterstattung oder auch einer künstlerisch-satirischen Auseinandersetzung sind. Die präventive Funktion des Strafrechts soll zur Rechtstreue anhalten; sie darf nicht zur Selbstzensur führen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Anachronismus tritt dann besonders deutlich zutage, wenn das ausländische Staatsoberhaupt selbst nicht gerade durch Liebe zum Rechtsstaat, zur Freiheitlichkeit, zur Demokratie auf sich aufmerksam gemacht hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) § 103 macht hier leider keinen Unterschied. Er schützt jedes ausländische Staatsoberhaupt, den demokratisch gewählten Präsidenten genauso wie den pseudodemokratisch gewählten Präsidenten und auch den gewaltsamen Despoten. Das kann nicht richtig sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn man eine so unnötige und aus der Zeit gefallene Vorschrift des materiellen Strafrechts entdeckt, dann muss man sofort die notwendigen Konsequenzen ziehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zu fordern, diese Vorschrift abzuschaffen, gleichzeitig aber Herrn Erdogan im konkreten Fall den roten Teppich für ein Strafverfahren gegen Herrn Böhmermann auszurollen, ist nicht nur widersprüchlich, sondern auch in höchstem Maße politisch unklug. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen wäre die Bundeskanzlerin auch gut beraten, hier auf die SPD zu hören und eine unverzügliche Streichung dieses Paragrafen zu unterstützen. Gerichte werden in Deutschland klären, inwieweit das, was Sie, Herr Kollege Seif, aus dem Kontext herausgerissen zitiert haben, strafrechtliche Relevanz hat oder nicht. Meine Fraktion wird sich aber für die sofortige Streichung der beiden genannten Paragrafen einsetzen. Wir werden hierfür in Kürze einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen. Weil die Gesetzentwürfe der Opposition nun einmal einige handwerkliche Mängel haben, können wir ihnen nicht zustimmen. Aber wir laden Sie alle, meine Damen und Herren, herzlich ein, dann den Entwurf meiner Fraktion zu unterstützen. Das wäre ein wesentlicher Schritt hin zu einer sofortigen Streichung dieser Paragrafen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht für die CDU/CSU-Fraktion Thorsten Frei. (Beifall bei der CDU/CSU) Thorsten Frei (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren – das hat die bisherige Debatte schon gezeigt – eine spannende rechtspolitische Frage, die jede Menge juristische Problemstellungen aufwirft und darüber hinaus natürlich auch außenpolitische Implikationen hat, die das Ganze umso komplexer machen. Es ist schon bemerkenswert, dass es einem Komiker und Satiriker mit einer förmlichen Guerillaaktion ein weiteres Mal gelungen ist, eine gesellschafts- und auch staatspolitische Debatte bei uns im Land anzustoßen. Es war letztes Jahr das „Varoufake“-Video, es ist jetzt das Schmähgedicht auf den türkischen Präsidenten Erdogan. Natürlich ist dieses Gedicht – das will ich an dieser Stelle sagen; das hat auch diese Debatte gezeigt – zutiefst verletzend und ehrabschneidend. Es ist im Hinblick auf Form, Inhalt, Art und Weise absolut inakzeptabel, auch in dem Zusammenhang, in dem es vorgetragen worden ist. Trotz allem ist es so – – Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu? Thorsten Frei (CDU/CSU): So früh schon? Ich habe ja noch gar nichts gesagt. (Heiterkeit bei der SPD – Christian Flisek [SPD]: Das ist die Vorahnung!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Darüber entscheide ich nicht, wie Sie wissen. – Bitte. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Kollege Frei, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – ich bin etwas verwundert darüber, dass Sie gerade „Varoufake“ und das Schmähgedicht in einem Zuge genannt haben. Ist Ihnen bekannt, dass Böhmermann für „Varoufake“ den Grimme-Preis bekommen hat? (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD] und Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) Thorsten Frei (CDU/CSU): Ich habe insbesondere darauf Bezug genommen, Frau Kollegin, dass es natürlich in gewisser Hinsicht problematisch ist, wenn man letztlich die Konfrontation und Auseinandersetzung mit ausländischen Staats- und Regierungsvertretern zum Gegenstand solcher Satirewerke macht. Unabhängig davon, ob es dafür einen Preis gab oder nicht, entzieht es sich nicht einer politischen Bewertung. Deshalb habe ich diesen Zusammenhang hergestellt. Ich halte ihn, auch wenn es unterschiedliche Sachverhalte sind, durchaus für richtig. Ich hatte es angesprochen: Man kann über Inhalt und Form unterschiedlicher Meinung sein und trotzdem zu einem klaren Ergebnis kommen. Jedenfalls ist klar, dass es Grenzen gibt, auch bei den Grundfreiheiten unserer Verfassung. Es gibt eben nicht nur die Kunstfreiheit, es gibt nicht nur die Meinungsfreiheit. Diese Freiheiten haben letztlich dort ihre Grenzen, wo andere Werte mit Verfassungsrang tangiert werden, und das ist nicht zuletzt das Persönlichkeitsrecht. Es ist nicht entscheidend, ob die Frage der Strafbarkeit links oder rechts zu verorten ist; denn das hat in Deutschland Gott sei Dank weder die Exekutive noch die Legislative, sondern das zuständige Gericht zu entscheiden. Deshalb halte ich die Entscheidung der Bundesregierung für zutreffend und richtig, erstens nach § 104 Strafgesetzbuch die entsprechende Ermächtigung zu erteilen und zweitens nicht in einem Schnellschuss – meine Kollegen haben das rechtspolitisch ausführlich dargelegt – über die Abschaffung eines alten Straftatbestandes zu entscheiden, sondern dies zum Gegenstand umfassender Überlegungen zu machen. Es ist richtig, was gesagt worden ist: Keine Strafvorschrift steht am Ende des Tages für sich alleine, sondern sie ist in einen Gesamtzusammenhang zu rücken. Insbesondere mein Kollege Ullrich hat ausführlich darauf hingewiesen, dass es durchaus Änderungsmöglichkeiten und Änderungsbedarf gibt. Aber es muss möglich sein, das in einer ausführlichen Debatte zu klären. Ich will Ihre Fragen mit einer Gegenfrage beantworten: Was ist der Grund dafür, dass man jetzt eine uralte Regelung, über deren Richtigkeit man unterschiedlicher Meinung sein kann – ich bin von der Ihrigen übrigens nicht weit entfernt –, in einem Schnellschuss beseitigen will? Warum greift man einen Sondertatbestand heraus, ohne die Beleidigungstatbestände insgesamt zu prüfen? (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Brauchen Sie zwei Jahre dafür?) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm zu? Thorsten Frei (CDU/CSU): Ich würde sagen, dass ich jetzt weiterrede. Wenn der Wunsch nach einer Zwischenfrage später immer noch vorhanden ist, dann besteht die Möglichkeit einer Kurzintervention. Ich glaube, dass diese Entscheidung der Bundesregierung richtig war. Man muss in der Tat klarstellen, dass Recht Recht ist und Außenpolitik Außenpolitik. Genau diese Unterscheidung hat die Bundesregierung getroffen, und diese Entscheidung war korrekt und richtig. Ich glaube auch, dass dies ein gutes Beispiel ist, um denen, die nicht glauben, dass Gewaltenteilung ein konstitutives Element einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist, deutlich zu machen, was die Gewaltenteilung bedeutet. Es ist richtig, an dieser Stelle über Sinn und Unsinn des § 103 des Strafgesetzbuches insgesamt, losgelöst vom Fall Böhmermann, nachzudenken. Ich gebe Ihnen in weiten Teilen recht: Das ist eine Vorschrift, die ein Stück weit aus der Zeit gefallen ist. Was 1871 oder auch schon davor in früheren Landesstrafgesetzbüchern richtig war, muss heute keineswegs mehr richtig sein. Während die Beleidigung eines Staatsoberhauptes früher mit der Beleidigung eines Staates gleichzusetzen war, was dadurch zum Ausbruch eines Krieges mit hohem Blutzoll führen konnte, ist es heute eben nicht mehr so. Auf so etwas würde sich in Deutschland kein Mensch berufen. Deshalb – auch das ist bereits gesagt worden – spricht es eher gegen denjenigen, der sich auf eine solche Regelung beruft, als gegen denjenigen, der sich mit einer entsprechenden Anklage konfrontiert sieht. Nur als Maßstab: Wenn jemand eine solche Vorschrift für sich in Anspruch nimmt, dann zeugt das davon, dass er nicht über die notwendige Souveränität verfügt und offensichtlich eine relativ schwache Stellung hat. Unsere Bundeskanzlerin hat in der Vergangenheit mehrfach gezeigt, was der Maßstab für einen Staats- oder Regierungschef ist. Im vergangenen Sommer hat sie angesichts der inakzeptablen Schmähungen aus Athen gezeigt, wie souverän man mit solchen absolut deplatzierten Anschuldigungen, Anwürfen und Schmähungen umzugehen hat. Das ist sicherlich die richtige Herangehensweise. (Beifall bei der CDU/CSU) Ein Weiteres: Ich glaube, dass das Schutzgut des § 103 Strafgesetzbuch in einer globalen Informationsgesellschaft durch solche Regelungen nur noch eingeschränkt berücksichtigt werden kann. Man muss, glaube ich, auch im Blick haben, dass in einer Zeit, in der Informationen weltweit zeitgleich zur Verfügung stehen, diese Informationen in unterschiedlichen Gesellschaften sehr unterschiedlich gehandhabt und betrachtet werden. Darüber muss man genauso nachdenken wie über die Frage, inwieweit es zu gesellschaftlichen Veränderungen mit Auswirkungen auf die Rechtsprechung in unserem Land selbst gekommen ist. Wenn man sich die wenigen Fälle anschaut, in denen nach § 103 geurteilt wurde, stellt man fest, dass die Dinge ganz unterschiedlich entschieden worden sind: In den 60er-Jahren, als es um den Schah ging, und in den 70er-Jahren, als es um die chilenische Militärdiktatur ging, wurden andere Entscheidungen getroffen als 2006, als es um Papst Benedikt ging. Deshalb, glaube ich, muss man berücksichtigen, dass gesellschaftliche Veränderungen immer auch Auswirkungen auf die Rechtsprechung haben und deshalb gleiche oder vergleichbare Fälle heute anders betrachtet werden als in früheren Jahren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, man muss an dieser Stelle auch die außenpolitischen Wirkungen berücksichtigen. Man muss sehen, dass es in diesem Fall so war, dass die Vorstellungswelten ausländischer Staats- und Regierungschefs in unsere nationale Debatte überschwappen konnten. Das wird sich am Ende sicherlich nicht in der Rechtsprechung niederschlagen – davon bin ich absolut überzeugt –; aber dass wir uns mit Debatten beschäftigen, die in andere Länder gehören, halte ich am Ende auch nicht für angemessen. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass sich hier jemand auf § 103 beruft, der andererseits in seinem Land sehr differenziert mit der Frage umgeht, was jetzt eine Beleidigung ist und was nicht, (Christian Flisek [SPD]: So kann man das formulieren!) der einerseits seit 2014 etwa 2 000 Strafverfahren aufgrund dieser Beleidigungstatbestände angestrengt hat, aber andererseits den Oppositionsführer im Parlament als politischen Perversling bezeichnet. Das sind Dinge, die letztlich nicht zusammenpassen. Deshalb ist es richtig, zu sagen – ich glaube, das ist insgesamt deutlich geworden –, dass das auf denjenigen zurückfällt, der so etwas tatsächlich anstrengt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wenn man all diese Dinge berücksichtigt, dann wird, glaube ich, eines vollkommen deutlich: Es gibt viele gute Gründe – darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen –, diesen § 103 zu ändern bzw. abzuschaffen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Christian Flisek [SPD]: Ändern oder abschaffen?) Dabei müssen aber viele Überlegungen berücksichtigt werden. In dieser Debatte ist nicht ein plausibler Grund benannt worden, warum das jetzt sofort geschehen muss (Hiltrud Lotze [SPD]: Worauf wollen Sie noch warten?) und nicht nach intensiven Überlegungen und einer ausgiebigen parlamentarischen Debatte. Vielleicht kann mir Herr Dr. Fechner das erklären. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Dehm das Wort zu einer Intervention. Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie den politischen Zusammenhang erwähnt haben, dass Sie gesagt haben, all diese Dinge gehören eingebettet in den politischen Zusammenhang. Ich erinnere nur daran, dass, bevor sich die Gegnerschaft mit der NATO zuspitzte, in unserer Boulevardpresse fast jeder, auf den sich das bezog, als „Hitler“ bezeichnet wurde. Ob Milosevic, Putin oder Saddam Hussein – sie waren immer „Hitler“. Drunter ging es ja offensichtlich nicht. Im Vergleich damit ist „Ziegen ficken“ ja nicht gerade der Superlativ an Schmähungen, Beleidigungen oder auch Rufmord, den man jemandem angedeihen lassen kann. (Zuruf von der CDU/CSU: Ansichtssache!) Ich finde das, was vorgetragen wurde, auch nicht dramatisch. Das ist ja so absurd. Eigentlich geht es dabei nur um die Freiheit für etwas völlig Absurdes. Kein Mensch auf dieser Welt, egal ob er Erdogan liebt oder hasst, wird davon ausgehen, dass er Ziegen fickt. Deswegen ist das völlig absurd. Das ist auch im Zusammenhang der Sendung als absurd gezeigt worden. Das ist eher eine dadaistische Form. Ich denke, das sollte im Zweifelsfall unter die Freiheit fallen. Was mich geärgert hat, war – das war auch ein bisschen die Tendenz von Frau Künast –, „Ziegen ficken“ auf „Minderheiten unterdrücken“ zu reimen, weil Letzteres mit Intelektuellen und Kurden auch tatsächlich geschieht. Wenn jetzt Erdogan auch noch die anklagen will, die Böhmermann unterstützt haben, also Hallervorden und viele andere, dann zeigt das auch, welche Dimension diese Staatsaffäre hat. Ich wollte Sie aber fragen, Herr Kollege, ob Sie glauben – in der Öffentlichkeit wird allgemein über diesen möglichen politischen Zusammenhang diskutiert –, dass die Ermächtigung für ein Strafverfahren durch Frau Merkel tatsächlich auch so stattgefunden hätte, hätte es diesen schmutzigen Deal mit der Türkei, was die Flüchtlinge anbetrifft, nicht gegeben. Der Eindruck bei vielen ist, dass bei einigen Fünfe gerade gelassen sein werden, aber dieser Fall des Deals wegen in dieser Art und Weise behandelt wurde. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unerträglich, der Typ!) Thorsten Frei (CDU/CSU): Herr Kollege Dehm, ich möchte Ihnen gerne in drei Punkten auf Ihre Frage antworten. Erstens. Den von Ihnen insinuierten Zusammenhang gibt es nicht. Ich bin davon überzeugt, dass die Bundesregierung auch in jedem anderen Falle so entschieden hätte; denn es entspricht der aktuellen Rechtslage. Es ist auch kein einziger außenpolitischer Grund sichtbar, warum die Bundesregierung, warum die Bundeskanzlerin in diesem Falle ihre Ermächtigung hätte versagen müssen. Zweitens. Ihre Wortmeldung spricht ein gutes Stück weit für sich selbst, für Ihre Haltung und Ihre Sichtweise. Ich möchte mir diese in keiner Weise zu eigen machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Drittens. Sie haben in Ihrer Wortmeldung eines getan, wovon ich in meiner Rede sehr deutlich gesagt habe, dass es uns als Legislative nicht zusteht. Die Entscheidung, ob das jetzt noch zulässige Meinungsfreiheit ist, ob das ein Kunstwerk ist oder eben nicht, ob es gegen die Persönlichkeitsrechte eines anderen verstößt, ist nicht Aufgabe eines Parlaments. Das entscheiden am Ende Gerichte. Dahin gehört es. Deshalb werde ich eine solche Bewertung auch nicht vornehmen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will an das anknüpfen. Die Entscheidung, wie dieser Text zu bewerten ist, wird von Gerichten getroffen werden. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, trotzdem zu berücksichtigen, dass wir im deutschen Parlament sind. Man sollte dies auch bei Zitaten nicht völlig vergessen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich denke, dieser Hinweis ist meines Erachtens wirklich notwendig. Auch wenn es mir nicht zusteht, Reden zu bewerten, bitte ich trotzdem darum, dass sich jeder dieser Verantwortung auch bewusst ist, die er hier im Deutschen Bundestag hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Johannes Fechner von der SPD hat das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Johannes Fechner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Die heute hier zur Debatte stehende Majestätsbeleidigung – sie ist in § 103 des Strafgesetzbuches geregelt – sorgte in den vergangenen Jahrzehnten für nur sehr wenige Verfahren und Verurteilungen. Wurde August Bebel noch für harmlose Kritik am Kaiser zu neun Monaten Haft verurteilt und wurden 1894 rund 300 Personen wegen Majestätsbeleidigung verurteilt, darunter viele Sozialdemokraten, so gab es in den letzten Jahren kaum noch Verurteilungen. Der Straftatbestand der Majestätsbeleidigung war ein Herrschaftsmittel, um Proteste und Kritik zu unterdrücken und kritische Bürgerinnen und Bürger einzuschüchtern. Dafür gibt es in einem modernen Rechtsstaat keine Rechtfertigung mehr. Die Zeiten, in denen Herrscher und Regenten ihre Macht durch solche Straftatbestände absichern konnten, sind vorbei. Wir müssen deshalb diesen Tatbestand der Majestätsbeleidigung sofort abschaffen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, weshalb der normale Bürger, die normale Bürgerin strafrechtlich anders behandelt werden sollte als ein ausländischer Staatschef. Das gilt umso mehr, wenn es sich bei dem Staatschef um eine Person mit zweifelhaftem Demokratieverständnis handelt, der die Pressefreiheit mit Füßen tritt und den Rechtsstaat demontiert. Auch deshalb müssen wir diese Sonderbehandlung in § 103 des Strafgesetzbuches streichen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dadurch entstehen auch keine Strafbarkeitslücken. Wir haben den Straftatbestand der Beleidigung oder der üblen Nachrede. Es gibt genügend Straftatbestände, um die Ehrverletzungen von Personen zu ahnden, und zwar unabhängig von ihrem politischen oder beruflichen Status. Deshalb: Lassen Sie uns diesen alten Zopf der Majestätsbeleidigung abschaffen! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ob das Gedicht von Jan Böhmermann nun künstlerische Satire war oder aber eine Straftat darstellt, müssen wir als Gesetzgeber nicht beurteilen; denn nach der Gewaltenteilung ist das mit guten Gründen Sache der Justiz. Ehrlich gesagt habe ich auch keine Lust, mich hier im Hohen Haus mit Ziegenfantasien oder Ähnlichem zu beschäftigen. Auch ich fand es beschämend, wie die Wortwahl teilweise ausfiel. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut, das sich bewährt hat und das wir eher noch ausbauen sollten. Deshalb macht es keinen Sinn, der Exekutive, also der Bundesregierung, die entscheidende Rolle dabei zuzumessen, ob es wegen dieses zweifelhaften Straftatbestandes zu einem Strafverfahren kommt oder eben nicht. Diese Ermächtigung des § 104 a des Strafgesetzbuches brauchen wir nicht. Wir haben eine bewährte Gewaltenteilung, sodass allein die Justiz entscheiden sollte, ob ein Strafverfahren durchgeführt wird oder nicht. Der Fall Böhmermann hat ja gerade gezeigt, dass eine Entscheidung der Bundesregierung in der Öffentlichkeit wie eine Vorverurteilung aufgefasst werden kann. Es war richtig, dass die Kanzlerin ihr erstes Statement klargestellt hat. Sonst hätte ich die Sorge, dass der Eindruck entsteht, die Bundesregierung würde vor zweifelhaften Diktatoren kuschen und das außenpolitische Wohlwollen von Diktatoren im Zweifel höher bewerten als den Schutz der eigenen Bürger vor längst überkommenen Strafvorschriften wie der Majestätsbeleidigung. Vor allem dürfen wir nicht zulassen, dass ausländische Staatschefs diese Vorschrift ausnutzen, um Künstler oder Satiriker in Deutschland einzuschüchtern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch deswegen sollten wir die Ermächtigung in § 104 a des Strafgesetzbuches streichen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will kein Geheimnis daraus machen, dass ich die Entscheidung der Kanzlerin, das Strafverfahren gegen Böhmermann zuzulassen, für falsch halte. Es gibt keinen Grund, auf Erdogan Rücksicht zu nehmen und ihm so die Möglichkeit zu geben, über den überkommenen Straftatbestand der Majestätsbeleidigung Druck auf Satiriker und Künstler hier in Deutschland auszuüben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gerade wer – wie er – im eigenen Land die Pressefreiheit mit Füßen tritt, Journalisten verhaften und verfolgen lässt, der hat keinen besonderen Schutz seiner Ehre verdient, meine sehr geehrten Damen und Herren. Ich bin Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Justizminister Heiko Maas sehr dankbar, dass sie eindeutig und klar gesagt haben, dass das Strafverfahren nach § 103 des Strafgesetzbuches nicht hätte zugelassen werden sollen. Denn – Herr Frei, das ist die Antwort – wie können wir ein Strafverfahren zulassen, wenn wir uns alle weitgehend einig sind, dass wir diese Norm nicht mehr brauchen, dass sie überholt ist und dass wir sie abschaffen sollten? (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dann müssen wir auch so konsequent sein, kein Strafverfahren zuzulassen. Auch hieran sieht man, warum wir diese Norm abschaffen sollten. Damit bin ich schon beim entscheidenden Mangel des Gesetzentwurfs der Grünen. Sie wollen offensichtlich nach wie vor die Bundesregierung und damit die Exekutive darüber entscheiden lassen, ob ein Strafverfahren durchgeführt wird. Sie wollen die Möglichkeit für die Bundesregierung in § 104 a des Strafgesetzbuches belassen. Ich meine, dass dies ein Fehler ist. Wir sollten alleine die Justiz entscheiden lassen, ob es zu einem Strafverfahren kommt, gerade in solch heiklen Fällen. Deswegen kann man Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege Fechner, es gibt noch den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Dr. Johannes Fechner (SPD): Ja, klar. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Okay, bitte. Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Danke, Herr Kollege Fechner, für das Zulassen der Zwischenfrage; danke, Frau Präsidentin. – Kollege Fechner, Sie haben gerade ausdrücklich betont, dass Sie die Entscheidung des Bundesjustizministers und die Stellungnahme des Außenministers Frank-Walter Steinmeier für richtig halten. Ich habe mich zu dieser Zwischenfrage veranlasst gefühlt, weil Sie das im Ausschuss schon einmal gesagt haben. Ich habe dann im Ausschuss den Staatssekretär und auch Sie gefragt, wie denn die materiell-rechtliche Begründung für diese Einschätzung lautet. Wir leben ja in einem Rechtsstaat. Dort gibt es gesetzliche Regelungen. Solange sie gelten, sind sie anzuwenden. Ich war damals verwundert, weil weder der Staatssekretär noch Sie eine materiell-rechtliche Begründung für diese Einschätzung haben liefern können. Deswegen möchte ich Sie fragen, ob Sie jetzt, bei dieser Gelegenheit, die Chance nutzen wollen, mir diese Begründung zu geben. Vielen Dank. Dr. Johannes Fechner (SPD): Vielen Dank für die Frage. Selbstverständlich hole ich das gerne nach. Ich bitte, das Versäumnis zu entschuldigen, wenn ich Ihre Frage überhört haben sollte. Der Punkt ist einfach der, dass es hier um eine politische Ermessensentscheidung geht: Lasse ich das Strafverfahren als Bundesregierung zu, ja oder nein? Es handelt sich hier um einen Herrn mit zweifelhaftem Demokratieverständnis. Wenn wir uns einig sind, dass es um eine Norm geht, die überholt ist, da sie aus der Kaiserzeit stammt, die kaum einen Anwendungsbereich hat und die nur der Einschüchterung dienen kann, dann sollten wir diese Norm sofort streichen. Das ist die materiell-rechtliche Erklärung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch zu den Linken möchte ich einen Satz sagen, weil ich natürlich auch euren Gesetzentwurf intensiv gelesen habe. Ich finde es widersprüchlich, dass ihr einerseits die Verunglimpfung des Bundespräsidenten straflos stellen, andererseits aber Verfassungsrichter, Regierungsmitglieder und Abgeordnete strafrechtlich weiterhin besonders schützen wollt. Ich finde, das ist ein Widerspruch. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Daher kann man eurem Gesetzentwurf wegen dieser Unstimmigkeit nicht zustimmen. Zum Zeitpunkt der Abschaffung: In der Tat ist es in der Koalition offen, wann wir die Norm abschaffen wollen bzw. wann die Abschaffung in Kraft treten soll. Aus meiner Sicht wäre es völlig widersprüchlich und falsch, dieses Gesetz noch jahrzehntelang oder jahrelang – bis 2018 oder darüber hinaus – anzuwenden. Die Norm ist überholt. Sie ist unnötig, und sie kann dazu dienen, dass Diktatoren in Deutschland Künstler und Satiriker einschüchtern. Deshalb sind wir der Meinung, dass diese Vorschrift schnell, sofort, abgeschafft werden sollte. Das Zeitalter der Majestätsbeleidigung ist vorbei, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 18/8123 und 18/8272 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis  23 c sowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. 23.   a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2015 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kosovo über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Drucksache 18/8211 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 24. September 2014 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Ruanda über den Luftverkehr Drucksache 18/8296 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Tourismus c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsgesetzes und zur Änderung des BVL-Gesetzes Drucksache 18/8335 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ZP 4   a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit Beitragsgeldern der gesetzlich Versicherten sorgsam umgehen – Mehr Transparenz und bessere Aufsicht über die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Drucksache 18/8394 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Matthias Gastel, Stephan Kühn (Dresden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pkw-Maut zurückziehen und Konflikt mit der EU-Kommission beenden Drucksache 18/8397 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall, dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 b bis 24 i auf. Es handelt sich ebenfalls um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 24 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aktualisierung der Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes Drucksache 18/7988 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) Drucksache 18/8431 Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8431, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/7988 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei keiner Gegenstimme und bei Enthaltung der Opposition angenommen worden. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition angenommen worden. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 24 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über die weitere Bereinigung von Bundesrecht Drucksache 18/7989 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/8423 Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8423, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/7989 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition angenommen worden. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition angenommen worden. Ich komme zum Tagesordnungspunkt 24 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 11. Januar 2016 zur Änderung des Abkommens vom 12. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen Drucksache 18/8208 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Drucksache 18/8400 Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8400, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/8208 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition angenommen worden. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 2453/15 Drucksache 18/8410 Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 24 f bis 24 i, bei denen es sich um Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses handelt. Tagesordnungspunkt 24 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 309 zu Petitionen Drucksache 18/8253 Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Gibt es jemanden, der dagegenstimmt? – Gibt es jemanden, der sich enthält? – Die Sammelübersicht 309 ist damit einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 310 zu Petitionen Drucksache 18/8254 Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist auch diese Sammelübersicht einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 311 zu Petitionen Drucksache 18/8255 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist diese Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen worden. Tagesordnungspunkt 24 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 312 zu Petitionen Drucksache 18/8256 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist diese Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Aktuelle Entwicklungen beim EU-Türkei-Abkommen Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze einzunehmen, damit ich gleich die Aussprache eröffnen kann. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der Aussprache hat Jan Korte von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Jan Korte (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die Bundesregierung einmal gefragt, wie sie es eigentlich mit den Werten in der Europäischen Union hält. Sie hat mir freundlicherweise geantwortet – ich zitiere –: Die EU ist eine Werteunion. Artikel 2 EU-Vertrag definiert die Werte der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, als gemeinsames, universell gültiges Fundament der Mitgliedstaaten. Damit bilden diese Werte einen Wesenskern der EU, der unabhängig von aktuellen politischen Ereignissen besteht. Ich denke, Ihnen fällt etwas auf; ich hoffe das zumindest. Zur gleichen Zeit, in der uns mit Hinweis auf diese Werte geantwortet wird, machen diese EU und diese Bundesregierung einen dreckigen Deal mit der Erdogan-Regierung, die gegen jeden einzelnen dieser Grundwerte verstößt. Das ist inakzeptabel. (Beifall bei der LINKEN) Zur Lage in der Türkei – man kann es jeden Tag lesen –: Zurzeit sind über drei Dutzend Journalisten und Blogger in Haft. Seit 2014 gibt es über 2 000 Verfahren wegen Verunglimpfung des Staatspräsidenten. Der Krieg gegen die kurdische Bevölkerung brutalisiert sich immer mehr. Mindestens 500 000 Menschen fliehen bereits vor diesem Krieg. – Daher ist Ihr Verbündeter Erdogan nicht Teil der Lösung in der Flüchtlingsdebatte, sondern Teil des Problems. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Er ist selber eine Fluchtursache. Nun ist ganz interessant, was mittlerweile in den Reihen der Union so alles diskutiert wird. Sie sind ja bis dato noch nicht als die großen Freunde der Visafreiheit oder der Beförderung der Reisefreiheit aufgefallen. Seitdem man mit Erdogan paktiert, ist das bei Ihnen eine ganz neue Debatte und zeigt – was übrigens in der gesamten Debatte ein Kennzeichen der Bundesregierung ist –, dass Sie frei von Überzeugungen sind. (Beifall bei der LINKEN) Ich will es deutlich sagen: Die Linke war, ist und wird immer gegen jede Beschränkung von Reisefreiheit sein. Deswegen ist sie ganz grundsätzlich für Visafreiheit, und zwar für jedermann. (Beifall bei der LINKEN) Was wir kritisieren, und zwar zu Recht, ist, dass man die Visafreiheit, den Wert von Reisefreiheit zu einem Teil dieses schmutzigen Deals und damit zur Verhandlungsmasse in diesem Poker macht – auf dem Rücken der Flüchtlinge. Das geht nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich will ganz aktuell Amnesty International zitieren: Männer, Frauen und Kinder wurden in Gruppen von bis zu 100 nach Syrien abgeschoben. Fast täglich ist es seit Mitte Januar zu solchen rechtswidrigen Massenabschiebungen gekommen. Das ist Ihnen offensichtlich völlig schnurzpiepegal. Der Linken ist das nicht egal. Dieser Deal kann so nicht bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Welche wirklich irren Züge das Ganze annimmt, ist der Fakt, dass mittlerweile der türkische Staatspräsident so viel Einfluss und so ein großes Erpressungspotenzial gegenüber der Bundesregierung hat, dass davon mittlerweile in Teilen sogar die Innenpolitik bestimmt wird. Wir haben vorhin einen Tagesordnungspunkt zum Fall Böhmermann gehabt. Dazu ist vonseiten der Opposition alles Richtige gesagt worden. Aber wie weit wir gekommen sind, kann man zum Beispiel daran erkennen, dass sich ausgerechnet der Springer-Chef Döpfner mit dem Satiriker Böhmermann solidarisieren muss, was eigentlich Aufgabe der Bundesregierung gewesen wäre. So weit sind wir schon gekommen. Es ist grotesk, was in diesem Land innenpolitisch abgeht. (Beifall bei der LINKEN) Statt sich mit Herrn Böhmermann zu solidarisieren, was die Aufgabe der Bundeskanzlerin wäre, betätigt sie sich – damit ist sie vorher noch nicht aufgefallen – als Satiresachverständige im Sinne des türkischen Staatspräsidenten. Das ist so unwürdig und daneben, dass es nicht zu akzeptieren ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich will kurz daran erinnern, mit wem Sie eigentlich dealen. Ein enger Berater von Erdogan – das haben Sie sicherlich gelesen – erklärte gestern, was passiert, wenn das EU-Parlament nicht das macht, was die Türkei will. Er hat sich wie folgt zitieren lassen – ich lese es Ihnen vor –: Wenn es die falsche Entscheidung trifft, – also das Europäische Parlament –, schicken wir die Flüchtlinge los. Was sind das bitte für Partner, mit denen Sie hier Geschäfte machen! Das kann nicht sein. Das Europäische Parlament entscheidet selber, wann es was berät. Das sollte vonseiten der Bundesregierung unterstützt und verteidigt werden – ohne Wenn und Aber. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt werden Sie natürlich sagen: Alles richtig, was Korte und die Linke sagt, (Lachen bei der CDU/CSU – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Eben nicht!) aber was sollen wir tun? Natürlich brauchen wir zum einen eine europäische Lösung. Zum anderen bräuchten wir aufseiten der Bundesregierung ein paar Überzeugungen und eine klare Haltung im Sinne der Menschenrechte und Demokratie sowie Engagement für die in Haft sitzenden Journalisten. Das ist das Mindeste, was man verlangen kann, wenn man sich auf die Werte der Europäischen Union bezieht. Die Meinungsfreiheit, die bitter erkämpft wurde, was im Übrigen insbesondere das Lächerlichmachen der Herrschenden einschließt, ist zu verteidigen und nicht im Geschacher um irgendwelche Deals zu verhandeln, um das klar zu sagen. Deswegen abschließend: Beenden Sie diesen unwürdigen Deal! Schließen Sie besser einen Deal mit der in Bedrängnis und von Verfolgung bedrohten Zivilgesellschaft in der Türkei. Machen Sie einen Deal für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie, wie es in Artikel 2 des EU-Vertrages beschrieben ist! Dafür hätten Sie unsere Unterstützung. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Stephan Mayer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zunächst einmal, Herr Kollege Korte, muss ich Ihre Erwartung leider enttäuschen. Ich kann Ihnen leider nicht zugestehen, dass wir sagen: Es ist alles richtig, was der Herr Korte und die anderen von der Linksfraktion gesagt haben. (Jan Korte [DIE LINKE]: Wäre aber besser!) Leider ist das Gegenteil der Fall. (Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich vor allem mit aller Deutlichkeit gegen Ihren Vorwurf verwahren, dass das Abkommen zwischen der EU und der Türkei ein schmutziger und dreckiger Deal wäre. Das trifft so nicht zu. Es ist bemerkenswert – mir würden noch andere Begriffe einfallen –, wenn ein Vertreter der Nachfolgepartei der SED sich jetzt als großer Vorkämpfer der Reisefreiheit geriert. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist sehr originell!) Aber zum Thema, meine sehr verehrten Damen und Herren: Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei vom 18. März ist aus meiner Sicht deutlich besser, als es in der Öffentlichkeit dargestellt wird. Es ist deutlich besser als sein Ruf. Ich möchte es nicht überhöhen, aber aus meiner Sicht ist dieses Abkommen ein wichtiger Baustein in dem gesamten Instrumentenkasten zur Bekämpfung und Bewältigung, der jetzt in der Flüchtlingskrise zur Anwendung kommt. Die Übertrittszahlen sind in den letzten Wochen deutlich zurückgegangen. Während Mitte Februar noch 19 000 Flüchtlinge die griechischen Inseln erreicht haben, sind es heute nur noch wenige Hundert. Ich gestehe durchaus zu, dass Präsident Erdogan kein einfacher Verhandlungspartner ist. Er ist auch kein einfacher Zeitgenosse, und es gibt viele Vorkommnisse in der Türkei, die in höchstem Maße kritikwürdig sind. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Mörder!) Die Bundesregierung hält hier mit ihrer Kritik nicht zurück – um das klar zu sagen. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) Wenn es um Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit oder den Umgang mit Minderheiten – insbesondere mit der kurdischen Minderheit – geht, dann muss natürlich in aller Deutlichkeit gesagt werden, dass die türkische Regierung in fundamentaler Weise elementare Menschenrechte verletzt. (Beifall bei der LINKEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sagt das Frau Merkel nicht?) Aber – auch das gehört zur Wahrheit – für mich ist das noch kein Grund, nicht mit der Türkei zu verhandeln. Wir müssen uns auch mit der Türkei und mit anderen Ländern, die nicht westlichen Demokratien entsprechen, wie wir sie in Deutschland oder in Europa haben, auseinandersetzen und möglicherweise in dem einen oder anderen Fall Vereinbarungen treffen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, aber welche? Das ist die Frage! Welche?) Deshalb bin ich der Überzeugung, dass dieses Abkommen durchaus tragfähig ist und dass beide Seiten ein Interesse daran haben, dass dieses Abkommen erfolgreich umgesetzt wird. Es müsste jedem schon im Vorfeld des Abschlusses klar sein, dass auch die europäische Seite Zugeständnisse machen muss. Es ist bei jedem Abkommen so, dass man sich letztlich auf einen Kompromiss einigt und dass auch wir als Europäer gewisse Zugeständnisse machen müssen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht die Grundwerte aufgeben!) Ich bin aber der festen Überzeugung, dass es auch insbesondere im Interesse der Türkei ist, dass dieses Abkommen erfolgreich umgesetzt wird. Die Türkei hat in den letzten Jahren außenpolitisch viel Porzellan zerschlagen. Das Verhältnis zu Israel ist auf dem Gefrierpunkt. Das Verhältnis zu Russland ist auf dem Nullpunkt angelangt. Das Verhältnis zu den USA ist deutlich angespannt. Ich bin der festen Überzeugung, dass insbesondere Präsident Erdogan ein elementares Interesse daran haben muss, dass die Verbindungen zur Europäischen Union weiterhin einigermaßen akzeptabel und vertretbar sind. Deshalb habe ich die nachdrückliche Hoffnung, dass dieses Abkommen von beiden Seiten konstruktiv weiterverfolgt wird. Ich sage aber auch in aller Deutlichkeit dazu: Natürlich darf es keinen Rabatt geben. Es darf keine politischen Zugeständnisse geben, wenn es darum geht, dass die Türkei ihre Verpflichtungen erfüllt, um eines der Ziele, nämlich die Visafreiheit, zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich sage das auch deshalb ganz deutlich, weil die Europäische Union sich nicht nur mit der Türkei in Verhandlungen zur Ausreichung der Visafreiheit befindet, sondern beispielsweise auch mit der Ukraine und mit Georgien. Welche Signale würden denn jetzt gesetzt, wenn wir der Türkei Rabatt gewähren und sie aus der Verpflichtung entlassen, lückenlos alle 72 Voraussetzungen zu erfüllen, und andere Länder wie die Ukraine oder Georgien hier schon wesentlich weiter sind als die Türkei? Ich bin deshalb der festen Überzeugung, dass es wichtig ist, die nächsten Wochen und Monate intensiv dazu zu nutzen, der Türkei klarzumachen, dass sie die Restanten, die offenkundig noch im Raum stehen, angehen und die vorhandenen Defizite beseitigen muss. Ich möchte nicht verhehlen, dass ich der Überzeugung bin, das wird der Türkei nicht leichtfallen, zumindest wenn der Zeitrahmen bis Mitte des Jahres eingehalten werden soll, wobei ich sehr interessiert zur Kenntnis genommen habe, dass selbst Präsident Erdogan gestern schon avisiert hat, dass er sich die Visafreiheit auch erst im Oktober vorstellen kann. Ich glaube, es gibt hierzu gute und konstruktive Gespräche zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Ich bin der festen Überzeugung, dass es wichtig ist, auch andere Maßnahmen weiterhin intensiv voranzutreiben, beispielsweise die Forderung des Bundesinnenministers auf Einführung eines Einreise-Ausreise-Systems an der EU-Außengrenze. Wir müssen lückenlos wissen, wer nach Europa einreist. Auch das ist ein wichtiger Bestandteil. Ich möchte zum Schluss eines deutlich machen, weil immer wieder auf die Menschenrechte hingewiesen wird: Deutschland hat bislang schon 54 syrische Flüchtlinge aus der Türkei im Rahmen des Resettlement-Programms übernommen. Wir werden in der kommenden Woche weitere 110 syrische Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen. Ich würde mich freuen, wenn man sich nicht nur auf die Türkei einschießen würde, wenn es darum geht, Kritik zu üben, sondern durchaus öfter auch an die Solidarität der EU appellieren und vor allem immer wieder brandmarken würde, dass sich viele EU-Länder, was die Durchführung dieses Abkommens angeht, leider nach wie vor vornehm in die Büsche schlagen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächste erhält nun die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Über den EU-Türkei-Vertrag, besser bekannt als Deal, wird im Moment eigentlich nur unter einem Aspekt diskutiert: der möglichen Visafreiheit für türkische Bürgerinnen und Bürger in der EU. Ich glaube aber, dass man viel grundsätzlicher fragen muss, ob dieser Deal wirklich vernünftig, ob er wirklich verantwortlich und ob er wirklich glaubwürdig ist. Zuerst zur Visafreiheit. Sie ist längst überfällig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Seit der Einführung der Visapflicht 1980 kämpfen viele für das Fallen dieser Barriere – und zwar immer wieder mit Erfolg – vor europäischen Gerichten. Dafür gibt es sehr gute Gründe. Erstens. Ganz selbstverständlich reisen wir Deutsche seit Jahrzehnten in die Türkei, genießen dort unseren Urlaub, machen Geschäfte und treffen Freunde und Angehörige. Den Menschen aus der Türkei verwehren wir im Gegenzug aber dieses Recht seit 36 Jahren. Das ist kein fairer und partnerschaftlicher Umgang auf Augenhöhe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zweitens. Unter der Visapflicht leiden zuallererst die Menschen, die selbst oder deren Vorfahren längst vom Gastarbeiter zum Bürger unseres Landes geworden sind, Menschen, die auch der Grund dafür sind, dass Deutschland und die Türkei ein ganz besonderes Verhältnis verbindet. Ihren Verwandten weiterhin die Visafreiheit zu verwehren, bedeutet nichts anderes, als sie in Geiselhaft für eine entfesselte Politik Erdogans zu nehmen. Drittens. Mit der Reisefreiheit würden wir zudem diejenigen in der Türkei unterstützen, die ihr Land nicht dem Autoritarismus eines Erdogan überlassen wollen, sondern für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie für eine europäische Türkei kämpfen und damit Brückenbauer in unserem Verhältnis zur Türkei sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wie Sie sehen, haben all diese Argumente gar nichts mit der Flüchtlingsfrage zu tun. Die Visaliberalisierung als eine Belohnung für Erdogan dafür feilzubieten, dass er uns die Flüchtlinge fernhält, ist eine unzulässige Vermischung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Aber auch die Verweigerung der Visafreiheit mit Verweis auf das türkische Antiterrorgesetz, das in Wirklichkeit ein Antifreiheitsgesetz ist, ist höchst unglaubwürdig. Denn steckt hinter der Ablehnung der Visafreiheit nicht vielleicht ein Ressentiment, das den gleichberechtigten Umgang mit den Menschen in und aus der Türkei verweigert, weil es in ihnen immer nur die Fremden, die Nichteuropäer und die Muslime sieht? Natürlich darf es keinen Rabatt gegenüber Erdogan bei den Menschenrechten geben. Das braucht man uns wirklich nicht zu sagen. Aber wo ist denn die Kritik, wenn es um den Krieg gegen die Zivilbevölkerung in den Kurdengebieten geht, wenn es um die Abschaffung der Presse- und Meinungsfreiheit geht, wenn es um die Missachtung der Minderheitenrechte geht, zum Beispiel der Rechte der Christen in der Türkei? Wo hatten Sie denn Ihre Menschenrechtsrhetorik geparkt, als es um die Zustimmung zu diesem EU-Türkei-Deal ging? War es nicht das eigentliche Ziel, aus innenpolitischem Abschottungsinteresse die Türkei zum sicheren Drittstaat umzudefinieren? Lassen Sie uns einmal über diesen Deal reden. Ich möchte fragen, ob mit der türkischen Regierung auch darüber verhandelt worden ist, wie im Umgang mit Flüchtlingen internationales Recht, also die Genfer Flüchtlingskonvention, eingehalten wird. Das wird sie in der Türkei nämlich nicht. Oder haben Sie mit der türkischen Regierung darüber gesprochen, dass Erdogan Flüchtlinge nach Syrien und in den Irak abschieben lässt, dass er auf syrische Flüchtlinge, auch auf Kinder, schießen lässt? Haben Sie darüber verhandelt, dass an der Grenze zu Syrien die Menschen mit einer Mauer an der Flucht aus der Hölle Aleppos gehindert werden, was doch mit Flüchtlingsschutz und Schutzverantwortung überhaupt nichts mehr zu tun hat? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was bedeutet es, wenn wir gestern im Auswärtigen Ausschuss von der Bundesregierung zu hören bekommen, dass über die Abschiebungen nach Syrien und über die Schüsse auf Flüchtlinge keine Kenntnisse vorlägen? Bedeutet das etwa, dass Sie Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch nicht mehr zur Kenntnis nehmen, oder bedeutet es vielleicht, dass Sie diese Kenntnisse gar nicht so sehr interessieren, weil der Zweck bei diesem Deal die Mittel heiligt? Wenn das so ist, dann frage ich Sie als Letztes: Wer verdealt hier eigentlich gerade die Menschenrechte und die völkerrechtlichen Verpflichtungen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächstes erhält der Kollege Uli Grötsch, SPD-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der SPD) Uli Grötsch (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Verhalten des türkischen Staatspräsidenten Erdogan irritiert und entsetzt uns alle doch sicherlich gleichermaßen. Mit einer aus der Türkei lange nicht gekannten autokratischen Art reagiert der türkische Staatspräsident auf – wenn auch möglicherweise überzogen heftige – Satire geradezu majestätsbeleidigt. Verlässlichkeit und der grundsätzliche Wille zum Miteinander sind gerade in diesen Wochen und Monaten aber unbedingte Voraussetzung, um gemeinsam gesteckte Ziele erreichen zu können. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat das, wie ich finde, trefflich formuliert, als er sagte, dass sich das Europäische Parlament nicht mit einem Abkommen befassen kann, dem schlichtweg die Basis fehlt. Wenn der türkische Staatspräsident jetzt lauthals kundtut, dass die Türkei ihre sogenannten Antiterrorgesetze nicht wie vereinbart ändern wird, dann fehlt dem Abkommen eben schlicht die Basis. Dann sehe ich den eben erwähnten Willen zum Miteinander, den Willen zur Einigung ganz und gar nicht. Der Staatspräsident aber ist nicht die ganze Türkei. Die Türkei, das sind mehr als 75 Millionen Menschen, und dazu zähle ich auch die mehr als 3 Millionen Menschen in Deutschland mit türkischem Migrationshintergrund, die inzwischen ein Teil unseres Landes geworden sind. Um all diese Menschen, auch mit Blick auf Europa, geht es doch letztendlich bei diesem Abkommen. Die Visafreiheit der türkischen Staatsbürger ist deshalb aus meiner Sicht nicht ein Zugeständnis an die türkische Regierung, sie ist vielmehr ein Signal an die Türkei als Ganzes, ein Signal dafür, dass das freie Reisen in beide Richtungen möglich sein soll und dass man sich auf Augenhöhe begegnet. Ich finde, dass wir uns in der Türkei-Politik auch ehrlich machen müssen. Deutschland und die Türkei verbindet doch seit vielen Jahrzehnten viel mehr als nur die Visafreiheit oder das EU-Türkei-Abkommen. Unsere beiden Länder verbinden eine Freundschaft und eine Partnerschaft, die bis auf Ernst Reuter und andere zurückgeht. Ja, die Türkei ist auch ein wichtiger Handelspartner für Deutschland und die EU. Aber auch auf den wirtschaftlichen Aspekt beschränkt sich das starke Band zwischen unseren Ländern ganz bestimmt nicht. Auch der Kampf gegen den Terror von Daesh ist ein Aspekt der Zusammenarbeit unserer Länder, aber auch darauf beschränkt sich das Band ganz bestimmt nicht. Ich sage: Das Band zwischen der Türkei und Deutschland ist so fest und stark, dass es keine Regierung gibt, die das zerschneiden kann, egal wie scharf die Klingen deren politischer Schere auch sein mögen. Keine Schere ist so groß, dass sie das deutsch-türkische Band durchtrennen könnte. Selbstverständlich muss die Türkei – das wurde schon ausreichend gesagt – alle im EU-Türkei-Abkommen vereinbarten Kriterien erfüllen, also auch die Änderung der umstrittenen sogenannten Antiterrorgesetzgebung. Ich begrüße deshalb die klare Haltung des EU-Parlamentspräsidenten, Martin Schulz, sehr und sehe es auch als ein sehr starkes Signal des Europäischen Parlaments, dass es sich hinter seinen Präsidenten stellt. (Beifall bei der SPD) Dieses Verantwortungsgefühl wünsche ich mir im Übrigen auch hier im Hohen Haus, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie wissen: Wenn man ein Haar in der Suppe sucht, dann findet man auch eines. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) Aber hier geht es vor allem um die Suppe, also schon um das große Ganze und nicht um das einzelne Haar. Es stimmt schon: Auch das EU-Türkei-Abkommen ist bestimmt keine besonders schmackhafte Suppe – um bei diesem Bild zu bleiben –; aber ich glaube, dass es eine Suppe ist, die jetzt einfach notwendigerweise ausgelöffelt werden muss. Ich komme zum Schluss. Ich bin überzeugt: Die Visafreiheit ist das richtige Signal an die Türkei, dass wir unsere Versprechen halten und dass sich die Menschen in der Türkei nicht von der EU abwenden, sondern dass sie die Annäherung der Türkei an die Europäische Union wieder betreiben. Das baut das in vielen Jahren verlorengegangene Vertrauen wieder auf, damit – auch das sage ich ganz deutlich – nächste Schritte folgen können. Ich lade Sie alle dazu ein, diesen ersten Schritt auch als Chance für die krisengebeutelte Europäische Union zu begreifen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächstes hat für die Fraktion der CDU/CSU Nina Warken das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Nina Warken (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich vorab eines feststellen: Die Bundesregierung und auch die EU sind nicht erpressbar und werden auch nicht erpressbar sein. Das wird ihnen häufig vorgeworfen. Wir haben ein klares und eindeutiges Abkommen mit der Türkei. Es gilt für uns die Regel: Pacta sunt servanda. Gleiches erwarten wir auch von unseren Vertragspartnern, unabhängig von den handelnden Personen. Das EU-Türkei-Abkommen beinhaltet auch die vieldiskutierte Frage nach der Visaliberalisierung. Unsere Haltung hier ist eindeutig: Nur wenn die Türkei alle Punkte der EU-Visa-Verordnung erfüllt, wird es zu dieser Liberalisierung kommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Entscheidend für den Zeitpunkt des Inkrafttretens ist dabei einzig, wann die Bedingungen vollständig erfüllt sind. Hier darf es schon aus sicherheitspolitischen Gesichtspunkten keine Kompromisse geben. Darin sind sich meine Fraktion und auch der Bundesinnenminister mit der EU-Kommission und auch dem Europäischen Parlament einig. Vergangene Woche hat die Kommission festgestellt, dass die Türkei 65 der 72 Bedingungen für die EU-Visafreiheit erfüllt hat. Es besteht also noch Nachholbedarf. Meine Damen und Herren, ungeachtet der diesbezüglichen Meinungsverschiedenheiten gilt es doch, festzustellen: Die Türkei ist der Nachbar der EU. Sie ist seit 1952 Mitglied der NATO und seit dem Beitritt der Bundesrepublik 1955 unser Verbündeter. Sie ist unser strategischer Partner, und bisher hat sie sich auch an die Abmachungen des aktuellen EU-Türkei-Abkommens gehalten. Über das gefährliche Mittelmeer kommen heute fast keine Flüchtlinge mehr illegal aus der Türkei nach Europa. Insbesondere an der Küste gehen die türkischen Behörden hart gegen die kriminellen Schlepper und Menschenhändler vor. Zudem verlaufen die Rückführungen in die Türkei weitgehend reibungslos. Auch die Situation der Flüchtlinge in der Türkei hat sich durch das Abkommen und die damit einhergehenden Maßnahmen deutlich verbessert. Zu nennen sind zum Beispiel die Gewährung des Arbeitsmarktzugangs für Flüchtlinge oder der Ausbau der Infrastruktur in den Lagern. All das sind gute Meldungen. Gleichzeitig stellt die EU bis 2018  6 Milliarden Euro Hilfsmittel für die Türkei bereit, die nur für die Flüchtlingshilfe verwendet werden dürfen. Auch in Griechenland hat das Abkommen ausschließlich positive Auswirkungen. Wir unterstützen die Griechen nun personell mit Entscheidern aus dem BAMF. Die griechische Regierung wurde durch das Abkommen dazu veranlasst, endlich die Politik des Durchwinkens der Flüchtlinge zu beenden und im Land die notwendigen Strukturen zu schaffen, um konstruktiv an einer Lösung mitarbeiten zu können. (Beifall des Abg. Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]) Vor Ort – davon konnte ich mich kürzlich selbst überzeugen – schreitet der Aufbau der Hotspots gut voran. Natürlich gibt es noch viel zu tun, und wir werden die Entwicklung weiter im Auge behalten. Nunmehr wird jedoch jeder Flüchtling registriert, und jedem Flüchtling wird hier ein faires und individuelles Verfahren zuteil. Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Fazit ist festzustellen: Europa hat durch das EU-Türkei-Abkommen die Flüchtlingsfrage in geregelte Bahnen lenken können. Nicht zu leugnen ist allerdings auch, dass die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei durchaus Anlass zur Sorge geben. Vieles läuft hier nicht so, wie wir Europäer es uns wünschen. Ich warne jedoch davor, jede innenpolitische Rhetorik mit außenpolitischem Handeln gleichzusetzen. In der Türkei tobte ein innenpolitischer Machtkampf, in dem sich Erdogan nun durchgesetzt hat. Der türkische Präsident muss auch ein großes Interesse am EU-Türkei-Abkommen haben. Seinen Landsleuten versprach er zuletzt immer wieder, auf die Visafreiheit hinzuarbeiten. Meine Damen und Herren, so bedauerlich es ist: Wir können uns die Länder dieser Welt und deren Staatsoberhäupter nicht backen, wie wir sie gerade brauchen. Wir müssen uns an den tatsächlichen Gegebenheiten orientieren. Fakt ist: Zwei Drittel der Welt teilen nicht unsere Auffassung von Rechtsstaatlichkeit. Das gilt sicherlich für Herrn Erdogan, seinen Umgang mit der Opposition, mit Medien, mit Frauenrechten, für seine Kurdenpolitik. All das ist in aller Deutlichkeit zu kritisieren, und das tun wir nicht zuletzt mit den an die Türkei gestellten Forderungen. Das Gleiche gilt aber nicht minder für China oder für Herrn Putin, der sich erst unlängst einen halben Staat handstreichartig einverleibt hat, jedoch nach wie vor von weiten Teilen unserer Linken hofiert wird. (Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: Langweilig!) Dennoch müssen wir als für unser Land in Verantwortung Stehende auch mit denjenigen Staatsoberhäuptern reden, diskutieren und verhandeln, die nicht unsere Werte teilen. Tun wir dies nicht, sitzen wir bald mit hehren Prinzipien, aber sonst allein an den Verhandlungstischen der Welt. Politik ist und bleibt die Kunst des Machbaren. Das EU-Türkei-Abkommen zeigt, dass Europa mit seinen Partnern handlungsfähig ist und große Herausforderungen bewältigen kann. Lassen Sie uns Bedenken seriös prüfen und Fehler und Mängel offen ansprechen. Es bleibt aber unser Interesse, weiter an der Umsetzung des Abkommens zu arbeiten. Darauf sollten wir uns konzentrieren. Hier bitte ich auch die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin, sich mit aller Kraft einzusetzen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer es heute in Deutschland wagt, den türkischen Staatspräsidenten zu kritisieren, wird von seinen Fans auch hierzulande bedroht, mit antisemitischen Beschimpfungen eingedeckt, als alevitischer Ungläubiger verunglimpft oder auch im Jargon der Völkermörder von 1915 als Freund armenischer oder kurdischer Terroristen beschimpft. Ich finde diese Welle des Hasses durch türkische Faschisten und Islamisten in Deutschland, die den Despoten Erdogan unterstützen, unerträglich. (Beifall bei der LINKEN) Es ist beschämend, dass die Bundesregierung hierzu schweigt und nicht Tacheles redet. Wer wissen möchte, wie sehr sich die Bundesregierung durch den schäbigen EU-Türkei-Deal erpressbar gemacht hat, der muss nicht nur an Herrn Jan Böhmermann denken, wo die Bundeskanzlerin das sehr deutlich veranschaulicht hat, der kann auch dem engen Erdogan-Vertrauten Burhan Kuzu zuhören, der via Twitter in der Frage der Visaliberalisierung der EU wie folgt drohte: Sollten sie eine falsche Entscheidung treffen, schicken wir die Flüchtlinge los. Ich sage Ihnen: Als Demokrat verhandelt man nicht mit solchen Leuten, sondern man kämpft gegen solche Leute an, (Beifall bei der LINKEN) und man schweigt schon gar nicht zu deren Verbrechen. Die Visafrage und auch die Flüchtlingsfrage dürfen schon gar keine Angelegenheiten sein, für die im Gegenzug ein Schweigen gegenüber den massiven Verletzungen der Pressefreiheit und den Massakern an Kurden in der Türkei ausgehandelt wird. Das wäre äußerst prinzipienlos und auch unmoralisch, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) Genau das passiert aber durch die deutsche Bundesregierung. Die Visafrage ist Teil dieses schmutzigen EU-Türkei-Deals, den wir zutiefst ablehnen. (Beifall bei der LINKEN) Wir wollen keine Visaliberalisierung, für die der Preis das Schweigen zu den Verbrechen Erdogans an der Zivilbevölkerung in der Türkei ist. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal etwas zu Putin!) Ich sage das gerade im Hinblick auf die Massaker Erdogans an der Zivilbevölkerung. Wir müssen hier im Bundestag das Schweigen über die Verbrechen an den Kurden brechen. Infolge des Kriegs von Erdogan gegen die Kurden sind bereits Hunderte Zivilisten von türkischen Sicherheitskräften ermordet worden. Ganze Stadtteile liegen in Schutt und Asche. Berichten von Hilfsorganisationen zufolge gibt es mittlerweile über 500 000 Binnenvertriebene in der Türkei. Die Vereinten Nationen wollen jetzt den Fall von über 100 bei lebendigem Leib verbrannten Kurden in Cizre untersuchen. Türkische Soldaten schießen an der syrischen Grenze auf Frauen und Kinder, die Flüchtlinge und auf der Suche nach Schutz sind. Was macht die Bundesregierung? Ich frage Sie: Warum schweigt die Bundesregierung hier dazu? Ist dies Teil Ihrer Abmachung, Frau Bundeskanzlerin Merkel? Das frage ich diese Bundesregierung. (Beifall bei der LINKEN) Ich habe es gestern mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Innenausschuss selbst erfahren – der Parlamentarische Staatssekretär Schröder beim Bundesinnenministerium hat es gesagt –: Wir haben bis April dieses Jahres exorbitant gestiegene Zahlen von Asylantragstellerinnen und Asylantragstellern aus der Türkei. 90 Prozent davon sind Kurdinnen und Kurden. Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Wenn die Bundesregierung ihre perfide Politik der Unterstützung der AKP-Regierung nicht ändert, werden Hunderttausende Kurden gezwungen sein, hier in Deutschland Schutz zu suchen. Was macht die Bundesregierung? Sie schicken Erdogan weiter Waffen. Den Sicherheitskräften werden zum Beispiel Scharfschützengewehre zur Verfügung gestellt, die Sie sozusagen mitliefern. Die Kurden in der Türkei werden von den türkischen Sicherheitskräften mit diesen deutschen Scharfschützengewehren ermordet. (Zuruf von der LINKEN: Sauerei!) Das, was Sie mit Ihren Waffenlieferungen machen, meine Damen und Herren, ist Beihilfe zum Mord an den Kurden. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Andreas Nick [CDU/CSU]: Hoi!) – Ja, Sie hören richtig, und da müssen Sie hier auch gar nicht so verzweifelt dazwischenrufen. Sie müssen endlich aufhören mit Ihrer Politik des Exports von Waffen an eine Regierung, die Krieg gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung im Südosten des Landes führt. (Beifall bei der LINKEN) Ihr Partner steuert auf ein Präsidialsystem in der Türkei zu. Dazu wird jetzt in faschistischer Manier die Oppositionspartei HDP durch die Gefolgsleute Erdogans zerstört. Abgeordnete werden verhaftet. Die gesamte Fraktion wird kriminalisiert und soll ihrer Mandate beraubt werden. Ein letzter Satz. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Aber wirklich der letzte. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind hier im Reichstag. Wer möchte, kann sich das Gedenkbuch der vom NS-Regime verfolgten kommunistischen, sozialdemokratischen und auch konservativen Abgeordneten anschauen. Ich finde, in diesem Reichstag mit dieser Tradition wäre es mehr als geboten, sich an die Seite der verfolgten HDP-Abgeordneten in der Türkei zu stellen und sich mit ihnen zu solidarisieren. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Das mit NS in Verbindung zu bringen, ist schon – –! – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Es wird immer schlimmer!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben zum Schluss an die Leistungen der Abgeordneten hier im Reichstag erinnert. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass in diesem deutschen Parlament weder eine Frau noch ein Mann sitzt, der oder die Beihilfe zum Mord leistet. Ich bitte Sie, das in Ihren Reden auch nicht zu verwenden. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege Dr. Lars Castellucci. (Beifall bei der SPD – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Was glauben Sie denn, was mit den Waffen in der Türkei passiert? Die Bundesregierung hat selbst geantwortet, dass diese Scharfschützengewehre geliefert werden! – Gegenruf des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Jetzt seien Sie doch mal ruhig da hinten! Es war schlimm genug, was Sie da erzählt haben! – Gegenruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie wollen die Wahrheit nicht anerkennen!) Dr. Lars Castellucci (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Korte und insbesondere Frau Dağdelen, zu dem, was Sie hier am Schluss gesagt haben: Sie müssen aufpassen, dass Sie mit Ihrer Kritik nicht überziehen. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie das den Kurden!) Aus all dem, was Sie an Anklagen hier erheben, wird noch kein Konzept. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das ist aber das Entscheidende. Man merkt Ihnen mit jeder Faser an, Ihnen beiden, dass Sie noch nie in der Verantwortung waren. Sie sagen, wir sollten einen Pakt mit der Bevölkerung in der Türkei schließen. Jetzt frage ich Sie: Wie soll das gehen? Sie rufen uns dazu auf, gegen Erdogan zu kämpfen. Das sind doch hohle Phrasen, Frau Dağdelen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Mit solchen Beiträgen kommen wir hier sicher nicht weiter. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ihr Konzept heißt Abschottung!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, was ist das Erste, was wir zu leisten haben? Das Erste, was wir zu leisten haben, ist Sicherheit. Der Herr Erdogan ist sicherlich auch nicht mein Freund – ich weiß nicht, ob er jetzt mich als Nächsten verklagt –, aber ich sage Ihnen: Ich bin froh, dass wir mit ihm im Gespräch sind und mit ihm am Verhandlungstisch sitzen, weil wir so wenigstens an diesem Punkt Einfluss nehmen können und mitbekommen, was dort passiert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Einfluss zu nehmen, ist doch besser, als beiseitezustehen und recht haben zu wollen. (Zurufe von der LINKEN) Wir müssen Sicherheit organisieren. Wir haben eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. (Zuruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]) In der ist festgelegt, dass jeder Mensch das Recht hat, sein Land zu verlassen. Leider fehlt das Gegenstück. Es hat nicht jeder Mensch auch das Recht, von einem anderen Land aufgenommen zu werden. (Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Deswegen haben wir dieses ganze Chaos, und deswegen gibt es Schleuser, die Geld damit verdienen und die Gewinne wieder in die Konflikte reinstecken, die das ganze Leid erst verursachen. (Inge Höger [DIE LINKE]: Festung Europa!) Es ist unsere Aufgabe, hier für Sicherheit zu sorgen, ohne den kriminellen Machenschaften weiter Futter zu geben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) An dieser Stelle ist natürlich entscheidend, dass die Menschen, die vor dem Krieg fliehen, weiterhin über die Grenzen kommen – in Sicherheit. Das ist natürlich nur der erste Schritt. Insofern ist Grenzen schützen auch etwas anderes als Grenzen schließen, wie Sie das immer behaupten. Wenn Human Rights Watch uns sagt: „Da ist an der Grenze geschossen worden“, dann ist doch für uns alle in diesem Haus ganz klar – egal, was Frau von Storch oder Herr Erdogan sagen –: An den Grenzen darf nicht auf Flüchtlinge geschossen werden. Das ist nicht unsere Politik. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wenn die Menschen in Sicherheit sind, ist der nächste Schritt, dafür zu sorgen, dass sie dort, wo sie hinkommen – ob sie nun in zentralen Lagern oder irgendwo sonst im Land sind –, einigermaßen anständig überleben können. Auch diesbezüglich gibt es Lücken im internationalen Recht. Es ist doch absurd, dass das UNHCR oder das World Food Programme ihre Mittel von der Weltgemeinschaft zusammenkratzen müssen, statt dass wir diese Organisationen ordentlich ausfinanzieren, damit sie rechtzeitig, wenn irgendwo Leid aufkommt, agieren können. (Beifall bei der SPD) Aber solange wir das noch nicht realisiert haben, sind wir gefordert, direkt zu helfen. Die 6 Milliarden Euro, von denen gesprochen wurde, sind ein starker Beitrag der Europäischen Union, der ja nicht an Herrn Erdogan geht, sondern mit dem konkret vor Ort in der Türkei geholfen werden soll, damit Flüchtlinge Unterkunft, Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf und Bildungseinrichtungen haben. Das ist ein wichtiger und guter Teil dieser Vereinbarung mit der Türkei. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ein weiterer Punkt, den man auch unserer eigenen Bevölkerung sagen muss: Warum soll es denn gut sein, dass in der Türkei 3 Millionen Flüchtlinge sind, in Deutschland aber nur 1 Million und in ganz Europa gar nur 2 Millionen? (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Ja, wir hatten mit 1 Million Flüchtlinge jetzt erst einmal zu kämpfen, gar keine Frage. Aber wenn wir bedenken, dass in der Türkei 3 Millionen Flüchtlinge sind, in Jordanien 10 Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge sind und im Libanon jeder Vierte ein Flüchtling ist, dann wird doch klar, dass wir mit einer solchen Art von Politik die Regionen immer weiter destabilisieren, denen es ohnehin schon nicht gut geht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/CSU]) Auch wenn Sie es nicht hören wollen: Der Kern der Vereinbarung mit der Türkei – das halte ich darin für den wichtigsten Punkt – ist die Umsiedlung, dass wir endlich so weit sind, dass wir gesagt haben: Es werden Kontingente vereinbart, damit die Menschen auf legalen, sicheren Wegen zu uns kommen können, und dann werden sie in Europa umverteilt. Das ist ein großer Schritt, der in der Realität noch lächerlich ist aufgrund der kleinen Zahlen. Aber daran werden wir weiter arbeiten. (Beifall bei der SPD) Das Wichtigste ist natürlich, die Ursachen zu betrachten, die dazu führen, dass die ganze Fluchtbewegung überhaupt stattfindet. Uns ist dieser Tage vom Auswärtigen Amt noch einmal eine Zusammenstellung zur Verfügung gestellt worden über das Engagement Deutschlands, was den Syrien-Konflikt angeht. Ich muss Ihnen sagen: Ob es jetzt unser Beitrag als Geberland bei der Konferenz ist, wo es um Gelder für Syrien ging – da haben wir den Hauptbeitrag geleistet –, oder unser Beitrag, die Menschen an einen Tisch zu holen und zu Friedensverhandlungen einzuladen – ich weiß nicht, was mehr getan werden kann als das, was von der Bundesregierung, namentlich Frank-Walter Steinmeier, hier geleistet wird. Wir leisten ja als ein kleines Land in Europa wirklich große Beiträge. Das hat auch einmal die Unterstützung, die Würdigung der Opposition verdient. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Luise Amtsberg. Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist doch vollkommen unbestritten, dass die Türkei Teil der Lösung bei der Aufnahme und bei der Versorgung von Flüchtlingen ist. Von meiner Fraktion hat das nie jemand bestritten. Im Gegenteil: Während sich die Bundesregierung in den vergangenen zwei Jahren immer nur mit den europäischen Nachbarländern verglichen hat im Hinblick auf die großen Herausforderungen, die unser Land zweifelsohne zu leisten hat und hatte, waren in Jordanien, waren im Libanon, waren in der Türkei bereits Millionen von Flüchtlingen angekommen. Schon damals haben wir hier im Bundestag deutlich eingefordert, dass die Nachbarländer Syriens besser unterstützt werden müssen, und zwar nicht nur finanziell, sondern vor allem auch durch die gezielte und sichere Aufnahme von Flüchtlingen aus diesen Ländern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Unfähigkeit europäischer Regierungen, diesen Weg konsequent zu verfolgen, hat dazu geführt, dass Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens wegen Hungers, fehlender Unterkünfte und fehlender Perspektiven ein zweites Mal flüchten mussten, nämlich nach Europa. Und das ist auch nachvollziehbar, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) Also ja, europäische Lösungen für die Herausforderungen in der Flüchtlingspolitik waren nie und zu keiner Zeit denkbar ohne die Türkei. Die EU – das ist sozusagen die Analyse dessen, was jetzt passiert ist – hat sich mit der nun geschlossenen Vereinbarung, wie wir finden, in eine inakzeptable Abhängigkeit von der Türkei begeben; denn die gleiche Türkei, der Europa jetzt das Schicksal von Millionen von Flüchtlingen in die Hand legt, produziert mit ihrer Innenpolitik und ihrem Umgang mit den Kurden täglich neue Flucht. Darüber darf hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht geschwiegen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nicht nur deswegen ist diese Vereinbarung schlecht; sie entspricht nicht dem, was wir als unsere europäischen Werte definiert haben. Da muss man die Bundesregierung kritisieren: Bei Abschluss dieser Vereinbarung, dieses Deals, wurde die Aufnahme von Flüchtlingen eben nicht eng verknüpft mit der Forderung, dass die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt, dass sie für Menschen im eigenen Land Perspektiven schafft. Deshalb, glaube ich, ist es naiv, zu glauben, dass diese Vereinbarung hält. Sie ist nicht auf Dauer angelegt. Das zeigt unter anderem auch die Haltung der Bundesregierung zur Visaliberalisierung. Die 72 Bestimmungen umzusetzen, ist ein ziemlich harter Schritt, der so schnell nicht zu leisten sein wird. Das heißt, es wird sich noch in diesem Jahr die Frage stellen, ob die Türkei alle Forderungen erfüllen kann. Wenn nicht, stellt sich die Frage, ob der EU-Türkei-Deal weiterhin Bestand hat. Das ist doch ganz klar. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Insofern müssen Sie, wenn man einmal nach Deutschland schaut, sich unter anderem auch die Situation unserer eigenen Flüchtlingspolitik ansehen. Wir haben viele Erstaufnahmeeinrichtungen, die leer stehen. Viele Innenminister stellen sich jetzt die Fragen: Müssen wir die dichtmachen? Sollen wir die auflassen? Müssen wir weiter Geld investieren? Sie halten sich alle an die Prognose der Bundesregierung, dass diese Vereinbarung mit der Türkei hält, bauen Unterkünfte und Strukturen zurück, obwohl wir wissen, dass eine Verlagerung der Fluchtrouten stattfinden wird und dass dieser Deal möglicherweise nicht hält und wir vielleicht in Deutschland am Ende dieses Jahres wieder vor derselben Situation stehen wie im vergangenen Jahr. Das kann wirklich keiner wollen, verehrte Kolleginnen und Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihnen sollte klar sein: Wenn man einen Deal macht, wenn man Verantwortung verlagert, dann bedeutet das gleichzeitig auch, dass die Verantwortung nicht an den eigenen Landesgrenzen haltmacht. Wenn man einen Deal mit der Türkei macht, dann ist das, was in der Türkei passiert, auch unsere Angelegenheit und fällt in unsere Verantwortung. Dann kann uns nicht egal sein, was vor Ort passiert. Da geht es um Themen, die hier mehrfach schon angesprochen wurden. Es gibt glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die von Abschiebungen von Frauen und Kindern in Kriegsgebiete sprechen, mittlerweile sogar von Schüssen auf Flüchtlinge. Diese Auskünfte können wir nicht widerlegen. Während die Kanzlerin sich schöngemachte Flüchtlingslager in der Türkei ansieht, leben aber Hunderttausende von Menschen in prekären Verhältnissen, viele syrische Kinder dort sind ohne Zugang zu Bildung, Menschen sind ohne Perspektive und Zugang zu Arbeit. Auch die Situation in Griechenland hängt damit im Übrigen unmittelbar zusammen. Wie können wir von einer Lösung sprechen, wenn in Idomeni noch Tausende von Menschen an der Grenze ausharren, weil sie wissen, dass jeder Weg ins griechische Asylsystem in eine Sackgasse mündet? 54 000 Menschen in Griechenland warten noch auf die Bearbeitung von Asylanträgen. Die griechische Asylbehörde verfügt derzeit über 260 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und kann nur eine winzig kleine Zahl von Anträgen bearbeiten. Und der KOM, der Kommission, fällt nichts Besseres ein, als sich wieder an das Dublin-System zu ketten, statt alles daranzusetzen und alles zu unternehmen, um wieder zurück zu den Plänen einer gemeinsamen Verteilung zu kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind die Nichtregierungsorganisationen, die dafür Sorge tragen, dass schutzsuchende Kinder in Griechenland geimpft werden, medizinisch versorgt werden, weil der griechische Staat dies derzeit nicht leistet. Der UNHCR schätzt, dass 2 000 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge derzeit in Griechenland sind. Es gibt aber nur 500 Plätze für diese Kinder in regulären Einrichtungen. Die restlichen Kinder werden notdürftig in Polizeistationen in Gewahrsam genommen, also inhaftiert. In den provisorischen Lagern am Athener Flughafen ist die Lage so prekär, dass Flüchtlinge aus lauter Verzweiflung in den Hungerstreik treten. Auf Lesbos werden ohne Rechtsgrundlage Menschen, darunter auch Frauen, Kinder und Kranke, über einen unzulässig langen Zeitraum inhaftiert. Um dem zu entgehen – das haben wir gestern lesen können –, sind Menschen sogar so verzweifelt, dass sie versuchen, in die Türkei zurückzuschwimmen. Die NGOs ziehen sich aus diesen Haftlagern zurück, weil die Arbeit dort nicht mehr mit ihren Grundsätzen zu vereinbaren ist. Tausende von Menschen hängen noch auf der Balkanroute fest. Und wir sprechen hier von einer Lösung? Meine sehr verehrten Damen und Herren, das kann einfach nicht sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächste erhält nun die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Andrea Lindholz (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben in den vergangenen Monaten erlebt und gesehen, dass das bisherige europäische Asylsystem unter diesen Flüchtlingsströmen schlicht nicht funktioniert hat. Das Dublin-System, EU-Standards, der Grenzschutz, die Verteilung von Flüchtlingen – all das wurde nicht ideal umgesetzt und ist auch an der einen oder anderen Stelle nicht praktikabel. In Deutschland, aber auch in anderen Ländern werden die Rufe nach nationalen Maßnahmen lauter, obwohl sie in einem vereinten Europa nur Notlösungen und keine echten Lösungen sein können. Die Reform des Asylsystems, an der aktuell gearbeitet wird, ist insofern auch für die Wirksamkeit des Abkommens mit der Türkei entscheidend. Die Kommission hat aktuell vorgeschlagen, das Dublin-System mit einem Notfallmechanismus auszustatten, um Ländern, die an ihre Grenzen stoßen – wie es zum Beispiel bei Italien der Fall war –, zu helfen, indem die Schutzbedürftigen dann auf die anderen Mitgliedstaaten verteilt werden. Endlich erfolgt die Androhung, dass Staaten, die sich nachhaltig weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, eine Geldstrafe zahlen sollen. