Parlament

Rede von Bundestagspräsidente Prof. Dr. Norbert Lammert anlässlich der Jubiläumsveranstaltung der Räte im Bistum Essen in der Lichtburg Essen

Verehrter Herr Bischof,
sehr geehrte Weihbischöfe,
verehrte Vertreter des Öffentlichen Lebens,
meine Damen und Herren,

„Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, dass die Erde um die Sonne, sondern dass das Geld um die Erde läuft“. Dieser Satz des bekannten Philosophen Peter Sloterdijk aus einem Buch mit dem Titel „Im Weltinnenraum des Kapitals“ führt scheinbar mitten in das Thema „Was die Welt zusammen hält“ - und bei genauerem Hinsehen auch schon wieder heraus. Denn was immer um die Welt herum läuft, hält sie ganz offensichtlich nicht im Inneren zusammen.

Die Antwort auf die gestellte Frage ist mindestens aus zwei Gründen schwierig. Erstens, weil nicht klar ist, was die Welt ist, und zweitens, weil unklar ist, was sie zusammen hält. Wenn man die Welt versteht als ein technisch physikalisches Gebilde, dann sind es wohl die physikalischen Gesetze, die chemischen und biologischen Prozesse, die sie erhalten. Wenn man die Welt versteht als die Gemeinschaft der Menschen, die auf diesem Globus jeweils in Gesellschaften zusammen leben, dann sind es offenkundig nicht die Gesetzmäßigkeiten der Physik oder der Naturwissenschaften, mit denen sich der innere Zusammenhalt der Welt erklären oder sichern ließe. Uns interessiert heute ganz gewiss der zweite Aspekt weit mehr als der andere, die innere Verfassung der Welt unter Berücksichtigung der Menschen, die auf ihr leben. Und um die Schwierigkeiten zu verdeutlichen, auch diese Frage zu beantworten, möchte ich Ihnen ein anderes Zitat vortragen. „Die rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die sich alle einigen und dann das Ganze tragen könnten, gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig unerreichbar“. Wenn wir mehr Zeit hätten als wir noch haben, würde ich jetzt gerne Spekulationen entgegen nehmen, von wem dieses Zitat stammt. Es stammt von unserem heutigen Papst. Aus genau dem denkwürdigen, vorhin vom Bischof in seiner Eröffnungsansprache erwähnten Dialog zwischen den beiden großen Köpfen der zeitgenössischen Theologie und der modernen Philosophie Josef Ratzinger und Jürgen Habermas. Die rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die sich alle einigen und dann das Ganze tragen könnte, gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig unerreichbar.

Wenn wir uns mit dieser Auskunft hinreichend ernüchtert an den Versuch einer Annäherung auf eine mögliche Antwort an diese Frage machen, müssen wir uns zunächst mit der Welt beschäftigen, so wie sie gegenwärtig ist. Und das zentrale, dominierende Stichwort in diesem Zusammenhang ist vorhin in den Gesprächen mit den Vertretern der Räte als auch in den Grußworten zur Eröffnung bereits genannt worden: Globalisierung.

Wir leben in Zeiten der Globalisierung, und es ist ja schon aufschlussreich genug, dass es jedenfalls keinen zweiten Begriff gibt, auf den sich alle fast unabhängig von sonstigen Überzeugungen, Einschätzungen und Verunsicherungen so leicht zur Kennzeichnung der heutigen Lage verständigen können wie auf genau diesen Begriff. Den Allermeisten ist klar, dass dies jedenfalls bedeutet, wie es der Bischof heute Morgen formuliert hat, wir leben in Zeiten sich ständig weiter beschleunigender Veränderungen. Vieles, was lange für ausgeschlossen gehalten wurde, ist längst Realität geworden, und manches, was wir heute für den letzten Stand der Technik oder des Wissens halten, ist morgen schon wieder überholt, einschließlich der Frage, ob man diese Möglichkeiten nicht auch sofort und unverzüglich und mit Volldampf nutzen und in Anspruch nehmen sollte.

Gelegentlich gibt es zu dieser Debatte über Globalisierung den Hinweis, so neu sei das nun alles wiederum nicht: spätestens seit die Europäer sich aufgemacht haben, Indien zu entdecken und dabei versehentlich Amerika gefunden haben, jedenfalls festgestellt haben, dass es andere Kontinente gibt außer dem eigenen, gibt es ein Bewusstsein der Menschen über die Welt, die größer ist als die eigene Heimat, die eigene bekannte Umgebung? 

Und spätestens seit dieser Zeit, in Wahrheit viel länger, gibt es auch zunehmenden Handel zwischen Menschen auf ganz unterschiedlichen Kontinenten. Es gibt aber, meine Damen und Herren, mindestens zwei Aspekte, durch die sich die Welt heute von der Welt des Mittelalters oder noch weiter zurückliegenden Jahrhunderten nicht nur graduell, sondern wie ich glaube, prinzipiell unterscheidet, die insofern den Begriff Globalisierung nicht schlicht als Verlängerung einer bekannten Tatsache, sondern als Kennzeichnung einer neuen Epoche rechtfertigen.

Wir leben in einer Zeit, in der zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit uns die modernen technischen Möglichkeiten der Informationsvermittlung in die Lage versetzen, dass jede Information, die überhaupt vorhanden und verfügbar ist, an jedem Platz der Welt gleichzeitig verfügbar ist. Das hat es vorher nie gegeben. Dass es überhaupt andere Kontinente als Europa gibt, davon haben viele Zeitgenossen zu ihren Lebzeiten keine Kenntnis erhalten. Viele Informationen über andere Völker und deren Lebensgewohnheiten haben Jahre und Jahrzehnte gebraucht, bis sie den größeren Teil der Menschheit überhaupt erreichten. Heute ist eine Information, die es überhaupt gibt, prinzipiell an jedem Platz der Welt gleichzeitig verfügbar. Und zugleich setzen uns die modernen Möglichkeiten der Mobilität in die Lage, nahezu jeden Platz auf diesem Globus spätestens innerhalb von 24 Stunden zu erreichen. Diese beiden dramatischen Veränderungen der Verfassung der modernen Welt, Informationen und Mobilität, haben Globalisierung erst möglich gemacht. Und dadurch, dass Globalisierung möglich wurde, ist sie zugleich unvermeidlich geworden.

Man mag von der Globalisierung halten, was man will, man mag sie für eine Errungenschaft oder für eine Heimsuchung halten: sie findet statt. Also geht es ganz wesentlich um die Frage, wie gehen wir mit dieser Veränderung um, wenn sie denn unvermeidlich geworden ist. Ich will nicht nur, aber aus hinreichendem aktuellen Grund, auf eine der besonders dramatischen Veränderungen hinweisen, die sich überhaupt erst aus diesem Zusammenhang ergeben haben, und das ist die Entwicklung und der Zustand der internationalen Finanzmärkte.

Ich habe vorhin davon gesprochen, dass wir Handelsbeziehungen zwischen Ländern, auch zwischen entfernten Ländern, schon seit vielen Jahrhunderten haben und kennen, und natürlich ist uns allen bewusst, dass in unserer modernen Gegenwart sich diese Handelsbeziehungen vervielfacht haben. Es gehört wiederum zu den auffälligen, folgenreichen Konsequenzen der modernen Verfassung der Welt, dass der Handel schneller wächst als die Volkswirtschaft. Aber nichts ist in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren auch nur annähernd so schnell - geradezu explosionsartig - gewachsen wie die Entwicklung und Verbreitung und der Verkauf von Finanzprodukten. Ich will Ihnen einen Eindruck von den Größenordnungen geben. In den letzten gut 25 Jahren, also seit Beginn der 80er Jahre, hat sich das Volumen der täglichen Finanztransaktionen auf den Weltfinanzmärkten verfünfzigfacht. Der Umfang macht heute mehr als das 20-fache der täglichen Investitionen in Anlagekapital aus. Etwas vereinfacht und zugespitzt formuliert: von dem, was an wirtschaftlich messbaren und gemessenen und in die Sozialprodukte eingehenden Aktivitäten täglich stattfindet, ist 95 Prozent virtuell. Fünf Prozent ist real. Das ist das, was wir mit einem seltenen Anflug von Satire inzwischen „Realwirtschaft“ zu nennen begonnen haben.

Das, was auf den internationalen Finanzmärkten über die Jahre hinweg stattfindet, ist - wiederum etwas zugespitzt formuliert - nicht Wertschöpfung sondern Einbildung, die so lange zusammenhält, wie die Einbildung stabil bleibt. Möglich war diese Entwicklung überhaupt nur dadurch, dass mit Buchgeld, das es physisch gar nicht gibt, sondern nur als Phantasiegebilde, das man nicht transportieren muss, sondern nur über einen Computerbefehl von einem Markt in den anderen schickt, dass also diese finanziellen Phantasieprodukte in einigen Ländern mehr, in den anderen Ländern weniger ausgeprägten gesetzlichen Rahmenbedingungen unterliegen. Ein schönes Thema freilich nicht nur für Juristen. Unser Problem, einmal nur auf Deutschland bezogen, ist eher nicht, dass wir für Finanztransaktionen keine gesetzlichen Bestimmungen hätten. Der Finanzmarkt ist in Deutschland gesetzlich reguliert. Unser Problem ist, dass der mit Abstand größte Teil dessen, wovon ich hier rede, eben nicht mehr im nationalen Maßstab stattfindet, sondern auf internationalen Märkten, für die es gemeinsame, gesetzliche Regelungen bisher jedenfalls gar nicht oder nur unzureichend gibt. Entstanden ist diese Entwicklung auch deswegen, weil eine wachsende Zahl von Zeitgenossen davon überzeugt war, der Gipfelpunkt ökonomischer Effizienz, wenn nicht gar gesellschaftlichen Fortschritts, sei dann erreicht, wenn es möglichst keinen staatlichen Einfluss in gesellschaftliches und ökonomisches Handeln mehr gäbe - bis am Ende dieser Veranstaltung, die beinahe im größten ökonomischen Kollaps der Wirtschaftsgeschichte geendet hätte, sich alle beteiligten Banken wechselseitig ihr Misstrauen ausgesprochen haben. Das ist im Übrigen die größte Kapitulationserklärung, die es in der Wirtschaftsgeschichte der Menschheit je gegeben hat. Schließlich haben die Banken und Finanzinstitutionen die letzte mögliche Rettung vor der drohenden Katastrophe bei genau dem Staat gesucht, den sie mit Fleiß aus den eigenen Aktivitäten möglichst ganz raushalten wollten.

Zu diesem Thema ließe sich noch Vieles sagen, ich begnüge mich im Augenblick mit dem Hinweis, dass uns diese Beinahe-Katastrophe vielleicht und hoffentlich zu der nachhaltigen Einsicht verhilft, dass die Welt Regeln braucht. Dass der Zusammenhalt von Menschen, das gilt im Großen wie im Kleinen, ohne ein Mindestmaß von Regeln nicht stattfinden und schon gar nicht gelingen kann. Aber ich glaube, dass wir über diesen ganz unmittelbaren Anlass hinaus, über einige Zusammenhänge wieder nachzudenken haben, die eigentlich gar nicht ganz neu sind, aber für die Zukunft genauso wenig überholt wie für die Vergangenheit. Dazu gehört die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Demokratie und Markt, das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Ungleichheit in einer Gesellschaft, zwischen Ansprüchen und Erwartungen, zwischen individuellen Interessen und Gemeinwohl, alles Stichworte, die vorhin in der Diskussion schon eine Rolle gespielt haben. Herr Borgmann hat liebenswürdigerweise Oswald von Nell-Breuning zitiert, der bekanntlich kein Unternehmer war, auch kein Investmentbanker, sondern ein Theologe und Sozialphilosoph. Von ihm stammt der Hinweis, man solle diejenigen politischen und ökonomischen Systeme allen anderen Varianten von politischen und wirtschaftlichen Systemen vorziehen, die die geringsten Ansprüche an die individuelle Moral stellen. Darauf wären vermutlich auch zunächst einmal die Wenigsten gekommen, dass diese Empfehlung ausgerechnet von Nell-Breuning stammt. Diese auf den ersten Blick verblüffende Auskunft, die man auf den zweiten Blick für blanken Zynismus halten könnte, ist bei genauem Nachdenken sehr durchdacht. Ein System, ob in der Wirtschaft oder in der Politik, das nur dann funktioniert, wenn alle Beteiligten mit hohen moralischen Ansprüchen an ihr eigenes Verhalten und natürlich an das Verhalten anderer herangehen, weil es nur dann funktioniert, wenn sich alle moralisch verhalten, ein solches System funktioniert in der Regel überhaupt nicht. Denn es zahlt Prämien an diejenigen, die sich diesem erwarteten moralischen Verhalten nicht beugen und schlicht und ergreifend ihre eigenen Interessen verfolgen. Deswegen will ich auch ausdrücklich und gerade im Zusammenhang mit den vorhin angesprochenen aktuellen Fragen meine Zurückhaltung und Skepsis gegenüber jetzt wieder lautstark eingeforderten gesetzlichen Regelungen zu Protokoll geben. Eine Gesellschaft, die moralische Ansprüche kodifizieren muss, die in gesetzliche Verpflichtungen umsetzen muss, was sie an sozialem Verhalten von ihren Mitgliedern erwartet, hat die Schlacht schon verloren, die auf dem Feld der Gesetzgebung nicht zu gewinnen ist.

Vielleicht kann man diesen auch nicht ganz einfachen Zusammenhang wieder mit einem knappen Zitat unseres heutigen Papstes verdeutlichen, der lange vor der Übernahme seines Pontifikates in einem seiner vielen lesenswerten Aufsätzen geschrieben hat: „Eine Moral, die die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus. Also das Gegenteil.“ Aber gerade weil das so ist, haben wir jeden Anlass darüber zu denken, ob die Mindeststandards an ethisch orientiertem Verhalten, von denen vorhin im Zusammenhang mit Wirtschaft und Landwirtschaft und Arbeitnehmerrechten und technischen Entwicklungen in unserer Gesellschaft zu Recht die Rede war, die wir in unserer Gesellschaft voraussetzen müssen, bei ökonomischen wie bei politischen Entscheidungen wirklich so stabil sind, wie sie es sein müssen, um nicht nur die Funktionsfähigkeit, sondern die Glaubwürdigkeit dieser politischen und wirtschaftlichen Systeme sicher zu stellen. Deswegen will ich eine Bemerkung zu einem anderen der dringend behandlungsbedürftigen Zusammenhänge machen, nämlich dem Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Ungleichheit, eine der ebenso unvermeidlichen wie zentralen Herausforderungen gerade freiheitlicher Gesellschaften.

Für unsere Gesellschaft wie für andere gilt, dass sie den Gleichheitsgrundsatz als eines ihrer Verfassungsprinzipien normativ wie eine Flagge vor sich her trägt und gleichzeitig statistisch ein wachsendes Maß an Ungleichheit registriert. Das ist keine banale Situation. Und sie wird auch nicht dadurch unerheblich, dass wir nun mal in unserer Verfassung in ein und der gleichen Verfassung sowohl das Freiheitsprinzip und damit die Möglichkeit der Selbstentfaltung von Menschen garantieren als auch auf dem Gleichheitsgrundsatz bestehen. Die beiden Prinzipien stehen sich schon als solche kräftig wechselseitig im Wege und lassen sich offenkundig nicht gegeneinander aufwiegen. Wir müssen uns aber nicht nur, aber insbesondere in der Politik mit der Frage auseinandersetzen, welches Maß an Freiheit und welches Maß an Ungleichheit eine Gesellschaft zulässt und erträgt. Ich persönlich glaube übrigens nicht, dass es ein generelles Bedürfnis nach Gleichheit der Lebensverhältnisse gibt. Anders formuliert: Ich habe den Eindruck, dass die allermeisten Menschen mit der gerade erwähnten statistischen Ungleichheit der Lebensverhältnisse relativ gut zu Rande kommen. Ungleichheit ist im Übrigen eine der größten Vorzüge der Schöpfung. Die Menschheit befände sich in einer völlig anderen Verfassung und vermutlich nicht in einer besseren, wenn es Ungleichheit mit ihrer stimulierenden Wirkung nicht gäbe. Das Problem ist also nicht Ungleichheit im Prinzip. Ungleichheit wird aber immer dann ein Problem, wenn es keinen plausiblen Zusammenhang mehr gibt zwischen individueller Leistung und individuellem Einkommen oder Vermögen. Und da reden wir jetzt nicht über ein theoretisches Problem unserer Gesellschaft, sondern über ein praktisches. Wenn der Eindruck entsteht, dass selbst bei verweigerter Leistung oder bei nachgewiesenen Fehlleistungen die Bezahlung oder Abfindung besonders üppig ausfallen. Diese Strapazierung von Freiheit und Gleichheit hält auf Dauer keine Gesellschaft aus. Es treibt sie auseinander und hält sie eben nicht beieinander.

Frau Hannich hat dankenswerterweise daran erinnert, das Grundgesetz gilt auch in Zeiten der Globalisierung, jedenfalls bei uns. Und ich kann nicht erkennen, dass irgendeine der Verfassungsprinzipien wegen der stattgefundenen Veränderungen in Zeiten der Globalisierung seine Bedeutung verloren hätte. Auch nicht der Verfassungsgrundsatz der Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Und manchmal muss man offenkundig daran erinnern, dass Shareholder-Value nicht die englische Übersetzung von Gemeinwohl ist.

Was, meine Damen und Herren, hält denn nun die Welt zusammen? Das Geld offensichtlich nicht. Die Wirtschaft auch nicht. Und, das wird den einen oder anderen von Ihnen jetzt überraschen, die Politik auch nicht. Gesellschaften werden nicht durch Politik zusammengehalten, sondern durch Kultur. Kultur verstanden als das Mindestmaß an gemeinsamen Werten und Orientierungen und Überzeugungen, ohne dass eine konkrete Gesellschaft ihre Strukturen und ihre Regeln weder erklären oder erhalten kann. Ich glaube, dass diese Bemerkung für alle existierenden Gesellschaften zutrifft. Ich glaube mit anderen Worten, dass es keine einzige Gesellschaft auf unserem Globus gibt, die ohne ein Mindestmass an gemeinsamen Überzeugungen und Orientierungen ihren inneren Zusammenhalt erklären und schon gar erhalten kann. Das bedeutet übrigens nicht, dass es jeweils die gleichen Überzeugungen und Orientierungen sind. Ganz offenkundig haben wir in verschiedenen Teilen der Welt sehr unterschiedliche Verhältnisse. Und genau die hat unser Papst im Auge gehabt, als er darauf hingewiesen hat, dass eine allgemein gültige Weltformel als ethisches Postulat, das von allen akzeptiert würde, nicht vorhanden und auch gegenwärtig nicht erreichbar ist. Aber aus diesem richtigen Hinweis zu schlussfolgern, dass Werte, Orientierungen und Überzeugungen an Bedeutung verloren hätten, ist weder logisch noch politisch überzeugend. Ganz im Gegenteil, manches spricht dafür, dass der Bedarf an gemeinsamen Orientierungen und Überzeugungen in modernen Gesellschaften eher gewachsen ist.