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen, EASO, soll massiv ausgebaut werden, damit es notfalls viel wirkungsvoller und schneller eingreifen kann. Das ist der richtige Weg in Europa; denn Europa muss sich als Wertegemeinschaft zeigen und nicht als Selbstbedienungsladen. Zentral für das Abkommen mit der Türkei ist die Zusage der Türkei, Flüchtlinge, die irregulär nach Griechenland reisen, zurückzunehmen. Im Gegenzug nimmt die Europäische Union Flüchtlinge aus der Türkei auf und unterstützt die Flüchtlingshilfe in der Türkei mit 6 Milliarden Euro. Für Kurzaufenthalte von bis zu 90 Tagen soll die Visumpflicht für Türken aufgehoben werden. Auch wir wissen, dass das Abkommen Stärken und Schwächen hat. Es hat ein starkes Signal gesendet. Die Flüchtlingszahlen sind zurückgegangen. Die Zahl der Überfahrten von Personen nach Griechenland ist beispielsweise in den letzten vier Wochen, also nach Abschluss des Abkommens, auf 7 800 zurückgegangen, während es noch im Oktober letzten Jahres 214 000 Menschen waren, die nach Griechenland übergesetzt sind. Das zeigt also, dass wir mit diesem Mittel auch die Schleuserkriminalität eindämmen können. Das Abkommen enthält aber auch Risiken, vor allem bei der Visafreiheit. In meinem Wahlkreis, in Aschaffenburg, lieferten sich am Ostersonntag Hunderte nationalistische Türken und Kurden über Stunden hinweg gewalttätige Ausschreitungen. Polizisten wurden verletzt und Häuser bis in die Nacht hinein besetzt. Dieser Vorfall zeigt mir ganz deutlich, dass die freie Einreise von Kurden und Türken nach Deutschland unter den aktuellen Umständen sehr wohl riskant ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Erdogan darf seinen Konflikt mit den Kurden nicht nach Europa verschieben. Damit das Türkei-Abkommen dauerhaft Erfolg hat, sind drei Punkte entscheidend. Erstens. Bei der Visaliberalisierung darf es keinen Rabatt geben. Tempo darf nicht vor Gründlichkeit gehen. Wir müssen uns wirklich darauf verständigen, dass alle 72 Kriterien, die bereits im Dezember 2013 – und nicht erst aktuell – vereinbart wurden, eingehalten werden. Das gilt auch für die Passsicherheit und für die Menschenrechte. Frau Kollegin Roth, ich schätze Sie wirklich sehr, auch wenn wir oft unterschiedlicher Ansicht sind. Aber Ihre Unterstellung, dass es irgendeinem Mitglied des Hauses oder auch der Bundesregierung egal ist, wenn an der Grenze auf Kinder geschossen wird, und dass die Bundesregierung diesen Vorwürfen bzw. Behauptungen nicht nachgehen will, hat mich – das muss ich ehrlich sagen – entsetzt, (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So habe ich es auch nicht gesagt! Zuhören!) zumal unser Parlamentarischer Staatssekretär Ole Schröder gestern im Innenausschuss ganz deutlich gesagt hat, dass man all diesen Berichten nachgehen wird, es aber noch keine aktuelleren Erkenntnisse gibt und dass die entsprechenden Verbindungsleute bereits kontaktiert wurden. Es handelte sich um eine Meldung, die zwei Tage alt war! Nicht alles, was in der Zeitung steht, ist von Haus aus richtig. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit Dezember gibt es diese Meldungen!) – Ich gehe nur auf den Vorwurf ein, dass an der Grenze auf Kinder geschossen worden ist. – An solche Unterstellungen hier im Parlament kann ich mich nicht gewöhnen. Ich finde das einfach auch nicht in Ordnung. (Beifall bei der CDU/CSU) Was geben wir denn für ein Bild nach außen ab – auf den anderen Vorwurf möchte ich gar nicht eingehen –, wenn die Menschen hören, dass wir so über Parlamentarier anderer Parteien sprechen? Ich muss sagen: Daran will und werde ich mich auch nach drei Jahren nicht gewöhnen. Ich finde das ungeheuerlich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Tragen Sie Verantwortung, oder tragen Sie keine?) Zweitens. Wir müssen die Visafreiheit schnell aussetzen können. Ich bin sehr froh, dass die Kommission plant, dass die bisherigen Verfahren massiv vereinfacht und beschleunigt werden sollen, damit dann, wenn es – das ist unsere Befürchtung – massenhafte Überziehungen der Bleibefrist gibt oder unbegründete Asylanträge kommen oder sich eine mangelnde Rücknahmebereitschaft durch die Türkei abzeichnen sollte, die Visumpflicht automatisch wieder in Kraft treten kann. Drittens müssen wir – da möchte ich Ihnen, Herr Castellucci, vollumfänglich zustimmen – noch mehr Mittel für die Hilfe vor Ort bereitstellen, damit wir schneller helfen können. Es darf auch nicht nur um die 3 Millionen Flüchtlinge in der Türkei gehen, die dort seit 2011 aufgenommen worden sind, sondern es muss auch um die Flüchtlinge im Libanon und in Jordanien gehen. Zum Schluss: Europa darf sich bei den Verhandlungen nicht kleiner machen, als es ist. Wir bekommen so oft gesagt: Die Türkei erpresst uns. – Nein, die Türkei braucht Europa auch. Sie braucht Europa im Kampf gegen den Terror und als Wirtschaftspartner. Das müssen wir Ankara auch deutlich zeigen; denn dort hält man eben nicht alle Trümpfe in der Hand. Mir ist wichtig – das wäre meine Schlusssatz –: Wir dürfen uns nicht kleiner machen und müssen darauf bestehen, dass alle 72 Punkte erfüllt werden. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Das war nun ein sehr langer Schluss. – Als Nächstes spricht die Kollegin Dr. Dorothee Schlegel, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Dorothee Schlegel (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Wir debattieren heute in dieser Aktuellen Stunde das Thema „Aktuelle Entwicklungen beim EU-Türkei-Abkommen“. Dieses Abkommen wurde gemeinsam ausgehandelt, im November 2015 in Kraft gesetzt, und im März 2016 wurde eine weitere Phase eingeleitet. Beide Seiten wussten, auf was sie sich einlassen. Beide Seiten kennen die Konditionen. Und beide Seiten wollten dieses Abkommen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Die beiden Vertragspartner sind die Türkei zum einen und die EU mit ihren 28 Mitgliedstaaten zum anderen. Aktuellstes Thema dieses Abkommens ist die Beschleunigung der Visaliberalisierung. 72 Kriterien müssen ja dafür erfüllt werden. So liegt es übrigens seit 2013 als Roadmap klar auf den Tischen beider Seiten, also noch bevor es zu oben genanntem Abkommen kam und auch nicht erst jetzt „plötzlich“, wie Präsident Erdogan vor wenigen Minuten behauptet hat. Weit über 60 Kriterien erfüllt die Türkei, aber eben noch nicht alle. Der Datenschutz ist ebenso eine harte Nuss wie die Anpassung der sehr weit gefassten Antiterrorgesetze an die EU-Standards. Erdogan hat gesagt, dass die Änderung, die in diesem Punkt eingefordert worden ist, ein „Desaster“ wäre; ich sehe das anders. Für mich sind umgekehrt die Eingriffe der Türkei in ihre eigenen Grundrechte das tatsächliche Desaster. Vor zwei Wochen habe ich in der letzten Aktuellen Stunde über die Türkei gesagt: Die Einschränkung von Grundrechten und die Rechtsunsicherheiten durch dieses Antiterrorgesetz gehen in der Türkei Hand in Hand mit dem Verlust von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Säkularismus und Religionsfreiheit. Ich unterstreiche hier gerne noch einmal: Wir dürfen die Türkei und die dortigen demokratischen Kräfte nicht alleine lassen. Daher ist eine Fortsetzung eines sachlichen, klaren und kritischen Dialogs mit Regierung und Parlament unabdingbar. Ich begrüße – es wurde schon erwähnt – die klare Entscheidung des Europäischen Parlaments, sich erst dann mit der Visafreiheit zu befassen, wenn alle Kriterien erfüllt sind. Was ich allerdings nicht begrüße, sind die vielen Vorbehalte gegenüber einer visafreien Einreise von türkischen Staatsbürgern; denn wir werden auch bei Visafreiheit kontrollieren, wer aus der Türkei in die EU einreist. Einreise ohne Visum bedeutet zudem keine unkontrollierte Einreise; denn sie wird mit einem Pass mit biometrischen Daten erfolgen. Visafreiheit bedeutet auch nicht, einfach nur über die Grenze zu spazieren. Alle, die schon einmal visafrei in die USA eingereist sind, wissen das sehr wohl. Zudem – Kollegin Lindholz hat es gerade angesprochen – wird es auch einen Schutzmechanismus geben, der es den Mitgliedstaaten ermöglicht, Umstände zu melden, die zu einer Aussetzung der Visafreiheit führen können. Meine Damen und Herren, Visaliberalisierung stärkt die Reisefreiheit. Sie fördert den interkulturellen und den zivilgesellschaftlichen Dialog. Sie erleichtert darüber hinaus die wissenschaftliche und wirtschaftliche Zusammenarbeit, den Schüler- und Studentenaustausch und Verwandtschaftsbesuche. Ein Letztes: Präsident Erdogan ist nicht die Türkei. Er ist von der Mehrheit der türkischen Bevölkerung gewählt, und seine Partei stellt die Regierung. Aber es gibt eben auch eine Opposition. Die CHP und weitere proeuropäische Kräfte stehen mir mit ihren Positionen politisch deutlich näher als Herr Erdogan. Wie wichtig uns eine parlamentarische Zusammenarbeit ist, können und müssen wir durch den engen Austausch mit unseren türkischen Kolleginnen und Kollegen intensiver denn je zeigen. Ich treffe mich nachher mit dem Fraktionsvorsitzenden der CHP, Kemal Kilicdaroglu, und werde diesen Dialog fortsetzen. Schließen möchte ich mit Worten des großen SPD-Außenpolitikers Egon Bahr, die auch auf unsere momentane Situation zutreffen – Zitat –: Wandel durch Annäherung. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir Selbstbewußtsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusionen zu verfolgen ... denn sonst müßten wir auf Wunder warten, und das ist keine Politik. So Egon Bahr. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächstes spricht Matern von Marschall, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Matern von Marschall (CDU/CSU): Verehrte Frau Präsidentin, vielen Dank. Vielen Dank auch dafür, dass Sie die Kollegin Dağdelen ausdrücklich gerügt haben für diese unsägliche Vorhaltung gegenüber der Bundesregierung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der LINKEN: Oh!) Wenn die Linke im Zusammenhang mit der Vereinbarung mit der Türkei mit Begrifflichkeiten – Herr Korte und Frau Dağdelen, Sie beide kann ich da zitieren – wie „schmutzig“, „dreckig“ und „schäbig“ hantiert – diese Vereinbarung bezeichnen Sie ja auch als „Deal“ –, dann frage ich mich, was Sie davon halten, dass wir der Türkei für ihre gute und wichtige Arbeit, die sie in ihrem Land gegenüber den Flüchtlingen aus Syrien leistet, 3 Milliarden Euro und sukzessive bis zu 6 Milliarden Euro als Unterstützung bei dieser wichtigen humanitären Aufgabe anbieten wollen. Dieses Geld geht nicht in das Säckel von Herrn Erdogan, (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Dann zahlen Sie es doch direkt an die Hilfsorganisationen!) sondern es kommt den Hilfsorganisationen zugute, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie das schon geprüft? – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das werden wir sehen!) perspektivisch auch unserer GIZ, die dort eine wichtige und herausragende Arbeit leistet; und dafür danke ich allen sehr. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben heute Morgen über den weiteren Kontext, nämlich die Bekämpfung der Fluchtursachen, gesprochen. Das ist von großer Bedeutung. Auch Kollegin Roth hat einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte geleistet. Ich denke, wenn wir nicht in der Lage sind, in guter Kooperation mit der Türkei die Situation dort zu stabilisieren, und uns dies nicht auch in Nordafrika gelingt, dann haben wir gar keine Chance, die dahinterliegenden Ursachen wirksam zu bekämpfen. Insofern ist diese Kooperation, die der Stabilisierung der Situation in der Türkei dient, von ganz großer Bedeutung. Wenn wir auf die aktuelle Entwicklung schauen, muss uns natürlich beunruhigen, dass Ministerpräsident Davutoglu zurückgetreten ist und damit jemand, der Europa näher gestanden hat. Auch der bevorstehende AKP-Parteitag muss uns beunruhigen. Besonders beunruhigen muss uns – das ist bisher nicht angesprochen worden; deshalb will ich kurz darauf eingehen – die Situation im türkischen Parlament, und zwar im Hinblick auf das Risiko einer Immunitätsaufhebung. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie haben möglicherweise diese sehr unschönen Szenen in der Verfassungskommission im türkischen Parlament live gesehen. Es ging dabei um einen Antrag der AKP auf Verfassungsänderung, der angenommen worden ist. Die AKP betreibt damit durchsichtige taktische Manöver. Ziel ist dabei letzten Endes die Entfernung einer ganzen Fraktion, nämlich der HDP, aus dem Parlament. Die AKP alleine verfügt nicht über die notwendige verfassungsändernde Mehrheit im Parlament, doch leider machen da auch noch die CHP und die MHP mit. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Ich würde mir sehr wünschen, Kollegin Schlegel – Sie haben ja gerade den Dialog, den Sie diesbezüglich führen wollen, angesprochen –, dass Sie auf die Kollegen im türkischen Parlament, mit denen Sie ein gutes Einvernehmen haben, einwirken, dass sie dieser Verfassungsänderung nicht zustimmen. (Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich glaube, das ist auch für das türkische Parlament selbst von großer Bedeutung. Jede Fraktion im türkischen Parlament, die dem zustimmen will, scheint ihren Eigennutz daraus ziehen zu wollen. Aber es ist eine außerordentlich riskante Entscheidung, die die anderen Fraktionen, also nicht nur die AKP, da treffen; denn es würde sukzessive zu einer Beschneidung der Stärke dieses Parlaments führen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Daher sollten wir auf sie einwirken und hier im Parlament nicht weiter eine Eskalation betreiben, sondern in guter Kooperation das Gespräch mit denjenigen dort, die wir als moderate und gute parlamentarische Kräfte ansehen, suchen. Ich glaube, dass wir als Europäische Union immer den Weg der Kooperation und nicht den der Konfrontation gehen sollten. Insofern sollten wir auch sorgsam darauf achten, mit unserem eigenen parlamentarischen Gebaren nicht etwa die nationalistischen Kräfte in der Türkei – sie befinden sich in vielen Fraktionen des Parlamentes – weiter zu stärken; denn sie würden sich im Zweifelsfall hinter Erdogan scharen. Das würde dann wahrscheinlich zu einer weiteren Verfassungsänderung, die das Präsidialsystem stärken könnte, führen. Das ist bestimmt kein kluger und richtiger Weg. Insofern würde ich mir wünschen, dass wir alle bereit sind, mäßigend und im guten Sinne vermittelnd an der Kooperation mit der Türkei zu arbeiten. Ich hoffe, dass wir diesbezüglich unsere guten Kontakte ins türkische Parlament nutzen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Dr. Andreas Nick, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inzwischen beschäftigen uns die beiden Oppositionsfraktionen in diesem Hause abwechselnd fast im Wochenrhythmus mit Aktuellen Stunden zur Türkei. Es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn wir uns intensiv mit der Türkei befassen, ganz im Gegenteil. Die Türkei ist ein vielfältiges und spannendes Land. Sie ist und bleibt für uns ein wichtiger Partner, nicht zuletzt aufgrund ihrer geostrategischen Lage. Angesichts von mehr als 3 Millionen Menschen türkischer Herkunft, die in unserem Land zu Hause sind, ist die Türkei auch immer ein wichtiger Teil deutscher Innenpolitik. Bei aller berechtigten kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei sollten wir dies stets mit der notwendigen Ernsthaftigkeit tun, jedenfalls nicht um der vordergründigen Effekthascherei willen oder gar zur Bedienung antitürkischer Ressentiments. Ich will deshalb in Erinnerung rufen, worum es in dem gemeinsamen EU-Türkei-Aktionsplan im Kern geht. Die Türkei hat seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges fast 3 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Über 1 Million Menschen haben sich im vergangenen Jahr auf den gefährlichen Weg in die Mitte Europas gemacht. Meine Damen und Herren, es ist keine faire und humanitäre Lösung, dass Menschen ihr Leben und das Leben ihrer Kinder riskieren, sich Schleppern und Schiebern anvertrauen, um in unsicheren Booten die Ägäis zu überqueren und sich auf den langen und beschwerlichen Weg der Balkanroute zu machen. Dieser Zustand muss beendet werden, vor allem aus humanitären Gründen. Deshalb stehen von Anfang an drei Ziele gleichwertig im Mittelpunkt des gemeinsamen Aktionsplans, nämlich die Sicherung der Außengrenze der EU, die Verbesserung der Lebenssituation der Flüchtlinge in der Türkei und die Eröffnung legaler Zugangsmöglichkeiten in die EU durch entsprechende Kontingente. Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei wirkt. Seit dem Stichtag am 20. März ist die Zahl der Flüchtlinge, die auf den griechischen Inseln ankommen, stark gesunken. Im Januar und Februar waren es jeden Tag 2 000, im April nur noch 115 Personen, im laufenden Monat waren es bisher 60. Viel wichtiger ist: Während im Januar noch 272 Menschen in der Ägäis ertranken, waren es im April noch 10. Jedes verlorene Menschenleben ist immer noch eines zu viel. Aber ich frage schon in aller Deutlichkeit: Wie viel Zynismus und Menschenverachtung muss man eigentlich mitbringen, um angesichts der Rettung von Hunderten Menschenleben hier fortdauernd von einem „schmutzigen“ Deal zu reden? (Beifall bei der CDU/CSU) Liebe Kollegen, die Visumspflicht für türkische Staatsbürger wurde erst 1980, zu Zeiten der Militärregierung, wieder eingeführt. Bereits seit 2013 wird erneut über eine Visaliberalisierung für die Türkei verhandelt. Reisefreiheit ist ein wichtiges Instrument zur Förderung des zwischengesellschaftlichen Dialogs und zur Stärkung der Zivilgesellschaft in dem betroffenen Land. Sie ist auch keine Belohnung für den Präsidenten oder die Regierung, sondern – Frau Kollegin Roth hat es vorhin angesprochen – eine wichtige Geste der Gegenseitigkeit und der Anerkennung für die Menschen in der Türkei. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Als Teil der EU-Türkei-Vereinbarung haben wir eine Beschleunigung des Verfahrens zur Visaliberalisierung verabredet. 65 der 72 von der EU definierten Voraussetzungen wurden von der Türkei bereits vollständig umgesetzt; über biometrische Pässe ist schon gesprochen worden. Ich will noch auf einen Punkt hinweisen: Die Türkei gewährt zukünftig allen EU-Mitgliedstaaten Visumsfreiheit; das betrifft auch Zypern. Das ist ein gewaltiger und, wie ich finde, viel zu wenig beachteter Fortschritt. Natürlich – Kollege von Marschall hat es angesprochen – sind der aktuelle Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten und seine politischen Umstände alles andere als hilfreich. Ich rate uns allen in der momentanen Debatte aber zu mehr Gelassenheit. Wir sollten nicht auf jede rhetorische Provokation aus Ankara geradezu reflexartig reagieren. Einer der letzten politisch strittigen Punkte ist – neben dem Datenschutz – die Anpassung der sogenannten Antiterrorgesetze der Türkei an europäische Standards. Insbesondere geht es hier um eine klarere Eingrenzung der Definition des Begriffes „Terrorismus“. Man kann, wie der frühere schwedische Außenminister Carl Bildt, durchaus fragen, ob die Agenda zur Visaliberalisierung damit nicht überfrachtet ist und ob diese wichtige Frage nicht besser als Teil des Beitrittsprozesses behandelt werden sollte. Denn im Zuge der vereinbarten Öffnung der Kapitel 23 und 24 – das sollten wir nicht vergessen – werden diese und andere Fragen von Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Sicherheit eine ganz zentrale Rolle spielen. Hier kann und wird die EU die Türkei umfassend fordern. In der Sache selbst sollten wir als Europäer weiterhin klar und eindeutig Position beziehen. Wir sollten uns aber hier wie dort nicht von denen leiten lassen, die diese Fragen nur kurzfristig instrumentalisieren wollen, um den Prozess der Visaliberalisierung zu hintertreiben oder gar eine erneute Zuspitzung der Flüchtlingskrise in Deutschland herbeizuführen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts Drucksache 18/7824 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Drucksache 18/8428 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Eine halb barrierefreie Gesellschaft reicht nicht aus – Privatwirtschaft zu Barrierefreiheit verpflichten – zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Behindertengleichstellungsrecht mutig weiterentwickeln Drucksachen 18/7874, 18/7877, 18/8428 Ich begrüße zu diesem Diskussionspunkt ausdrücklich die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, die dieser Diskussion hier folgen möchte. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Über den Änderungsantrag und über den Entschließungsantrag werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Andrea Nahles. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inklusion ist nicht abstrakt; sie umfasst eine Fülle von konkreten Schritten zur Verbesserung der Lage von Menschen mit Behinderungen. Mit diesen Worten kann man am besten beschreiben, worum es in dem Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, geht. Wir wollen die Lage für Menschen mit Behinderungen Schritt für Schritt barrierefreier gestalten und zu mehr Inklusion kommen. Dabei ist es wichtig, dass wir in Bewegung sind und die richtige Richtung eingeschlagen wird. Ich bin froh, sagen zu können: Ja, mit diesem Gesetz gehen wir voran. – Es wird nicht das einzige Gesetz bleiben, das die Inklusion in diesem Land voranbringt, schon bald werden weitere Schritte folgen. Sicher, manchem geht es nicht schnell genug; das mag sein. Aber wenn man sich einmal anschaut, was wir bereits geschafft haben, dann merkt man auch, dass die regelmäßigen Reformschritte nach vorn dieses Land bereits gewaltig verändert haben. Ich gebe dazu ein konkretes Beispiel: Am Rande der Trauerfeier anlässlich des Todes von Hans-Dietrich Genscher war ich im Haus der Geschichte in Bonn. Ich kann mich gut daran erinnern, wie Museen früher aussahen: Es gab Treppen und jede Menge Barrieren. Hier ist alles mit Rollstühlen erreichbar, es gibt Fahrstühle und barrierefreie Toiletten. Bei der Ausstellung wurde auch an Menschen mit Behinderung gedacht. Für Blinde gab es zum Ertasten von Objekten Handschuhe, die man sich ausleihen konnte. Auch sonst: Kinder mit und ohne Behinderung besuchen dieselbe Kita und Schule. Nicht überall läuft das reibungslos, aber das ist mittlerweile das unbestrittene Ziel. Sie treffen sich in Vereinen. Es gibt viele Broschüren in leichter Sprache, Gebärdendolmetscher bei Veranstaltungen und die nötige Assistenz im Job. Das alles leider noch nicht überall – aber es ist viel selbstverständlicher geworden, und es ist unser Ziel, das alles überall anbieten zu können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich sage dies deshalb, weil wir viel bewegt haben in den letzten Jahrzehnten. Trotzdem muss man sich klarmachen: Inklusion ist ein Prozess. Wir müssen dranbleiben und immer wieder fragen: Wo kann, wo muss es weitergehen? Seit der UN-Behindertenrechtskonvention betrifft dies alle Lebensfelder und alle politischen Bereiche. In der Tat wurde hier vorher zu eng gedacht. Wir gehen mit dem Nationalen Aktionsplan, der jetzt in der Ressortabstimmung ist, den nächsten Schritt, und mit dem Teilhabegesetz gehen wir einen weiteren. Auch das Behindertengleichstellungsgesetz, das BGG, das wir heute beraten, symbolisiert einen echten Fortschritt. Seit 2002 regeln wir über das BGG die Barrierefreiheit in den Bereichen Bau, Verkehr und Infrastruktur bringen die Verwendung der Gebärdensprache und der leichten Sprache voran. Auch hier geht es ganz konkret weiter. Mit der vorliegenden BGG-Änderung wollen wir immer noch bestehende bauliche Barrieren in allen Bundesgebäuden endlich abbauen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Das gilt auch für Barrieren innerhalb der Verwaltung. Mir selbst ist die Dimension erst in vielen Gesprächen klar geworden, nämlich dass interne Verwaltungsabläufe, zum Beispiel die Bearbeitung von elektronischen Akten, barrierefrei gestaltet werden müssen, damit wirklich alle daran mitarbeiten können. Dies ist Bestandteil dieser BGG-Novelle. Eine weitere wichtige Neuerung ist eine Schlichtungsstelle bei der Behindertenbeauftragten Verena Bentele. Diese Schlichtungsstelle soll künftig bei Problemen rasch pragmatische Lösungen finden, wenn zum Beispiel eine Gebärdendolmetscherin oder eine Rampe abgelehnt werden. Es ist auch ein Schritt in die richtige Richtung, wenn wir Verbände von Menschen mit Behinderung stärker fördern: 2016 mit einer halben Millionen Euro, danach mit 1 Million Euro jedes Jahr. Liebe Kolleginnen und Kollegen, 2016 wird ein Jahr wesentlicher und wichtiger Fortschritte auf dem Weg zur Inklusion: Weniger behindern, mehr möglich machen – das ist das Ziel. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Weil das so ist, ärgert mich die Fundamentalkritik nach dem Motto: Weil wir nicht alles erreicht haben, ist alles Mist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Was das vorliegende Gesetz angeht, sage ich ganz offen: Ja, auch mir fehlt im BGG der private Sektor. Den hätte ich gern mit in das Gesetz einbezogen. Das ist nicht gelungen. (Katrin Werner [DIE LINKE]: Warum?) Aber es wird beim nächsten Mal gelingen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jetzt setze ich darauf, dass das neue BGG die private Wirtschaft zum Mitmachen und Nachahmen anregt. Hier sind die Bundesbehörden Vorbild. Darum dürfen wir nicht gering schätzen, was wir jetzt hier erreichen. Von der Arbeitsagentur bis zum Zoll gibt es eine große Anzahl an Bundesbehörden, die ab jetzt mit gutem Beispiel vorangehen werden und Vorbilder und Treiber sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn zum Beispiel die BA bei der Barrierefreiheit vorangeht, dann kann ich mir kaum vorstellen, dass die kommunalen Jobcenter nicht folgen werden. (Beifall bei der SPD) Die Ressortabstimmung, die wir hatten, war gerade deswegen so schwierig und langwierig, weil so viele Behörden betroffen waren und weil wir diese baulichen Verbesserungen nicht nur für Neubauten, sondern auch für den Bestand erreichen konnten. Ich möchte allen Kolleginnen und Kollegen hier im Haus danken, die sich in den letzten Wochen und Monaten engagiert und eingesetzt haben. Im Verfahren hier im Parlament ist es uns gelungen, wichtige Klarstellungen und Verbesserungen zu erreichen, die über den Gesetzentwurf hinausgehen. (Beifall bei der SPD) Heute kann ich also sagen: Ich bin mit dem zufrieden, was erreicht worden ist – nicht, weil wir alle Wünsche und Erwartungen schon maximal umgesetzt haben, aber deswegen, weil es voran geht. Das ist aber nun einmal ein Stück weit Demokratie; das sage ich hier an dieser Stelle auch. Das ist für mich aber kein Grund zum Ausruhen; es ist keine Zeit für eine Pause. Das kommt nicht infrage. Wir müssen dranbleiben und den Prozess der Inklusion vorantreiben. Das Jahr 2016 wird uns ein gutes Stück weiterbringen – im Privaten, im Alltag und bei der Arbeit. Deshalb möchte ich Sie bitten, der Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes heute hier in diesem Hause zuzustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächste spricht die Kollegin Katrin Werner, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Katrin Werner (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlich müssten wir diese Debatte nach draußen verlegen. Gestern haben sich Aktivisten aus Protest gegen den hier vorgelegten Gesetzentwurf am Reichstagsufer angekettet. Sie haben die ganze Nacht dort verbracht und protestieren mittlerweile seit über 30 Stunden ohne Schlaf. Da wir aber nicht nach draußen gehen können, möchte ich jetzt stellvertretend zwei Vertreterinnen auf der Besuchertribüne begrüßen, nämlich Nadine und Carola. Eine von ihnen ist Rollstuhlfahrerin, die andere ist eine gehörlose Frau, die die Debatte leider nicht verfolgen kann, weil es an einer Gebärdendolmetschung fehlt. (Zurufe von der CDU/CSU: Das stimmt doch gar nicht! – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Da ist doch eine Gebärdendolmetscherin!) – Gut, dann ist sie da. – Um kurz darauf einzugehen: Es gab – – Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wir werden immer barrierefreier, Frau Kollegin Werner – Schritt für Schritt. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ein Vorwurf schon einmal ausgeräumt! – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hat sie mitgebracht!) Katrin Werner (DIE LINKE): Frau Präsidentin, ich wollte mich gerade korrigieren und brauchte deshalb diesen Hinweis nicht. Ich habe sie jetzt gesehen, weiß aber, dass der Vorsitzende des Allgemeinen Behindertenverbandes schon Anfragen gestellt, bis heute aber keine Antwort bekommen hat. Ihm wurde nicht mitgeteilt, dass dort oben eine Gebärdendolmetschung stattfindet. Diesen Vorwurf nehme ich jetzt also zurück. Ich gestehe ja auch ein, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf ein paar gute Dinge geregelt haben, aber 90 Prozent regeln Sie eben nicht. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte gleichzeitig die Aktivisten vor Ort grüßen, die die Debatte hier jetzt per Live-Übertragung mitverfolgen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sehr geehrte Damen und Herren, die Menschen sind wütend, und ich finde, aus gutem Grund. Vor gut einer Woche, am 4. Mai 2016, sind in Berlin Tausende Menschen auf die Straße gegangen und haben gegen Ausgrenzung und Diskriminierung demonstriert. Im Anschluss daran haben sie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales blockiert. Einer der Gründe für ihre Entrüstung und ihre Wut ist die Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes, über die wir gerade diskutieren und nachher abstimmen werden. Menschen mit Behinderungen werden durch den vorliegenden Gesetzentwurf weiter diskriminiert. Er geht – sorry, Frau Nahles – vollkommen an der Lebensrealität der Menschen vorbei. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ganz ehrlich: Ich wollte es nicht ansprechen, aber als ich Sie vorhin gehört habe, musste ich mich an September 2013 erinnern. Damals waren Sie in der Opposition. Ich habe meiner Tochter das Lied nicht vorgesungen; daher werde ich es jetzt auch nicht vorsingen. Sie haben der Regierung damals nach einer längeren Passage des Selbstlobes gesagt, wir müssten den Menschen mehr helfen, und Sie haben ihr singenderweise vorgeworfen – Zitat aus Pippi Langstrumpf –, sie mache sich die Welt, wie sie ihr gefällt. Genau so kommt es mir hier teilweise auch wieder vor. Sie halten einfach schöne Sonntagsreden, aber die Verbesserungen durch diesen Gesetzentwurf betreffen nur ungefähr 10 Prozent der Lebensrealität der Menschen, weil sich das Leben der Menschen nun einmal nicht in den Bundesbehörden und den Bundesämtern abspielt, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sondern in den Arztpraxen, in den Läden, in den Theatern, in den Kinos und in ihren Wohnungen. Genau die Barrierefreiheit dort regeln Sie nicht. Ganz ehrlich: Das ist ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Schon wieder!) Frau Nahles und Frau Lösekrug-Möller, beantworten Sie mir die Frage, warum Sie die Abstimmung darüber auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Warum können Sie das nicht heute und hier regeln? Wenn Sie die Barrierefreiheit in dieser Art nicht umsetzen können: Viele Selbstvertretungsorganisationen haben Ihnen Vorschläge gemacht, darunter einen Schritt, der nicht Millionen kostet, nämlich ganz einfach: angemessene Vorkehrungen. Um angemessene Vorkehrungen geht es in dem Antrag der Linken und auch in dem Antrag der Grünen. Gehen Sie doch diesen Schritt und stimmen Sie mit Ja. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Für diejenigen, die es nicht wissen: Der Begriff „angemessene Vorkehrung“ hört sich zwar sehr juristisch an, aber es sind ganz einfach Maßnahmen, die geeignet und erforderlich sind, damit Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mit allen anderen Menschen am Leben teilhaben und ihre Grundfreiheiten und Menschenrechte wahrnehmen können. Für diejenigen, die Angst haben, dass diese Maßnahmen teuer sein könnten, sage ich: Bei den angemessenen Vorkehrungen wird vorgeschrieben, dass Maßnahmen keine unverhältnismäßige oder unangemessene Belastung darstellen dürfen, also keine Milliardenbeträge kosten dürfen. Vielleicht ein einfaches Beispiel: eine Einkaufsstraße mit mehreren Läden mit Stufen. Wenn die Einzelhändler sich zusammenschließen und darauf verständigen würden, eine mobile Rampe oder Schiene zu kaufen – (Volker Kauder [CDU/CSU]: Kollektiv!) – das können Sie auch so nennen –, dann könnten Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer diese Läden erreichen. Das betrifft ja nicht nur die Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer. Das betrifft ältere Menschen mit Rollator. Das betrifft die Mutter oder den Vater mit dem Kinderwagen. Wenn sich die Einzelhändler zusammenschließen, dann kostet die Anschaffung keine Tausende von Euro. Kleine Empfehlung: Bei Google kann man die Preise finden. Wenn man das so machen kann, dann nehmen Sie diese Regelung doch verpflichtend auf. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ganz ehrlich, Herr Schummer: An die Kraft der Überzeugung können Sie 14 Jahre nach Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes und 7 Jahre nach der Unterschrift unter die UN-Behindertenrechtskonvention doch nicht allen Ernstes glauben. Das macht keiner freiwillig. Machen Sie es daher verpflichtend. Eine Bitte an die folgenden Rednerinnen und Redner – ich weiß, meine Zeit ist abgelaufen –: (Manfred Grund [CDU/CSU]: Nein, nur die Redezeit!) Vielleicht gehen Sie in den nachfolgenden Reden nicht nur auf die 10 Prozent an schönen Dingen in Ihrem Gesetzentwurf ein, sondern erklären den Menschen, warum Sie nicht bereit sind, diesen kleinen Schritt zu gehen. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: 90 Prozent sind ein kleiner Schritt! Aha!) Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächster erhält der Kollege Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Jetzt kommt mal Sachverstand in die Debatte!) Uwe Schummer (CDU/CSU): Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Es ist deshalb so wichtig, auf die positiven Wirkungen der jetzigen Novellierung zu verweisen, weil eben viele Menschen auch sagen: Nein, das wollen wir nicht. – Das könnte dazu führen, dass das, was zum Besseren verändert werden könnte, nicht gemacht wird. Wir sind dafür da, Bewegung zu erzeugen. Dass wir aber die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention nicht alleine mit Rampen lösen werden, ist offenkundig. Dass man eine Gesinnungs- und Zuständereform miteinander verbinden muss, dass man dafür die Voraussetzungen und Kompetenzen zu schaffen hat, ist klar und findet sich in dem Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts wieder. Allein schon die neue Definition auf der Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention, nämlich Behinderung als langfristige Beeinträchtigung zu sehen, die in Wechselwirkung mit Barrieren in den Köpfen und in der Umwelt Menschen an der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe hindert, hat eine Strahlkraft, die über das jetzige Gesetz hinausgeht. Gestern waren Vertreter des Gehörlosenbundes bei mir. Sie haben mit mir über viele Themen gesprochen, auch über Gebärdensprache. Sie waren sich bewusst – das wissen sie und haben mir das auch gesagt –, dass das, was wir miteinander auf der Bundesebene vereinbaren, auf die Länderebene, beispielsweise in Berlin, Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz, übertragen werden muss. An dieser Stelle müssen Sie sich von der Linkspartei mit dem Föderalismus arrangieren. Wir haben eben keine zentralistische Republik mit einer Steuerung aus Berlin, sondern wir sind föderal aufgebaut: über die kommunale, die Landes- und Bundesebene sowie auch die private Ebene. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn wir diese miteinander verzahnen, dann haben wir die Wechselwirkung, die Gesinnungs- und Zuständereform, die wir miteinander wollen und erreichen werden. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann macht doch mal!) Das ist eben nicht allein ein Thema des Bundes, sondern auch ein Thema der Bundesländer, der Kommunen und der Privaten. Wichtig ist aber, dass wir eines nicht tun, Kollegin Werner, nämlich die Bundesbehörden abzuwerten und so zu tun, als seien sie nicht wichtig. (Katrin Werner [DIE LINKE]: Ich habe sie doch gar nicht abgewertet! Zuhören!) Ist die Agentur für Arbeit für Arbeitsuchende nicht wichtig? Ist die Krankenkasse für jemanden, der Gesundheitsversorgung sucht, nicht wichtig? (Katrin Werner [DIE LINKE]: Aber wie oft ist er denn da?) Ist die Bundespolizei mit ihren Einrichtungen nicht wichtig? Ist die Rentenversicherung mit der Alterssicherung für die Menschen nicht wichtig? (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Rentenversicherung ist sehr wichtig! – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Etwas anderes hat doch niemand behauptet!) Es sind also wichtige Schritte, die jetzt in den Bundesbehörden gegangen werden, damit Barrierefreiheit in der Kommunikation und auch baulich erreicht werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege. Uwe Schummer (CDU/CSU): Damit macht der Bund genau das, was in der modernen Pädagogik richtig ist. Uns geht es nicht um die Kraft des Zwangs oder der Peitsche bzw. um Gebote und Verbote, sondern wir wollen überzeugen. Aber wir können auch von den Privaten erst dann etwas verlangen, wenn der Bund mit seinen Einrichtungen vorangeht. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Jetzt müssten Sie eine kleine Pause machen, Herr Kollege Schummer. Ich muss Sie nämlich fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald zulassen, bevor es um eine ganz andere Thematik geht. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau! Danke!) Uwe Schummer (CDU/CSU): Und nichts ist überzeugender als das gute Vorbild des Bundes. – Aber ich höre gerne Ihre Zwischenfrage. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Herr Kollege Schummer, Sie waren gestern Abend, wie ich sehen konnte – Sie saßen zwei Reihen vor mir –, beim Jahresempfang der Bundesbeauftragten für die Belange behinderter Menschen, Frau Bentele. Dort haben Sie auch die Rede von Ulrike Mascher gehört. Ulrike Mascher ist Sprecherratsvorsitzende des Deutschen Behindertenrates und Präsidentin des Sozialverbandes VdK Deutschland. Sie hat sieben Punkte genannt, in denen der VdK und der Behindertenrat mit dem Behindertengleichstellungsgesetz überhaupt nicht einverstanden sind. (Kerstin Griese [SPD]: Es ging um ein anderes Gesetz! – Andrea Nahles, Bundesministerin: Es ging um ein anderes Gesetz!) – Nein, es ging um die Inhalte. Ich zitiere jetzt wörtlich, Frau Kollegin Griese, damit Sie nicht fälschlicherweise behaupten, es gehe um etwas anderes: Es ist zwar richtig, dass der Bund seine eigenen Institutionen und die Sozialleistungsträger zur Barrierefreiheit verpflichtet, aber die Menschen nutzen nun einmal im Alltag private Geschäfte, Gaststätten, Kinos und Arztpraxen viel häufiger als Bundesministerien und -behörden. Ich glaube, Frau Mascher hat recht. Die meisten Menschen gehen im Alltag viel häufiger in Restaurants oder zur Arbeitsstätte statt zur Rentenversicherung, zur Agentur für Arbeit etc. etc. Verbesserungen auf Behördenebene können ein Anfang sein. Sie tun aber so, als ob das die Lösung wäre. Das ist es aber nicht. Deswegen fordern wir Sie auf: Tun Sie etwas für alle 7,5 Millionen Menschen mit schweren Behinderungen mit Blick auf ihren Alltag und nicht nur mit Blick auf die Bundesbehörden! Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Uwe Schummer (CDU/CSU): Ich möchte zum Kern Ihrer Frage zurückkehren. Ich habe natürlich die Rede und die sieben Punkte sehr aufmerksam verfolgt. Diese sieben Punkte betrafen erstens die Inklusion und zweitens das Bundesteilhabegesetz. Das Bundesteilhabegesetz werden wir im zweiten Halbjahr im Plenum beraten. Dazu hat sich die Behindertenbeauftragte geäußert. Das können Sie gerne nachlesen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das war inhaltlich dasselbe!) Wichtig ist, dass die Kompetenzen für Barrierefreiheit gestärkt werden und dass das Behindertengleichstellungsgesetz kein Inselgesetz ist. Wie Frau Bundesministerin eben dargestellt hat, haben wir bereits Vorleistungen erbracht, beispielsweise die Sonderförderung für Integrationsunternehmen. Wir haben beispielsweise für altersgerechtes und behindertengerechtes Bauen auch KfW-Programme mit einem Volumen von weit über 1 Milliarde Euro aufgelegt, um Barrierefreiheit finanziell zu unterstützen. Wir haben barrierefreie Innenstädte. Für die Städtebauförderung werden jedes Jahr 700 Millionen Euro mobilisiert. Wir haben das Konjunkturprogramm für Kommunen mit 3,5 Milliarden Euro aufgelegt, mit denen Barrierefreiheit finanziert werden kann. Wichtig ist aber, dass wir auch die Kompetenzen in Bezug auf die Barrierefreiheit stärken. Wir haben – auch das ist wichtig – eine Berichterstattung über die Bundeseinrichtungen zur Barrierefreiheit auch in der Kommunikation miteinander vereinbart und entsprechende Zielvereinbarungen getroffen. Dies werden wir auch von den Privaten erwarten und fordern, wenn der Bund seine Hausaufgaben erledigt hat. Es hat sich gezeigt, dass Zielvereinbarungen wirken. Ich habe Medienanstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks angeschrieben, mit denen 2011eine Zielvereinbarung mit den Behindertenverbänden zur kommunikativen Barrierefreiheit getroffen worden ist. Mir wurde mitgeteilt, dass aufgrund dieser Zielvereinbarung mittlerweile bei der ARD 95 Prozent und beim ZDF 71 Prozent der Sendungen entsprechend untertitelt sind und dass es auch eine akustische Bildbeschreibung gibt, und zwar jeweils bei 42 bzw. 44 Prozent der Sendungen. Aber es ist ein Fehler – deshalb habe ich heute das Bundestagspräsidium angeschrieben –, dass das Bundestagsfernsehen nicht barrierefrei sendet. Wir brauchen eine generelle Regelung, die vorsieht, dass auch Debatten nach der Kernzeit um 13 Uhr barrierefrei zu übertragen sind. Das erwarte ich vom Deutschen Bundestag. Nichts ist überzeugender als das gute Beispiel. (Beifall im ganzen Hause) Wir müssen eine Bundesfachstelle für Barrierefreiheit einrichten, damit sich Kommunen und Private informieren können, wenn sie ihre Zuwege barrierefrei ausbauen wollen. Diese Kompetenzstelle, die wir nun schaffen, wird es ermöglichen, europäische Konzepte und Modelle zu transportieren, aufgrund derer wir unsere Kommunen und Privatunternehmen beraten können. Wir wollen mit einem weiteren Gesetz die Schwerbehindertenvertretungen im innerbetrieblichen und privaten Raum stärken. Sie sollen mehr Zeit und Freistellungen bekommen, damit sie die Barrierefreiheit in Unternehmen organisieren können. Die arbeitsteilige Organisation der Unternehmen ist ein weiterer Aspekt, den wir vorantreiben werden. Angesichts der Tatsache, dass 80 000 Menschen auf Gebärdensprache angewiesen sind und dass es nur rund 700 Gebärdendolmetscher gibt, brauchen wir die Zusammenarbeit mit den Ländern. Beispielsweise muss Gebärdensprache als freiwilliges Wahlfach an Schulen, Hochschulen und Volkshochschulen angeboten werden, damit das Interesse an dieser Grundsprache zunimmt. Aber nicht nur an den Schulen, sondern auch in den Betrieben müssen wir Kompetenzstellen schaffen. Wir wollen zudem komplizierte Bescheide der Bundesbehörden in leichter Sprache erläutern. Das ist ein wichtiger Ansatz, und zwar nicht nur für lernbehinderte Menschen und Menschen mit seelischer und psychischer Beeinträchtigung. Vielmehr geht es in der Perspektive darum, die Behörden so kompetent zu machen, dass sie für alle Bürger, die eine Anfrage haben, da sein können. Wir dürfen nicht vergessen, dass es in Deutschland auch 7,5 Millionen strukturelle Analphabeten gibt, die jahrzehntelange nicht gelesen haben und für die Bescheide in leichter Sprache hilfreich sind. Aber die entsprechende Kompetenz muss erst aufgebaut werden. Ich selber bin Landesvorsitzender der Lebenshilfe in Nordrhein-Westfalen. Wir erhalten regelmäßig Anfragen, ob wir mit unserem Potenzial die leichte Sprache auf Kreisebene und kommunaler Ebene stärker unterstützen können. Wir haben aber die entsprechenden Kompetenzzentren nicht. Wir müssen sie erst schaffen. Wenn wir sie aufgebaut haben, dann muss der nächste Schritt sein, die entsprechenden Kompetenzen verstärkt in den privaten und den wirtschaftlichen Raum zu transportieren. Aber wir müssen die Kompetenzen mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzentwurfs erst aufbauen, um den nächsten Schritt gehen zu können. Das Merkzeichen für Taubblinde, das endlich zwischen Bund und Ländern vereinbart wurde, ist ebenfalls ein wichtiger Punkt, den wir nun umsetzen werden. Wir setzen Anreize durch Gelder und eine verbesserte Kompetenz in der Barrierefreiheit. Wer das alles ablehnt, lehnt Verbesserungen für die betroffenen Menschen ab. Deshalb plädiere ich dafür, diesen Verbesserungen zuzustimmen und den nächsten Schritt zu gehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention kann man nicht einfach einen Kippschalter umlegen, und dann ist alles schön. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess, der zwar Jahre dauert, aber in die richtige Richtung geht. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Herr Kollege Schummer, das Präsidium des Bundestages hat selbstverständlich entschieden, dass wir generell barrierefrei werden. Wir haben schon begonnen. Aber bei dem, was Sie angesprochen haben, gibt es nach den europäischen Richtlinien ein großes Ausschreibungsverfahren. So lange wollten wir aber nicht warten. Wir wollten die Menschen zumindest in einem kleinen Bereich, also während der Hauptdebattenzeiten, teilhaben lassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist die Kollegin Corinna Rüffer. Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Herr Schummer, Sie sagen immer so viele richtige und wichtige Sachen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber ich frage mich, warum Sie es nicht tun. Sie haben hier im Bundestag rund 80 Prozent der Mandate hinter sich. Dann machen Sie doch etwas, damit wir sehen, dass Sie nicht nur Sonntagsreden halten, sondern Ihren Worten auch Taten folgen lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Seit einer Woche protestieren Menschen mit Behinderung zu Tausenden überall in Berlin: vor dem Kanzleramt, vor dem Brandenburger Tor, vor dem Ministerium für Arbeit und Soziales sowie vor den Parteizentralen der Union und der SPD. Seit gestern verharren ganz viele Menschen teilweise angekettet draußen vor den Grundgesetztafeln am Reichstagsufer. Dazu kann man sagen, dass dieser Ort nicht zufällig ausgewählt wurde; vielmehr hat dieser Ort Symbolkraft. Vor 22 Jahren wurde der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ in Artikel 3 des Grundgesetzes aufgenommen. Die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes musste damals hart erstritten werden und gilt bis heute als größter Erfolg der deutschen Behindertenbewegung. Das war wirklich ein großer Erfolg. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Gestern hörte ich von Sigmar Gabriel beim Jahresempfang von Verena Bentele folgende Worte. Sinngemäß sagte er zu Menschen mit Behinderung: Willkommen in der Realität. Ihr seid jetzt genauso im Verteilungskampf wie alle anderen. – Herzlichen Glückwunsch, wenn das als Erfolg bezeichnet wird. Herr Gabriel macht eines deutlich: Er macht deutlich, dass er leider keine Ahnung vom Thema hat; denn Menschen mit Behinderung haben noch nie irgendetwas in diesem Land geschenkt bekommen, sondern sie haben sich alle Rechte, die sie heute haben, hart erstritten, in harten Auseinandersetzungen errungen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das hat sich leider auch nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention – 2009 war das; seitdem ist das auch geltendes Recht in Deutschland – überhaupt nicht verändert. Das BGG, das Sie, die Große Koalition, heute verabschieden wollen, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Werden!) gilt unter Menschen mit Behinderung als Lackmustest für ein noch größeres und vielleicht wichtigeres Vorhaben, nämlich das Bundesteilhabegesetz. Das Versprechen steht nach wie vor im Raum, dass die sogenannte Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem herausgelöst und in ein echtes, modernes Teilhaberecht transformiert werden soll. Der Referentenentwurf liegt mittlerweile vor, aber wir vermuten leider alle nichts Gutes. Wir werden in den nächsten Monaten noch häufiger darauf zu sprechen kommen. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Sie haben ihn nicht verstanden!) Als das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen im Jahr 2002 geschaffen wurde, setzte es Maßstäbe bei der Umsetzung des Benachteiligungsverbots im öffentlich-rechtlichen Bereich. Viele Gebäude staatlicher Einrichtungen sind in den letzten Jahren barrierefrei gebaut oder umgebaut worden. Die Bundesministerien und Behörden bemühen sich auch um Barrierefreiheit ihrer Internetseiten. Das gilt auch für die Internetseite des Bundestages. Die deutsche Gebärdensprache wird nach ihrer staatlichen Anerkennung endlich zunehmend als selbstverständliche Form der Kommunikation wahrgenommen. Ich wollte das noch einmal deutlich machen. Aber wir haben jetzt 14 Jahre später. Sie hätten jetzt die Möglichkeit, einen neuen Meilenstein zu setzen, und Sie müssten das auch tun. Stattdessen legen Sie ein Gesetz vor, das absolut mutlos ist und von den Fachverbänden – ich wiederhole das – wie folgt beurteilt wird. Sie stellen fest – ich zitiere –: … dass durch den Einbau vieler Finanzierungsvorbehalte und unbestimmter Rechtsbegriffe, Soll-Vorschriften und Einschränkungen das Gesetz eher eine Absichtserklärung geworden ist als ein Gesetz, das aus Sicht der Menschen mit Behinderung konkrete Ansprüche samt Rechtsfolgen schafft. Das ist peinlich. Daran ändern übrigens auch die Kleinigkeiten nichts, die Sie uns seit unserem letzten Zusammentreffen hier vorgelegt haben. Schon die Mutlosigkeit im Bereich der öffentlichen Gewalt ist ziemlich ärgerlich, muss man sagen. Aber das größere Ärgernis, das Hauptärgernis, der Elefant im Raum, der dicke Hund, besteht weiterhin darin, dass Sie sich scheuen, die Privatwirtschaft in die Pflicht zu nehmen. Barrierefreiheit ist doch tatsächlich kein Thema, das ernsthaft auf Einrichtungen des Bundes beschränkt werden darf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Die Leute verbringen eben nicht den größten Teil ihres Lebens auf den Homepages irgendeines Bundesministeriums oder der Bundesagentur für Arbeit; sie wollen wie jeder andere auch ganz normale Dinge tun, die man halt so macht: von A nach B gelangen, ohne immer wieder vor kaputten Aufzügen in irgendwelchen U- oder S-Bahnhöfen zu stehen, sie wollen online shoppen gehen, danach wollen sie ins Kino oder was auch immer. Warum sollte das hierzulande nicht möglich sein, was in den USA oder in Österreich schon lange gang und gäbe ist? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das ist in den USA seit 1973 der Fall. Wenn man mit Leuten aus den USA spricht, dann lachen die sich tot. Wir sind so rückständig, Jahrzehnte hinterher. Dabei haben wir doch alle ein Interesse daran, dass die Infrastruktur das Leben erleichtert für Alte, Gehörlose, Kinderwagen Schiebende, Rolli Fahrende, schwere Tüten Schleppende, Liebhaber leichter Sprache, Fahrrad Fahrende und auch Blinde. In einer Gesellschaft, in der die Menschen immer älter werden, wird das natürlich auch immer wichtiger. Wir, die Linke und auch wir Grüne, machen einen realistischen Vorschlag, wie man zukünftig auch private Anbieter zu mehr Barrierefreiheit verpflichten kann. Barrierefreiheit würde sehr vielen Menschen mehr Teilhabe ermöglichen, und zugleich – auch das sollte man sagen – wollen wir natürlich auch kleine und mittlere Unternehmen nicht unter Druck setzen; aber das ist auch problemlos möglich. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Rüffer, denken Sie an die Zeit. Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss. Bitte geben Sie sich alle zusammen einen Ruck, und machen Sie diesen Tag zu einem historischen für sehr viele Menschen. Überraschen Sie uns. Das wäre eine gute Nachricht. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Tack, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Kerstin Tack (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde, heute ist ein guter Tag für die Menschen mit Behinderung, die genau von dem profitieren, was wir heute für den Bereich des öffentlichen Rechts, also den Bereich in Zuständigkeit der Bundesbehörden und der Landesbehörden, die Bundesgesetz umsetzen, verabschieden. (Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal etwas zu Herrn Gabriel!) Mitnichten ist das etwas für 10 Prozent der Menschen mit Behinderung. (Katrin Werner [DIE LINKE]: Das habe ich nicht gesagt!) Ich weiß nicht, auf welches schmale Brett Sie da gekommen sind. Ein Blick ins Gesetz würde Ihnen zeigen, dass wir die angemessenen Vorkehrungen neu in das Behindertengleichstellungsgesetz aufgenommen haben und damit die UN-Behindertenrechtskonvention in deutsches Recht umsetzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]) Natürlich trifft das für den Bereich zu, für den dieses Gesetz gilt: für die Bundesbehörden und für die Landesbehörden, die Bundesgesetz umsetzen. Das ist auch selbstverständlich. (Katrin Werner [DIE LINKE]: Wo halten sich die Menschen denn am meisten auf?) Jetzt legen Sie hier einen Antrag vor, in dem gefordert wird: Jetzt, wo wir es mit diesem Gesetzesvorhaben zu tun haben, sollen auch in anderen Gesetzen Neuregelungen getroffen werden. – Wir möchten das Behindertengleichstellungsgesetz verändern, und zwar deutlich vorteilhaft. Das, was wir in diesen Gesetzentwurf hineingeschrieben haben, ist ein echter Fortschritt. Dass beispielsweise Erläuterungen von Bescheiden endlich in leichter Sprache verfasst werden und entsprechend zugänglich sind, ist ein Riesenschritt. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU]) Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, warum man sagen kann: Wir lehnen einen Gesetzentwurf ab, in dem steht, dass leichte Sprache für alle zugänglich wird. – Ich weiß nicht, warum man das ablehnt. Ich weiß auch nicht, warum man sagt: Angemessene Vorkehrungen finden wir blöd; das lehnen wir ab. (Widerspruch des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) – Nein, ihr lehnt das nicht ab, aber die anderen. Ihr sagt: Wir haben dazu gar keine Meinung. Wir enthalten uns. – Das ist ja auch eine tolle Meinung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie etwas zu Herrn Gabriel!) Mit der ebenfalls neu eingeführten Schlichtungsstelle schaffen wir es, dass diejenigen, die sich benachteiligt und diskriminiert fühlen, nicht sofort den Gang zum Gericht antreten müssen, was ja für viele eine echte Hürde ist. Vielmehr bauen wir Barrieren ab, indem wir sagen: Die Schlichtungsstelle ist ein echter Gewinn für jeden, der der Meinung ist, dass er in den Bundesbehörden noch stärkere Unterstützung braucht und dass er seine verbrieften Rechte nicht hat durchsetzen können. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig! Hauptgewinn!) Das ist gut so, und das ist richtig so. Wir freuen uns, dass wir damit auch die Funktion der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen stärken können; denn wir finden das richtig und wichtig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schlussendlich werden wir auch mit der Frage der Förderung der Partizipation für die Selbsthilfeorganisation – – (Volker Kauder [CDU/CSU]: Leichte Sprache! „Partizipation“?) – „Partizipation“ ist leichte Sprache. „Partizipation“ ist auch in Kreisen der leichten Sprache durchaus nachvollziehbar. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: „Beteiligung“ ist noch leichter als „Partizipation“!) – Genau. Die Beteiligung auch an politischen Prozessen wird für ganz viele ein echter Fortschritt sein, weil sie endlich auch finanziell unterstützt werden, auch in der Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen. Zu den Privaten will ich sagen – auch die SPD und die Ministerin haben es gesagt –: Natürlich wollen wir nicht nur Appelle an die Privaten richten, sie mögen sich doch bitte schön endlich barrierefreier aufstellen. Natürlich ist das nicht unsere Position, und natürlich sind wir der Meinung, dass man nach sehr langer Zeit der Vorstellungen, der Eigenverpflichtungen auch stärkere Klarheiten bringen muss. Deswegen – das haben wir auch in jeder unserer Stellungnahmen immer wieder gesagt – halten wir das Instrument des AGGs, in das das soll – das ist ja auch Forderung des Antrags, der heute vorliegt –, für hilfreich und finden es wichtig, dies im Rahmen der Novellierung des AGGs mit in den Mittelpunkt zu stellen. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann beantragen Sie das doch!) Aber wir sind heute nicht beim AGG. Das AGG ist in der Evaluation. (Birgit Wöllert [DIE LINKE]: „Evaluation“ ist keine leichte Sprache! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was heißt denn „AGG“?) Wir werden im Sommer dazu die Evaluationsergebnisse haben, und dann beginnt der Prozess. Dort gehört das hinein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich will sehr deutlich sagen: Wir haben schon die Erwartungshaltung, dass wir im Zusammenhang mit diesem Gesetz auch mit dem Koalitionspartner über genau diese Frage reden können. Denn wir glauben, dass wir über einen Zeitplan reden müssen, wann wir auch in der Wirtschaft über Barrierefreiheit verfügen. Da brauchen wir in Deutschland, denke ich, dringend eine Regelung, die das auch vorsieht. Da sind wir gern dabei, wenn wir über das Gesetz reden, in das wir das gern hineinverhandeln möchten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD – Unruhe) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Kerstin Tack hat ja eine sehr kräftige Stimme. Aber denken Sie alle einmal daran, wie es ist, wenn Sie der letzte Redner oder die letzte Rednerin vor einer namentlichen Abstimmung sind: Alle müssen sich bewegen, weil sie ihre Stimmkarten holen müssen. Dann wird es im Saal halt etwas laut. Bitte versuchen Sie, das so geräuschlos wie möglich zu machen, sodass auch die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein von der CDU/CSU-Fraktion jetzt noch Ihre volle Aufmerksamkeit genießen kann. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Vielen Dank, Frau Präsidentin, für den freundlichen Appell. – Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wissen Sie, Frau Rüffer, Frau Werner, hier beharrlich so zu tun, als würde sich der Deutsche Bundestag aufteilen in jene, die etwas für Menschen mit Behinderung tun wollen, und jene, die nichts für Menschen mit Behinderung tun wollen, ist nicht in Ordnung. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das hat keiner gesagt! Zu wenig! – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann beweisen Sie das doch!) Wir alle, die wir hier sitzen, haben ein gemeinsames Ziel, (Unruhe) nämlich, dass unsere Gesellschaft barrierefreier und irgendwann vielleicht barrierefrei wird. (Glocke der Präsidentin) – Oh, das wirkt aber klasse. (Heiterkeit) – Eine Barriere für mich tatsächlich weniger, wenn es hier ruhiger ist. Die Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts, die wir heute verabschieden werden, ist ein guter, ein großer und ein wichtiger Schritt vorwärts – das haben auch meine Vorrednerinnen und Vorredner schon beschrieben –, weil wir als Bund mit gutem Beispiel vorangehen. Das hat auch die Anhörung so gezeigt. Wir wissen auch, dass viele Fachverbände noch nicht ganz zufrieden sind. Die Forderungen, die manche von ihnen aufstellen, sind Barrierefreiheit für alle, Barrierefreiheit sofort und Barrierefreiheit für jeden. Wenn sie dazu eine Umfrage starten würden, dann hätten sie vermutlich eine Zustimmung von 90 Prozent. Ich sage Ihnen aber auch, dass vermutlich 90 Prozent nicht genau wüssten, was Barrierefreiheit so richtig bedeutet. Es bedeutet nämlich eben nicht nur, dass ich ebenerdig in ein Gebäude komme, es bedeutet auch, dass sich sehbehinderte, gehörlose, geistig und seelisch behinderte Menschen sämtliche Anlagen, Verkehrsmittel, Medien ohne fremde Hilfe erschließen können. Das Ideal der Barrierefreiheit ist ausgesprochen weitreichend. So ist es denn auch kein Wunder, dass es in Bayern gerade einmal zwei Arztpraxen gibt, die als barrierefrei gelten. Das kann man kaum glauben, aber es stimmt. Denn in einer völlig barrierefreien Arztpraxis würden schon die Arzthelferinnen und nicht nur der Arzt die leichte Sprache beherrschen, da würde die Klingel an der Eingangstür sprechen können, es würde auf die Befindlichkeit psychisch Behinderter schon bei der Begrüßung Rücksicht genommen werden, es würde die Umgebung in kontrastreichen Farben gestaltet sein, und es würde Hebevorrichtungen geben, damit der körperlich Behinderte auf die Liege kommt und wieder zurück. Das wäre barrierefrei. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Freudenstein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth? Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Ja, bitte. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Frau Präsidentin, und vor allem Frau Freudenstein, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade eindrucksvoll geschildert, dass in Bayern nur zwei Arztpraxen barrierefrei sind. In anderen Bundesländern dürfte das nicht besser sein. Da frage ich mich allerdings: Warum stimmen Sie dann unseren Änderungsanträgen nicht zu? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Vor allen Dingen: Inwiefern ist Ihres Erachtens die Situation hier denn anders als in den USA? In den USA ist es seit den 70er-Jahren für die Privatwirtschaft verbindlich, angemessene Vorkehrungen für Zugänglichkeit und Barrierefreiheit zu schaffen. Dort ist die Wirtschaft nicht zugrunde gegangen; im Gegenteil. Wissen Sie, warum in den USA Barrierefreiheit und Zugänglichkeit so wichtig sind? Weil in den USA argumentiert wird: Auch für Menschen mit Beeinträchtigungen muss der Marktzugang, der Zugang zu allen Rechtsgeschäften, zu allen öffentlichen Geschäften, möglich sein. – Das ist die Argumentation in den USA, und dort wird die Wirtschaft nicht überfordert. Ich frage Sie gerade angesichts dieses drastischen Beispiels aus der Gesundheitswirtschaft, die nicht barrierefrei ist: Warum nutzen Sie gleich mutmaßlich nicht die Gelegenheit, hier an einer Stelle den Knoten durchzuschlagen und unseren Anträgen zuzustimmen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Herr Kollege Kurth, vielen Dank für Ihre Frage. – Sie haben ein bisschen Pech. Ich kenne die USA auch ganz gut. Wenn Sie meinen, dass die Barrierefreiheit in den USA daher rührt, dass es dort schon früh ein Bewusstsein für Inklusion gegeben hat, das es so bei uns nicht gibt, muss ich Ihnen sagen: Das ist nicht der Fall. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissenschaftlich nachgewiesen!) Die Barrierefreiheit in den USA rührt maßgeblich daher, dass man sich dort sehr stark um Kriegsveteranen kümmert, und zwar seit Jahrzehnten, und sie ausgesprochen fürsorglich behandelt – aus einer gewissen Verehrung von Militär und Kriegern in den USA heraus. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich weiß nicht, ob das für die Herangehensweise ganz grundsätzlich ist, aber es gibt in den USA keine mittelalterlichen Städte, und es war schon immer genug Platz da. Ich kann Ihnen eines sagen: Bauliche Barrierefreiheit (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Angemessene!) führt zumindest in den USA nicht dazu, dass auch die Inklusion in den Köpfen weitergeht. In den USA sind deutlich mehr Menschen mit Behinderung erwerbslos als in Deutschland. Es ist zweitens so, dass die USA zumindest beweisen, dass man die UN-Behindertenrechtskonvention, die man hier für alles und jedes um die Ohren gehauen bekommt, nicht braucht, um die Inklusion voranzutreiben. Die USA haben die UN-Behindertenrechtskonvention bis heute nicht ratifiziert. – Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch alles kein Argument!) Behinderung ist nicht gleich Behinderung. Das macht das Thema der Barrierefreiheit so schwierig. Wo ein Rollstuhlfahrer vielleicht einen leichten Zugang hat, tut sich ein Sehbehinderter schwer. Wo ein Gehörloser ganz gut zurechtkommt, ist es vielleicht für einen psychisch Behinderten mühsam. Die Barrierefreiheit, so wie sie in Fachkreisen definiert wird, ist fast schon ein Ideal, das wohl kaum in greifbarer Nähe ist. Aus dieser Einsicht kann man zwei Schlüsse ziehen. Entweder beklagt man den miserablen Zustand in unserem Land, geißelt sich selbst und beklagt beharrlich, dass Politik, Wirtschaft und Gesellschaft allgemein untätig und offenbar nicht willens sind, etwas für Menschen mit Behinderungen zu tun, oder man nähert sich, wie es von der Frau Ministerin schon beschrieben wurde, diesem Ideal Schritt für Schritt an. Das tun wir heute mit der Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsgesetzes. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Katrin Werner [DIE LINKE]: Bei dem Tempo brauchen Sie aber noch 100 Jahre!) Der Bund wird mit gutem Beispiel vorangehen. Er wird zeigen, wie es geht. Wir werden so nach und nach die überzeugen, die nicht verpflichtet sind. Ich weiß, dass es auch Kritiker auf den Plan ruft. Vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen heißt es zum Beispiel – ich zitiere wörtlich –: …immer treffen sie – gemeint sind behinderte Menschen – auf Barrieren, die von den Eigentümern oder Betreibern der Einrichtungen geschaffen wurden, für die sie häufig aber rechtlich nicht verantwortlich gemacht werden können. Juristen mag man diese Formulierung verzeihen. Ich sage Ihnen aber auch, dass eine solche Argumentation eine sachliche Diskussion schwierig macht. Sie glauben doch nicht wirklich, dass irgendwo in Deutschland Menschen sitzen, die nichts anderes im Kopf haben, als vor Cafés und Friseurläden Barrieren aufzubauen oder sich den lieben langen Tag zu überlegen, wie sie Menschen mit Behinderungen drangsalieren. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn ein Metzger sein Geschäft so umbaut, dass man ebenerdig hineinkommt, aber die Tür sich immer noch nicht automatisch öffnet, dann ist das trotzdem ein Fortschritt. Wenn im Museum eine Führung in leichter Sprache angeboten wird, dann ist das ein Fortschritt, auch wenn das Museum in einem mittelalterlichen Gebäude ist und ein Gehbehinderter sich schwertut. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich meine, dass wir dahin kommen müssen, die Fortschritte zu sehen und anzuerkennen, dass die Menschen sich durchaus bemühen, statt beharrlich die Defizite zu betonen. Ich lehne eine Verpflichtung zur Barrierefreiheit für die Privatwirtschaft ausdrücklich ab, weil sie nicht greifbar ist, nicht machbar ist, eben nicht realitätsnah ist. Ich will auch keine Strafen und keine rechtliche Verantwortung für den Bäcker, der seinen Laden in der Altstadt betreibt, obwohl der Zugang zum Gebäude nicht barrierefrei ist, (Unruhe – Glocke der Präsidentin) und ich sehe auch keinen Anlass, einen Hauseigentümer zu belangen, weil er seine Klingelanlage nicht mit einem Sprachmodus ausgestattet hat. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch gar nicht der Punkt!) Ich glaube, dass wir heute einen großen Schritt vorangehen. Ich glaube, dass dieses Gesetz vielen Menschen helfen wird. Deswegen ist es, glaube ich, ein gutes Gesetz, dem wir zustimmen sollten. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Wir sind damit am Ende der Aussprache. Ich rufe jetzt die Abstimmungen zu Tagesordnungspunkt 6 a auf. Zu diesem Tagesordnungspunkt liegt eine ganze Reihe persönlicher Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1 Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8428, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/7824 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8432 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wir stimmen nun über den Änderungsantrag auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab. Eine weitere namentliche Abstimmung folgt dann einige Minuten später nach einer kurzen Unterbrechung und dann zwei einfache Abstimmungen. Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung über den Änderungsantrag. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte noch nicht abgeben hat? – Dann bitte ich, die Stimmkarte schnell abzugeben. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. (Unterbrechung von 14.55 bis 15.01 Uhr) Vizepräsidentin Petra Pau: Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Bevor ich jetzt das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt gebe, mache ich Sie darauf aufmerksam, dass wir vor der nächsten namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf abstimmen. Nach ständiger Übung tun wir das zumindest bei der dritten Lesung, indem wir uns entsprechend unserem Votum erheben. Bei der derzeitigen Anordnung hier bezweifle ich, dass das Präsidium nachher das Abstimmungsverhalten zum Gesetzentwurf zweifelsfrei feststellen kann. Ich bitte Sie also, sich in die Reihen Ihrer Fraktionen zu begeben. – Ich bitte die Fraktionen, diese Botschaft zu übermitteln. Wir werden über den Gesetzentwurf nur dann abstimmen können, wenn das Präsidium das Ergebnis der Abstimmung über den Gesetzentwurf in dritter Lesung zweifelsfrei feststellen kann. In der Zwischenzeit gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der ersten namentlichen Abstimmung bekannt: abgegebene Stimmen 573. Mit Ja haben 121 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein stimmten 451 Kolleginnen und Kollegen, und 1 Kollege oder 1 Kollegin hat sich enthalten. Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 573; davon ja: 121 nein: 451 enthalten: 1 Ja DIE LINKE Jan van Aken Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Annette Groth Dr. André Hahn Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Andrej Hunko Sigrid Hupach Ulla Jelpke Susanna Karawanskij Kerstin Kassner Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Birgit Menz Cornelia Möhring Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Petra Pau Harald Petzold (Havelland) Richard Pitterle Martina Renner Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Dr. Kirsten Tackmann Azize Tank Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Birgit Wöllert Jörn Wunderlich Hubertus Zdebel Pia Zimmermann Sabine Zimmermann (Zwickau) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Kerstin Andreae Annalena Baerbock Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Agnieszka Brugger Ekin Deligöz Katja Dörner Katharina Dröge Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Matthias Gastel Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Britta Haßelmann Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Dieter Janecek Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Stephan Kühn (Dresden) Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Peter Meiwald Irene Mihalic Beate Müller-Gemmeke Özcan Mutlu Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Corinna Rüffer Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Ulle Schauws Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Kordula Schulz-Asche Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Dr. Julia Verlinden Doris Wagner Beate Walter-Rosenheimer Dr. Valerie Wilms Nein CDU/CSU Stephan Albani Katrin Albsteiger Artur Auernhammer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Sybille Benning Dr. André Berghegger Dr. Christoph Bergner Ute Bertram Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexandra Dinges-Dierig Alexander Dobrindt Michael Donth Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Iris Eberl Jutta Eckenbach Dr. Bernd Fabritius Hermann Färber Uwe Feiler Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Klaus-Peter Flosbach Thorsten Frei Dr. Astrid Freudenstein Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Cemile Giousouf Josef Göppel Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Dr. Herlind Gundelach Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Stefan Heck Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Uda Heller Jörg Hellmuth Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Dr. Heribert Hirte Christian Hirte Alexander Hoffmann Thorsten Hoffmann (Dortmund) Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Dr. Hendrik Hoppenstedt Margaret Horb Anette Hübinger Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Sylvia Jörrißen Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung Xaver Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Steffen Kanitz Alois Karl Anja Karliczek Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Jürgen Klimke Jens Koeppen Markus Koob Kordula Kovac Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Roy Kühne Günter Lach Uwe Lagosky Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Barbara Lanzinger Dr. Silke Launert Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Philipp Lengsfeld Dr. Andreas Lenz Dr. Ursula von der Leyen Antje Lezius Ingbert Liebing Matthias Lietz Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Wilfried Lorenz Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. Jan-Marco Luczak Karin Maag Yvonne Magwas Thomas Mahlberg Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Reiner Meier Dr. Michael Meister Jan Metzler Maria Michalk Dr. h.c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Marlene Mortler Volker Mosblech Elisabeth Motschmann Dr. Gerd Müller Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Dr. Andreas Nick Michaela Noll Helmut Nowak Dr. Georg Nüßlein Julia Obermeier Wilfried Oellers Florian Oßner Dr. Tim Ostermann Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Martin Pätzold Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Erwin Rüddel Albert Rupprecht Anita Schäfer (Saalstadt) Andreas Scheuer Karl Schiewerling Jana Schimke Norbert Schindler Tankred Schipanski Heiko Schmelzle Christian Schmidt (Fürth) Gabriele Schmidt (Ühlingen) Ronja Schmitt Patrick Schnieder Dr. Ole Schröder Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Christina Schwarzer Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Tino Sorge Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Peter Stein Erika Steinbach Sebastian Steineke Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Rita Stockhofe Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Matthäus Strebl Karin Strenz Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Sabine Sütterlin-Waack Antje Tillmann Astrid Timmermann-Fechter Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Oswin Veith Thomas Viesehon Michael Vietz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sven Volmering Christel Voßbeck-Kayser Kees de Vries Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Albert Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Marian Wendt Waldemar Westermayer Kai Whittaker Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Dagmar G. Wöhrl Barbara Woltmann Tobias Zech Heinrich Zertik Emmi Zeulner Dr. Matthias Zimmer Gudrun Zollner SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heike Baehrens Ulrike Bahr Heinz-Joachim Barchmann Dr. Katarina Barley Doris Barnett Klaus Barthel Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Burkhard Blienert Willi Brase Dr. Karl-Heinz Brunner Marco Bülow Martin Burkert Dr. Lars Castellucci Petra Crone Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Sabine Dittmar Elvira Drobinski-Weiß Michaela Engelmeier Dr. h.c. Gernot Erler Petra Ernstberger Saskia Esken Karin Evers-Meyer Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Dr. Ute Finckh-Krämer Christian Flisek Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Angelika Glöckner Ulrike Gottschalck Kerstin Griese Gabriele Groneberg Michael Groß Uli Grötsch Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Ulrich Hampel Sebastian Hartmann Michael Hartmann (Wackernheim) Dirk Heidenblut Marcus Held Wolfgang Hellmich Heidtrud Henn Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Thomas Hitschler Dr. Eva Högl Matthias Ilgen Christina Jantz-Herrmann Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Ulrich Kelber Marina Kermer Cansel Kiziltepe Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Birgit Kömpel Anette Kramme Dr. Hans-Ulrich Krüger Helga Kühn-Mengel Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Hiltrud Lotze Kirsten Lühmann Dr. Birgit Malecha-Nissen Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Bettina Müller Detlef Müller (Chemnitz) Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Ulli Nissen Thomas Oppermann Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Christian Petry Detlev Pilger Sabine Poschmann Joachim Poß Florian Post Achim Post (Minden) Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Martin Rabanus Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Andreas Rimkus Sönke Rix Petra Rode-Bosse Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Susann Rüthrich Bernd Rützel Sarah Ryglewski Annette Sawade Dr. Hans-Joachim Schabedoth Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Dorothee Schlegel Ulla Schmidt (Aachen) Matthias Schmidt (Berlin) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Elfi Scho-Antwerpes Ursula Schulte Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Norbert Spinrath Svenja Stadler Martina Stamm-Fibich Sonja Steffen Peer Steinbrück Christoph Strässer Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Carsten Träger Ute Vogt Dirk Vöpel Gabi Weber Dirk Wiese Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Gülistan Yüksel Dagmar Ziegler Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann Manfred Zöllmer Enthalten CDU/CSU Hubert Hüppe Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/7824 in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ein ganz großer Block bei der CDU/CSU, Frau Präsidentin!) – Ja, wir haben dieses Phänomen quer durch alle Fraktionen. Es haben auch Mitglieder der Fraktion Die Linke gerade dem Gesetzentwurf durch Stehen zugestimmt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Also werden wir hier gleich ein sehr differenziertes Abstimmungsergebnis feststellen. Das gilt auch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Um hier keine Verwirrung aufkommen zu lassen, bitte ich Sie, Platz zu nehmen. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass es Sondersitzungen in allen Fraktionen des Hauses gibt. Ich wiederhole die Abstimmung und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Jetzt bitte ich diejenigen, die in dritter Lesung gegen den Gesetzentwurf stimmen wollen, sich zu erheben. – Nun bitte ich diejenigen, die sich enthalten wollen, sich zu erheben. – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen, wobei wir hier im Präsidium festgestellt haben, dass sich zu jedem dieser Voten einzelne Abgeordnete aus den Fraktionen anders verhalten haben. Aber die Mehrheiten sind im Präsidium unstrittig. Damit kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/8433. Die Fraktion Die Linke verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze einzunehmen. – Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer am Platz? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung über den Entschließungsantrag. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgeben konnte? – Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2 Ich bitte Sie, zügig Ihre Plätze einzunehmen. Wir fahren nämlich gleich mit weiteren Abstimmungen zu diesem Tagesordnungspunkt fort. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 18/8428 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/7874 mit dem Titel „Eine halb barrierefreie Gesellschaft reicht nicht aus – Privatwirtschaft zu Barrierefreiheit verpflichten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/7877 mit dem Titel „Behindertengleichstellungsrecht mutig weiterentwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Drohende Streckenstilllegungen verhindern – Keine Kürzung bei Regionalisierungsmitteln in Ostdeutschland Drucksache 18/8392 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Drohende Streckenstilllegungen verhindern – Regionalisierungsmittel erhöhen Drucksachen 18/8074, 18/8362 Über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Caren Lay (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In vielen ostdeutschen Ländern sind die Menschen beunruhigt. Sie fürchten die Stilllegung, die Abbestellung ihrer Bahnstrecken oder zumindest die Ausdünnung des Bahnverkehrs; denn angesichts zu wenig in Aussicht gestellter Fördergelder, insbesondere für die ostdeutschen Länder, warnt zum Beispiel der Verkehrsverbund Oberlausitz-Niederschlesien vor einem Streckenkahlschlag in Sachsen. Allein dort sind fünf wichtige Strecken von der Stilllegung bedroht: von Döbeln nach Meißen, von Pirna nach Sebnitz, von Chemnitz nach Elsterwerda usw. usf. Auch in anderen ostdeutschen Ländern gibt es diese Befürchtung. In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise ist die Strecke von Güstrow nach Pasewalk zwischen Malchow und Waren im Gespräch. An mancher Stelle wird es dann regelrecht absurd. Die Strecke von Cottbus über Hoyerswerda nach Görlitz – Experten als Niederschlesische Magistrale bekannt – soll laut Bundesverkehrswegeplan nach allen Regeln der Kunst ausgebaut werden, und zwar zweigleisig, elektrifiziert und mit komplettem Lärmschutz, aber nur für den Güterverkehr. Dem Personenverkehr auf der gleichen Strecke droht das Aus. Da fassen sich die Leute in meinem Wahlkreis an den Kopf, und das zu Recht. (Beifall bei der LINKEN) Selbst in den ostdeutschen Metropolregionen sind Strecken nicht mehr sicher. In Dresden beispielsweise wird befürchtet, dass der langjährig geplante 15-Minuten-Takt für die S-Bahn in Gefahr ist. Das ist unsinnig und inakzeptabel. Eine weitere Ausdünnung des Schienennetzes darf es nicht geben. (Beifall bei der LINKEN) Ein gutes Schienennetz ist nicht nur wichtig für die Fahrgäste und für die Umwelt, sondern auch für die gesamte Region. Wenn eine Strecke nicht mehr befahren wird, wissen die Leute nicht mehr, wie sie zur Arbeit, zum Einkaufen oder zu den Ämtern kommen. Aber auch viele, die die Bahn nicht regelmäßig nutzen, sind sehr erzürnt über diese Pläne; denn sie haben das Gefühl: Wenn die Bahn nicht mehr fährt, dann wird meine Region komplett abgehängt. Das ist die Befürchtung vieler Menschen. Leider haben sie recht. Deswegen sagen wir als Linke ganz klar: Das Schienennetz gehört zur öffentlichen Infrastruktur und zur sozialen Daseinsfürsorge. Strukturschwache Regionen dürfen nicht noch weiter abgehängt werden. (Beifall bei der LINKEN) Am Ende ist es doch ein Teufelskreis: Weniger Bahnstrecken machen eine Region noch weniger attraktiv. Das Bahnfahren wird weniger attraktiv. Mehr Menschen steigen auf das Auto um. Am Ende gibt es dann weniger Fahrgäste, und das wird dann wieder als Argument genommen, um eine Strecke auszudünnen oder stillzulegen. Diesen absurden Teufelskreis müssen wir endlich durchbrechen. (Beifall bei der LINKEN) Der Grund für alle diese Befürchtungen ist die Vereinbarung zur Neuverteilung der sogenannten Regionalisierungsmittel, durch die der Bund den Nahverkehr auf den Schienen mitfinanziert. Pikant und interessant sind die Umstände dieser Vereinbarung. Verhandelt wurde sie nämlich außerhalb der Tagesordnung am Rande des sogenannten Flüchtlingsgipfels im September. Die Länder brauchten dringend finanzielle Hilfen. Da überrumpelte die Bundesregierung die Landesvertreter und machte mit wenigen Ministerpräsidenten im Hinterzimmer noch ein paar Nebenabsprachen. Insgesamt sollten die Länder dann nicht die 8,5 Milliarden Euro bekommen, die sie gefordert hatten, sondern nur 8 Milliarden Euro, und – das ist das Entscheidende – es soll eine Neuverteilung der Gelder geben, die am Ende zulasten der ostdeutschen Länder geht, also zulasten der Länder, die die geringste Finanzkraft haben. Das kann nun wirklich nicht sein. (Beifall bei der LINKEN) Der Bund überrumpelt die Länder. Jetzt sagt er: Die Länder sollen sich untereinander einigen. Wir finden, dass wir nicht zulassen dürfen, dass hier die Länder mit all ihren berechtigten Interessen gegeneinander ausgespielt werden. (Beifall bei der LINKEN) Ich bin übrigens froh, dass ein Bundesland diesem gesamten Paket, weder dem Asylpaket noch den damit verbundenen Finanzfragen, nicht zugestimmt hat. Das war Thüringen mit Bodo Ramelow. Es macht wirklich einen Unterschied, wenn die Linke regiert. (Beifall bei der LINKEN – Michael Donth [CDU/CSU]: Allerdings! – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Im besten Sinne. – Ihre Ministerpräsidenten – Gelächter von der CDU/CSU –, auch die aus den ostdeutschen Ländern, haben zugestimmt. Sie haben heute nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Verantwortung, diesen Fehler Ihrer Parteifreunde an dieser Stelle zu korrigieren. Der Fehler ist korrigierbar. Ich finde, das müssen wir heute tun. (Beifall bei der LINKEN) Mehr Geld für die Schiene, ja, das ist teuer. Wir reden hier über 500 Millionen Euro mehr. Ich finde, an diesem Geld kann und darf es am Ende nicht scheitern. Wir haben erhebliche Steuermehreinnahmen. An dieser Stelle wären die Gelder gut und sinnvoll eingesetzt. (Beifall bei der LINKEN) Meine Fraktion hat dies übrigens schon in den Haushaltsverhandlungen gefordert. Damals ist es an Ihrer Zustimmung gescheitert. Hätten Sie damals dem Antrag der Linken zugestimmt, dann hätten Sie dafür gesorgt, dass jetzt nicht so viele Menschen und Verkehrsverbünde beunruhigt sind. Sie hätten sich auch jede Menge Ärger erspart. Das war wirklich ein großer Fehler Ihrerseits. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, zu guter Letzt: Wenn wir den Weg, den wir heute vorschlagen, nicht gehen – es wäre allerdings am einfachsten und elegantesten, die Mittel so zu erhöhen, dass die ostdeutschen Länder nicht weniger bekommen, aber beispielsweise Nordrhein-Westfalen und andere westdeutsche Länder den geplanten Ausbau finanzieren können –, dann müssten wir uns darauf einigen – das wäre die zweitbeste Lösung –, dass die Länder zumindest nicht weniger bekommen als bisher. Das würde dann aber tatsächlich bedeuten, dass es beispielsweise mit dem in NRW geplanten Ausbau von Strecken nicht so schnell wie geplant vorangehen kann. Das wäre sehr schade. Insofern erhoffe ich mir heute nicht nur von den ostdeutschen Abgeordneten, sondern auch von den westdeutschen Abgeordneten Zustimmung zu unserem Antrag. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Lay, achten Sie bitte auf die Zeit. Caren Lay (DIE LINKE): Das werde ich tun, Frau Präsidentin. – Wir müssen alles daransetzen, dass keine weiteren Strecken stillgelegt oder ausgedünnt werden, nicht in Ostdeutschland und nicht in anderen Ländern und strukturschwachen Regionen. Bitte stimmen Sie für unseren Antrag. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Michael Donth für die Fraktion der CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Michael Donth (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe mir die Protokolle und Verläufe der Sitzungen, die mit den heutigen Anträgen der Linken im Zusammenhang stehen, im Vorfeld angeschaut. Da kann man sich nur wundern. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ach ja? Warum?) Es gab im vergangenen Herbst eine Einigung zwischen dem Bund und den Ländern, in welcher Höhe und mit welcher jährlichen Dynamisierungsrate die Regionalisierungsmittel ab dem Jahr 2016 fortgeführt werden sollen. Zur Verteilung der Mittel auf die Länder gab es allerdings unterschiedliche Ansichten; diese sollte in einer gesonderten Verordnung des Bundes mit Zustimmung der Länder geregelt werden. Dann: Stille. Jetzt, ein halbes Jahr später, taucht die Linke mit diesem Antrag und vor allem mit einer Art Legendenbildung auf; wir haben es gerade nochmals gehört. Nach Ihrer Erzählung sollen die Ministerpräsidenten am Abend des 24. September 2015 am Rande der Beratungen zum Asylpaket von der Bundesregierung mit dem Kompromissvorschlag zu den Regionalisierungsmitteln, wie Sie schreiben und auch gesagt haben, überrumpelt worden sein. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Lay [DIE LINKE]: So war es auch!) Bei diesem vermeintlichen Coup sollen nur vier Ministerpräsidenten anwesend gewesen sein, die dann – völlig überrascht – auch noch zugestimmt hätten. Oder in Ihrer Lesart – ich sage es einmal so –: Die Ministerpräsidenten wussten nicht, was sie tun. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Genau!) Ich war nicht dabei; Frau Lay, ich nehme an, Sie auch nicht. Deshalb ist das alles ein Stück weit Spekulation. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Protokolliert ist dieser behauptete Hergang der Einigung jedenfalls so nicht. Protokolliert ist aber, dass sich am 16. Oktober 2015, drei Wochen später, der Bundesrat der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses angeschlossen hat, der gleichlautend mit besagter Einigung vom 24. September 2015 war. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Donth, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Leidig? Michael Donth (CDU/CSU): Nein, jetzt nicht; danke. (Zuruf der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) Warum? Haben die etwa schon wieder nicht aufgepasst? Nein, die wussten genau, was sie taten. Ich finde, ein Kompromiss in Höhe von 8 Milliarden Euro bei einer Forderung von 8,5 Milliarden Euro seitens der Länder und einem Status quo von 7,3 Milliarden Euro seitens des Bundes war ein großer Verhandlungserfolg der Länder, ebenso die Erhöhung der jährlichen Dynamisierungsrate auf 1,8 Prozent bei einer Forderung von 2 Prozent und einem Status quo von 1,5 Prozent. Denn bei einem Kompromiss geht normalerweise keine Seite mit 100 Prozent Erfolg als Sieger aus den Verhandlungen hervor. Das weiß jede schwäbische Hausfrau, und das wird Ihnen auch jeder Gewerkschaftsfunktionär aus seiner Erfahrung bestätigen. (Beifall bei der CDU/CSU) Darum haben wir Ihren ersten Antrag, der heute als TOP 8 b ansteht und in dem eine Aufkündigung des Kompromisses gefordert wird, bereits im Verkehrsausschuss abgelehnt. Offensichtlich sind Sie als Fraktion Die Linke von unseren Argumenten überzeugt worden. Deshalb haben Sie einen zweiten Antrag nachgereicht – Tagesordnungspunkt 8 a –, der besagt, dass jetzt nur noch der Verteilschlüssel angegriffen oder neu geregelt werden soll. (Caren Lay [DIE LINKE]: Was wollen Sie denn jetzt?) Die Verteilung der Regionalisierungsmittel soll in einer Verordnung des Bundes mit Zustimmung der Länder geregelt werden. Das haben wir hier im Gesetz übrigens ohne Gegenstimmen und bei Enthaltung der Linken so beschlossen. Daher macht es nur Sinn, dass sich die Länder auch untereinander auf einen Verteilmechanismus einigen, dem sie auch zustimmen können, bevor man ihn in einen Verordnungsentwurf gießt. Ebenso haben sie den eigentlich sehr praktikablen Kieler Schlüssel ganz ohne Mitarbeit des Bundes entwickelt. Nur leider können sich die Länder seit einem halben Jahr offensichtlich nicht darauf einigen. Dieser einstimmig beschlossene Kieler Schlüssel hat nämlich die geniale Struktur, dass die Länder, die nach dem alten Schlüssel unbestritten viel zu geringe Mittel erhalten haben, deutlich mehr bekommen, die Länder, die bislang überproportional bedient wurden, aber nicht weniger. Diese Rechnung geht allerdings nur auf, wenn die Länder dem Bund kräftig in die Tasche greifen und die Mittel auf mindestens 8,5 Milliarden Euro pro Jahr erhöht werden. Nachdem sich nun aber Bund und Länder auf 8 Milliarden Euro geeinigt haben, liegt nach meiner Auffassung der Ball eindeutig im Feld der Länder. (Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) Die Linke hält dazu allerdings die Bundesländer und ihre Regierungen offenbar nicht für fähig. In einem ersten Antrag unterstellen Sie den Ministerpräsidenten, sie wüssten nicht, was sie beschließen. Im zweiten Antrag unterstellen Sie, die Länder seien unfähig, die Situation zu lösen und zu einer Einigung über die Verteilung zu kommen. Deshalb soll nach Ihrem Antrag der Bund den Ländern noch einmal sagen, wo es langgeht. Sehen so Föderalismus und Subsidiarität aus? In meinen Augen nicht. Man braucht auch nicht im Kaffeesatz zu lesen, um im Voraus zu ahnen, dass die Länder keinem Bundesvorschlag zustimmen werden, auf den sie sich seither selbst schon nicht geeinigt haben. Aber dann stünde natürlich politisch betrachtet ganz klar fest, wer daran schuld ist, dass es zu keiner Einigung kommt, nämlich der Bund. Und diesen schwarzen Peter lassen wir uns nicht zuschieben. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir in der CDU/CSU-Fraktion halten die Länder für fähig – selbst die mit einer Regierungsbeteiligung der Linken –, eine Einigung zum Verteilmechanismus herbeizuführen. Zusammengefasst: Erstens. Wir wollen den ÖPNV weiter stärken und ausbauen. Deshalb gibt der Bund auch in Zukunft fast eine Dreiviertelmilliarde Euro im Jahr mehr für diesen Zweck an die Länder. Zweitens. Wir fordern die Länder auf, im Interesse der Nutzer von Bussen und Bahnen bald zu einer Einigung zu kommen. Und drittens halten wir auch diesen erneuten Antrag der Linken für überflüssigen Heckmeck. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Bevor ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung bekannt gebe, gebe ich der Kollegin Sabine Leidig das Wort zu einer Kurzintervention. Sabine Leidig (DIE LINKE): Ich sehe mich aus drei Gründen zu dieser Kurzintervention veranlasst. Erstens möchte ich feststellen: Die Länder haben sich geeinigt, und zwar darauf, dass mit 8,5 Milliarden Euro und ihrer sinnvollen Verteilung der regionale Schienenverkehr für alle Bürgerinnen und Bürger vernünftig organisiert werden kann. Das ist eine gute und richtige Position, die wir teilen und die wir auch mit eigenen Anträgen unterstützt haben. Zweitens. Es ist zynisch, wenn Sie behaupten, dass die Länder sich mit diesem Deal sozusagen einverstanden erklärt hätten. Das möchte ich Ihnen jetzt vorwerfen. Wir haben in der Ausschusssitzung gehört, dass der Parlamentarische Staatssekretär Ferlemann in einer anderen Angelegenheit, nämlich im Zusammenhang mit der Bundesfernstraßengesellschaft, gesagt hat: Die Länder, die eine gemeinsame Position gegen diese Bundesfernstraßengesellschaft erarbeitet haben, werden schon umfallen; denn der Bund wird in den nächsten Bund-Länder-Verhandlungen ein entsprechendes Druckmittel in der Hand haben. Da geht es nämlich wieder darum, dass mehr Geld für die Integration von Flüchtlingen gebraucht wird. Ich übersetze das einmal: Die Länder können sagen, was sie wollen, es mag noch so vernünftig sein: Letztlich hat der Bund die Daumenschraube, sie zum Umfallen zu zwingen. Sich dann hinzustellen und zu sagen: „Die Länder waren einverstanden“, ist an Zynismus wirklich kaum zu überbieten. (Beifall bei der LINKEN) Drittens. Sie reden davon, dass die Länder dem Bund in die Tasche greifen. Ich bitte Sie! Es geht hier um Steuergeld, das von der Gesellschaft aufgebracht wird. Dieses Steuergeld muss so eingesetzt werden, dass es der Gesellschaft zugutekommt. Dabei ist es letztlich völlig wurscht, ob der Bund den öffentlichen Nahverkehr bezahlt oder die Länder. (Lachen bei der CDU/CSU) Wichtig ist, dass der öffentliche Nahverkehr finanziert wird und für die Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung steht – auf der Schiene und überall dort, wo es notwendig ist. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Möchten Sie erwidern? – Bitte, Kollege Donth. Michael Donth (CDU/CSU): Frau Leidig, ich möchte auf zwei Punkte eingehen. Erstens. Natürlich haben sich die Länder auf den Kieler Schlüssel geeinigt. Sie haben gesagt: Wenn der Bund 1,2 Milliarden Euro mehr gibt, dann funktioniert auch die Verteilung. Aber – ich habe es Ihnen ja vorhin gesagt – es war ein Kompromiss, den Bund und Länder in diesen Verhandlungen miteinander erreicht haben. Wenn die Länder das vorher miteinander hinbekommen haben, dann sollten sie das auch jetzt hinbekommen. Zweitens. Herr Albig steht ja nicht unbedingt im Verdacht, der CDU zu nahezustehen. Er hat im Bundesrat klar gesagt und noch einmal bestätigt, dass sich die Regierungschefinnen und -chefs der Länder zusammen mit der Bundeskanzlerin am 24. September 2015 darauf geeinigt haben. Ich kann also darin nicht den Zynismus, den Sie jetzt unterstellt haben, erkennen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Bevor wir in der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung bekannt: abgegebene Stimmen 568. Mit Ja haben 120 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 448, Enthaltungen gab es keine. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 568; davon ja: 120 nein: 448 enthalten: 0 Ja DIE LINKE Jan van Aken Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Annette Groth Dr. André Hahn Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Andrej Hunko Sigrid Hupach Ulla Jelpke Susanna Karawanskij Kerstin Kassner Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Birgit Menz Cornelia Möhring Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Petra Pau Harald Petzold (Havelland) Martina Renner Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Dr. Kirsten Tackmann Azize Tank Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Birgit Wöllert Jörn Wunderlich Hubertus Zdebel Pia Zimmermann Sabine Zimmermann (Zwickau) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Kerstin Andreae Annalena Baerbock Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Agnieszka Brugger Ekin Deligöz Katja Dörner Katharina Dröge Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Matthias Gastel Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Britta Haßelmann Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Dieter Janecek Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Stephan Kühn (Dresden) Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Peter Meiwald Irene Mihalic Beate Müller-Gemmeke Özcan Mutlu Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Corinna Rüffer Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Ulle Schauws Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Kordula Schulz-Asche Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Dr. Julia Verlinden Doris Wagner Beate Walter-Rosenheimer Dr. Valerie Wilms Nein CDU/CSU Stephan Albani Katrin Albsteiger Artur Auernhammer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Sybille Benning Dr. André Berghegger Dr. Christoph Bergner Ute Bertram Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexandra Dinges-Dierig Alexander Dobrindt Michael Donth Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Iris Eberl Jutta Eckenbach Dr. Bernd Fabritius Hermann Färber Uwe Feiler Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Klaus-Peter Flosbach Thorsten Frei Dr. Astrid Freudenstein Michael Frieser Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Cemile Giousouf Josef Göppel Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Dr. Herlind Gundelach Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Stefan Heck Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Uda Heller Jörg Hellmuth Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Dr. Heribert Hirte Christian Hirte Alexander Hoffmann Thorsten Hoffmann (Dortmund) Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Dr. Hendrik Hoppenstedt Margaret Horb Anette Hübinger Hubert Hüppe Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Sylvia Jörrißen Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung Xaver Jung Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Steffen Kanitz Alois Karl Anja Karliczek Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Jürgen Klimke Jens Koeppen Markus Koob Kordula Kovac Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Roy Kühne Günter Lach Uwe Lagosky Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Barbara Lanzinger Dr. Silke Launert Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Philipp Lengsfeld Dr. Andreas Lenz Dr. Ursula von der Leyen Antje Lezius Ingbert Liebing Matthias Lietz Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Wilfried Lorenz Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. Jan-Marco Luczak Karin Maag Yvonne Magwas Thomas Mahlberg Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Reiner Meier Dr. Michael Meister Jan Metzler Maria Michalk Dr. h.c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Marlene Mortler Volker Mosblech Elisabeth Motschmann Dr. Gerd Müller Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Dr. Andreas Nick Michaela Noll Helmut Nowak Dr. Georg Nüßlein Julia Obermeier Wilfried Oellers Florian Oßner Dr. Tim Ostermann Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Martin Pätzold Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Erwin Rüddel Albert Rupprecht Anita Schäfer (Saalstadt) Andreas Scheuer Karl Schiewerling Jana Schimke Norbert Schindler Tankred Schipanski Heiko Schmelzle Christian Schmidt (Fürth) Gabriele Schmidt (Ühlingen) Ronja Schmitt Patrick Schnieder Dr. Ole Schröder Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Christina Schwarzer Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Tino Sorge Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Peter Stein Sebastian Steineke Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Rita Stockhofe Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Matthäus Strebl Karin Strenz Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Sabine Sütterlin-Waack Antje Tillmann Astrid Timmermann-Fechter Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Oswin Veith Thomas Viesehon Michael Vietz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sven Volmering Christel Voßbeck-Kayser Kees de Vries Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Marian Wendt Waldemar Westermayer Kai Whittaker Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Dagmar G. Wöhrl Barbara Woltmann Tobias Zech Heinrich Zertik Emmi Zeulner Dr. Matthias Zimmer Gudrun Zollner SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heike Baehrens Ulrike Bahr Heinz-Joachim Barchmann Dr. Katarina Barley Doris Barnett Klaus Barthel Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Burkhard Blienert Willi Brase Dr. Karl-Heinz Brunner Marco Bülow Martin Burkert Dr. Lars Castellucci Petra Crone Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Sabine Dittmar Elvira Drobinski-Weiß Michaela Engelmeier Dr. h.c. Gernot Erler Petra Ernstberger Saskia Esken Karin Evers-Meyer Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Dr. Ute Finckh-Krämer Christian Flisek Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Angelika Glöckner Ulrike Gottschalck Kerstin Griese Gabriele Groneberg Michael Groß Uli Grötsch Wolfgang Gunkel Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Ulrich Hampel Sebastian Hartmann Dirk Heidenblut Marcus Held Wolfgang Hellmich Heidtrud Henn Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Thomas Hitschler Dr. Eva Högl Matthias Ilgen Christina Jantz-Herrmann Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Ulrich Kelber Marina Kermer Cansel Kiziltepe Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Birgit Kömpel Anette Kramme Dr. Hans-Ulrich Krüger Helga Kühn-Mengel Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Hiltrud Lotze Kirsten Lühmann Dr. Birgit Malecha-Nissen Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Bettina Müller Detlef Müller (Chemnitz) Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Ulli Nissen Thomas Oppermann Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Christian Petry Detlev Pilger Sabine Poschmann Joachim Poß Florian Post Achim Post (Minden) Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Martin Rabanus Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Andreas Rimkus Sönke Rix Petra Rode-Bosse Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Susann Rüthrich Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Annette Sawade Dr. Hans-Joachim Schabedoth Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Dorothee Schlegel Ulla Schmidt (Aachen) Matthias Schmidt (Berlin) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Elfi Scho-Antwerpes Ursula Schulte Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Norbert Spinrath Svenja Stadler Martina Stamm-Fibich Sonja Steffen Peer Steinbrück Christoph Strässer Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Carsten Träger Ute Vogt Dirk Vöpel Gabi Weber Dirk Wiese Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Gülistan Yüksel Dagmar Ziegler Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann Manfred Zöllmer Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Stephan Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Egal wie der Abend des 24. September 2015 verlaufen ist: Ich finde, es ist schon bezeichnend, dass auf einem Flüchtlingsgipfel unter dem Punkt „Verschiedenes“ kurz vor Mitternacht über eine so wichtige Frage wie die Nahverkehrsfinanzierung gesprochen wird. Es ist auch schwer verständlich, warum einerseits den Bundesländern in den nächsten 15 Jahren rund 12 Milliarden Euro zusätzlich für den Nahverkehr zur Verfügung stehen werden, während den ostdeutschen Bundesländern andererseits eine Abwärtsspirale droht. Ein attraktiver Nahverkehr leistet einen elementaren Beitrag zur Daseinsvorsorge in allen Regionen, in der gesamten Republik. Der Nahverkehr braucht deshalb eine solide Finanzierung, und zwar in Nord und Süd, aber genauso in West und Ost. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Darüber waren sich die Verkehrsminister der Länder auch einig. Sie haben sich auf einen neuen Verteilerschlüssel für die Regionalisierungsmittel verständigt. Länder wie Nordrhein-Westfalen, Hessen oder Baden-Württemberg, deren Nahverkehrszüge im Berufsverkehr zunehmend Sardinenbüchsen ähneln, sollten zukünftig einen höheren Mittelanteil erhalten. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!) Gleichzeitig aber bestand unter den Verkehrsministern auch der Konsens, dass es keine Einschnitte in Bestandsverkehre, also keine Kürzungen im Nahverkehrsangebot, geben darf. Eine sogenannte Sperrklinke in Form einer jährlichen Mindestdynamisierung der Mittel von 1,25 Prozent hat darum Eingang in die Beschlüsse der Verkehrsministerkonferenz gefunden. Nachdem nun die Verständigung über die Höhe der Regionalisierungsmittel im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat stattgefunden hat, ist von der Einigkeit in dieser Frage allerdings nur wenig übrig geblieben. So wird nun vorgerechnet, dass der Osten pro Kopf mehr Geld für den Nahverkehr erhält. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass der finanzielle Aufwand natürlich geringer ist, wenn man den Nahverkehr in einem dicht besiedelten Ballungsraum organisiert, als wenn man dies in einem dünn besiedelten Land tut. Es wird behauptet, dass durch sinkende Bevölkerungszahlen auch die Nachfrage zurückgeht. Das ist falsch. Die Fahrgastzahlen belegen: Trotz eines Bevölkerungsrückgangs steigt die Nachfrage erfreulicherweise. Gern wird auch vergessen, dass im Osten der Republik ein massiver Rückzug des Fernverkehrs in der Fläche stattgefunden hat. Die Stadt Chemnitz mit 250 000 Einwohnern und die Region Südwestsachsen mit über 1 Million Einwohnern sind vom Fernverkehr komplett abgehängt. Es gibt keine andere Region in Deutschland, in der die Situation so ist. Heute verkehren durchgehende Nahverkehrszüge – in Anführungszeichen – zwischen der Ostseeküste und der sächsischen Landesgrenze oder zwischen Magdeburg und Frankfurt/Oder. Das Problem ist, dass aus Geldern für den Nahverkehr flächendeckend Fernverkehrsersatz in Ostdeutschland finanziert wird. Ich möchte an dieser Stelle an die rechtliche Definition von Nahverkehr erinnern. Dort heißt es nämlich: Nahverkehr sind Verkehre bis zu 50 Kilometern Entfernung und Verkehre von maximal einer Stunde Fahrzeit. Der schwelende Streit über die Verteilung der Regionalisierungsmittel zwischen den Ländern sorgt vor allen Dingen jetzt für fehlende Planungssicherheit. So können die einen keine neuen Züge bestellen und Verkehre auf die Schiene bringen, andere müssen Streichpläne entwerfen. Das kann aber auch nicht im Interesse des Bundes sein. Es wäre eine Verschwendung von Steuergeldern, meine Damen und Herren, wenn erst in die Infrastruktur investiert würde, dann aber gar kein Geld da wäre, für diese Infrastruktur Verkehr zu bestellen. Das Beispiel mit der S-Bahn in Dresden ist genannt worden. Im Dresdner Elbtal wurde sehr viel öffentliches Geld investiert, um zusätzliche Gleise zu bauen, damit Fern- und Nahverkehr getrennt sind, damit dann die S-Bahn im 15-Minuten-Takt fahren kann. Jetzt aber ist kein Geld da, um den entsprechenden Verkehr zu bestellen. Es ist doch ökologisch und ökonomisch völliger Unsinn, so zu investieren, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Jetzt an die Adresse des Bundesministers. Statt weiter interessiert zuzuschauen, wie sich die Länder untereinander fetzen, muss sich der Bund als Moderator aktiv um eine einvernehmliche Lösung kümmern. Verkehrsminister Dobrindt steht hier klar in der Verantwortung. Die Zeit drängt: Die Hängepartie geht auf Kosten der Fahrgäste und auch auf Kosten der Wirtschaft. Im Vermittlungsausschuss – das muss ich hier in Erinnerung rufen – hat Verkehrsminister Dobrindt den Auftrag bekommen, eine Rechtsverordnung vorzulegen, welche die Verteilung der Mittel unter den Ländern abschließend regelt. Doch passiert ist seit einem halben Jahr nichts. Herr Dobrindt, legen Sie endlich eine Verordnung vor, mit der sichergestellt wird, dass die Erfolgsgeschichte des Nahverkehrs fortgeschrieben werden kann, und zwar im ganzen Land. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen, Michael Groschek. (Beifall bei der SPD) Michael Groschek, Minister (Nordrhein-Westfalen): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Ich will mit einer Vorbemerkung starten: Wir sollten uns davor hüten, eine Diskussion zu den Regionalisierungsmitteln zu einem Ost-West-Konflikt zu machen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael Donth [CDU/CSU]) Wer das Problem der Regionalisierungsmittel zu einem Ost-West-Gegensatz konstruiert, will mit dieser Konstruktion nicht Probleme lösen, sondern er will sie für andere politische Zwecke instrumentalisieren. Das dient niemandem, weder den Menschen in Ost und West noch den Verkehren, über die wir heute reden. (Beifall bei der SPD) Deshalb bringt es nichts, vergossene Milch noch einmal zu präsentieren. Natürlich waren sich die Länder darüber einig: 8,5 Milliarden Euro an Regionalisierungsmitteln und keinen Euro weniger. Natürlich waren auch andere Randbedingungen bei den Ländern selbstverständlich, und es war darüber sofort Einvernehmen zu erzielen: Es galt, gegenüber Bahn und Bund eine Verhandlungsposition aufzubauen und sich mit berechtigten Interessen möglichst durchzusetzen. Die 8 Milliarden Euro waren in der Tat ein belastbarer Kompromiss. Herr Kühn hat recht: Das eigentliche Defizit liegt woanders. Nicht das, was hier von anderen beschworen wurde, ist defizitär, sondern das, was Sie, Herr Kühn, sehr genau beschrieben haben: Das erste Defizit liegt darin, dass viele Bundesländer gezwungen sind, angesichts einer völlig unzureichenden Fernverkehrserschließung diese Verkehre, mit zweckentfremdeten Regionalisierungsmitteln, zu kaufen. Dieser Zukauf muss problematisiert werden, weil er als strukturelles Problem die Diskussion um die Regionalisierungsmittel belastet. Nicht die Regionalisierungsmittel sind ungleich verteilt, sondern das Problem der Verteilung besteht darin, dass das Fernverkehrsnetz der DB national ungleich verteilt ist und die einen auskömmlich strukturiert sind, während die anderen mit Mitteln zukaufen müssen, die dafür nicht vorgesehen sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb muss das Problem dort gelöst werden, wo es ursächlich vorhanden ist, statt dort, wo es am besten zur politischen Semantik passt. Dann sind wir bei der Frage: Wo bleibt denn die Verordnung? Denn ein Teil des Kompromisses aller Länder bzw. der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten war die Absprache: Statt auf eine lange Reise zu gehen und auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu schielen, lasst uns schnell Nägel mit Köpfen machen. Wir brauchen Planungssicherheit in allen Bundesländern, und wir brauchen schnelle Entscheidungen. Deshalb ist es gut, dass das Bundesverkehrsministerium eine Entscheidung getroffen hat. Schlecht ist, dass diese Entscheidung offensichtlich nicht tragfähig genug ist, um das Kanzleramt zu passieren. Deshalb ist der Bundestag aufgefordert, die Bundesregierung zu fragen, wann die Bundesregierung als Kollektivorgan dazu in der Lage ist, eine schon längst durchdeklinierte Verordnung endlich in Kraft zu setzen. Das Problem ist keine Ost-West-Konstruktion, sondern ein Vollzugsdefizit. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dieses Vollzugsdefizit müssen wir beklagen, und das tun wir. Deshalb hoffe ich sehr, dass diese Diskussion dazu beiträgt, beschleunigt voranzukommen und eine Entscheidung zu treffen. Jetzt noch einmal zum Thema Solidarität. Wir müssen niemandem Vorhaltungen machen. Das Prinzip „Ölsardine in Bimmelbahn“ hatten Sie angesprochen, Herr Kühn. In der Tat: Kommen Sie nach Nordrhein-Westfalen. Sie werden erleben, dass in der größten westeuropäischen Großstadt, in der Region zwischen Köln und Dortmund, Berufspendler tausendfach jeden Morgen und jeden Abend gezwungen sind, wie Ölsardinen in der Bimmelbahn zu fahren, sofern der völlig überfüllte Zug überhaupt noch an jedem Bahnhof hält. Dort ist tagtäglich eine Bedarfssituation zu besichtigen. Eine vergleichbar schwierige Situation tritt in weiten Bereichen östlicher Bundesländer ein, weil es die Fernverkehrslücke gibt und weil Eurocity-Verkehre und Intercity-Verkehre – auch im internationalen Maßstab von Stralsund über Berlin nach Prag oder weiter – im Grunde S-Bahn-gleich an jeder Station halten. Offenbar wird damit, dass Fernverkehre nicht auskömmlich finanziert sind. Bei diesem Finanzierungsproblem müssen wir ansetzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Was müssen wir machen? Wir müssen jetzt die eine Kuh vom Eis kriegen: Wir müssen endlich die Regionalisierungsmittel im Rahmen der Verordnung sichern. Dann müssen wir überlegen, wie noch vorhandene strukturelle Defizite beseitigt werden können. Es gibt doch spannende, sehr konstruktive Vorschläge der DB. Es gibt Überlegungen zu einem neuen Fernverkehrsnetz. Es gibt Überlegungen, wie wir mit der politischen Lebenslüge der Verkehrspolitik aufräumen, endlich mehr Güter von der Straße auf die Schiene zu bringen. Warum haben wir nicht gemeinsam, Bund-Länder-übergreifend, den Mut, die verkehrspolitischen Probleme der Republik endlich da zu lösen, wo sie zu lösen sind, nämlich an der Wurzel statt in der politischen Semantik? (Beifall bei der SPD) Kalendersprüche können noch so sehr aufgeblasen werden: Es wird kein politisches Konzept daraus, wenn es nicht problemadäquat angepackt wird. Deshalb freue ich mich sehr, dass ich Gelegenheit habe, für die Länder hier zu sprechen und deutlich zu machen, dass wir uns nicht in ein Gegeneinander und nicht einmal in ein Nebeneinander hetzen lassen. Vielmehr stehen wir gemeinsam und erinnern den Bund an seine grundgesetzliche Alimentations- und Unterhaltspflicht, der er über Jahre nicht nachgekommen ist. Das belegen viele Gutachten von Verfassungsrechtlern. Diese liegen vor, weil vor dem Vermittlungsergebnis juristische Auseinandersetzungen vorbereitet worden waren. Das zeigt, dass die grundgesetzliche Verpflichtung des Bundes nicht beliebig zu interpretieren ist. Darüber kann man sich zwar amüsieren, aber letztendlich ist diese Grundgesetzgegenwart in einer Rechtsverordnung abzubilden. Lange Rede, kurzer Sinn: Die Länder in Ost und West wie in Nord und Süd warten darauf, dass die Verordnung endlich in Kraft gesetzt wird. Eine anstehende Landtagswahl kann kein hinreichendes Argument dafür sein, im regionalen Schienenverkehr nicht verkehrspolitische Vernunft walten zu lassen. Darum bitte ich herzlich, und ich bitte um Unterstützung des gesamten Hohen Hauses dabei, der Regierung ein bisschen Beine zu machen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Karl Holmeier hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Karl Holmeier (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Minister, die verkehrspolitischen Themen liegen – Sie haben die Probleme angesprochen – bei unserer Bundesregierung und insbesondere bei unserem Bundesminister in den besten Händen. (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich darf nur den Finanzhochlauf von 10,4 Milliarden auf 14,4 Milliarden Euro ansprechen. Unser Verkehrsministerium leistet also beste Arbeit. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der hält es noch nicht mal für nötig, zu kommen!) Wenn in den Ländern Defizite bestehen, kann man sie nicht dem Bundesminister bzw. der Bundesregierung anlasten. (Sören Bartol [SPD]: Das hat er doch nicht! Er hat nur gesagt: Die Verordnung hängt fest! Das ist ein Fakt!) Der Schienenpersonennahverkehr hat sich seit der Bahnreform in Deutschland eigentlich positiv entwickelt; darüber sind wir uns alle im Grunde einig. Einig sind wir uns nicht; das zeigt der wiederholt gestellte Antrag der Linken (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Mit verschiedenem Inhalt!) auf Erhöhung der Regionalisierungsmittel. Der erste Antrag der Linken wurde kürzlich bereits abgelehnt. Nur weil ein Antrag zweimal gestellt wird, wird er nicht besser. Wir bleiben bei unserer Ablehnung. Ein gut ausgebauter öffentlicher Personennahverkehr ist eine der Grundlagen für eine hohe Lebensqualität in den Städten und auch im ländlichen Raum. Der Nahverkehr ist in Deutschland so gut ausgebaut wie in keinem anderen Land. Jeden Tag nutzen 30 Millionen Menschen den ÖPNV, und die Fahrgastzahlen sind in den vergangenen Jahren stetig angestiegen. Deswegen gilt es natürlich auch in Zukunft, die gute Qualität des ÖPNV und des Schienenpersonennahverkehrs zu halten bzw. möglicherweise noch zu steigern. Die Regionalisierungsmittel spielen hier eine zentrale Rolle, die auch vom Bund unterstützt wird. Deshalb hat sich der Bund mit den Ländern – das wurde schon angesprochen – am 24. September letzten Jahres auf eine Erhöhung und Dynamisierung der Mittel verständigt. Sie als Linke tun jetzt so, als würde der Bund den Nahverkehr links liegen lassen. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Rechts!) Das ist schlichtweg falsch. Der Beschluss vom vergangenen Jahr zeigt doch ganz klar: Die Mittel des Bundes werden erhöht. Der Nahverkehr wird gestärkt. Die Regionalisierungsmittel wurden 2016 von 7,4 Milliarden auf 8 Milliarden Euro erhöht. Das ist ein Plus von 600 Millionen Euro. Zudem sollen die Mittel bis einschließlich 2031 jedes Jahr um 1,8 Prozent steigen. Das ist im nächsten Jahr ein Plus von 144 Millionen Euro. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Die Kosten steigen ja auch!) Das ist eine deutliche Steigerung und zeigt die Wertschätzung für den Nahverkehr. Diesem Ausbau der Förderung haben alle zugestimmt: die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder, der Deutsche Bundestag und der Bundesrat. Ich möchte besonders betonen: Die Länder haben sowohl bei der Besprechung mit der Bundeskanzlerin im September 2015 als auch am 16. Oktober 2015 im Bundesrat dem Kompromiss als Empfehlung des Vermittlungsausschusses zugestimmt. Das beinhaltet sowohl die Erhöhung um 600 Millionen auf 8 Milliarden Euro und die Dynamisierung der Mittel als auch die Verteilung der Mittel nach dem Kieler Schlüssel. Es kann daher nicht sein, dass Sie jetzt daherkommen, sich hierhinstellen und den Kompromiss kurz nach der Zustimmung wieder infrage stellen und kippen wollen. Wenn die Linke jetzt mehr Mittel fordert, wird sie der Sache nicht gerecht. Ich erwarte ganz klar, dass die Länder nun zügig zu einer einvernehmlichen Einigung kommen, auf deren Basis die Mittel durch eine Rechtsverordnung verteilt werden können. Der vorliegende Kompromiss ist ein wichtiger Schritt hin zur Stärkung des Nahverkehrs. An einem weiteren Schritt arbeiten wir zurzeit. Morgen diskutieren wir im Plenum in erster Lesung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich; denn neben der Erhöhung der Regionalisierungsmittel müssen wir vor allem für mehr Wettbewerb und Effizienz im Eisenbahnsektor sorgen. Dazu gehören unter anderem der diskriminierungsfreie Zugang zur Eisenbahninfrastruktur für alle Eisenbahnverkehrsunternehmen und die Neugestaltung der Entregulierung für die Nutzung der Schienenwege. So können Infrastrukturkosten und Trassenentgelte gesenkt werden. Zusammen sorgen diese Regelungen dafür, dass unser Nahverkehr auch langfristig hervorragend ausgebaut wird und qualitativ hochwertig bleibt. Ihre Anträge, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken, greifen dagegen viel zu kurz. Ihre Forderungen tragen schlichtweg nicht allen Aspekten des Sachverhalts Rechnung. Deshalb schließen wir uns der Empfehlung des Verkehrsausschusses an und lehnen Ihren Antrag ab. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Sebastian Hartmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sebastian Hartmann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich namens der SPD-Fraktion zunächst mit dem Wichtigsten anfangen: Wir werden bei der Diskussion über die Finanzierung des Nahverkehrs – eine Erfolgsgeschichte in unserem Land – keine Spaltung des Landes in Ost und West zulassen, auch wenn Sie von den Linken versuchen, einen Gegensatz zu konstruieren. (Beifall bei der SPD – Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig, Kollege Hartmann, sehr richtig!) Das Thema des Nahverkehrs ist viel zu wichtig und zu zentral für einen funktionierenden Industriestaat, als dass man ihn zu einer Heckmeckgeschichte machen könnte, um sich kurzfristig zu profilieren. Sie haben vorher den Vorschlägen zugestimmt, und wir haben gemeinsam das Ergebnis des Vermittlungsausschusses bestätigt. Das ist die Ausgangslage. Nichts anderes ist der Fall. Darüber hinaus: Die SPD-Fraktion kann sich auf das berufen, was sie getan hat. Wir haben 2013 einen Koalitionsvertrag mit unseren Partnerinnen und Partnern von der CDU/CSU ausgehandelt und gesagt, dass wir 2014 die Revision der Regionalisierungsmittel vornehmen und sie im Rahmen der Bund-Länder-Finanzbeziehungen neu ordnen wollen. Als das nicht zustande kam, sind wir weitergegangen und haben gesagt: Wir brauchen eine zügige Revision der Regionalisierungsmittel, um schnell Planungssicherheit für alle Teile unseres Landes herzustellen – Nord, Süd, Ost und West. Wir wollen kein Gegeneinander. Danach haben wir das beschlossen. Wir haben gewusst, dass dann, wenn ein Beschluss über 7,7 Milliarden Euro aufseiten des Bundes und ein Beschluss über 8,5 Milliarden Euro aufseiten der Länder vorliegt, man sich irgendwo verständigen muss. Wir sind froh, dass wir ein deutliches Signal setzen konnten. Deswegen darf man aus der Erfolgsgeschichte des Nahverkehrs keinen Misserfolg machen. Das ist eine Steigerung um 10 Prozent, aber man muss auch die Probleme, die benannt worden sind, zur Kenntnis nehmen. Wenn wir die Ausweitung des Nahverkehrs wollen, um die Mehrbedarfe abzubilden, dann darf es an anderer Stelle in unseren Bundesländern nicht zu Kürzungen oder Streckenstilllegungen kommen. Deswegen ist auch der Titel Ihres Antrages vollkommen irreführend; denn erst wenn es zu einer negativen Verteilung kommen würde, würde es überhaupt zu Abbestellungen und Streckenstilllegungen kommen. Um das zu vermeiden, können wir als Bundestag und als Koalition ein klares Signal setzen. Ja, der Verkehrsminister hat einen Verordnungsvorschlag gemacht, der von den Ländern verlangt worden ist, aber dieser ist angehalten worden, und zwar im Kanzleramt. Deswegen müssen wir als Verantwortungsträger aufseiten des Bundes gemeinsam den Schritt gehen, dass jetzt ein Vorschlag gemacht wird, der beides erreicht: die Mehrbedarfe in den Ländern, wo sie aufgrund von Gutachten nachgewiesen sind, abzubilden und zu vermeiden, dass die Mittel unter das absinken, was man in den vorherigen Haushaltsjahren in den Bundesländern geschafft hat. Das ist verantwortliche Politik für alle Teile des Landes. (Beifall bei der SPD – Gustav Herzog [SPD]: Das machen wir auch, Kollege Hartmann! Das machen wir!) Dann wird sich die Geschichte des schienengebundenen Nahverkehrs in diesem Land auch weiterhin als Erfolgsgeschichte erweisen; denn wir wollen nicht weniger Verkehr, sondern wir wollen mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagern. Das ist die einzige Antwort, die wir in den Metropolräumen unseres Landes brauchen, aber auch in den weniger gut strukturierten Räumen; denn es gehört zur Teilhabe an Mobilität, dass man auch im ländlich strukturierten Raum mobil sein kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Alle Mitglieder dieses Hohen Hauses haben eine gemeinsame Verantwortung. Wir haben uns mit den Ländern 1994 und 1996 verständigt, diese Aufgabe zu regionalisieren. Wir haben uns gleichzeitig immer wieder auf die Schulter geklopft und gesagt, dass von allen drei Verkehrssparten – Güterverkehr, Fernverkehr und Nahverkehr – der Nahverkehr die erfolgreichste Verkehrssparte seit der Regionalisierung der Aufgabe ist. Deswegen will ich an dieser Stelle sagen: Die Länder haben ihre Aufgabe verantwortungsvoll wahrgenommen. Wir aber stehen in der Pflicht, für eine auskömmliche Finanzierung zu sorgen. Das ist im Grundgesetz eindeutig geregelt. Diese Finanzierung endet nicht an Bundesländergrenzen. Wir gehen davon aus, dass das Kanzleramt zügig eine Regelung entlang der von mir für die SPD-Fraktion skizzierten Punkte findet, die deutlich macht: keine Streckenstilllegungen, keine Abbestellungen, nichts weniger als das, was zugesagt ist, damit mehr Bedarfe abgebildet werden und keine Verkehre im ländlichen Raum verschwinden. Dafür stehen wir ein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Norbert Brackmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal ist es ganz hilfreich, zunächst einmal die Verantwortlichkeiten klarzustellen. Der Bund gibt nach dem Regionalisierungsgesetz finanzielle Mittel an die Länder, die diese dann inhaltlich umsetzen. Es ist von dem Kollegen Donth schon darauf hingewiesen worden, dass der Bund hier zu seinen Zusagen gestanden hat und dass für die Länder über 700 Millionen Euro mehr, die im Haushalt fest verankert sind, zur Verfügung stehen. Das ist im Haushaltsgesetz festgelegt. Nur ist es schlichtweg nicht zur Anwendung gekommen. Für den Bereich Schienenpersonennahverkehr können diese Mittel nicht genutzt werden, weil die Länder nicht zu einer Einigung über deren Verteilung kommen. Wir reden über zusätzliche Mittel in Höhe von 700 Millionen Euro. Wenn die Länder meinen: „Wir kommen mit dem Geld nicht aus“, dann ist das nichts anderes als ein Vertrag zulasten Dritter, mit dem man seine eigenen Zielvorstellungen formuliert und gesagt hat: Andere sollen es bezahlen. – Das macht der Bund jetzt nicht. Die Länder werden sich nicht einig darüber, wie die 700 Millionen Euro mehr aufgeteilt werden sollen. Jetzt meldet sich ein Teil der Länder im Kanzleramt und sagt: Wir sind nicht verstanden worden. Wir können den Kompromiss nicht mitmachen. – Es war ganz praktisch, den Bund zu beauftragen, eine Rechtsverordnung zu erlassen. Aber der Bund kann eine solche Rechtsverordnung nur mit Zustimmung des Bundesrates erlassen – das hat man sicherheitshalber so geregelt –, und diese Zustimmung erhalten wir nicht. Deswegen ist es wohlfeil, dem Bund und hier dem Bundesverkehrsminister die Schuld zuzuschieben; denn der ist – fast hätte ich gesagt: Tag und Nacht – (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Aber nur fast!) bemüht, eine solche Vereinbarung der Länder zustande zu bringen. Auch der Bund schafft es nicht. Das Problem sind die Länder, die sich nicht einigen können. (Beifall bei der CDU/CSU) Wo liegt eigentlich das inhaltliche Problem? Ich höre hier Debattenbeiträge über Streckenstilllegungen. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: So sieht es aus, weil das Geld fehlt!) – So sieht es aus. Dafür mag es unterschiedliche Gründe geben. Wenn man diesen Gründen nachgehen und sich fragen will: „Warum könnte das Geld überhaupt knapp sein?“, dann kann man ja einmal in ein völlig unverdächtiges Werk schauen, nämlich in das Gutachten, das die Länder in Auftrag gegeben haben zur, wie Herr Groschek so schön sagte, Begründung der Anhebung der Mittel für sie auf 8,5 Milliarden Euro. Auf Seite 39 dieses Gutachtens kann man nachlesen, dass Hessen und Baden-Württemberg mittlerweile die einzigen Länder sind, die ihre Regionalisierungsmittel ausschließlich für den Betrieb des Schienenpersonennahverkehrs ausgeben. Kein anderes Land, auch Nordrhein-Westfalen nicht, Herr Groschek, tut dies. Die Mittel, die für den Betrieb des Schienenpersonennahverkehrs vorgesehen sind, werden von fast allen Ländern dafür nicht genutzt. Dies ist ein Mangel. (Beifall bei der CDU/CSU) Dass wir das nicht einmal kontrollieren können, finden wir schlimm. Wir müssen uns auch noch vorwerfen lassen, dass die Länder die Mittel zweckentfremdet verwenden. Wofür verwenden die Länder die Mittel? Wie auch in diesem Gutachten nachzulesen ist – die entsprechenden Länder sind dort alle namentlich benannt –, werden damit Bahnhöfe verschönert, werden Busse bestellt, weil sich der Schienenverkehr nicht mehr rechnet, wird damit die Infrastruktur ausgebaut, obwohl die Länder dafür vom Bund ebenfalls Geld bekommen: Über das GVFG und über die Entflechtungsmittel wird diese Infrastruktur noch einmal bezahlt. Nur werden die Mittel dafür nicht zweckentsprechend eingesetzt. Deswegen machen die Länder sich das Leben selber schwer. Dann zu kommen und zu sagen: „Weil wir unsere Mittel nicht zweckentsprechend verwendet haben, musst du, Bund, zahlen, und zwar noch mehr als bisher“, das ist eine unlautere Politik. Das hat mit der Wahrheit überhaupt nichts mehr zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU) So ist es ja auch inhaltlich. Es gibt einige Länder – ich kann das politisch verstehen –, die ihren Schienenpersonennahverkehr noch attraktiver machen wollen. Der schleswig-holsteinische Verkehrsminister bedauert öffentlich, dass es noch keine Einigung über die Höhe gibt, weil auch der Kompromiss der Ministerpräsidenten – egal ob man diesen gut oder schlecht findet – dazu führt, dass das Land Schleswig-Holstein Schienenstrecken wiederbeleben und in den öffentlichen Personennahverkehr integrieren könnte. Das heißt, die Mittel sind schon so gestrickt, dass damit auch für die Zukunft öffentlicher Personennahverkehr auf der Schiene finanziert werden kann. Lassen Sie uns hier also keine Nebelkerzen werfen. Der Bund hat seine Pflicht übererfüllt. Die Länder sollten jetzt keine Kesselflickerei betreiben und alles schlechtreden, sondern die Züge auf den Schienen fahren lassen. Das wäre ein gutes Werk. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: Viel Spaß bei den Diskussionen mit der Kanzlerin!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/8392 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Drohende Streckenstilllegungen verhindern – Regionalisierungsmittel erhöhen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8362, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/8074 abzulehnen. Mir liegen zahlreiche Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Entsprechend unseren Regeln nehmen wir diese zu Protokoll.3 Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion Die Linke namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Schriftführerinnen und Schriftführer an ihrem Platz? – Ich werte die Zeichen so, dass die Schriftführerinnen und Schriftführer an ihrem Platz sind. Ich eröffne die Abstimmung. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgeben konnte? – Ein kleiner Hinweis: Hier vorne sind die Zugänge zur Urne völlig frei. Ich frage noch einmal: Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgeben konnte? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.4 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens Drucksache 18/7457 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Drucksache 18/8434 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/8435 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion. Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Von der Wiege bis zur Bahre – Formulare, Formulare. – Dieser Spottreim wird dank des nun im Entwurf vorliegenden Gesetzes bald weniger zutreffen; denn mit dem heutigen Durchgang schließt der Deutsche Bundestag die Beratung des Entwurfs eines Gesetzes der Bundesregierung zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens nach ausführlicher Diskussion ab. Der Titel des Gesetzes ist sicher ein sehr hoher Anspruch – das will ich gern zugeben –, und doch macht dieses Gesetz den Weg für ein ganzes Bündel von Maßnahmen frei, die Steuerbürger, aber auch Unternehmen und Finanzverwaltung in vielfältiger Hinsicht entlasten werden, nicht was die Höhe der Steuern anbetrifft – das wäre auch zu schön –, wohl aber was den Aufwand, die Administration, anbetrifft. Der Erfüllungsaufwand für die Bürger sinkt um 2,1 Millionen Stunden. Die Bürokratiekosten für die Wirtschaft verringern sich um jährlich 28 Millionen Euro, so festgestellt. Mit dem Gesetz werden drei Schwerpunkte gesetzt: Erstens werden die Wirtschaftlichkeit und die Effizienz des Besteuerungsverfahrens durch einen verstärkten Automatisationseinsatz sichtbar erhöht, zum Beispiel durch den Ausbau von Risikomanagementsystemen in der Finanzverwaltung. Zweitens wird die Handhabbarkeit des Besteuerungsverfahrens nachhaltig vereinfacht. Dies wird zum Beispiel durch die Verlängerung der Abgabefristen und den Wegfall von Belegvorlagepflichten erreicht. (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Drittens erfolgt eine Neugestaltung der rechtlichen Grundlagen, insbesondere bei der Abgabenordnung, etwa durch die Anpassung des Amtsermittlungsgrundsatzes oder durch Veränderungen beim Verspätungszuschlag. Dabei bleibt das „One in, one out“-Prinzip der Bundesregierung erhalten, sodass es zu keinem Aufwuchs der Bürokratie kommen wird. Meine Damen und Herren, das ist heute ein guter Tag. Es ist ein gutes Gesetz für Steuerbürger und Finanzverwaltung. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wer kennt sie nicht, die Klage des normalen Steuerbürgers, wenn es darum geht, die Steuererklärung fertigzustellen? Auch die steuerberatenden Berufe klagen immer wieder darüber, dass unterschiedliche Fristen zu beachten sind. Natürlich haben wir in der Vergangenheit schon manches vereinfacht. Vieles in diesem Bereich der Steuerpolitik ist aber noch zu vereinfachen. Ich will an dieser Stelle die elektronische Steuererklärung nennen, die von manchen anfangs skeptisch beäugt wurde und inzwischen längst ein Renner ist. Aber wir müssen selbstkritisch einräumen, dass das Besteuerungsverfahren nicht mit der rasanten Entwicklung der Möglichkeiten im IT-Zeitalter Schritt gehalten hat. Das ist weder gut für die Bürger noch gut für die Unternehmen oder die Finanzverwaltung. Deshalb war es an der Zeit, den Modernisierungsrückstand aufzuholen und den Blick nach vorne zu richten. Das tun wir heute mit diesem Gesetz. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Den Blick nach vorne zu richten, heißt vor allem auch, den Einsatz medienbruchfreier automatisierter Verfahren in der Steuerverwaltung zu verstärken. Das macht die Berechnungsverfahren schneller und verhilft den Steuerbürgern rascher zu ihrem Geld, wenn sie Anspruch auf Steuerrückzahlungen haben. Die Gesetzesänderung bringt für die Bürger eine ganze Reihe von Vorteilen: Zum Ersten werden sie von unnötigem Bürokratieaufwand entlastet, zum Zweiten verlängert sich die Abgabefrist für die Steuererklärung um immerhin zwei Monate, und zum Dritten müssen sie zukünftig weniger Belege an das Finanzamt übersenden. Zuwendungsbescheinigungen, Bescheinigungen über Kapitalertragsteuer oder die Feststellung über den Grad der Behinderung müssen durch die Steuerpflichtigen nur noch vorgehalten und nicht mehr als Einzelbelege übersandt werden. Aber auch für die Wirtschaft ist manches einfacher geworden. Für die Unternehmen sinken die Bürokratiekosten. Das handelsrechtliche Aktivierungswahlrecht für Kosten der allgemeinen Verwaltung sowie für Aufwendungen für soziale Einrichtungen des Betriebs gilt künftig auch für die Steuerbilanz. Das ist ein wesentlicher Vorteil. Die Doppelerfassungen in Handels- und Steuerbilanz entfallen, und das ist ein echter Vorteil für die Unternehmensbilanz. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ein Vorteil für die mittelständische Wirtschaft ist auch die bessere Planbarkeit der Steuerforderungen, weil wir das Instrument der verbindlichen Auskunft stärken. So erhalten Steuerpflichtige schneller Rechtssicherheit bei der steuerlichen Beurteilung komplexer Einzelfälle. Die Finanzämter sollen zukünftig über einen Antrag auf verbindliche Auskunft grundsätzlich innerhalb von sechs Monaten entscheiden. Damit ist eine gewisse Sicherheit für den Steuerbürger, für das Unternehmen gegeben; insbesondere ist eine Planbarkeit der Liquidität in den Unternehmen besser möglich. Auch das ist ein großer Vorteil unseres Gesetzes. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Eines möchte ich noch anfügen: In der Öffentlichkeit hat es heftige Debatten um den im Gesetz verankerten Verspätungszuschlag gegeben, der erhoben wird, wenn die Abgabefrist für eine Steuererklärung überschritten wird. Meine Damen und Herren, ein Verspätungszuschlag ist nichts Neues. Es gibt ihn schon lange. Er wird aber bislang durch die Bearbeiter im Finanzamt nach individuellem Ermessen festgesetzt. Das erscheint mir weder ein gerechtes noch ein vom Aufwand her zu rechtfertigendes Verfahren zu sein. Deshalb wird der Verspätungszuschlag künftig im automatisierten Verfahren erhoben. Außerdem wird er von 50 auf 25 Euro gesenkt. Auch das ist ein wesentlicher Vorteil. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Eine Gerechtigkeitslücke für unsere Steuerzahler bleibt leider noch zu schließen. (Frank Junge [SPD]: Noch zu hoch!) Angesichts der Niedrigzinsphase hätte ich mir gewünscht, dass wir bei der Vollverzinsung eine Senkung vornehmen. Doch leider kam es aufgrund fehlender Wirtschaftsfreundlichkeit zu keiner befristeten Absenkung des Zinssatzes von 0,5 auf 0,4 Prozent für Steuererstattungen und Steuernachzahlungen. Wir müssen uns, auch um die Glaubwürdigkeit des Staates als Fiskus zu verbessern, dafür einsetzen, solche Gerechtigkeitslücken nicht zuzulassen. (Beifall der Abg. Margaret Horb [CDU/CSU]) Es kann nicht sein, dass wir eine Niedrigzinssituation haben und sich der Staat mit großem Profit bei den Steuerzahlern in diesem Bereich schadlos hält, meine Damen und Herren. Deswegen müssen wir darauf bestehen, dass das mit einer nächsten Gesetzesänderung angegangen wird. Dies ist ein gutes Gesetz; aber wir sind noch nicht am Ende der Fahnenstange. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Bevor wir in der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: abgegebene Stimmen 575. Mit Ja haben 457 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 116; 2 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 572; davon ja: 453 nein: 117 enthalten: 2 Ja CDU/CSU Katrin Albsteiger Artur Auernhammer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Sybille Benning Dr. André Berghegger Dr. Christoph Bergner Ute Bertram Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexandra Dinges-Dierig Alexander Dobrindt Michael Donth Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Iris Eberl Jutta Eckenbach Dr. Bernd Fabritius Hermann Färber Uwe Feiler Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Klaus-Peter Flosbach Thorsten Frei Dr. Astrid Freudenstein Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Cemile Giousouf Josef Göppel Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Dr. Herlind Gundelach Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Stefan Heck Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Uda Heller Jörg Hellmuth Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Dr. Heribert Hirte Christian Hirte Alexander Hoffmann Thorsten Hoffmann (Dortmund) Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Dr. Hendrik Hoppenstedt Margaret Horb Anette Hübinger Hubert Hüppe Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Sylvia Jörrißen Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung Xaver Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Steffen Kanitz Alois Karl Anja Karliczek Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Jürgen Klimke Jens Koeppen Markus Koob Kordula Kovac Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Roy Kühne Günter Lach Uwe Lagosky Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Barbara Lanzinger Dr. Silke Launert Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Philipp Lengsfeld Dr. Andreas Lenz Dr. Ursula von der Leyen Antje Lezius Ingbert Liebing Matthias Lietz Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Wilfried Lorenz Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. Jan-Marco Luczak Karin Maag Yvonne Magwas Thomas Mahlberg Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Reiner Meier Dr. Michael Meister Jan Metzler Maria Michalk Dr. h.c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Marlene Mortler Volker Mosblech Elisabeth Motschmann Dr. Gerd Müller Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Helmut Nowak Dr. Georg Nüßlein Julia Obermeier Wilfried Oellers Florian Oßner Dr. Tim Ostermann Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Martin Pätzold Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Erwin Rüddel Albert Rupprecht Anita Schäfer (Saalstadt) Andreas Scheuer Karl Schiewerling Jana Schimke Norbert Schindler Tankred Schipanski Heiko Schmelzle Christian Schmidt (Fürth) Gabriele Schmidt (Ühlingen) Ronja Schmitt Patrick Schnieder Dr. Ole Schröder Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Christina Schwarzer Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Tino Sorge Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Albert Stegemann Peter Stein Erika Steinbach Sebastian Steineke Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Rita Stockhofe Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Matthäus Strebl Karin Strenz Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Sabine Sütterlin-Waack Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Astrid Timmermann-Fechter Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Oswin Veith Thomas Viesehon Michael Vietz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sven Volmering Christel Voßbeck-Kayser Kees de Vries Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Marian Wendt Waldemar Westermayer Kai Whittaker Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Dagmar G. Wöhrl Barbara Woltmann Tobias Zech Heinrich Zertik Emmi Zeulner Dr. Matthias Zimmer Gudrun Zollner SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heike Baehrens Ulrike Bahr Heinz-Joachim Barchmann Dr. Katarina Barley Doris Barnett Klaus Barthel Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Burkhard Blienert Willi Brase Dr. Karl-Heinz Brunner Edelgard Bulmahn Marco Bülow Martin Burkert Dr. Lars Castellucci Petra Crone Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Sabine Dittmar Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Michaela Engelmeier Dr. h.c. Gernot Erler Petra Ernstberger Saskia Esken Karin Evers-Meyer Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Elke Ferner Dr. Ute Finckh-Krämer Christian Flisek Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Angelika Glöckner Ulrike Gottschalck Kerstin Griese Gabriele Groneberg Michael Groß Uli Grötsch Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Ulrich Hampel Sebastian Hartmann Michael Hartmann (Wackernheim) Dirk Heidenblut Hubertus Heil (Peine) Marcus Held Wolfgang Hellmich Heidtrud Henn Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Thomas Hitschler Dr. Eva Högl Matthias Ilgen Christina Jantz-Herrmann Frank Junge Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Ulrich Kelber Marina Kermer Cansel Kiziltepe Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Birgit Kömpel Anette Kramme Dr. Hans-Ulrich Krüger Helga Kühn-Mengel Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Hiltrud Lotze Kirsten Lühmann Dr. Birgit Malecha-Nissen Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Bettina Müller Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Ulli Nissen Thomas Oppermann Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Christian Petry Detlev Pilger Sabine Poschmann Joachim Poß Florian Post Achim Post (Minden) Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Dr. Simone Raatz Martin Rabanus Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Andreas Rimkus Sönke Rix Petra Rode-Bosse Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Susann Rüthrich Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Annette Sawade Dr. Hans-Joachim Schabedoth Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Dorothee Schlegel Ulla Schmidt (Aachen) Matthias Schmidt (Berlin) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Elfi Scho-Antwerpes Ursula Schulte Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Norbert Spinrath Svenja Stadler Martina Stamm-Fibich Sonja Steffen Peer Steinbrück Christoph Strässer Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Carsten Träger Ute Vogt Dirk Vöpel Gabi Weber Bernd Westphal Dirk Wiese Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Gülistan Yüksel Dagmar Ziegler Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann Manfred Zöllmer Nein DIE LINKE Jan van Aken Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Annette Groth Dr. André Hahn Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Andrej Hunko Sigrid Hupach Ulla Jelpke Susanna Karawanskij Kerstin Kassner Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Birgit Menz Cornelia Möhring Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Petra Pau Harald Petzold (Havelland) Richard Pitterle Martina Renner Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Birgit Wöllert Jörn Wunderlich Hubertus Zdebel Pia Zimmermann Sabine Zimmermann (Zwickau) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Kerstin Andreae Annalena Baerbock Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Agnieszka Brugger Ekin Deligöz Katja Dörner Katharina Dröge Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Matthias Gastel Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Britta Haßelmann Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Dieter Janecek Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Stephan Kühn (Dresden) Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Peter Meiwald Irene Mihalic Beate Müller-Gemmeke Özcan Mutlu Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Corinna Rüffer Elisabeth Scharfenberg Ulle Schauws Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Kordula Schulz-Asche Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Dr. Julia Verlinden Doris Wagner Beate Walter-Rosenheimer Dr. Valerie Wilms Enthalten SPD Thomas Jurk Detlef Müller (Chemnitz) Wir fahren in der Debatte zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens fort. Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren wissen wir von massiven Defiziten im Steuervollzug. In der Finanzverwaltung fehlen laut den Bedarfsberechnungen der Länder bis zu 16 000 Beschäftigte. Durch Personalmangel und schlechte Ausstattung wird vielerorts nur schlecht oder zeitweise gar nicht geprüft. Vor allem Gutverdiener und gewinnstarke kleinere und mittlere Unternehmen haben dadurch gute Chancen, bei ihren Steuererklärungen zu tricksen und durch schlechte Kontrollen zu wenig Steuern zu zahlen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wahnsinn!) Anscheinend nehmen gerade die reichen Bundesländer dies gerne in Kauf, um im Steuerwettbewerb mit anderen Bundesländern besonders attraktiv für Reiche und Unternehmen dazustehen. (Margaret Horb [CDU/CSU]: Eine Unterstellung!) Das ist nicht nur unfair gegenüber denjenigen, die ehrlich ihre Steuern zahlen, sondern auch schlecht für das Gemeinwesen, weil Geld fehlt und die Steuermoral untergraben wird. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD] und Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich weiß natürlich, dass in erster Linie die Länder für den Steuervollzug zuständig sind und nicht der Bund. Deswegen lassen sich die genannten Probleme auch nicht durch ein Bundesgesetz beheben. (Margaret Horb [CDU/CSU]: Richtig!) Wir müssen sie aber trotzdem zu einem zentralen Aspekt der Verhandlungen bei den Bund-Länder-Finanzbeziehungen machen. Eine gute Lösung – dabei bleiben wir – wäre eine Bundessteuerverwaltung; ein guter erster Schritt wären aber schon einheitliche Standards bei der Personalausstattung. (Beifall bei der LINKEN) Wenn die Bundesregierung in den Verhandlungen statt auf einen einheitlichen und gerechten Steuervollzug aber lieber auf mehr Kompetenzen beim Bau von Autobahnen setzt, dann zeigt das, was ihr wichtig und was ihr nicht so wichtig ist. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das ist auch gut!) Die Bundesregierung verfolgt mit diesem Gesetz das Ziel, die unzureichende Personalausstattung durch den verstärkten Einsatz von Computerprogrammen zu kompensieren. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Haben Sie noch nie etwas von der Modernisierung der Welt gehört? Mannomann!) – Wir kommen schon noch dazu. (Zuruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]) – Hören die doch einmal zu! Sie verstehen doch gar nichts davon. (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind ein Rüpel!) Das bisher geltende Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung wird nun ergänzt um die Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit. (Margaret Horb [CDU/CSU]: Das ist auch gut so!) Dadurch wird der Vollzug der Steuergesetze noch stärker abhängig vom vorhandenen Personalbestand: Habe ich zu wenig Personal, kann ich nicht mehr eine Gleichmäßigkeit der Besteuerung durchsetzen. Unter Wirtschaftlichkeits- und Zweckmäßigkeitsaspekten nehme ich jetzt mehr Computer, habe aber keinerlei Gelegenheit mehr, das mit Personal entsprechend zu begleiten. (Margaret Horb [CDU/CSU]: Das ist falsch!) Die Linke hält den Grundansatz des Gesetzentwurfes für verfehlt. Ein gleichmäßiger und gesetzmäßiger Steuervollzug ist nur durch den verstärkten Einsatz von Computertechnologie und durch mehr Personal zu erreichen. (Beifall bei der LINKEN) Wir haben heute also keinen guten, sondern einen schlechten Tag, weil mit diesem Gesetz nur der verstärkte Computereinsatz und die Unterausstattung des Personals in der Steuerverwaltung zementiert werden sollen. (Beifall bei der LINKEN) Zu kurz kommt auch die Kontrolle. Die Risikoparameter, die hier eingeführt werden, sind nicht einsehbar, sind sozusagen geheim. Wir als Gesetzgeber und die Öffentlichkeit können nicht beurteilen, wie gut und wie schnell Steuerfälle wirklich bearbeitet werden. Selbst bei der Festlegung von Mindeststandards bleibt der Bundestag außen vor. Deswegen glauben wir, dass ein Großteil des automatisch vollzogenen Steuervollzugs zu einer Blackbox wird, und das ist ein unhaltbarer Zustand. (Beifall bei der LINKEN) Aus unserer Sicht ein weiterer Grund, den Gesetzentwurf abzulehnen: Zukünftig soll bei verspätet abgegebenen Steuererklärungen ein verpflichtender Zuschlag erhoben werden; Herr Michelbach hat das angesprochen. Zum Glück hat es eine Absenkung um die Hälfte gegeben. Aber mit 25 Euro pro Monat ist der Säumniszuschlag immer noch viel zu hoch, da er vor allen Dingen Steuerpflichtige mit niedrigen und mittleren Einkommen treffen wird. Aus diesen Gründen werden wir den Gesetzentwurf – wir haben uns das lange überlegt – komplett ablehnen. Es gibt sicherlich auch positive Aspekte, beispielsweise, dass sich der Bund stärker in die Modellierung der Steuererhebung einbringen kann. Aber letztlich ist der zunehmende Computereinsatz ohne Personaleinsatz nicht zielführend und wird dazu führen, dass es um die Steuergerechtigkeit in unserem Land noch schlechter steht und der Steuervollzug nicht verbessert wird. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Frank Junge für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Margaret Horb [CDU/CSU]) Frank Junge (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Dr. Troost, Sie werden verstehen, dass ich das natürlich an vielen Stellen ganz anders sehe. Für mich ist das Steuermodernisierungsgesetz, das wir heute zu beschließen haben, eine Möglichkeit, den Umgang mit dem Besteuerungsverfahren endlich im 21. Jahrhundert ankommen zu lassen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Das sollten wir erst einmal zur Kenntnis nehmen. Um nicht mehr oder weniger geht es bei dem Gesetz, über das wir heute zu entscheiden haben. Wir schaffen damit die rechtliche Grundlage, die Voraussetzungen für das vollelektronische Massenverfahren neben der herkömmlichen Bearbeitung der Steuererklärung in Papierform. Wir bereiten den Weg dafür, dass durch zielgerichteten und umfassenden IT-Einsatz – das kam hier schon zur Sprache – die Automatisierungsquote von aktuell 3 Prozent auf circa 50 Prozent innerhalb von fünf Jahren angehoben werden kann. Auf der einen Seite werden davon die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler profitieren, die bald weniger Aufwand haben, ihren steuerlichen Pflichten nachzukommen, und ihren Steuerbescheid zukünftig viel schneller in der Hand halten werden. Auf der anderen Seite entlasten wir die Finanzverwaltungen von Routineaufgaben. Das, Herr Dr. Troost, wird dazu führen, dass die gewonnene Kapazität in den Finanzämtern dafür genutzt werden kann, sich um komplexere und schwierigere Fälle zu kümmern. Das halte ich für einen Zugewinn. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die einfachen werden durchgewunken!