Deswegen finde ich den regelmäßigen Hinweis vieler zeitgenössischer Publizisten und Soziologen auch nicht sehr überzeugend, dass in Zeiten der Globalisierung, die zugleich Zeiten der Säkularisierung seien, solche geistigen Zusammenhänge und schon gar religiöse Zusammenhänge hoffnungslos an Bedeutung verloren hätten. Ich halte das übrigens auch statistisch für widerlegt. Wenn wir uns die Zahlen ansehen, stellen wir fest, dass in der Welt, in der wir heute leben, sowohl die Zahl der Gläubigen als auch die Zahl der Religionen weltweit zunimmt. Die Experten zählen gegenwärtig fast 10.000 mehr oder weniger selbstständige Religionsgemeinschaften. Auch die Zahl der Christen nimmt weltweit keineswegs ab, sondern nimmt in bemerkenswerter Weise zu. Allerdings nicht gleichmäßig überall in der Welt. Während von diesem Zuwachs von Christen in der Welt ausgerechnet Europa nahezu nicht betroffen ist, hat sich die Zahl der Christen in Afrika und Lateinamerika in den letzten 30 Jahren verdoppelt, in Asien sogar verdreifacht. In dem gleichen Zeitraum, von dem ich rede, ist die Zahl der konfessionell gebundenen Christen in Deutschland von damals rund 90 Prozent in Westdeutschland auf jetzt gerade rund 60 Prozent im vereinten Deutschland zurückgegangenen. Dennoch und vielleicht gerade wegen dieser europäischen und deutschen Zahlen und Entwicklungen wird oft übersehen, dass der viel beschworene Prozess einer für unaufhaltsam gehaltenen und übrigens meist auch ausdrücklich als Errungenschaft gepriesenen Säkularisierung in dieser Ausprägung eben kein globaler Trend ist, sondern - wie uns die Religionssoziologen sagen - eigentlich nur bei uns im Westen stattfindet, während wir im Rest der Welt eine gegenläufige Entwicklung feststellen können: eine erstaunliche Revitalisierung und Reaktivierung religiöser Orientierungen und Organisationen. Ich halte das nicht für einen Zufall, sondern ich vermute, dass hier ein ursächlicher Zusammenhang besteht zwischen den Veränderungen in Zeiten der Globalisierung, von denen ich vorhin gesprochen habe und den tiefen Verunsicherungen, die sich daraus für viele Menschen in der Unübersichtlichkeit der Welt, in der wir leben, und der Rasanz der Veränderungen ergeben haben, und dem vitalen Bedürfnis an Verlässlichkeit, an Verbindlichkeiten, auch an Bindungen, die man für begründet und belastbar halten kann. Deswegen spricht, wie ich fest davon überzeugt bin, manches dafür, dass es nicht nur bei uns, sondern aber sicher auch bei uns eher neue Chancen, weil neue Notwendigkeiten für religiöse Orientierungen und religiöse Besinnungen gibt.

Der „Religionsmonitor“ der Bertelsmann-Stiftung, eine empirische Untersuchung über religiöse Orientierungen in unserer Gesellschaft, hat im vergangenen Jahr den für viele Beobachter überraschenden Befund erbracht, dass rund 70 Prozent der Menschen in Deutschland sich selbst als religiös einstufen, Dabei allerdings eine deutliche Unterscheidung machen zwischen ihrer religiösen Orientierung und ihrer kirchlichen Bindung, was ein anderes spannendes Thema in diesem Zusammenhang ist. Jeder fünfte, also immerhin 20 Prozent in Deutschland, stuft sich selbst sogar als hochreligiös ein, was immer das im Einzelnen bedeuten mag. Aber wenn man unter „hochreligiös“ ganz vorsichtig versteht, dass diese 20 Prozent religiöse Fragen für sich selbst als nicht völlig unbedeutend betrachten, hat man das wohl nicht überinterpretiert. Daraus lässt sich, wie ich finde, nachvollziehbar schließen, dass Religionen bei uns, wie überall sonst auf der Welt, unverändert zu den ganz vitalen, für die allermeisten Menschen in welchem Ausmaß auch immer nicht nur angelernte, sondern für unverzichtbar gehaltenen Orientierungen des eigenen Lebens und des sozialen Verhaltens gehören.

Das, was in einer konkreten Gesellschaft - beispielsweise unserer - an Werten und Orientierungen und an möglichen Verbindlichkeiten besteht oder wächst, die über individuelle Interessen hinausgehen, speist sich ganz wesentlich aus religiösen  Überzeugungen. Und das ist präzise der Zusammenhang, von dem der Bischof gesprochen hat und den wir in dieser Gesellschaft dringend wieder herstellen müssen. Das liegt im Übrigen nicht nur im Interesse der Kirchen, es liegt noch mehr im Interesse des Staates und seiner Verfassung, die ohne diese Basis nicht zusammenhält.

Eine der inzwischen populärsten Fehleinschätzungen auch der publizierten Diskussion über dieses Thema besteht im regelmäßigen Hinweis, was in dieser Gesellschaft gilt, was in dieser Gesellschaft verbindlich ist, mit anderen Worten, was unsere Gesellschaft zusammenhält, das steht doch im Grundgesetz. Dieser Hinweis ist ebenso richtig wie irreführend. Denn er transportiert den fröhlichen Irrtum, eine Verfassung sei der Ersatz für die Kultur einer Gesellschaft. In Wahrheit ist eine Verfassung Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft. Und sie hat so lange Bestand, wie diese kulturellen Grundlagen einer Gesellschaft lebendig bleiben. Das, was Frau Hannich und andere vorhin in dem Gespräch mit Blick auf Grundrechtsfragen und Gesetzgebung und Zweifel an Substanz oder auch nicht unseres Umgangs mit Grundrechten haben, gehört genau in diesen Zusammenhang.

Natürlich verändert sich eine Gesellschaft und verändern sich in einer Gesellschaft die Vorstellungen über den Umgang mit dieser oder jener Möglichkeit oder Herausforderung. Und eine Verfassung ist eben nicht die ein für allemal „omnia saecula saeculorum“ sichere und gesicherte Grundlage für die richtig gehaltene Orientierung einer Gesellschaft, wenn die kulturellen Voraussetzungen für diese Orientierungen verloren gehen. Nun behaupte ich natürlich nicht, dass dies ausschließlich über Religion und religiöse Überzeugungen vermittelt und transportiert wird. Aber dass es keine zweite, auch nur annähernd vergleichbar bedeutende Institution einer Gesellschaft gibt, mit einem auch nur annähernd vergleichbaren Potential der Erzeugung und Vermittlung von Werten wie Religionen, das behaupte ich nun allerdings. Und dafür können wir in der deutschen und der europäischen Geschichte, wie in der Geschichte anderer Kontinente aufschlussreiches Anschauungsmaterial finden. Man könnte mühelos, wenn wir uns mit unserem Grundgesetz befassten, den Nachweis führen, wie sehr unser Verständnis von Grundrechten mit religiös entstandenen Überzeugungen in einem unlösbaren Zusammenhang steht. Der Schlüsselsatz unseres Grundrechtsverständnisses, „die Würde des Menschen ist unantastbar“, ist ja nicht die Beschreibung einer Realität, sondern eines Anspruchs, somit müsste der Satz eher umgekehrt lauten: Die Würde des Menschen ist antastbar, sie wird täglich irgendwo angetastet, und wir Deutschen haben uns in unserer Geschichte - vermute ich - die schlimmsten Verirrungen der Menschheit überhaupt geleistet, was die organisierte Verletzung der Menschenwürde betrifft. Dieser Satz, mit dem unsere Verfassung beginnt, ist die säkulare Verfassung der christlichen Glaubensbotschaft von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Und wenn diese Überzeugung in unserer Gesellschaft verloren geht, dann verliert auch diese Festlegung unserer Verfassung ihre Wurzeln. Und deswegen ist der Hinweis auf die Verfassung ebenso richtig wie unzureichend, wenn er die kulturellen Zusammenhänge ausblendet, aus denen heraus eine solche Verfassung nur zu verstehen ist und schon gar lebendig bleibt. Natürlich ist Religion zunächst einmal und in erster Linie Privatsache, am Anfang und am Ende, aber sie ist eben mehr, sie ist immer auch öffentliche Angelegenheit. Und die Privatisierung des Religiösen verkennt eben die fundamentale Bedeutung dieser Funktion von Religion für den Zusammenhalt auch und gerade moderner Gesellschaften.