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit das gelingt, ist ein automationsgestütztes Risikomanagement erforderlich; das wurde hier schon angesprochen. Aber es ist auch nötig, dass die automationsgestützten Risikomanagementsysteme um eine automatische Bearbeitung ergänzt werden. Dazu passen wir die Amtsermittlungsgrundsätze an, die bisher aus Gleichmäßigkeit, Verhältnismäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung bestehen. Wir ergänzen sie um die sekundären Aspekte der Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit. Aus dem Zusammenspiel dieser Grundsätze wird am Ende die Effizienzsteigerung erwachsen, von der wir uns viel versprechen. Allerdings muss ich anführen, dass die neu einzuführenden unbestimmten Rechtsbegriffe „Wirtschaftlichkeit“ und „Zweckmäßigkeit“ nach Ansicht meiner Fraktion nur nachgeordnete Bedeutung haben dürfen (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das steht da aber nicht drin!) und sich nur auf die Verifikation der Angaben des Steuerpflichtigen beziehen können. Die Berücksichtigung von Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit darf nicht dazu führen, dass die Ermittlung von steuerlich relevanten Sachverhalten vernachlässigt wird (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist aber eben nicht gewährleistet!) oder auf die Überprüfung der Einhaltung von steuerrechtlichen Vorschriften verzichtet wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]) Herr Dr. Troost, vor diesem Hintergrund sind wir nach der ziemlich kontroversen Debatte in der Expertenanhörung in unserer Fraktion zu der Auffassung gekommen, dass der vorliegende Gesetzentwurf trotz der stärkeren Beachtung der Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkte keine Abstriche an den rechtsstaatlichen Prinzipien nach sich zieht. Wir sehen uns in unserer Auffassung dadurch bestärkt, dass das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und das Bundesministerium des Innern die gleiche Ansicht vertreten. (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD] – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja, aber nicht schriftlich!) Mit diesem Gesetz räumen wir den Finanzämtern der Länder weitreichende Kompetenzen ein; dessen sind wir uns in der Fraktion bewusst. Meine Fraktion ist sich aber auch im Klaren darüber, dass die Finanzverwaltung diese Handlungsspielräume braucht, um zukunftsfähig zu sein und ein serviceorientierter Partner für die Bürgerinnen und Bürger zu sein, die hohe Ansprüche an die Finanzverwaltung stellen. In diesem Verhältnis hat die SPD-Fraktion im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens insbesondere dafür gesorgt, dass auch die Belange der Steuerpflichtigen nicht zu kurz kommen. So wurde auf unser Betreiben die Frist zur Abgabe der Steuererklärung für alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler verlängert. Ab 2017 werden – das war unser Bestreben – nicht nur die beratenen Steuerpflichtigen, sondern ausnahmslos alle Bürgerinnen und Bürger zwei Monate mehr Zeit für ihre Steuererklärung haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Von dieser Fristverlängerung wird die Personengruppe, die ihre Steuererklärung selbst erstellt – sie umfasst circa 11 Millionen Menschen –, profitieren. Bei einem weiteren Punkt konnte sich meine Fraktion durchsetzen. Der nun im Gesetz verankerte automatische Verspätungszuschlag wird abgesenkt – Herr Dr. Michelbach hatte darauf hingewiesen –; denn ich habe schon in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs hier angemerkt, dass uns der Betrag von 50 Euro pro Monat unverhältnismäßig hoch erscheint. Wir sind deshalb froh, dass wir uns darauf einigen konnten, den Betrag um die Hälfte abzusenken und auf 25 Euro festzusetzen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Margaret Horb [CDU/CSU]) Lassen Sie mich noch einige Sätze zum Verspätungszuschlag sagen; ich beziehe mich da auf die derzeitige öffentliche Berichterstattung. Es ist in der Tat so, dass der Verspätungszuschlag zukünftig zwingend für diejenigen fällig wird, die sich von einem Steuerberater oder einem Lohnsteuerhilfeverein beraten lassen. Wenn jedoch keine Steuer festgesetzt wird oder wenn der Steuerpflichtige eine Erstattung zu erwarten hat, dann muss bei verspäteter Abgabe auch zukünftig kein Verspätungszuschlag erhoben werden. (Margaret Horb [CDU/CSU]: Falsch!) Somit gibt es für die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keinen Pflichtverspätungszuschlag. Gleiches gilt für die Menschen, die nicht wussten, dass sie eine Steuererklärung hätten abgeben müssen. Hier habe ich insbesondere die Rentner vor Augen, die durch eine Rentenanpassung nach oben möglicherweise in die Steuerpflicht rutschen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mit Blick auf die ziemlich verkürzte und stellenweise falsche öffentliche Berichterstattung wollte ich auf diese Punkte noch einmal hinweisen. Zum Schluss will ich dir, liebe Margaret, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesfinanzministeriums herzlich für die gute Zusammenarbeit danken. Sie war sehr konstruktiv. Am Ende sind aufgrund dieser Zusammenarbeit insgesamt 24 Umdrucke mit Bereinigungen, Vereinfachungen, Präzisierungen und Verbesserungen entstanden, die in den Entwurf geflossen sind. (Beifall des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]) Sie machen den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf zu einem ausgewogenen Kompromiss zwischen den Interessen der Bürgerinnen und Bürger, der Finanzverwaltung, der Wirtschaft und der Branche der steuerberatenden Berufe. Aus diesem Grund bitte ich Sie um Zustimmung. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Gambke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer auf den Rängen und möglicherweise – bei einem solchen Thema vielleicht nicht allzu viele – draußen an den Fernsehschirmen! Herr Kollege Troost, Sie haben es vielleicht nicht so gemeint, aber es kam so rüber: Die Automatisierung von Verfahren und die softwaregestützte Auswertung von Daten sind heute unabdingbar (Beifall der Abg. Margaret Horb [CDU/CSU] – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja!) und dürfen nicht ausgespielt werden gegen die mangelnde Personalausstattung, die Sie zu Recht kritisiert haben, und die fehlende Bundessteuerverwaltung. Wir brauchen zunehmend automatisierte Verfahren, weil wir sonst die Menge an Daten, die auf uns zukommt, gar nicht bearbeiten können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der heute zu verabschiedende Gesetzentwurf hatte – Sie haben es gesagt – einen langen Vorlauf. Das merkt man dem Gesetzentwurf an. Er enthält in der Tat eine Reihe von guten Regelungen, auch Nachsteuerungen. Ja, es ist wirklich überfällig, dass Steuerverwaltung und Steuererklärung im digitalen Zeitalter ankommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Margaret Horb [CDU/CSU]) Dass mit diesem Gesetzentwurf auch die Vernetzung von 16 Landessteuerverwaltungen möglich wird, begrüßen wir ausdrücklich. Lassen Sie es mich also deutlich sagen: Dies ist ein wirklich wichtiger Schritt in Richtung Bürokratievereinfachung durch digitale Technologien. Wenn Sie das Gutachten des Normenkontrollrats vom letzten November noch im Kopf haben, erinnern Sie sich, dass er ausgeführt hat, dass der bürokratische Aufwand der Bürgerinnen und Bürger und der Verwaltungen im digitalen Zeitalter um ein Drittel verringert werden kann, und angesichts dessen muss man sagen: Dies ist nur ein erster Schritt, aber ein wichtiger. Ich habe gerade auf die Chancen der digitalen Technologien hingewiesen. In diesem Zusammenhang muss ich auch klar sagen, dass wir dabei verantwortungsbewusst vorgehen müssen. An dieser Stelle, Herr Junge, müssen wir scharfe Kritik üben: Wieder einmal wurden bezüglich eines Gesetzentwurfs erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken vorgetragen. Diese führen uns dazu, dass wir diesem Gesetzentwurf so nicht zustimmen können. Ich will das ausführen: Herr Junge, Sie hatten gestern ebenso wie ich und einige andere Kollegen die Gelegenheit, die Diskussion im Finanzausschuss zu verfolgen. Man war sich dort unsicher, wie sich der Bundesjustizminister und das Verbraucherministerium wirklich verbindlich geäußert haben. Diese verbindliche Äußerung konnte in der Sitzung nicht festgestellt werden. Angesichts dessen verstehe ich nicht, wie Sie einem Gesetzentwurf zustimmen können, gegen den vorher doch erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken artikuliert wurden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Worum geht es? Mit diesem Gesetzentwurf ergänzen Sie in § 88 der Abgabenordnung die bisher einzuhaltenden Grundsätze – Gesetzmäßigkeit, Gleichmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit des Steuervollzugs – um die Begriffe „Wirtschaftlichkeit“ und „Zweckmäßigkeit“. Ich habe das heute noch einmal nachgelesen – ich habe mich erst heute wieder mit diesem Thema befasst, weil eigentlich Lisa Paus hier hätte stehen sollen, was ihr aus privaten Gründen aber nicht möglich ist –: Der BFH-Richter Professor Brandt hat festgestellt, dass diese wenig präzisen Begriffe zu einem relativ großen Spielraum für die Exekutive führen und die Verfassungsfestigkeit des Gesetzes deshalb möglicherweise nicht gegeben sein wird. Sein Kollege Schmittberg vom Bund Deutscher Finanzrichterinnen und Finanzrichter warnte vor der Gefahr einer verfassungswidrigen Verlagerung von Aufgaben des Gesetzgebers auf die Verwaltung als Exekutive. Unisono unterstrichen die Experten, wie hochproblematisch die Einführung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe ist, und empfehlen schlicht die Streichung. Wenn mit diesen Begriffen das Selbstverständliche gemeint ist – Verwaltungen sollen effizient arbeiten –, dann brauchen Sie das nicht explizit ins Gesetz zu schreiben. Wenn damit aber etwas anderes gemeint ist, dann muss das konkretisiert werden; denn sonst öffnen diese Begriffe die Tür für eine willkürliche und kreative Auslegung durch die Exekutive. Bestenfalls würde die Konkretisierung in den kommenden Jahren mühsam per Einzelentscheidungen durch die Gerichte vorgenommen werden. Die Konkretisierung ist aber die Aufgabe des Gesetzgebers. Das ist unsere Aufgabe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]) Deshalb müssen wir das konkretisieren oder streichen. Sie bestehen darauf. Vermutlich liegt das an Ihrem mangelnden Zutrauen in die Qualität der Risikomanagementsysteme. Leider ist meine Redezeit fast abgelaufen, aber ich möchte doch noch sagen: Gerade die Punkte Software und Kontrolle der Software – wir haben das im Ausschuss thematisiert – werden nach unserer Auffassung nur unzureichend abgebildet. Wir können das nicht der Exekutive überlassen. Ich denke, dass wir an dieser Stelle einen Mangel haben, der uns im digitalen Zeitalter weiter beschäftigen wird. Wir müssen uns das, was automatisiert abläuft, sehr genau anschauen und notwendige Festlegungen vornehmen. Als Parlamentarier dürfen wir uns nicht zurückziehen und sagen: Das macht jetzt die Exekutive. – Deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf ab. Vielen Dank, meine Damen und Herren, fürs Zuhören. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Margaret Horb für die Fraktion der CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Margaret Horb (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für mich als Christdemokratin gibt es drei wichtige Bücher: das Grundgesetz, die Bibel und den Koalitionsvertrag, (Heiterkeit bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und zwar in dieser Reihenfolge. Die ersten beiden enthalten für uns Finanzpolitiker leider wenig Konkretes, anders hingegen der Koalitionsvertrag. Dort heißt es: Steuervereinfachung ist eine Daueraufgabe. Es ist ein wichtiges politisches Ziel, hier Schritt für Schritt voranzukommen und dabei insbesondere auch die technischen Möglichkeiten der modernen Datenverarbeitung zu nutzen. Genau das setzen wir heute um. Dieser Satz lenkt die Aufmerksamkeit genau auf einen Aspekt, der häufig vernachlässigt wird: Vereinfachung fängt beim Verfahren an. Es sind vor allem bürokratische und langwierige Verwaltungsabläufe, die für die Bürger und für die Unternehmen ein Problem darstellen. Wir Steuerpolitiker wissen das und gehen genau dieses Problem heute an. Vereinfachung heißt nicht Vereinfachung nur für die Verwaltung, sondern Vereinfachung für alle. Steuervereinfachung für alle – das heißt zunächst einmal Vereinfachung für den ganz normalen Bürger. Sie erhalten nun zwei Monate länger Zeit, ihre Steuererklärung abzugeben. Bisher sah der Gesetzentwurf dies nur für die steuerberatenden Berufe vor. Wir haben dies erweitert. Künftig haben zum Beispiel Ehepaare mit den Lohnsteuerklassen III und V nicht nur bis zum 31. Mai Zeit, ihre Steuererklärung abzugeben, sondern bis zum 31. Juli. Wir regeln auch ganz klar, dass jeder Steuerpflichtige weiterhin die Möglichkeit hat, seine Steuererklärung von einem Finanzbeamten prüfen zu lassen. Wenn ein Steuerpflichtiger also keine automatische Bearbeitung will, dann kann er auch weiterhin auf eine personelle Prüfung bestehen. Einen automatischen Verspätungszuschlag wird es nur unter sehr engen Voraussetzungen geben. Nur für denjenigen, der zwingend eine Steuererklärung abgeben muss, zugleich länger als 14 Monate zur Erstellung seiner Steuererklärung braucht, zugleich keine Fristverlängerung beantragt hat und zugleich Steuern nachzahlen muss, gibt es den automatischen Verspätungszuschlag. Für diejenigen, die Steuern erstattet bekommen, bleibt es bei der bisherigen Rechtslage. Für Rentner, die nicht wissen, dass sie abgabepflichtig sind, haben wir eine Billigkeitsregelung eingeführt. Vereinfachung für alle – das heißt auch Vereinfachung für die steuerberatenden Berufe. Denn ohne diese würde unser Steuersystem nicht funktionieren. Die Abgabefrist für vorab angeforderte Steuererklärungen haben wir daher im Verfahren von drei auf vier Monate verlängert. Die Freizeichnung von Steuererklärungen haben wir deutlich entbürokratisiert. Die steuerberatenden Berufe erhalten ein Wahlrecht, ob sie ihren Mandaten die Daten vor oder nach Übermittlung zum Finanzamt zur Verfügung stellen. Zukünftig können Lohnsteuerhilfevereine und landwirtschaftliche Buchstellen nicht mehr vom Finanzamt zurückgewiesen werden. Bisher galt diese Ausnahmeregelung nur für die Steuerberater. Wir erkennen hiermit ganz besonders auch die wertvolle und wichtige Arbeit der Lohnsteuerhilfevereine und der landwirtschaftlichen Buchstellen an. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vereinfachung für alle heißt natürlich auch Vereinfachung für die Unternehmen. Wir geben ein klares Bekenntnis zur verbindlichen Auskunft ab. Wir wollen, dass die Unternehmen dieses Instrument effektiv nutzen können, um vom Finanzamt schneller Rechtssicherheit und Planungssicherheit zu bekommen. In Zukunft gilt: Verbindliche Auskünfte sollen innerhalb von sechs Monaten bearbeitet werden. Ist die Finanzverwaltung nicht dazu in der Lage, müssen Gründe vorgelegt werden. Weiterhin haben wir eine unbürokratische Ermittlung von Herstellungskosten eingeführt. Diese verankern wir rechtssicher in der Abgabenordnung. Die Grenze für die Kleinbetragsrechnungen erhöhen wir von 150 auf 200 Euro. Wir als CDU/CSU-Fraktion hatten 400 Euro im Blick, aber leider – das haben mir die Kollegen der SPD wirklich glaubhaft versichert – liegt die Schmerzgrenze unseres Koalitionspartners bei 200 Euro. Weitere Erleichterungen gibt es bei den verschiedenartigen Bezügen, bei der Anzeigepflicht nach dem Grunderwerbsteuergesetz, bei dem Versand von Kapitalertragsteuerbescheinigungen, bei den Bekanntgabefristen von Steuerverwaltungsakten und bei der Rechtsbereinigung im Einkommensteuergesetz. Nicht einigen konnten wir uns mit der SPD leider auf die Absenkung der steuerlichen Vollverzinsung. Damit müssen wir leben. Aber ich sage es einmal so: Herr Draghi macht auf mich nicht den Eindruck, als wolle er die Niedrigzinsphase alsbald beenden. Ich respektiere natürlich die Unabhängigkeit der EZB. Aber ich will nicht verhehlen, dass ich dies für brandgefährlich erachte. Auf jeden Fall stellt es uns politisch vor enorme Herausforderungen. Im Handelsrecht, im Steuerrecht, im Bereich der Altersvorsorge, überall holen uns die niedrigen Zinsen ein. Wenn der Marktzins bei null liegt und die steuerliche Verzinsung, unter anderem auch die Vollverzinsung, bei 6 Prozent liegt, dann kann das auf Dauer nicht funktionieren. Ich sage uns voraus: Wir werden uns mit dieser Thematik beschäftigen müssen, ob wir wollen oder nicht. Jetzt noch ein paar Klarstellungen zur Verfassungsmäßigkeit. Das federführende Bundesfinanzministerium hat den Gesetzentwurf juristisch geprüft. Das Bundesjustizministerium hat den Gesetzentwurf verfassungsrechtlich geprüft. Wir in der Koalition haben uns in einem Berichterstattergespräch nur mit dieser Frage beschäftigt, übrigens unter intensiver Beteiligung von Steuerrechtlern. Das Ergebnis ist: Es gibt keinen Zweifel an der Verfassungskonformität des vorliegenden Gesetzentwurfes. Wir übernehmen zwei Begriffe – „Wirtschaftlichkeit“ und „Zweckmäßigkeit“ – in die Abgabenordnung. Diese Begriffe sind in juristischen Kommentaren und anderen Gesetzen bereits vollkommen üblich und etabliert. Der Versuch, mit minimalem Verwaltungsaufwand maximalen fiskalischen Ertrag zu erzielen, ist rechtlich unzulässig. Das bleibt auch weiterhin so. Selbstverständlich können die Grundzüge des Risikomanagementsystems veröffentlicht werden, wenn dadurch das Besteuerungsverfahren nicht beeinträchtigt wird. Die technische Prüfung von Steuererklärungen untergräbt nicht die gleichmäßige und gesetzmäßige Besteuerung. Das Gegenteil ist der Fall: Risikomanagementsysteme zeigen dem Bearbeiter, auch dem Finanzbeamten, genau, wo er prüfen muss und wo es Ungereimtheiten gibt. Sie sind deshalb eine wichtige Unterstützung im Hinblick auf ein gerechtes und gleichmäßiges Steuersystem in ganz Deutschland. Sie dienen nicht dem Personalabbau; sie unterstützen das Personal. All das kann man wissen, wenn man mit Praktikern spricht. Ich habe in den letzten Monaten zahlreiche Gespräche geführt: mit Steuerberatern, Lohnsteuerhilfevereinen, landwirtschaftlichen Buchstellen, Unternehmen und auch mit Finanzbeamten. Zum Schluss war ich in den Finanzämtern Karlsruhe-Durlach, Heilbronn und Mannheim. Alle sind sich einig, dass ein verstärkter IT-Einsatz im Besteuerungsverfahren sinnvoll und notwendig ist. Der Gesetzentwurf geht also in die richtige Richtung. Ich möchte mich ausdrücklich bei unserem Koalitionspartner bedanken, ganz besonders bei dir, lieber Frank Junge. Zig Gespräche haben wir geführt, wir haben es wirklich durchgeboxt, und es drang nichts nach außen. Das ist wirklich eine Besonderheit. Dafür ganz herzlichen Dank! Mein Dank geht auch an das Bundesfinanzministerium, das uns in unzähligen Sitzungen und Einschätzungen mit seinem großen Sachverstand zur Seite gestanden hat. Herr Staatssekretär Spahn, ich möchte Sie bitten, die herzlichsten Grüße und mein Dankeschön an Dr. Meister und das ganze Haus zu übermitteln. Schlussendlich möchte ich auch meinen Mitarbeitern und den wissenschaftlichen Mitarbeitern insgesamt danken, stellvertretend Herrn Sebastian Wüste und Herrn Stephan Rochow. Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf ist die größte Reform des Steuerverfahrens seit 40 Jahren. Wir haben zusätzlich spürbare Vereinfachungen für Bürger, Unternehmen und Berater durchgesetzt. Dieses Gesetz macht unser Steuerverfahren effizienter, schneller und serviceorientierter, und zwar für alle. Kurz vor Beginn der Fußballeuropameisterschaft sage ich es einmal so: Wir haben den Ländern eine wunderbare Vorlage geliefert; sie müssen den Ball im Steuervollzug jetzt nur noch ins Tor schießen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Jens Zimmermann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Jens Zimmermann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, an der Rede von Frau Kollegin Horb und auch an der von meinem Kollegen Frank Junge hat man gesehen, dass wirklich viel Arbeit und viel Herzblut in diesem Gesetz stecken, auch wenn man dies, wenn man vom Steuermodernisierungsgesetz hört, erst einmal nicht glauben mag. Vielen, vielen Dank. Ich glaube, wir vom Finanzausschuss wissen alle, dass wir häufig mit sperrigen und technischen Gesetzesnamen umgehen müssen; aber – das ist in den vorangegangenen Reden schon deutlich geworden – wir reden hier über ein Gesetz, das fast jeden in unserem Land betrifft, denn es geht zu einem großen Teil um die Steuererklärungen. Ich will eines sagen: Selbst bei mir zu Hause war dieses Gesetz am Wochenende am Frühstückstisch Thema, und ich habe es nicht angesprochen. Es wurden Befürchtungen laut: Oje, ich muss mich mit meiner Steuererklärung beeilen, sonst muss ich 50 Euro Säumniszuschlag zahlen. Daraufhin habe ich gesagt: Nein, die SPD hat durchgesetzt, dass es nur 25 Euro sein müssen. (Lachen bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Da habe ich am Wochenende schon einmal gute Karten zu Hause gehabt. Das hat aber nicht lange geholfen. Ich konnte dann aber noch nachlegen und sagen: Außerdem gibt es noch eine Verlängerung um zwei Monate. Aber Spaß beiseite. Wir haben es in der Debatte schon deutlich gemacht: Das betrifft einen kleinen Teil der Menschen, und es sorgt für mehr Klarheit. Bisher war in vielen Fällen nicht sicher, ob ein Säumniszuschlag gezahlt werden muss. Die Antwort auf die Frage, ob ja oder nein, lag in der Macht des Finanzamtes. Jetzt haben wir eine klare und transparente Regelung, die für alle gleichermaßen gilt. Ich glaube, hier haben wir eine vernünftige Regelung gefunden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Da wir uns im Ausschuss Digitale Agenda kürzlich mit dem Vorsitzenden des Normenkontrollrates getroffen haben, will ich hier noch einmal Folgendes feststellen. Der Normenkontrollrat hat sich intensiv mit dem Gesetzentwurf beschäftigt und kommt zu folgender Einschätzung: Der Normenkontrollrat begrüßt den Abbau rechtlicher Hindernisse für elektronische Verfahren und die Verbesserung einer medienbruchfreien elektronischen Kommunikation. Durch den Abbau von Schriftformerfordernissen im Verwaltungsverfahren wird beispielsweise die medienbruchfreie Abwicklung von Verwaltungsprozessen unterstützt, und der Einsatz von E-Government wird attraktiver. Ich finde, das ist an dieser Stelle hervorzuheben; denn auch der Normenkontrollrat setzt sich immer sehr kritisch mit den Gesetzesvorhaben auseinander. Deswegen ist dieses Lob aus diesem Munde wirklich etwas, das wir uns auf die Fahne schreiben können. (Beifall bei der SPD) Zum Abschluss will ich feststellen: Es ist einfach wichtig, dass wir im Verwaltungsbereich und auch im Steuerbereich im 21. Jahrhundert ankommen. Es ist einfach nicht verständlich, dass heutzutage jemand, der beispielsweise seine Steuererklärung seit vielen Jahren am Computer, zum Beispiel mit Elster, macht, noch alles ausdrucken und unterschreiben muss. Dann müssen noch alle Belege zusammengesucht werden. Hier sind wir auf dem richtigen Weg, dass all dies endgültig elektronisch ablaufen kann. Ich glaube, das ist wirklich eine gute Nachricht. Deswegen ist das auch ein gutes Gesetz. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8434, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/7457 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8436. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung soldatenbeteiligungs- und personalvertretungsrechtlicher Vorschriften Drucksache 18/8298 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Verteidigung, Dr. Ursula von der Leyen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der Verteidigung: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung soldatenbeteiligungs- und personalvertretungsrechtlicher Vorschriften. Wir alle wissen, dass die Bundeswehr, wie alle Armeen, auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam basiert. Aber unsere Soldatinnen und Soldaten sind selbstverständlich nicht nur einfache, gehorsame Befehlsempfänger, sondern durch das Prinzip der Inneren Führung werden unsere Soldatinnen und Soldaten zugleich auch zu Teilhabern und Akteuren in den demokratischen Prozessen innerhalb der Bundeswehr gemacht, und uns ist sehr daran gelegen, die Soldatinnen und Soldaten als Staatsbürger in Uniform auch dazu anzuregen, den Truppenalltag ganz aktiv mitzubestimmen. Heute geht es um den gesetzlichen Rahmen der Mitbestimmung. Ich finde, es lohnt sich immer wieder, sich für einen Moment noch einmal vor Augen zu führen, was für ein zentraler Baustein unseres Landes die Mitbestimmung ist. Sie ist der prägende Baustein für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, nämlich prägend für die soziale Marktwirtschaft. Ich finde, man merkt, dass die soziale Marktwirtschaft insbesondere durch die Mitbestimmung ihre besondere Nuance oder Farbe bekommen hat; denn dadurch ist es in unserem Land möglich, unterhalb des dann doch relativ groben Keils der Gesetzgebung eine filigrane, verfeinerte Abstimmung bis herunter auf die Betriebsebene zu ermöglichen, wodurch beide Interessen in Ausgleich gebracht werden können, weshalb man meistens einen sehr viel besseren Konsens erreicht, der sehr viel näher an den Menschen dran ist, als das jemals durch ein Gesetz möglich wäre. Hier bei uns geht es heute deshalb darum, die Mitbestimmung gesetzlich neu zu fassen. Gerade bei Organisationen wie der Bundeswehr, die sich innerhalb der letzten 25 Jahre enorm verändert hat und von deren Angehörigen ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und Flexibilität verlangt wird, ist es für uns wichtig, die Rahmenbedingungen für ein solches Mitbestimmungsgesetz modern zu halten. Deshalb ist im Koalitionsvertrag verankert, dass das Soldatenbeteiligungsgesetz – immerhin von 1991, zuletzt 1997 novelliert – grundlegend neu gefasst und an die Realitäten des 21. Jahrhunderts angepasst werden soll. Sie kennen die Themen, die enorme Veränderungsprozesse mit sich gebracht haben: das Aussetzen der Wehrpflicht – wir haben heute eine Armee von Freiwilligen –, die Selbstverständlichkeit, mit der wir inzwischen Auslandseinsätze diskutieren, und natürlich die vielen Reformen der Bundeswehr. Das alles hat dazu geführt, dass wir die rechtlichen Strukturen der Beteiligung und Mitbestimmung jetzt dringend renovieren müssen. Uns war bei der Bearbeitung des Gesetzentwurfes, der Mitbestimmung als Kern hat, natürlich die Beteiligung der Akteure enorm wichtig. Deshalb waren in der zuständigen Arbeitsgruppe Angehörige aller Personalvertretungen im Geschäftsbereich des Verteidigungsministeriums selbstverständlich mit vertreten. Uns war es vor allem wichtig, die Erfahrungen, aber auch die Erwartungen der Vertrauenspersonen – das ist etwas ganz Besonderes in der Bundeswehr – mit in den Gesetzentwurf einfließen zu lassen. Denn das sorgt für die nötige Praxisnähe. Die Vertrauenspersonen haben gewissermaßen permanent ihren Finger am Puls der Truppe. Was sind die zentralen und wichtigsten Punkte des Gesetzentwurfes? Wir stärken die Position der Vertrauenspersonen. Wir verlängern ihre Amtszeit von zwei auf vier Jahre. Das fördert die Kontinuität. Wir verbessern die Ausstattung. Ich finde, wenn man gute Arbeit leisten möchte, dann muss auch das Material, mit dem man seine Arbeit verrichtet, gut sein. Wir führen eine Aufwandsentschädigung für freigestellte Mitglieder der Vertrauenspersonenausschüsse und Sprecher der Versammlungen neu ein. Der Versetzungsschutz wird weiterentwickelt. Es gibt auch die Möglichkeit, neben Sprechstunden in Zukunft auch Versammlungen abzuhalten und – das finde ich enorm wichtig – sich weiterzubilden. Die Vertrauenspersonen sind genau die Scharniere zwischen Truppe und Dienstherr und müssen dementsprechend immer à jour sein. Ein weiterer großer Punkt: Wir erweitern und schaffen eine Vielzahl von Beteiligungstatbeständen. Künftig besteht ein Recht auf Mitbestimmung bei der Festlegung der regelmäßigen Arbeitszeit, bei Maßnahmen, die der Förderung von Dienst und Familie dienen, und bei Maßnahmen der Berufsförderung. Es wird darüber hinaus ein Recht auf Anhörung geben, etwa bei der Gestaltung der dienstlichen Unterkünfte oder bei Themen wie der Genehmigung von Telearbeit. Ich kenne aus dem Alltag die Sperrigkeit von Verwaltung und weiß, wie wichtig solche Rechte der Anhörung sind, um Bewegung und Flexibilität in den Alltag zu bekommen. Meine Damen und Herren, ein modernes Beteiligungsrecht, das wir Ihnen heute zur Beratung vorlegen, kennzeichnet nicht zuletzt den Dienstherrn als modernen und attraktiven Arbeitgeber. Insofern bitten wir um wohlwollende Beratung. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Christine Buchholz (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau von der Leyen, es ist mir wichtig, ganz zu Beginn zu sagen: Hier geht es nicht um die Agenda Attraktivität, sondern hier geht es um die Rechte der Soldatinnen und Soldaten. Diese müssen gestärkt werden. (Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Aber attraktive Rechte!) Der Bundesrat hat den Entwurf einer Neufassung des Soldatenbeteiligungsgesetzes an den Bundestag zur Beratung weitergeleitet. Worum geht es? Das Soldatenbeteiligungsgesetz, das die Mitbestimmung der Bundeswehr seit 1991 regelt, erfüllt die Anforderungen nicht mehr, weil die Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz umgebaut wurde und weil die Einsätze selbst neue Anforderungen geschaffen haben. Wir Linke lehnen diese Ausrichtung der Bundeswehr auf Auslandseinsätze ab. (Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das wissen wir doch!) – Es ist gut, dass Sie sich das gemerkt haben. – Dass Soldatinnen und Soldaten als Beschäftigte eine Interessenvertretung brauchen, haben wir als Linke hingegen immer unterstützt und werden wir auch weiter unterstützen. (Beifall bei der LINKEN) Wir unterstützen es beispielsweise, wenn sich der oder die Einzelne gegen die Willkür von Vorgesetzten zur Wehr setzt, genauso wie wir die Möglichkeiten der Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen der einzelnen Soldatinnen und Soldaten immer unterstützen. Zahlreiche Fälle, gerade aus den beweglichen Einheiten der Bundeswehr, führen uns immer wieder vor Augen, wie sehr die Struktur der Personalvertretung in der Bundeswehr für den oder die Einzelne bitter nötig ist. Fälle von Missbrauch der Befehlsgewalt durch Vorgesetzte, Mobbing – man muss nur den Jahresbericht des Wehrbeauftragten lesen – sind viel zu oft gang und gäbe. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Sie setzen das aber schon in ein vernünftiges Verhältnis, oder?) Uns selbst sind Fälle bekannt, in denen Vertrauenspersonen eingeschaltet wurden und auch erfolgreich waren, beispielsweise um berechtigte Urlaubsansprüche durchzusetzen. Aber es gibt auch Bereiche, in denen die Vertrauenspersonen, zum Beispiel im Konflikt um Beurteilungen, die dann die Grundlage für die Eingruppierung und auch die Beförderung sind, nicht erfolgreich intervenieren konnten. Das heißt, die Frage ist: Wie weit werden die Rechte der Vertrauenspersonen im Konfliktfall gehen? Wir sind, wie gesagt, für die Verbesserung der Mitbestimmung. Die gesetzliche Verankerung der Vertrauenspersonenausschüsse scheint hierfür ein richtiger Schritt zu sein, ebenso die nunmehr garantierte Anwesenheit von Gewerkschaftsvertretern in einer Dienststelle. Aber wir sind mit der jetzt gegebenen Möglichkeit nicht einverstanden, dass Vertrauenspersonen unter Umständen versetzt werden können. Denn dadurch bekäme der Vorgesetzte wieder ein Druckmittel in die Hand, was dem auch im Gesetzentwurf niedergelegten Schutz der Vertrauensperson widerspricht. In diesem Sinne teilen wir die Anforderungen von Verdi an das Gesetz. Verdi mahnt, sich bei den Vertrauenspersonen an den Beteiligungsrechten, wie sie auch in den Personalräten gelten, zu orientieren. Diese Rechte sind nämlich weiter gehend. Verdi fordert ein, die Beteiligungsrechte von Soldaten zu verbessern, ohne dabei direkt oder indirekt die Rechte der zivilen Beschäftigten zu beschneiden, und Verdi mahnt an, dass bei der Größe und Zusammensetzung der Gremien die Zahl der Soldaten auf die Zahl der stärksten zivilen Gruppe gedeckelt wird. Lassen Sie mich zum Schluss noch eine grundsätzliche Frage stellen. Karsten Mauersberger, der Referent im Führungsstab der Streitkräfte, Referat „Innere und soziale Lage der Streitkräfte“, ist, schreibt, dass die Beteiligungsrechte auch bisher nicht immer vorbehaltlos angewendet wurden und Partizipation von einigen als unmilitärisch abgetan wurde. Die Frage ist also, wie ein Klima zu schaffen ist, in dem diese Rechte unmissverständlich wahrgenommen werden können. Die zweite Frage ist: Wie wollen Sie verhindern, dass die dazugewonnenen Rechte im Einsatz mit dem Verweis auf den Vorrang der Auftragserfüllung abgewimmelt werden? In § 53 des Gesetzentwurfs heißt es: Die Ausübung von Beteiligungsrechten in besonderen Verwendungen im Ausland erfolgt unter Beachtung des Vorrangs der Auftragserfüllung der Streitkräfte und … der Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten nach Maßgabe dieses Gesetzes. Wir befürchten, dass dieser Paragraf im Ernstfall ein Blankoscheck für die Aushebelung von Beteiligungsrechten werden kann. (Henning Otte [CDU/CSU]: Frau Buchholz, das glauben Sie doch nicht wirklich!) Wir sind der Meinung, dass die Rechte der Beschäftigten gestärkt werden müssen. Wir werden uns an dem Prozess der weiteren Ausarbeitung selbstverständlich beteiligen. Wir werden auch weitere Betroffene nach ihrer Meinung fragen, und wir werden auch sicherstellen, dass dieses Gesetz tatsächlich die Rechte der Beschäftigten wahrnimmt, statt im Rahmen der Rekrutierungsoffensiven für die Bundeswehr instrumentalisiert zu werden. Die lehnen wir nämlich ab. Vielen Dank, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Gott sei Dank haben Sie das auch noch reingebracht!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Gabi Weber von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gabi Weber (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Verteidigungsministerin, als Sie eben Ihre Rede begonnen haben, habe ich gedacht: Willkommen bei uns in der SPD! Denn so wie Sie die Errungenschaften der Mitbestimmung für die soziale Marktwirtschaft geschildert haben, können wir nur unterschreiben, was das für einen Stellenwert hat. Ich wollte meine Rede eigentlich damit beginnen, dass beinahe jeder im Saal bereits mit dem Betriebsverfassungsgesetz oder dem Personalvertretungsgesetz Kontakt hatte, weil diese Gesetze selbstverständlicher Bestandteil unseres Wirtschaftslebens und unseres Arbeitslebens geworden sind (Henning Otte [CDU/CSU]: Das ist doch Unionsthema!) und von daher auch für uns als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – auch ich war früher eine ganz normale Arbeitnehmerin –, wie wir uns auch mit unserem jeweiligen Arbeitgeber auseinandergesetzt haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Angesichts der Tatsache, dass mit diesen Gesetzen das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit ganz bestimmten Möglichkeiten versehen wird und dass es möglich ist, konkrete Mitbestimmungstatbestände in Form von Betriebsvereinbarungen festzulegen und Vorschläge aus Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu machen, die zu Verbesserungen im Arbeitsprozess führen, war es überfällig, dass wir das Soldatenbeteiligungsgesetz endlich an die Möglichkeiten anpassen, die die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und in der privaten Wirtschaft bereits haben. Das war überfällig. (Beifall bei der SPD – Florian Hahn [CDU/CSU]: Wir haben es angepackt!) Gestatten Sie mir noch einen Hinweis. Die Krise 2008 im Wirtschaftsleben dieser Republik ist zum großen Teil deshalb glimpflich und ohne Arbeitsplatzverluste im größeren Stil verlaufen, weil es das Vorschlagsrecht der Betriebsräte gab, die als Komanager daran mitgearbeitet haben, dass wir heute in dieser Republik wirtschaftlich so gut dastehen. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das war aber auch die Kanzlerin!) – Das wurde aber auch von den Menschen erreicht, die in den Betrieben ganz stark um ihre Arbeitsplätze gekämpft haben. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Alle gemeinsam!) Jetzt sollen die Soldatinnen und Soldaten ebenfalls starke neue Mitwirkungsrechte bekommen. Wenn wir uns die Verhältnisse in der Bundeswehr genau anschauen und zurückblicken, dann stellen wir fest: Im militärischen Dienstverhältnis stehen die demokratisch verbrieften staatsbürgerlichen Rechte jedes Einzelnen dem generellen Prinzip von Befehl und Gehorsam gegenüber; das darf man nicht vergessen. Hier schlagen sich die Weisungen und Vorgaben des Arbeitgebers noch deutlich stärker nieder. Um die richtige Balance zu gewährleisten, also die individuellen Rechte so wenig wie möglich durch die Zwänge einer militärischen Organisation einzuschränken, regelt das Soldatengesetz die Rechtsstellung der Soldaten und Soldatinnen und bestimmt die Rechte und Pflichten. § 35 dieses Gesetzes bestimmt, dass Soldaten und Soldatinnen schon jetzt bei Dienstentscheidungen zu beteiligen sind. Konkret wurde das aber tatsächlich erst umgesetzt mit dem ersten Soldatenbeteiligungsgesetz 1991. Es ist spannend, nachzuvollziehen, was passiert ist, als sich damals der Bundestag damit befasst hat. Es lohnt sich manchmal, zurückzublicken. Dem Bundestag war klar, dass die Soldatinnen und Soldaten „die gesellschaftliche Werteordnung, die sie zu verteidigen haben, auch im täglichen Dienst erleben“ sollen. Weiter heißt es: Dazu gehört die Möglichkeit, Beteiligungsrechte wahrzunehmen. Diese entsprechen in den Streitkräften gegenwärtig – also am Ende der Blockkonfrontation – nicht mehr dem allgemeinen Stand der Entwicklung in der Gesellschaft. Bis zu diesem Zeitpunkt war eine Vertretung und Mitsprache der Soldaten durch gewählte Vertrauenspersonen unmöglich. Das ist für mich als Gewerkschafterin, die selbst über 30 Jahre für stärkere Beteiligungsrechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gekämpft hat, kaum nachvollziehbar. Immerhin zählen die Prinzipien der Inneren Führung und des Bürgers in Uniform zu den Grundlagen der Bundeswehr seit ihrer Gründung 1956. Da ist es gut und selbstverständlich, allen Bürgern und Bürgerinnen – ob in Uniform oder ohne Uniform – die Wahrnehmung ihrer Rechte zu ermöglichen. Mit der Neufassung von April 1997 wurden – die Ministerin hat vorhin darauf hingewiesen, dass es schon zwei Schritte gegeben hat – die Stellung der Vertrauenspersonen sowie ihre qualitativen und quantitativen Beteiligungsmöglichkeiten besonders in Personalangelegenheiten gestärkt. Wichtig war damals zudem, dass die Vertreter der Soldaten und Soldatinnen in den Personalräten mit den Vertretern der zivilen Beschäftigten gleichgestellt wurden und damit ihre Mitwirkungsmöglichkeiten in diese demokratischen Gremien hineingetragen wurden. Die Ausgewogenheit zwischen den Anforderungen des militärischen Dienstes und der Verwirklichung der Grundsätze der Inneren Führung wurde damit gewährleistet. Mit dem nun eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur erneuten Anpassung des Soldatenbeteiligungsgesetzes werden wir ein Vorhaben unseres Koalitionsvertrages erfüllen. Seit der letzten Novellierung – darauf haben schon zwei Redner hingewiesen – haben sich die Strukturen der Bundeswehr und ihre Aufgaben deutlich verändert. Die Wehrpflicht wurde mittlerweile ausgesetzt, und die Aufgaben der Bundeswehr wurden vielfältiger. Militärisches und ziviles Personal arbeiten enger zusammen denn je. Das macht an manchen Stellen neue Regelungen notwendig. Der Einsatzbezug hat sich deutlich verstärkt. Besonders aber durch die Auslagerung von Aufgaben und damit auch von Personal in die Kommandos der militärischen Organisationsbereiche hat sich ein deutlicher Bedarf an erneuter Gesetzesanpassung ergeben. Nun ein paar Beispiele, die deutlich machen, was sich durch dieses Gesetz verändern wird. Es gibt nun einen Abschnitt – das ist ab § 19 –, der die Mitbestimmung regelt. Diese Regelungen orientieren sich stark am Betriebsverfassungsgesetz und am Bundespersonalvertretungsgesetz. Das wird zum Beispiel dadurch deutlich, dass die Vertrauensperson „zur verantwortungsvollen Zusammenarbeit zwischen Vorgesetzten und Untergebenen sowie zur Festigung des kameradschaftlichen Vertrauens“ und zu einer vernünftigen Arbeitsorganisation beitragen soll. Weiter heißt es: Vertrauensperson und Disziplinarvorgesetzte oder Disziplinarvorgesetzter arbeiten im Interesse der Soldatinnen und Soldaten des Wahlbereiches und zur Erfüllung des Auftrages der Streitkräfte mit dem Ziel der Verständigung eng zusammen. Dann kommt das, was mir besonders am Herzen liegt: Die Vertrauensperson hat folgende allgemeine Aufgaben: 1. Maßnahmen zu beantragen, die der Dienststelle und ihren Soldatinnen und Soldaten dienen, 2. darüber zu wachen, dass die zugunsten der Soldatinnen und Soldaten geltenden Gesetzes, Verordnungen und Vorschriften durchgeführt werden ... – dieser Punkt ist mir besonders wichtig – 4. sich dafür einzusetzen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Dienst gefördert wird und 5. auf die Verwirklichung der Ziele des Soldatinnen- und Soldatengleichbehandlungsgesetzes sowie des Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetzes hinzuwirken. Frau Buchholz, ich glaube schon, dass sich die Attraktivitätsagenda der Bundeswehr auch in diesem Gesetz und in solchen Formulierungen niederschlägt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich glaube durchaus, dass mit solchen Möglichkeiten ein Meilenstein auch für Frauen in der Bundeswehr gesetzt worden ist; denn in dem Moment, in dem man gezwungen ist, darauf wirklich stärker zu achten, und man auch die gesetzliche Vorgabe hat, haben diejenigen, die Vertrauenspersonen sind, eine andere Handhabe. (Beifall bei der SPD) Das Gleiche gilt für den Punkt, in dem die Mitspracherechte bei Versetzungen wesentlich gestärkt werden. Auch das ist ein Beitrag zur Erhöhung der Attraktivität der Bundeswehr. Ich denke, dass ein Arbeitgeber, der seinen Angestellten, auch den militärischen, eine entscheidende Mitsprache über grundsätzliche persönliche Lebensentscheidungen einräumt, sicher als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen wird. Der vorliegende Entwurf ist von der Aufteilung her klarer gefasst als vorher. So werden nun bereits zuvor untergesetzlich vorgenommene Änderungen in Gesetzesform gegossen. Den vorliegenden Entwurf werden wir gern in die Ausschüsse mitnehmen. Für die gute Vorbereitung durch das Verteidigungsministerium und die beteiligten Ressorts sowie die konstruktive Zusammenarbeit im Vorfeld bedanke ich mich. Ich bin trotzdem sicher, dass dieses Gesetz auch nach unserer Beratung noch an einigen Stellen verändert werden wird – wie, das werden wir dann gemeinsam erarbeiten. Lassen Sie uns deshalb im Ausschuss kollegial und konstruktiv an der Verbesserung des Soldatinnen- und Soldatenbeteiligungsgesetzes arbeiten – im Sinne unserer Soldaten und Soldatinnen, aber auch mit Rücksicht auf ihre zivilen Kolleginnen und Kollegen; denn mittlerweile haben wir beispielsweise allein im Verteidigungsministerium ein Verhältnis von etwa 560 Soldaten zu 516 zivilen Beschäftigten. Da ist Sorgfalt und Fingerspitzengefühl im Umgang mit dem Personal absolut notwendig. Dieses Gesetz kann dazu einen Beitrag leisten. Danke. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat Doris Wagner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Doris Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es wird oft behauptet, die Opposition kritisiere nur um des Kritisierens willen. (Zurufe von der CDU/CSU: Nein! – Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu Recht kritisiert die Opposition!) Ich kann Ihnen versichern: Das ist nicht der Fall. Gesetze, die dazu beitragen, unsere Gesellschaft demokratischer, gerechter und moderner zu machen, finden immer unsere Zustimmung. So ist auch die vorgeschlagene Neufassung des Soldatinnen- und Soldatenbeteiligungsgesetzes grundsätzlich sehr zu begrüßen. Wie jeder andere Arbeitgeber profitiert auch die Bundeswehr davon, wenn das Personal mitbestimmen darf. Aus der Organisationsforschung wissen wir: Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an einer Entscheidung mitwirken, kommt meist ein besseres Ergebnis zustande, als wenn der Chef den Alleinherrscher gibt. Für die Bundeswehr hat die Beteiligung der Soldatinnen und Soldaten noch eine weitere, ganz besondere Bedeutung. Sie macht nämlich das Prinzip der Inneren Führung im Dienstalltag ganz konkret erlebbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Soldatinnen und Soldaten sollen eben keine reinen Befehlsempfänger sein, sie sollen ihren Verstand nicht am Kasernentor abgeben. Sich als Vertrauensperson für die Belange der Kolleginnen und Kollegen einzusetzen, ist eine wichtige Möglichkeit, der Bundeswehr einen kritischen Spiegel vorzuhalten. Deshalb ist es richtig, dass die Stellung, die Aufgaben und die Rechte der Vertrauenspersonen in dem neuen Gesetz deutlich gestärkt werden. Zwei dieser gesetzlichen Neuerungen halte ich für besonders wichtig. Zum ersten Mal seit Gründung der Bundeswehr sollen die Vertrauenspersonen ausdrücklich die aktive Wach- und Kontrollfunktion einnehmen. Wir hätten damit dem Vorgesetzten gegenüber endlich einen umfassenden Anspruch auf Information und Unterrichtung. Das ist ein wirklicher Fortschritt. Zum Zweiten: Die Regelungen, denen die Vertrauenspersonen zustimmen müssen, bevor sie in Kraft treten, werden deutlich ausgeweitet, beispielsweise Regelungen zur Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage oder auch zur Berufsförderung. So kann die Vertrauensperson wirksam dafür sorgen, dass die Interessen der Soldatinnen und Soldaten angemessen berücksichtigt werden. Dadurch wird die Bundeswehr demokratischer und gerechter, und das ist auch gut so. Doch den Mut zu einer weitergehenden Soldatinnen- und Soldatenbeteiligung hat die Bundesregierung dann offenbar leider nicht mehr gehabt. Stattdessen verlegen Sie sich in Ihrem Gesetzentwurf dann noch auf ein paar Halbheiten. Frau Ministerin, ich teile Ihre Meinung nicht, dass die Verlängerung der Amtszeit der Vertrauensperson von zwei auf vier Jahre ein guter Vorschlag ist. Solch eine lange Amtszeit widerspricht doch völlig den Realitäten des Dienstes, der ja geprägt ist von kurzen Standzeiten und ständigen Versetzungen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unverständlich ist mir auch, warum der Vertrauenspersonenausschuss beim Kommando Heer von bisher 17 auf nun 11 Mitglieder verkleinert werden soll. Auf der anderen Seite werden die neuen Ausschüsse auf Ebene der Großverbände personell unnötig aufgeblasen. Weshalb soll die Vertrauensperson künftig erst dann in ein Schadensersatzverfahren gegen eine Soldatin oder einen Soldaten einbezogen werden, wenn der Schaden einen Wert von 500 Euro übersteigt? Für einen einfachen Matrosen oder Panzergrenadier sind schon 150 Euro ein Streitwert, bei dem die Unterstützung der Vertrauensperson hochwillkommen ist. Offenbar haben die gutbezahlten Herren und Damen im Verteidigungsministerium hier schon etwas den Bezug zur Realität verloren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Na, na, na! – Florian Hahn [CDU/CSU]: Jetzt haben Sie sich aber einen Kritikpunkt herausgepickt!) Da werden wir im Ausschuss noch einiges zu klären haben, Herr Kollege Gädechens. Abschließend, werte Kolleginnen und Kollegen, ist mir noch eines ganz besonders wichtig: Das beste Gesetz bringt nichts, wenn es nicht umgesetzt wird. Diese Erkenntnis ist wahrlich nicht neu; aber leider steht zu befürchten, dass zu einer echten Stärkung der Soldatinnen- und Soldatenbeteiligung mehr nötig wird als nur ein Papier mit neuen Paragrafen, siehe die Soldatenarbeitszeitverordnung. Das Verteidigungsministerium selbst hat uns erst im Herbst ein Beispiel dafür geliefert, wie die Beteiligungsrechte der Soldatinnen und Soldaten missachtet werden. Erst vor kurzem sagte mir eine Vertrauensperson, ob die Mitbestimmung in der Praxis wirklich gut funktioniere, hänge völlig von der oder dem jeweiligen Vorgesetzten ab. Deshalb müssen Sie, Frau Ministerin, in meinen Augen dafür sorgen, dass künftig alle Disziplinarvorgesetzten eine intensive Schulung zur Soldatinnen- und Soldatenbeteiligung am Zentrum Innere Führung absolvieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Machen Sie diesen Kurs in Soldatinnen- und Soldatenbeteiligung doch einfach zum Pflichttor. Damit zeigen Sie allen Angehörigen der Bundeswehr, dass Innere Führung für Sie mehr als nur eine wohlklingende Floskel ist. Herzlichen Dank. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Ingo Gädechens von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Ingo Gädechens (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die Diskussion hier so verfolgt, dann bekommen die Insider den Eindruck, dass das Soldatenbeteiligungsgesetz der Kernpunkt unserer Diskussion im Verteidigungsausschuss in den vergangenen Wochen und Monaten war. Die Wahrheit ist, dass die Schlagzeilen anders geprägt waren. Ich habe keine Schlagzeile wie „Wir wollen ein neues Soldatenbeteiligungsgesetz“ gelesen. Vielmehr war die Rede davon, dass wir eine Trendwende herbeigeführt haben, dass die Bundesverteidigungsministerin die Bundeswehr aufstocken will. Ich darf sagen, dass die CDU/CSU-Fraktion das nicht nur für richtig, sondern auch für ausgesprochen wichtig hält. Angesichts der Einsatzszenarien der Bundeswehr und der Sicherheitssituation, in der sich die Welt befindet, ist das eine zwingend notwendige Maßnahme. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber es geht nicht nur darum, neue Menschen dafür zu begeistern, ihren Dienst in der Bundeswehr zu leisten, sondern es geht auch darum, dass wir uns um die Menschen kümmern, die bereits heute ihren Dienst in der Bundeswehr und damit ganz automatisch einen Dienst für unsere Demokratie leisten. Es geht um Wertschätzung, und es geht darum, dass wir die in der Bundeswehr dienstleistenden Soldatinnen und Soldaten ernst nehmen. Mitbestimmung ist gerade in einer soldatischen Welt manchmal mühsam. Glauben Sie mir, ich weiß als einer, der lange in dieser Bundeswehr gedient hat, wovon ich rede. Mitbestimmung ist aber keine Schwäche, sondern sie kann, richtig angewandt, zu einer besonderen Stärke werden. Dies gilt umso mehr, da die Bundeswehr nicht nur eine Armee von Befehl und Gehorsam ist; vielmehr genießt das Prinzip der Inneren Führung eine herausragende Bedeutung. Unsere Soldatinnen und Soldaten schützen unsere äußere Sicherheit und damit wie selbstverständlich unsere Interessen und das freie Leben in diesem Staat. Als solches haben sie ein verbrieftes Anrecht auf eine moderne Vertretung ihrer eigenen Interessen durch ein faires und einheitliches Verfahren der Mitbestimmung. Seit 1956 gibt es in der Bundeswehr Personalräte und Vertrauenspersonen. Richtig – das hörten wir bereits –, die damaligen Strukturen waren auf eine Wehrpflichtigenarmee ausgerichtet, die es heute – das wissen wir – so nicht mehr gibt. Auch das hörten wir: Seit 1991 gibt es das Soldatenbeteiligungsgesetz, das in seiner jetzigen Form ebenfalls den Anforderungen einer veränderten Bundeswehr und eines veränderten Aufgabenspektrums der Streitkräfte nicht mehr gerecht wird. So ist es heute nicht mehr begründbar, warum die personellen, dienstlichen oder sozialen Belange der Soldaten weniger wert sein sollen als die von Beamten oder Arbeitnehmern an ein und demselben Dienstort, in einer gemeinsamen Dienststelle. Es ist deshalb richtig und wichtig, dass wir die Beteiligungsrechte der Soldatinnen und Soldaten in dem hier vorgelegten Gesetz von Grund auf neu aufgesetzt haben. Im Sinne eines gemeinsamen Selbstverständnisses ist es deshalb sehr wichtig, dass sich die Angehörigen der Bundeswehr gleichberechtigt in den Vertretungsgremien mit einheitlichen Beteiligungsverfahren wiederfinden. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist darüber hinaus sinnvoll, dass klare Regeln die Mitbestimmung im Einsatz sicherstellen und für alle gelten, ohne dass es zu einer Beeinträchtigung der militärischen Auftragserfüllung kommt. Ich bin davon überzeugt, dass mit dem hier vorgelegten Soldatenbeteiligungsgesetz die demokratischen Grundrechte des Staatsbürgers in Uniform nicht nur gewahrt, sondern auch im Kern gestärkt werden. Das SBG präzisiert die Interessenwahrnehmung zwischen Vertrauenspersonen und Personalräten. Details haben meine Vorredner schon ausgeführt. Die bei den Kommandos der militärischen Organisationsbereiche eingerichteten Vertrauenspersonenausschüsse werden gesetzlich verankert. Durch die Erweiterung der Beteiligungstatbestände wird die Rolle der Vertrauenspersonen deutlich gestärkt. Ich denke, der hier vorliegende Gesetzentwurf wird dem formulierten Ziel, eine effiziente, funktionale und vernetzte soldatische Interessenvertretung auf allen Ebenen zu gewährleisten, mehr als gerecht. Frau Ministerin, natürlich gilt der Dank immer der Spitze des Hauses. Aber in diesem besonderen Fall möchte ich dem Staatssekretär Hoofe danken. Es ist ja auch nicht üblich in diesem Haus, dass einem beamteten Staatssekretär einmal Lob ausgesprochen wird. Er hat mit der Gründung der Arbeitsgruppe seit 2014 hier eine wirkliche Kärrnerarbeit im Team mit allen Beteiligten geleistet, und er hat hier einen Entwurf vorgelegt, der unserer Zielrichtung, der auch den langen Diskussionen im Verteidigungsausschuss gerecht wird. Ich danke nicht nur dem Staatssekretär in Ihrem Hause, Frau Ministerin, sondern bedanke mich auch bei allen Gewerkschaften und Verbänden, insbesondere einmal mehr beim Deutschen Bundeswehrverband, der auch in diesem Prozess aktiv mitgearbeitet hat. Ich freue mich auf die weitergehenden Beratungen und dann auf die Beschlussfassung über dieses neue Soldatenbeteiligungsgesetz. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als letzter Redner in der Debatte hat Florian Hahn, ebenfalls von der CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Florian Hahn (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Soldatenbeteiligung und Personalvertretung in der Bundeswehr“ erscheint auf den ersten Blick vielleicht ein bisschen trocken, technisch und hoch speziell. Da hat es auf den ersten Blick vielleicht auch mehr Attraktivität, an der fraktionsoffenen Sitzung „Effektive Einsätze gegen Fluchtursachen“, die parallel gerade stattfindet, teilzunehmen. Das ist übrigens der Grund, warum unsere Fraktion nicht ganz so dicht wie sonst besetzt ist; die sind alle dort. (Lachen des Abg. Rainer Arnold [SPD]) Aber der zweite Blick lässt erkennen – die Kollegen haben natürlich zu Recht schon darauf hingewiesen –, dass Gegenstand des Gesetzgebungsverfahrens zwar eine spezielle Materie ist, dass sich darin aber ganz Fundamentales verbirgt. Es geht um Demokratie, es geht um Teilhabe, es geht um Offenheit, und es geht um Modernität. Die Soldatenbeteiligung ist der deutsche Versuch, all dies in einem Bereich zu verwirklichen, der lange Zeit eher durch strikten Befehl und Gehorsam, durch Abgeschlossenheit und Tradition geprägt war. Die Schwierigkeit einer Soldatenbeteiligung liegt nun gerade darin, dass vor allem Befehl und Gehorsam ein notwendiges Prinzip des Militärs bleiben und eine klassische Mitbestimmung nicht vollumfänglich zu verwirklichen ist. Trotzdem glauben wir an die wichtige Rolle demokratischer Elemente auch in den Streitkräften. Die Soldatenbeteiligung ermöglicht die Wahrnehmung demokratischer Rechte, ohne die militärische Hierarchie infrage zu stellen. Auch im Truppenalltag muss das demokratische Prinzip für Soldatinnen und Soldaten erfahrbar sein; schließlich müssen sie für die Demokratie unter Umständen bewaffnet eintreten und die Demokratie mit ihrem Leben verteidigen. Beteiligung ist zugleich aber auch ein militärischer Führungsgrundsatz. Die Vorredner haben schon auf das Konzept der Inneren Führung Bezug genommen. Es beruht auf einem Leitbild, das vor allem zur Rechtfertigung der Wehrpflicht immer prominent zitiert wurde, das aber auch in Zeiten einer Freiwilligenarmee richtig bleibt: Der Staatsbürger in Uniform, die Soldatin/der Soldat, bleibt Bürger, auch wenn er in den Streitkräften dient. – Dabei beinhaltet dieses Leitbild des Bürgers, das gerade heute von erstaunlicher Aktualität ist, die Elemente der Freiheit, der Mündigkeit und der Aktivität. Was haben wir bisher schon erreicht? Wie wird die Soldatenbeteiligung bisher umgesetzt? Der Titel des Gesetzentwurfs weist schon auf die zweigleisige Interessenwahrnehmung hin. In sogenannten personalratsfähigen Dienststellen wählen Soldatinnen und Soldaten einen Personalrat mit; in beweglichen Einheiten – vereinfacht: alles, was kämpft, fliegt oder schwimmt – wählen sie Vertrauenspersonen. Was ist Aufgabe der Vertrauenspersonen? Sie sollen zur verantwortungsvollen Zusammenarbeit zwischen Vorgesetzten und Untergebenen sowie zur Festigung des kameradschaftlichen Vertrauens innerhalb des Bereichs beitragen, für den sie gewählt sind. Das Ziel der Soldatenbeteiligung allgemein bleibt die wirkungsvolle Dienstgestaltung und die fürsorgliche Berücksichtigung der Belange der Soldatinnen und Soldaten. In diesem Sinne sollen Vertrauenspersonen Maßnahmen beantragen, die den Soldatinnen und Soldaten dienen, darüber wachen, dass zugunsten der Soldaten geltende Gesetze und Vorschriften durchgeführt und eingehalten werden, und sie sollen Anregungen und Beanstandungen von Soldaten entgegennehmen und sie gegebenenfalls mit dem Vorgesetzten erörtern. – Dies war auch meine Aufgabe, als ich 1995 während meiner Wehrpflichtigenzeit Vertrauensperson für die Mannschaften war. Heute soll auch die Vereinbarkeit von Familie und Dienst gefördert werden und die Verwirklichung von Gleichstellung und Gleichbehandlung von Soldatinnen und Soldaten unterstützt werden. Die Vertrauensperson hat umfangreiche Anhörungs-, Vorschlags- und Mitbestimmungsrechte in Personalangelegenheiten, bei der Gestaltung des Dienstbetriebs, bei Beschwerden, auf die ich jetzt im Einzelnen nicht mehr eingehen möchte. Was bringt das Gesetz Neues? Das neue Gesetz ist ein Beleg dafür, wie die Soldatenbeteiligung hilft, die Bundeswehr flexibel, offen und modern zu halten. Drei dringende Anpassungen sind aktuell zu leisten: Durch die Neuausrichtung und die damit verbundene Neuorganisation entstandene Beteiligungslücken müssen geschlossen werden. Die Soldatenbeteiligung muss auch in den zahlreichen Auslandseinsätzen der Bundeswehr funktionieren. Aufgaben und Befugnisse der Vertrauensperson müssen an die Ziele der Bundeswehr als moderne Freiwilligenarmee angepasst werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sind wir auf einem guten Weg zu einer Modernisierung der Soldatenbeteiligung. Wir stärken die Stellung der Vertrauenspersonen durch erstens eine Verlängerung der Amtszeit von zwei Jahren auf vier Jahre, zweitens die Erweiterung und Fortentwicklung der Beteiligungstatbestände und Mitbestimmungsrechte und drittens die Verbesserung auch der entsprechenden Ausstattung der Vertrauenspersonen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, eine Soldatenbeteiligung, die Elemente der Offenheit, der Diskussionskultur und der Mitverantwortlichkeit für das Ganze in die Organisation der Bundeswehr einbringt, kann verhindern, dass das System Bundeswehr mit den notwendigen Pfeilern von Befehl und Gehorsam und militärischer Hierarchie zu starr und unflexibel wird. Sie hilft, eine moderne Organisation zu schaffen, die damit zugleich effektiver und schlagkräftiger ihren Auftrag erfüllen kann. Der Gesetzentwurf ist in diesem Sinne aus meiner Sicht ein guter erster Aufschlag. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Ich schließe die Debatte. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/8298 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Zukunft der Hebammen und Entbindungspfleger sichern – Finanzielle Sicherheit und ein neues Berufsbild schaffen – zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Geburtshilfe heute und in Zukunft sichern – Haftpflichtproblematik bei Hebammen und anderen Gesundheitsberufen entschlossen anpacken Drucksachen 18/1483, 18/850, 18/8426 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als Erstes in dieser Debatte hat keine Rednerin, sondern Herr Dr. Kühne von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich wollte Sie jetzt nicht überraschen oder überrumpeln. Dr. Roy Kühne (CDU/CSU): Das war jetzt ein bisschen überraschend. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Hau rein! – Ute Bertram [CDU/CSU]: Du bist unser Quotenmann!) – Quotenmann? Na ja. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Hebammen und Entbindungspfleger in Deutschland leisten mit ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit einen immensen gesellschaftlichen Beitrag. Ihre Zuwendung und ihre Leistungen in der Vorsorge und in der Wochenbettbetreuung sind für Schwangere und junge Eltern von besonderer Bedeutung. Das Betreuungsangebot der Hebammen trägt also in erheblichem Maße zu einem positiven Verlauf der Schwangerschaft bei. Das kann ich als zweifacher Vater nur betonen und darf mich auch heute noch einmal ausdrücklich bei den Hebammen dafür bedanken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Ich bin auch zweifacher Vater!) Dieses habe ich vor ungefähr zwei Jahren auch an dieser Stelle zur Situation der Hebammen gesagt und damit die Position der CDU/CSU deutlich gemacht. Sowohl an dem Inhalt meiner damaligen Ausführungen als auch an der Position meiner Partei und der Koalition hat sich seither nichts verändert. (Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Eben! Das ist das Problem!) Wir setzen uns für eine Verbesserung der Situation der Hebammen und Entbindungspfleger in Deutschland ein. Was sich allerdings in den letzten zwei Jahren verändert hat, sind die Rahmenbedingungen – das wissen auch Sie, Frau Kollegin – für die Geburtshilfe in Deutschland, und zwar zum Positiven. Das wurde mir auch mehrmals in Gesprächen mit Hebammen gespiegelt. Das gilt sicher nicht für alle; das wissen wir. Aber dafür gibt es ja Gründe; auch das wissen wir. Dafür danke ich dem Minister – heute nicht anwesend –, aber zumindest seinem Haus und der Koalition. (Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Welche Probleme sind denn heute anders als vor zwei Jahren?) Dadurch, dass wir Entscheidungen getroffen haben und entsprechende Regelungen erlassen haben, haben wir reagiert. Wir haben notwendige Schritte eingeleitet, um die Situation der Geburtshilfe in Deutschland zu verbessern. Wir alle waren und sind uns darüber einig, dass die Situation angegangen werden musste. Darüber gab es auch gar keine Diskussion. Ich stelle deshalb an dieser Stelle gerne noch einmal fest, welche Maßnahmen wir für die Geburtshilfe schon während der schwarz-gelben Koalition eingeleitet und jetzt in der aktuellen Koalition weiter ausgebaut haben. Bereits 2012 haben wir im GKV-VSG geregelt, dass die gesetzlichen Krankenkassen die steigenden Versicherungsprämien bei den Vergütungsverhandlungen berücksichtigen müssen. Dies hat zu einer ersten spürbaren Vergütungserhöhung geführt. Damit die Prämiensteigerungen noch schneller ausgeglichen werden konnten, mussten die Krankenkassen seit dem 1. Juli 2014 weiteres Geld bereitstellen. Mit dem Sicherstellungszuschlag haben wir erreicht, dass selbst Hebammen mit nur wenigen Geburten, nämlich einer pro Quartal, also vier Geburten im Jahr, nicht finanziell überlastet werden. Das ist ein wichtiger Aspekt. Je nach Höhe der Prämie trägt die GKV somit aktuell Kosten von 4 000 bis über 6 500 Euro pro Hebamme. Als Voraussetzung für diese Zahlung wurden Qualitätsanforderungen für Hausgeburten – ich betone ganz bewusst: für Hausgeburten – analog zu den Geburtshäusern definiert. In einem Schiedsverfahren wurden diese Qualitätskriterien festgelegt, meine Damen und Herren; und das ist wichtig. Die Qualitätsanforderungen für Geburtshäuser haben wir übrigens bereits 2008 definiert. Das war also ein längst überfälliger Schritt. Für uns ist dies ein besonders wichtiger Aspekt; denn die Qualität der Versorgung hat im Gesundheitswesen höchste Priorität, und diese müssen wir logischerweise in allen Bereichen einfordern. Qualität zu sichern heißt Definition transparenter Kriterien, um Sicherheit zu gewährleisten, Sicherheit und auch Vertrauen der Patientinnen und Patienten in unsere Politik, Sicherheit in einer Phase, wo so viel entschieden wird. Es geht um das Kind, es geht um die Gesellschaft, es geht um die Eltern. Das sind keine Fragen, die wir einfach so beantworten sollten. Vielmehr sollten wir Merkmale definieren und festlegen, was wir eigentlich wollen. Bei aller Diskussion, meine Damen und Herren: Ich denke, dass werdende Väter und Mütter ein Recht darauf haben, zu wissen, was während dieser wichtigen Phase passiert. Wie ist was geregelt? Wann kann und sollte etwas sein, und was darf nicht sein? Das dürfen wir bei der ganzen Diskussion nicht aus den Augen verlieren. Mit dem Sicherstellungszuschlag können wir also jetzt die Hebammen dauerhaft entlasten und somit auch eine flächendeckende Versorgung anregen. Natürlich wollen wir auch den Anstieg der Haftpflichtprämie begrenzen. Mit dem Regressverzicht der Krankenkassen und Pflegekassen haben wir auch diesen Prozess eingeleitet. Jetzt müssen wir abwarten, wie sich dieser Prozess langfristig auf den Anstieg der Prämien auswirkt. Hier kann ich nur sagen: Politik ist ein lernender Prozess. Wir werden es beobachten und werden reagieren. Gleichzeitig stellen wir aber sicher, dass Familien nach Behandlungsfehlern nach wie vor eine angemessene Hilfe, eine gute Unterstützung und Betreuung erhalten. Keiner wird alleingelassen; das ist das oberste Kriterium. Die Große Koalition hat gezeigt, dass sie die Situation der Hebammen in Deutschland ernst nimmt, die Sache anpackt, wichtige Anpassungen zuwege bringt und es schafft, Maßnahmen zu ergreifen, die sich positiv auswirken, die Vertrauen schaffen. Deshalb lehnen wir heute die Anträge der Linken und der Grünen ab. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Cornelia Möhring von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Cornelia Möhring (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kühne, ich habe den Eindruck, Sie leben in irgendeinem Paralleluniversum, aber es kann mit der Realität in der Geburtshilfe wahrlich nicht viel zu tun haben. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Um die Geburtshilfe in unserem Land ist es nämlich wahrlich sehr schlecht bestellt, und das seit Jahren. (Dr. Roy Kühne [CDU/CSU]: Welcher Vergleich?) Der Hebammenberuf ist in großer Gefahr. Ihre Bundesregierung hat mitnichten irgendetwas angeschoben, was diese Situation wirklich nachhaltig verbessert. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich denke, die Tausenden von Petitionen, die mittlerweile beim Bundestag eingehen, wo sich die Bevölkerung aufmacht und Gegenwehr gegen diese Politik des Aussitzens zeigt, machen deutlich, wie sehr dieses Thema die Bürgerinnen und Bürger bewegt. Wir haben rund 21 000 Hebammen in Deutschland, und nur noch 2 500 von ihnen bieten freiberufliche Geburtshilfe an. Freiberufliche Hebammen müssen sich faktisch auf die Geburtsvorbereitung und die Wochenbettpflege beschränken. Ein wesentliches Kernstück, die Geburtshilfe, fällt fast völlig heraus, weil sich die Hebammen die hohen Haftpflichtprämien schlicht nicht mehr leisten können. Das waren Zahlen vom Hebammenverband, falls Sie danach suchen. (Dr. Roy Kühne [CDU/CSU]: Welcher Hebammenverband? Welche Zahlen?) Wir reden tatsächlich nicht über Peanuts, wenn wir über Haftpflichtprämien reden. Die Versicherungsbeiträge sind extrem gestiegen. Sie lagen 1998 noch bei 394 Euro. Jetzt, ab Juli 2016, werden sie trotz Ihrer Mangel-Maßnahmen auf 6 843 Euro ansteigen. Ich meine, so stark sind die Vergütungen nicht gestiegen, dass eine Hebamme bei vier Geburten im Jahr dann tatsächlich überlebensfähig ist. Den hohen Versicherungsbeiträgen steht nämlich ein sehr geringes Einkommen gegenüber. Der durchschnittliche Jahresumsatz einer freiberuflichen Hebamme liegt bei rund 24 000 Euro brutto. Der durchschnittliche Stundenlohn, wenn man es einmal herunterrechnet, liegt für den gesamten Aufwand gerade einmal zwischen 7,50 Euro und 8,50 Euro. In den Kliniken sieht es auch nicht wirklich gut aus. Die in den Krankenhäusern beschäftigten Hebammen arbeiten mittlerweile zu über 70 Prozent in Teilzeit. Es gibt viel zu wenig Personal. Oft müssen gleichzeitig mehrere Geburten zur selben Zeit betreut werden. Das ist ungeheuer stressig, und das Risiko für Mutter und Kind steigt natürlich. Berufsethisch ist es auch schwierig, weil die Hebammen einen ganz anderen Anspruch an ihren wichtigen Beruf haben. Auch deswegen hängen mittlerweile viele Hebammen ihren Beruf an den Nagel. Mittlerweile werden immer mehr Geburtsstationen in den Krankenhäusern dichtgemacht. Die Wege für die Schwangeren werden länger, und im ländlichen Raum ist eine wohnortnahe Versorgung überhaupt nicht mehr möglich. Als Schleswig-Holsteinerin erlauben Sie mir, auch etwas zur Situation auf den Inseln zu sagen. Gebürtige Helgoländerinnen, Amrumer, Sylterinnen sind mittlerweile Vergangenheit. Inselgeburten gibt es nicht mehr. Eine Schwangere, die auf den Inseln lebt, muss mindestens zwei Wochen vor der Geburt in ein sogenanntes Boarding-House auf dem Festland. Das ist alles andere als ein entspanntes Warten auf die Geburt. Es bedeutet Trennung von den anderen Kindern, vom Partner, von der gewohnten Umgebung und von der Hebamme, mit der sich die Frau auf die Geburt vorbereitet hatte. Hinzu kommt die Unsicherheit, ob der Partner es überhaupt rechtzeitig schafft, bei der Geburt beizustehen. So, liebe Kolleginnen und Kollegen, wünscht sich wirklich keine Frau die sogenannte Niederkunft. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Möhring, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kühne zu? Cornelia Möhring (DIE LINKE): Selbstverständlich. Dr. Roy Kühne (CDU/CSU): Sehr geehrte Kollegin, Sie zitieren Zahlen, und wir alle wissen, dass Statistiken häufig problematisch zu sehen sind. Ich habe eine ganz konkrete Frage: Können Sie mir Zahlen nennen, wie viele Hebammen weniger es momentan in Deutschland gibt, wie viele Geburtshäuser seitdem geschlossen haben, wie viele Geburtshäuser seitdem eröffnet wurden und welche Anzahl an Mangelgebieten im Hinblick auf die geburtstechnische Versorgung wir derzeit in Deutschland haben? Cornelia Möhring (DIE LINKE): Genau darüber rede ich ja. (Dr. Roy Kühne [CDU/CSU]: Zahlen!) Die Hebammenzahlen sind zurückgegangen. Zumindest ist die Zahl der freiberuflichen Hebammen, die noch Geburtshilfe leisten, stark gesunken: Es waren vor zwei Jahren noch weit über 3 000; es sind jetzt nach Angaben des Hebammenverbandes 2 500. Ich habe ja gerade von Schleswig-Holstein gesprochen. Die Inselversorgung ist nicht mehr gesichert. Im ländlichen Raum sieht es ähnlich aus. Krankenhäuser legen ganze Geburtsstationen still, weil diese einfach nicht mehr wirtschaftlich sind. In Notfällen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird es dann vollständig gruselig. Neulich musste zum Beispiel eine junge Frau aus Amrum, deren Baby zu früh kam, mit dem Seenotrettungskreuzer von Amrum nach Dagebüll, von Dagebüll weiter mit dem Krankenwagen nach Flensburg; Letzteres – das dauerte eine gute Stunde – ohne Hebammenunterstützung. Das ist doch wirklich irre. Falls jetzt jemand von Ihnen denkt: „Na ja, selber schuld. Wenn man auf einer Insel wohnt, hat man es halt nicht besser“, dem entgegne ich: Nein, für alle Frauen, egal ob sie auf einer Nordseeinsel, in einer Großstadt oder auf dem Dorf wohnen, gilt das Recht auf Selbstbestimmung. Dazu gehört, dass Frauen selber über sich und ihren Körper bestimmen. Dazu gehört auch die freie Entscheidung darüber, wo Frauen ihre Kinder zur Welt bringen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bei den Frauen auf Helgoland, Amrum oder anderen Inseln wird dieses Recht bereits mit Füßen getreten. Sollte keine Lösung gefunden werden, ist das Selbstbestimmungsrecht von Frauen im ganzen Land in Gefahr. Beides dürfen wir nicht zulassen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es muss jetzt aus unserer Sicht schnell gehandelt werden; denn die Situation ist wirklich kritisch genug. Meine Fraktion fordert anstatt der Abhängigkeit von privaten Versicherungen mit hohen Versicherungsbeiträgen, die arm machen, einen Fonds zur Haftung bei Behandlungsfehlern, in den alle Leistungserbringer einzahlen. Wir meinen, die Versorgung mit Hebammenleistungen gehört zur Grundversorgung der Bevölkerung. Sie muss wohnortnah erfolgen, zum Beispiel über Versorgungszentren, Hebammenstützpunkte, Kooperationen. Wir wollen den Hebammenberuf nicht nur erhalten, sondern aufwerten. Hebammen sollen, wie in den Niederlanden, erste und wichtigste Ansprechpartnerinnen für Schwangere sein. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Bedingungen sollen eine Eins-zu-eins-Betreuung in der Schwangerschaft, bei der Geburt und im Wochenbett gewährleisten. Die Vergütung der Hebammen muss sich selbstverständlich daran orientieren, also höher sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist alles machbar, wenn der politische Wille da ist. Den Weg, um diesen politischen Willen umzusetzen, zeigen wir in unserem Antrag auf. Stimmen Sie dem Antrag einfach zu. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Bettina Müller von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bettina Müller (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Galerie! Am letzten Donnerstag, am 5. Mai, war der Internationale Hebammentag – ein Tag, an dem uns vor Augen geführt wurde, dass die Geburtshilfe in vielen Ländern der Erde immer noch im Argen liegt und es dort noch sehr große Gefahren für Mutter und Kind gibt. Das sollten wir uns stets vor Augen halten, wenn wir über die Situation der Geburtshilfe in Deutschland reden, wo die Versorgung auf einem qualitativ hohen Niveau stattfindet, und zwar flächendeckend. Ich möchte das zu Beginn ausdrücklich betonen; denn wenn man die Anträge der Opposition liest, könnte man durchaus einen gegenteiligen Eindruck bekommen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Beide Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen, stammen aus dem Frühjahr 2014, als die steigenden Beiträge zur Berufshaftpflicht der freiberuflich tätigen Hebammen wieder neue Höchststände erreichten und die letzten Versicherer drohten, den Markt zu verlassen. Aber – es ist schon angeklungen – der Gesetzgeber ist nicht untätig geblieben: Schon seit 2012 werden ja die Aufwendungen der Hebammen für ihre Berufshaftpflicht gemäß § 134 a SGB V in den Verhandlungen über die Vergütungen besonders berücksichtigt. 2013 hatten wir dann eine interministerielle Arbeitsgruppe, die sich mit dem Thema beschäftigt hat, im Übrigen im Dialog mit den Hebammenverbänden, die an den Diskussionen beteiligt waren. Dort sind Handlungsempfehlungen erarbeitet worden. Mit dem GKV-FQWG wurde 2014 ein Sicherstellungszuschlag für den Ausgleich der Haftpflichtprämien beschlossen, der insbesondere den Hebammen mit wenigen Geburten – wir haben das Problem durchaus auch gesehen – zugutekommen soll. Bis dieser neue Sicherstellungszuschlag den langen Weg durch die Mühlen der Selbstverwaltung geschafft hatte, wurde für eine Übergangszeit bis 2015 ein pauschaler Zuschlag für die Hebammen – das waren circa 130 Euro pro Geburt – eingeführt. Mit dem 2015 verabschiedeten GKV-Versorgungsstärkungsgesetz haben wir dann auch noch den Regressverzicht installiert. Den gesetzlichen Krankenkassen oder besser gesagt den Beitragszahlern wird seitdem die Übernahme der Folgekosten von Geburtsschäden auferlegt. Meine Damen und Herren, die Koalition hat also durchaus geliefert und die Forderungen der Opposition, wie ich meine, weitgehend abgeräumt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich will hier aus Sicht der SPD-Fraktion deutlich machen, dass wir damit den Hebammen bei der Lösung der Haftpflichtproblematik wirklich sehr weit entgegengekommen sind; denn insbesondere mit dem Regressverzicht haben wir unter größten Bauchschmerzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, einem Systembruch zugestimmt; dadurch wird nämlich den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenkassen eine Übernahme der Kosten zugemutet. Folgekosten von Behandlungsfehlern sind eigentlich Sache der Berufshaftpflicht, dafür ist sie da. Oder man muss sich überlegen, ob man eine gesamtstaatliche Aufgabe daraus macht. Oder man muss sich andere Modalitäten überlegen; ich werde noch darauf zu sprechen kommen. Innerhalb des GKV-Systems sind solche Haftungsübernahmen jedenfalls völlig versicherungsfremd. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Aber: Im Sinne einer schnellen Lösung und um sicherzustellen, dass zum Juli 2016 überhaupt ein Anschlussvertrag vorliegt, hat die SPD diesem Systembruch zugestimmt. Das hat dazu beigetragen, dass, entgegen der Schwarzmalerei der Opposition, eine Lösung geschaffen worden ist. Fakt ist nämlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es gibt einen neuen Versicherungsvertrag. Die Prämiensteigerung fällt mit 10 Prozent jährlich erheblich moderater aus als in den letzten Jahren; da waren es immer 20 Prozent. Der Vertrag läuft über zwei Jahre. Ich denke, dadurch besteht ein hohes Maß an Planungssicherheit für die Beteiligten. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir müssen uns aber selbstverständlich Gedanken darüber machen, wie wir diese ewige Preisspirale nach oben und das Abhängigkeitsverhältnis von einem Monopolversicherer beenden können. Ob die vorgeschlagenen Lösungen, wie auf die gesetzliche Unfallversicherung auszuweichen oder einen Haftungsfonds aufzulegen – darüber will ich ganz sachlich diskutieren, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition –, tragfähig sind, ist ja bereits in der genannten interministeriellen Arbeitsgruppe zusammen mit den Hebammen untersucht worden. Das entsprechende Rechtsgutachten kennen Sie sicher auch. Es haben sich sehr viele versicherungsrechtliche und verfassungsrechtliche Probleme aufgetan. Es wurde eigentlich keine große Hoffnung gemacht, dass das eine Lösung sein kann. Wir müssen aber nach bezahlbaren Lösungen suchen; das sehe ich auch so. Ich will Ihnen ein paar Zahlen nennen. Wir haben etwa 3 000 Versicherungsverträge mit einer Jahresprämie von circa 7 000 Euro. Das ergibt ein Gesamtvolumen von ungefähr 21 Millionen Euro. Die werden aber zur eigentlichen Schadensregulierung gar nicht gebraucht. 4 Millionen Euro fließen als Versicherungsteuer an den Bundesfinanzminister, weitere 5 Millionen Euro bleiben als Provisionen und Gewinnanteil beim Versicherungsmakler, beim Hebammenverband und bei einem Versicherungskonsortium hängen. In die eigentliche Regulierung der Geburtsschäden fließen netto deswegen nur 12 Millionen Euro jährlich. Das ist eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein überschaubarer Betrag, den die Hebammen, die GKV, der Bund und die Länder durchaus aufbringen können. Ich denke, hier liegt unsere eigentliche Aufgabe: Wir müssen eine Rechtsform finden, die das ermöglicht. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Reiner Meier [CDU/CSU]) Mit dem Sicherstellungszuschlag liegt nunmehr jedenfalls ein Ausgleichsmechanismus vor, der die Hebammen fast vollständig entlastet. Er wird seit Beginn 2016 rückwirkend ausgezahlt. Er ist viel zielgenauer als die alte Lösung, die in nicht wenigen Fällen ja sogar zu Überkompensationen geführt hat. Die Regelung sieht vor, dass die Hebammen statt am Jahresende mehrmals im Jahr den Ausgleich beantragen können – das ist für die Hebammen günstig im Sinne einer zeitnahen Bezahlung –, und die gezahlte Haftpflichtprämie wird dabei fast vollständig erstattet. Lediglich der Anteil für Privatversicherte, die sachfremden Bestandteile wie beispielsweise eine Hundehaftpflichtversicherung, die Privathaftpflicht und der Prämienanteil für nichtgeburtliche Leistungen werden abgezogen. Außerdem gibt es eine Art Eigenanteil in Höhe von 1 000 Euro, der in etwa dem Stand der Prämie von 2010 entspricht. Sie wissen: Fast alle Selbstständigen sind auf eine Haftpflichtversicherung angewiesen, und ein Eigenanteil ist hier, denke ich, auch vertretbar. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage ganz deutlich: Es wäre schön gewesen, wenn wir diese sinnvolle Neuregelung nicht erst durch einen Schiedsspruch hätten bestätigen lassen müssen. Es wurde eine praktikable und transparente Regelung geschaffen, die für die freiberuflichen Hebammen eine echte Entlastung darstellt. Darum hat zum Beispiel – das hat der Kollege Kühne ja schon angesprochen – der Bund der freiberuflichen Hebammen Deutschlands, BfHD, diese Regelung ausdrücklich begrüßt. Der BfHD hat zu diesem Punkt nicht die Schiedsstelle angerufen, hat auch nicht vor dem Landessozialgericht Berlin gegen den Schiedsspruch geklagt. Meine Damen und Herren, wenn schon ein Verband, der die freiberuflichen Hebammen originär vertritt – im BfHD sind ja gerade die freiberuflichen Hebammen organisiert –, mit der ausgehandelten Regelung einverstanden ist, dann kann sie so falsch nicht gewesen sein. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Für mich ist es daher unverständlich, warum der Deutsche Hebammenverband weiter dagegen klagt. Ich finde, das schürt nur die Verunsicherung bei den Hebammen und blockiert auch jede politische Aktivität. Dem DHV muss doch klar sein: Solange das Landessozialgericht bzw. das Bundessozialgericht, wenn eine weitere Instanz in Anspruch genommen wird, noch keine Entscheidung gefällt hat, ist der gesetzgeberische Handlungsspielraum nicht besonders groß. Fakt ist auch, dass sich die Versorgungslage – das ist auch schon angeklungen – nicht wesentlich verschlechtert hat. Das kann man auch objektiv mit Zahlen belegen. Zum einen liegt uns ein Bericht des übrigens von einer Linken geführten Sozialministeriums Thüringen vor, aus dem hervorgeht, dass sich die Versorgungslage nicht verschlechtert hat. Auch aus den aktuellen GKV-Zahlen, die ich mir habe vorlegen lassen, geht das hervor. Es ist eben nicht so, dass die Hebammen scharenweise aus dem Beruf ausgestiegen sind. Laut GKV-Zahlen ist die Zahl der freiberuflichen Hebammen 2015 im Vergleich zu 2014 sogar leicht angestiegen. Hier lässt sich also überhaupt kein deutlicher Einbruch feststellen. Das gilt im Übrigen auch für die Geburtsmodule, für die Hebammen mit Geburtshilfe. Zu den unverständlichen Aspekten gehört für mich auch die Aussage, dass die getroffenen Regelungen die Wahlfreiheit der Frauen einschränken und angeblich die Hausgeburten künftig unmöglich machen würden. Grund seien die sogenannten Ausschlusskriterien für Hausgeburten, die seit 2015, seit der Qualitätsvereinbarung, die im Rahmen der Vergütungsvereinbarung mitverhandelt wurde, gelten. Tatsache ist jedoch, dass genau diese Ausschlusskriterien für Geburtshäuser schon seit 2008 gelten. Bezüglich der Terminüberschreitungen – das ist ein immer wieder genannter Punkt –, wenn es also einen oder mehr Tage über den ausgerechneten Geburtstermin hinausgeht, waren die Vorgaben für die Geburtshäuser sogar noch rigider. Bei den Geburtshäusern ist quasi jede Art von Überschreitung ein Anlass, um sich mit dem Arzt rückzukoppeln. Bei den Hausgeburten gilt das ab dem dritten Tag nach dem Termin und nicht schon ab dem ersten Tag. Diese drei Tage – das muss man immer wieder betonen – sind auch kein absolutes Ausschlusskriterium, sondern nur ein relatives Ausschlusskriterium. Das heißt, wenn man sich mit dem Arzt rückkoppelt und der sein Plazet gibt, also keine Probleme sieht, kann die Hausgeburt wie geplant stattfinden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das reden Sie sich schön! Das ist doch Quatsch!) Diese Ausschlusskriterien stehen im Übrigen auch in den medizinischen Leitlinien. Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum sollte eine Regelung, die für Geburtshäuser, die ein umfangreiches medizinisches Back-up haben, gilt, ausgerechnet bei Hausgeburten keine Gültigkeit haben, obwohl das entsprechende medizinische Equipment, die entsprechende Ausstattung da gar nicht vorhanden ist? Abschließend noch ein Wort zum Thema Wahlfreiheit – das ist ein ganz wichtiger Aspekt –: Weit über 98 Prozent der Frauen wählen das Krankenhaus als Ort der Entbindung. Das ist eine Abstimmung mit den Füßen. Die Quote der außerklinischen Geburten liegt seit Jahrzehnten konstant bei deutlich unter 2 Prozent. Die Quote der reinen Hausgeburten liegt mit 0,5 Prozent sogar im Promillebereich. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daran sollten Sie auch arbeiten, dass sich das ändert!) – Das kommt auch noch. – Insofern begrüße ich es sehr, dass auch der Deutsche Hebammenverband anstelle der Hausgeburt jetzt endlich verstärkt das Thema Krankenhaus in den Fokus rückt. Hier haben wir mit Aspekten wie steigenden Kaiserschnittraten – da gibt es eine Steigerung um 30 Prozent; (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!) damit bin ich überhaupt nicht zufrieden; das ist, denke ich, auch nicht fachgerecht –, Abbau von Standorten, Personalbemessung, Bezahlung und Arbeitszeiten jede Menge Themen, denen wir uns politisch widmen müssen und von denen – ich sage es noch einmal – mit über 98 Prozent weitaus die Mehrzahl der Frauen auch betroffen ist. Für mich liegt hier der eigentliche Schlüssel für die flächendeckende Versorgung mit Geburtshilfe auf hohem Qualitätsniveau. Krankenhaus heißt ja schon längst nicht mehr Fließbandgeburt in gekachelten Räumen. Krankenhaus kann beispielsweise auch hebammengeleiteter Kreißsaal bedeuten. Hier gibt es ganz neue Konzepte. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten. Bettina Müller (SPD): Okay. – Wir müssen also davon wegkommen, einerseits die Hausgeburt zu idealisieren und andererseits die stationäre Geburt zu dämonisieren. Wir müssen unseren Fokus auch auf die Situation der Hebammen im Krankenhaus richten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir treffen dieses Jahr noch eine Entscheidung über die regelhafte Akademisierung. Da wird es auch darum gehen, dass wir zusätzliche Ausbildungsinhalte für die Hebammen beschließen und über die Übernahme weiterer Leistungen und Aufgaben durch die Hebammen reden. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen. Bettina Müller (SPD): Wir sollten das zum Anlass nehmen, – Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Nein, jetzt ist gut. Jetzt ist es vorbei. Bettina Müller (SPD): – konstruktiv für die Hebammen zusammen etwas zu erreichen (Beifall bei der SPD) und keine Schaufensteranträge zu stellen. Gemeinsam werden wir das bestimmt gut hinkriegen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat Elisabeth Scharfenberg von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zehn, elf Minuten!) Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn meine Kollegin von der SPD mit grundständig elf Minuten Redezeit noch überzieht, dann kann ich ja ganz entspannt in meine Rede gehen und muss mich gar nicht so abhetzen und beeilen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Ich werde jetzt also einfach all das sagen, was ich sagen möchte, und ich werde mir auch die Zeit dafür nehmen. Einen guten Start ins Leben, das wünschen sich doch alle Eltern für ihre Kinder. Dazu gehört natürlich auch eine gute Betreuung und Beratung vor, nach und während der Geburt. Eltern wollen doch wissen, was das Beste für ihr Kind ist. Eltern brauchen Vertrauen in sich, brauchen Vertrauen in die Hebamme, um ganz in Ruhe ihre Entscheidungen treffen zu können. Sie brauchen Vertrauen in sich für die Zeit der Schwangerschaft, für die Geburt und auch für die Zeit nach der Geburt. Die Zeit der Schwangerschaft bringt Ängste mit sich, bringt Unsicherheit mit sich: Was erwartet mich denn bei der Geburt? Was kommt an Schmerzen auf mich zu? Kriege ich das alles überhaupt hin? Schaffe ich das? Und dazu braucht es Vertrauen. Vertrauen entsteht nicht in stressigen Situationen: Stress, weil keine Hebamme für die Vorsorge zu finden ist, Stress, weil die Geburtsabteilung in der nächsten Klinik geschlossen hat – die Anfahrtswege gerade im ländlichen Raum werden immer länger; man stellt sich irgendwann die Frage, ob man die Klinik überhaupt rechtzeitig zur Geburt erreicht –, Stress, weil man nicht weiß, ob in der Klinik vielleicht die eigenen Wünsche gar nicht respektiert werden, ob genug Zeit für einen da ist, Stress, weil man von viel zu vielen Kaiserschnitten hört. Entscheiden sich Eltern dann auch noch dafür, dass sie das Kind in einem Geburtshaus oder zu Hause bekommen wollen, dann wird es noch schwieriger. Oft finden sie gar kein Geburtshaus oder eben auch keine Hausgeburtshebamme. Warum ist das so? Hebammen geben auf, weil ihre Haftpflichtprämien jährlich steigen, aber ihre Gehälter nicht. Das betrifft ganz besonders diejenigen Hebammen, die Geburtshilfe leisten. Derzeit liegt die Haftpflichtprämie bei jährlich 6 300 Euro, im Juli wird sie auf 6 850 Euro steigen und im nächsten Juli, im Jahr 2017, auf 7 640 Euro; das heißt innerhalb eines Jahres noch einmal plus 800 Euro. Hebammen geben auf, weil sie in Krankenhäusern viel zu viele Geburten parallel zu betreuen haben und eine verantwortungsvolle Betreuung dann einfach nicht mehr möglich ist. Wir dachten, dass die Bundesregierung die Probleme erkannt hat. 2014 wurde der Bericht der interministeriellen Arbeitsgruppe „Versorgung mit Hebammenhilfe“ vorgelegt. Gesetze wurden auf den Weg gebracht, aber, wie wir sehen, reicht das nicht. Da braucht es etwas mehr als bisher. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Für Familien und Hebammen hat sich dadurch nichts Entscheidendes geändert. Der Regressverzicht sollte die Haftpflichtprämien senken. Unter bestimmten Bedingungen sollten die Kranken- und Pflegekassen die Kosten für Kinder mit Geburtsschäden tragen und eben nicht die Haftpflichtversicherer. Doch die Regelungen wurden so ausgestaltet, dass diese Fälle selten sind, und die Prämien steigen weiter. Ich habe Ihnen gerade die Zahlen vorgelegt. Der Sicherstellungszuschlag soll es auch Hebammen mit wenigen Geburten ermöglichen, die hohe Haftpflichtprämie zu zahlen. Aber die Hebammen bleiben auf Eigenanteilen sitzen, und diese liegen bei schlappen 2 000 Euro. Darüber hinaus wurde der Sicherstellungszuschlag mit Ausschlusskriterien für Hausgeburten gekoppelt. Künftig zahlen die Kassen eine Hausgeburt nicht mehr, wenn der errechnete Geburtstermin um drei Tage überschritten ist. Ich frage Sie hier im Publikum – die Mütter, die selbst ein Kind geboren haben, und die Väter, die hier sitzen –: Wie viele Ihrer Kinder sind genau am errechneten Geburtstermin oder innerhalb der nächsten drei Tage geboren worden? (Zuruf von der CDU/CSU: Manche schon!) – Das sind aber ganz wenige. – Es gilt in diesem Zusammenhang sogar als Risikogeburt, wenn der errechnete Geburtstermin um drei Tage überschritten ist. Ich finde, das ist absurd. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das schränkt die Kompetenz der Hebammen und die Kompetenz der Eltern ein. Kein Arzt dieser Welt kann den Geburtstag exakt errechnen. Diese Regelung ist also komplett widersinnig. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Wir brauchen starke Hebammen für starke Familien. Wir alle wissen, dass Hebammen ihren Beruf gerne ausüben. Dafür sollten wir – ganz ehrlich – dankbar sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Wir haben schon in unserem Antrag von vor gut zwei Jahren einige Vorschläge dazu gemacht. Es ist fatal, dass dieser Antrag immer noch topaktuell ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Cornelia Möhring [DIE LINKE] – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, das ist echt ein Ding!) Lösen Sie die Haftpflichtfrage endlich dauerhaft und für alle Gesundheitsberufe! Alle, die in diesem Bereich tätig sind, sind von ständig steigenden Haftpflichtprämien betroffen. Schauen Sie sich an, in welchen Gebieten Frauen keine Hebamme finden! Nehmen Sie regelmäßig eine Bestandsaufnahme vor! Die Frage, die der Kollege Kühne vorhin gestellt hat, war gar nicht so absurd. Wir wissen im Grunde genommen gar nicht, wie die Lage im Hinblick auf die Versorgung ist. Wo herrscht eigentlich ein Mangel? Hier muss genau hingesehen werden. Dort, wo wirklich ein Mangel herrscht, müssen Anreize gesetzt werden, damit Hebammen auch in unterversorgten Regionen tätig werden können. Bei den Ärzten geht es doch auch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sorgen Sie dafür, dass genug Hebammen in den Kreißsälen sind! Dazu muss aber erst einmal ganz genau ermittelt werden, wie viele Hebammen man für eine gute Geburtsbetreuung braucht. Das Ergebnis muss dann auch umgesetzt werden, zum Beispiel durch Anwendung eines verbindlichen Personalbemessungsinstruments. Nur wenn wir so mutig voranschreiten und all das tun, werden wir den Rückgang der Zahl der Hebammen stoppen. Das ist für uns alle und für die gesamte deutsche Gesellschaft wichtig. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Emmi Zeulner von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Emmi Zeulner (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um eines ganz deutlich zu machen: Die Union steht an der Seite der Hebammen in Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN: Na ja! – Ach ja?) Der Eindruck, der hier erweckt wird – er wird aber nicht nur hier erweckt, sondern manchmal auch in den Medien, in der Presse und auf Podiumsdiskussionen –, stimmt einfach nicht. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das Bedauerliche ist, dass die Hebammen davon aber nichts merken, Frau Kollegin!) Das unionsgeführte Gesundheitsministerium hat schon entscheidende Regelungen auf den Weg gebracht. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben im Koalitionsvertrag gemeinsam mit der SPD ein ganz klares Bekenntnis abgegeben: Wir möchten die Probleme der Hebammenversorgung, die es ja nicht erst seit gestern gibt, lösen. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Dann sagen Sie doch mal, wie die Hebammen ihre Haftpflichtversicherung bezahlen sollen!) Das haben wir versprochen, und dieses Versprechen haben wir gehalten. Grundsätzlich gibt es zwei Probleme, die es zu lösen gilt: Erstens hatten wir ein Problem mit den Versicherern. Ein Versicherungskonsortium wollte Hebammen nicht mehr versichern. Es kam immer wieder zu einer Verlängerung, und Jahr um Jahr ging es weiter. Wir haben, auch dank des Einsatzes des Gesundheitsministers und des Gesundheitsministeriums, zumindest für die nächsten zwei Jahre die Zusage bekommen, dass das Versicherungskonsortium steht. Zweitens haben wir die massiv gestiegenen Haftpflichtprämien für Hebammen als Problem erkannt. Mit dem Einkommen von Hebammen ist es nicht möglich, diese Summe tatsächlich aufzubringen. Der Anstieg der Haftpflichtprämien – auch das muss man ganz deutlich sagen – kam aber nicht deshalb zustande, weil die Hebammen mehr Fehler gemacht haben. Vielmehr ist es zum Glück so, dass wir in unserem Gesundheitssystem eine gute Versorgung gewährleisten können und dass Kinder, die von einem Schaden betroffen sind, länger leben als früher. Das hat natürlich automatisch zur Folge, dass auch mehr Geld zur Verfügung stehen muss. Es gibt also mehr Möglichkeiten für betroffene Kinder und Familien; damit sind allerdings automatisch auch höhere Kosten verbunden. Auch deswegen sind die Haftpflichtprämien gestiegen. Schon in der letzten Legislaturperiode wurde ein Schritt unternommen, um eine Lösung für dieses Problem zu finden. Denn wir haben bei den Gebührenpositionen für eine Geburt einen Aufschlag erhoben. Das heißt, man hat versucht, die gestiegenen Kosten dadurch auszugleichen, dass man gesagt hat: Für eine Leistung bekommt man einen Ausgleich von 100 Prozent. Jetzt wird noch etwas obendrauf geschlagen. Mit diesem zusätzlichen Geld kann man versuchen, seine Haftpflichtprämie zu bezahlen. Es war natürlich so, dass dies keine Lösung für den ländlichen Raum war, in dem viele Hebammen praktizieren, die nur wenige Geburten begleiten. Es haben vielmehr vor allem die Hebammen profitiert, die viele Geburten begleitet haben. Dies ist nur für eine begrenzte Zeit eine gute Lösung gewesen. Deswegen haben wir in dieser Legislaturperiode gesagt: Wir müssen dieses System neu aufstellen. Wir haben jetzt nach entsprechenden Verhandlungen einen Sicherstellungszuschlag im Gesetz festgeschrieben. Das heißt: Wer als Hebamme im Jahr vier Geburten begleitet, also pro Quartal eine, der kann von der Krankenkasse einen Ausgleich einfordern. Damit ist der allergrößte Teil der Kosten für die Haftpflichtprämie gedeckt. Es ist nämlich so, dass es auch im Falle von Kostensteigerungen bei der Haftpflichtprämie, die es in den nächsten Jahren wohl geben wird, einen Ausgleich gibt, der natürlich immer entsprechend angepasst wird. Herausgerechnet wurde zum Beispiel der Fall, dass jemand privat versichert ist; auch andere Bereiche wurden aus der Gesamtsumme herausgerechnet. Aber ein Kostenausgleich findet statt. Nun kann man darüber streiten, aus welchem Topf das Geld genommen werden soll. Sollen die Versicherten dies durch ihre Beitragszahlungen leisten, oder soll dies steuerfinanziert werden? Darüber kann man natürlich diskutieren. Aber es lohnt sich jetzt wieder – auch für wenige Geburten, und dies betrifft auch die Hausgeburten –, Geburtshilfe anzubieten. Deswegen ist dies der entscheidende und wichtige Punkt. Es wurden schon verschiedene Statistiken bemüht. Laut GKV-Spitzenverband gibt es 18 000 freiberufliche Hebammen. Davon machen lediglich 5 000 Geburtshilfe. Das heißt, wir haben ein Potenzial von 13 000 Hebammen, die keine Geburtshilfe mehr anbieten. Der Grund dafür liegt bei einem großen Teil von ihnen darin, dass die Haftpflichtprämie so massiv gestiegen ist. (Zuruf von der LINKEN) Jetzt können wir ganz klar anbieten: Passt auf, ihr müsst im Jahr vier Geburten begleiten. Dann bekommt ihr einen Ausgleich für die Versicherung. – Das ist doch ein gutes Angebot. Deswegen wird unsere Aufgabe sein, genau hinzugucken, wie viele Hebammen sich jetzt tatsächlich wieder bereit erklären, in die Geburtshilfe zu gehen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich die eine oder andere Hebamme wieder dazu bereit erklärt, weil sie sagt: Ich habe mehr Sicherheit, was meine Haftpflichtprämie angeht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir wollten damit eine nachhaltige Lösung anstreben. Um es noch einmal deutlich zu machen: Wenn wir in den nächsten Jahren einen Anstieg der Versicherungsprämie zu verzeichnen haben werden, dann wird dieser abgefedert; das Problem wird also nicht auf dem Rücken der Hebammen ausgetragen. Deswegen ist es auch so, dass Ihre Anträge absolut überholt sind. Die Grünen schreiben in ihrem Antrag – wir haben gestern schon im Ausschuss miteinander darüber gesprochen –, dass immer mehr Geburtshäuser schließen würden. Das ist nicht der Fall, das stimmt einfach nicht. Natürlich schließt das eine oder andere Geburtshaus. Dafür macht aber auch das eine oder andere wieder auf. So ist es. Es sind konstant 130 Häuser. Da sind wir uns doch einig. Es ist einfach falsch, was Sie in Ihrem Antrag schreiben. Aber Sie haben in folgendem Punkt recht: Die Datengrundlage ist schwierig. Deshalb müssen wir darangehen. Ich freue mich, wenn die Grünen sich damit einverstanden erklären, dass anonymisierte Daten an den GKV-Spitzenverband gegeben werden. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin, lassen Sie noch eine Zwischenfrage zu? Ihre Redezeit ist sonst abgelaufen bzw. sogar überschritten. Insofern haben Sie noch die Chance, länger zu reden. Emmi Zeulner (CDU/CSU): Ja. Birgit Wöllert (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie die Zwischenfrage noch zulassen. – Frau Kollegin, der Deutsche Hebammenverband mit seinen 19 000 Mitgliedern und 16 Landesverbänden hat in seiner Pressemitteilung ausdrücklich auf den heutigen Tag verwiesen und gesagt: Die Anträge der Grünen und der Linken und ganz besonders der gemeinsame Haftungsfonds für alle Gesundheitsberufe könnten eine tragfähige Lösung für die Zukunft sein. – Meine Frage ist: Haben Sie das gelesen? Würden Sie das bitte auch einmal zur Kenntnis nehmen? Uns geht es dabei gar nicht nur – und das trifft auch auf den Deutschen Hebammenverband zu – um die niedergelassenen Hebammen. Wir wollen nicht die eine gegen die andere Gruppe ausspielen, sondern es geht uns um den Berufsstand als Ganzes, dass er abgesichert wird und die Haftpflichtprämien in den Krankenhäusern nicht ins Unermessliche steigen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Emmi Zeulner (CDU/CSU): Natürlich nehmen wir die wertvolle Arbeit der Verbände auch zur Kenntnis. Für uns war es deswegen wirklich eine Herzensangelegenheit, eine nachhaltige Lösung für die freiberuflich tätigen Hebammen zu finden, indem die Mehrkosten von der Gemeinschaft getragen werden. Fakt ist aber auch: Am Ende des Tages wird irgendjemand zahlen müssen. Das heißt, egal wie wir herumrechnen oder welchen Topf wir nehmen: Am Ende des Tages werden aufgrund des medizinischen Fortschritts die Kosten auch zukünftig steigen, wenn eine Schädigung – bei den betroffenen Kindern oder Müttern – eingetreten ist. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stellt ja niemand infrage!) Wir schätzen also die wertvolle Arbeit. Aber in den Anträgen sind viele Punkte enthalten, die einfach schon abgearbeitet sind. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) Es ist doch eine Tatsache, dass das Problem im Moment nicht nachhaltiger gelöst werden kann, als wir es jetzt getan haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Hebammen werden entlastet und müssen nicht mehr die hohen Prämien zahlen, und das war unser Ziel. (Beifall bei der CDU/CSU) Was wir bei der Datengrundlage natürlich – – Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Ich möchte Sie einfach bitten, zum Schluss zu kommen, weil Ihre Redezeit vorhin schon überschritten war. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie hat doch so wenig Redezeit!) Emmi Zeulner (CDU/CSU): Gut, dann komme ich zum Schluss. – Sie sind ja auch an verschiedenen Landesregierungen beteiligt. In Bayern wurde von der Staatsministerin Huml eine Studie in Auftrag gegeben. Wir werden dabei genau hingucken, wie es mit den Hebammenschulen, mit den Strukturen und mit der Verteilung der Hebammen ausschaut, weil unser Bekenntnis zu unseren Hebammen nicht einfach nur ein Lippenbekenntnis ist. Deshalb steht im Gesetzentwurf auch, dass es zwingend notwendig ist, dass eine Hebamme bei der Geburt dabei ist, aber nicht unbedingt ein Arzt. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt muss ich doch eingreifen. Emmi Zeulner (CDU/CSU): Danke. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Es geht einfach nicht, dass man die Redezeit um mehr als eine Minute überschreitet. Ich bitte wirklich, auf die Redezeit zu achten. Mehrere Redner haben jetzt überzogen. Das ist nicht akzeptabel. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Unsere Anträge müssen wohl gesessen haben, wenn man so viele Worte macht!) Wir müssen heute noch viele Anträge beraten, und ich bitte wirklich darum, das zu berücksichtigen. Das ist keine böse Intervention der Präsidentin, sondern ich habe hier auch die Aufgabe, darauf zu achten, dass wir einigermaßen im Zeitplan bleiben. Das gelingt nicht, wenn jeder die Redezeit nicht einigermaßen einhält. Frau Bertram, Sie haben jetzt das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Ute Bertram (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren oben auf den Tribünen! Als wir vor rund zwei Jahren mit der Situation konfrontiert wurden, dass die Haftpflichtversicherer die Versicherungen der Hebammen gekündigt hatten, waren wir alle in Sorge. Es ging damals vor allen Dingen darum, diesen Berufsstand für die Zukunft sicher zu machen. Vor diesem zeitlichen Hintergrund müssen die jetzigen Anträge der Linken und der Grünen gesehen werden. Ich muss ganz ehrlich sagen: Bei dem Szenario, das ich von Frau Möhring und auch von Frau Scharfenberg gehört habe, wundere ich mich wirklich, dass überhaupt noch Kinder geboren werden, dass sich also junge Frauen und Männer dazu entschließen, Kinder in die Welt zu setzen. Das Szenario, das Sie hier aufgemalt haben, stimmt einfach nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir als Gesetzgeber, die Bundesregierung und die Partner im Gesundheitssystem sind in diesen zwei Jahren keineswegs untätig geblieben. Schon 2012, also schon vor vier Jahren, wurde gesetzlich klargestellt, dass die Krankenkassen steigende Haftpflichtprämien bei der Vergütung der Hebammen berücksichtigen müssen. Hebammen, die aufgrund weniger betreuter Geburten die Prämie für die Berufshaftpflichtversicherung nicht aufbringen können, erhalten seit dem letzten Herbst einen Sicherstellungszuschlag für die Geburten. Damit wird eine wichtige Voraussetzung für den Erhalt einer flächendeckenden Versorgung mit Hebammenhilfe erfüllt. Die GKV gleicht Kostensteigerungen der Berufshaftpflichtversicherung aus, die direkt mit der Berufsausübung der Hebammen zulasten der GKV zusammenhängen. Pro Jahr übernimmt die GKV damit zwischen 4 000 und bis zu 6 500 Euro pro Hebamme, je nach Höhe der gezahlten Prämie. Mit der jetzigen Regelung wird nun, wie vom Gesetzgeber gewollt, ein individueller Haftpflichtkostenausgleich für Geburtshebammen erreicht. Ja, ich weiß, der Vertrag über die Versorgung mit Hebammenhilfe musste von der Schiedsstelle entschieden werden, weil sich die Partner nicht einig geworden sind. Ich weiß auch, dass der Deutsche Hebammenverband dagegen Klage erhoben hat, weil dieser Beschluss seiner Auffassung nach rechtswidrig ist. Warten wir also das laufende Verfahren ab. Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz haben wir auch klargestellt, dass die Kranken- und Pflegekassen auf Regressforderungen gegenüber freiberuflichen Hebammen verzichten, mit Ausnahme von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit. Damit trägt der Bund dazu bei, die Versicherungsprämien langfristig zu stabilisieren. Gleichzeitig bleibt sichergestellt, dass ein geschädigtes Kind und seine Familie weiterhin die erforderliche Hilfe erhalten, wenn es zu einem Behandlungsfehler gekommen ist. Die Anträge der Linken und der Grünen gehen darüber hinaus. So fordern die Grünen, eine Neuordnung der Berufshaftpflichtversicherung für alle Gesundheitsberufe nach dem Vorbild der Unfallversicherung zu prüfen. (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Die Linke vermeidet zwar den Begriff der Unfallversicherung, fordert aber die Schaffung eines gemeinsamen Haftungsfonds für Behandlungsfehler zugunsten aller Leistungserbringer nach dem SGB V. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ein guter Vorschlag!) Dazu gibt es rechtliche Bedenken wie die Frage der Gleichbehandlung mit Leistungserbringern außerhalb der GKV und die Frage der Bundeszuständigkeit bei der Verpflichtung zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung. Für mich stellen sich in diesem Zusammenhang besonders folgende Fragen: Was bedeutet dies für die Patienten? Gibt es kein Verschulden mehr? Gibt es keine individuellen Fehler mehr, für die jemand einzustehen hat? Wird jeder Verstoß gegen die anerkannten Regeln der Heilkunst zum Unfall oder zum Quasiunfall erklärt? Soll das die Patientensicherheit wirklich erhöhen? Ich fürchte, genau das Gegenteil wäre das Ergebnis. Ich denke, wir tun gut daran, die Anträge der Grünen und der Linken abzulehnen. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Falsch gedacht! Völlig falsch gedacht!) Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Ich schließe die Debatte. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 18/8426. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1483 mit dem Titel „Zukunft der Hebammen und Entbindungspfleger sichern – Finanzielle Sicherheit und ein neues Berufsbild schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/850 mit dem Titel „Geburtshilfe heute und in Zukunft sichern – Haftpflichtproblematik bei Hebammen und anderen Gesundheitsberufen entschlossen anpacken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist auch diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: – Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Militärmission der Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte (EUTM Mali) auf Grundlage des Ersuchens der Regierung von Mali an die EU sowie der Beschlüsse des Rates der EU 2013/87/GASP vom 18. Februar 2013, zuletzt geändert mit dem Beschluss des Rates der EU 2016/446/GASP vom 23. März 2016 in Verbindung mit den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 2071 (2012) vom 12. Oktober 2012 und folgender Resolutionen, zuletzt 2227 (2015) vom 29. Juni 2015 Drucksachen 18/8090, 18/8284 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/8285 Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Christoph Strässer für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Christoph Strässer (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich wiederhole einmal das Thema des Antrages, über den wir heute abstimmen, weil auf der elektronischen Anzeigetafel nur lapidar „Bundeswehreinsatz in Mali“ zu lesen ist. Ich nenne es noch einmal so, wie es im Titel des Antrages steht: EUTM Mali, ins Deutsche übersetzt: Ausbildungsmission der Europäischen Union in Mali. Ich sage das ganz bewusst zu Beginn meiner Rede, weil die Anzahl der Soldatinnen und Soldaten, die bei dieser Mission eingesetzt werden, auf maximal 300 begrenzt ist. Ich wiederhole: 300. Ich weiß, dass an dieser Stelle immer wieder über Militarisierung und die Ausweitung von Mandaten und anderen Dingen gesprochen wird. Ich finde, die Entsendung von 300 Soldatinnen und Soldaten nach Mali zur Ausbildung ist ein eher bescheidener Beitrag zur Stabilisierung eines Landes, das nicht nur für uns, sondern auch für die Region und ihre Menschen von absolut hoher Bedeutung ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich würde mir – wie ganz sicher alle in diesem Hohen Hause – wünschen, dass wir über solche Mandate nicht mehr abzustimmen bräuchten. Aber wir wissen, dass die Situation in und um Mali nicht so ist, dass man sagen kann: Dort ist alles in Ordnung. Vor knapp einem Jahr, am 20. Juni 2015, ist in Bamako mit großem Trara ein Friedensvertrag verabschiedet worden, von dem einer der Beteiligten gesagt hat – ich zitiere –: „Das ist ein Friedensvertrag, wie es ihn im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten in Afrika noch nicht gegeben hat.“ Von Anfang an war klar, dass dieses Abkommen von hoher Fragilität ist, um es vorsichtig auszudrücken. Es hat zu diesem Zeitpunkt viel Kritik gegeben. Aber es ist immerhin etwas entstanden, was viele Beobachter nicht geglaubt haben. Nach einem seit 2012 eskalierenden Krieg insbesondere im Norden des Landes, wo eine militante Tuareg-Gruppe einen eigenständigen Staat gründen wollte, hat es in der Tat geklappt, dass sich die drei großen Gruppen an einen Tisch gesetzt und gesagt haben: Wir versuchen es mit einer Verfassung und einem demokratischen Staat. – Das alleine verdient nicht nur Respekt, sondern auch Unterstützung. Ich glaube, EUTM Mali ist ein Teil dieses Respekts und dieser Unterstützung, die wir den Menschen in der Region und den Versuchen schulden, die Region zu stabilisieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir alle wissen – diese Erfahrung ist, glaube ich, nicht ganz frisch; sie ist historisch begründet –, dass alleine mit militärischen Mitteln Frieden, Stabilität und die Durchsetzung von Menschenrechten nicht gewährleistet werden können. Aber es gibt auch Situationen – darüber haben wir in diesem Hause schon oft diskutiert –, in denen es eben nicht ohne einen solchen Einsatz geht. Es wird leider nicht funktionieren, wegzuschauen und nur mit zivilen Mitteln, mit Mitteln der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit Unterstützung zu leisten. Das ist, glaube ich, auch eine historische Erfahrung, mit der wir umzugehen haben. Deshalb finde ich es nach wie vor richtig und wichtig, dass Deutschland dieses Mandat weiterhin unterstützt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Ich glaube – das ist mir ganz wichtig –, dass wir auch in dieser Debatte nicht nur über den militärischen Teil der Unterstützung und der Zusammenarbeit mit Mali und der Sahelregion insgesamt reden, sondern auch über die anderen Bereiche, die für alles, was intern in den Ländern geschieht, sehr viel bedeutsamer sind. Das darf man nicht vergessen; denn der Deutsche Bundestag berät zwar verpflichtend über die Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr – das ist natürlich gut –, aber wir diskutieren die anderen Bereiche, die die Frage betreffen, was wir ansonsten tun und was in dieser Region beispielsweise im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit notwendig ist, nicht regelmäßig im Bundestag. Das finde ich manchmal etwas schade. Deshalb möchte ich genau diesen Punkt noch einmal ansprechen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Moment wissen leider viele der betroffenen Menschen in Mali noch nicht so richtig, was im Friedensvertrag steht. Die Friedensdividende ist noch nicht in der Region angekommen. Viele Menschen stellen sich Fragen: Wie geht es weiter? Was bringt uns eigentlich die Verfassung? Profitieren wir als Bürgerinnen und Bürger des Landes Mali eigentlich davon? Bei vielen sind also die positiven Wirkungen des Friedensvertrages noch nicht richtig angekommen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet seit Jahrzehnten an der Basis in Mali und führt jedes Jahr einen sogenannten Mali Maître, eine Meinungsumfrage, unter den Bürgerinnen und Bürgern durch. Danach sagen viele: Wir haben relativ wenig von der Friedensdividende, die in den letzten Jahren verteilt wurde. Die Bürger haben aber noch etwas Bemerkenswertes gesagt. Im Dezember 2015 hat die Umfrage ergeben, dass unter all den Prozessen, um die es dort geht, die Entwicklung der malischen Sicherheitskräfte positiv bewertet wird. Ich glaube, dieses Ergebnis ist auf die Arbeit von EUTM vor Ort und die wichtige Form der Entwicklungszusammenarbeit von Europa und insbesondere von Deutschland zurückzuführen. Deutschland ist der viertgrößte bilaterale Geber im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Wir kümmern uns um den Staatsaufbau, die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, Wasserprojekte usw. Nicht isoliert, sondern nur im Kontext mit anderen politischen Maßnahmen ist der Einsatz EUTM Mali für uns zielführend. Deshalb werbe ich um Zustimmung. Die SPD-Bundestagsfraktion wird jedenfalls zustimmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Christine Buchholz von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Christine Buchholz (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehr als drei Jahre sind deutsche Truppen nun schon in Mali. Der Einsatz von Militärausbildern im Rahmen des EU-Mandats EUTM Mali, über das wir heute beschließen, findet, Herr Strässer, in enger Abstimmung mit der Blauhelmmission MINUSMA und der französischen Kampfoperation Barkhane statt. Das alles ist nicht voneinander zu trennen. (Gabi Weber [SPD]: Das ist auch gut so!) Seit Jahren befinden sich in diesem Land mehr ausländische als einheimische Soldaten. Doch ein Ende der Einsätze ist nicht in Sicht. Vielmehr will die Bundesregierung das Einsatzgebiet der Militärausbilder noch ausweiten auf Städte wie Timbuktu und Gao im gefährlichen Norden des Landes. Warum ist das so? Der Bundesregierung geht es darum, Seite an Seite mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, die schon lange in Westafrika involviert ist – nicht zuletzt aus wirtschaftlichem Interesse an den Rohstoffen –, eine deutsche militärische Dauerpräsenz in der Sahelzone aufzubauen. (Florian Hahn [CDU/CSU]: So ein Schmarren!) Die Linke sagt: Wir brauchen in Mali keinen Endloseinsatz wie in Afghanistan. (Beifall bei der LINKEN) Um den Einsatz der Bundeswehr zu rechtfertigen, behaupten Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen in einem Brief an die Fraktionen, Sicherheit und humanitäre Lage hätten sich in Mali „verbessert“. Das hat mit einer realistischen Lageeinschätzung nichts zu tun. Die Lage im Norden Malis ist unverändert angespannt. Gerade gestern erreichte uns die Nachricht, dass der stellvertretende malische Kommandeur des Militärbezirks Gao in einem Hinterhalt getötet wurde. Aber auch die Lage im Süden des Landes, der immer sicherer war, hat sich im Laufe der drei Jahre verschlechtert. Es gab einen schrecklichen Anschlag auf ein Hotel in Bamako im letzten November. Selbst das Hauptquartier der EU-Militärmission mit ihren 30 Bundeswehrsoldaten wurde im März angegriffen. Fakt ist: Weder die französische Kampfoperation noch die Bundeswehreinsätze haben Mali sicherer gemacht. Im Rahmen der EU-Ausbildungsmission soll nun die malische Armee gestärkt werden. Doch die malische Armee ist selbst Teil des Problems. Das zeigt neben vielen vorherigen Vorfällen, die wir aufgezeigt haben, ihr Vorgehen im neuesten Krisenherd im Zentrum des Landes. Dort ist vor dem Hintergrund langjähriger sozialer Probleme, aber auch als Reaktion auf die Präsenz ausländischer Truppen im Land nun auch unter dem Stamm der Fulbe eine aufständische Miliz entstanden. Die malische Armee reagiert darauf mit brutaler Gewalt. Der Menschenrechtsaktivist Oumar Aldjana sagte dazu im französischen Fernsehsender TV5 Monde, dass Armee und Bamako-treue Milizen keinen Unterschied zwischen Kämpfern und Zivilisten machten. Alle Fulbe würden verdächtigt. Im Laufe des Aprils wurden so von der Armee und ihren Verbündeten mehr als 15 Zivilisten getötet. Wohlgemerkt: Es handelt sich um dieselbe Armee, die unter dem vorliegenden Mandat ausgebildet wird. EUTM Mali ist also kein Projekt, das zum Aufbau des Landes beiträgt; es ist eine Mission, die die malische Armee selbst zur Kriegsführung befähigen soll. Der Frieden wird auch nicht durch ausländische Truppen ins Land kommen. Das haben die Ereignisse des vergangenen Monats verdeutlicht. Am 18. April kam es in der von Tuareg kontrollierten Wüstenstadt Kidal zu Demonstrationen gegen willkürliche Verhaftungen, die die französische Armee dort durchführte. 30 Frauen besetzten die Landebahn des Flugplatzes, um ihre verhafteten Männer freizubekommen. Es kam zur Konfrontation mit den Soldaten der UN-Truppe MINUSMA – auch daran ist Deutschland beteiligt –, Jugendliche eilten den Frauen zu Hilfe. Die UN-Blauhelme eröffneten daraufhin das Feuer auf die Demonstranten. Mindestens zwei Tuareg starben. Ich frage die Bundesregierung: Wo ist der Frieden, den diese Blauhelme erhalten sollen? (Beifall bei der LINKEN – Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wäre die Alternative?) Die Linke ist überzeugt, dass auch in Mali Frieden nur von innen wachsen kann. Ansätze dazu gibt es. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie denn?) Im März rief die ehemals aufständische Tuareg-Koalition CMA in Kidal zu einer Versöhnungskonferenz. Die Regierung entsandte übrigens keine Vertreter. Dafür kam aus dem Süden mit Oumar Mariko ein bekannter Vertreter der malischen Linken. Er sagte, Tuareg und andere Volksgruppen dürften sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Die wahren Feinde seien jene Eliten, die mit den westlichen Truppen kooperierten, welche das Land nur als Sprungbrett für ihre wirtschaftlichen Interessen und für den Aufbau einer dauerhaften Militärpräsenz benutzten. Ich sage Ihnen, auch Ihnen von den Grünen: Oumar Mariko hat recht. (Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Sie haben nicht recht!) Die Linke will nicht, dass die Bundeswehr Schritt für Schritt zu einer Konfliktpartei nun auch in der Sahelzone wird. Deshalb werden wir auch dieses Mandat ablehnen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Regierungsunfähig!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Henning Otte von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Henning Otte (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muss sich schon sehr über die Worte meiner Vorrednerin wundern, die mit einer Baukastenrede, die von ideologischer, rhetorischer Kampfkunst geprägt ist, bestimmte Inhalte zu vermitteln versucht. (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Nein! Nur weil Sie es nicht schnallen, ist das keine Baukastenrede!) Da muss ich sagen: Wie wohltuend war doch die Rede von Herrn Strässer, der ausgewogen und umfassend dargestellt hat, um was es geht. Dafür danke ich ihm. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Viel schlimmer aber war etwas anderes, Frau Buchholz. Wir hatten die Möglichkeit, mit einer Delegation des Deutschen Bundestages in Begleitung unserer Verteidigungsministerin nach Mali zu fahren, um uns vor Ort einen Einblick in die Lage zu verschaffen. Kurzfristig hat die Vertreterin Ihrer Fraktion abgesagt. (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Aus Krankheitsgründen, wie Sie wissen!) Man merkt hier ganz genau, dass Ihre Rede nicht von Kenntnis, sondern von Ideologie geprägt ist. (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Ich war dort!) Sie nehmen die Sorgen und das Leid der Menschen nicht ernst. Das ist das Verwerfliche an Ihrer Rede. (Beifall bei der CDU/CSU – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Mit wem haben Sie denn geredet? – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Diese ekelhafte Unterstellung!) Die Sicherheit Malis ist auch unsere Sicherheit. Deshalb verlängern wir heute das EUTM-Mandat. Konkretes Ziel ist es nämlich, die malische Armee in die Lage zu versetzen, selbst im Land für Sicherheit zu sorgen; denn Sicherheit ist nun einmal die wichtigste Voraussetzung für eine zivile Entwicklung, für die Errichtung von Infrastruktur und für Bildung und damit für Stabilität nach innen und nach außen. Die Mission, die seit 2013 besteht, ist erfolgreich. Acht malische Gefechtsverbände – das sind fast zwei Drittel der malischen Landstreitkräfte – wurden ausgebildet. Sie wurden zum Bau von behelfsmäßigen Brücken ausgebildet, zum Erkennen von Sprengfallen, die von IS-Kämpfern angebracht werden, sie wurden zur Abwehr von Beschussangriffen und zur Sicherstellung der Ersten Hilfe ausgebildet. Sie wurden in Koulikoro, in der Nähe der Hauptstadt Malis, auch von der Bundeswehr ausgebildet. Das ist der Garant für eine sicherheitspolitische Gesamtstrategie. Dazu leistet die Bundeswehr einen Beitrag, und dafür danken wir ganz herzlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Diese Gesamtstrategie – GSVP – setzt sich aus vier wesentlichen Bausteinen zusammen, nämlich einmal der Bekämpfung terroristischer Kräfte durch französische Einheiten, aber eben auch durch eine zivile Mission, nämlich EUCAP Sahel, außerdem durch die Mandatierung von MINUSMA, einem Mandat der Vereinten Nationen, zu dem auch Deutschland einen Beitrag leistet. Hinzu kommt EUTM Mali. Seit 2013 sind wiederholt Gefechtsverbände ausgebildet worden. Auch das zeigt den Nachhaltigkeitseffekt dieses Auftrages. Gemeinsam leisten wir dies in der Völkergemeinschaft mit unseren Partnern für mehr Stabilität und Sicherheit, und das ist richtig und notwendig. Warum eigentlich Mali? Weil Mali Teil eines Ringes ist von Syrien über Jemen, Somalia, den Sudan und den Tschad, der akut vom Terror bedroht ist. Dabei dürfen wir auch Libyen nicht aus den Augen verlieren, nämlich um zu verhindern, dass sich der IS-Terror dort weiter einnistet. Hier ist Mali eben ganz besonders gefährdet, unterwandert zu werden. Immer wieder ist dieses Land vom IS-Terror angegriffen worden, von einem Terror, der über Staatsgrenzen hinweg brutal mordend gegen Andersgläubige vorgeht, der Mütter und Väter tötet und Kinder verschleppt. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wie in jedem Krieg!) Ganze Regionen sind dadurch destabilisiert worden. Das ist auch eine Gefahr für Europa und für Deutschland. Daher nochmals: Die Sicherheit Malis ist auch die Sicherheit Deutschlands. Deswegen ist diese Mandatierung notwendig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben erkannt, dass wir dort helfen müssen, wo Krisen entstehen, damit sie nicht zu wandern beginnen. Je stabiler die Region Mali ist, desto besser werden wir die Ursachen für illegale Migration beseitigen. Wenn es uns mit dem Frieden, der Stabilität, der Sicherheit, der Bekämpfung von Fluchtursachen, (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Dann sollten wir TTIP lassen!) der Reduzierung von Flüchtlingsbewegungen und der Wahrung von Menschenrechten ernst ist, dann ist Mali der richtige Ort, um zu helfen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie sich ja etwas vorgenommen!) Dieses Vorgehen im Rahmen der Ertüchtigungsstrategie der Bundesregierung hilft, Stabilitätsanker zu setzen, ganz nach dem Motto: Gib den Menschen keine Fische, sondern lehre sie, zu angeln. – Mali ist hierfür ein Beispiel; beispielgebend für die afrikanische Region, für Tunesien und Nigeria, für Jordanien – – (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Fragen Sie doch erst mal, ob die Fische wollen! Das ist zum Kotzen!) – Wie bitte? (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ich habe gesagt: Fragen Sie doch erst mal, ob die Fische wollen!) – Ich meine das, was Sie danach gesagt haben. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist zum Kotzen! Das wiederhole ich auch gerne! – Ich nehme den Ordnungsruf an, Frau Präsidentin! Es tut mir leid! Aber es steht im Protokoll!) Ich will nur sagen: Wir lassen das Leid der Menschen nicht aus den Augen. Wir helfen ihnen, und deswegen handeln wir entsprechend der Ertüchtigungsstrategien in Afrika, im Nahen Osten, etwa in Jordanien und im Irak, zum Beispiel, um den Menschen bei der Minenräumung oder beim taktischen Vorgehen gegen Aggressoren zu helfen. Wir liefern auch Ausrüstungsmaterial und leisten Ausbildungshilfe. Meine Damen und Herren, dort wo Kriminalität, Terrorismus und Leid gedeihen, da gibt es keine Staatlichkeit. In dies immer eingebunden sein müssen Diplomatie und zivile Entwicklung. Da ist die Bundeswehr gefordert. Die Sicherheitslage hat sich – das ist nun einmal so – grundlegend geändert. Die Bundeswehr leistet einen Einsatz in der Krisenbewältigung, in der Bündnisverteidigung. Sie hilft bei Ebolaeinsätzen oder auch bei der Registrierung von Flüchtlingen und deren Unterbringung. Dafür braucht sie auch die notwendige personelle, finanzielle und materielle Ausrüstung. Abschließend möchte ich auch einmal unserer Verteidigungsministerin dafür Dank sagen, dass wir eine Trendwende hinbekommen haben, dass wir die Bundeswehr so ausstatten, dass sie diese Aufgaben auch erfüllen kann. Ich verweise auf die aktuellen Herausforderungen in Mali. Ich danke den Männern und Frauen der Bundeswehr und allen anderen Beteiligten, die zu dieser Stabilisierung, zur Erlangung dieser Sicherheit und dieses Friedens beitragen, damit wir hier in Deutschland in Frieden und Freiheit leben können. Deswegen bitten wir um die Zustimmung zu diesem Mandat. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das war eine Baukastenrede!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: An die Adresse des Kollegen Wunderlich: Zu den parlamentarischen Gepflogenheiten gehört es, dass man sich mit Argumenten auseinandersetzt. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja, wenn die wenigstens korrekt und ordentlich wären!) Wenn man mit Argumenten nicht einverstanden ist, kann man Gegenargumente äußern. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, Gegenargumente hier vorzubringen. Zwischenfragen, Kurzinterventionen; das ist alles möglich. Ich bitte, die parlamentarischen Gepflogenheiten zu beachten und sich auseinanderzusetzen, aber eben argumentativ. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Herr Schmidt hat das Wort. Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion ist mit großer Mehrheit der Auffassung, dass es richtig war und ist, dass die internationale Gemeinschaft in Mali nach dem Zusammenbruch der malischen Armee und dem Zurückschlagen der islamistischen Angreifer durch französisches Militär in mehrfacher Hinsicht Verantwortung in Mali übernommen hat: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die UN-Blauhelme schwerpunktmäßig im Norden, um den mühsam ausgehandelten Friedensprozess im Tuareg-Gebiet jetzt abzusichern, und die Europäische Union mit ihrer Ausbildungsmission für die malische Armee im Süden. 27 Länder unterstützen diese Ausbildungsmission. Wir begrüßen auch, dass diese beiden Missionen eng zusammenarbeiten – Deutschland beteiligt sich ja auch an beiden Missionen – und eng aufeinander abgestimmt werden. Das ist sinnvoll und richtig. Darum halten wir auch die Ausdehnung der Ausbildungsmission auf den Norden, die das neue Mandat ja jetzt vorsieht, für sinnvoll und vertretbar. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir tun das, obwohl klar ist, dass diese Mission von nun an auch in einem sehr gefährlichen Umfeld stattfindet, nämlich im Operationsraum der UN-Truppen im Norden. MINUSMA gilt gegenwärtig zu Recht als die gefährlichste UN-Mission mit über 68 toten Blauhelmsoldaten in den letzten zwei Jahren. Es ist unsere Pflicht, das hier auch ganz klar zu sagen. Immer wieder kommt es zu Kämpfen zwischen der Zentralregierung und den Rebellen bzw. zwischen verschiedenen Rebellengruppen, und immer wieder geraten MINUSMA-Soldaten zwischen die Fronten. Menschen flüchten vor diesen Kämpfen, und die überwiesenen Hilfsgelder reichen gegenwärtig wieder einmal nicht aus, um alle hilfsbedürftigen Menschen zu erreichen. Da gibt es nichts schönzureden. Aber trotz dieser Schwierigkeiten und Rückschläge hat es die UNO geschafft, den Friedensprozess weiter voranzutreiben, zwar nur langsam – Kollege Strässer hat das auch erklärt –, Schritt für Schritt, aber es bewegt sich etwas. Die UNO und die Europäische Union brauchen und verdienen dabei auch weiterhin unsere Unterstützung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Es gibt in dem neuen Mandat, das uns zur Beschlussfassung vorliegt, eine zweite Veränderung, die wir als problematisch ansehen und die Fragen aufwirft, die wir hier wirklich gründlich diskutieren sollten. In die Ausbildung sollen nun auch Militärs aus den sogenannten G-5-Sahelstaaten einbezogen werden. Das sind neben Mali Mauretanien, Niger, Tschad und Burkina Faso. Es bleibt unklar, wie die Auswahl dieser Soldaten stattfindet, wie viele es sein werden, welche Ausbildungsziele und späteren Aufgaben vorgesehen sind. Fast alles scheint hier sowohl konzeptionell als auch konkret weitgehend ungeklärt zu sein. Gerade eine grenzüberschreitende Kooperation im Sahelgebiet ist politisch hochsensibel. Das gilt auch für die weitgehend unklare Zusammenarbeit mit der französischen Operation Barkhane. Über deren Aktionen wird offensichtlich auch die Führung der Bundeswehr nur – sage ich einmal vorsichtig – fragmentarisch informiert. Diese neuen Ausbildungsmöglichkeiten für Soldaten von vier weiteren Armeen zu schaffen, ohne eine konkrete Planung dazu vorzulegen, das ist politisch nicht wirklich plausibel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Informationen, die die Bundesregierung dazu gibt – auch in den Ausschussberatungen –, sind äußerst vage und bisher sehr unbefriedigend. Unter diesen Umständen ist es uns auch besonders wichtig, dass das Mandat eine Einsatzbegleitung durch deutsche Ausbilder nicht vorsieht. Wir werden den Einsatz in dieser Hinsicht sehr kritisch begleiten. Aber trotz dieser Bedenken wird die große Mehrheit meiner Fraktion diesem Einsatz erneut zustimmen. (Beifall des Abg. Henning Otte [CDU/CSU]) Denn es gilt, die Chance auf einen erfolgreichen Friedensprozess in Mali zu nutzen. Eine erfolgreiche und stabile Entwicklung in Mali ist entscheidend für die politische Zukunft der ganzen Sahelzone. Deshalb ist das Engagement Deutschlands wichtig und richtig, und es ist gut, wenn wir es hier in diesem Hause breit tragen. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Thomas Hitschler von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Thomas Hitschler (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kennen Sie den Ausspruch: „Dann geh doch nach Timbuktu!“? Das hat man früher Leuten empfohlen, die man möglichst weit weg haben wollte. Um es gleich vorweg zu sagen: Das ist nicht der Grund, warum wir die Bundeswehr nach Mali schicken; sonst würde am Ende vielleicht noch die Linkspartei dem Mandat zustimmen. Warum aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, schicken wir deutsche Soldatinnen und Soldaten nach Mali? Auch wenn wir heute nur über die EU-Trainingsmission entscheiden, muss man diese Debatte etwas weiter fassen. Deutschland ist nicht nur der größte Truppensteller bei EUTM Mali, sondern auch mit über 70 Millionen Euro in der Entwicklungshilfe, im Rahmen von EUCAP bei der Ausbildung der Polizei sowie in der UN-Friedensmission MINUSMA engagiert. Mali ist eines der gefährlichsten Einsatzgebiete der Welt, Kolleginnen und Kollegen; auch darüber muss man kritisch diskutieren. Im vergangenen Jahr fielen dort 29 Blauhelmsoldaten der UN; 80 wurden verletzt. Im Dezember fanden die letzten Raketenangriffe auf das Camp Castor statt, in dem auch deutsche Soldaten untergebracht sind. Im März wurde ein Al-Qaida-Angriff auf das Hotel in der malischen Hauptstadt Bamako abgewehrt, in dem sich das EUTM-Hauptquartier befindet. Im April fielen drei französische Soldaten durch die Explosion einer Mine. Wir sind in Gedanken auch bei ihnen, wenn wir über diesen Einsatz heute entscheiden, Kolleginnen und Kollegen. Die Einsätze der Bundeswehr in Mali sind keine Kampfeinsätze. Trotzdem stehen dort auch deutsche Soldatinnen und Soldaten im Fadenkreuz der Dschihadisten. Mit der Ausweitung der Mission an den Niger-Bogen von Timbuktu bis Gao rücken sie noch näher an die Operationsgebiete der örtlichen Ableger von al-Qaida und von dem sogenannten „Islamischen Staat“. Gerade weil wir unsere Truppe einem solchen Risiko aussetzen, müssen wir diesen Einsatz außerordentlich gut begründen. Das schulden wir unseren Bürgerinnen und Bürgern; das schulden wir als Parlamentarier aber auch unserer Parlamentsarmee. Bamako, Brüssel, Jakarta, Mogadischu, Kairo, Ankara, Stawropol, Kabul und Essen – eine jetzt schon zu lange, aber nicht einmal komplette Liste dschihadistischer Attentate allein in diesem jungen Jahr 2016; in vielen Fällen mit al-Qaida oder dem IS verbunden. Der Dschihadismus, Kolleginnen und Kollegen, gedeiht überall dort, wo er sich dank fragiler oder gänzlich fehlender Staatlichkeit ungehindert ausbreiten kann: Somalia, Libyen, Syrien, Nordirak oder Nordmali. Hier rekrutiert der Dschihadismus seine Kämpfer. Besonders erfolgreich wirbt er bei jungen Menschen ohne echte Perspektive. Die Hälfte der Bevölkerung in Mali ist jünger als 15 Jahre. Die Hälfte der Bevölkerung lebt in absoluter Armut. Über die Hälfte der Bevölkerung kann weder lesen noch schreiben. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Darum mehr Militär!) Hier schmuggelt der Dschihadismus seine Waffen. Mit den Waffen aus Gaddafis Arsenalen überrannten die Rebellen 2012 den Norden Malis. Hier zieht sich der Dschihadismus allerdings auch zurück. Al-Qaida-Gruppen nutzen Mali als Ausgangsstation neuer Angriffe in der gesamten Region und zum Rückzug. Auch der IS hat seinen Fuß in genau dieser Tür. Hier bleibt der Dschihadismus aber nicht. Seine Angriffsziele erstrecken sich über die gesamte Welt, auch über Europa, auch über Deutschland. Europäische Sicherheit wird auch in Timbuktu verteidigt; da hat der Kollege Otte völlig recht. Ein stabiler Staat schützt uns alle, weil er weniger Nährboden für Terroristen bietet. Ein stabiler Staat Mali entspricht deshalb unserem ureigenen sicherheitspolitischen Interesse in Deutschland. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Bereits 8 000 Soldaten, Kolleginnen und Kollegen, wurden durch EUTM Mali ausgebildet – zwei Drittel der kompletten malischen Streitkräfte. Ohne einen gut ausgebildeten Sicherheitsapparat lässt sich ein stabiler Staat kaum machen. Es gibt Fortschritte; Christoph Strässer hat es vorhin betont. Es gibt einen Friedensvertrag und einen Waffenstillstand. Es gibt aktive Versöhnungsarbeit, Reintegrationsmaßnahmen und politische Dezentralisierung. Es gibt aber auch Hindernisse und Rückschläge; das gehört dazu. Frank-Walter Steinmeier hat diese Probleme bei seiner Mali-Reise deutlich angesprochen. Es ist ein steiniger Weg, Kolleginnen und Kollegen, aber man kann darauf laufen. Der Mali-Beauftragte der Afrikanischen Union, Pierre Buyoya, sagte vor wenigen Tagen: Die Terroristen bedrohen nicht nur Mali, sondern die gesamte Region. Nordmali ist zum Stützpunkt geworden, um Burkina Faso, die Elfenbeinküste und womöglich weitere Länder anzugreifen. – Der Terrorismus in der Sahelzone bedroht dabei auch deutsche Sicherheitsinteressen. Von den Flüchtlingen, die 2016 bereits in Italien angekommen sind, sind fast zwei Drittel aus dem Nordwesten Afrikas. Geografisch liegt Mali dort ähnlich zentral wie Deutschland in Europa. Mali und das Nachbarland Niger gelten als Drehscheibe der afrikanischen Flüchtlingsbewegungen. Die massenhafte Flucht vor dem Bürgerkrieg in Syrien hat uns in Deutschland und Europa vor enorme Herausforderungen gestellt. Ein weiterer Zerfall Malis wäre nicht nur für die gesamte Region katastrophal. Auch in Deutschland würden wir die Folgen spüren. Deshalb ist Wegschauen definitiv keine Alternative, Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir schicken die Bundeswehr nicht nach Timbuktu, weil wir sie möglichst weit weg von uns haben wollen. Timbuktu war in früheren Zeiten vielleicht sehr weit weg. In heutigen Zeiten ist es sehr nah. Was dort passiert, betrifft auch unsere eigene Sicherheit. Deshalb schicken wir die Bundeswehr auch nach Timbuktu, und deshalb bitte ich Sie um Unterstützung für die Verlängerung des Mandats. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Dagmar Wöhrl das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mali ist ein Schwerpunkt unseres sicherheitspolitischen und entwicklungspolitischen Engagements. Wie wir auch schon von den Vorrednerinnen und Vorrednern gehört haben, ist die EUTM-Mission in Mali ohne Zweifel einer der anspruchsvollsten und wichtigsten Einsätze der Bundeswehr. Die Verlängerung und die Ausweitung des Mandats sind richtig und wichtig, aber auch gefährlich. Ich glaube, das müssen wir erwähnen. Vorhin wurde schon die Vergangenheit, wurden die Attentate, die Geiselnahme im Hotel „Radisson Blu“, dem Hauptquartier von EUTM Mali, und vieles mehr angesprochen. Bis 2012 interessierten sich in der Weltgemeinschaft nur sehr wenige für die Wüstenregion Mali. Das hat sich dann durch den Militärputsch 2012 geändert. Inzwischen haben wir seit 2015 ein Friedensabkommen zwischen der malischen Regierung und den separatistischen Rebellenorganisationen. Der Waffenstillstand hält. 80 Prozent der Bevölkerung konnten inzwischen zurück in ihre Heimatdörfer, aber immer noch befinden sich 130 000 Flüchtlinge in den Nachbarländern. Immer wieder wird von islamistischen Gruppierungen versucht, diesen Versöhnungsprozess mit Anschlägen gegen Sicherheitskräfte und auch gegen die Bevölkerung zu untergraben. Das heißt: Mali ist immer noch fragil, befindet sich immer noch in einer fragilen Stabilisierungsphase. Mali ist aber noch etwas anderes: Mali ist das Schlüsselland für die gesamte Sahelregion. Das heißt, Terrorismus, der sich in Mali festsetzt, ist ohne Weiteres übertragbar auf die Sahelregion und kann verhindern, dass die Sahelregion eine friedliche Entwicklung nimmt. Deshalb ist es konsequent, dass die Ausbildung auch auf die Sicherheitskräfte der Nachbarländer ausgeweitet wird. Es ist richtig, wie mein Vorredner auch erwähnt hat, dass man hier hinsichtlich der Ausgestaltung bestimmt noch das eine oder andere überdenken und in die Überlegungen einbeziehen muss. Aber nichtsdestoweniger ist es eine richtige Entscheidung. Mali darf nicht zu einem Terrorcamp Afrikas werden und auch nicht zum Rückzugsgebiet für organisierte Kriminalität. Schon heute ist es so, dass Mali die Drehscheibe des globalen Drogenhandels auch mit Südamerika ist, schon heute ist es so, dass in Mali Menschenhandel in erschreckendem Ausmaß stattfindet, und schon heute ist es so, dass hier der Kreuzungspunkt des weltweiten Waffenhandels ist. Der Terror bedroht nicht nur die Sahelregion. Der Terror bedroht auch uns. Der Terror bedroht auch Europa. Wir wissen, dass Mali ein Transitland für Migration ist. Das heißt, für uns ist es wichtig, Terrorismus zu bekämpfen, die Kriminalität zu bekämpfen und auch die Verarmung zu bekämpfen. Das ist keine einfache Aufgabe. Das ist eine schwierige Aufgabe. Aber ich glaube, wir sind schon ein gutes Stück auf diesem Weg vorangekommen. Wir müssen Mali in die Lage versetzen, dass es selbst für seine Sicherheit, für seine Stabilität und für seine eigene Bevölkerung sorgen kann. Wir müssen auch dafür sorgen, dass es sein Territorium selbst kontrollieren kann. Wir haben in der Entwicklungszusammenarbeit und bei unserer humanitären Hilfe heute noch die Schwierigkeit, dass wir nicht in jedes Gebiet in Mali kommen, wo die Menschen unsere Hilfe nötig haben – vielleicht dringender als anderswo. Deswegen ist es wichtig, dass wir diesen ungehinderten Zugang schaffen, dass wir alles tun, um diesen ungehinderten Zugang in alle Regionen Malis zu bekommen – für unsere Entwicklungszusammenarbeit und auch für unsere humanitäre Hilfe. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Christoph Strässer [SPD]) Entwicklungszusammenarbeit ist zwingend auf Stabilität, auf Sicherheit und gefestigte staatliche Strukturen angewiesen. Mali ist ein Paradebeispiel dafür, dass es ohne Sicherheit keine Entwicklung geben kann, und ein Paradebeispiel dafür, dass es ohne Entwicklung keine Sicherheit gibt. Mali ist eines der ärmsten Länder der Welt. Das wissen wir. 13 Prozent der Bevölkerung sind mangelernährt. Es gibt 90 000 Binnenflüchtlinge. 227 Schulen haben aufgrund der Sicherheitslage immer noch nicht geöffnet. Die Schwerpunkte in der Entwicklungszusammenarbeit liegen bei der Ernährungssicherung, Wasser, Entwässerung, Sanitärversorgung und vielem anderen mehr. Aber ein Schlüssel – das ist ein wichtiger Punkt – ist die Dezentralisierung. Das ist einer unserer Schwerpunkte. Das wird manchmal unterschätzt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn der Norden, der immer noch instabil ist und immer noch keine rechtsstaatlichen Strukturen hat, kein Vertrauen in seine Zentralregierung erlangt, werden wir in dieser Region nie Frieden bekommen. Hier müssen wir auch in Zukunft noch einen viel stärkeren Appell an die Zentralregierung richten, die Reformfortschritte, die sehr langsam sind und nicht ausreichend vorankommen, zu beschleunigen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der Norden wird immer noch vernachlässigt. Das ist leider so. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wird dadurch nicht weniger. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst. Es ist leider so, dass es inzwischen wieder einen Auftrieb für die terroristischen Gruppen Ansar al-Din und al-Qaida in Mali gibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, sagen zu können: Wir wünschen uns alle ein friedliches Mali. Wir wünschen uns ein demokratisches Mali. Wir sind auf einem guten Weg. Wir sind aber noch nicht am Ende. EUTM Mali ist ein wichtiger Beitrag, damit wir dieses Ziel erreichen können. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte hat Michael Vietz das Wort. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihm die Möglichkeit zu geben, seine Rede zu halten, ohne dass wir den Ton zu laut aufdrehen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Lärmpegel möge also bitte auf einem erträglichen Niveau bleiben. Michael Vietz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Vergleich zu der einen oder anderen Rede, die ich schon kurz vor einer namentlichen Abstimmung halten durfte, ist es heute geradezu still. Ich hoffe, es bleibt auch so. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Vietz, Sie können jetzt nicht meine Bemühungen, Ihnen einen guten Auftritt zu ermöglichen, wieder zunichtemachen. Was ist denn das? (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Michael Vietz (CDU/CSU): An Herausforderungen wächst man ja bekanntlich. Muss unsere Beteiligung an der europäischen Ausbildungsmission in Mali um ein weiteres Jahr verlängert werden? Eindeutig ja. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Nein!) Wie die meisten meiner Vorredner ausgeführt haben, bleibt dieser Einsatz weiterhin richtig und wichtig. Sicherheit, Stabilität, Frieden – wir brauchen diesen Dreiklang in der Region, damit humanitäre Hilfe ankommt, damit Entwicklungszusammenarbeit gelingt und eine funktionierende Zivilgesellschaft aufgebaut werden kann. Noch ist das Land nicht in der Lage, diesen Dreiklang aus eigener Kraft zu gewährleisten. Wir, Deutschland, sind weiterhin bereit, Mali auf seinem Weg hin zu Sicherheit, Stabilität und Frieden gemeinsam mit unseren Partnern zu begleiten. Wir stehen zu unserer internationalen Verantwortung, auch aus eigenem Interesse. Trotz wesentlicher Fortschritte steht die Republik Mali weiterhin vor einer Herkulesaufgabe. Mit Beginn des internationalen Engagements hat sich die humanitäre Situation verbessert. Sie ist noch lange nicht top, aber sie ist deutlich besser als am Anfang. Ein verlässlicher Zugang für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit ist aber noch nicht in allen Regionen gegeben. 80 Prozent der Binnenflüchtlinge – wir haben es gehört – sind bislang in ihre jeweiligen Heimatgemeinden zurückgekehrt. Über 130 000 Flüchtlinge harren aber immer noch in den Nachbarstaaten aus. Der Versöhnungsprozess wird von Anschlägen überschattet. Islamistische Terroristen versuchen weiterhin, den Konflikt mit aller Gewalt wieder anzufachen. Auch darum bleibt es richtig und wichtig, dass wir uns weiter engagieren. Die Sicherheitslage ist fest verknüpft mit der schwierigen Gemengelage der Region: fragile Staatlichkeit, internationale Terrornetzwerke und organisierte Kriminalität. Sie destabilisieren die gesamte Region und hemmen jegliche Entwicklung. Der Schmuggel von Drogen, Waffen und Menschen ist allgegenwärtig. Mittelfristig hat dies auch erhebliche Auswirkungen auf Deutschland und Europa. Auch darum bleibt es richtig und wichtig, dass wir Flagge zeigen. Machen wir uns nichts vor: Menschen streben nach Frieden, nach Stabilität, nach Sicherheit, nach Perspektiven. Wir müssen unsere Partner südlich der Sahara weiter dabei unterstützen, Perspektiven für ihre Bevölkerung zu schaffen. Nur so kann der Dreiklang aus Frieden, Stabilität und Sicherheit letztendlich auch bei uns im Takt bleiben. Auch daher bleibt der Einsatz richtig und wichtig. Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege Vietz, darf ich ganz kurz unterbrechen? – Die Kolleginnen und Kollegen – wir kennen das ja – haben natürlich Gesprächsbedarf. Das ist durchaus in Ordnung. Aber ich bitte, den Gesprächsbedarf doch jetzt möglichst nicht hier im Plenum zu decken, sondern dem Kollegen Vietz zuzuhören. Er hat nämlich noch einige Minuten an Redezeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Michael Vietz (CDU/CSU): Danke, Herr Präsident. Konkret sprechen wir über drei wesentliche Punkte, die den Kern von EUTM Mali ausmachen: Erstens: den Ausbilder ausbilden, Weiterentwicklung von Ausbildung und Beratung der Sicherheitskräfte. Wir unterstützen den Aufbau der dezentralen Ausbildung der Streitkräfte. Zweitens: die grenzübergreifende Handlungsfähigkeit, im Übrigen auch die Ausbildung der Streitkräfte der übrigen G-5-Sahelstaaten – auch wenn man da sicherlich noch die eine oder andere Frage stellen kann. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind die Antworten?) Drittens: Schutz und Unterstützung im Sanitätsdienst, aber auch Unterstützung der Einsatzkräfte von MINUSMA im Norden Malis. Festhalten möchte ich noch einmal, dass es weiterhin keine Kampfeinsätze der Bundeswehr und keine Unterstützung der malischen Streitkräfte bei Kampfeinsätzen geben wird. Bei unserem Engagement in Mali greifen wir zu unterschiedlichen Instrumenten. Die bi- und multilateralen Missionen sind an die Situation vor Ort genauso angepasst wie an die Fähigkeiten der Akteure. Wichtig sind vor allem Verlässlichkeit und Kontinuität. Durch die Verlängerung des Mandats senden wir ein starkes Signal an unsere europäischen Partner, vor allem aber an die gesamte Region und an Afrika. Deutschland bleibt in dieser Mission einer der größten Truppensteller. Vor kurzem habe ich 38 Panzerpioniere aus meinem Wahlkreis, vom Standort Holzminden, nach Mali verabschiedet. Sie verstärken dort turnusgemäß unsere Kräfte. Ich bin zutiefst dankbar für den Einsatz, den alle unsere Streitkräfte in Mali leisten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine besondere Anerkennung gilt auch ihren Angehörigen, die jeden dieser Einsätze mittragen und die manchmal nicht weniger Belastungen zu ertragen haben. Gleiches gilt für die zivilen Einsatzkräfte und die Polizisten im Rahmen von EUCAP Sahel Mali, die dort unter anderem Nationalgarde, Gendarmerie und Polizei ausbilden, sowie für unsere Einsatzkräfte im Rahmen der UN-Mission MINUSMA. Wir verfolgen einen vernetzten Ansatz, auch mit bilateralen Abkommen. Projekte der zivilen Krisenprävention kombinieren wir mit Entwicklungszusammenarbeit. Wir leisten einen ausgewogenen Beitrag zur langfristigen Ertüchtigung Malis. Unser Engagement in Mali ist gut abgestimmt. Ich bin der festen Überzeugung, dass Frieden, Stabilität und Sicherheit nur im Zusammenspiel aller Instrumente und Partner möglich sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, diese Ausbildungsmission ist weiterhin richtig und wichtig. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung. Die Union und die SPD werden zustimmen, die Grünen auch; bei der Linken gebe ich die Hoffnung auf. Schönen Tag noch. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Herzlichen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Militärmission der Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte, EUTM Mali. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8284, den Antrag auf Drucksache 18/8090 anzunehmen. Wir stimmen über diese Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Darf ich an den Abstimmungsurnen um ein Zeichen bitten, ob die jeweiligen Schriftführerinnen und Schriftführer dort auch anwesend sind? – An allen Abstimmungsurnen sind die notwendigen Schriftführerinnen und Schriftführer anwesend. Dann eröffne ich die namentliche Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Gibt es Mitglieder dieses Hauses, die ihre Stimmkarte nicht abgegeben haben? – Ich sehe, dass das nicht der Fall ist. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.5 Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Roland Claus, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Markus Kurth, Corinna Rüffer, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DDR-Altübersiedlerinnen und -Altübersiedler sowie DDR-Flüchtlinge vor Rentenminderungen schützen – Gesetzliche Regelung im SGB VI verankern Drucksachen 18/7699, 18/8429 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Widerspruch höre ich keinen. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als erstem Redner dem Kollegen Matthias Ilgen für die SPD. (Zuruf von der SPD: Nein!) – Dann habe ich hier wohl eine nicht ganz richtige Rednerliste. Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Daniela Kolbe für die SPD. Sie haben das Wort und beginnen die Aussprache. (Beifall bei der SPD) Daniela Kolbe (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Es ist sehr freundlich, dass Sie hier keinen Redner spontan nach vorne rufen. Ich glaube, es wäre eine gewisse Überforderung, zu diesem Thema spontan und frei eine Rede halten zu müssen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dies ist ein sehr spannendes Thema. Insofern freue ich mich über ein bisschen Aufmerksamkeit. – Es geht jetzt in zweiter Lesung um einen Antrag, der sich mit DDR-Altübersiedlern und DDR-Flüchtlingen befasst. Es reden genau die gleichen Rednerinnen und Redner wie bei der ersten Lesung. Man könnte jetzt sagen, dass das alles nur ein Ritual ist, dass das Gleiche noch einmal aufgeführt wird. Dazu muss ich ganz klar sagen: Nein, das ist nicht der Fall. Wir von der SPD-Fraktion haben intern sehr intensiv diskutiert. Wir haben mit Betroffenen gesprochen, und wir haben auch gestern im Ausschuss äußerst intensiv und tiefgründig über dieses komplizierte Thema gesprochen. Ich finde, das war dem Anlass, dem Thema angemessen. Ich finde es sehr gut, dass wir das so gemacht haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Als erste Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt will ich versuchen, Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, die Sie vielleicht zufällig gerade dieser Debatte zuhören, in wenigen Sätzen zu erklären, um was es geht: Das ist eigentlich ein Thema, das extrem viele Menschen betrifft, nämlich diejenigen, die vor dem Fall der Mauer die DDR als Flüchtlinge verlassen haben, die freigekauft worden sind oder geflohen sind. Denen ist in der BRD versprochen worden: Liebe Leute, wir behandeln euch rentenrechtlich so, als hättet ihr euer Arbeitsleben in der BRD verbracht. Das dazugehörige Recht ist das Fremdrentenrecht. Dann kam die Wiedervereinigung – wir waren froh und glücklich –, und seitdem werden diese Menschen hinsichtlich der Zeit, während der sie in der DDR gelebt haben, so behandelt wie andere ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger auch. Es wird also geguckt: Was haben sie real einbezahlt? Das wird hochgewertet, und dann haben sie ihre Rentenpunkte. Real bedeutet das, dass viele Einbußen hinnehmen mussten – viele, aber nicht alle. Seit der ersten Lesung haben wir aus meiner Sicht einige Punkte hinsichtlich dieser schwierigen Lage klären können. Es war ja lange unklar – viele Betroffene sagen das mittlerweile auch –, wann das Gesetz geändert worden ist und ob die Regelung, dass DDR-Übersiedler nach SGB VI behandelt werden, überhaupt geltendes Recht ist. Wir haben in die historischen Bücher geschaut und festgestellt: Natürlich hat das stattgefunden. Mit dem Rentenüberleitungsgesetz wurde 1992 der Bezug zum SGB VI hergestellt. In § 256 a SGB VI – Entschuldigung, dass das so technisch ist – wurde beschrieben, wie Rentenanwartschaften für Beitragszeiten im Beitrittsgebiet, also in der DDR, zu behandeln sind. Damit galt dieses Recht auch für die DDR-Flüchtlinge und für die Übersiedlerinnen und Übersiedler, zumal zeitgleich auch das Fremdrentengesetz geändert und die entsprechende Gruppe dort gestrichen worden ist. Es finden sich auch ein paar Zitate zu diesem Vorgang in den Ausschussprotokollen. Man muss aber wirklich kramen und suchen. Es zeigt sich also erstens: Ja, das Gesetz gilt so, wie wir hier darüber diskutieren. Ich denke, das sollte die Grundlage der Debatte sein. Es zeigt sich zweitens aber auch, dass wir hier über etwas reden, was schwerlich als Glanzstunde des Parlamentarismus bezeichnet werden kann; denn hier ist eine sehr weitreichende Änderung für eine große Menschengruppe vorgenommen worden, und die betroffenen Menschen sind im Rentenüberleitungsgesetz quasi als blinde Passagiere mitgereist. Es wurde nicht intensiv darüber gesprochen und diskutiert. Vielen Betroffenen ist erst sehr viel später bewusst geworden, was hier passiert ist. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wohl wahr!) Aus meiner Sicht war das also keine Glanzstunde des Parlamentarismus, und womöglich – das muss man rückblickend sagen – ist dabei auch eine falsche Entscheidung getroffen worden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Wir als SPD-Fraktion haben uns damit auseinandergesetzt und den Antrag eingebracht, den Sie uns jetzt – copy and paste – wieder vorlegen. Wir haben zwischenzeitlich sehr intensiv darüber diskutiert und geschaut, wie man eine solche Regelung wiedergutmachen könnte. Wir sind zu der Feststellung gekommen, dass ein Zurückdrehen des Rentenrechts an dieser Stelle nicht funktioniert. Wir sind zu keiner Lösung gekommen, mit der wir einerseits der Gruppe Genüge tun und andererseits nicht sehr viele Ungerechtigkeiten neu aufmachen. Ich habe das hier in meiner Rede in der ersten Lesung intensiv ausgeführt. Ich will noch auf einen Punkt eingehen, der in der ersten Lesung ein bisschen zu kurz gekommen ist. Das ist das Thema „Benachteiligung von Frauen im Fremdrentengesetz“. Ich möchte ein Beispiel nennen. Viele von uns haben die Petition einer Frau bekommen, die vor 1937 geboren ist. Für diese Gruppe – es gibt im Rentenrecht ja unzählige Ausnahmen – gilt nun gerade noch übergangsweise das Fremdrentenrecht. Sie ist in den 80er-Jahren übergesiedelt und schreibt uns, dass sie gerade nicht nach Fremdrentenrecht behandelt werden möchte – danach wird sie gerade behandelt –, weil sie nach dem SGB VI, also dem normalem Rentenrecht, 17 Prozent mehr Rente beziehen würde. Das macht noch einmal deutlich: Das Fremdrentenrecht benachteiligt Frauen im Vergleich zum SGB VI ganz deutlich, weil es unterstellt, die Menschen hätten ihr Erwerbsleben in der BRD verbracht. In der BRD haben Frauen deutlich weniger verdient als in der DDR, wo gleicher Lohn Realität war. Das hat auch der Ausschussdienst 2010 festgestellt. Ich zitiere: Bei Facharbeiterinnen und ungelernten landwirtschaftlichen Hilfskräften ist das geltende Recht teilweise günstiger als die Anwendung des Fremdrentenrechts. – Für die Gruppe der vor 1937 Geborenen ist die Günstigerprüfung nicht vorgesehen – in dem Antrag steht das nicht so –, und die Günstigerprüfung für nach 1937 Geborene würde in allererster Linie Männer begünstigen. Das schlagendste Argument bleibt aber die Frage der Spätaussiedler, für die weiterhin das Fremdrentenrecht gilt. Also für Deutsche aus der Sowjetunion oder aus Siebenbürgen, die später gekommen sind, gilt das Fremdrentenrecht weiter. Hier wurde aber mittlerweile auf 60 Prozent der Listenwerte abgesenkt. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die meisten sind nach 1991 gekommen!) Wenn man sich aus Sicht eines Spätaussiedlers anschaut, dass DDR-Übersiedler wieder nach Fremdrentenrecht mit 100 Prozent bewertet würden, wird klar, dass sehr viele dieser deutschen Staatsangehörigen dies zu Recht als eine Riesenungerechtigkeit empfinden würden. Das ist einer der Hauptgründe, warum wir sagen, dass der Antrag, wie er vorliegt, jedenfalls nicht zu gesamtgesellschaftlicher Gerechtigkeit führt, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Legen Sie etwas Besseres vor!) sodass wir bei aller Sympathie für die Gruppe und bei allem Mitempfinden für das entstandene Leid der Personen, insbesondere für diejenigen, die damals lange in Haft waren und dann freigekauft wurden oder geflohen sind, diesem Antrag nicht zustimmen können; denn wir sehen darin keine gesamtgesellschaftliche Lösung des Problems. Deshalb werden wir Ihren Antrag nach intensiver und emotionaler Debatte ablehnen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Vielen Dank, Frau Kollegin Kolbe. Ich gebe jetzt das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Militärmission der Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte (EUTM Mali) auf Grundlage des Ersuchens der Regierung von Mali an die EU sowie der Beschlüsse des Rates der EU 2013/87/GASP vom 18. Februar 2013, zuletzt geändert mit dem Beschluss des Rates der EU 2016/446/GASP vom 23. März 2016 in Verbindung mit den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 2071 (2012) vom 12. Oktober 2012 und folgender Resolutionen, zuletzt 2227 (2015) vom 29. Juni 2015“ auf den Drucksachen 18/8090 und 18/8284 bekannt: abgegebene Stimmen 565. Mit Ja haben gestimmt 496, mit Nein haben gestimmt 67, Enthaltungen 2. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 565; davon ja: 496 nein: 67 enthalten: 2 Ja CDU/CSU Stephan Albani Katrin Albsteiger Artur Auernhammer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Sybille Benning Dr. André Berghegger Dr. Christoph Bergner Ute Bertram Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexandra Dinges-Dierig Alexander Dobrindt Michael Donth Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Iris Eberl Jutta Eckenbach Dr. Bernd Fabritius Hermann Färber Uwe Feiler Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Klaus-Peter Flosbach Thorsten Frei Dr. Astrid Freudenstein Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Cemile Giousouf Josef Göppel Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Dr. Herlind Gundelach Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Stefan Heck Helmut Heiderich Mechthild Heil Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Uda Heller Jörg Hellmuth Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Dr. Heribert Hirte Christian Hirte Alexander Hoffmann Thorsten Hoffmann (Dortmund) Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Dr. Hendrik Hoppenstedt Margaret Horb Anette Hübinger Hubert Hüppe Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Sylvia Jörrißen Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung Xaver Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Steffen Kanitz Alois Karl Anja Karliczek Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Jürgen Klimke Jens Koeppen Markus Koob Kordula Kovac Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Roy Kühne Günter Lach Uwe Lagosky Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Barbara Lanzinger Dr. Silke Launert Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Philipp Lengsfeld Dr. Andreas Lenz Dr. Ursula von der Leyen Antje Lezius Ingbert Liebing Matthias Lietz Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Wilfried Lorenz Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. Jan-Marco Luczak Karin Maag Yvonne Magwas Thomas Mahlberg Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Reiner Meier Dr. Michael Meister Jan Metzler Maria Michalk Dr. h.c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Marlene Mortler Volker Mosblech Elisabeth Motschmann Dr. Gerd Müller Carsten Müller (Braunschweig) Dr. Philipp Murmann Dr. Andreas Nick Michaela Noll Helmut Nowak Julia Obermeier Wilfried Oellers Florian Oßner Dr. Tim Ostermann Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Martin Pätzold Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Erwin Rüddel Albert Rupprecht Anita Schäfer (Saalstadt) Karl Schiewerling Jana Schimke Norbert Schindler Tankred Schipanski Heiko Schmelzle Christian Schmidt (Fürth) Gabriele Schmidt (Ühlingen) Ronja Schmitt Patrick Schnieder Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Christina Schwarzer Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Tino Sorge Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Albert Stegemann Peter Stein Erika Steinbach Sebastian Steineke Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Rita Stockhofe Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Matthäus Strebl Karin Strenz Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Sabine Sütterlin-Waack Antje Tillmann Astrid Timmermann-Fechter Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Oswin Veith Thomas Viesehon Michael Vietz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sven Volmering Christel Voßbeck-Kayser Kees de Vries Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Marian Wendt Waldemar Westermayer Kai Whittaker Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Dagmar G. Wöhrl Barbara Woltmann Tobias Zech Heinrich Zertik Emmi Zeulner Dr. Matthias Zimmer Gudrun Zollner SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heike Baehrens Ulrike Bahr Heinz-Joachim Barchmann Dr. Katarina Barley Doris Barnett Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Burkhard Blienert Willi Brase Dr. Karl-Heinz Brunner Edelgard Bulmahn Martin Burkert Dr. Lars Castellucci Petra Crone Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Sabine Dittmar Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Michaela Engelmeier Dr. h.c. Gernot Erler Petra Ernstberger Saskia Esken Karin Evers-Meyer Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Christian Flisek Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Angelika Glöckner Ulrike Gottschalck Kerstin Griese Gabriele Groneberg Michael Groß Uli Grötsch Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Ulrich Hampel Sebastian Hartmann Michael Hartmann (Wackernheim) Dirk Heidenblut Hubertus Heil (Peine) Gabriela Heinrich Marcus Held Wolfgang Hellmich Heidtrud Henn Gabriele Hiller-Ohm Thomas Hitschler Dr. Eva Högl Matthias Ilgen Christina Jantz-Herrmann Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Ulrich Kelber Marina Kermer Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Birgit Kömpel Dr. Hans-Ulrich Krüger Helga Kühn-Mengel Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Hiltrud Lotze Kirsten Lühmann Dr. Birgit Malecha-Nissen Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Bettina Müller Detlef Müller (Chemnitz) Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Ulli Nissen Thomas Oppermann Mahmut Özdemir (Duisburg) Markus Paschke Christian Petry Detlev Pilger Sabine Poschmann Joachim Poß Florian Post Achim Post (Minden) Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Dr. Simone Raatz Martin Rabanus Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Andreas Rimkus Sönke Rix Petra Rode-Bosse Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Susann Rüthrich Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Annette Sawade Dr. Hans-Joachim Schabedoth Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Dr. Dorothee Schlegel Ulla Schmidt (Aachen) Matthias Schmidt (Berlin) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Elfi Scho-Antwerpes Ursula Schulte Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Norbert Spinrath Svenja Stadler Martina Stamm-Fibich Sonja Steffen Peer Steinbrück Christoph Strässer Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Carsten Träger Ute Vogt Dirk Vöpel Gabi Weber Bernd Westphal Dirk Wiese Gülistan Yüksel Dagmar Ziegler Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann Manfred Zöllmer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Kerstin Andreae Annalena Baerbock Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Dr. Franziska Brantner Agnieszka Brugger Ekin Deligöz Katja Dörner Katharina Dröge Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Matthias Gastel Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Britta Haßelmann Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Dieter Janecek Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Stephan Kühn (Dresden) Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Markus Kurth Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Irene Mihalic Beate Müller-Gemmeke Özcan Mutlu Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Elisabeth Scharfenberg Ulle Schauws Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Kordula Schulz-Asche Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Dr. Harald Terpe Markus Tressel Dr. Julia Verlinden Doris Wagner Beate Walter-Rosenheimer Dr. Valerie Wilms Nein SPD Klaus Barthel Dr. Ute Finckh-Krämer Cansel Kiziltepe Waltraud Wolff (Wolmirstedt) DIE LINKE Jan van Aken Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Annette Groth Dr. André Hahn Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Andrej Hunko Sigrid Hupach Ulla Jelpke Susanna Karawanskij Kerstin Kassner Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Birgit Menz Cornelia Möhring Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Harald Petzold (Havelland) Richard Pitterle Martina Renner Dr. Petra Sitte Dr. Kirsten Tackmann Azize Tank Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Birgit Wöllert Jörn Wunderlich Hubertus Zdebel Pia Zimmermann Sabine Zimmermann (Zwickau) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Monika Lazar Peter Meiwald Corinna Rüffer Hans-Christian Ströbele Enthalten SPD Marco Bülow Petra Hinz (Essen) Wir fahren fort mit der Aussprache zum Rentenrecht. Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Matthias W. Birkwald für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst begrüße ich auf der Besuchertribüne Herrn Dr. Holdefleiß, Herrn Dietrich und Herrn Ulrich von der Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge e. V. Meine Herren, seien Sie herzlich willkommen! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie streiten seit vielen Jahren gegen die Kürzung ihrer einmal versprochenen Renten. Vor dem Mauerfall waren sich CDU/CSU und SPD ihrer besonderen Verantwortung für aus der DDR geflohene und übergesiedelte Menschen bewusst, für Menschen, die alles hinter sich ließen, für Menschen, deren komplette Rentenansprüche von der DDR gestrichen wurden, und für Menschen, denen die Bundesregierung deswegen schwarz auf weiß ein Versprechen gab. Ich habe Ihnen den Wegweiser für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR mitgebracht. Er wurde vom Bundesinnenminister, vom Verfassungsminister, herausgegeben, und er ist mit dem Bundesadler, dem Bundeswappen der Bundesrepublik Deutschland, versehen. Er war das erste bundesdeutsche Dokument, das viele DDR-Flüchtlinge im Aufnahmelager in die Hand gedrückt bekamen. Darin versprach der Bundesinnenminister – ich zitiere –: ... Übersiedler ... werden in der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich so behandelt, als ob sie ihr gesamtes Arbeitsleben in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt hätten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, wir debattieren heute dieses Versprechen des demokratischen Rechtsstaates Bundesrepublik Deutschland. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir diskutieren darüber, weil dieses Versprechen von Ihnen gebrochen wurde. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein!) Nach der Verabschiedung der Rentenüberleitungsgesetze von 1991 und 1993 wurden aus der DDR geflüchtete Menschen nämlich plötzlich nicht mehr so behandelt, als hätten sie ihr ganzes Arbeitsleben im Westen verbracht. Nein, sie wurden wieder so behandelt, als wären sie nie Bundesbürger geworden, sondern immer DDR-Bürgerinnen und -Bürger geblieben. Die Deutsche Rentenversicherung bewertete die Rentenanwartschaften von vielen Betroffenen neu. Auf Deutsch: Die Rentenversicherung hat vielen DDR-Flüchtlingen die versprochene Rente gekürzt, zum Teil um mehrere 100 Euro. Frau Kollegin Kolbe von der SPD und Herr Kollege Weiß von der CDU, Sie wissen das, und Sie bedauern das. Das habe ich gestern in der Ausschussdebatte durchaus so wahrgenommen, und ich respektiere das. Aber Sie verweigern sich, daraus irgendeine Konsequenz zu ziehen. Sie verstecken sich hinter seitenweisen Ausführungen von Beamtinnen und Beamten aus dem Bundesarbeitsministerium, die immer nur erklären, warum etwas nicht geht. So nicht! Probleme sind zum Lösen da. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Koalition, im Petitionsausschuss haben Union und SPD mehrere Petitionen zur Lösung dieses Problems abgelehnt, unter anderem mit der Begründung, dass die von uns vorgeschlagene Günstigerprüfung oder Vergleichsbewertung, Frau Kolbe, im Rentenrecht nicht vorgesehen sei. (Daniela Kolbe [SPD]: Den Satz haben Sie von mir aber nicht gehört!) Das ist schlicht falsch. Schauen Sie sich alle bitte einmal den § 73 SGB VI an; hier geht es um die Erwerbsminderungsrente. Da steht das Wort „Vergleichsbewertung“ in der Überschrift. Nebenbei bemerkt – es ist auch schon gesagt worden –: Der Antrag von uns Linken und den Grünen ist nahezu wortgleich mit dem SPD-Antrag aus der vorigen Legislaturperiode. Da war die SPD noch in der Opposition. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Hört! Hört!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, Sie sagen, wenn die DDR-Flüchtlinge wieder ihre 100-prozentige Fremdrente erhielten, dann würden zum Beispiel Spätaussiedler aus der Sowjetunion, deren Renten gekürzt wurden, und politisch Verfolgte in der DDR gegenüber den DDR-Flüchtlingen benachteiligt. Anstatt das Vertrauen der DDR-Flüchtlinge, denen vom Rechtsstaat Unrecht angetan wurde, wiederherzustellen, spielen Sie höchst unterschiedliche Personengruppen, ja sogar Opfergruppen gegeneinander aus. Das, meine Damen und Herren, ist ein absolutes No-Go. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Das ist doch Unsinn! Das ist doch das Letzte! Sie machen das!) Im Übrigen hatten wir im Petitionsausschuss schon 2013 einen vollständigen überparteilichen Konsens. Es gab das Gutachten von Professor Heinz-Dietrich Steinmeyer aus dem Jahr 2014; es wurde auf meine Initiative hin im Auftrag des Petitionsausschusses für das Sozialministerium erstellt. Das Fazit von Professor Steinmeyer ist eindeutig – Zitat –: Es ist gezeigt worden, dass eine Lösung möglich ist, wenn bestimmte Rahmenbedingungen beachtet werden. Genau das erwarte ich von Ihnen, und genau das erwarte ich vom Ministerium für Arbeit und Soziales. Handeln Sie, wägen Sie ab, drücken Sie sich nicht, und sorgen Sie dafür, dass Herr Dr. Holdefleiß, Herr Dietrich, Herr Ulrich und alle anderen 300 000 DDR-Flüchtlinge endlich die ihnen versprochenen Renten erhalten. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Peter Weiß. (Beifall bei der CDU/CSU) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine persönliche Sympathie, ich glaube, die Sympathien aller Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und – Frau Kollegin Kolbe hat dies, glaube ich, deutlich gemacht – die Sympathien aller Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion gelten den Menschen, die den Unrechtsstaat DDR unter vielen Entbehrungen und Gefährdungen und zum Teil nach Gefängnisaufenthalten, der Wegnahme ihres Eigentums und allem, was noch in diesem Unrechtsstaat geschehen ist, verlassen haben. Deswegen will ich als Erstes unabhängig von allen rechtlichen Regelungen festhalten: Es war der Unrechtsstaat DDR, den diese Menschen zugunsten eines demokratischen und freiheitlichen Rechtsstaats verlassen haben. Hierfür gelten ihnen auch heute unsere Hochachtung und – ich sage es ausdrücklich – unsere Sympathien. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der LINKEN) Nun ist bei allen Sympathien aber nicht wegzudiskutieren, dass ich nicht jemandem aufgrund von Sympathien eine Rente zusprechen kann und jemandem aufgrund von weniger sympathischem Verhalten eine Rente absprechen kann. Das haben wir übrigens bitterlich erfahren. Nach meiner persönlichen Auffassung wäre es gerechtfertigt, dass denjenigen, die dem Unrechtsstaat DDR gedient haben und auch noch auf unmenschliche Weise das Unrecht exekutiert haben, die Rente gekürzt wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Aber das lässt unser Rentenrecht nicht zu. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zum Glück! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Was ist das für eine krude Auffassung!) Was ist Recht? Für jeden von uns, für jeden Bürger gilt, dass das zu dem Zeitpunkt, an dem er zu arbeiten beginnt, geltende Rentenrecht durch den Gesetzgeber im Laufe der Jahre und Jahrzehnte verändert werden kann. Es ist selbstverständlich, dass an dem Tag, an dem ich in Rente gehe und Rente beziehe, für mich das aktuelle Recht gilt. Das hat Herr Birkwald offensichtlich nicht kapiert. Es gilt immer das aktuelle Recht, und zwar für alle Bundesbürgerinnen und Bundesbürger. Das ist ein Rechtsstaat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Herr Birkwald kapiert, das Sie den Menschen etwas versprochen haben und nicht halten! Versprochen – gebrochen!) Nachdem wir gestern all das in der Ausschusssitzung noch einmal rauf und runter besprochen haben, wundere ich mich über die Rede von Herrn Birkwald. Offensichtlich gilt für Abgeordnete der Linken: Erörterungen im Ausschuss sind Ihnen schnurzegal. Sie wollen und Sie können nichts dazulernen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Danke gleichfalls! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir kommen zu unterschiedlichen Bewertungen!) Was ist das Problem? (Zuruf von der LINKEN: Wir!) Als diese Damen und Herren, denen meine volle Sympathie galt, den Unrechtsstaat DDR verlassen haben, hätte es folgende Möglichkeit gegeben: Da sie aus der DDR ja nichts mitbringen konnten, auch keine Rentenanwartschaften, hätte man sie mit Sozialhilfe bedienen können. Gott sei Dank haben wir das Fremdrentengesetz geschaffen. Es hat Folgendes beinhaltet: Man hat eine Fiktion aufgestellt und gefragt: Wie würde die Rentenbiografie dieses Menschen mit seiner Ausbildung und seiner Tätigkeit konkret aussehen, wenn er die ganze Zeit hier im Westen gearbeitet hätte? Das ist Anwendung des Fremdrentenrechts. Gleiches gilt für die Deutschstämmigen, die aus der Sowjetunion zu uns gekommen sind. Nun komme ich zum Mauerfall, einem historischen Ereignis, das Deutschland und Europa verändert hat. Der Eiserne Vorhang ist weg, die kommunistischen Diktaturen sind in sich zusammengefallen. Wir können in Deutschland endlich wiedervereinigt leben, und wir können endlich jeden entsprechend seiner Rentenbiografie behandeln und müssen keine Fiktion mehr aufstellen. Das ist das historische Ereignis. Jetzt ist durch eine Gesetzesänderung festgelegt worden, dass ab 1992 die echten Rentenentgeltpunkte, die auch der Erwerbsbiografie zugrunde liegen, angewandt werden und nicht mehr das Fremdrentenrecht. So weit der Vorgang. Nun kommt der Wunsch auf, wir mögen es doch regeln, dass die Betroffenen wählen können, ob sie ihre Rente nach dem alten Fremdrentenrecht, das vor der Wiedervereinigung galt, ausbezahlt bekommen möchten oder nach dem neuen Recht. Es ist schon ein hoher Anspruch, ein Wahlrecht zu haben und sich für ein System entscheiden zu können – je nachdem, welches System gerade besser für einen ist. Das Problem ist, dass es dieses alte Fremdrentenrecht nicht mehr gibt. Frau Kollegin Kolbe hat ausgeführt, dass das Fremdrentenrecht in den 90er-Jahren zweimal durch den Deutschen Bundestag neu geregelt worden ist (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir sind der Gesetzgeber! Nur, dass Sie das noch einmal merken!) und dass die Werte nur noch bei 60 Prozent gegenüber früher liegen. Das möchten aber diejenigen, die aus der damaligen DDR geflohen sind, auch nicht haben, sondern sie möchten das alte Fremdrentenrecht mit 100 Prozent, das früher galt, angewandt wissen. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Was spricht dagegen?) Daran sieht man: Das passt nicht zusammen. Wie sollen wir gegenüber den anderen Bürgerinnen und Bürgern, die kein Wahlrecht haben und für die selbstverständlich das aktuelle Rentenrecht angewandt wird, begründen können, dass wir für eine bestimmte Personengruppe ein nicht mehr existierendes altes Recht anwenden? (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil es keine DDR-Flüchtlinge sind!) Ich will kurzum sagen: Wir kommen in Teufels Küche, wenn wir einzelne Ausnahmen für bestimmte Personengruppen machen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Tosender Beifall!) Ich würde diese Ausnahme aus Sympathie, aus dem Herzen heraus, gerne machen, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, ja!) aber der Deutsche Bundestag muss gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern im Sinne der Rechtsklarheit manchmal leider sagen: Das, wofür wir Sympathie empfinden, können wir nicht tun, weil wir damit gegenüber den anderen Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine massive Ungerechtigkeit begehen würden. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Rechtsklarheit! Versprochen war das!) Deswegen: Nach aller Prüfung des Für und Wider kommen wir zu dem Schluss, dass wir dem, was hier als Antrag vorgelegt worden ist, leider nicht entsprechen können. Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege Weiß, auch bei großzügiger Auslegung der Redezeit: Sie ist bereits abgelaufen. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Danke schön. – Meine sehr geehrten Damen und Herren, nach großzügiger Auslegung der Redezeit durch den Präsidenten möchte ich damit schließen: Es ist gut, dass wir ein gemeinsames deutsches Rentenrecht haben. Das ist der eigentliche große Fortschritt, und ich bitte diejenigen, die sich betroffen fühlen, weil sie einmal über ein anderes, altes Recht informiert worden sind, das zu akzeptieren, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Fühlen sich betroffen? Die haben mehrere 100 Euro weniger Rente heute! Sie sind betroffen!) so schwer es auch ist. Es muss für alle in Deutschland das gleiche Rentenrecht gelten. Das ist das, was wir miteinander vertreten. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass die Redezeiten keine Richtwerte sind, sondern zwischen den Fraktionen vereinbart wurden. – Jetzt erteile ich dem Kollegen Markus Kurth für Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Sie auf eine Zeitreise mitnehmen. Versetzen Sie sich mit mir genau 27 Jahre zurück, zum 12. Mai 1989. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wollen wir eigentlich nicht!) Fünf Tage zuvor, am 7. Mai 1989, fanden in der DDR Kommunalwahlen statt. Wenn man so will, war das auch die Geburtsstunde der Bürgerbewegung, die zum ersten Mal Wahlfälschung öffentlich anprangerte. Fast auf den Tag genau drei Monate zuvor starb wenige Hundert Meter von hier Chris Gueffroy durch Schüsse von DDR-Grenzpolizisten beim Versuch, die Berliner Mauer zu überwinden. Später wird man sagen: Er war das letzte Maueropfer, das durch Schusswaffen gestorben ist. In dieser Situation war es völlig klar und eindeutig, dass diejenigen, die aus den Gefängnissen freigekauft worden sind, die unter Lebensgefahr die Grenze überwunden haben oder die nach jahrelangen Schikanen, weil sie Ausreiseanträge gestellt hatten, schließlich ausreisen konnten, rentenrechtlich wie Bürger der Bundesrepublik Deutschland behandelt wurden. Das war felsenfester Konsens. Wenn man so will, war es Bestandteil der Staatsräson, dass die DDR-Bürger, die immer als Bürger im Sinne des Grundgesetzes verstanden wurden, nicht nur nominal im Westen ihren Platz finden, sondern natürlich auch sozialrechtlich und rentenrechtlich voll gleichgestellt werden. Das war quasi staatspolitische Räson und gegenüber der DDR auch außerordentlich wichtig. Jetzt stellen Sie sich vor, in diesem Jahr 1989 hätte im damaligen Deutschen Bundestag in Bonn die Fraktion Die Grünen – Bündnis 90/Die Grünen gab es damals noch nicht – den Antrag gestellt, diese aus der DDR Geflüchteten nicht mehr nach dem Westrecht, sondern nach ihrer DDR-Erwerbsbiografie zu behandeln und deren Renten neu zu berechnen. Was meinen Sie, was da los gewesen wäre? Sie von der CDU/CSU hätten doch sofort gefordert, uns vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen, hätten uns als vaterlandslose Gesellen beschimpft und vieles mehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So wäre es gewesen!) Zurück ins Heute. Genau das, was ich eben beschrieben habe, tun Sie. Es ist quasi eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet wir Grünen und Abgeordnete der zumindest in Teilen Nachfolgepartei der SED, die Linke, die alte Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland vor 1990 hochhalten (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So staatstreu sind wir!) und erklären: Diese politischen Zusagen, die den DDR-Geflüchteten gegeben wurden, sind einzuhalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das ist der politische Kern der Debatte. Alle anderen Punkte, Stichtagsregelung, Vergleichsgrößen zu Aussiedlern, die eigentlich sachfremd sind, weil die Aussiedler keine DDR-Bürger waren, sind technische Fragen, von denen ich sicher glaube, dass wir sie klären können und die den politischen Kern, dass dies damals Staatsräson war, nicht verstellen dürfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Diese politische Zusage, meine Damen und Herren, wiegt schwerer als andere rentenrechtliche Zusagen zu Ausbildungszeiten und vielem anderem mehr. Sie hatte ein viel, viel größeres Gewicht. Darum ist auch damals im Einigungsvertrag kein Mensch auf die Idee gekommen, die rentenrechtlichen Ansprüche abzuerkennen. Wer dafür war – Herr Schäuble war ja Verhandlungsführer –, soll sich bitte hier nach vorne begeben und dazu Stellung beziehen. Da werden wir niemanden finden. Meine Fraktion und ich fordern nicht mehr und nicht weniger, als dass wir zu dem, was im Einigungsvertrag Geschäftsgrundlage war, zurückkehren. Ich glaube, das können wir auch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Natürlich wird dieser Antrag jetzt abgelehnt werden. Aber wir als Deutscher Bundestag haben uns schon öfters für bestimmte Gruppen, denen Unrecht widerfahren war oder denen gegenüber in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden, zusammengerauft und gesagt: Das korrigieren wir nachträglich. – Ich nenne als Beispiel die Contergangeschädigten. Das ist ein etwas anderer und sicherlich sehr ernster Fall. Aber da hat sich der Deutsche Bundestag nach Jahrzehnten gemeinsam entschlossen: Wir korrigieren damalige Fehler. – Das sollte uns auch jetzt möglich sein. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege Rosemann, Sie wollten eine Zwischenfrage stellen. Aber die Redezeit des Kollegen Kurth ist schon abgelaufen. Sie hätten natürlich noch die Möglichkeit, eine Kurzintervention zu machen. Aber das muss auch nicht sein. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Nein! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da wird man so schön vom Präsidenten aufgefordert! Das lässt man sich dann nicht entgehen!) Dr. Martin Rosemann (SPD): Herr Präsident, vielen Dank. – Wir wollen ja lebendige Debatten. Deswegen nutze ich die Gelegenheit. Herr Kurth, Sie haben uns auf eine Zeitreise mitgenommen. Zeitreisen sind immer etwas Schönes. Vieles von dem, was Sie sagen – das hat vorhin auch Frau Kolbe ausgeführt –, ist gar nicht falsch. Wenn wir uns ins Jahr 1992 zurückbeamen und diese Entscheidung neu fällen würden, dann könnte man sie sicherlich so oder anders treffen. Aber wir sind jetzt eben nicht im Jahr 1992, sondern wir sind im Jahr 2016. Wir haben jetzt im Jahr 2016 zu entscheiden. Dabei geht es doch darum, ob Sie denn heute ernsthaft, im Jahr 2016, ein Recht, ein altes Recht, das FRG, das Fremdrentenrecht von damals, für eine Personengruppe wieder neu einführen wollen. Da müssen Sie – das haben Sie meines Erachtens im Ausschuss nicht getan, das haben Sie auch heute nicht getan – die Frage beantworten, wie Sie denn damit umgehen, dass Sie auf der einen Seite einer Personengruppe Fremdrentenrecht von damals zu 100 Prozent gewähren wollen, während auf der anderen Seite eine andere Personengruppe, die auch aus Ländern mit Unrechtsregimen und ohne Demokratie stammte, also aus einer ähnlichen Situation in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist, nur 60 Prozent der Rente bekommt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ein weiterer Punkt ist: Erklären Sie doch einmal, wie Sie heute, im Jahr 2016, ein Recht, das 1992 bestand, wieder einführen wollen, ein Recht, in dem Frauen gegenüber Männern systematisch benachteiligt werden. Denn die FRG-Tabellenentgelte diskriminieren Frauen systematisch gegenüber Männern. Das mag eine Praxis sein, die in den 50er- und 60er-Jahren in der alten Bundesrepublik – Sie haben das in Ihrer Zeitreise beschrieben – akzeptiert worden ist. Aus heutiger Sicht ist diese Praxis auf keinen Fall akzeptabel. Erklären Sie doch einmal, wie Sie das lösen wollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege Kurth, Sie haben die Möglichkeit der Erwiderung. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Rosemann, ich stelle zunächst einmal fest, dass es schlimm genug ist, dass wir jetzt das Jahr 2016 schreiben und die damals gemachten Zusagen immer noch nicht eingelöst werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ihre Kurzintervention war geradezu ein Paradebeispiel dafür, wie Sie mit formalistischen Argumenten bis hin zur Ungleichbehandlung von Männern und Frauen im Fremdrentenrecht, was mit der Sache gar nichts zu tun hat, versuchen, den politischen Kern zu vernebeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Formalismus? Ich glaube, es hackt!) Diesen politischen Kern habe ich gerade dargestellt. (Daniela Kolbe [SPD]: Aber wie macht man es denn dann konkret?) Wir sind gerne bereit, mit Ihnen darüber zu reden, wie wir das Fremdrentenrecht konkret regeln können. Aber zu einem Punkt kann ich Ihnen sofort etwas sagen, nämlich zu Ihrem ständigen Vergleich der deutschstämmigen Aussiedler aus Russland, Rumänien und anderen Ländern mit den DDR-Flüchtlingen. Natürlich lässt sich die unterschiedliche Behandlung unter anderem dadurch begründen, dass Menschen, die in der DDR lebten, Staatsbürger im Sinne des Grundgesetzes waren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Der Fall liegt anders bei sogenannten Deutschstämmigen, die vor ein, zwei oder weiter zurückliegenden Generationen deutsche Vorfahren hatten. Mein Anliegen war es nicht, innerhalb von vier Minuten Redezeit und den wenigen Sekunden, die ich im Rahmen dieser Entgegnung wahrscheinlich nur noch habe, mich in technischen Details zu verlieren, über die wir gerne diskutieren können und über die wir gestern im Ausschuss über eine Stunde lang geredet haben. Mein Anliegen war es vielmehr, den politischen Kern herauszuarbeiten und an Sie zu appellieren, dass wir auch nach einer zu erwartenden Ablehnung dieses Antrags ernsthaft lösungsorientiert miteinander reden und dann hoffentlich einen Weg dazu finden, was wir tun können. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Zum Abschluss dieser Aussprache hat die Kollegin Jana Schimke für die CDU/CSU das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Jana Schimke (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute nicht nur über das Fremdrentengesetz, ein Gesetz, das einst geschaffen wurde, um allen Menschen eine Altersvorsorge zu sichern, die in die Bundesrepublik übergesiedelt bzw. geflohen sind. Wir diskutieren heute vor allen Dingen auch, ob die politischen Entscheidungen der Wende- und Nachwendezeit gerecht waren. Man sollte dabei zunächst wissen, dass unser herkömmliches Rentenrecht einem völlig anderen Selbstverständnis unterliegt als das Fremdrentenrecht. Wir reden über zwei grundverschiedene Dinge. Die gesetzliche Rente ist zunächst einmal am Lohn orientiert, und sie wird über Beiträge finanziert. Die Rente ist Ausdruck dessen, wie lange und wie viel wir im Leben gearbeitet haben, aber auch, welchen Beruf wir ausgeübt haben. Beim Fremdrentengesetz ist das komplett anders. Es regelt, unter welchen Voraussetzungen DDR-Übersiedler, aber auch andere Gruppen wie Spätaussiedler und Vertriebene eine Rente für ihre im Ausland erbrachten Arbeitszeiten erhalten. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie haben doch immer gesagt, die DDR sei kein Ausland gewesen! Sie sollten sich mal entscheiden!) Deutschland war damals in zwei Staaten geteilt, und die Bundesrepublik hatte keinen Zugriff auf in die Sozialversicherung der DDR eingezahlte Beiträge. Einer späteren Rente in der BRD standen also keine Rentenbeiträge aus Zeiten der DDR gegenüber. Deshalb wurde eine Regelung fernab unseres lohn- und beitragsfinanzierten Rentensystems geschaffen – mit dem Fremdrentengesetz. Man hat – mein Kollege Peter Weiß hat es schon sehr ausführlich geschildert – fiktive Tabellenwerte geschaffen und dem Ganzen sozusagen eine fiktive Erwerbsbiografie zugrunde gelegt, und in der jährlichen Renteninformation konnten die betroffenen Personen ablesen, auf welchen Betrag sich ihre spätere Rente einmal belaufen wird. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Nun diskutieren wir regelmäßig, welche Veränderungen der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung für Ost und West mit sich brachten. Aus individueller und persönlicher Sicht – ich denke, darin sind wir uns alle einig – sind viele Forderungen nachvollziehbar, auch bei der Rente. Man hat unter schwierigsten Bedingungen sein Land verlassen. Man ist geflohen und hat vieles hinter sich gelassen. Man hat sein Leben aufs Spiel gesetzt. Man hat dann letztendlich viele Jahre in der Bundesrepublik gelebt und sich auch eingelebt. Man hat natürlich auch die jährliche Renteninformation erhalten, aus der die Information hervorgeht, auf die man später setzte. Doch es muss auch klar sein, dass die Zusammenführung zweier Staaten auch eine Einheit im Recht nach sich zieht. Wir machen nicht Politik für besondere Gruppen bzw. für einzelne Personen. Wir versuchen, bestmögliche Politik für alle zu machen und das auch in der Gesetzgebung abzubilden. Es war deshalb richtig, Regelungen zu schaffen, nach denen das höchstmögliche Maß an Gleichbehandlung erreicht wurde. Ich möchte hier sowohl auf den Reformbedarf bei der Rente im Allgemeinen als auch beim Fremdrentengesetz im Besonderen hinweisen. Alle im Fremdrentengesetz definierten Gruppen waren durch die Reformen, die damals durchgeführt wurden, erfasst. Hier eine Rückkehr zum alten Fremdrentenrecht, wie gefordert, vorzunehmen, beispielsweise zu den 100 Prozent bei den Tabellenentgelten, schafft neue Ungerechtigkeiten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es wäre eine Besserstellung gegenüber jenen, die damals als bundesdeutsche Einheimische in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlten. Es wäre auch gegenüber allen im Fremdrentenrecht erfassten Personengruppen eine deutliche Bevorzugung, die heutzutage lediglich von 60 Prozent der Tabellenentgelte profitieren. Der Gesetzgeber schuf also mit der Rentenreform der frühen 90er-Jahre eine gute und vor allem eine einheitliche Alterssicherung für alle Menschen in Deutschland. Vor diesem Hintergrund sind die im diskutierten Antrag formulierten Punkte nicht überzeugend. So galt die jährliche Renteninformation als Information. Aus ihr erwuchs kein tatsächlicher Leistungsanspruch. Geschützte Anwartschaften entstehen nur durch Beitragszahlungen. Das ist beim Fremdrentengesetz nicht der Fall. Entscheidend und rechtlich bindend ist einzig und allein der Rentenbescheid. Außerdem wurden die Menschen nicht, wie oft behauptet wird, zu Bürgern der DDR gemacht; durch ein einheitliches Rentensystem wurde niemand zum DDR-Bürger gemacht. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sehen die Betroffenen anders!) Niemand wünscht sich den Unrechtsstaat DDR zurück. Wir sind seit der Wiedervereinigung glücklicherweise eine Nation. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Abschließend muss deshalb festgehalten werden, dass wir uns in vielen Beratungen intensiv mit dieser Problematik genauso wie mit vielen anderem im Rentenrecht auseinandersetzen und auseinandergesetzt haben. Wir und unser Koalitionspartner sehen in der bestehenden Rechtslage die bestmögliche und gerechteste Lösung für alle. Änderungen in jedweder Form würden neue Ungerechtigkeiten schaffen. Aus diesem Grunde werden wir diesen Antrag ablehnen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Danke schön. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „DDRAltübersiedlerinnen und Altübersiedler sowie DDRFlüchtlinge vor Rentenminderungen schützen – Gesetzliche Regelung im SGB VI verankern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8429, den Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/7699 abzulehnen. Wer für diese Beschlussempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die Aufrechten! – Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Bartke [SPD]: Darunter macht ihr es nicht!) Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf: – Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten Operation EU NAVFOR Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008 und weiterer Resolutionen, zuletzt 2246 (2015) vom 10. November 2015 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009 und weiterer Beschlüsse, zuletzt dem Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November 2014 Drucksachen 18/8091, 18/8286 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/8287 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem vor kurzem schon angekündigten Kollegen Matthias Ilgen das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Matthias Ilgen (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, wenn man doppelt angekündigt wird. So haben sich umso mehr Kollegen zu später Stunde hier im Hause versammeln können, wie ich sehe. Seit nunmehr 2008 engagiert sich die Bundesrepublik Deutschland auch am Horn von Afrika. Derzeit sind vor Ort die Fregatte „Bayern“ und unsere Seeaufklärer im Einsatz. Das Ziel dieses Einsatzes ist der Begleitschutz für Schiffe des UN World Food Programme und der Kampf gegen die dort grassierende Piraterie. Ich sage Ihnen klar und offen: Wir stehen vor einer Entscheidung für die Zukunft. Ist der Einsatz in dieser Form noch sinnvoll? Es gilt, für die Zukunft abzuwägen; denn Piratenangriffe sind seit 2008 nicht nur zurückgegangen, sondern sie sind seit nunmehr zwei Jahren praktisch bei null. Der Einsatz ist also ein Erfolg, nicht nur im Kampf gegen die Piraten an sich, sondern auch gegen den Terror der al-Schabab an Land; denn durch den Wegfall von Lösegeldern für Schiffe und Geiseln fehlt den Terroristen eine wichtige Einnahmequelle. Sicherheit auf dem Wasser und Sicherheit an Land hängen auf diese Weise durchaus zusammen, aber man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass man durch Atalanta dem Terror an Land nachhaltig und ausschließlich beikommen kann. Jeder hier weiß, dass es damit nicht getan ist. Die Piraterie ist ein Symptom. Deshalb ist es gut, dass wir durch EUTM Somalia dem Land helfen, eigene Sicherheitsstrukturen wieder aufzubauen, und dass die EU die Afrikanische Union finanziell bei ihrer AMISOM-Mission vor Ort unterstützt. Nun könnte man sagen: Wenn die Marineschiffe wegfallen, dann kommen die Piraten wieder. Aber nicht nur die Marineeinheiten haben einen Anteil an diesem Erfolg, sondern auch die unter den Reedern gängige Praxis, bewaffnete Sicherheitskräfte an Bord mitzuführen. Stand heute ist: Somalische Piraten haben noch kein einziges Schiff geentert, auf dem bewaffnete Sicherheitskräfte an Bord gewesen sind. Wie entscheidend das ist, sieht man unter anderem an der Küste Westafrikas, vor Nigeria. Dort ist die Anwesenheit bewaffneter Sicherheitskräfte innerhalb der Hoheitsgewässer Nigerias nicht gestattet, und die Piraterie ist dort ein anhaltendes Problem. Besorgniserregend ist lediglich, dass die Reedereien inzwischen begonnen haben, aus Kostengründen die Zahl der Sicherheitsleute zu reduzieren. Wie dem auch sei: Die Atalanta-Mission hat Wirkung gezeigt. Missionen dieser Art sind auch weiterhin richtig und wichtig; denn als eine der führenden Handelsnationen dieser Welt ist es auch im ureigensten Interesse der Bundesrepublik Deutschland, die Seewege sicher zu halten. Dieses Interesse gilt es zu vertreten. Generell wird man also über das Jahr 2016 hinaus damit beginnen müssen, abzuwägen, ob man den Einsatz noch weiter herunterfährt, als es aktuell ohnehin schon der Fall ist, oder nicht; denn insbesondere wir, Deutschland, müssen uns die Frage stellen: Wie viele Einsätze können wir der Deutschen Marine eigentlich zumuten? Als kleinste Teilstreitkraft mit gerade einmal um die 16 000 Soldaten ist die Marine diejenige, die durch die internationalen Krisen derzeit am meisten gefordert ist. Man könnte sagen: Unsere Marine pfeift auf dem letzten Loch, personell wie materiell. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und sage: Ich glaube, dass die Grenze der Belastbarkeit inzwischen überschritten ist: EUNAVFOR MED, EU NAVFOR Atalanta, SNMG 2 in der Ägäis, UNIFIL vor der libanesischen Küste, Active Endeavour – da melden wir nur ein Schiff an, wenn es ohnehin durch das Mittelmeer fährt –, und darüber hinaus ist unsere Präsenz im Ostseeraum zu erwähnen. Die Marine leistet vieles, und es ist schwierig, das so beizubehalten. Die Einsätze binden prozentual eine Menge Personal und Material, und wir sehen uns Einsätzen gegenüber, die wir während der Zeit der Umstrukturierung so überhaupt noch nicht absehen konnten. Kein Wunder, dass da ein Marineelektroniker, Rang Obermaat, auf ungefähr 300 Arbeitstage im Jahr kommt, davon mittlerweile satte 260 auf See. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Das Personal, das die Marine so dringend bräuchte, findet auf dem Arbeitsmarkt mittlerweile bei vergleichbarer Bezahlung wesentlich attraktivere Arbeitsplätze. Die Nachwuchsprobleme der Marine, denen wir uns gegenübersehen, sind vorprogrammiert, und deswegen begrüßen wir als SPD-Fraktion alle Initiativen, die an dieser Stelle in Richtung Attraktivitätssteigerung gehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Auch bei den Plattformen haben wir die Marine in den letzten zehn Jahren stark verschlankt. Mit einigen Kollegen zusammen habe ich am Montag beim Besuch des Korvettengeschwaders in Warnemünde die letzten beiden Schnellboote mit verabschiedet, die nun außer Dienst gestellt werden. Die einstigen Schnellboote der Gepard-Klasse sollten ursprünglich zehn K-130-Korvetten folgen. Am Ende waren es nur fünf. Selbst wenn man sich für ein zweites Los entschiede: Es fehlt schlicht an Personal, um diese Schiffe zu besetzen. Kurzum, die SPD-Bundestagsfraktion fordert mehr Personal für die Marine. Die Ministerin hat glücklicherweise angekündigt, das in Angriff nehmen zu wollen. Wir hoffen, dass den Ankündigungen Taten folgen. Wir wollen auch einen Blick auf die schwimmenden Plattformen und auf die Ausstattung der bestehenden Einsätze werfen. Dieses Dreiklangs an Herausforderungen gilt es sich in der Koalition gemeinsam anzunehmen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Weg, den wir mit der Atalanta-Mission beschreiten, ist der richtige. Ich möchte abschließend die Gelegenheit nutzen, allen Soldatinnen und Soldaten, die an diesem Einsatz beteiligt sind und waren, meinen und auch den Dank meiner Fraktion auszusprechen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Sie alle leisten unserem Land damit einen wichtigen Dienst. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Deshalb gilt für die SPD-Fraktion heute erst einmal: Atalanta verlängern – ja. Ganz im Sinne des neuen Mandats: Dann evaluieren, wie der Einsatz in Zukunft aussehen soll. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Hier kommt die Marineexpertin!) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Oft wird in der Politik das Argument vorgebracht: Dafür fehlt uns das Geld. Leider fehlt uns das Geld für die Einrichtung von Kitas, die Renovierung von Schulen oder auch insgesamt für den Bereich der sozialen Sicherheit. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wer ist denn dafür zuständig, für Kitas?) Wofür bei dieser Bundesregierung immer Geld da zu sein scheint, sind die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Der Einsatz, über den wir heute hier abstimmen, zu dem die SPD hier die Frage stellt, ob er überhaupt noch sinnvoll ist, (Matthias Ilgen [SPD]: In welcher Form in Zukunft!) dieser Einsatz, die Marinemission im Indischen Ozean vor den Küsten Somalias und des Jemen mit dem Namen „Atalanta“, wird bis Juni 2017 über 53 Millionen Euro kosten. Kosten von über 53 Millionen Euro pro Jahr, und da fragen Sie, ob dieser Einsatz noch sinnvoll ist. (Beifall bei der LINKEN) Da sage ich: Er war weder sinnvoll, noch ist er sinnvoll. Mit diesem Geld kann man noch viel sinnvollere Sachen machen. (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das sehen die Vereinten Nationen aber ganz anders!) Offiziell soll die Mission der Piratenbekämpfung dienen. Nehmen wir einmal an, die Bundesregierung hätte mit dieser Behauptung recht. Dann frage ich mich aber, warum bei jeder Mandatsverlängerung das Einsatzgebiet ausgeweitet wird, sodass inzwischen der halbe Indische Ozean von diesem Einsatz betroffen ist. Ich frage mich, warum Sie das Einsatzgebiet dieses Mal sogar auf die Landküste Somalias ausdehnen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Weil wir dorthin geschickt werden!) Ich frage mich, warum dieses Mal zum Beispiel eine enge Verzahnung mit der EU-Ausbildungsmission für somalische Sicherheitskräfte, die ja für den Bürgerkrieg, der in diesem Land tobt, fitgemacht werden sollen, vorgesehen ist. All dies spricht dafür, dass die Piratenbekämpfung hier nur ein Vorwand ist: (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sondern was?) Sie ist ein Vorwand, permanent und dynamisch die deutsche Kriegsmarine in der Region (Matthias Ilgen [SPD]: „Deutsche Kriegsmarine“!) zu geopolitischen Zwecken zu stationieren. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Es gibt keine deutsche Kriegsmarine! Es gibt eine Deutsche Marine!) – Ganz ruhig. Ich frage mich: Was hat der deutsche Bürger davon, wenn Sie jetzt auch noch Dschibuti zu einem Militärstützpunkt der deutschen Kriegsmarine ausbauen wollen? (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Es gibt keine deutsche Kriegsmarine!) Nichts hat der deutsche Bürger davon, dass Dschibuti jetzt auch noch ein Militärstützpunkt sein soll. (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Es geht um das Welternährungsprogramm!) Deshalb sollte dieser Einsatz beendet werden. (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ihr Einsatz sollte beendet werden!) Die Mission Atalanta kooperiert zudem mit der Kriegsflotte der saudischen Kopf-ab-Diktatur und des Golf-Kooperationsrats bei der Blockade des Jemen. Insofern greifen Sie mit der Mission Atalanta in den jemenitischen Bürgerkrieg ein. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich finde das moralisch und politisch zutiefst verwerflich, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Es geht um Lebensmittelhilfe! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Selten hat sich eine Rednerin so lächerlich gemacht wie Sie!) Es ist keine zukunftsfähige Politik, jetzt auch noch dort einzugreifen. Die Bundesregierung unterstützt mit dieser Mission – auch noch an Land – im somalischen Bürgerkrieg jetzt auch noch eine islamistische Administration, die wie ihre Gegner, die Al-Schabab-Milizen, Grundrechte mit Füßen tritt und Andersdenkende verfolgt; das weiß Herr Kauder sehr genau. Sie werden wahrscheinlich sagen, dass die über 50 Millionen Euro hier sinnvoll angelegt sind. Wir Linken sagen das nicht. Wir fordern Sie auf, endlich die zivilen Alternativen zu diesem Bundeswehreinsatz zu stärken. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Es geht um Nahrungsmittelhilfe!) Wir fragen uns schon: Warum wird die illegale Fischerei westlicher Fischereifabriken, die ein Grund für die Entstehung der Piraterie ist – durch die Zerstörung der somalischen Fischerei –, von Ihnen weiterhin lediglich beobachtet? Wie lange wollen Sie denn beobachten? Warum unternimmt die Bundesregierung keinerlei Initiative zur politischen Lösung der Konflikte in Somalia und im Jemen? Warum kooperieren Sie auch im Indischen Ozean aufs Engste mit den Golf-Diktaturen? Wir Linken finden, es braucht zivile Lösungen statt einer immer ausgreifenderen militärischen Geopolitik, die in der Region zu immer mehr Konflikten führen wird. Deshalb werden wir diesen Einsatz ablehnen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Welche Überraschung! Gott sei Dank ist Ihre Redezeit zu Ende!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Jürgen Hardt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird der Verlängerung des Atalanta-Mandats heute zustimmen. Wir werden auch zustimmen, dass das Mandat mit der Obergrenze von 950 Soldaten auf 600 abgesenkt wird. Diese Absenkung der Mandatsobergrenze ist verantwortbar, weil der europäische Einsatz Atalanta eine der erfolgreichsten Militärmissionen gewesen ist, die wir in den letzten Jahren vollzogen haben. Der Kollege Ilgen hat darauf hingewiesen: Wir haben seit vier Jahren keinen erfolgreichen Angriff mehr von Piraten auf ein Handelsschiff in diesem Gebiet. Seit zwei Jahren gibt es auch gar keinen Versuch mehr, weil wir diese Piraterie sehr erfolgreich verhindern konnten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Die wesentlichen Gründe dafür, warum das gelingen konnte, waren zum einen die gute Führung und die Einsatzbereitschaft dieses Verbandes – im Augenblick ist die deutsche Fregatte „Bayern“ das Flaggschiff dieses Verbandes –, zum anderen aber auch der Verbund mit den anderen Aktivitäten in Somalia. Wir konzentrieren uns eben nicht auf den Schutz der Seegebiete vor Somalia, sondern bilden auch somalische Sicherheitskräfte aus. Wir haben mit EUCAP NESTOR eine weitere Operation der Europäischen Union in Somalia laufen, und wir leisten auch verstärkt Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit, um den langsamen Wiederaufbau dieses jahrzehntelang geschundenen Landes zu ermöglichen. Insgesamt ist es gelungen, ein sehr gutes Lagebild von diesem Seegebiet zu entwerfen, sodass wir sicherstellen können, dass Piraterie dort erfolgreich verhindert wird. Der Kollege Ilgen hat etwas begonnen, was ich sinngemäß gerne fortsetzen möchte. Wesentlicher Träger der Belastungen sind die Soldaten der Deutschen Marine und die Einheiten der Deutschen Marine. Wir haben gegenwärtig mit der „Bayern“ und dem Seefernaufklärer P-3C „Orion“, bei EUNAVFOR MED Sophia mit der Fregatte „Karlsruhe“ und dem Einsatzgruppenversorger „Frankfurt am Main“ sowie mit dem Einsatzgruppenversorger „Bonn“ als Flaggschiff der Ägäis-NATO-Operation und mit der Korvette „Erfurt“ bei UNIFIL sowie mit Minensuch- und Minenabwehrverbänden in der Ostsee jede Menge maritime Einheiten in See stehen. Wir kommen da wirklich an die Grenzen. Ich kann der Bundesverteidigungsministerin zusagen, dass die Außenpolitiker der Union Bemühungen unterstützen werden, die insbesondere durch Investitionen in neue Ausrüstungen und in Personal geeignet sind, die Marine besser in die Lage zu versetzen, die heutigen und zukünftigen Belastungen zu tragen, damit wir da vorankommen. Ich möchte eines ganz konkret ansprechen. Wir planen gegenwärtig die Beschaffung neuer Schiffe. Weil diese neuen Schiffe mit kleineren Besatzungsstärken auskommen, weil sie zwischen den jeweiligen Werftliegezeiten länger in See stehen können und weil wir diese Schiffe nach dem Mehrbesatzungsprinzip mit wechselnden, mit rotierenden Besatzungen fahren können, werden sie deutlich besser geeignet sein, Operationen fernab der Heimat durchzuführen, Operationen wie Atalanta oder das, was im Mittelmeer stattfindet. Ich glaube, wir tun der Deutschen Marine, unserer deutschen Außenpolitik und der deutschen Verteidigungsfähigkeit einen großen Gefallen, wenn wir darangehen, diese Projekte ganz konkret voranzubringen und dafür auch die notwendigen finanziellen Mittel bereitzustellen. Damit wird die Marine auch attraktiver für die Soldatinnen und Soldaten, die an Bord der Schiffe Dienst tun. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) An dieser Stelle möchte ich noch anmerken: Wir reden über viele Bundeswehreinsätze. Wir reden insbesondere über diejenigen lange und ausgiebig, die mit Schwierigkeiten verbunden sind, die auf den ersten Blick vielleicht nicht die Erwartungen erfüllen, bei denen Soldatinnen und Soldaten Schwierigkeiten zu überwinden haben. Wir reden zu wenig über die erfolgreichen, gelungenen Auslandseinsätze der Bundeswehr, bei denen wir mit den Entscheidungen, die wir getroffen haben, goldrichtig lagen. Dazu gehört, wie ich finde, der Einsatz Atalanta; dazu gehört aber auch das, was wir im Kosovo leisten, und auch das, was wir in Bosnien-Herzegowina gemacht haben. Als der letzte deutsche Soldat aus dem Einsatz dort nach Hause kommen konnte, war das den meisten Presseorganen keine Zeile wert. (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: So ist es!) Ich glaube, dass wir deswegen auch über den Erfolg von Atalanta reden sollten und dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten, die gegenwärtig dort im Einsatz sind, alles Soldatenglück, eine gute und glückliche Heimkehr wünschen sollten – im Namen, so denke ich, aller Mitglieder des Deutschen Bundestages. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Nicht aller! Von denen da nicht!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Atalanta ist eine erfolgreiche Mission. Sie ist Symptombekämpfung, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Tatsache, dass die Zahl der Piratenangriffe in den letzten Jahren zurückgegangen ist, hat sehr viel damit zu tun, dass die Reeder mittlerweile sehr viel Verantwortung übernommen haben. Aber Fakt ist, dass die Sicherung internationaler Gewässer in erster Linie eine Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft ist. Auf einer UN-Grundlage und im Rahmen einer internationalen Mission helfen unsere Soldatinnen und Soldaten dabei. Dafür ein herzlicher Dank! (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD) Die Linke hat in den letzten Jahren immer wieder völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass Atalanta Symptombekämpfung ist und dass Piraterie militärisch nicht zu besiegen ist. Das ist auch völlig richtig. Ich fürchte nur, dass eine Sache dabei immer wieder ein bisschen vergessen wird: Gerade im Falle von Somalia reden wir über ein Land, das über Jahrzehnte fragmentiert wurde. Das heißt, wir haben nur einen sehr beschränkten Einfluss auf viele politische Faktoren in diesem Land, und das führt dazu, dass die Symptombekämpfung umso notwendiger wird. Ich teile, ehrlich gesagt, so manche Kritik, die Sie von der Linken nicht nur in diesem Fall haben – viele Kritikpunkte, die die Linke bei Auslandseinsätzen äußert, kann ich sehr gut nachvollziehen –; aber die Art und Weise, in der bei UN-Missionen, die manchmal wirklich Nothilfe sind, ein grundsätzliches Nein formuliert wird, erinnert ein bisschen an folgende Situation: Jemand ertrinkt, und einer steht dabei und sagt: Es ist aber besser, wenn du selbst schwimmen kannst. – Das stimmt. Es wäre besser, wenn er selbst schwimmen könnte; aber es ist manchmal so, dass man für Schwimmunterricht einfach keine Zeit hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Ja, Sie haben völlig recht: Die Raubfischerei ist ein Riesenproblem, wenn auch bei weitem nicht das einzige Problem. Es gibt kriminelle Strukturen, die Geschäftsmodelle aufgebaut haben, die weit über Raubfischerei hinausgehen. Und ja, es ist richtig: Wenn man die Ursachen bekämpfen will, dann muss und kann man das deutlich besser machen, als es die Bundesregierung macht. Die UN sagen: Die Raubfischerei ist ein riesengroßes Problem, weil viele Fischer dadurch in ihrer Existenz bedroht sind und für die Geschäftsmodelle der Kriminellen anfällig werden. Die EU sagt: Die Raubfischerei ist ein riesengroßes Problem. Wir haben vor Wochen die Bundesregierung gefragt, was sie denn eigentlich dagegen tun wird. Ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung: Ein aktives Vorgehen gegen illegale Fischereiaktivitäten ist … nicht Bestandteil des Mandats von ATALANTA und kann nur durch die somalischen Behörden selbst erfolgen. Die somalischen Behörden selbst werden im Übrigen in EU-Berichten als diejenigen deklariert, die durch massive Korruption einen Riesenbeitrag dazu leisten, dass es die Raubfischerei gibt. (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das heißt, hier gibt es eine aktive Ignoranz der Bundesregierung ebenso wie bei der Bekämpfung der Raubfischerei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Weiter heißt es da: Eine mögliche Ausweitung der Befugnisse der Operation in diesem Bereich … steht aktuell nicht an. Wenn man über die Symptombekämpfung hinauswill, dann muss man das ändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist grundsätzlich richtig, dass es die Symptombekämpfung gibt. Es ist gut, dass es Anpassungspläne gibt, und es ist gut, dass die Mandatsobergrenze gesenkt wird. Manche in meiner Fraktion werden diesem Einsatz zustimmen, auch aufgrund des veränderten Sicherheitsumfeldes im Jemen und der Dürre in Ostafrika. Aber die große Mehrheit meiner Fraktion kann dem nicht folgen, und das seit 2012, weil die Landoption für uns eine riesige Eskalationsgefahr birgt. Wegen dieser Landoption, die immer noch Bestandteil ist, hat die Sozialdemokratie im Übrigen dieses Mandat in den Jahren 2012 und 2013 abgelehnt. Die Mehrheit meiner Fraktion kommt in der Abwägung dazu, diesem Mandat nicht zustimmen zu können. Ich bitte die Bundesregierung: Verhandeln Sie weiter! Legen Sie ein besseres Mandat vor! Es ist gut und notwendig, gerade den Soldatinnen und Soldaten gegenüber, wenn es ein breites Votum im Deutschen Bundestag für einen solchen Einsatz gibt. Sie würden viel Gutes tun, wenn Sie diese Landkomponente herausnähmen. Dann hätten Sie auch eine breitere Zustimmung für Atalanta im Hohen Hause. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heidtrud Henn [SPD]) Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die Kollegin Julia Obermeier für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Julia Obermeier (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man vor acht Jahren die Zeitung aufschlug und nach Somalia suchte, fand man Meldungen über ein bitterarmes und krisengebeuteltes Land, aber vor allem auch Berichte über Piratenangriffe, Entführungen und Lösegeldforderungen. Heute lesen wir zwar immer noch von der Gewalt im Land, doch es wird auch über erste Lichtblicke und kleine Fortschritte berichtet, und die Meldungen über die Piraten sind verschwunden. Das Zurückdrängen der Piraterie ist der Erfolg der EU-Mission Atalanta, und die militärische Präsenz im Seegebiet vor Somalia hat der Piraterie ein Ende bereitet. Wie der Kollege Jürgen Hardt bereits sagte: Die letzte erfolgreiche Entführung fand 2012 statt, und im vergangenen Jahr gab es nicht einmal mehr einen Angriffsversuch. Der EU-Einsatz kann also mit Fug und Recht als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. Diese Erfolgsgeschichte wollen wir fortsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Atalanta-Verband steht derzeit unter deutscher Führung und schützt sowohl die Schiffe des Welternährungsprogramms als auch die große Zahl an Handelsschiffen. Mit 20 000 Handelsschiffen pro Jahr sind die Seewege am Horn von Afrika eine wichtige Lebensader des Welthandels und somit für die Exportnation Deutschland von grundlegender Bedeutung. Mit den Seewegen schützen wir auch unsere Wirtschaft, die Arbeitsplätze und den Wohlstand in Deutschland. Die Mission leistet aber auch einen wichtigen Beitrag, um Somalia, eines der ärmsten Länder der Welt, zu stabilisieren und die notleidende Bevölkerung zu versorgen. Das kann die Operation Atalanta nicht alleine leisten. Deshalb ist Atalanta nur ein Baustein in einem breiten, vernetzten Ansatz. In Somalia müssen rechtsstaatliche Strukturen geschaffen und einsatzfähige Sicherheitskräfte aufgebaut werden. Genau hierzu sind die zwei Ausbildungs- und Beratungsmissionen der EU weitere wichtige Bausteine. Im Rahmen von EUTM Somalia werden somalische Sicherheitskräfte ausgebildet, und bei EUCAP NESTOR werden eigene Küstenpolizeikräfte aufgebaut. Zudem beteiligt sich Deutschland auch an der politischen Mission UNSOM. Die Bevölkerung braucht darüber hinaus auch humanitäre Unterstützung. Auch hier ist Deutschland tätig. Fast 95 Millionen Euro stehen für die Entwicklungszusammenarbeit in Somalia bereit. Das Geld fließt in Projekte, die Trinkwasser, Nahrungsmittel und Medikamente für die Menschen bereitstellen, aber auch in Projekte, die dem Ausbau der ländlichen Infrastruktur dienen. Doch kann diese Hilfe nur ankommen, wenn es die Sicherheitslage auch zulässt, und zwar zu Land wie zur See. Deshalb werden unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten weiterhin in Somalia gebraucht. Ihr Engagement ist ein Stabilitätsanker in der Region. An dieser Stelle möchte ich allen Bundeswehrangehörigen, die in den vergangenen acht Jahren am Horn von Afrika im Einsatz waren, für ihre hervorragend geleistete Arbeit danken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Als Abgeordnete der CSU schicke ich einen ganz besonderen Gruß an die Besatzung der Fregatte „Bayern“, die derzeit den EU-Verbund anführt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Sehr gut!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, Atalanta leistet einen unverzichtbaren Beitrag, um einerseits die Seewege am Horn von Afrika zu sichern und andererseits mehr Stabilität in Somalia zu schaffen, nicht zuletzt durch die Absicherung der Hilfslieferungen des Welternährungsprogramms. Somalia braucht weiterhin unsere Unterstützung. Daher bitte ich Sie um Ihre Zustimmung für die Fortsetzung dieser erfolgreichen Mission. Nur wenn wir einen langen Atem haben, werden die Zeitungen auch zukünftig nicht wieder über neue Piratenangriffe, sondern über weitere Fortschritte am Horn von Afrika berichten können. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Danke schön. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten Operation EU NAVFOR Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias. Dazu liegen mir mehrere Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.6 Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8286, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 18/8091 anzunehmen. Wir stimmen über diese Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind jetzt an allen Abstimmungsurnen Schriftführerinnen und Schriftführer anwesend? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Ich darf mir noch den Hinweis erlauben, dass nicht nur die Urne im Nordosten des Plenarsaals geeignet ist, sondern es an anderen Abstimmungsurnen möglicherweise schneller geht. Ist noch ein Mitglied des Deutschen Bundestages anwesend, das seine Stimme abgeben möchte, dies aber noch nicht getan hat? Ich bitte um ein Handzeichen. – Das ist nicht der Fall. Es haben also alle, die abstimmen wollten, auch abgestimmt. Dann schließe ich hiermit die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.7 Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8424. Wer für diesen Entschließungsantrag stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD sowie der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Ebner, Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorsorgeprinzip ernst nehmen – Keine erneute Genehmigung für Glyphosat Drucksache 18/8395 Ich darf darauf hinweisen, dass mit aller Wahrscheinlichkeit zum Ende dieser Debatte eine streitige Abstimmung stattfinden wird – keine namentliche, aber eine streitige. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Widerspruch sehe und höre ich keinen. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Harald Ebner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Was haben wir hier in diesem Haus nicht schon rauf und runter über Glyphosat debattiert! Es kommt Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, doch sicherlich schon aus den Ohren heraus. (Ingrid Pahlmann [CDU/CSU]: Danke!) – Das dachte ich mir doch. – Auch viele andere Parlamente in der EU haben in den letzten Wochen über Glyphosat diskutiert, und das aus gutem Grund: Glyphosat ist schon seit Jahren umstritten; vor einem Jahr wurde es von den WHO-Experten als „wahrscheinlich krebserregend“ klassifiziert. Trotzdem wollen Minister Schmidt und die EUKommission es jetzt wieder neu zulassen. Das ist unverantwortlich, werte Kolleginnen und Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nächste Woche findet die finale Abstimmung in Brüssel über die Wiederzulassung statt, und die deutsche Stimme spielt da eine Rolle. Der letzte Abstimmungsversuch in Brüssel ist aus Sicht der Europäischen Kommission komplett schiefgegangen. Das war auch eine waschechte Klatsche für das Bundesinstitut für Risikobewertung – und das, obwohl unsere Bundesregierung, werter Herr Minister Schmidt, immer betont hatte, dass alle Mitgliedstaaten hinter der deutschen Bewertung stünden. Die französische Umweltministerin Royal hat jetzt erklärt, dass Frankreich die Wiederzulassung ablehnen wird, weil Glyphosat wahrscheinlich krebserregend ist. Ich freue mich, dass nun endlich auch Ministerin Hendricks, Minister Gabriel und andere SPD-Minister das so sehen. Ich wünsche mir das auch vom federführenden Minister Schmidt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Ute Vogt [SPD]) Verhindern Sie die Zulassung dieses Pflanzenkillers, Herr Minister! Die massiven Bedenken gegen Glyphosat im Zuge der Risikobewertung werden ja nicht kleiner, sondern täglich größer. Inzwischen wurde sogar schon Strafanzeige gegen das BfR, die EFSA und die Glyphosat Task Force erstattet. Der Wissenschaftsstreit über Krebs- und Umweltgefahren tobt doch weiter. Die Fragen zu den offensichtlichen Fehlern bei der Auswertung der Herstellerstudien, zum Aussortieren von unabhängigen Studien, zu fehlenden statistischen Tests usw. usf. sind nicht beantwortet. Erst im nächsten Jahr wird die Europäische Chemikalienagentur, die ECHA, ihre Einschätzung vorlegen. Trotzdem soll jetzt eine Zulassung erfolgen? Das ist unverantwortlich und aus unserer Sicht nicht tragbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) So lange soll wohl in Kauf genommen werden, dass der Stoff weiterhin ohne nennenswerte Einschränkung angewandt wird und in die Umwelt gelangt. Das hat mit Vorsorge nichts zu tun. Wer das Vorsorgeprinzip für Gesundheit und Verbraucherschutz ernst nimmt, der kann Glyphosat jetzt nicht ernsthaft neu zulassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Deshalb ist es auch gut, dass die SPD-Ministerinnen und -Minister nun erklärt haben, dass sie der Wiederzulassung wegen der Gesundheitsbedenken nicht zustimmen können. Das war ein echter Paukenschlag, Kompliment, Frau Hendricks! Sie ist nicht da, aber Herr Pronold vertritt sie. Jetzt muss sich das aber auch im Abstimmungsverhalten Deutschlands in Brüssel niederschlagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Es kann doch nicht sein, dass sechs Tage vor der Abstimmung kein Mensch in diesem Haus, in diesem Land weiß, wie Deutschland sich in dieser Frage verhalten wird. Sorgen Sie für Klärung! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich frage mich umso mehr, warum Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, heute nicht auch persönlich Ihre Stimme gegen die Zulassung von Glyphosat abgeben wollen. Auch im Hinblick auf Fragen der Biodiversität wäre das notwendig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich kann ja verstehen, dass bei den Glyphosat-Herstellern momentan die Alarmglocken schrillen. Die Umsätze bei Monsanto sind wegen der Debatte um ein Drittel eingebrochen. Ich kann aber nicht verstehen, dass das BMEL nach wie vor stur auf seiner Zustimmung zur Zulassung von Glyphosat beharrt. Werte Kolleginnen und Kollegen, heute ist die letzte Chance, als Bundestag für einen effektiven Gesundheits- und Umweltschutz in der Europäischen Union zu stimmen, indem wir uns gegen eine weitere Zulassung von Glyphosat aussprechen. Unser Antrag besteht aus einem kurzen Satz, den Sie ganz schnell lesen und ganz schnell verstehen können. Bekennen Sie Farbe! Sagen Sie klipp und klar Ja oder Nein; (Zurufe von der CDU/CSU: Ja! Ja!) aber verstecken Sie sich nicht hinter Formalitäten. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Der Kollege Hermann Färber spricht jetzt für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Hermann Färber (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Grünen wollen mit ihrem vorliegenden Antrag erreichen, dass es in der EU keine Mehrheit für eine weitere Zulassung von Glyphosat gibt; das hat Kollege Ebner gerade ausgeführt. Das Ergebnis wäre, dass ab dem 1. Juli dieses Jahres Glyphosat in allen europäischen Ländern verboten wäre. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre ja gut!) Was wären denn die Folgen? Das wäre nicht nur ein Problem für die Landwirtschaft. Das wäre auch ein großer Nachteil für die Umwelt und die Verbraucher. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Julius-Kühn-Institut hat in seiner Studie, die in der letzten Sitzung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft vorgestellt wurde, sehr deutlich gemacht: Ein sofortiges Verbot von Glyphosat würde bedeuten, dass wieder mehr gepflügt werden muss, mit allen negativen Folgen für Bodenleben und Bodenerosion. (Beifall bei der CDU/CSU) Außerdem würde das natürlich zu massiven Problemen beim Resistenzmanagement führen. Entgegen allen Horrormeldungen gibt es nämlich bis heute in Deutschland keine Resistenzen gegen Glyphosat. Das liegt ganz einfach daran, dass dieser Wirkstoff ganz anders und viel zurückhaltender eingesetzt wird, als das etwa in Nord- oder Südamerika der Fall ist. Deshalb sind alle Vergleiche mit diesen Ländern, mit diesen Regionen, die als Begründung herhalten sollen, nicht nur sachlich falsch, sondern sind ganz einfach fehl am Platz. (Beifall bei der CDU/CSU) Nach unseren Anwendungsbedingungen, unter denen der Einsatz nur zugelassen werden kann, besteht beim Einsatz von Glyphosat kein größeres Risiko. Es ist nicht schädlicher als das Pflügen. Die einzige Auswirkung auf die Biodiversität besteht darin, dass die Pflanze, die durch Glyphosat abgetötet wird, nicht mehr als Lebensraum für die Mikroorganismen zur Verfügung steht. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht Ihre Umweltministerin anders!) Das ist beim Pflügen genauso, nur dass dabei hundertmal so viel Diesel verbraucht wird. (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja absurd!) Ein Verbot des Wirkstoffes würde auch für den Gesundheitsschutz nichts bringen. Alle europäischen Bewertungsbehörden haben nämlich festgestellt, dass Glyphosat in der zugelassenen Anwendung kein Krebsrisiko darstellt. Das IARC vertritt mit seiner Einstufung in die Kategorie „wahrscheinlich krebserregend“ eine reine Minderheitenposition. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das ist mit Sicherheit die wissenschaftlich fundierteste, Herr Kollege!) Was das IARC hingegen als „mit Sicherheit krebserregend“ einstuft, das sind die Dieselabgase, die, wie schon erwähnt, bei einem Verbot von Glyphosat hundertfach stärker ausgestoßen würden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich finde es schon typisch, dass sich von den Verbotsbefürwortern für diese Abwägung niemand auch nur im Geringsten interessiert. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, zugelassen wird ein Wirkstoff in der EU nur dann, wenn die Anwendung nicht zu Gesundheitsschäden führt, wenn er sich nicht im Boden oder im Körper anreichert, (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tut er aber, Herr Färber! Glyphosat existiert im Boden!) wenn er zielgenau wirkt, wenn er nicht das Grundwasser gefährdet und wenn er auch nicht schädlich für Bienen ist. All das müssen die antragstellenden Unternehmen in umfangreichen Studien nachweisen. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sie selber bezahlen!) Diese Studien werden dann von den nationalen oder auch den europäischen Bewertungsbehörden geprüft und bewertet. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie das Handbuch des Zulassungsverfahrens in Ihre Rede kopiert?) Dieses Verfahren läuft bei Glyphosat mittlerweile seit vier Jahren. Die zuständigen wissenschaftlichen Behörden sind europaweit eindeutig und einmütig zu dem Schluss gekommen, dass der Wirkstoff zulassungsfähig ist. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unter Ignorieren unabhängiger Studien! Sie leben in einer anderen Welt!) Wenn diese Bewertungsbehörden zu einem späteren Zeitpunkt zu einem anderen Ergebnis kommen, so wie Sie das gesagt haben, wenn also beispielsweise in anderthalb Jahren eine andere Erkenntnis vorliegen würde, dann kann diese Zulassung jederzeit nachträglich eingeschränkt oder sogar aufgehoben werden. Auch das ist Teil des Zulassungsverfahrens. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So lange nehmen Sie das in Kauf!) Dieser wissenschaftsbasierte Zulassungsprozess soll jetzt nach dem Willen der Grünen abgelöst werden (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) durch politische Willkürentscheidungen. Das ist mit uns nicht zu machen; (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt Vorsorgeprinzip, Herr Kollege!) denn es geht ja hier gar nicht um Glyphosat allein. Es geht auch um den Zulassungsprozess als solchen, und da sehen wir schon eine große Gefahr. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Ihnen sehen wir eine große Gefahr!) Wenn die Anforderungen bei Zulassungsverfahren für die antragstellenden Unternehmen in keiner Weise mehr berechenbar sind, dann laufen wir Gefahr, dass in Zukunft auch keine Forschung an neuen Wirkstoffen mehr betrieben wird. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Entschuldigung, das entspricht der Zulassungsrichtlinie aus 2009!) Damit würden wir uns aber auch die Chance für noch umweltschonendere und noch gesundheitsverträglichere Wirkstoffe nehmen. Das wäre kein Nachteil für die Unternehmen; nein, das wäre ein großer Nachteil für unsere Gesellschaft, für die Verbraucher und auch für die Umwelt. In den letzten Jahren ist in Sachen umweltschonender und gesundheitsverträglicher Pflanzenschutz schon viel erreicht worden. Während vor wenigen Jahren noch mehr als 1 000 Wirkstoffe zugelassen waren, sind es heute gerade einmal noch rund 400. Im Nationalen Aktionsplan Pflanzenschutz haben wir viele Maßnahmen festgelegt, um eine flächendeckende Minimierung zu erreichen. Das reicht von der Forschungsförderung über die Förderung von integriertem Pflanzenschutz bis hin zu Demonstrationsbetrieben. Das ist der richtige Weg. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, bei ihrer Entscheidung in Sachen Glyphosat den wissenschaftlichen Sachverstand der Bewertungsbehörden gebührend zu berücksichtigen (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) und gemäß deren Einschätzung der Zulassungsverlängerung für Glyphosat zuzustimmen. Herr Ebner, noch ein letzter Satz. Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege Färber, Sie denken an die vereinbarte Redezeit? Hermann Färber (CDU/CSU): Herr Präsident, ich höre Ihre Worte. – Laut Ihrem Antrag, Herr Ebner, können Sie sich eine Zulassung für drei Jahre vorstellen. Das will ich Ihnen einfach einmal lobend zugestehen. Ich glaube, wir liegen da gar nicht so weit auseinander. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Zwischenzeitlich liegt mir das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten Operation EU NAVFOR Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias“, Drucksachen 18/8091 und 18/8286, vor: abgegebene Stimmen 563. Mit Ja haben gestimmt 456, mit Nein haben gestimmt 72, Enthaltungen 35. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 563; davon ja: 456 nein: 72 enthalten: 35 Ja CDU/CSU Stephan Albani Katrin Albsteiger Artur Auernhammer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Sybille Benning Dr. André Berghegger Dr. Christoph Bergner Ute Bertram Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexandra Dinges-Dierig Alexander Dobrindt Michael Donth Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Iris Eberl Jutta Eckenbach Dr. Bernd Fabritius Hermann Färber Uwe Feiler Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Klaus-Peter Flosbach Thorsten Frei Dr. Astrid Freudenstein Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Cemile Giousouf Josef Göppel Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Dr. Herlind Gundelach Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Stefan Heck Helmut Heiderich Mechthild Heil Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Uda Heller Jörg Hellmuth Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Dr. Heribert Hirte Christian Hirte Alexander Hoffmann Thorsten Hoffmann (Dortmund) Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Dr. Hendrik Hoppenstedt Margaret Horb Anette Hübinger Hubert Hüppe Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Sylvia Jörrißen Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung Xaver Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Steffen Kanitz Alois Karl Anja Karliczek Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Jürgen Klimke Jens Koeppen Markus Koob Kordula Kovac Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Roy Kühne Uwe Lagosky Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Barbara Lanzinger Dr. Silke Launert Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Philipp Lengsfeld Dr. Andreas Lenz Dr. Ursula von der Leyen Antje Lezius Ingbert Liebing Matthias Lietz Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Wilfried Lorenz Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. Jan-Marco Luczak Karin Maag Yvonne Magwas Thomas Mahlberg Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Reiner Meier Dr. Michael Meister Jan Metzler Maria Michalk Dr. h.c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Marlene Mortler Volker Mosblech Elisabeth Motschmann Dr. Gerd Müller Carsten Müller (Braunschweig) Dr. Philipp Murmann Dr. Andreas Nick Michaela Noll Helmut Nowak Dr. Georg Nüßlein Julia Obermeier Wilfried Oellers Florian Oßner Dr. Tim Ostermann Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Martin Pätzold Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Erwin Rüddel Albert Rupprecht Anita Schäfer (Saalstadt) Karl Schiewerling Jana Schimke Norbert Schindler Tankred Schipanski Heiko Schmelzle Christian Schmidt (Fürth) Gabriele Schmidt (Ühlingen) Ronja Schmitt Patrick Schnieder Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Christina Schwarzer Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Tino Sorge Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Albert Stegemann Peter Stein Erika Steinbach Sebastian Steineke Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Rita Stockhofe Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Matthäus Strebl Karin Strenz Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Sabine Sütterlin-Waack Antje Tillmann Astrid Timmermann-Fechter Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Oswin Veith Thomas Viesehon Michael Vietz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sven Volmering Christel Voßbeck-Kayser Kees de Vries Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Marian Wendt Waldemar Westermayer Kai Whittaker Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Dagmar G. Wöhrl Barbara Woltmann Tobias Zech Heinrich Zertik Emmi Zeulner Dr. Matthias Zimmer Gudrun Zollner SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heike Baehrens Ulrike Bahr Heinz-Joachim Barchmann Dr. Katarina Barley Doris Barnett Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Burkhard Blienert Willi Brase Dr. Karl-Heinz Brunner Edelgard Bulmahn Martin Burkert Dr. Lars Castellucci Petra Crone Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Sabine Dittmar Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Michaela Engelmeier Dr. h.c. Gernot Erler Petra Ernstberger Saskia Esken Karin Evers-Meyer Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Angelika Glöckner Ulrike Gottschalck Kerstin Griese Gabriele Groneberg Michael Groß Uli Grötsch Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Ulrich Hampel Sebastian Hartmann Michael Hartmann (Wackernheim) Dirk Heidenblut Hubertus Heil (Peine) Gabriela Heinrich Marcus Held Wolfgang Hellmich Heidtrud Henn Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Thomas Hitschler Dr. Eva Högl Matthias Ilgen Christina Jantz-Herrmann Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Ulrich Kelber Marina Kermer Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Birgit Kömpel Dr. Hans-Ulrich Krüger Helga Kühn-Mengel Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Hiltrud Lotze Kirsten Lühmann Dr. Birgit Malecha-Nissen Caren Marks Katja Mast Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Bettina Müller Detlef Müller (Chemnitz) Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Ulli Nissen Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Christian Petry Detlev Pilger Sabine Poschmann Joachim Poß Florian Post Achim Post (Minden) Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Dr. Simone Raatz Martin Rabanus Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Andreas Rimkus Sönke Rix Petra Rode-Bosse Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Susann Rüthrich Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Annette Sawade Dr. Hans-Joachim Schabedoth Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Dr. Dorothee Schlegel Matthias Schmidt (Berlin) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Elfi Scho-Antwerpes Ursula Schulte Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Norbert Spinrath Svenja Stadler Martina Stamm-Fibich Sonja Steffen Peer Steinbrück Christoph Strässer Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Carsten Träger Ute Vogt Dirk Vöpel Gabi Weber Bernd Westphal Dirk Wiese Gülistan Yüksel Dagmar Ziegler Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann Manfred Zöllmer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Annalena Baerbock Marieluise Beck (Bremen) Dr. Franziska Brantner Ekin Deligöz Dr. Thomas Gambke Anja Hajduk Dieter Janecek Tom Koenigs Dr. Tobias Lindner Omid Nouripour Cem Özdemir Brigitte Pothmer Tabea Rößner Kordula Schulz-Asche Markus Tressel Doris Wagner Dr. Valerie Wilms Nein SPD Klaus Barthel Marco Bülow Dr. Ute Finckh-Krämer Cansel Kiziltepe Hilde Mattheis Waltraud Wolff (Wolmirstedt) DIE LINKE Jan van Aken Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Annette Groth Dr. André Hahn Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Andrej Hunko Sigrid Hupach Ulla Jelpke Susanna Karawanskij Kerstin Kassner Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Birgit Menz Cornelia Möhring Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Harald Petzold (Havelland) Richard Pitterle Martina Renner Dr. Petra Sitte Dr. Kirsten Tackmann Azize Tank Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Birgit Wöllert Jörn Wunderlich Hubertus Zdebel Pia Zimmermann Sabine Zimmermann (Zwickau) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Sylvia Kotting-Uhl Christian Kühn (Tübingen) Monika Lazar Peter Meiwald Beate Müller-Gemmeke Lisa Paus Corinna Rüffer Hans-Christian Ströbele Enthalten SPD Petra Hinz (Essen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Volker Beck (Köln) Agnieszka Brugger Katja Dörner Katharina Dröge Harald Ebner Matthias Gastel Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Oliver Krischer Stephan Kühn (Dresden) Renate Künast Markus Kurth Steffi Lemke Irene Mihalic Özcan Mutlu Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Claudia Roth (Augsburg) Elisabeth Scharfenberg Ulle Schauws Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Dr. Harald Terpe Dr. Julia Verlinden Beate Walter-Rosenheimer Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Vorweg noch ein anderes Thema: Ertrinkende davon zu überzeugen, dass sie Schwimmunterricht nehmen sollen – dieses Bild gab es vorhin schon einmal in der Debatte –, ist absurd, erst recht, wenn man eigentlich nur das Wasser aus dem Pool ablassen müsste, um die Ertrinkenden zu retten. So ähnlich fühlen sich vielleicht auch manchmal die Landwirtinnen und Landwirte, wenn mit ihnen über die Agrarwende diskutiert wird, während sie gegen die Übermacht von Handelskonzernen, Molkereien und Schlachthöfen um das Überleben kämpfen. Deshalb sagt die Linke ganz klar: Dieser Missbrauch von Marktmacht muss beendet werden, (Beifall bei der LINKEN) die spekulativen Käufe von Boden und ganzen Betrieben auch. Ich glaube, dass unter solch einem Schutzschirm manche Debatte über die Agrarwende oder andere Änderungen viel leichter wäre. (Beifall bei der LINKEN) Das gilt zum Beispiel auch für die Debatte über Glyphosat. Auch hier geht es doch längst nicht mehr nur um einen Unkrautvernichter unter Krebsverdacht. Glyphosat ist doch längst zu einem Symbol geworden, zu einem Symbol für eine Politik, die nicht handelt, zu einem Symbol für eine Politik, für die das Vorsorgeprinzip nicht mehr unumstößlich ist. Das sage nicht nur ich, sondern das sagen auch die Menschen um einen herum, wenn man sie fragt, was ihnen spontan zum Thema Glyphosat einfällt. Ja, auch bei mir ist heute mit der Debatte die täglich empfohlene Dosis des Problems deutlich überschritten. Ja, gerade als Wissenschaftlerin und Tierärztin kann ich es nur noch schwer ertragen, wie viele Zweifel an der Unbedenklichkeitserklärung durch deutsche und europäische Behörden einfach weggewischt werden. (Beifall bei der LINKEN) Die Union fordert ja immer eine wissenschaftliche Basis für die Entscheidung, aber die Frage ist doch eigentlich: Welche wissenschaftliche Position ist die richtige? Die deutsche Behörde hält Glyphosat für unbedenklich, auch weil Menschen in Europa kaum Kontakt zu diesem Wirkstoff hätten, aber die Experten der WHO-Krebsforschungsagentur sehen das anders. Was ist eigentlich, wenn die recht behalten, weil zum Beispiel doch erbgutverändernde Wirkmechanismen vorliegen? Das wäre ein K.-o.-Kriterium für die Zulassung. 100 internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in einem offenen Brief heftige Kritik sowohl am Prüfverfahren als auch an der Bewertung einiger Studien vorgetragen. Sind das alles Verschwörungstheoretiker? Was ist eigentlich, wenn die Studien recht haben, die viel häufigeren Kontakt mit Glyphosat voraussetzen, weil sie nämlich schon in kleinen Stichproben erstaunlich oft Glyphosat im Urin bei Menschen nachweisen? Dies war zuletzt auch im Umweltbundesamt der Fall. In der vorläufigen Auswertung einer kleinen Studie wurde in immerhin 40 bis 60 Prozent der Urinproben Glyphosat gefunden. Nachweise von Glyphosatspuren in verschiedenen Lebensmitteln würden das auch erklären. Vielleicht summiert sich das Glyphosat ja mit dem täglich Brot und dem täglich Bier. (Ingrid Pahlmann [CDU/CSU]: Es wird eben ausgeschieden! Mein Gott!) Vielleicht gibt es ja auch noch andere unberücksichtigte Kontaktquellen wie zum Beispiel Kleidung oder Hygieneartikel aus gentechnisch veränderter Baumwolle. Das sind doch alles wichtige Fragen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen habe ich die Bundesregierung nach Studien zur Kontakthäufigkeit, zu Risikofaktoren, zur Belastung von Lebensmitteln und Kleidung gefragt. Die ernüchternde Antwort kam vorgestern: Sie sieht keinen Handlungsbedarf. Ich finde, das ist fahrlässiges Wegducken. Das ist nicht akzeptabel. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Liste der ignorierten Wissenslücken ist ja noch viel länger. Ein paar Beispiele: Trotz der weltweit intensiven Nutzung gibt es nur wenige Studien über Vorkommen von Glyphosat in der Umwelt. Auch in unserem Land ist die Umweltmedizin unterdessen zum Stiefkind geworden – zum Leid ganz vieler Menschen. Wirkmechanismen wie oxidativer Stress werden ausgeblendet. Epidemiologische Studien werden systematisch gering geschätzt. Wir wissen wenig über verstärkende Wirkungen durch andere Stoffe oder andere Risiken, über chronische Wirkungen von niedrigen Dosierungen über längere Zeiträume oder über die Grenzwerte von Wirkstoffmischungen. Auch als Wissenschaftlerin und Abgeordnete muss ich ausdrücklich sagen: Ich maße mir kein Urteil und keine Entscheidung über diesen wissenschaftlichen Streit an. Aber solange die Zweifel nicht beseitigt und die Wissenslücken nicht geschlossen sind, gibt es für uns Linke nur einen einzigen Entscheidungsmaßstab: im Zweifel für die Verbraucherinnen und Verbraucher. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Eine Entscheidung jetzt für die nächsten 10 oder 15 Jahre ist aus unserer Sicht unverantwortlich und nutzt nur Monsanto. Da machen wir Linken nicht mit. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE], an die CDU/CSU gewandt: Profit auf Kosten eurer Kinder und Enkel!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Rita Hagl-Kehl. (Beifall bei der SPD) Rita Hagl-Kehl (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bevölkerung ist verunsichert. Unterschiedliche Meldungen kursieren. Auf der einen Seite sagt die Weltgesundheitsorganisation – besser gesagt: ihre Untergruppierung, das Krebsforschungsinstitut –: Glyphosat ist wahrscheinlich krebsergebend. – Auf der anderen Seite sagen deutsche Behörden wie das BfR, also das Bundesinstitut für Risikobewertung, das sich ja auch damit befassen muss: Es ist unbedenklich. – Die EFSA folgte diesem Urteil. Die Wissenschaft ist uneins. Die SPD nimmt die Besorgnis der Bevölkerung trotzdem ernst, auch wenn Uneinigkeit besteht. (Beifall bei der SPD) Ich möchte zunächst auf die Forderungen der SPD eingehen, die wir schon vor Wochen dargelegt und schriftlich verfasst haben. Wir sind eindeutig dafür, dass wir ein Verbot für private Anwender bekommen, und zwar auch für den kommunalen Bereich. Es kann nicht sein, dass Kinderspielplätze und Schulhöfe mit Glyphosat gespritzt werden. Wir wollen auch, dass die Bahn dieses Mittel innerorts nicht mehr verwendet. Diese Möglichkeiten – das ist das Einzige, was ich an ihm wirklich schätzen muss – bietet der Entwurf der Kommission. Sollte sich dieser Entwurf in Europa durchsetzen, dann werden wir darauf drängen, diese Möglichkeit zu nutzen, um ein Verbot bei uns in Deutschland durchzusetzen. (Beifall bei der SPD – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber ihr seid doch gegen den Entwurf, denke ich!) Gleichzeitig wollen wir ein stärkeres Engagement für die Biodiversität. Wir haben eine Verringerung des Einsatzes in der Landwirtschaft bis hin zum Ausstieg gefordert. Das Julius-Kühn-Institut wurde vorhin schon einmal zitiert. Auch wir haben die Studie des Julius-Kühn-Instituts zur Kenntnis genommen. Wir haben darin aber auch gelesen, dass die Landwirtschaft den Einsatz von Glyphosat sehr viel deutlicher reduzieren könnte, ohne dass es zu finanziellen Einbußen kommt. (Beifall bei der SPD – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) Die überflüssige Stoppelbehandlung könnte abgeschafft werden. Die Bodenbearbeitung mit Geräten – ja, Herr Färber kritisiert sie; aber sie wäre eine Möglichkeit – würde viel Glyphosat einsparen. Am Schlimmsten ist, dass die Sikkation, also die Vorerntebehandlung, durch die es ja wahrscheinlich ins Brot und ins Getreide kommt, zumeist unnötig ist. Wir haben die Resolution des EU-Parlaments, die Genehmigung zunächst nur für sieben Jahre zu erteilen, begrüßt. Wichtig sind auch die strikten Beschränkungen bei der Vorernteanwendung und die Beachtung der Artenvielfalt. Aber diese Punkte wurden von der Kommission nicht aufgegriffen. Der einzige Aspekt, der aufgegriffen wurde, ist das Verbot von Tallowaminen; aber diese Beimischungen haben wir in Deutschland sowieso schon verboten. Im Kommissionsentwurf steht aber auch, dass die Zulassung jederzeit zurückzuziehen ist, falls wissenschaftlich nachgewiesen wird, dass es krebserregend ist, und daran wird weiter geforscht. Ich möchte an dieser Stelle darauf verweisen, dass wir dann, wenn sich das herausstellt, sofort handeln müssen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Mein Dank geht an die SPD-Ministerinnen und -Minister. Vizepräsident Johannes Singhammer: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höhn? Rita Hagl-Kehl (SPD): Wo ist sie? – Ach, da. Entschuldigung. Vizepräsident Johannes Singhammer: Und des Kollegen Ostendorff? – Wer möchte sich jetzt melden? – Die Kollegin Höhn, wenn Sie gestatten? Rita Hagl-Kehl (SPD): Ja. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kollegin, Sie haben jetzt sehr viele Forderungen aufgestellt, die zum Teil auch die SPD bei Glyphosat aufgestellt hat, so eine Einschränkung des Anwenderkreises. Wie wird sich aus Ihrer Sicht die Ministerin, die für Umweltpolitik zuständig ist und die heute noch einmal sehr deutlich die Position des UBA vertreten hat, die besagt, dass Glyphosat massiv der Artenvielfalt schadet, verhalten? Wie wird sich die Ministerin in der nächsten Woche gegenüber dem Landwirtschaftsminister durchsetzen? Was bedeutet dies eigentlich für die Abstimmung der Bundesregierung? Rita Hagl-Kehl (SPD): Dazu wäre ich jetzt gleich gekommen, danke, dass Sie das vorwegnehmen. Die Ministerin und die SPD-Minister im Allgemeinen haben sich dafür entschieden, dagegenzustimmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn die SPD-Minister dagegenstimmen, dann wird es wahrscheinlich, wenn der Landwirtschaftsminister und andere Minister der Koalition nicht einlenken, zu einer Enthaltung kommen, was eigentlich schade ist. Mir ist eine Enthaltung in Brüssel immer noch lieber als eine Zustimmung Deutschlands. (Beifall bei der SPD) Es wurde schon vorweggenommen: Ich wollte mich gerade bei unseren Ministerinnen und Ministern, allen voran natürlich bei Barbara Hendricks bedanken, die hier wirklich hart geblieben ist, (Beifall bei der SPD) und ich hoffe wirklich, dass Einsicht vielleicht noch bei unserem Landwirtschaftsminister aufkommt. Danke schön. Vizepräsident Johannes Singhammer: Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Pahlmann für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Wahlkampf naht, kann ich nur sagen. Heute gibt es mal wieder eine Abstimmung über die Zulassung von Glyphosat. Wenn man die Auflagen bei der Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln und deren Rückstände in Lebensmitteln betrachtet, so sind unsere Messmethoden mittlerweile so präzise geworden, dass man im Prinzip alles nachweisen kann. So hat zum Beispiel eine Prise Estragon so viel krebserregendes Potenzial wie der Rauch einer täglich konsumierten Zigarette. Es scheint eigentlich nur so von Giften in unseren Nahrungsmitteln zu wimmeln. Ich muss Ihnen aber sagen: Das stimmt nicht. Unsere Nahrungsmittel sind so sicher wie nie zuvor. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen endlich davon wegkommen, dass wir Messwerte mit Gefährdung gleichsetzen. Die gesetzlichen Grenzwerte haben Vorsorgecharakter und ein Erreichen keine unmittelbare toxische Wirkung. Ganz oben auf der Liste der Ernährungsrisiken stehen nicht die Rückstände in den Nahrungsmitteln, sondern der Umgang mit ebendiesen Nahrungsmitteln. Fehlende Kenntnis über Zubereitungsmethoden und mangelnde Küchenhygiene sind echte Risiken für die Gesundheit: (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Möhren im Klo!) Denken wir an Salmonellen, Mycotoxine, Krebsgefährdung durch übermäßig gebräuntes Grillgut, Bratkartoffeln, die beliebten Pommes Frites und Chips. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verharmlosung!) Unkenntnis beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln kann man hingegen den Landwirten nun wirklich nicht vorwerfen. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Einsatz im privaten Gartenbereich ist da deutlich kritischer zu sehen. Landwirte handeln nach guter fachlicher Praxis, sie sind gut ausgebildet im Umgang mit Pflanzenschutzmitteln und der dazugehörigen Technik und unterliegen einer strengen Überwachung. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Landwirten wirft niemand etwas vor!) Sie selbst unterstützen strenge Maßstäbe für Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, erwarten aber, dass diese Maßstäbe wissenschaftlich fundiert und nicht von unbegründeten Ängsten gesteuert festgelegt werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Was momentan am Beispiel der Zulassungsverlängerung bei Glyphosat geschieht, ist eine Missachtung von Wissenschaft und eine gezielte, emotional gesteuerte Verunsicherung der Bevölkerung. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich erinnere zuerst an den Fund von Glyphosat in der Muttermilch, erreicht durch eine nicht wissenschaftlich belegte Untersuchung eines Labors unter Anwendung von Tests, die sich nicht für fetthaltige Flüssigkeiten eignen. Die Überprüfung durch geeignete Methoden ergab, dass kein Glyphosat in Muttermilch nachweisbar ist. Tausende Mütter wurden aber verunsichert, und die beste Ernährungsmethode für Babys wurde unbegründet infrage gestellt. Ich kann nur sagen: Das, was da passiert ist, ist absolut unverantwortlich. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Frau Kollegin Pahlmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ebner? Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): Nein, ich denke, das führt zu nichts. Ich mache weiter. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Warum braucht die Landwirtschaft Glyphosat? (Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Herr Ostendorff, auch Ihnen lasse ich sie nicht zu. Vizepräsident Johannes Singhammer: Ich darf noch einmal nachfragen: Gestatten Sie die Zwischenfrage des Kollegen Ostendoff? Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): Nein, die gestatte ich auch nicht. Ich mache jetzt weiter. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Also: Warum braucht die Landwirtschaft Glyphosat? Der gesunde Ackerboden ist das höchste Gut, das die Bauern haben, und die pfluglose oder reduzierte Bodenbearbeitung ist ein wichtiger Beitrag zur nachhaltigen Landwirtschaft. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die Zuschauer flüchten schon!) Pflügen kann die Bodenfruchtbarkeit eben auf lange Sicht reduzieren, Frau Hagl-Kehl. Nehmen Sie das zur Kenntnis! (Beifall bei der CDU/CSU) Bodenorganismen leben in verschiedenen Bodentiefen und können durch das Umpflügen beeinträchtigt oder sogar zerstört werden. Zudem ist ein gelockerter Boden der Winderosion ausgesetzt und kann nach starken Regenfällen abgeschwemmt werden. Gleichzeitig wird beim Pflügen aber auch gespeicherter Kohlenstoff freigesetzt, der dann als klimarelevantes Kohlendioxid die Atmosphäre belastet. Wir sollen etwas für den Klimaschutz tun. Durch das pfluglose Anbauverfahren unter Zuhilfenahme von Glyphosat lässt sich der CO2-Ausstoß im Kulturpflanzenanbau halbieren. Auch das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dies alles wissen die Landwirte, und deshalb wägen sie ab, wann sie pflügen und in welchen Fällen sie mit Mulchverfahren arbeiten. Neben den Vorteilen für die Bodengesundheit und den Klimaschutz würden bei einem Verzicht auf Glyphosat auch massive Ernteausfälle durch die Konkurrenz von Unkräutern drohen. Der Wirkstoff steht somit auch für ein hohes Maß an Versorgungssicherheit und hilft, die Abhängigkeit von Importen zu begrenzen. Seien wir doch einmal ganz ehrlich: Die Anwendung von Glyphosat in Deutschland ist gar nicht das Problem. Das Problem liegt vielmehr in der ungebremsten Anwendung in genveränderten Kulturen in Nord- und Südamerika. Dort wird großflächig und zum Teil unter Einsatz von Flugzeugen gespritzt. Es werden Mengen ausgebracht, die auch ich für absolut bedenklich halte. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist doch ungefährlich, oder was jetzt? Ist das jetzt gefährlich oder ungefährlich? – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: TTIP, sage ich nur!) Es gibt zurzeit keine Alternative zu Glyphosat. Andere Mittel, die alternativ eingesetzt werden könnten, sind schlechter abbaubar und belasten die Böden und Gewässer weitaus mehr als Glyphosat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das heißt nicht, dass man nicht weiter kritisch Forschung betreiben, die Frage der begleitenden Netzmittel, also Zusatzstoffe, beantworten und Alternativen entwickeln muss. Aber bitte zurück zur Sachlich- und Fachlichkeit! Keine polemische, pseudowissenschaftliche Diskussion, (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die die Menschen nur beunruhigt und niemandem hilft! (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur leere Versprechungen machen! – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätten Sie von Anfang an machen sollen!) Die Bewertung des Wirkstoffs durch die zuständigen Behörden aller Mitgliedstaaten der EU und der EFSA ergab, dass der Wiedergenehmigung von Glyphosat keine wissenschaftlichen Gründe entgegenstehen. Liebe Kollegen und Kolleginnen von der SPD, ich habe absolut kein Verständnis für Ihre unklare Haltung in dieser Frage. (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD) Dem augenscheinlich öffentlichen Mainstream unreflektiert zu folgen, wird Ihre Umfrageergebnisse nicht in die Höhe treiben. Auch Ihre Umweltministerin hat zeitweise zugegeben, dass es keine wissenschaftlichen Gründe für die Verweigerung gibt, und auch die deutsche Forderung nach stärkerer Berücksichtigung der Artenvielfalt hat die EU-Kommission in den Entwurf aufgenommen. Wir haben hier im Haus die Verantwortung, fachliches und wissenschaftliches Wissen nach vorne zu stellen und nicht reißerischen Schlagzeilen in der Presse hinterherzulaufen. Ich bitte Sie um Zustimmung. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Frau Pahlmann, Sie waren doch im Ausschuss!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Der Kollege Ebner hat jetzt die Möglichkeit zu einer Kurzintervention. Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Werte Kollegin Pahlmann, Sie haben davon gesprochen, dass unsere Nahrungsmittel sicher seien und dass mit bestimmten Messmethoden alles messbar wäre. Diese Debatte haben wir ganz oft. Regelmäßig bleiben uns die Wissenschaftler und die Risikoprüfungs- und -bewertungsbehörden die Antwort darauf schuldig, wie wir mit Mehrfachrückständen verschiedener Wirkstoffe, die in mindestens der Hälfte der Lebensmittel vorkommen, in denen überhaupt Rückstände nachgewiesen werden, umzugehen haben. Dafür gibt es keine Risikobewertung und keine Grenzwerte. Deshalb können Sie nicht sagen, dass mit bestimmten Messmethoden alles messbar und dass alles ungefährlich wäre. Sie haben auch davon gesprochen, es würde um Wissenschaft versus Ideologie gehen; das hat auch der Kollege Färber so gesagt. Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, worum es eigentlich geht. Nur weil Sie und das BfR sich an die Herstellerwissenschaft klammern, werden die wissenschaftlichen Bewertungen der Internationalen Agentur für Krebsforschung mit ihren renommierten Expertinnen und Experten nicht plötzlich nicht wissenschaftlich. Das ist eine interessenungeleitete Wissenschaft. Wir fordern nichts anderes als die Berücksichtigung dieser wissenschaftlichen Sichtweise und die Einhaltung wesentlicher europäischer Grundsätze. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Grundsatz Nummer eins ist die Pflanzenschutzrichtlinie aus 2009, die nämlich eine Zulassung von Wirkstoffen, die krebsgefährlich oder gentoxisch sind, ausschließt. Grundsatz Nummer zwei ist das Vorsorgeprinzip. Das bitte ich Sie zu berücksichtigen. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Frau Kollegin Pahlmann, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu erwidern. Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): Das werde ich gern tun. – Herr Ebner, mögen Sie stehen bleiben? – Erst einmal müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass es durchaus Untersuchungen zu Mehrfachrückständen in den Pflanzenschutzmitteln gibt. Sie haben das BfR angesprochen. Das ist eine Behörde, die sogar auf Ihre Intervention hin eingerichtet wurde. Jetzt ziehen Sie alle Ergebnisse dieser Behörde in Zweifel. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Nicht alle!) Das ist für mich keine wissenschaftliche Arbeit. Sie verteufeln Lebensmittel. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: So ein Blödsinn! Nicht zugehört!) Sie schüren in der Bevölkerung eine Angst, die unbegründet ist. Ich habe ein Beispiel in meiner Rede nicht erwähnt, das mit dem Bier. Morgens stand es in der Presse; komisch, dass das genau an dem Tag war, als wieder einmal über Glyphosat diskutiert wurde. Es hieß, Rückstände von Glyphosat seien im Bier gefunden worden; das sei alles ganz furchtbar und schrecklich. Was war der Fakt? Man muss 1 000 Liter Bier am Tag und ein Leben lang trinken, um überhaupt etwas Messbares zu haben. Da gibt es Dinge mit viel schlimmeren Auswirkungen als dieses Beispiel. Nehmen Sie einfach einmal zur Kenntnis, dass Bewertungen dazu vorliegen und dass diese Aussagen belegen: Unsere Lebensmittel sind im europäischen Vergleich supersicher. Wir stehen ganz vorne. – Unsere Verbraucher werden durch Ihre Aussagen verunsichert. Das ist das Schlimmste, was Sie tun können. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist jetzt keine Ideologie, nicht?) Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für die SPD. (Beifall bei der SPD) Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gerne zur Sachlichkeit zurückkehren. Ich glaube, das ist bitter nötig. (Beifall bei der SPD) Herr Färber, Sie täuschen sich: Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen eben kein Glyphosat und keine Pestizide in ihren Lebensmitteln. Ich finde es richtig, dass wir uns damit heute auseinandersetzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Als die Meldung über Rückstände von Glyphosat im Bier Schlagzeilen machte, wurden die geäußerten Bedenken gerne mit dem Hinweis vom Tisch gefegt, ein Erwachsener müsse 1 000 Liter Bier trinken, um auf die Menge von Glyphosat zu kommen, die für seine Gesundheit schädlich sein könnte. Fakt ist aber, dass Glyphosat eben nicht nur im Bier zu finden ist, sondern auch in Obst, in Gemüse, in Brot, in Mehl, in Haferflocken. Kurz gesagt: In der gesamten Lebensmittelkette finden wir Glyphosat. (Zurufe von der CDU/CSU) Ich will es nicht als Normalität hinnehmen, dass Glyphosat im Urin von Kindern und Erwachsenen nachzuweisen ist, jedenfalls so lange nicht, bis eindeutig geklärt ist, ob der Wirkstoff nun tatsächlich ungefährlich ist oder eben doch krebserregend. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Vorsorgeprinzip ist ein hohes Gut. Wir tun gut daran, an diesem Prinzip festzuhalten; denn manche Schäden lassen sich auch mit noch so viel Geld nicht wieder gutmachen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Einzelhandel sieht sich inzwischen genötigt, selbst die Reißleine zu ziehen. Viele Baumärkte haben Pflanzenschutzmittel mit Glyphosat aus ihrem Sortiment genommen. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf unsere Initiative hin, Elvira!) Warum? Weil die Kunden verstanden haben, worauf es ankommt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gerade bei der Pflege von Gärten, öffentlichen Parkanlagen und Spielplätzen steht der Nutzen von Glyphosat in keinem Verhältnis zum potenziellen Risiko. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Die SPD, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sich mit Nachdruck für ein Verbot von Glyphosat für den privaten Gebrauch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und im kommunalen Bereich eingesetzt. Im Vorschlag der Kommission ist davon keine Rede. Deshalb freue ich mich sehr – auch meine Kollegin Rita Hagl-Kehl hat das schon formuliert –, dass sich heute die Bundesumweltministerin Barbara Hendricks dazu entschieden hat, der erneuten Zulassung nicht bedingungslos zuzustimmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wieso hat sie zuerst mit Ja gesagt?) Ohne verschärfte Auflagen, wie sie auch vom Europäischen Parlament gefordert wurden, ist eine Wiederzulassung unverantwortlich und widerspricht dem Vorsorgeprinzip. (Abg. Artur Auernhammer [CDU/CSU] und Abg. Ingrid Pahlmann [CDU/CSU] melden sich zu einer Zwischenfrage) – Nein, Herr Kollege Auernhammer, ich habe keine Lust auf eine Zwischenfrage. Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin, stopp. Es gibt zwei Wortmeldungen. Wollen Sie sie zulassen oder nicht? Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Nein. – Ich hoffe nun, dass die Nutzer und Hersteller die Zeichen der Zeit erkennen und die Enthaltung Deutschlands – noch besser wäre ein Nein – als deutliches Signal zu verstehen ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir müssen die Forschung nach Alternativen verstärken, um künftig auch ertragreiche Ernten ohne Glyphosat zu ermöglichen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Entschuldigen Sie, aber ich habe es wirklich akustisch nicht gehört, weil es so lebendig ist um diese Uhrzeit. Jetzt hat das Wort zur Geschäftsordnung die Kollegin Britta Haßelmann. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte hat eindrücklich gezeigt, dass es zwischen Union und SPD sowohl im Parlament als auch auf der Regierungsbank keine klare Haltung dazu gibt, wie die Entscheidung am 18./19. Mai in Brüssel getroffen wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deshalb ist unser Vorschlag, heute eine Sofortabstimmung zu unserem Antrag durchzuführen. Ich lese ihn kurz vor: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, aus Gründen des vorsorgenden Gesundheits- und Umweltschutzes eine erneute Genehmigung des Pestizidwirkstoffs Glyphosat zum jetzigen Zeitpunkt abzulehnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Warum wollen wir heute sofort darüber abstimmen? Weil am 18. bzw. 19. Mai der Ständige Ausschuss in Brüssel darüber entscheiden wird, ob es für Glyphosat eine Zulassungsverlängerung um sieben bis neun Jahre geben wird. Wir wollen, dass dieses Parlament der Bundesregierung deutlich macht, wie das Parlament dazu steht. Deshalb wollen wir heute ein klares Signal als Parlament aussenden, statt diese Entscheidung dem Kabinett zu überlassen. Denn wir sind das Parlament, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich kann einfach nicht verstehen, dass dieses Parlament so wenig Selbstbewusstsein hat, (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) dass Sie heute einen Vertagungsantrag stellen. (Ute Vogt [SPD]: Überweisungsantrag!) Der Antrag soll an die Ausschüsse überwiesen werden, um ihn dort klammheimlich zu versenken, damit nicht auffällt, dass es dazu keine Auffassung gibt. Meine Damen und Herren, haben Sie noch nicht gemerkt, dass die Entscheidung am 18. Mai getroffen wird? Vorher gibt es keine Ausschusssitzung mehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Heute ist der vorletzte Sitzungstag vor der Sitzung des Ständigen Ausschusses. Ihr Manöver ist völlig durchschaubar: Sie wollen den Antrag heute an den Ausschuss überweisen, um ihn dort zu versenken und sich als Fraktionen der SPD und der CDU/CSU nicht im Bundestag zu positionieren. Das wollen wir Ihnen nicht durchgehen lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Denn nach den Erklärungen, die Sie gerade abgegeben haben, kann sich jeder denken – wir können ja jetzt ein bisschen würfeln –, wie die Bundesregierung am 18. bzw. 19. Mai entscheiden wird. Herr Minister Schmidt will mit Ja stimmen. Frau Hendricks und die SPD-Ministerinnen und -Minister wollen, was wir gut finden, nicht zustimmen. Offen bleibt: Ist das eine Enthaltung oder eine Ablehnung? Egal, sie wollen nicht zustimmen. Was bedeutet das denn für das Kabinett? Am 18. Mai fährt ein Kabinettsmitglied nach Brüssel und wird seine Hand heben entweder für Ja oder für Nein oder für Enthaltung. (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist das halt!) Wir wissen nach der heutigen Debatte nicht, wie die Bundesregierung entscheiden wird. Das weiß niemand. Das bleibt im Verborgenen. Das ist nicht korrekt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Wollen Sie Demokratie oder Diktatur? Wo leben wir eigentlich?) Zeigen Sie gefälligst Flagge! Verhalten Sie sich doch, damit man damit umgehen kann. Wir sind hier doch nicht im Koalitionsausschuss. Sagen Sie uns heute: Wird das Thema im Kabinett noch einmal aufgerufen und dann darüber mit Mehrheit entschieden, ob mit Ja, Nein oder Enthaltung gestimmt wird, oder wie läuft das nun? Entscheidet am Ende die Kanzlerin? (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist gut!) Das alles bleibt heute unklar. Wir wissen nur, dass die SPD sagt: Wir wollen nicht zustimmen. – Das geht so nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Es ist doch gut!) Deshalb fordern wir heute, dass sich das Parlament klar ablehnend positioniert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Zurufe von der LINKEN: Bravo! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sind wir auf dem Jahrmarkt, oder was?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kollegin Haßelmann. – Das Wort ebenfalls zur Geschäftsordnung hat Christine Lambrecht für die SPD. (Beifall bei der SPD) Christine Lambrecht (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Kollegin Haßelmann, meistens bekomme ich, wenn ich hier stehe, den Vorwurf zu hören, dass wir irgendetwas im Schweinsgalopp durchjagten und dass wir uns nicht genug Zeit nehmen würden, um über die Themen ausreichend zu diskutieren. (Beifall bei der SPD) Heute werde ich aufgefordert: Jetzt, hier und sofort, heute und ohne Wenn und Aber! (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich!) Diesem Vorschlag, auch wenn er noch so engagiert vorgetragen wird, können wir nicht folgen. Wir wollen uns Zeit nehmen. Die Positionen sind klar und sind ausführlich ausgetauscht worden. Die SPD-Ministerinnen und -Minister können der Verlängerung so nicht zustimmen; das ist deutlich geworden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das ist auch richtig so, weil wir nicht wollen, dass etwas, bei dem wir nicht absehen können, welche Gesundheitsrisiken davon ausgehen, über Jahre hinweg verlängert wird. Das macht deutlich, dass wir Beratungsbedarf haben. Deswegen wird es an den Ausschuss überwiesen; dahin gehört es. So sieht es die Geschäftsordnung vor. (Beifall bei der SPD – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei einem Thema, das schon mehrfach rauf und runter debattiert wurde! Beratungsbedarf! Können Sie nicht lesen?) Das ist kein Trick, sondern es geht darum, in einer so wesentlichen Frage sachgerecht zu diskutieren, sich auszutauschen und dann eine klare Ansage an die Bundesregierung zu machen; denn diese muss sich verhalten und nicht das Parlament. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie nicht lesen? Wieso haben Sie Beratungsbedarf bei einem einzigen Satz?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen. – Herr Kauder, wollen Sie reden? (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, der Zirkus hier reicht!) – Herr Kauder will das Wort zur Geschäftsordnung genauso wenig wie die Linke. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an den Abg. Volker Kauder [CDU/CSU] gewandt: Stimmt die CDU der Sofortabstimmung zu?) Dann kommen wir zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8395. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Und sofort!) Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wir stimmen jetzt nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Deswegen frage ich: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Überweisung so beschlossen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Bankrotterklärung für das Parlament ist das! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Dann würde ich sofort austreten!) – Hören Sie einmal zu, Herr Kauder! Zuhören! Herr Kauder, ich rede mit Ihnen. Jetzt ist Ruhe, und ich sage, wie die Abstimmung ausgegangen ist. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn er sagt, das ist eine Bankrotterklärung für das Parlament!) Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Dagegen gestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen, die Linke und eine Kollegin von der CDU/CSU. Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 18/8395 nicht in der Sache ab. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Glanzleistung! Wahnsinn!) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b sowie Zusatzpunkt 6 auf: 15.   a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Birgit Wöllert, Hubertus Zdebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kohleausstieg einleiten – Strukturwandel sozial absichern Drucksache 18/8131 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Birgit Wöllert, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Fortsetzung der Braunkohlesanierung in den Ländern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nach dem Jahr 2017 Drucksache 18/8112 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annalena Baerbock, Stephan Kühn (Dresden), Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Braunkohlesanierung durch die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH fortsetzen Drucksache 18/8396 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte die Kollegen, Platz zu nehmen, damit die Rednerinnen und Redner in Ruhe debattieren können. Das gilt für alle Fraktionen. Ich gebe das Wort Eva Bulling-Schröter für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn am Wochenende viele Menschen in die Lausitz fahren, um gegen Braunkohle und die Abbaggerung der Dörfer zu demonstrieren, werden auch viele Bundestagsabgeordnete der Linken dabei sein. (Beifall bei der LINKEN – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch des Landtags?) – Ja. – Wir wollen die Menschen vor Ort unterstützen, die seit Jahren gegen das rücksichtslose Geschäft mit der Kohle, gegen Abbaggerung und gegen die unvorstellbare Verwüstung großer Landschaften angehen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wir werden auch als parlamentarische Beobachterinnen und Beobachter vor Ort sein. Wir protestieren am Wochenende in der Lausitz aber nicht gegen die Beschäftigten, die von der Kohle leben; (Zuruf von der CDU/CSU: Doch!) wir von der Linken wollen gerade, dass es für sie und für die Regionen eine geregelte Zukunft gibt. (Beifall bei der LINKEN) Das heißt aber, den Kohleausstieg einzuleiten, und zwar jetzt und schrittweise. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 2035 muss Schluss sein. Bis dahin brauchen wir einen festen, kalkulierbaren Fahrplan für den Ausstieg. Wir brauchen Verlässlichkeit, gerade für die Beschäftigten. (Beifall bei der LINKEN) Ich habe großes Verständnis für die Ängste vor Ort vor den Unsicherheiten, gerade weil der Osten seit einem Vierteljahrhundert von Strukturwandel geplagt ist, der nicht so verlaufen ist, wie wir von der Linken es uns gewünscht hätten und wie es im Übrigen auch versprochen wurde. Gerade deshalb müssen wir jetzt handeln und dürfen nicht abwarten. (Beifall bei der LINKEN) Ich war letzte Woche in Cottbus und habe zusammen mit meiner Kollegin Birgit Wöllert eine Veranstaltung zu den Schäden und Folgelasten des Braunkohleabbaus auch schon aus DDR-Zeiten abgehalten. Ich sage Ihnen: Das Erbe des Kohleabbaus ist verheerend und bedrohlich für Generationen nach uns. Dieses Erbe bezeugt aber auch, um welchen Preis hier spätestens nach der Wende jahrzehntelang Profite gemacht wurden. „Nach uns die Sintflut“, haben die Kohlekonzerne lange gesagt. Der Grundwasseranstieg muss bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag bewältigt werden, genauso wie die enormen Belastungen der Spree mit Sulfat und Verockerung durch Eiseneintrag. (Lachen des Abg. Ulrich Freese [SPD]) – Ich finde das überhaupt nicht lächerlich, muss ich sagen. Der Bund möchte sich hier der Verantwortung entziehen. (Thomas Jurk [SPD]: Es geht um Lasten vor 1990!) Ich sage Ihnen: Das dürfen wir nicht zulassen. (Beifall bei der LINKEN) Unser Antrag hierzu soll die Zukunft der Braunkohlesanierung ab 2018 sichern, und zwar so, wie es auch bislang der Fall war. Wir dürfen nicht zulassen, dass Schäubles schwarze Null die Existenz der Menschen in den Braunkohleregionen zum Spielball macht. Wenn wir über die Folgen des Kohleabbaus sprechen, muss ich Ihnen sagen, dass wir den Verkauf von Vattenfalls Braunkohlesparte an das tschechische Unternehmen EPH mit Skepsis beobachten. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach ja?) Unser Vorschlag ist ein Stresstest für alle Braunkohleunternehmen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stresstest? Ob die genug verbrennen können?) Denn wenn jemand auf ein Scheitern der Energiewende wettet, dann müssen wir dem schon einmal in die Bücher schauen dürfen. (Beifall bei der LINKEN – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach ja?) Anders als noch vor zehn Jahren ist heute vielen klar, dass es so mit der Kohle nicht weitergeht. Gerade für die Beschäftigten und die von der Kohle Abhängigen ist es wichtig, sofort mit dem Ausstieg zu beginnen, damit der Prozess nicht chaotisch abläuft. (Beifall bei der LINKEN) Das sagen alle, die solche Umbrüche bereits erlebt haben, im Osten wie im Westen. Ich denke, wir wollen jährlich 250 Millionen Euro für einen Fonds. Das ist bekannt; das kann man alles nachlesen. Wir wollen den Um- und Ausstieg aktiv und verlässlich gestalten. Statt blinder Haushaltssanierung brauchen wir eine intelligente Braunkohlesanierung. Jetzt vielleicht noch ein Satz zu den Grünen: Wir wissen, dass es in den Ländern ziemlich schwierig ist. – Da brauchen Sie nicht zu lachen. In Baden-Württemberg wurde jetzt beschlossen, den Kohleausstieg bis 2050 zu vollziehen. Ich sage Ihnen: Es ist schwierig. Wir sollten gemeinsam soziale Lösungen finden, dass das Ganze wesentlich schneller geht. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Frau Kollegin Bulling-Schröter. – Der nächste Redner: Dr. Klaus-Peter Schulze für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen von den Linken, ich hätte zumindest erwartet, wenn Sie hier als Erste reden dürfen und erwähnen, dass Sie am Wochenende in der Lausitz sind – wenn ich da wäre, würde ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen –, dass Sie sagen, dass „Ende Gelände“ dort nicht nur friedliche Proteste machen will, sondern am 4. April 2016 im Netz aufgerufen hat, die Autos der Mitarbeiter von Vattenfall abzufackeln bzw. zu ihnen nach Hause zu gehen. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Nein!) – Das können Sie nachlesen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich hätte erwartet, dass Sie sich ähnlich wie Axel Vogel, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag Brandenburg, klar dazu bekennen, dass man so etwas nicht machen kann. Diese Aussage hätte ich auch hier erwartet. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Schulze, erlauben Sie eine Bemerkung oder Zwischenfrage von Frau Bulling-Schröter? Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU): Ja. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Sie haben hier behauptet, dass ich im Netz aufgerufen hätte, – Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU): Das habe ich nicht gesagt. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ende Gelände!) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): – Reifen zu zerstechen. Ich möchte das dementieren. Ich möchte Sie wirklich fragen, woher Sie das haben, (Dagmar Ziegler [SPD]: Das hat er nicht gesagt!) wir hätten im Netz dazu aufgerufen und ich hätte das unterstützt. Ich muss Ihnen sagen: Ich halte nichts von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Natürlich distanziere ich mich gemeinsam mit meiner Fraktion davon. Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU): Dann haben Sie mich falsch verstanden. Ich habe gesagt: Ich hätte erwartet, dass man sich von diesem Aufruf, der am 4. April 2016 im Netz nachzulesen war, genauso distanziert, wie es Axel Vogel von den Grünen gemacht hat. (Zuruf von der LINKEN: Es ist kein Aufruf von „Ende Gelände“!) So habe ich das gemeint, und ich habe es nicht auf Sie als Person bezogen. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wer hat denn da aufgerufen? Haben Sie sich davon distanziert?) – Natürlich. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja, persönlich?) – Auch persönlich. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wenn Sie das nötig haben!) In Ihrer Vorlage geht es unter anderem darum, dass Sie mit dem Kohleausstieg einen anderen fossilen Energieträger als Ersatz anbieten. Es sollen zusätzliche Gaskraftwerke gebaut werden. Das wird gefordert, ohne zu sagen, dass ein Gaskraftwerk natürlich wesentlich höhere Kosten als ein Kohlekraftwerk hat. Gestern hat das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln festgestellt, dass die Mehrkosten in den nächsten 25 Jahren bis zum Jahr 2045 etwa 72 Milliarden Euro betragen werden. Wo kommt denn das Gas her? 90 Prozent importieren wir zurzeit. Wenn wir jetzt die Kapazitäten ausbauen, müssen etwa 25 Prozent mehr Gasimporte angestrengt werden. Diese Importe kommen mit Sicherheit nicht mehr aus Holland, weil die Gasreserven dort langsam dem Ende entgegengehen. Die Gasimporte werden aus Westsibirien kommen, und man wird möglicherweise im Schelfgebiet in Norwegen neue Felder erschließen müssen. Ich erinnere mich an Ihren Antrag von Mai 2015, in dem Sie schrieben: Wir wollen keine Bodenschätze mehr im Meer gewinnen. – Sie denken auch nicht an das, was passiert, wenn das Gas, über 5 000 oder 6 000 Kilometer mit 28 Verdichterstationen angetrieben, hier bei uns in Deutschland ankommt. Auch dann gibt es Emissionen. Ich bin der Auffassung – das habe ich hier bei Gelegenheit, ich glaube, schon vor einem Jahr, gesagt –: Wir sollten uns darum bemühen, alle fossilen Energieträger zu reduzieren und sie jetzt nicht nur auf einen zu subsumieren; denn auch die anderen Energieträger enthalten Kohlenstoff. Methan ist ein wesentlich schlimmerer Klimakiller als CO2. Aber es geht natürlich auch um die Menschen im Revier. Ich komme aus solch einem Revier, und dort sind in 25 Jahren mehr als 80 000 Industriearbeitsplätze weggefallen. Es sind viele Anstrengungen vom Bund, aber auch vom Land unternommen worden, dort neue Arbeitsplätze zu implementieren. Das gelang im Brandenburger Teil mit einer Papierfabrik, die 500 Arbeitsplätze bringt, und mit einem Windflügelhersteller in Lauchhammer, der auch noch einmal etwa 600 Arbeitsplätze vorhält. Das ist das, was neu an Industriearbeitsplätzen gekommen ist, und das muss man meiner Meinung nach alles mit berücksichtigen. Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist: Wie ist denn die Einkommensstruktur? Es wird ja immer gesagt, wir könnten zum Beispiel im Tourismusbereich Ersatz schaffen. In Brandenburg liegt das Durchschnittseinkommen im Tourismusbereich bei 16 000 Euro und das in der Kohle- und Energiewirtschaft bei 45 000 Euro. Mit einem Strukturwandelfonds, wie Sie ihn dort vorschlagen, ohne zu sagen, wie er letztlich finanziert werden soll, werden wir diesen Wandel, so denke ich, nicht schaffen. Wir müssen auch über andere Dinge nachdenken, zum Beispiel über eine Veränderung der Struktur der EU-Förderung oder über eine Investpauschale, die in den ersten zehn Jahren nach der politischen Wende dazu geführt hat, dass der eine oder andere Industriearbeitsplatz geschaffen wurde. Dann sind aus meiner Sicht der Netzausbau und die Speicher ganz wichtig. Solange wir nicht ausreichend Speicher haben, um die Dunkelflaute zu überbrücken, so lange können wir keinen gleichzeitigen Ausstieg aus der Kohleverstromung und aus der Atomverstromung machen. Der Atomenergieausstieg ist besiegelt, und Kohleenergie werden wir noch so lange brauchen, bis wir ausreichend Speicherkapazitäten haben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Schulze. – Die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Annalena Baerbock. Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland kann nicht Energiewendeland sein und Kohleland bleiben. Diese Tatsache – so schien es – hatten rund um die Klimakonferenz in Paris hier in Deutschland im Parlament alle verstanden. Der Verkauf der Kohlesparte von Vattenfall hat das noch einmal unterstrichen. Denn lange Zeit schien es so, als gäbe es gar keinen Käufer. Jetzt gibt es einen, und der kriegt auch noch Geld dafür, dass er die Kohlesparte übernimmt. (Ulrich Freese [SPD]: Nein!) – Doch, Herr Freese. (Ulrich Freese [SPD]: Dann haben Sie keine Ahnung von Unternehmen!) Die Tatsache, dass Deutschland nicht Energiewendeland sein und Kohleland bleiben kann, macht aber einigen – auch Ihnen, Herr Freese – offensichtlich so viel Angst, (Ulrich Freese [SPD]: Was?) dass Ihre Regierungsfraktion bzw. Ihre Regierung heute Abend nicht etwa darüber verhandelt, wie man im Lichte von Paris den Kohleausstieg einleiten kann, sondern wie man das Energiewendeland Deutschland kaputtmachen kann. Und das ist wirklich eine Schande, sehr verehrte Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie wollen den Windausbau halbieren, Sie wollen den Ausbau der Erneuerbaren auf 45 Prozent deckeln. Und wann? Im Jahr 2025. Wir erinnern uns noch einmal an die Verpflichtung von Paris. Da heißt es: Wir müssen heraus aus den Fossilen. Was bedeutet es denn, wenn wir den Ausbau der Erneuerbaren auf 45 Prozent deckeln? Das bedeutet, dass wir im Jahr 2025  55 Prozent Fossile im Netz haben. Und das ist Ihre Antwort auf Paris? Das kann einfach nicht sein, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielleicht ist deswegen die Bundeskanzlerin ja auch gar nicht erst nach New York gefahren, um diesen Vertrag zu unterschreiben; denn sie hätte ihn nämlich dann mit einer Pinocchio-Nase unterschreiben müssen. Stattdessen ist Frau Hendricks gefahren, und ich frage wirklich – ich sage das, auch wenn sie jetzt nicht anwesend ist, aber Sie, Herr Pronold, sind hier – Sie, Herr Pronold, wo ist der Aufschrei Ihres Hauses am heutigen Abend, wenn der Energiewende die Beine abgehackt werden können? Es kann nicht sein, dass Ihr Haus fordert, der Kohleausstieg müsse kommen – das steht in Ihrem Klimaplan –, und gleichzeitig sagen Sie am heutigen Tag nichts dazu. Das geht einfach nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deswegen ist der Antrag absolut richtig, den Kohleausstieg einzuleiten. Aber, liebe Eva Bulling-Schröter, wenn das hier schon so explizit angesprochen wird, was man denn in Brandenburg alles macht, und dann auch noch eine Veranstaltung zum Kohleausstieg in Cottbus macht, aber nichts zu dem Verkauf Vattenfall an EPH sagt – – (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Habe ich gemacht! – Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Das kam danach!) – Ach ja. Und die Landesregierung? Was hat die denn dazu gesagt? Warum gibt es denn dann keine Auflage, dass der neue Käufer keine neuen Tagebaue erschließen kann? Warum gibt es die nicht? Bei den Verlängerungen der Betriebsgenehmigungen könnte man das machen. – Gut, Sie kamen mit dem Beispiel Baden-Württemberg, aber wir reden hier über Braunkohle. Man sollte das also vielleicht mit NRW vergleichen. Da haben sich die Grünen und der Minister dafür eingesetzt, dass es nicht neue Tagebaue gibt, sondern eine Reduzierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Also, man kann auch als kleiner Koalitionspartner etwas erreichen; aber man muss den Mund aufmachen und darf nicht agieren wie Ihr Fraktionsvorsitzender im Brandenburger Landtag auf einen Antrag von uns hin, in dem wir gefordert haben, die Rückstellung für die Tagebausanierung, die wir brauchen – das haben Sie ja selber gesagt –, über § 56 des Bundesberggesetzes sicherzustellen. Wir wissen ja von den Atomrückstellungen, dass solche Rückstellungen nicht einfach irgendwo lagern und anwachsen. Zu unserem Antrag dazu sagte Ihr Fraktionsvorsitzender im Brandenburger Landtag, das sei nicht nötig; man gehe nicht davon aus, dass der neue Investor irgendwann pleitegeht, und deswegen brauche man hier gar nichts zu regeln. Das ist keine verantwortungsvolle Regierungspolitik. So ist es nun mal, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich erwähne das hier, weil dieser Punkt wahnsinnig wichtig wird, wenn wir über den zweiten Antrag reden, nämlich den zur Tagebausanierung. Diesen Antrag unterstützen wir. Da geht es darum, dass die Altlasten der DDR-Tagebaue gesichert werden müssen. Nach 2017 will das Finanzministerium kein Geld mehr bereitstellen; das Bundesumweltministerium, so hören wir, will es tun. Aber es macht doch nur Sinn, dass der Bund und der Steuerzahler für Altlasten zahlen, wenn man unterscheiden kann: Sind das Altlasten der DDR, oder sind das Braunkohleschäden der neuen Tagebaue? Das heißt, die Bedingung für eine solche Finanzierung muss sein, dass Sie sicherstellen, dass es keine neuen Tagebaue mehr gibt; denn sonst kommt es zu einer Vermischung, wie wir sie in Briesen haben. Da sagt jetzt nämlich die LMBV, also die öffentliche Hand: (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Antrag lesen!) Wir können hier leider keine Maßnahmen gegen die Verockerung der Spree finanzieren; das ist alles Schuld der aktiven Tagebaue von Vattenfall. – Vattenfall sagt: Das ist alles Schuld der DDR-Tagebaue. – Am Ende steht das Wasserwerk da, das demnächst eine Warnung herausgibt: Liebe Frankfurterinnen und Frankfurter, es tut uns leid; die Sulfatbelastung Ihres Trinkwassers ist so hoch, dass Sie es Säuglingen nicht mehr geben können. – Daher geht das nicht. Unser Antrag zur Finanzierung der Sanierung der Braunkohleschäden aus der DDR-Zeit beinhaltet die Forderungen: keine neuen Tagebaue und Sicherung der Rückstellung. – Vielleicht kommen wir in der Debatte hier noch zusammen. Das würde mich sehr freuen. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Lieber Herr Vaatz, machen Sie sich mal keine Gedanken. Hier wird mit der Redezeit sehr gerecht umgegangen. Ich kann Ihnen einige Ihrer Kollegen nennen, die deutlich überzogen haben. Keine Sorge! Wir passen schon auf, dass es gerecht zugeht. – So. Nächster Redner: Thomas Jurk von der SPD. (Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU) Vorsicht! Thomas Jurk (SPD): Muss ich jetzt vor Ihnen Angst haben? Frau Roth, also wirklich! Vizepräsidentin Claudia Roth: Nein, Herr Jurk. Thomas Jurk (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist kaum drei Wochen her, dass bekannt wurde, dass die Braunkohlesparte von Vattenfall wahrscheinlich an den tschechischen Energiekonzern EPH – zusammen mit einem Finanzinvestor namens PPF – gehen wird. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: In der Region hat damit eine Hängepartie von etwa zwei Jahren ein Ende gefunden. Die Menschen sind sehr unsicher. Sie sind von der Energiepolitik sicherlich auch nicht immer begeistert gewesen. Ich merke das bei Einwohnerversammlungen. Deshalb ist es wichtig, dass man mit dem anstehenden Verkauf und mit Blick auf den Erwerber Hoffnungen, Erwartungen und auch Forderungen verbindet; das tue ich übrigens. Wir müssen wissen, welche Absichten EPH verfolgt und was auf uns zukommt. Andererseits kennen wir EPH bereits aus dem mitteldeutschen Revier, von der MIBRAG. Insofern kann man sich da schon bestimmte Vorstellungen machen. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, geschlossen! – Gegenruf des Abg. Ulrich Freese [SPD]: Frau Baerbock, das habe ich Ihnen doch erklärt!) – Ich schaue da ganz genau hin. Ich mache das schon seit zweieinhalb Jahrzehnten, Frau Kollegin. Mit Blick auf das, was sich möglicherweise an Demonstrationen am Wochenende abspielen wird, bitte ich alle, die in die Lausitz kommen und dort nicht zu Hause sind, ganz herzlich: Gehen Sie einmal von Gehöft zu Gehöft. Reden Sie mit den Leuten. Sprechen Sie beispielsweise mit den 230 Einwohnern des Ortsteils Mühlrose der Gemeinde Trebendorf. Ich habe die vor acht Wochen gefragt, was ihr sehnlichstes Ziel ist. Sie wollen weg. Sie wollen ihren Heimatort verlassen. Das ist die Wahrheit. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil abgebaggert werden soll!) Und: Sie wollen Planungssicherheit. Ich verbinde mit der anstehenden Übertragung der Braunkohlesparte in der Lausitz die Hoffnung, dass die Menschen tatsächlich in die Orte umgesiedelt werden, die seit etwa zehn Jahren angepeilt sind; es gibt nämlich Umsiedlungsstandorte. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die wollen aber bleiben!) Was die Zukunft der Braunkohle anbetrifft, so erleben wir – das muss ich Ihnen ehrlich sagen – einen schmerzhaften Prozess, auch mit Blick auf Arbeitsplätze, natürlich. Wir haben das 1990 und in den Folgejahren erlebt, und wir nehmen heute zur Kenntnis, dass der Ausstiegspfad geebnet zu sein scheint. Wenn man in den Entwurf des Strommarktgesetzes schaut, dann stellt man fest, welche Kraftwerksblöcke sukzessive in die Sicherheitsbereitschaft überführt werden. Das heißt, wir kommen zum Braunkohleausstieg. Es ist aber dennoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir gerade auch für unser Energiesystem Versorgungssicherheit und Systemstabilität brauchen. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen kappen Sie den Wind?) Ich hielte es, Frau Kollegin Baerbock, weil Sie ja reinrufen, für einen Rückgriff auf das Sankt-Florians-Prinzip, wenn wir in den Zeiten, wo kein Wind weht und keine Sonne scheint – – (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah! Jetzt kommt die Nummer wieder! – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alte Leier! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die alte Leier! – Zurufe von der LINKEN): Och!) – Entschuldigung, aber es ist doch die Wahrheit. Das ist keine alte Leier. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!) Wollen Sie dann Strom aus Kernkraft aus Frankreich und Tschechien importieren oder Kohlestrom aus Polen? Das ist doch die Realität. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Sie rufen rein. Danke, dass Sie das bestätigen. Genau das ist Ihre Absicht, und das finde ich eine unredliche Politik, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Jurk, erlauben Sie eine Zwischenfrage? Thomas Jurk (SPD): Ich gestatte heute keine Zwischenfrage. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ha!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Gut. Thomas Jurk (SPD): Ich habe keine Angst vor der Debatte. Die kann ja im Ausschuss geführt werden. Ich kann ja gerne mit dazukommen. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist halt nicht öffentlich!) – Wir können auch öffentlich diskutieren. Wissen Sie, Sie können öffentlich mit den Menschen in der Region darüber reden, und dann können Sie die Meinung austauschen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ein Wort ist mir dennoch wichtig, weil Sie einen wichtigen Punkt angesprochen haben. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Können Sie mal zuhören? (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: He! Können Sie mal still sein? – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen reden wir ja dazwischen, weil wir Ihnen zuhören müssen!) Es geht um die Zukunft der Braunkohlesanierung in Ostdeutschland. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das war teuer, aber es war dringend notwendig – nach Bundesberggesetz und seit 1992 im Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern geregelt. Wir haben über 10 Milliarden Euro für dringend notwendige Zwecke eingesetzt. Mein herzlicher Wunsch ist – daran arbeiten wir in der Koalition –, dass die bewährte Partnerschaft zwischen Bund, ehemals Bergbautreibenden und noch aktiv Bergbautreibenden beibehalten wird, auch hinsichtlich alter und künftiger Finanzierungsschlüssel. Die Aufgabenstellung, die die Kolleginnen von der Opposition hier benannt haben, ist völlig richtig. Wir müssen die Verockerung und die Sulfatbelastung der Spree zur Kenntnis nehmen. Wir haben das Thema von Rutschungen und natürlich auch des Grundwasseranstieges. Wir haben sinnvolle Instrumente entwickelt. Da bitte ich ganz herzlich, dass wir das fortführen. Ich denke, das sind wir den Menschen in der Region schuldig, den Menschen übrigens, die bleiben und nicht bloß zu Pfingsten da sein werden. Manch andere, die heute kommen, werden wieder gehen. Da bitte ich ganz einfach: Sie sollen alle mit den Menschen sprechen und erfahren, wie die Situation in der Region ist. Ich wünsche Ihnen ein herzliches Glückauf! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kollege Jurk. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Baerbock – für eine Kurzintervention. Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Jurk. – Da Sie ja betont haben, wir sollen keine Ängste schüren, möchte ich auch Sie bitten, keine Ängste zu schüren. Jetzt kam ja wieder das Argument des Blackouts. Ist Ihnen bewusst, dass Deutschland Strom exportiert, dass wir abregeln müssen, weil wir zu viel Strom im Netz haben? Das heißt, die Debatte darüber, dass es zu wenig Strom gäbe, ist definitiv vorbei. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir ein Exportland von Strom sind? Meine zweite Frage ist: Wenn Sie sich so sorgen, dass wir zu wenig Strom in Deutschland erzeugen, wie stehen Sie dann dazu, dass die Bundesregierung die 4 Gigawatt Zubau pro Jahr bei der Windenergie halbieren will? Wie stehen Sie zu der Deckelung bei den erneuerbaren Energien, wenn Ihre Sorge ist, dass wir zu wenig Strom in Deutschland erzeugen würden? Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Jurk, Sie haben natürlich das Wort. Thomas Jurk (SPD): Sehr verehrte Frau Kollegin, die Sache mit dem Blackout ist ja nicht so dahergeredet. Sie sprechen davon, dass wir ein Exportland sind. Das sind wir nicht zu jeder Zeit. Wir müssen auch an die Zeiten denken, in denen wir das gerade nicht sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der zweite wichtige Punkt ist: Ich glaube, unter Rot-Grün hat die Erfolgsgeschichte des Ausbaus der erneuerbaren Energien begonnen. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und?) Wir sind mittlerweile bei einem Anteil von 33 Prozent. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass der Strompreis enorm angestiegen ist, auch ohne Berücksichtigung der Einspeisevergütung. Ich meine, das war ja auch der Sinn dieser Maßnahme (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er ist gesunken! – Bernd Westphal [SPD]: Zuhören müsst ihr schon! Dann kann er antworten! – Josef Göppel [CDU/CSU]: Seit drei Jahren fällt er! Herr Jurk, seit drei Jahren fällt er!) – Der Rohstrompreis fällt. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Jurk hat jetzt das Wort. Thomas Jurk (SPD): Aber dank EEG-Umlage, dank staatlicher Abgaben und Steuern steigt der Strompreis. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Deshalb müssen wir die Ausstiegsphase so gestalten, dass das alles noch bezahlbar bleibt, dass wir alle noch wettbewerbsfähig sind. Das müssten auch Sie verstehen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie subventionieren die Braunkohlefolgelasten!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Jetzt hat Michael Kretschmer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Michael Kretschmer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist erschreckend, wie Linkspartei und Grüne bei dieser Debatte volkswirtschaftliche Vernunft, Interesse der Menschen, Notwendigkeiten, die aus Technik und Naturwissenschaften kommen, unterbuttern und ihre eigene Ideologie über alles stellen. (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Erneuerbare-Energien-Gesetz verursacht derzeit Kosten von jährlich 24 Milliarden Euro, (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also halten Sie nichts vom Pariser Klimavertrag?) ein Wohlstandsverbrauch, der jedes Jahr auf dem Rücken der Verbraucher und der kleinen Leute ausgetragen wird. Jeder weiß, wenn wir jetzt aus der Braunkohle aussteigen, so wie es in den Anträgen steht, über die wir jetzt hier beraten, (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben ein ganz anderes Programm! Haben Sie das nicht gelesen?) wird diese Summe sofort auf 30 Milliarden Euro pro Jahr steigen und das für mindestens 20 Jahre, meine Damen und Herren. (Ulrich Freese [SPD]: 600 Milliarden Euro!) Das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln hat ausgerechnet: Der Ausstieg aus der Braunkohle kostet 70 Milliarden Euro. Ich glaube, diese Zahl reicht bei weitem nicht, sie wird doppelt so hoch sein. (Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage? Michael Kretschmer (CDU/CSU): Später. – Deswegen ist es eine Frage der Vernunft und der Redlichkeit, wenn wir über das Thema Braunkohle so reden, wie es gemäß Technik und Volkswirtschaft notwendig ist. Wir brauchen diesen heimischen Energieträger, damit die Energiekosten nicht durch die Decke gehen. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange denn?) Und wir brauchen den Ausbau der Erneuerbaren nur in dem Maße, wie der so produzierte Strom auch vom Verbraucher verbraucht werden kann. Diese Produktion auf Teufel komm raus muss endlich ein Ende haben, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auf die Frage, wie es sich auf die Menschen in der Lausitz und im mitteldeutschen Revier auswirkt, muss man ganz klar sagen: Die Leute in Trebendorf, in Schleife, in Rohne wollen als allerletztes diesen Demotourismus, der für dieses Wochenende angekündigt worden ist. (Zuruf von der LINKEN: Wir haben aber Versammlungsfreiheit!) Jeder, der dort hinfährt und sagt: „Wir beobachten das“, der soll ganz genau beobachten, ob diejenigen, die kommen, sich anständig verhalten, ob sie sich an Recht und Gesetz halten oder ob sie Gewalt gegen Sachen und Menschen anwenden, so wie das häufiger bei solchen Demonstrationen der Fall ist. Wenn im Internet dazu aufgefordert wird – das kann man dort lesen –, gegen Vattenfall-Mitarbeiter vorzugehen, auch privat, ihre Autos anzugreifen, sich zu merken, wo die Leute wohnen, dann ist das nicht anständig. Wenn man sich in einem Antrag zu dieser Demonstration bekennt und sagt: „Da fahren wir hin“, dann ist es das Mindeste, dass man diesen Punkt ganz klar und dezidiert benennt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Jurk [SPD] – Zurufe von der LINKEN) Ich sage Ihnen deutlich: Diejenigen, die zu uns in die Lausitz kommen, um dort Menschen anzugreifen oder Dinge zu beschädigen, sollen sich auf einen längeren Aufenthalt in der Oberlausitz einrichten. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt übertrieben!) Die Letzten, die vor drei Wochen dort waren, sitzen noch jetzt in der Justizvollzugsanstalt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Ich finde das genau richtig. Bei uns wird mit aller Härte des Gesetzes gegen solche Kriminellen vorgegangen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das? Können Sie mir erklären, was Sie hier erzählen? – Zurufe von der LINKEN) In einem der vorliegenden Anträge geht es auch darum, die Braunkohlesanierung durch die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft, also LMBV, fortzusetzen. Es geht um die Frage: Wie geht man mit der zukünftigen Renaturierung und dem Strukturwandel um? Hier sind zwei Sachen ganz wichtig. Wer über Strukturwandel redet, dem muss die Größe der Aufgabe klar sein. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, jetzt auf einmal doch Strukturwandel! Eben wollten Sie noch die Kohle für immer!) Das steht in den Anträgen aber an keiner Stelle geschrieben. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, wir reden über die Tagebausanierung!) 700 Millionen Euro gibt Vattenfall jedes Jahr an Kaufkraft in die Lausitz. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Gewerbesteuer fordern sie gerade zurück, und zwar für die letzten zwei Jahre komischerweise!) Damit sind nicht die Zahlungen an die Mitarbeiter gemeint, die im Kraftwerk oder in der Grube arbeiten, sondern damit sind Aufträge in die Region gemeint. Wer Strukturwandel will, der muss einen Ersatz für 700 Millionen Euro Kaufkraft schaffen, (Zurufe der Abg. Birgit Wöllert [DIE LINKE] und Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) die jetzt beim Bäcker, beim Fleischer, in der Kfz-Werkstatt und anderswo ankommt. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie einmal mit der IHK!) Wenn wir wollen, dass diese Region wirklich eine Chance hat, dann geht es um 700 Millionen Euro pro Jahr. Es ist klar, wenn man diese Zahl nennt, dass das nicht von heute auf morgen geschieht, dass es mindestens 30, 40 Jahre braucht, (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, damit widersprechen Sie dem Pariser Klimavertrag! Stimmt!) wenn diese Region nicht vor die Hunde gehen soll. Deswegen ist unser Ziel eine Planungssicherheit für den Investor, aber vor allen Dingen für die Menschen in der Oberlausitz und in Brandenburg, (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, ja? Vier Jahre Planungssicherheit für die Beschäftigten!) damit sie sich auf diesen Strukturwandel einstellen können. Wir stehen dafür. Deswegen setzen wir uns dafür ein. Wir setzen uns auch für das sechste Verwaltungsabkommen für die Braunkohlerenaturierung ein. Die Verwüstung, von der hier die Rede war, meine Damen und Herren, ist in der DDR passiert, (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach Gott! Und jetzt gibt es keine Tagebaue mehr?) und zwar in einer unmöglichen Art und Weise. Die DDR hat Raubbau an der Natur betrieben, wie es nicht schlimmer sein könnte. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ist ja auch erst 26 Jahre her!) Das, was wir heute erleben, ist ein Landschaftsverbrauch, der anstrengend ist. Er ist, wenn man ihn sieht, auch nicht schön, aber er wird von den Menschen in der Region getragen, weil sie wissen, dass sie etwas für dieses Land leisten (Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und er notwendig ist, damit es in dieser Region auch wirtschaftlich weitergehen kann. Deswegen sage ich deutlich: Hören Sie auf, zu polarisieren! Stellen Sie sich den wirtschaftlichen, aber auch den ökologischen Notwendigkeiten, und betreiben Sie keine Politik im Wolkenkuckucksheim! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kretschmer, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage? Michael Kretschmer (CDU/CSU): Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Gut, keine Zwischenfrage mehr. – Danke schön, Herr Kollege Kretschmer. Letzter Redner in dieser lebendigen Debatte: Ulrich Freese für die SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ulrich Freese (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist für jemanden wie mich eine doch etwas schwer erträgliche Diskussion. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur für Sie! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für uns auch!) Seit 26 Jahren und 25 Tagen stecke ich mittendrin im Strukturwandel – im Strukturwandel der Bergbau- und Energiewirtschaft, der Glasindustrie, der Textilindustrie und der chemischen Industrie in Ostdeutschland. Wenn Sie einen Strukturwandel im Bergbau anmahnen, dann vergessen Sie, dass wir seit 26 Jahren Strukturwandel haben. 26 Jahre Strukturwandel! (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich kann Ihnen jeden einzelnen Tagebau nennen, der stillgelegt worden ist. Ich kann Ihnen jedes Kraftwerk nennen, das stillgelegt oder durch ein neues Kraftwerk ersetzt worden ist. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die kann ich im Ruhrgebiet auch nennen, die Zechen! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf des Abg. Thomas Jurk [SPD]: Zuhören!) Ich kann Ihnen 49 Brikettfabriken nennen. Ich kann Ihnen aber auch Zehntausende Menschen nennen, die ihre Arbeit verloren haben, die ihre berufliche Perspektive verloren haben und in der Region keine Zukunftsperspektive mehr finden konnten. 300 000 Bürgerinnen und Bürger haben wegen dieses Strukturwandels, der tiefe Strukturbrüche hinterlassen hat, die Lausitz verlassen müssen. Die Städte sind kleiner geworden, haben große Infrastrukturen, müssen zurückgebaut werden und können heute kaum geradeaus gucken und einigermaßen ordentlich überleben. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das ist in der Prignitz oder in der Uckermark auch so! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Glauben Sie, das lässt sich aufhalten?) Wir Sozialdemokraten stehen zu unserem Koalitionsvertrag. In diesem Koalitionsvertrag haben wir uns zu Versorgungssicherheit, Preisstabilität und Umweltverträglichkeit bekannt. Dementsprechend haben wir auch die Energiepfade geordnet und die Energieversorgung auf vernünftige Beine gestellt. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon sehe ich aber nichts!) Wir bekennen uns auch klar und deutlich zum Ausbau regenerativer Energien. Die Ziele sind klar: 2025 haben wir 40 bis 45 Prozent, 2035  50 bis 60 Prozent, 2050  80 Prozent regenerative Energien. Das heißt, dass wir nach und nach Kohle, Gas und Öl aus der Verstromung nehmen werden. (Beifall bei der SPD – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann fängt denn Ihr „nach und nach“ an?) Deswegen ist die Diskussion um einen Kohleausstieg, die Sie heute hier führen wollen, eine Phantomdiskussion; denn wir betreiben den Strukturwandel seit 26 Jahren. (Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Das stimmt so nicht! Sie wollen noch 100 Jahre Kohle haben!) Ich will einmal die Dimension aufzeigen, die hinter Ihrem Antrag steckt – wenn Sie, Frau Präsidentin, mir ein bisschen Zeit lassen. Vizepräsidentin Claudia Roth: 30 Sekunden. Ulrich Freese (SPD): Sie fordern, dass alle Kohlekraftwerke bis 2035 stillgelegt werden sollen. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!) Das heißt, 67 Standorte – 35 davon Standorte mit Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen – mit insgesamt 51 000 MW elektrischer Leistung und 14 000 MW thermischer Leistung wollen Sie stilllegen, und Sie wissen gar nicht, wie Sie dann Versorgungssicherheit, Preisstabilität usw. garantieren könnten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Abg. Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Sie würden in erheblichem Maße dazu beitragen, dass unsere Abhängigkeit von Rohstoffimporten zunimmt. Wir sind jetzt schon in hohem Maße von Importen abhängig – Steinkohle importieren wir zu 87 Prozent, Gas zu 90 Prozent, wir importieren Öl und Kernbrennstoffe. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir ja nicht mehr! Wir wollen Erneuerbare! Haben Sie das immer noch nicht begriffen?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Freese, erlauben Sie eine Zwischenfrage? Ulrich Freese (SPD): Herr Krischer, Sie haben ein Problem: (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, Sie! Sie haben ein Kohleproblem!) Sie sind ideologisch verklemmt und wollen nicht mit Menschen zusammenarbeiten, (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die rational und vernünftig den Industriestandort in eine neue Zukunft hineinführen wollen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Freese, damit lassen Sie also keine Zwischenfrage zu? Ulrich Freese (SPD): Nein, die Redezeit ist doch abgelaufen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Ich hätte aber eine Zwischenfrage zugelassen, wenn Sie es gewollt hätten. Sie wollten aber nicht. Gut. Also keine Zwischenfrage. Damit schließe ich jetzt diese Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/8131, 18/8112 und 18/8396 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Es gibt noch einen weiteren Tagesordnungspunkt, den ich aufrufe, wenn die Kolleginnen und Kollegen, die diesen Tagesordnungspunkt bestreiten, Platz genommen haben. – Gut. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Willy-Brandt-Korps für eine solidarische humanitäre Hilfe Drucksache 18/8390 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch, sehe auch keinen. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Rednerin Inge Höger für die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Inge Höger (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestern wurde die aktuelle Zahl der Binnenflüchtlinge veröffentlicht. Fast 41 Millionen Menschen – so viel wie noch nie – sind innerhalb des eigenen Landes auf der Flucht. Zusätzlich suchen 20 Millionen Menschen jenseits ihrer Landesgrenzen Zuflucht. Die weltweite humanitäre Notlage ist unübersehbar. Die Menschen fliehen vor Krieg, Armut und Hunger. Die Kriege und Bürgerkriege im Irak, in Syrien, im Jemen und in Afghanistan sind auch eine Konsequenz der Interventionspolitik, der Bündnispolitik und der Rüstungsexporte der Industrienationen. (Beifall bei der LINKEN) Auch der Klimawandel, das Produkt einer rücksichtslosen Industriepolitik der Wirtschaftsmächte – wir hatten ja gerade das Thema –, zwingt immer mehr Menschen zur Flucht vor Dürre und Fluten. Schon allein diese Tatsachen sollten rechtzeitige und umfassende Hilfe für die betroffenen Menschen zur Selbstverständlichkeit machen. (Beifall bei der LINKEN) Es ist deshalb gut, dass die humanitäre Hilfe nun Anlass eines Weltgipfels ist. Allerdings ist der Austragungsort Istanbul ein Problem. An der türkisch-syrischen Grenze wird auf fliehende Kinder geschossen, in den kurdischen Gebieten der Türkei herrscht Bürgerkrieg, und Kritikerinnen und Kritiker des türkischen Regierungskurses sind massiver Repression ausgesetzt. Ich kann mich deshalb nur aus vollem Herzen dem offenen Brief von Noam Chomsky und anderen anschließen. Sie fordern UN-Generalsekretär Ban Ki-moon auf, den Gipfel an einem anderen Austragungsort stattfinden zu lassen. Die Türkei ist unter den jetzigen politischen Bedingungen ein denkbar unpassender Gastgeber. (Beifall bei der LINKEN) Leider sieht es so aus, dass die Fragen von Hilfen für Menschen in Not in Istanbul nicht wirklich konsequent verfolgt werden. Das jedenfalls befürchtet die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Sie hat deshalb ihre Teilnahme abgesagt. Sie verweisen zu Recht darauf, dass humanitäre Hilfe unparteilich und unabhängig sein muss. Deswegen verbietet sich jegliche Instrumentalisierung. (Beifall bei der LINKEN) Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist die Beendigung zivil-militärischer Zusammenarbeit zum Schutz von Hilfe und Helfern. Deswegen schlägt die Linke vor, logistische Hilfe zukünftig nicht mehr durch die Bundeswehr, sondern durch eine unabhängige Instanz zu organisieren. Transportflugzeuge, Hubschrauber und Schiffe sowie Logistikzentren und weitere Infrastruktur sind notwendige Voraussetzungen, um in Katastrophengebieten schnell helfen zu können. Häufig stehen diese und andere Gerätschaften nur Militärs zur Verfügung. Das wollen wir ändern, (Beifall bei der LINKEN) und zwar durch die Aufstellung eines zivilen Willy-Brandt-Korps für internationale Katastrophenhilfe. Humanitäre Hilfe ist kein Almosen. Die Staaten, die sich in Istanbul treffen, haben internationale Konventionen unterzeichnet, die die Wahrung der Rechte von Flüchtlingen und die Gewährung von ausreichender humanitärer Hilfe zur Pflicht machen. Deswegen muss an dieser Stelle auch gesagt werden, dass die Deals zwischen der EU und der Türkei zur Abschottung gegen Flüchtlinge einen Verstoß gegen universelle Menschenrechte und das Völkerrecht darstellen. Der absolute Mangel an Menschlichkeit, der sich in diesen Deals zeigt, ist unerträglich. (Beifall bei der LINKEN) Auch die zahlreichen Angriffe auf Krankenhäuser und medizinisches Personal sind eine Verletzung fundamentaler Regeln des Völkerrechts. Im letzten Jahr wurden allein 75 Krankenhäuser bombardiert, die von Ärzte ohne Grenzen betrieben oder unterstützt wurden. Ob in Afghanistan, im Jemen oder in Syrien: Die Angreifer werden nicht ernsthaft aufgeklärt. Die internationale Fact-Finding-Kommission, die in solchen Fällen ermitteln soll, wird nur von der Schweiz unterstützt. Die Fraktion Die Linke hat in ihrem Antrag eine ganze Reihe von konkreten Maßnahmen aufgelistet, die dazu beitragen können, die humanitäre Hilfe deutlich zu stärken. Dazu gehört eine deutlich bessere finanzielle Ausstattung von internationalen Hilfsorganisationen wie dem Welternährungsprogramm ebenso wie die umfassende Unterstützung von lokalen Organisationen. Wir werden den Ausgang des Weltgipfels daran messen, ob konkrete Schritte zu einer wirklichen Verbesserung der humanitären Hilfe gemacht werden. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kollegin Höger. – Nächster Redner in der Debatte: Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Ute Finckh-Krämer [SPD]) Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede kurz die ersten Sätze des Antrags der Linken vorlesen: Der erste Humanitäre Weltgipfel ... – Sie haben gerade darauf hingewiesen, Frau Höger – im Mai 2016 in Istanbul findet vor dem Hintergrund großer Herausforderungen an die internationale humanitäre Hilfe statt. In den Jahren 2012 bis 2015 hat sich der Bedarf der humanitären Hilfe auf 20 Milliarden US-Dollar verdoppelt und auch die Anforderungen an die Ausgestaltung der humanitären Hilfe sind gewachsen. Es folgen dann einige Zahlen zum Thema Flucht. Sie als Fraktion heben damit ein Thema auf die Tagesordnung, das uns in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist, je länger wir uns damit beschäftigt haben. Unter unserem Ausschussvorsitzenden Michael Brand und unter Ermutigung des Kollegen Strässer, als er noch Menschenrechtsbeauftragter war, und unter Mithilfe der Grünen ist die humanitäre Hilfe im Ausschuss – das werden Sie sicher bestätigen – ein Stück weit aus ihrem Schattendasein herausgetreten und zum Schwerpunktthema geworden. Zwei Anhörungen in dieser Legislaturperiode mit hochrangigen Experten haben deutlich gezeigt, dass humanitäre Hilfe auch neu gedacht werden muss. Die Verantwortung der Weltgemeinschaft für die Beseitigung von Fluchtursachen mit einer entsprechenden finanziellen Ausstattung wurde betont. Auch wurde gefordert, das Ineinandergreifen unterschiedlicher Instrumente, etwa der humanitären Hilfe auf der einen und der Entwicklungszusammenarbeit auf der anderen Seite, zu stärken. Da haben wir noch eine Menge vor uns. In diesem Sinne wäre auch Ihr Antrag, der eine Reihe sinnvoller einzelner Forderungen enthält, durchaus begrüßenswert – Komma –, wenn, ja wenn da nicht diese Hidden Agenda wäre, wenn nicht jeder Ihrer Fäden letztlich durch das gleiche Nadelöhr geführt würde. So bleibt mir und meiner Fraktion bei allem guten Willen nichts anderes übrig, als Ihren Antrag abzulehnen. (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Erst einmal überweisen!) Wovon rede ich? Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Fraktion Die Linke im März dieses Jahres in diesem Haus gefordert hat, den 8. Mai in der Terminologie des verstorbenen Altbundespräsidenten Weizsäcker als „Tag der Befreiung“ zu einem gesetzlichen Gedenk- und Feiertag zu machen – das ist übrigens eine durchaus nachdenkenswerte Idee –, und die gleiche Fraktion nun in dem vorliegenden Antrag die Bundesregierung dazu auffordert – das steht gleich im ersten Punkt –, die internationale Verantwortung Deutschlands ausschließlich mit zivilen Mitteln wahrzunehmen. (Beifall bei der LINKEN – Inge Höger [DIE LINKE]: Gute Forderung!) Lassen wir das einen Moment wirken; ein Freund von mir würde sagen: auf der Festplatte zergehen lassen. Hier wird nicht gefordert, zuerst alle diplomatischen und zivilgesellschaftlichen Instrumente zu nutzen. Hier wird auch nicht betont, dass bundesdeutsche Institutionen, staatliche und nichtstaatliche, besser auszustatten sind. Nein, das kleine Adjektiv „ausschließlich“ besagt ganz deutlich: Die internationale Verantwortung der Bundesrepublik soll zukünftig ohne die Bundeswehr wahrgenommen werden; jedes militärische Eingreifen wird ausgeschlossen. (Beifall bei der LINKEN – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Sehr gut zitiert! Schön, dass Sie unseren Antrag gelesen haben!) Meine sehr geehrten Kollegen, bei Widersprüchlern helfen Argumente kaum. Wir feiern am 8. Mai einen militärischen Sieg der Alliierten über Nazideutschland, machen daraus möglicherweise sogar einen gesetzlichen Feiertag und verweigern zugleich den Menschen, die Opfer bewaffneter Rebellengruppen werden, unsere Hilfe? Wir verschließen unsere Augen vor ethnischen Säuberungen? Wir sollen zusehen, wenn Diktatoren ihren Nachbarstaaten den Krieg erklären? (Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Wollen Sie jetzt in jeden Krieg mit der Bundeswehr eingreifen? Was soll das denn jetzt?) Das ist meines Erachtens absurd, widersinnig und entbehrt jedes aufrichtigen politischen Willens, wirkliche Verantwortung menschenrechtlich und völkerrechtlich tragen zu wollen. (Beifall der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) So ist der eigentlich sehr charmante Gedanke eines humanitären Korps hinfällig; denn Ihnen geht es hier in erster Linie offensichtlich nicht um humanitäre Hilfe. Durch die Hintertür kommt es vielmehr, was ich vollkommen ablehne, zu einer unzulässigen Diskreditierung unserer Bundeswehr. Dafür steht meine Fraktion nicht zur Verfügung, auch ich selber nicht. Selbst die Namensanleihe bei Willy Brandt kann wohl nicht dafür sorgen, dass die SPD deshalb möglicherweise Ihren Antrag mit unterzeichnet. Im Gegenteil: Der Bundeswehr und ihren Soldatinnen und Soldaten, die unter sehr hohen persönlichen Risiken Verantwortung für unsere Sicherheit in Deutschland und die Friedenssicherung in der Welt übernehmen, gehört höchste Anerkennung. Wenn Sie nur einmal einen schnellen Blick – ich habe es heute getan – in das Onlinelexikon Wikipedia werfen, werden Sie im Zusammenhang mit dem Stichwort „Auslandseinsätze der Bundeswehr seit 1960“ immer wieder Begriffe wie Hilfeleistung, Erdbebenhilfe, Katastrophenhilfe, Versorgung und medizinische Betreuung, um nur einige zu nennen, finden. Bundeswehrsoldaten sind bei Missionen in Europa, Asien, Afrika, im Mittelmeer und am Horn von Afrika im Einsatz. Das geschieht stets im engen Schulterschluss mit den EU-Partnern, den Verbündeten der NATO und natürlich begründet durch Mandate der Vereinten Nationen. Gerade die Bundeswehr hat durch ihre gut ausgebildete Truppe und ihre logistischen Möglichkeiten einen entscheidenden Anteil an der humanitären Hilfe, die die Bundesrepublik international geleistet hat und immer wieder leistet, immer Hand in Hand mit Organisationen wie dem Technischen Hilfswerk und Partnern der Zivilgesellschaft. Ganz nebenbei: Auch im Inland ist unsere Truppe mehr als aktiv. Denken wir an die mehrmalige Hochwasserhilfe in den letzten Jahren und die logistische Hilfe bei der Unterbringung von Flüchtlingen. So bitter das ist, jeder politische Realist muss letztlich zugeben: Um die internationale Verantwortung wahrzunehmen, reichen zivile Mittel am Schluss alleine nicht aus. Natürlich muss gelten: Eine militärische Intervention kann nur und – das sage ich auch – muss immer die letzte Möglichkeit sein, die sogenannte Ultima Ratio politischen Handelns. (Inge Höger [DIE LINKE]: Es geht um humanitäre Hilfe, nicht logistische Unterstützung!) Jedes diplomatische Mittel muss ausgeschöpft werden, jeder Sanktionskatalog vollständig abgearbeitet sein. Erst dann kann und – noch einmal – muss dann auch eine militärische Option erwogen werden, und zwar gemeinsam mit den Partnern der Weltgemeinschaft. Die militärische Option gänzlich auszuschließen, kann zu Katastrophen führen. (Zurufe von der LINKEN) Die Geschichte hat uns das brutal vor Augen geführt. Denken wir an den Völkermord der Türken an den Armeniern 1915. Dazu gehört auch, dass wir im Rückblick beschämt feststellen müssen, dass wir als Deutschland zugeschaut haben. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Mit Unterstützung deutscher Offiziere!) Die Berichte von Augenzeugen wurden ignoriert. Das Massenmorden nahm seinen Lauf. Oder denken wir an die nähere Vergangenheit. 1994 in Ruanda: je nach Schätzung zwischen 500 000 und etwas mehr als 1 Million Opfer infolge des Völkermordes der Hutu an den Tutsi. In nur 100 Tagen vollzog sich einer der grausamsten Massenmorde der Weltgeschichte, und wir, die Weltgemeinschaft, haben zugeschaut. Das darf so nicht wieder passieren. Diese Erinnerungen und die uns Deutschen ureigene Erfahrung der Befreiung von der Nazidiktatur durch die Alliierten machen deutlich: Eine militärische Option ist als politische Ultima Ratio unabdingbar. Glauben Sie mir, ich spreche jetzt nicht als einer, der konservativer Parteiräson unterworfen ist. Ich sage das als jemand, der als junger Mann zu Zeiten des Kalten Krieges den Kriegsdienst verweigert hat. Ich sage als überzeugter Pazifist auch: Manchmal können am Ende nur die Waffen den Frieden sichern oder schaffen. Nicht von ungefähr war es die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder und Außenminister Fischer, die sich 1999 entschieden hat, sich erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik an einem Kriegseinsatz zu beteiligen, und zwar im Kosovo-Krieg. (Inge Höger [DIE LINKE]: War auch völkerrechtswidrig!) Wir konnten fünf Jahre nach Ruanda nicht erneut die Augen vor ethnischen Säuberungen – was für ein scheußlicher Begriff! – verschließen, noch dazu vor der eigenen Haustür. Ich nenne zwei weitere Beispiele für die Notwendigkeit solcher internationaler Missionen, an denen die Bundeswehr beteiligt war. Das erste Beispiel ist die KFOR-Mission, die sich zum Schutz der Bevölkerung im Kosovo und der im Land tätigen NGOs durch die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates an den Kosovo-Krieg anschloss. Zum Zweiten ist gerade der umstrittene – ja, ich nenne es so – Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zu würdigen. 13 Jahre lang hat ISAF, die International Security Assistance Force, ihren Beitrag zur Sicherheit in Afghanistan geleistet. (Inge Höger [DIE LINKE]: Da gibt es immer mehr Unsicherheit! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Geschichtsklitterung!) Zum Abschluss dazu vielleicht ein persönliches Erlebnis. Die AG Menschenrechte unserer Fraktion hat im Rahmen einer Klausurtagung afghanische Vertreter aus Politik und Zivilgesellschaft eingeladen. Ich werde die bewegenden Worte nicht vergessen, mit denen sich der Vorsitzende einer NGO bei uns bedankt hat. Sinngemäß sagte er Folgendes: Wir mussten erleben, dass Heckenschützen der Taliban unsere Mädchen von den Fahrrädern geschossen haben, wenn sie auf dem Weg zur Schule oder zum Frauenarzt waren. Seit die deutschen Schutztruppen für Sicherheit sorgen, können unsere Töchter ungehindert Bildungsangebote und Gesundheitsvorsorge wahrnehmen. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, ja! Nur dass es keine Betreiber von Krankenhäusern und Ähnliches in Afghanistan mehr gibt! Was ist denn mit „Ärzte ohne Grenzen“?) Damit komme ich zum Schluss. Lassen Sie mich zusammenfassen: Erstens. Humanitäre Hilfe muss stärker in den Fokus der internationalen Politik rücken – deshalb: prima Thema! – und neu gedacht werden. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Nein! Thema verfehlt!) Zweitens. Jedes Mittel der zivilen und politischen Verantwortung muss genutzt werden, bevor es zu einer militärischen Intervention kommt. Drittens. Dann aber, wenn die Ultima Ratio eintritt, ist die militärische Option eine politische Notwendigkeit. Jeder Versuch, die Bundeswehr direkt oder indirekt in Misskredit zu bringen, zeugt, wie wir finden und wie ich finde, von politischer Kurzsichtigkeit und Verantwortungslosigkeit. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kollege Heinrich. – Nächster Redner: Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen. Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag ist zutiefst unernst. Das sehen Sie zuallererst an dem Namen „Willy-Brandt-Korps“. Lafontaine hat einmal gesagt: „Ab heute gehört er uns.“ (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Da hatte er recht!) Sie wollen ihn für eine nationale Organisation der humanitären Hilfe reklamieren. Was hat er denn verbrochen, dass Sie seinen Namen nehmen wollen? (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Schafft England dann das Winston-Churchill-Korps, Frankreich das Charles-de-Gaulle-Korps und Spanien das Santiago-Carrillo-Korps? Und immer nationale Einheiten? Das ist doch das, was Ihr Antrag atmet. (Beifall des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Haben Sie eigentlich einmal die Familie von Willy Brandt gefragt? Haben Sie einmal Matthias Brandt bei Polizeiruf 110 angerufen? Da kriegen Sie wahrscheinlich zu hören: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ oder „Smoke on the Water“. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD) Das ist doch nicht Ihr Ernst. Sie sagen, Sie wollen eine deutsche zivile und humanitäre Dachstruktur. Eben haben Sie noch gesagt: eine unabhängige Instanz. Sie wollen das nationalisieren. Haben Sie einmal mit den Hilfsorganisationen geredet – machen Sie doch mal eine Anhörung – und sie gefragt, was sie dazu sagen, (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Haben wir schon!) wenn Sie plötzlich, während sich alle internationalisieren, eine deutsche Struktur schaffen wollen? Es gibt einen Hintergrund: Sie wollen die Bundeswehr abschaffen, Sie wollen die NATO abschaffen, Sie wollen keinerlei Peacekeeping Operations, Sie wollen die 100 000 Blauhelme, die vor Ort tätig sind, nicht. Sie wollen all das ohne deutsche Beteiligung. Alle sollen abgezogen werden. Aber durch Ihren ganzen Antrag weht ein Wind von Renationalisierung der humanitären Hilfe und nicht von kosmopolitischer Internationalisierung. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ja, das richtet sich an andere Länder; aber es soll gut deutsch sein. „Willy Brandt“ – ganz deutsch. Da kommen Sie nicht auf „Peace Brigades International“ oder irgend so etwas, (Zurufe von der LINKEN) sondern Sie wollen eine nationale Organisation; das sagen Sie auch immer wieder. Bei dieser Renationalisierung treffen Sie sich ja auch mit Rechtsaußen. Ich werde Ihnen das immer wieder vorhalten. Denn wenn Sie sich auf Lafontaine beziehen, sage ich Ihnen: Der hat solche Tendenzen auch immer wieder gehabt. Da treffen sich ganz links und ganz rechts. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) Da werden wir immer dagegen sein. Wenn es in Anträgen auch nur den Hauch dieser Stimmung gibt, werden wir immer dagegen sein. Das universalistische Konzept der humanitären Hilfe muss betont werden. Das ist der Inhalt der humanitären Hilfe, und daran müssen wir arbeiten. Genau daran arbeitet auch der Kongress in Istanbul; das ist das Thema. Übrigens werden wir am nächsten Freitag Gelegenheit haben, wieder darüber zu diskutieren, und nach dem internationalen Kongress auch. Dann können wir uns darüber austauschen. Aber tun Sie das doch dem armen Willy Brandt nicht an, dass er dafür herhalten muss, dass Sie ein Willy-Brandt-Korps haben wollen. Da kann ich nur sagen: Willy-Brandt-Korps – die Augen links! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Tom Koenigs. – Letzte Rednerin in der Debatte: Dr. Ute Finckh-Krämer für die SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne! Liebe Präsidentin! Der Antrag der Linken vermischt das schon fünf Jahre alte Projekt von Oskar Lafontaine, das Technische Hilfswerk neu zu erfinden, mit der aktuellen Diskussion über den weltweit dramatisch angestiegenen Bedarf an humanitärer Hilfe. Einen solchen Missbrauch seines Namens hat Willy Brandt nicht verdient; denn das Technische Hilfswerk verbindet auf vorbildliche Weise das Engagement im Katastrophenschutz im Inland mit verlässlicher technischer und logistischer Unterstützung humanitärer Hilfe im Ausland. Die Kapazitäten dafür wurden in den letzten Jahren ausgebaut. Das Technische Hilfswerk muss also nicht durch ein Konversionsprogramm „Soldaten zu humanitären Helfern“ und „Rüstungsgüter zu Katastrophenschutzgütern“ ersetzt werden. Bevor wir Soldaten zu humanitären Helfern umschulen und pannenanfällige Militärtechnik in Technik für humanitäre Hilfe umwidmen, sollten wir uns ansehen, welche Strukturen die humanitäre Hilfe in Deutschland derzeit hat. Humanitäre Hilfe – das ist zu Recht gesagt worden – ist den vier humanitären Prinzipien verpflichtet: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit. Das unterscheidet sie von der Entwicklungszusammenarbeit, die anhand politischer oder ökonomischer Kriterien parteilich sein darf und es oft auch ist. Organisationen, die in beiden Bereichen tätig sind, ordnen aus gutem Grund ihre Projekte möglichst eindeutig dem einen oder anderen Bereich zu. Was haben wir also aktuell für Strukturen in der humanitären Hilfe in Deutschland? Wir haben die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die größtenteils sowohl im Katastrophenschutz im Inland als auch in der internationalen humanitären Hilfe tätig sind. Sie sind oft zusätzlich Wohlfahrtsorganisationen wie die Johanniter, die Malteser, die Diakonie Katastrophenhilfe, Caritas International und der Arbeiter-Samariter-Bund. Wir haben die deutschen Sektionen zivilgesellschaftlicher Organisationen, die auf humanitäre Hilfe spezialisiert sind, wie Ärzte ohne Grenzen, die manchmal eine sehr eigene Sicht auf die Dinge haben, was gut und notwendig ist. Schließlich haben wir die deutschen oder internationalen Organisationen, die sowohl im Bereich der humanitären Hilfe als auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind. Diese drei Gruppen zusammengenommen sind größtenteils Mitglieder im Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe, VENRO. Dazu kommt das Deutsche Rote Kreuz als Teil der internationalen Rotes Kreuz/Roter Halbmond-Strukturen, die über das Internationale Komitee vom Roten Kreuz koordiniert werden. Das Rote Kreuz hat drei weitere Prinzipien, die auch wichtig sind: Freiwilligkeit, Einheit und Universalität. Die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk wird übrigens aus dem Etat des BMI finanziert, und sie erhält für ihre Auslandseinsätze Projektgelder vom Auswärtigen Amt oder aus internationalen Quellen. Das Technische Hilfswerk taucht bezeichnenderweise in dem Antrag nicht auf; denn sonst würde deutlich, was da für Dopplungen vorkommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schließlich gibt es – das sage ich der Vollständigkeit halber – noch Firmen und Organisationen, die auf humanitäres Minenräumen spezialisiert sind. Auch das ist keine Aufgabe, die die Bundeswehr oder andere Militärs in der Regel wahrnehmen. Ein Großteil all dieser Organisationen trifft sich mindestens viermal im Jahr zum Koordinierungsausschuss Humanitäre Hilfe, der vom Referat für Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt koordiniert wird. Der Koordinierungsausschuss arbeitet ausgesprochen effektiv, ergebnisorientiert und mit hoher fachlicher Kompetenz. Die Leitung teilen sich das Auswärtige Amt und ein Vertreter aus dem NGO-Bereich. Warum er durch ein neues Gemeinschaftswerk oder eine Kooperationsgesellschaft, was immer die Antragsteller darunter verstehen, ersetzt werden soll, erschließt sich mir nicht. Generell gilt: Hilfe von außen ist nur notwendig, wenn die eigenen Kapazitäten eines Landes zur Bewältigung einer Katastrophe oder zum Umgang mit einer sehr großen Anzahl von Flüchtlingen oder Binnenvertriebenen nicht ausreichen. Der Aufbau eigener Fähigkeiten und die Unterstützung von Vorsorgemaßnahmen in Gebieten, in denen zum Beispiel das Risiko schwerer Erdbeben, von Stürmen und Hochwasser etc. hoch ist, werden daher ein wichtiges Thema des Humanitären Weltgipfels sein. In Istanbul findet jetzt im Mai ein Humanitärer Weltgipfel statt, und im September findet in New York – und das wird im Antrag weder erwähnt noch diskutiert – ein Weltgipfel zum Thema Flüchtlinge statt. Deswegen können und müssen wir nicht alles, was sich mit dem Thema Flucht und Flüchtlinge befasst, in die Diskussion um den Humanitären Weltgipfel hineinpacken. Ein Stück weit wird das Argument, dass Istanbul ein sehr schlechter Ort ist, um über Flüchtlinge und den Umgang mit ihnen zu diskutieren, auch dadurch relativiert, dass der Flüchtlingsweltgipfel in New York stattfinden wird. Ich sehe auch keinen Grund dafür, die humanitäre Hilfe vollständig ins BMZ zu verlagern. Die Zuständigkeit für die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen und damit auch die Federführung für Geberkonferenzen oder Veranstaltungen wie den Humanitären Weltgipfel oder den Flüchtlingsgipfel liegt in jedem Fall beim Auswärtigen Amt. Die Zusammenarbeit auf Fachebene zwischen den Referaten, die im BMZ für die entwicklungsorientierte Übergangshilfe und die Entwicklungszusammenarbeit zuständig sind, und denen, die im Auswärtigen Amt für die humanitäre Hilfe Verantwortung tragen und die Mittel dafür verwalten, funktioniert nach Ansicht vieler Vertreterinnen und Vertreter der Hilfsorganisationen sehr gut. Aus gutem Grund wird von den Zuständigen daher von Verzahnung oder Komplementarität und nicht von einer „Zusammenlegung der Instrumente“ gesprochen, wie es der Antrag formuliert; (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) denn damit würde es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, die humanitären Prinzipien und die entwicklungspolitischen Ziele auseinanderzuhalten. Ich möchte mit einem Zitat aus der Süddeutschen Zeitung vom 7. Oktober 2011 schließen: „Als Pazifistin sehe ich das Willy-Brandt-Korps skeptisch“. Das habe nicht ich gesagt, das hat Katja Kipping gesagt, und dieser Einschätzung schließe ich mich voll an. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Finckh-Krämer. – Damit schließe ich die späte Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/8390 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung angelangt. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. Mai 2016, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen, und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend. (Schluss: 22.11 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bas, Bärbel SPD 12.05.2016 Ehrmann, Siegmund SPD 12.05.2016 Ferner, Elke SPD 12.05.2016 Freitag, Dagmar SPD 12.05.2016 Funk, Alexander CDU/CSU 12.05.2016 Grindel, Reinhard CDU/CSU 12.05.2016 Gysi, Dr. Gregor DIE LINKE 12.05.2016 Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 12.05.2016 Hintze, Peter CDU/CSU 12.05.2016 Kiesewetter, Roderich CDU/CSU 12.05.2016 Knoerig, Axel CDU/CSU 12.05.2016 Körber, Carsten CDU/CSU 12.05.2016 Lämmel, Andreas G. CDU/CSU 12.05.2016 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 12.05.2016 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12.05.2016 Pflugradt, Jeannine SPD 12.05.2016 Röspel, René SPD 12.05.2016 Schlecht, Michael DIE LINKE 12.05.2016 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 12.05.2016 Steinmeier, Dr. Frank-Walter SPD 12.05.2016 Strobl (Heilbronn), Thomas CDU/CSU 12.05.2016 Thissen, Dr. Karin SPD 12.05.2016 Thönnes, Franz SPD 12.05.2016 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12.05.2016 Veit, Rüdiger SPD 12.05.2016 Wicklein, Andrea SPD 12.05.2016 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulrike Bahr, Elvira Drobinski-Weiß, Michaela Engelmeier, Karin Evers-Meyer, Ulrich Freese, Martin Gerster, Gabriele Groneberg, Michael Groß, Gabriele Hiller-Ohm, Christina Jantz-Herrmann, Cansel Kiziltepe, Hiltrud Lotze, Hilde Mattheis, Bettina Müller, Ulli Nissen, Achim Post (Minden), Stefan Rebmann, Andreas Rimkus, Johann Saathoff, Dr. Hans-Joachim Schabedoth, Dr. Dorothee Schlegel, Ewald Schurer, Stefan Schwartze, Svenja Stadler, Kerstin Tack und Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (alle SPD) zu den Abstimmungen über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts (Tagesordnungspunkt 6 a) Angesichts der Erfahrungen aus der Praxis und der in Deutschland seit 2009 verbindlich geltenden UNBehindertenrechtskonvention ist es uns ein wichtiges Anliegen, das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) nach fast 14 Jahren weiterzuentwickeln, um die gleichberechtigte Teilhabe der rund zehn Millionen Menschen mit Behinderungen in Deutschland weiter voranzubringen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält diesbezüglich zahlreiche Verbesserungen für mehr Barrierefreiheit in der Bundesverwaltung. Durch die Gesetzesreform wird klargestellt, dass Behinderungen nicht per se einer Person anhaften, sondern oft erst durch Barrieren in der Umwelt entstehen. Wir begrüßen, dass das neue BGG somit vor allem darauf abzielt, bauliche und kommunikative Barrieren innerhalb der Bundesverwaltung zu beseitigen. Während bauliche Barrierefreiheit nach dem geltenden BGG nur bei Neubauprojekten hergestellt werden musste, sollen nun auch die Barrieren in Bestandsbauten angegangen werden, und es müssen verbindliche und überprüfbare Maßnahmen- und Zeitpläne zum Abbau von Barrieren erstellt werden. Durch das neue BGG wird eine Bundesfachstelle für Barrierefreiheit neu eingerichtet, die insbesondere die Verwaltung, aber auch die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft bei allen Fragen rund um den Abbau von Barrieren berät und unterstützt. Ein Meilenstein für die Inklusion und Selbstbestimmung zahlreicher Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in Deutschland ist aus unserer Sicht, dass das neue BGG einen eigenen Paragrafen zu „Verständlichkeit und leichter Sprache“ bekommen soll. Schriftliche Dokumente von Behörden werden demnach zukünftig bei Bedarf in leichter Sprache erläutert. Auch die besondere Situation einer Benachteiligung aus mehreren Gründen, wie beispielsweise Behinderung und Geschlecht, wird durch das neue BGG anerkannt, und die Versagung angemessener Vorkehrungen wird als Benachteiligungstatbestand ganz neu aufgenommen. Schließlich soll die Wirksamkeit des BGG durch eine neue, bei der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung angesiedelte Schlichtungsstelle erhöht werden. Menschen mit Behinderungen können ihre Rechte so niederschwellig und zunächst außergerichtlich einfordern. Ein Instrument, das die Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft fördern soll, sind Zielvereinbarungen nach § 5 des BGG. Damit werden anerkannte Verbände, die die Belange von Menschen mit Behinderungen fördern, darin unterstützt, mit Wirtschaftsunternehmen bzw. deren Verbänden privatrechtliche Vereinbarungen über die Herstellung von Barrierefreiheit zu treffen. Mit der anstehenden Novellierung des BGG wird das Instrument der Zielvereinbarungen weiter gestärkt, indem die neu eingerichtete Bundesfachstelle für Barrierefreiheit die Beteiligten in den Verhandlungen zukünftig unterstützen wird. Über diese freiwillige Selbstverpflichtung hinausgehend gibt es schon jetzt in vielen Rechtsbereichen auch für den privaten Sektor Regelungen zu Barrierefreiheit und Benachteiligungsschutz, beispielsweise im Bürgerlichen Gesetzbuch, im Verbraucherschutzrecht, im Arbeits(schutz)recht oder auch im Verkehrsbereich mit dem Personenbeförderungsgesetz oder dem Luftverkehrsgesetz. Eine besondere Bedeutung kommt außerdem dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu, mit dem Benachteiligungen aus Gründen einer Behinderung durch privatwirtschaftliche Akteure verhindert oder beseitigt werden sollen. Demgegenüber verpflichtet das BGG in erster Linie Träger der öffentlichen Gewalt. Trotz dieser bestehenden Regelungen und positiver Beispiele für barrierefreie Produkte und Dienstleistungen von Unternehmen machen die alltäglichen Erfahrungen vieler Menschen mit Behinderungen jedoch deutlich, dass Bedarf an verbindlicheren Regelungen für angemessene Vorkehrungen und die Herstellung von Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft besteht. Derzeit wird das AGG im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes evaluiert. Ziel der Evaluierung ist es, die praktische Wirksamkeit des AGG zu überprüfen und etwaige gesetzliche Umsetzungsdefizite sowie Schutz- und Regelungslücken aufzudecken. Dabei finden auch die Vorgaben der UNBehindertenrechtskonvention zur barrierefreien Zugänglichkeit aller Lebensbereiche für Menschen mit Behinderungen Berücksichtigung. Die Ergebnisse der Evaluierung und entsprechende Handlungsempfehlungen wurden für den Sommer dieses Jahres angekündigt. Vor dem Hintergrund dieses gegenwärtig laufenden Prozesses lehnen wir die Anträge der Grünen und der Linken ab. Eine Weiterentwicklung des AGG zum jetzigen Zeitpunkt und im Zuge der Weiterentwicklung des BGG halten wir für wenig zielführend. Aus unserer Sicht ist es geboten, die Ergebnisse der Evaluierung des AGG abzuwarten und die Frage verbindlicherer Regelungen für die Privatwirtschaft in eine anschließende Weiterentwicklung des AGG einfließen zu lassen. Anlage 3 Erklärungen nach § 31 GO zu den Abstimmungen über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts (Tagesordnungspunkt 6 a) Heike Baehrens (SPD): Angesichts der Erfahrungen aus der Praxis und der in Deutschland seit 2009 verbindlich geltenden UNBehindertenrechtskonvention ist es mir ein wichtiges Anliegen, das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) nach fast 14 Jahren weiterzuentwickeln, um die gleichberechtigte Teilhabe der rund zehn Millionen Menschen mit Behinderungen in Deutschland weiter voranzubringen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält diesbezüglich zahlreiche Verbesserungen für mehr Barrierefreiheit in der Bundesverwaltung. Durch die Gesetzesreform wird klargestellt, dass Behinderungen nicht per se einer Person anhaften, sondern oft erst durch Barrieren in der Umwelt entstehen. Ich begrüße, dass das neue BGG somit vor allem darauf abzielt, bauliche und kommunikative Barrieren innerhalb der Bundesverwaltung zu beseitigen. Während bauliche Barrierefreiheit nach dem geltenden BGG nur bei Neubauprojekten hergestellt werden musste, sollen nun auch die Barrieren in Bestandsbauten angegangen werden, und es müssen verbindliche und überprüfbare Maßnahmen- und Zeitpläne zum Abbau von Barrieren erstellt werden. Durch das neue BGG wird eine Bundesfachstelle für Barrierefreiheit neu eingerichtet, die insbesondere die Verwaltung, aber auch die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft bei allen Fragen rund um den Abbau von Barrieren berät und unterstützt. Ein Meilenstein für die Inklusion und Selbstbestimmung zahlreicher Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in Deutschland ist aus meiner Sicht, dass das neue BGG einen eigenen Paragrafen zu „Verständlichkeit und leichter Sprache“ bekommen soll. Schriftliche Dokumente von Behörden werden demnach zukünftig bei Bedarf in leichter Sprache erläutert. Auch die besondere Situation einer Benachteiligung aus mehreren Gründen, wie beispielsweise Behinderung und Geschlecht, wird durch das neue BGG anerkannt, und die Versagung angemessener Vorkehrungen wird als Benachteiligungstatbestand ganz neu aufgenommen. Schließlich soll die Wirksamkeit des BGG durch eine neue, bei der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung angesiedelte Schlichtungsstelle erhöht werden. Menschen mit Behinderungen können ihre Rechte so niederschwellig und zunächst außergerichtlich einfordern. Ein Instrument, das die Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft fördern soll, sind Zielvereinbarungen nach § 5 des BGG. Damit werden anerkannte Verbände, die die Belange von Menschen mit Behinderungen fördern, darin unterstützt, mit Wirtschaftsunternehmen bzw. deren Verbänden privatrechtliche Vereinbarungen über die Herstellung von Barrierefreiheit zu treffen. Mit der anstehenden Novellierung des BGG wird das Instrument der Zielvereinbarungen weiter gestärkt, indem die neu eingerichtete Bundesfachstelle für Barrierefreiheit die Beteiligten in den Verhandlungen zukünftig unterstützen wird. Über diese freiwillige Selbstverpflichtung hinausgehend gibt es schon jetzt in vielen Rechtsbereichen auch für den privaten Sektor Regelungen zu Barrierefreiheit und Benachteiligungsschutz, beispielsweise im Bürgerlichen Gesetzbuch, im Verbraucherschutzrecht, im Arbeits(schutz)recht oder auch im Verkehrsbereich mit dem Personenbeförderungsgesetz oder dem Luftverkehrsgesetz. Eine besondere Bedeutung kommt außerdem dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu, mit dem Benachteiligungen aus Gründen einer Behinderung durch privatwirtschaftliche Akteure verhindert oder beseitigt werden sollen. Demgegenüber verpflichtet das BGG in erster Linie Träger der öffentlichen Gewalt. Trotz dieser bestehenden Regelungen und positiver Beispiele für barrierefreie Produkte und Dienstleistungen von Unternehmen machen die alltäglichen Erfahrungen vieler Menschen mit Behinderungen jedoch deutlich, dass Bedarf an verbindlicheren Regelungen für angemessene Vorkehrungen und die Herstellung von Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft besteht. Derzeit wird das AGG im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes evaluiert. Ziel der Evaluierung ist es, die praktische Wirksamkeit des AGG zu überprüfen und etwaige gesetzliche Umsetzungsdefizite sowie Schutz- und Regelungslücken aufzudecken. Dabei finden auch die Vorgaben der UNBehindertenrechtskonvention zur barrierefreien Zugänglichkeit aller Lebensbereiche für Menschen mit Behinderungen Berücksichtigung. Die Ergebnisse der Evaluierung und entsprechende Handlungsempfehlungen wurden für den Sommer dieses Jahres angekündigt. Vor dem Hintergrund dieses gegenwärtig laufenden Prozesses lehne ich die Anträge der Grünen und der Linken ab. Aus meiner Sicht ist es geboten, die Ergebnisse der Evaluierung des AGG abzuwarten und die Frage verbindlicherer Regelungen für die Privatwirtschaft in eine anschließende Weiterentwicklung des AGG einfließen zu lassen. Dr. Matthias Bartke (SPD): Angesichts der Erfahrungen aus der Praxis und der in Deutschland seit 2009 verbindlich geltenden UNBehindertenrechtskonvention ist es mir ein wichtiges Anliegen, das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) nach fast 14 Jahren weiterzuentwickeln. So bringen wir die gleichberechtigte Teilhabe der rund zehn Millionen Menschen mit Behinderungen in Deutschland weiter voran. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält diesbezüglich zahlreiche Verbesserungen für mehr Barrierefreiheit in der Bundesverwaltung. Dazu gehört die Klarstellung, dass Behinderungen nicht per se einer Person anhaften, sondern oft erst durch Barrieren in der Umwelt entstehen. Ich begrüße, dass das neue BGG somit vor allem darauf abzielt, bauliche und kommunikative Barrieren innerhalb der Bundesverwaltung zu beseitigen. Zukünftig müssen auch die Barrieren in Bestandsbauten angegangen werden, und es müssen verbindliche und überprüfbare Maßnahmen- und Zeitpläne zum Abbau von Barrieren erstellt werden. Durch das neue BGG wird außerdem eine Bundesfachstelle für Barrierefreiheit neu eingerichtet. Schriftliche Dokumente von Behörden werden zukünftig bei Bedarf in leichter Sprache erläutert. Auch die besondere Situation einer Benachteiligung aus mehreren Gründen wird durch das neue BGG anerkannt, und die Versagung angemessener Vorkehrungen wird als Benachteiligungstatbestand ganz neu aufgenommen. Schließlich soll die Wirksamkeit des BGG durch eine neue Schlichtungsstelle erhöht werden. Mit der anstehenden Novellierung des BGG wird außerdem das Instrument der Zielvereinbarungen weiter gestärkt. Damit werden anerkannte Verbände darin unterstützt, mit Wirtschaftsunternehmen bzw. deren Verbänden privatrechtliche Vereinbarungen über die Herstellung von Barrierefreiheit zu treffen. Über diese freiwillige Selbstverpflichtung hinausgehend gibt es schon jetzt in vielen Rechtsbereichen auch für den privaten Sektor Regelungen zu Barrierefreiheit und Benachteiligungsschutz. Eine besondere Bedeutung kommt außerdem dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu, mit dem Benachteiligungen aus Gründen einer Behinderung durch privatwirtschaftliche Akteure verhindert oder beseitigt werden sollen. Demgegenüber verpflichtet das BGG in erster Linie Träger der öffentlichen Gewalt. Trotz dieser bestehenden Regelungen und positiver Beispiele für barrierefreie Produkte und Dienstleistungen von Unternehmen machen die alltäglichen Erfahrungen vieler Menschen mit Behinderungen jedoch deutlich, dass Bedarf an verbindlicheren Regelungen für angemessene Vorkehrungen und die Herstellung von Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft besteht. Derzeit wird das AGG im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes evaluiert. Ziel der Evaluierung ist es, die praktische Wirksamkeit des AGG zu überprüfen und etwaige gesetzliche Umsetzungsdefizite sowie Schutz- und Regelungslücken aufzudecken. Dabei finden auch die Vorgaben der UNBehindertenrechtskonvention zur barrierefreien Zugänglichkeit aller Lebensbereiche für Menschen mit Behinderungen Berücksichtigung. Die Ergebnisse der Evaluierung und entsprechende Handlungsempfehlungen wurden für den Sommer dieses Jahres angekündigt. Vor dem Hintergrund dieses gegenwärtig laufenden Prozesses lehne ich die Anträge der Grünen und der Linken ab. Eine Weiterentwicklung des AGG zum jetzigen Zeitpunkt und im Zuge der Weiterentwicklung des BGG halte ich für wenig zielführend. Aus meiner Sicht ist es geboten, die Ergebnisse der Evaluierung des AGG abzuwarten und die Frage verbindlicherer Regelungen für die Privatwirtschaft in eine anschließende Weiterentwicklung des AGG einfließen zu lassen. Marco Bülow (SPD): Angesichts der Erfahrungen aus der Praxis und der in Deutschland seit 2009 verbindlich geltenden UNBehindertenrechtskonvention ist es wichtig, dass das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) nach fast 14 Jahren weiterentwickelt wird, um die gleichberechtigte Teilhabe der rund zehn Millionen Menschen mit Behinderungen in Deutschland weiter voranzubringen. Mit diesem Gesetz gibt es einige Verbesserungen. Leider sind aber einige Punkte auch problematisch. Insgesamt hätte ich mir ein anderes Gesetz gewünscht. Es gibt gute Verbesserungen. So musste zum Beispiel bauliche Barrierefreiheit nach dem geltenden BGG bisher nur bei Neubauprojekten hergestellt werden. Erfreulicherweise sollen nun auch die Barrieren in Bestandsbauten angegangen werden, und es müssen verbindliche und überprüfbare Maßnahmen- und Zeitpläne zum Abbau von Barrieren erstellt werden. Durch das neue BGG wird eine Bundesfachstelle für Barrierefreiheit neu eingerichtet, die insbesondere die Verwaltung, aber auch die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft bei allen Fragen rund um den Abbau von Barrieren berät und unterstützt. Eine weitere gute Veränderung ist ein eigener Paragraf im BGG zu „Verständlichkeit und leichter Sprache“. Schriftliche Dokumente von Behörden werden demnach zukünftig bei Bedarf in leichter Sprache erläutert. Auch die besondere Situation einer Benachteiligung aus mehreren Gründen, wie beispielsweise Behinderung und Geschlecht, wird durch das neue BGG anerkannt, und die Versagung angemessener Vorkehrungen wird als Benachteiligungstatbestand ganz neu aufgenommen. Schließlich soll die Wirksamkeit des BGG durch eine neue, bei der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung angesiedelte Schlichtungsstelle erhöht werden. Menschen mit Behinderungen können ihre Rechte so niederschwellig und zunächst außergerichtlich einfordern. Trotz der nun erreichten Verbesserungen ist aber auch klar, dass Bedarf an verbindlicheren Regelungen für angemessene Vorkehrungen und die Herstellung von Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft besteht. Im Sommer wird es eine Evaluierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes geben. Dort finden auch die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention zur barrierefreien Zugänglichkeit aller Lebensbereiche für Menschen mit Behinderungen Berücksichtigung. Ich werde mich weiterhin für Änderungen einsetzen und diese in meiner Fraktion und bei der Bundesregierung deutlich machen. Die SPD hat sich für weitergehende Punkte eingesetzt. Ich kann die Opposition in ihrer Kritik gut verstehen. Ich werde mich deshalb weiter dafür starkmachen, dass die Regierung sich in diesen kritischen Punkten bewegt und dass wir mit der Union Nachbesserungen erreichen. Den Anträgen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen werde ich so jetzt nicht zustimmen. Wir sollten die Ergebnisse der Evaluierung des AGG abwarten und dann die Frage verbindlicherer Regelungen für die Privatwirtschaft in einer anschließenden Weiterentwicklung des AGG klären und im Sinne der Menschen mit Behinderung regeln. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Hubert Hüppe (CDU/CSU) zu den Abstimmungen über – den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts und – die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Behindertengleichstellungsrecht mutig weiterentwickeln (Tagesordnungspunkt 6 a und b) Ich werde mich sowohl bei der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Behindertengleichstellungsrecht mutig weiterentwickeln“ als auch bei der Gesamtabstimmung zum „Gesetz zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts“ enthalten. Den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen lehne ich nicht ab, weil er trotz mancher inhaltlicher Mängel in die richtige Richtung geht und grundsätzlich umfassende Teilhabe für Menschen mit Behinderung fordert. Menschen mit Behinderung und deren Interessenverbände sind nicht zu Unrecht von dem Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts enttäuscht. Sie hatten sich erhofft, dass zumindest Ansätze festgeschrieben werden, die über die Regelungen für die öffentliche Verwaltung hinausführen und die Verpflichtung privater Anbieter zur Gewährleistung von Barrierefreiheit festschreiben. Auch ich bin der Meinung, dass der Entwurf nicht weit genug geht. Ansätze aus der letzten Wahlperiode, die bereits in Einzelgesetzen umgesetzt wurden, hätten aufgegriffen und fortgeführt werden können. Beispiele hierfür sind die Festschreibung von Barrierefreiheit in Fernbussen oder auch die Filmförderung, die nur noch unter der Bedingung vergeben wird, dass die Filme mit barrierefreien Fassungen für seh- und hörbehinderte Menschen hergestellt werden. Aus diesen Gründen kann ich dem Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts nicht zustimmen. Da der Entwurf jedoch vorsieht, dass eine Bundesfachstelle für Barrierefreiheit errichtet wird, werde ich nicht dagegen stimmen. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Karamba Diaby, Ulrich Freese, Cansel Kiziltepe, Steffen-Claudio Lemme, Dr. Simone Raatz, Matthias Schmidt (Berlin), Swen Schulz (Spandau), Sonja Steffen und Stefan Zierke (alle SPD) zu der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Drohende Streckenstilllegungen verhindern – Regionalisierungsmittel erhöhen (Tagesordnungspunkt 8 b) Die Regionalisierungsmittel befähigen die Bundesländer, ein breites Angebot im Schienenpersonennahverkehr bereitzustellen. Seit der Bahnreform ist dieses Modell eine Erfolgsgeschichte. Durch gestiegene Trassen- und Stationspreise der Deutschen Bahn AG sind die finanziellen Anforderungen für die Bundesländer jedoch gestiegen. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir ausdrücklich das Einverständnis von Bund und Ländern, die Regionalisierungsmittel zu erhöhen, zu dynamisieren und gerecht zwischen den Ländern zu verteilen. Die Verkehrsministerkonferenz hat bereits im Oktober 2014 Einigkeit über einen Schlüssel erzielt, der auf der Basis von Einwohnerzahlen und Zugkilometern eine gerechte Verteilung der Regionalisierungsmittel zwischen allen Ländern gewährleistet. Zusätzlich wurde in dem Beschluss eine sogenannte Sperrklinke vereinbart, die jedem Land Zuwächse im Vergleich zu den zugesicherten Regionalisierungsmitteln aus dem Jahr 2014 garantieren sollte. Diesem Beschluss zugrunde lag die Annahme, dass der Bund die Regionalisierungsmittel im Jahr 2016 auf 8,5 Milliarden Euro erhöht und ab dem Jahr 2017 eine jährliche Steigerung um 2 Prozent zusichert. Der Beschluss des Vermittlungsausschusses vom Oktober 2015 zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes sieht einen deutlichen Aufwuchs der Mittel von circa 7,4 auf 8 Milliarden Euro im Jahr 2016 vor. Gleichzeitig ist eine jährliche Steigerung von 1,8 Prozent ab 2017 vorgesehen. Die Mittel sollen gemäß dem vereinbarten Schlüssel verteilt werden. Bei Beibehaltung des vereinbarten Schlüssels zur Verteilung dieser Mittel ohne die sogenannte Sperrklinke drohen den fünf ostdeutschen Flächenländern bis 2030 Mindereinnahmen von rund 3,5 Milliarden Euro, obwohl die Mittel auf Druck der SPDBundestagsfraktion insgesamt stark erhöht wurden. Die westdeutschen Länder könnten hingegen mit Mehreinnahmen von rund 14,4 Milliarden Euro rechnen. Dieser Zustand ist mit den Beschlüssen der Verkehrsministerkonferenz nicht zu vereinbaren. Mit ihrem Antrag würde die Fraktion Die Linke an diesem Missstand jedoch nichts ändern. Eine einseitige Belastung des Bundes würde die komplexen und weit fortgeschrittenen Verhandlungen zur Neuausrichtung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, deren Gegenstand auch die Regionalisierungsmittel sind, blockieren. Vielmehr fordern wir ein, dass es eine Einigung zwischen allen 16 Bundesländern geben muss. Es ist eine Frage der Solidarität, dass die gemeinsamen Beschlüsse, die bereits 2014 gefällt wurden, eingehalten werden. Kein Land darf weniger Regionalisierungsmittel erhalten, als nach dem Status quo von 2014 zu erwarten wären. Mindestens müssen die errechneten Mehrbedarfe der ostdeutschen Bundesländer gedeckt werden. Mit einer einstimmigen Position würden die Bundesländer ihre Verhandlungsposition gegenüber der Bundesregierung stärken. Es ist letztlich die Aufgabe der Bundeskanzlerin, des Finanzministers und des Bundesverkehrsministers, in diesem Konflikt zu vermitteln und zur Lösung beizutragen. Der bereits aus dem Bundesfinanzministerium vorgelegte Kompromissvorschlag war nicht zielführend. Deshalb lehnen wir den Antrag der Fraktion Die Linke ab. Anlage 6 Erklärungen nach § 31 GO zu der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Drohende Streckenstilllegungen verhindern – Regionalisierungsmittel erhöhen (Tagesordnungspunkt 8 b) Frank Junge (SPD): Die Regionalisierungsmittel befähigen die Bundesländer, ein breites Angebot im Schienenpersonennahverkehr bereitzustellen. Seit der Bahnreform ist dieses Modell eine Erfolgsgeschichte. Durch gestiegene Trassen- und Stationspreise der Deutschen Bahn AG sind die finanziellen Anforderungen für die Bundesländer jedoch gestiegen. Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich das Einverständnis von Bund und Ländern, die Regionalisierungsmittel zu erhöhen, zu dynamisieren und gerecht zwischen den Ländern zu verteilen. Die Verkehrsministerkonferenz hat bereits im Oktober 2014 Einigkeit über einen Schlüssel erzielt, der auf der Basis von Einwohnerzahlen und Zugkilometern eine gerechte Verteilung der Regionalisierungsmittel zwischen allen Ländern gewährleistet. Zusätzlich wurde in dem Beschluss eine sogenannte Sperrklinke vereinbart, die jedem Land Zuwächse im Vergleich zu den zugesicherten Regionalisierungsmitteln aus dem Jahr 2014 garantieren sollte. Diesem Beschluss zugrunde lag die Annahme, dass der Bund die Regionalisierungsmittel im Jahr 2016 auf 8,5 Milliarden Euro erhöht und ab dem Jahr 2017 eine jährliche Steigerung um 2 Prozent zusichert. Der Beschluss des Vermittlungsausschusses vom Oktober 2015 zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes sieht einen deutlichen Aufwuchs der Mittel von circa 7,4 auf 8 Milliarden Euro im Jahr 2016 vor. Gleichzeitig ist eine jährliche Steigerung von 1,8 Prozent ab 2017 vorgesehen. Die Mittel sollen gemäß dem vereinbarten Schlüssel verteilt werden. Bei Beibehaltung des vereinbarten Schlüssels zur Verteilung dieser Mittel ohne die sogenannte Sperrklinke drohen den fünf ostdeutschen Flächenländern bis 2030 Mindereinnahmen von rund 3,5 Milliarden Euro, obwohl die Mittel auf Druck der SPD-Bundestagsfraktion insgesamt stark erhöht wurden. Die westdeutschen Länder könnten hingegen mit Mehreinnahmen von rund 14,4 Milliarden Euro rechnen. Dieser Zustand ist mit den Beschlüssen der Verkehrsministerkonferenz nicht zu vereinbaren. Mit ihrem Antrag würde die Fraktion Die Linke an diesem Missstand jedoch nichts ändern. Eine einseitige Belastung des Bundes würde die komplexen und weit fortgeschrittenen Verhandlungen zur Neuausrichtung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, deren Gegenstand auch die Regionalisierungsmittel sind, blockieren. Vielmehr fordere ich ein, dass es eine Einigung zwischen allen 16 Bundesländern geben muss. Es ist eine Frage der Solidarität, dass die gemeinsamen Beschlüsse, die bereits 2014 gefällt wurden, eingehalten werden. Kein Land darf weniger Regionalisierungsmittel erhalten, als nach dem Status quo von 2014 zu erwarten wären. Mindestens müssen die errechneten Mehrbedarfe der ostdeutschen Bundesländer gedeckt werden. Mit einer einstimmigen Position würden die Bundesländer ihre Verhandlungsposition gegenüber der Bundesregierung stärken. Es ist letztlich die Aufgabe der Bundeskanzlerin, des Finanzministers und des Bundesverkehrsministers, in diesem Konflikt zu vermitteln und zur Lösung beizutragen. Der bereits aus dem Bundesfinanzministerium vorgelegte Kompromissvorschlag war nicht zielführend. Aus all den genannten Gründen kann ich dem Antrag der Fraktion Die Linke nicht zustimmen. Thomas Jurk (SPD): Die Regionalisierungsmittel ermöglichen den Bundesländern, ein bedarfsgerechtes Angebot an Leistungen im Schienenpersonennahverkehr bereitzustellen. Seit der Bahnreform hat sich dieses Modell bewährt. Unter anderem durch gestiegene Trassen- und Stationspreise der Deutschen Bahn AG sind die finanziellen Anforderungen für die Bundesländer jedoch gestiegen. Vor diesem Hintergrund begrüße ich es ausdrücklich, dass der Bund die Regionalisierungsmittel von 7,408 Milliarden Euro auf 8 Milliarden Euro erhöht hat und diese künftig höher als bisher – mit 1,8 Prozent jährlich – dynamisiert werden. Bis heute nicht geklärt ist jedoch die künftige Verteilung der Regionalisierungsmittel auf die einzelnen Länder. Zwar hatte sich die Verkehrsministerkonferenz im Oktober 2014 auf eine neue Verteilung der Regionalisierungsmittel geeinigt. Kernpunkt dieses Beschlusses war die Erhöhung der Regionalisierungsmittel auf 8,5 Milliarden Euro, eine auskömmliche Dynamisierung und ein neuer Verteilungsschlüssel, welcher auf der Basis von Einwohnerzahlen und Zugkilometern eine gerechte Verteilung der Regionalisierungsmittel zwischen allen Ländern gewährleisten sollte. Zusätzlich wurde eine sogenannte Sperrklinke vereinbart, die jedem Land jährliche Zuwächse in Höhe von 1,25 Prozent im Vergleich zu den Regionalisierungsmitteln des Jahres 2014 garantieren sollte. Dadurch sollte sichergestellt werden, dass alle (!) Länder auch dann auskömmliche Regionalisierungsmittel erhalten, wenn der Bund weniger als die von den Ländern geforderten 8,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen würde. Bei der Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder zur Asyl- und Flüchtlingspolitik am 24. September 2015 wurde dagegen vereinbart, die Regionalisierungsmittel im Jahr 2016 auf 8 Milliarden Euro zu erhöhen und mit einer jährlichen Rate von 1,8 Prozent zu dynamisieren. Zudem sollte der von der Verkehrsministerkonferenz beschlossene neue Verteilungsschlüssel angewendet werden. Die von der Verkehrsministerkonferenz als zwingende Grundlage des Verteilungsschlüssels bezeichnete 1,25prozentige Mindeststeigerung (Sperrklinke) war jedoch nicht Teil des Beschlusses vom 24. September 2015. Mit der Umsetzung dieses Beschlusses würden den Ländern bis 2030 gegenüber einer Fortschreibung des Status quo (das heißt 7,408 Milliarden Euro in 2015 und eine jährliche Dynamisierung von 1,5 Prozent) rund 11 Milliarden Euro Regionalisierungsmittel zusätzlich zur Verfügung stehen. Allerdings hätten die fünf ostdeutschen Flächenländer in diesem Zeitraum Mindereinnahmen von rund 3,5 Milliarden Euro (auf den Freistaat Sachsen entfallen dabei 893 Millionen Euro Mindereinnahmen), während die westdeutschen Länder und Berlin mit Mehreinnahmen von rund 14,4 Milliarden Euro rechnen könnten. Dies hätte in den ostdeutschen Flächenländern massive Leistungskürzungen und Streckenstilllegungen zur Folge. Bestehende Verkehrsverträge könnten nicht mehr erfüllt werden, und es droht der Abbau von mit öffentlichen Mitteln modernisierter SPNVInfrastruktur. Die von der Fraktion Die Linke vorgelegte Lösung geht ausschließlich zulasten des Bundes und ist deshalb nicht akzeptabel. Anders als in der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (Bundestagsdrucksache 18/8362) dargelegt, halte ich es im Interesse der ostdeutschen Flächenländer für notwendig, den Beschluss vom 24. September 2015 abzuändern. Ich fordere die Länder auf, sich umgehend auf einen neuen Verteilschlüssel zu einigen, der es allen Ländern ermöglicht, ein bedarfsgerechtes Nahverkehrsleistungsangebot anzubieten, beispielsweise durch die Anwendung der 1,25prozentigen Mindeststeigerung, wie ursprünglich vorgesehen. Bei der Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses werde ich mich deshalb enthalten. Detlef Müller (Chemnitz) (SPD): Die Regionalisierungsmittel befähigen die Bundesländer, ein breites Angebot im Schienenpersonennahverkehr bereitzustellen. Seit der Bahnreform ist dieses Modell eine Erfolgsgeschichte. Durch gestiegene Trassen- und Stationspreise der Deutschen Bahn AG sind die finanziellen Anforderungen für die Bundesländer jedoch gestiegen. Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich das Einverständnis von Bund und Ländern, die Regionalisierungsmittel zu erhöhen, zu dynamisieren und gerecht zwischen den Ländern zu verteilen. Die Verkehrsministerkonferenz hat bereits im Oktober 2014 Einigkeit über einen Schlüssel erzielt, der auf der Basis von Einwohnerzahlen und Zugkilometern eine gerechte Verteilung der Regionalisierungsmittel zwischen allen Ländern gewährleistet. Zusätzlich wurde in dem Beschluss eine sogenannte Sperrklinke vereinbart, die jedem Land Zuwächse im Vergleich zu den zugesicherten Regionalisierungsmitteln aus dem Jahr 2014 garantieren sollte. Diesem Beschluss zugrunde lag die Annahme, dass der Bund die Regionalisierungsmittel im Jahr 2016 auf 8,5 Milliarden Euro erhöht und ab dem Jahr 2017 eine jährliche Steigerung um 2 Prozent zusichert. Der Beschluss des Vermittlungsausschusses vom Oktober 2015 zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes sieht einen deutlichen Aufwuchs der Mittel von circa 7,4 auf 8 Milliarden Euro im Jahr 2016 vor. Gleichzeitig ist eine jährliche Steigerung von 1,8 Prozent ab 2017 vorgesehen. Die Mittel sollen gemäß dem vereinbarten Schlüssel verteilt werden. Bei Beibehaltung des vereinbarten Schlüssels zur Verteilung dieser Mittel ohne die sogenannte Sperrklinke drohen den fünf ostdeutschen Flächenländern bis 2030 Mindereinnahmen von rund 3,5 Milliarden Euro, obwohl die Mittel auf Druck der SPD-Bundestagsfraktion insgesamt stark erhöht wurden. Die westdeutschen Länder könnten hingegen mit Mehreinnahmen von rund 14,4 Milliarden Euro rechnen. Dieser Zustand ist mit den Beschlüssen der Verkehrsministerkonferenz nicht zu vereinbaren. Aufgrund der Mindereinnahmen sind in Sachsen Abbestellungen und qualitative Einschränkungen im Schienenpersonennahverkehr zu erwarten. Mit ihrem Antrag weist die Fraktion Die Linke auf diesen Missstand hin, würde jedoch substanziell daran nichts ändern. Eine einseitige Belastung des Bundes würde die komplexen und weit fortgeschrittenen Verhandlungen zur Neuausrichtung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, deren Gegenstand auch die Regionalisierungsmittel sind, blockieren. Vielmehr fordere ich ein, dass es eine Einigung zwischen allen 16 Bundesländern geben muss. Es ist eine Frage der Solidarität, dass die gemeinsamen Beschlüsse, die bereits 2014 gefällt wurden, eingehalten werden. Kein Land darf weniger Regionalisierungsmittel erhalten, als nach dem Status quo von 2014 zu erwarten wären. Mindestens müssen die errechneten Mehrbedarfe der ostdeutschen Bundesländer gedeckt werden. Mit einer einstimmigen Position könnten die Bundesländer ihre Verhandlungsposition gegenüber der Bundesregierung stärken. Es ist letztlich die Aufgabe der Bundeskanzlerin, des Finanzministers und des Bundesverkehrsministers, in diesem Konflikt zu vermitteln und zur Lösung beizutragen. Deshalb habe ich mich zu dem Antrag der Fraktion Die Linke enthalten. Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Die Regionalisierungsmittel befähigen die Bundesländer, ein breites Angebot im Schienenpersonennahverkehr bereitzustellen. Seit der Bahnreform ist dieses Modell eine Erfolgsgeschichte. Durch gestiegene Trassen- und Stationspreise der Deutschen Bahn AG sind die finanziellen Anforderungen für die Bundesländer jedoch gestiegen. Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich das Einverständnis von Bund und Ländern, die Regionalisierungsmittel zu erhöhen, zu dynamisieren und gerecht zwischen den Ländern zu verteilen. Die Verkehrsministerkonferenz hat bereits im Oktober 2014 Einigkeit über einen Schlüssel erzielt, der auf der Basis von Einwohnerzahlen und Zugkilometern eine gerechte Verteilung der Regionalisierungsmittel zwischen allen Ländern gewährleistet. Zusätzlich wurde in dem Beschluss eine sogenannte Sperrklinke vereinbart, die jedem Land Zuwächse im Vergleich zu den zugesicherten Regionalisierungsmitteln aus dem Jahr 2014 garantieren sollte. Diesem Beschluss zugrunde lag die Annahme, dass der Bund die Regionalisierungsmittel im Jahr 2016 auf 8,5 Milliarden Euro erhöht und ab dem Jahr 2017 eine jährliche Steigerung um 2 Prozent zusichert. Der Beschluss des Vermittlungsausschusses vom Oktober 2015 zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes sieht einen deutlichen Aufwuchs der Mittel von circa 7,4 auf 8 Milliarden Euro im Jahr 2016 vor. Gleichzeitig ist eine jährliche Steigerung von 1,8 Prozent ab 2017 vorgesehen. Die Mittel sollen gemäß dem vereinbarten Schlüssel verteilt werden. Bei Beibehaltung des vereinbarten Schlüssels zur Verteilung dieser Mittel ohne die sogenannte Sperrklinke drohen den fünf ostdeutschen Flächenländern bis 2030 Mindereinnahmen von rund 3,5 Milliarden Euro, obwohl die Mittel auf Druck der SPDBundestagsfraktion insgesamt stark erhöht wurden. Die westdeutschen Länder könnten hingegen mit Mehreinnahmen von rund 14,4 Milliarden Euro rechnen. Dieser Zustand ist mit den Beschlüssen der Verkehrsministerkonferenz nicht zu vereinbaren. Mit ihrem Antrag würde die Fraktion Die Linke an diesem Missstand jedoch nichts ändern. Eine einseitige Belastung des Bundes würde die komplexen und weit fortgeschrittenen Verhandlungen zur Neuausrichtung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, deren Gegenstand auch die Regionalisierungsmittel sind, blockieren. Vielmehr fordere ich ein, dass es eine Einigung zwischen allen 16 Bundesländern geben muss. Es ist eine Frage der Solidarität, dass die gemeinsamen Beschlüsse, die bereits 2014 gefällt wurden, eingehalten werden. Kein Land darf weniger Regionalisierungsmittel erhalten, als nach dem Status quo von 2014 zu erwarten wären. Mindestens müssen die errechneten Mehrbedarfe der ostdeutschen Bundesländer gedeckt werden. Es ist die Aufgabe der Bundeskanzlerin, des Finanzministers und des Bundesverkehrsministers, in diesem Konflikt zu vermitteln und zur Lösung beizutragen. Wohl wissend, dass die Probleme nicht gelöst sind, lehne ich aus den oben genannten Gründen den Antrag der Linken ab. Dagmar Ziegler (SPD): Die Regionalisierungsmittel befähigen die Bundesländer, ein breites Angebot im Schienenpersonennahverkehr bereitzustellen. Seit der Bahnreform ist dieses Modell eine Erfolgsgeschichte. Durch gestiegene Trassen- und Stationspreise der Deutschen Bahn AG sind die finanziellen Anforderungen für die Bundesländer jedoch gestiegen. Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich das Einverständnis von Bund und Ländern, die Regionalisierungsmittel zu erhöhen, zu dynamisieren und gerecht zwischen den Ländern zu verteilen. Die Verkehrsministerkonferenz hat bereits im Oktober 2014 Einigkeit über einen Schlüssel erzielt, der auf der Basis von Einwohnerzahlen und Zugkilometern eine gerechte Verteilung der Regionalisierungsmittel zwischen allen Ländern gewährleistet. Zusätzlich wurde in dem Beschluss eine sogenannte Sperrklinke vereinbart, die jedem Land Zuwächse im Vergleich zu den zugesicherten Regionalisierungsmitteln aus dem Jahr 2014 garantieren sollte. Diesem Beschluss zugrunde lag die Annahme, dass der Bund die Regionalisierungsmittel im Jahr 2016 auf 8,5 Milliarden Euro erhöht und ab dem Jahr 2017 eine jährliche Steigerung um 2 Prozent zusichert. Der Beschluss des Vermittlungsausschusses vom Oktober 2015 zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes sieht einen deutlichen Aufwuchs der Mittel von circa 7,4 auf 8 Milliarden Euro im Jahr 2016 vor. Gleichzeitig ist eine jährliche Steigerung von 1,8 Prozent ab 2017 vorgesehen. Die Mittel sollen gemäß dem vereinbarten Schlüssel verteilt werden. Bei Beibehaltung des vereinbarten Schlüssels zur Verteilung dieser Mittel ohne die sogenannte Sperrklinke drohen den fünf ostdeutschen Flächenländern bis 2030 Mindereinnahmen von rund 3,5 Milliarden Euro, obwohl die Mittel auf Druck der SPD-Bundestagsfraktion insgesamt stark erhöht wurden. Die westdeutschen Länder könnten hingegen mit Mehreinnahmen von rund 14,4 Milliarden Euro rechnen. Dieser Zustand ist mit den Beschlüssen der Verkehrsministerkonferenz nicht zu vereinbaren. Mit ihrem Antrag würde die Fraktion Die Linke an diesem Missstand jedoch nichts ändern. Eine einseitige Belastung des Bundes würde die komplexen und weit fortgeschrittenen Verhandlungen zur Neuausrichtung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, deren Gegenstand auch die Regionalisierungsmittel sind, blockieren. Vielmehr fordere ich ein, dass es eine Einigung zwischen allen 16 Bundesländern geben muss. Es ist eine Frage der Solidarität, dass die gemeinsamen Beschlüsse, die bereits 2014 gefällt wurden, eingehalten werden. Kein Land darf weniger Regionalisierungsmittel erhalten, als nach dem Status quo von 2014 zu erwarten wären. Mindestens müssen die errechneten Mehrbedarfe der ostdeutschen Bundesländer gedeckt werden. Mit einer einstimmigen Position würden die Bundesländer ihre Verhandlungsposition gegenüber der Bundesregierung stärken. Es ist letztlich die Aufgabe der Bundeskanzlerin, des Finanzministers und des Bundesverkehrsministers, in diesem Konflikt zu vermitteln und zur Lösung beizutragen. Der bereits aus dem Bundesfinanzministerium vorgelegte Kompromissvorschlag war nicht zielführend. Mit dieser Erklärung stimme ich der oben genannten Beschlussempfehlung zu. Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), Dr. Franziska Brantner, Ekin Deligöz, Dr. Thomas Gambke, Anja Hajduk, Dieter Janecek, Dr. Tobias Lindner, Omid Nouripour, Cem Özdemir, Brigitte Pothmer, Tabea Rößner, Kordula Schulz-Asche, Markus Tressel, Doris Wagner und Dr. Valerie Wilms (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten Operation EU NAVFOR Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008 und weiterer Resolutionen, zuletzt 2246 (2015) vom 10. November 2015 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009 und weiterer Beschlüsse, zuletzt dem Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November 2014 (Tagesordnungspunkt 13) Der Deutsche Bundestag befasst sich heute mit der Verlängerung des Mandats für den Bundeswehreinsatz im Rahmen der EUMission EUNAVFOR ATALANTA. Die Grüne Fraktion hat diesen Einsatz zur Bekämpfung des Piraterieproblems vor der Küste Somalias von Anfang an als notwendige Symptombekämpfung unterstützt, in dem Wissen, dass sich das Problem nur durch eine politische Stabilisierung Somalias wird lösen lassen. Vor allem für die Sicherung der humanitären Versorgung der somalischen Bevölkerung durch humanitäre Lieferungen mit Schiffen des Welternährungsprogramms war und ist ATALANTA ein wichtiger Garant. Im Jahr 2012 wurde das Mandat verändert und der Mission erlaubt, aus der Luft auch in einem Küstenstreifen zu operieren, der bis zu 2 km ins Landesinnere reicht. Viele Experten, auch aus dem Militär, äußerten damals gut begründete Skepsis gegenüber dieser Ausweitung. Sie sahen die Gefahr, dass dadurch der Konflikt eskaliert und die Mission ATALANTA in somalische Konflikte an Land hineingezogen werden könnte. Die Grüne Bundestagsfraktion hat sich daher in den letzten Jahren bei dieser Abstimmung mit großer Mehrheit enthalten – so auch wir. In den letzten vier Jahren gab es lediglich eine ATALANTA-Operation an Land. Gleichwohl bestünde bei einem erneuten Vorgehen dieser Art weiterhin ein Eskalationsrisiko. ATALANTA hat einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung der Pirateriegefahr geleistet. Diese Gefahr besteht latent aber weiterhin. Es erscheint daher schlüssig, die Operation vorerst fortzusetzen, aber an die veränderte Bedrohungslage anzupassen. In diesem Sinne verstehen und begrüßen wir die Ankündigung der Europäischen Union, den Zuschnitt von ATALANTA mit dem nächsten europäischen Mandat Ende des Jahres zu ändern. Gleichzeitig aber steht die Region am Horn von Afrika vor neuen Herausforderungen. Eine massive Dürre hat die Zahl der Menschen, die in Somalia humanitärer Hilfe bedürfen, auf fast 5 Millionen erhöht. Im Jemen, auf der anderen Seite des Golfs von Aden, sind die kriegerischen Auseinandersetzungen seit Anfang 2015 massiv eskaliert, rund 14 Millionen Menschen sind von humanitären Hilfslieferungen abhängig. Schiffe des ATALANTAVerbundes haben in den vergangenen Monaten auch Hilfslieferungen des Welternährungsprogramms in den Jemen in internationalen Gewässern geschützt. Wir müssen daher zwischen den schwerwiegenden Bedenken gegenüber den Risiken von Landoperationen und den vermehrten Herausforderungen am Horn von Afrika abwägen. Da die Landoption bislang wie oben beschrieben sehr zurückhaltend genutzt wurde, die Bundeswehr daran nicht beteiligt war und die humanitären Herausforderungen stark gewachsen sind, haben wir uns entschieden, dem Mandat wieder unsere Zustimmung zu erteilen. 1)  Anlagen 2 bis 4 2)  Ergebnis Seite 16765 C 3)  Anlagen 5 und 6 4)  Ergebnis Seite 16775 C 5)  Ergebnis Seite 16810 C 6)  Anlage 7 7)  Ergebnis Seite 16826 D --------------- ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 170. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 170. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2016 16699 Plenarprotokoll 18/170