Wenn dieser Zusammenhang überhaupt besteht, dann muss er in ganz besonderer Weise für die Politik gelten. Politik ohne festes Fundament von Überzeugungen, von denen heraus sich ein Gestaltungsanspruch herleiten lässt, ohne verbindliche Orientierungen also, ist die Selbstinszenierung von Macht. Politisches Handeln darf sich nicht allein auf Zweckmäßigkeitsfragen reduzieren, auf das virtuose Abarbeiten von Fallkonstellationen. Aber dass Politik eben nicht dasselbe ist wie Religion, sondern etwas anderes, auch nicht die schlichte Verlängerung von Religion mit anderen Mitteln, das ist jedenfalls eine gefestigte Überzeugung der westlichen Zivilisation. Ich will das mit einer Formulierung von Ernst Wilhelm Böckenförde unterstreichen, der zu Recht vorhin als der wohl prominenteste Vertreter der Entdeckung dieser Zusammenhänge gewürdigt worden ist. Es ist zu fragen, so schreibt er in seinen berühmten Schriften aus den Jahre 1976, ob nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich „aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glaube seinen Bürgern vermittelt. Freilich nicht in der Weise, dass er zum christlichen Staat zurückgebildet wird, sondern in der Weise, dass die Christen diesen  Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremde, ihrem Glauben Feindliches erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist“. Das markiert präzise den Unterschied zwischen Politik und Religion und die Notwendigkeit zwischen beiden einen Zusammenhang herzustellen. Die Herstellung solcher Zusammenhänge ist allerdings schwierig. Das kann ich Ihnen, ohne es im Einzelnen ausführen zu können, aus vielfachen eigenen Erfahrungen feierlich bestätigen. Es betrifft nicht nur, aber in ganz besonderer Weise alle die Fragen, die mit dem Anfang und dem Ende des menschlichen Lebens zusammenhängen. Aber es betrifft auch so handfeste Aspekte wie die Frage, wie gehen wir mit unseren heutigen wissenschaftlichen Möglichkeiten etwa im Bereich der Landwirtschaft um, übrigens aber auch mit der Frage, welche Entwicklungsmöglichkeiten lassen wir eigentlich der Dritten Welt mit der sorgfältigen Abschottung unserer Agrarmärkte und einem nicht nur aus deren Sicht gnadenlosen Protektionismus, bei dem die Behauptung unserer eigenen Interessen den organisierten Vorrang gegenüber den Entfaltungsmöglichkeiten in vielen Ländern der Dritten Welt hat. Auch das gehört zu den ethischen Fragen, mit denen wir uns auseinander setzen müssen.

Ich will noch eine Bemerkung zu dem Thema machen, dass ich gerade angesprochen habe, nämlich wie geht diese Gesellschaft und wie geht dieser Staat mit den Fragen um, die am Beginn und am Ende des menschlichen Lebens zu entscheiden sind. Dass es sich hier um Fragen handelt, die ganz gewiss nicht allein nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten oder im Maßstab der heutigen technischen Möglichkeiten beantwortet werden können. Wie lässt sich auf welchem Wege und mit welchen Erfolgsaussichten menschliches Leben schaffen und unter welchen technischen Bedingungen kann man es wie lange verlängern? Es bedarf überhaupt keiner Erläuterung, dass wir es hier mit ganz grundsätzlichen Fragen unseres Menschenbildes und damit der Menschenwürde zu tun haben. Einer Erläuterung bedürfte aber vielleicht, dass sich auch dann, wenn man die Dimension dieser Fragestellung begriffen und die ethische Messlatte als ausschlaggebenden Gesichtspunkt für sich erkannt hat, daraus nicht nur eine denkbare Antwort ergibt. Ich gehöre zu denjenigen, die - wie ganz gewiss die allermeisten Mitglieder des Deutschen Bundestages - sich mit der Frage, ob überhaupt und unter welchen Bedingungen eine Verlängerung der Fristen im Stammzellengesetzes gesetzlich erlaubt sein sollte, sehr sorgfältig auseinander gesetzt haben und die im Laufe dieses Prozesses bei der Beschäftigung mit allen damit zusammenhängenden Fragen mehrfach sehr unsicher waren, wie sie am Ende votieren sollten. Ich habe mich schließlich gegen jede Änderung der bestehenden gesetzlichen Regelungen ausgesprochen und dafür eine schriftliche Gratulation meines Weihbischofs erhalten. Das hat mich betroffen gemacht, zumal im Kontext der Äußerungen von anderen prominenten Mitgliedern der deutschen Bischofskonferenz, die mit einem bemerkenswert harten, um nicht zu sagen gnadenlosen Urteil die ethische Verantwortbarkeit anderer Entscheidungen öffentlich kritisiert haben, nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im Konkreten etwa am Beispiel der Bundesforschungsministerin Annette Schavan, die als langjähriges Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken sich ihre Entscheidung ganz gewiss nicht einfacher gemacht hat als ich mir meine. Und wenn sie am Ende zu einem anderen Urteil kommt, dann muss ich das und dann muss das auch die Deutsche Bischofskonferenz genauso respektieren, wie sie meine Entscheidung respektiert hat. Jedenfalls erlaube ich mir, ohne dieses Thema jetzt vertiefen zu können, den gut gemeinten und auch ernst gemeinten Hinweis, dass gerade wegen dieses von mir beschriebenen Spannungsverhältnisses zwischen Politik und Religion und der Notwendigkeit, es zusammen zu bringen, wir auch in Formen des christlichen Umgangs miteinander noch die eine oder andere Entwicklungsmöglichkeit haben.

Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran, dass die Verkündigung der Wahrheit eine der anspruchsvollsten und im wörtlichen Sinne heiligen Aufgaben einer Gesellschaft ist. Aber die Vermittlung von ewigen Wahrheiten und von dem, was man für Wahrheit hält, in das Regelwerk einer modernen, säkularen Gesellschaft unter den Bedingungen von Mehrheitsentscheidungen, ist, glauben Sie es mir, keine weniger anspruchsvolle Aufgabe. Und da gehen manche Zusammenhänge leider nicht so schnell und schon gar nicht so nahtlos auf, wie man sich das manchmal wünschen würde. Aber gerade deshalb, verehrter Herr Bischof, habe ich die Einladung heute an dieser Konferenz teilzunehmen, ganz besonders gerne angenommen. Nicht nur, weil es so ein kleiner, persönlicher Beitrag zum 50. Jubiläums meines Bistum ist, sondern weil es auch eine Gelegenheit ist, meinen Dank und meinen Respekt zu sagen sowohl an das Bistum wie an die Damen und Herren, die jetzt über viele Jahre und Jahrzehnte in diesen Räten sich genau um diese Vermittlung bemühen. Und mir ist dabei sehr bewusst, dass ich diese Einladung zu einer solchen Veranstaltung unter diesen Bedingungen in keinem anderen deutschen Bistum überhaupt hätte erhalten können - was übrigens außer der Gratulation an das Ruhrbistum ein weiterer Grund zum allgemeinen Nachdenken ist. Die Bereitschaft unserer Kirche, sich mitten in die Welt zu stellen, und den Sachverstand und das Engagement vieler Tausender Katholiken auch zu nutzen, um es in die eigene Urteilsbildung mit einzubeziehen, diese Neigung ist im Großteil der organisierten katholischen Kirche in Deutschland -  freundlich formuliert - nicht übertrieben weit entwickelt. Deswegen, Herr Bischof, bin ich ein besonders stolzes Mitglied dieses Bistums, weil sich mindestens mit Hinweis auf das Ruhrbistum der Nachweis führen lässt, dass diese Beteiligung offenkundig, so verstehe ich das jedenfalls, ohne ernsthafte vatikanische Beanstandungen, nicht nur zulässig ist, sondern auch funktioniert.

Meine Damen und Herren, „Leben im Aufbruch“ heißt der Obertitel unserer heutigen Veranstaltung. Lassen Sie mich hinzufügen: Nur wenn es nicht nur Leben im Aufbruch gibt, sondern von Zeit zu Zeit immer wieder auch Aufbruch im Leben, kann man das eigene Leben zusammen halten und hoffentlich die Welt im Ganzen.

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Rede von Bundestagspräsidente Prof. Dr. Norbert Lammert bei den Schönhauser Gesprächen: Knappe Ressource „Vertrauen“ - Was wird aus der Sozialen Marktwirtschaft?

Meine Damen und Herren! „Politik ohne Mehrheit, Wirtschaft ohne Vertrauen: Wohin steuert die Republik?“ - Die Formulierung des Themas der diesjährigen Schönhauser Gespräche lässt die Lage, in der wir uns befinden, noch dramatischer erscheinen, als sie ohnehin schon ist. Die in den Medien oft zu Recht beschriebene und kritisierte Neigung, komplexe Sachverhalte in möglichst knappen und deswegen gelegentlich auch eher irreführenden Überschriften zusammenzufassen, findet hier eine bemerkenswerte Fortsetzung, denn weder ist die Politik schlicht ohne Mehrheit noch die Wirtschaft komplett ohne Vertrauen. Wohin die Republik steuert, entscheiden die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes entweder durch ihr eigenes Verhalten oder durch die Entscheidungen, die sie bei Wahlen und anderen Gelegenheiten durch Beauftragung dafür legitimierter Entscheidungsträger getroffen haben.

Wenn die Politik übrigens ohne Mehrheit wäre, wenn dieser Befund zutreffend wäre, dann hätten Sie, lieber Herr Müller, die Dankadresse an den Deutschen Bundestag nicht vortragen können, die Sie netterweise bei meiner Ankündigung vorgetragen haben. Es hat wahrscheinlich in der Geschichte des Parlamentarismus - jedenfalls in Deutschland - noch keinen vergleichbaren Vorgang gegeben: In einer außergewöhnlich kurzen Zeit ist über das größte Finanzpaket aller Zeiten im Konsens in einem Verfahren beraten und entschieden worden, das völlig beispiellos ist. Es hätte dieses Paket und dieses Verfahren nicht geben können, wenn es unabhängig von den im Übrigen gut funktionierenden Rivalitätsreflexen der im Wettbewerb miteinander befindlichen Parteien nicht die gemeinsame Einsicht in eine außerordentliche Herausforderung und die gemeinsame Bereitschaft gegeben hätte, dieser Herausforderung Rechnung zu tragen. Das könnte sich die Politik nicht erlauben, wenn sie sich auf die Fährte dieser gelegentlich depressiven Anmutung begeben hätte, sie habe für das, was sie für wichtig hält, ohnehin keine Mehrheit.

Aber richtig ist: Die Politik muss in ähnlicher Weise für das, was sie für richtig hält, um Mehrheiten werben, für Mehrheiten kämpfen. Das, was in der Politik Mehrheiten als Mindestvoraussetzung für die Gültigkeit von angestrebten Entscheidungen sind, ist im Bereich der Wirtschaft - schon gar im Bereich des Finanzsystems - das Vertrauen.

Mir ist bei der Vorbereitung nicht nur auf diese Veranstaltung, sondern auch auf manche ähnliche Veranstaltungen, die in diesen Wochen aus gegebenem Anlass stattfinden, ein schöner Werbespruch der Deutschen Bank von Anfang der 90er-Jahre wieder vor die Augen gekommen: Vertrauen ist der Anfang von allem. Vor vier Wochen hätte sich eine neue Werbekampagne angeboten: Misstrauen ist der Anfang vom Ende. Wir hatten einen Zustand, der durch wechselseitig zu Protokoll gegebenes Misstrauen gekennzeichnet war.

Wenn ich jetzt ein paar Bemerkungen auch mit dem Ziel der akzentuierten Beschreibung der Lage aus der Perspektive eines politisch Handelnden vortrage, will ich das mit zwei Botschaften tun, die ich für die vorläufig erkennbaren Schlussfolgerungen aus einer intensiven und breiten öffentlichen - nicht nur politischen - Debatte halte. Es gibt eine neue Einsicht, und es gibt eine neue Versuchung. Beides hängt ganz unmittelbar mit den Erfahrungen zusammen, die wir alle miteinander in den vergangenen Wochen und Monaten gemacht haben.

Im Umgang mit dieser Krise und den Bemühungen, ihr entgegenzutreten, sind nun auch wieder - das ist nicht so ganz erstaunlich - eine Reihe von Verallgemeinerungen und Vereinfachungen unterwegs, bei denen ich uns sehr empfehle, sie mindestens sorgfältig zu prüfen, bevor wir sie für hinreichend belegt erklären. Zu diesen Vereinfachungen und Verallgemeinerungen gehört, das Ganze habe in den USA stattgefunden und dort im Immobilienmarkt. Damit ist eine zutreffende Beobachtung in einer, wie mir scheint, unzutreffenden Weise verallgemeinert: Es ist nicht nur ein Markt gewesen, es ist nicht nur eine Branche gewesen, auch wenn sich hier besondere Verantwortlichkeiten, Problemballungen, Risikoballungen und auch zeitliche Abfolgen erkennen ließen.

Dass das, was wir als Riesenproblem in den vergangenen Monaten im Bereich der globalen Finanzmärkte kennengelernt haben und am Ende mit freundlicher Grußadresse bei Regierungen und Parlamenten abgeliefert wurde, nur die Folge einer völlig verfehlten Entwicklung auf amerikanischen Immobilienmärkten gewesen sei, wird vermutlich auch niemand von den unmittelbar Betroffenen ernsthaft behaupten wollen. Das Problem ist viel breiter, auch wenn es an dieser Stelle ganz sicher besonders ausgeprägt war.

Zu den Verallgemeinerungen gehört übrigens auch die Behauptung, wir hätten im Bereich der Finanzmärkte zu wenig Regulierung. Ich glaube nicht, dass diese Verallgemeinerung so zutrifft. Wir haben dort im Branchenvergleich ein beachtliches Maß an Regulierung, möglicherweise an der einen oder anderen Stelle sogar zu viel. Jedenfalls kann ich nur schwer den allgemeinen Befund teilen, es gebe einen prinzipiellen Mangel an Regulierung.

Aber wahr ist offenkundig, dass ein immer größerer Teil der Finanztransaktionen aus den nationalen Märkten längst auf globale Märkte ausgewandert und mit dieser Auswanderung aus den jeweiligen nationalen Regulierungen und nationalen Aufsichtssystemen ausgeschieden ist.

Dies hat sich nicht naturwüchsig, unbeabsichtigt entwickelt, sondern war Bestandteil einer gezielten Strategie, die am Ende in der eindrucksvollsten Kapitulationserklärung, die es in der Wirtschaftsgeschichte der Menschheit bisher gegeben hat, ihren Höhepunkt fand: Die Banken haben sich wechselseitig das Misstrauen erklärt.

Da liegt für mich die erste große konstruktive Einsicht, von der ich sehr hoffe und auch erwarte, dass sie sich über die Schockerfahrung der hohen Zeit dieser Krise hinweg bewahren und umsetzen lässt: Das ist die Einsicht, dass eben nicht dann der Gipfel der ökonomischen Leistungsfähigkeit erreicht ist, wenn der letzte Rest staatlichen oder politischen Einflusses erfolgreich eliminiert ist, sondern dass die Märkte Rahmenbedingungen brauchen, dass die Wirtschaft nicht ohne und nicht gegen staatliche Regelungen erfolgreich operieren kann.

Ich glaube, eine selbstkritische Betrachtung - die eine oder andere Stimme ist dazu in den letzten Wochen erfreulicherweise auch und gerade aus dem Bankenbereich zu hören gewesen - kann nicht übersehen, dass in keiner anderen Branche unserer Volkswirtschaft - ich rede jetzt nur von Deutschland - ein vergleichbarer Ehrgeiz zu erkennen war, staatliche Regelungen bis auf ein Minimum zurückzuführen und ihnen dort, wo sie vorhanden sind, erfolgreich auszuweichen - mit einem desaströsen Zwischenergebnis, das überhaupt nur dadurch zu lindern war, dass der Staat in seiner Zuständigkeit wiederentdeckt und als letzter Notanker angerufen wurde.

Ich glaube schon, dass die Einschätzung richtig ist, dass in dieser außergewöhnlichen Situation die Verfassungsorgane der außerordentlichen Herausforderung in angemessener Weise Rechnung getragen haben, auch wenn wir alle miteinander noch nicht wissen können, ob das, was da beschlossen wurde, in der gewünschten Weise die gewünschten dauerhaften Wirkungen hat. Da arbeiten auch wir naturgemäß auf der Basis begründeter Annahmen, die im Übrigen in einem engen Dialog zwischen den politisch Verantwortlichen und den Verantwortlichen aus dem deutschen Bankensystem entwickelt worden sind.

Wir müssen jetzt auch darauf achten, dass sich die daraus gewonnenen Einsichten nicht bei vermeintlicher oder tatsächlicher Entspannung der Lage wieder sehr schnell pulverisieren, sondern dass sie zu operativen Schlussfolgerungen führen, was bei nüchterner Betrachtung der Lage leichter anzusagen als umzusetzen ist. Dass am nächsten Wochenende eine besonders wichtige internationale Konferenz zu diesem Zweck stattfindet, wissen Sie alle; dass sie in Washington stattfindet, wissen Sie auch, und welche Verhältnisse wir in Washington haben, muss ich Ihnen nicht erläutern. Daraus ergibt sich eine relativ übersichtliche Lage, was die Aussicht auf das schnelle Zustandekommen belastbarer internationaler Regulierungen angeht.

Ich will das gar nicht als Menetekel beschwören; dem kann man auch Vorzüge abgewinnen. Es muss ja nicht alles umso besser gelingen, je schneller es verabredet wird. Wir haben die damalige Lage ausdrücklich als nicht komfortabel empfunden, innerhalb von wenigen Tagen einschließlich der dazugehörigen Nächte über gigantische Operationen beraten und entscheiden zu müssen, mit in Aussicht gestellten Steuergeldern, die wir gar nicht haben.

Deshalb empfinde ich viel Sympathie für ein anderes Szenario, das vielleicht die Möglichkeit eröffnet, auf diese oder jene Art der möglichen Gestaltung verlässlicherer Rahmenbedingungen vielleicht einen zweiten Blick mit größerer Sorgfalt werfen zu können, als das damals aus der gegebenen Lage heraus der Fall war. Wir müssen dies auch tatsächlich tun und müssen insofern unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten jedenfalls zu belastbaren Verfahrensvereinbarungen kommen.

Dass wir es hier im Übrigen zwar von der Größenordnung, aber nicht vom Grundsatz her mit einer völlig neuen Erfahrung zu tun haben, möchte ich Ihnen mit zwei Zitaten von Ludwig Erhard belegen. Sie stammen aus den Jahren 1956 und 1957, also aus einer Zeit, als sich noch niemand hätte vorstellen können, dass wir jemals mit dieser Art von Krise konfrontiert werden könnten.

In einer seiner damals berühmten Rundfunkansprachen hat Ludwig Erhard am 12. März 1956 erklärt: „Jeder denkt nur an sich und keiner an das Ganze! Wenn aber eine Wirtschaftsordnung - und diese Frage steht zur Entscheidung - nicht mehr um das Ganze weiß, wenn sie das Gefühl der Verantwortung verkümmern lässt und nichts mehr von Nächstenliebe atmet, kann und darf sie nicht auf Resonanz und Anerkennung hoffen.“

Die Daten über die Akzeptanz und Resonanz unserer Wirtschaftsordnung sind ziemlich genau so wie in diesem beschriebenen Zusammenhang erläutert. Wir haben im sechzigsten Jahr der Sozialen Marktwirtschaft einen dramatischen Ansehensverlust der Wirtschaftsordnung. Er betrifft nicht alle Institutionen in gleicher Weise. Deswegen halte ich auch hier meine Warnung vor voreiligen Verallgemeinerungen ausdrücklich aufrecht, zumal wir den mehr als marginalen Trost haben, dass die allermeisten offenkundig doch deutlich unterscheiden zwischen der generellen Einschätzung von Politik, der generellen Einschätzung von Banken oder Unternehmern und Managern und dem Eindruck, den sie von konkreten Personen aus konkreten Instituten, von real existierenden Persönlichkeiten haben. Das ist übrigens vielleicht die wichtigste Quelle für die Renaissance des Grundvertrauens, das wir in dieser Gesellschaft zurückgewinnen müssen. Das stellt eine ähnliche Herausforderung für die Politik wie für die Wirtschaft dar.

Ich kann den Befund nicht banal finden, zumal die Daten, die der Bankenverband liebenswürdigerweise gerade zu dieser Tagung hat erheben lassen, leider in außerordentlich präziser Weise mit den Daten korrelieren, die vor etwa einem halben Jahr zum selben Thema die Bertelsmann Stiftung erhoben hat. Damals war von der internationalen globalen Finanzkrise noch keine Rede. Der Befund war: Zwei Drittel der Menschen haben das Grundvertrauen in diese Wirtschaftsordnung verloren. - Übrigens wird der Befund nicht besser, wenn die Fragen präziser werden.

Wir haben eine rasante Distanzierung einer immer größeren Mehrheit der Menschen gegenüber der Einkommens- und Vermögensverteilung in unserem Lande, die, was ich hochinteressant finde, differenziert nach den Anhängern der verschiedenen politischen Parteien nur in dem Ausmaß der Größenordnung jenseits von 50 % differiert. Im Klartext: Auch unter den FDP-Anhängern erklären mehr als zwei Drittel, sie hielten die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland für zutiefst ungerecht. Das ist nun einmal - virtuell - eine verfassungsändernde Mehrheit. Wir reden also über keinen banalen Befund, sondern wir reden über einen Riss in der Architektur unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Ich kann nur empfehlen, ihn ernst zu nehmen.

Gerade weil wir mit guten Gründen davon überzeugt sind, dass es nicht um die Suche nach einer Systemalternative geht - aus vielen Gründen, die sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart liegen -, müssen wir umso mehr die Aufgabe ernst nehmen, dieses Modell einer sozialstaatlich verfassten und verankerten Wettbewerbsordnung wieder zukunftsfest zu machen. „Zukunftsfest zu machen“ bedeutet insbesondere, es wieder mit Vertrauen auszustatten.

Ludwig Erhard meinte am 21. November 1957: „Freiheit, die sozialökonomisch oder politisch nicht in ein umfassendes Ordnungssystem eingespannt und damit gebändigt ist, oder auch Freiheit, die um keine moralische Bindung weiß, wird immer im Chaotischen entarten.“

Wir hätten zur Chaostheorie völlig neue empirische Befunde sammeln können, wenn es nicht rechtzeitig die politische Intervention gegeben hätte, die der mit Abstand größere Teil der unmittelbar verantwortlichen Finanzakrobaten mit großem Fleiß jahrelang für ausdrücklich unerwünscht gehalten hat.

Ich glaube, es ist richtig und wichtig, dass es die Einsicht gibt, dass Märkte, dass auch und gerade Wettbewerb Rahmenbedingungen brauchen und deswegen eine sinnvolle Zuordnung von politischen und ökonomischen Kompetenzen eine unverzichtbare Voraussetzung für die Funktionsbedingungen einer Wettbewerbswirtschaft ist.

Ob das zu einer Renaissance des Politischen beiträgt, darüber werden sich Politikwissenschaftler und Historiker in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren wahrscheinlich Saalschlachten liefern, an denen ich zumindest als Zuhörer gern beteiligt wäre. Jedenfalls ist das keine Frage, die heute abschließend beantwortet werden kann und muss.

Ich will von der neuen Versuchung sprechen, die sich auch nicht übersehen lässt in dieser neuen Diskussionslage unter besonderer Berücksichtigung der Reflexe, der Erklärungen und der Vermutungen des breiten Publikums: Das ist die Versuchung, wieder von einer Übertreibung in die nächste zu fallen und nach der richtigen Einsicht, dass es mit der Eliminierung des Politischen, mit dem Zurückweichen allen staatlichen Einflusses ganz offenkundig nicht zum Besten bestellt ist, nun wieder alles Heil in Verstaatlichung, in stärkerem staatlichen Einfluss und einem größeren Umfang an Regulierung zu suchen, als das bislang der Fall gewesen ist.

Die zweite Übertreibung ist nicht besser als die erste. Es geht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit darum - das ist eine viel leichter zu beschreibende als zu lösende Aufgabe -, im globalen Maßstab belastbare Rahmenbedingungen zu vereinbaren und durchzusetzen, ohne deren Vereinbarung ich allerdings überhaupt keine plausible Perspektive sehe, unter der eine Wiederholung dieses drohenden Desasters halbwegs verlässlich ausgeschlossen werden könnte.

Dass im Übrigen jemand mit der Reputation und dem operativen Gewicht von Alan Greenspan in einer Anhörung des amerikanischen Kongresses vor wenigen Wochen ausdrücklich zu Protokoll gibt, er habe sich in seiner Einschätzung der Selbstheilungskräfte des Marktes gründlich geirrt und müsse eine Korrektur seiner eigenen - so hat er es formuliert - „ideologischen Vorstellungen von Marktwirtschaft“ vornehmen, würde ich mir allerdings in der Kategorie der nachhaltigen Einsichten wünschen, die es hoffentlich nicht nur in der neuen amerikanischen Administration, sondern auch in der Europäischen Gemeinschaft und im Konzert der großen Volkswirtschaften dieser Welt gibt.

Zwei knappe Bemerkungen zum Schluss. Diejenigen, die wie ich in der vergangenen Woche das große Interview mit Jürgen Habermas zu dem gerade vorgetragenen Thema in der „Zeit“ gelesen haben, werden sicher auch besonders über den Satz gestolpert sein, den ich ebenso akzentuiert wie zutreffend finde: „Jetzt mit dem Finger auf Sündenböcke zu zeigen, halte ich allerdings für Heuchelei. Auch die Spekulanten haben sich im Rahmen der Gesetze konsequent nach der gesellschaftlich anerkannten Logik der Gewinnmaximierung verhalten.“

Das ist ein doppelter Kommentar. Wenn dies jedenfalls in der Nähe der Wirklichkeit ist, was ich glaube, dann verbietet sich das besonders beliebte Spiel, dass die einen den anderen die Verantwortung zuschieben. Dass es so gekommen ist, wie es gekommen ist, hat mit Fehlentwicklungen und Versäumnissen sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik zu tun. Die Einsicht, dass beide für die Zukunft daraus Konsequenzen ziehen müssen, ist mit Abstand wichtiger als die Frage, wer von beiden mehr Verantwortung dafür hat oder rechtzeitiger diese oder jene Fehlentwicklung vielleicht hätte vermeiden können.

Meine letzte Bemerkung: Peter Sloterdijk, der nach meiner Erinnerung bereits einmal im Rahmen dieser Schönhauser Gespräche vorgetragen hat, hat in seinem Buch „Im Weltinnenraum des Kapitals“ folgenden denkwürdigen Satz formuliert: „Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, dass die Erde um die Sonne, sondern dass das Geld um die Erde läuft.“ Er hat wohlgemerkt nicht von der „Hauptsache“, sondern von der „Haupttatsache“ gesprochen - und aus guten Gründen das eine vom anderen unterschieden.

Ich würde uns sehr empfehlen, dies für die neuen Einsichten und die neuen Versuchungen im Gedächtnis zu behalten.

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Parlament

Rede des Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert anlässlich der Feierstunde des Deutschen Bundestages: „60. Jahrestag der Konstituierung des Parlamentarischen Rates 1948“


Samstag, 6. September 2008, Museum Koenig, Bonn

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts! Meine Damen und Herren Minister! Frau Oberbürgermeisterin! Liebe aktive und ehemalige Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten Europas, des Bundes und der Länder! Verehrter, lieber Herr Professor Grosser! Verehrte Gäste!

Als am 1. September 1948 in Bonn die 65 von den Landtagen der elf Bundesländer gewählten Mitglieder des Parlamentarischen Rates zusammentraten, 61 Männer und 4 Frauen, um dem nicht souveränen, unter der Kontrolle alliierter Besatzungsmächte stehenden westlichen Teil Deutschlands eine gemeinsame vorläufige Verfassung zu geben, wurde in einer kaum vorhersehbaren, nachhaltigen Weise die Grundlage der Bundesrepublik Deutschland gelegt, deren 60. Geburtstag wir im nächsten Jahr begehen können.

Wir beginnen mit dieser Arbeit in der Absicht und mit dem festen Willen, einen Bau zu errichten, der am Ende ein gutes Haus für alle Deutschen werden soll.

So hat der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, in seiner Eröffnungsansprache die Erwartungen an die Arbeit dieses Gremiums formuliert. Diese Eröffnungsveranstaltung als Festakt hat genau hier stattgefunden, im Museum Koenig. Es gibt großzügigere Räumlichkeiten in Bonn, um eine solche Festveranstaltung durchzuführen. Aber dieser Ort ist authentisch. Damals waren die großen Tiere übrigens mit großen, weißen Tüchern verhängt, jedenfalls soweit es sich um ausgestopfte große Tiere gehandelt hat. Dass wir diese Verkleidung heute beseitigt haben, soll den Zuwachs an Transparenz und Liberalität demonstrieren, den dieses Land in den inzwischen 60 Jahren gewonnen hat.

Heute wissen wir, dass mit der Konstituierung des Parlamentarischen Rates gleich drei präjudizierende Entscheidungen verbunden waren: für einen Standort, für eine Persönlichkeit und für ein Konzept. Die Entscheidungen für Bonn als Standort, für Konrad Adenauer als Präsidenten des Parlamentarischen Rates und späteren ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und für die parlamentarische Demokratie des Grundgesetzes haben die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich geprägt. Das Grundgesetz hat eine in der deutschen Verfassungsgeschichte beispiellose Überzeugungskraft entwickelt, in deren Rahmen schließlich die Wiederherstellung der deutschen Einheit möglich geworden ist.

 Die Anfänge waren durchaus bescheiden, sehr viel bescheidener als die allermeisten, die in diesem Lande unter dieser Verfassung groß geworden sind, heute für möglich halten. Nachdem die Anfrage, ob sie sich zu einer Unterbringung des Parlamentarischen Rates in der Lage sähen, sowohl in Köln wie auch in Düsseldorf auf ein - vorsichtig formuliert - begrenztes Interesse gestoßen war, hat sich dankenswerterweise die vergleichsweise kleine Stadt Bonn am Rhein zur Aufnahme des Parlamentarischen Rates bereiterklärt. Damals gab es im Bonner Zimmernachweis im Herbst 1948, in dem bei den Bürgern der Stadt Bonn um Quartier für Mitglieder des Parlamentarischen Rates geworben wurde, einen weißen, mit Schreibmaschine geschriebenen Zettel mit folgendem dezentem Hinweis:

Für die Dauer der Aufnahme Ihres Gastes stehen Ihnen pro Monat zusätzlich 10 cbm Gas, 10 kWh Strom sowie 90 g Kaffee-Ersatz, 600 g Seifenpulver und 150 g Waschzusatzmittel zur Verfügung.

Nicht nur deshalb, Frau Oberbürgermeisterin, wird die Bundesrepublik Deutschland Ihre Stadt, diese Stadt, immer in ganz besonderer Erinnerung behalten.

(Beifall)

Es waren damals aber nicht nur die ökonomischen Bedingungen bescheiden. Für die politischen Perspektiven galt das in einer sehr ähnlichen Weise. In seiner Antrittsrede als Präsident des Parlamentarischen Rates hat Konrad Adenauer damals erklärt:

Für jeden von uns war es eine schwere Entscheidung, ob er sich bei dem heutigen Zustand Deutschlands ... zur Mitarbeit zur Verfügung stellen ... sollte. Ich glaube, ... eine richtige Entscheidung auf diese Frage kann man nur dann finden, wenn man sich klar macht, was denn sein würde, ... wenn dieser Rat nicht ins Leben träte. ... Welche Ergebnisse unsere Arbeit für ganz Deutschland haben wird, das hängt von Faktoren ab, auf die wir nicht einwirken können. Trotzdem wollen wir die historische Aufgabe, die uns gestellt ist ..., unter Gottes Schutz mit dem ganzen Ernst und mit dem ganzen Pflichtgefühl zu lösen versuchen, die die Größe dieser Aufgabe von uns verlangt.

Ob, in welchem Umfang und wie das gelungen ist, dazu wird uns ganz gewiss Professor Grosser in seiner Festrede einige zusätzliche Aufschlüsse vermitteln. Wir haben ihn schon bei ähnlichen Gelegenheiten um seine Mitwirkung gebeten, weil wir den Blick eines mit Deutschland und seiner Geschichte im 20. Jahrhundert glänzend vertrauten Nachbarn und guten Freundes sehr zu schätzen wissen und insbesondere seine mehrfach demonstrierte besondere Begabung, auch unangenehme Einsichten mit geradezu unwiderstehlichem französischem Charme vorzutragen. Herzlich willkommen, Herr Professor Grosser!

(Beifall)

Das Grundgesetz, meine Damen und Herren, ist die freiheitlichste Verfassung, die Deutschland in seiner Geschichte je hatte. Es ist das wichtigste Dokument unseres demokratischen Selbstverständnisses geworden. Dass dies heute so ist und gänzlich unbestritten so ist, war keineswegs abzusehen, als der Parlamentarische Rat das Grundgesetz verabschiedete, und es war schon gar nicht selbstverständlich. Immerhin äußerten im März 1949  40 Prozent der Deutschen, ihnen sei die zukünftige westdeutsche Verfassung schlicht gleichgültig. Noch fünf Jahre nach seiner Verkündung kannten mehr als die Hälfte der Deutschen das Grundgesetz überhaupt nicht. Zeitungen wie die Deutsche Rundschau schrieben damals ebenso irritiert wie besorgt:

Heute ist Deutschland etwas sehr Unglückliches. Es ist so komisch und so tragisch wie das Deutschland von Weimar: eine Demokratie ohne Demokraten.

Dass es ganz anders gekommen ist, hat neben vielen weiteren Gründen vor allem mit dem Grundgesetz zu tun. Es steht für den Schutz der individuellen Freiheitsrechte, die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger in einer pluralistisch und repräsentativ verfassten parlamentarischen Demokratie und für die Verhinderung einer verselbstständigten Staatsgewalt. Einer der herausragenden Väter des Grundgesetzes, Carlo Schmid, sagte damals:

Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.

Dieser ausdrückliche Wunsch nach einer selbstbewussten und abwehrbereiten Demokratie begründete sich aus der Doppelerfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Diktatur. Wesentliche Teile des Grundgesetzes sind deshalb durch die sogenannte „Ewigkeitsklausel“ gegenüber jeder substanziellen Veränderung geschützt. Die Grundrechte, die nach der Weimarer Reichsverfassung nur „nach Maßgabe der Gesetze“ galten, sind im Grundgesetz unmittelbar geltendes, gerichtlich durchsetzbares Recht und damit verbindliche Orientierung für die Gesetzgebung. Auch die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts, das heute als Hüter der Verfassung in allen Umfragen das höchste Vertrauen unter allen Verfassungsorganen bei den Bundesbürgern genießt, gehört zu den glücklichen Initiativen des Parlamentarischen Rates und seiner neunmonatigen Beratungen seit Anfang September 1948 und zu den beispielhaften Regelungen des Grundgesetzes, die auch international hohes Ansehen und große Anerkennung gefunden haben.

Ich freue  mich deshalb über die Anwesenheit des Präsidenten und früherer Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und seiner Mitglieder und auf die anschließende Diskussion, die sich mit der Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes im Zeitablauf dieser sechs Jahrzehnte unter der Moderation von Robert Leicht auseinandersetzen soll.

Ein wesentlicher Grund für die Funktionalität wie die Reputation des Grundgesetzes ist gewiss auch seine Fähigkeit zur Anpassung an veränderte Aufgabenstellungen, auch an veränderte Verfassungswirklichkeiten, ohne sich dabei im Wesensgehalt verändert zu haben. Konrad Adenauer soll noch in der Schlussberatung des Parlamentarischen Rates neue Anträge und Änderungswünsche mit dem Argument erfolgreich gestoppt haben, der Parlamentarische Rat solle nur das Grundgesetz und nicht die Zehn Gebote beschließen. Tatsächlich ist das Grundgesetz weder so kurz noch so unveränderlich wie die Zehn Gebote. Es hat in 60 Jahren manche Änderungen und Ergänzungen erfahren, von denen manche unvermeidlich, einige vielleicht unnötig waren, alle sicher gut gemeint, aber nicht alle gleich gut gelungen.

Am 1. Juli 1948 hatten die Westalliierten den elf Ministerpräsidenten der westdeutschen Besatzungszonen den Auftrag erteilt, bis zum 1. September 1948 eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen, mit der Maßgabe, sie solle „eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtige zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält.“

So war die Vorgabe. Das zumindest scheint gelungen, übrigens innerhalb von 265 Tagen. Die Föderalismusreform dauert länger. Sie ist wohl entschieden schwieriger.

Das ursprünglich als Provisorium gedachte Grundgesetz ist heute die unangefochtene Grundlage der politischen Verfassung unseres Landes. Das Grundgesetz ist auch und gerade deshalb im wörtlichen und übertragenen Sinne das „Grund-Gesetz“ geworden, weil es in Grundrechten und Verfahrensregeln das konkret formuliert, was im Allgemeinen gelegentlich bezweifelt oder gar bestritten wird: die freiheitlich-demokratische Leitkultur, die sich in unserem Land über manche Umwege und Irrwege entwickelt und längst als unbestrittene Grundlage der politischen Verfassung unseres Landes durchgesetzt hat.

Deshalb ist der 60. Jahrestag der Konstituierung des Parlamentarischen Rates ein willkommener Anlass, die Männer und Frauen zu würdigen, die diese Arbeit geleistet und ein Werk hinterlassen haben, dessen Bedeutung und Nachhaltigkeit vermutlich auch über die Erwartungen der unmittelbar Beteiligten deutlich hinausweist: die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die manchen Besorgnissen zum Trotz zur Grundlage einer gefestigten Demokratie in Einheit und Freiheit geworden ist.

(Beifall)

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Parlament

MORAL IN DER WIRTSCHAFT - Festvortrag von Prof. Dr. Norbert Lammert anlässlich der Eröffnung des Berliner Büros Institute for European Affairs (INEA)

Sehr geehrter Herr Dr. Görling,
Herr Professor Gramke,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,


die weitverbreitete, ebenso liebenswürdige wie leichtfertige Neigung zu Übertreibungen kommt auch in der Ankündigung zum Ausdruck, niemand sei für die Behandlung des für die heutige Veranstaltung angekündigten Themas geeigneter oder gar berufener als der Präsident des Deutschen Bundestages. Ich kann das offen gestanden nicht erkennen. Ich bin weder Wirtschaftswissenschaftler noch Unternehmer, auch nicht Moralphilosoph, ich fühle mich bei diesem Thema ausdrücklich nicht als Experte, sondern verfüge hoffentlich gerade mal über das Maß an gesundem Menschenverstand, das nach meiner Lebenserfahrung allerdings für die Bewältigung der meisten fundamentalen Herausforderungen einer Gesellschaft ebenso unverzichtbar wie auskömmlich ist. Aber natürlich beteilige ich mich gerne an einem Dialog, an einer möglichst breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit einem Thema, das leider dringend geworden ist, nachdem wir in den vergangenen Wochen und Monaten mit einer bedrückenden Serie von Ereignissen und Vorgängen konfrontiert waren, die nicht nur das  Ansehen von konkreten Persönlichkeiten, sondern die Reputation von Institutionen und das Vertrauen in Systeme, in die politische und wirtschaftliche Verfassung dieser Gesellschaft mehr als nur oberflächlich tangiert haben.


Nun kann man natürlich mit den konkreten Fällen, die ich hier nicht in Erinnerung rufen muss, sowohl in einer dramatisierenden wie in einer banalisierenden Weise umgehen. Und vermutlich stimmen wir sofort alle miteinander überein, dass beides unangemessen wäre.


Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Industrie, Jürgen Thumann, hat vor wenigen Tagen in einem Interview erklärt, er könne nicht bestreiten, „dass es derzeit eine Negativserie gibt, aber aus meiner Sicht sind es Einzelfälle.“ Er hat dann in dem gleichen Interview hinzugefügt: „Offensichtlich  stimmen bei einigen Managern die Grundwerte einfach nicht mehr. Da geht sogar der Respekt für Menschen verloren.“ Die zweite Bemerkung ist jedenfalls so markig, dass sie bei der Wahrnehmung von wenigen Einzelfällen übertrieben erscheinen müsste. Tatsächlich müssen wir uns nicht mit der Frage quälen, in welchem statistischen Verhältnis die Problemfälle zu den Normalfällen sich in unserer Gesellschaft und in unserer Wirtschaft bewegen. Natürlich reden wir nach wie vor über Ausnahmen von der Regel. Aber zugleich reden wir über eine Situation, in der immer mehr Menschen den Eindruck haben, dass die Ausnahmen immer häufiger vorkommen und deswegen die Regel immer weniger stabil erscheint. Dieser Befund ist nun allerdings ernsthaft genug, um eine gründliche Befassung zu verdienen sowohl in der Wirtschaft wie in der Politik. Der rapide Verlust von Ansehen und Vertrauen nicht nur in Unternehmen oder Unternehmer, sondern in unsere Wirtschaftsordnung, hat pünktlich zu den Feierlichkeiten zum 60jährigen Bestehen der Sozialen Marktwirtschaft zum ersten Mal Daten erreicht, bei denen die Anzahl derjenigen, die Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft haben und sie für ein überlegenes Wirtschaftsmodell halten, nur noch die Minderheit gegenüber den Skeptikern und den Zweiflern darstellt. Neu daran ist, dass es sich hier nicht nur um ein historisch jedenfalls verständliches, ausgeprägtes Misstrauen im östlichen Teil Deutschlands handelt, sondern dass auch bei differenzierter Zählung zum ersten Mal auch in Westdeutschland nur noch eine Minderheit der Befragten ihre Zustimmung, ihr Vertrauen zu dieser Wirtschaftsordnung artikuliert.


Die im gleichen Zusammenhang erhobenen Daten zu Themen wie Einkommens- und Vermögensverteilung, Verteilungsgerechtigkeit, Anspruch auf soziale Gerechtigkeit im allgemeinen führen in der Gesamtbeurteilung fast zwangsläufig zu dem generalisierenden Befund, den ich gerade vorgetragen habe. Nur noch ein gutes Drittel der deutschen Bevölkerung ist im Jubiläumsjahr 2008 von den Vorzügen der Sozialen Marktwirtschaft überzeugt. Die Dramatik des Befundes wird besonders deutlich, wenn jeder für sich die Frage beantwortet, für wie glaubwürdig er eine solche Auskunft vor zehn Jahren gehalten hätte.


Ich werde zum angekündigten Thema „Moral in der Wirtschaft“ nun keinen Vortrag halten, schon gar keinen Festvortrag, zumal sich das Thema für einen solchen auch besonders wenig eignet, sondern ich habe mir vorgenommen, ein paar Anmerkungen im Umfeld dieses Themas zu machen, die sich mit Zusammenhängen beschäftigen, in denen man wohl das Problem verorten und mögliche Lösungen suchen muss. Da geht es um das Verhältnis von Ordnung und Moral, von Demokratie und Markt, von Gleichheit und Ungleichheit in einer Gesellschaft, von Ansprüchen und Erwartungen, es geht um Gerechtigkeit und es geht um Gemeinwohl, es geht um ein längst gründlich verändertes Verhältnis von Kapital und Arbeit, es geht um ein - wie mir scheint - auch zunehmend anderes Verhältnis von Unternehmen und Unternehmern und es geht schließlich im Saldo um das Verhältnis von Vertrauen und Misstrauen, das es in unserer Gesellschaft gegenüber Menschen und Institutionen gibt.


Ich will mit den beiden Begriffen Ordnung und Moral bzw. Demokratie und Markt beginnen. An den Anfang meiner Hinweise stelle ich ein Zitat von Jürgen Habermas, der heute seinen 79. Geburtstag feiert und nicht nur deswegen besondere Erwähnung verdient. In seiner berühmten „Theorie des kommunikativen Handelns“, einem seiner philosophischen Standardwerke, hat Jürgen Habermas geschrieben: „Zwischen Kapitalismus und Demokratie besteht ein unauflösliches Spannungsverhältnis; mit beiden konkurrieren nämlich zwei entgegengesetzte Prinzipien der gesellschaftlichen Integration um den Vorrang.“ Allein mit dieser These könnte man sich jetzt mühelos den Rest des Vormittages auseinandersetzen. Ich will mich mit zwei knappen Anmerkungen begnügen, zumal wir ja auch anschließend diskutieren wollen. Ich glaube, dass diese Beobachtung natürlich nicht frei erfunden, im Kern gleichwohl unzutreffend ist. Ich glaube, dass auch und gerade bei sorgfältiger und kritischer Betrachtung der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede zwischen einer wettbewerbsgesteuerten Wirtschaftsordnung auf der einen Seite und einer demokratischen politischen Ordnung einer Gesellschaft auf der anderen Seite ihre Gemeinsamkeiten relevanter sind als die Unterschiede. Beiden Systemen, der Wirtschaftsordnung Markt und der politischen Ordnung Demokratie, liegt das gleiche Strukturprinzip zugrunde, nämlich im Wettbewerb Ergebnisse zustande kommen zu lassen, nach nicht identischen, aber eben strukturell ähnlichen Verfahren.


Wir machen nicht erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts die gelegentlich ernüchternde Erfahrung, dass auch in stabilen demokratischen Systemen Fehlentwicklungen und Fehlleistungen möglich sind und dass sie auch in höchsten Rängen von Politik und Wirtschaft stattfinden können. Aber wir sollten mit dem notwendigen richtigen Hinweis auf diese Möglichkeit nicht den Blick auf die Erfahrung verstellen, dass unter den bisher bekannten politischen wie ökonomischen Systemen es keine ausgewiesenen Alternativen gibt, die schneller und wirkungsvoller stattgefundene Fehlentwicklungen und Fehlleistungen als solche offenbaren und Veränderungen erzwingen. Diese Fähigkeit, Transparenz zu erzwingen, Fehlentwicklungen zu identifizieren, Irrtümer zu korrigieren und falsche Entwicklungen abzustellen, ist keinesfalls ein zweitrangiges Merkmal für die tatsächliche Leistungsfähigkeit von Ordnungssystemen.


Der Umgang mit moralischen Ansprüchen gegenüber kodifizierten Systemen ist eine besonders delikate Herausforderung. Ich bin, wie Oswald von Nell-Breuning, der nicht als bedeutender Unternehmer, sondern als bedeutender Sozialethiker in die Nachkriegsgeschichte eingegangen ist, der Überzeugung, dass man diejenigen politischen und ökonomischen Systeme allen anderen Varianten vorziehen sollte, die die geringsten Ansprüche an die individuelle Moral stellen. Diese auf den ersten Blick verblüffende Auskunft, die man selbst auf den zweiten Blick für einen Anflug von Zynismus halten könnte, ist bei genauerem Hinsehen sehr gut durchdacht. Ein System, ob in der Wirtschaft oder in der Politik, das nur dann funktioniert, wenn alle Beteiligten mit hohen moralischen Ansprüchen an ihr eigenes Verhalten und insbesondere natürlich an das Verhalten anderer zu Rande kommt, kommt in der Regel überhaupt nicht zu Rande. Denn es zahlt Prämien auf diejenigen, die sich diesem erwarteten Moralkodex nicht beugen und nur den eigenen Vorteil verfolgen. Deswegen will ich ausdrücklich unter Betonung der Ernsthaftigkeit des Problems, das ich nicht für ein marginales und schon gar nicht für ein banales halte, gleich zu Beginn meine ausdrückliche Skepsis gegenüber gesetzlichen Regelungen zu Protokoll geben. Eine Gesellschaft, die moralische Ansprüche kodifizieren muss, die in gesetzliche Verpflichtungen umsetzen muss, was sie an sozialem Verhalten von ihren Mitgliedern erwartet, hat die Schlacht schon verloren, die auf dem Feld der Gesetzgebung gar nicht gewonnen werden kann.


Vielleicht kann ich in diesem Zusammenhang mit einem anderen Zitat weiterhelfen, das von Joseph Kardinal Ratzinger stammt, dem heutigen Papst: „Eine Moral, die [...] die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral.“


Gleichwohl haben wir Anlass darüber nachzudenken, ob in unserem Wirtschafts- wie in unserem politischen System, die beide aus guten Gründen so verfasst sind wie beschrieben, das Maß auch und gerade an moralischen Standards, an Verhaltensmustern gesichert ist, verlässlich unterstellt werden kann, ein Maß, ohne das Verfassungsinstitutionen wie Wirtschaftsunternehmen zwar nicht notwendigerweise ihre Funktionsfähigkeit, ganz sicher aber ihre Glaubwürdigkeit riskieren. Deswegen möchte ich ein paar Bemerkungen machen zum Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit als zwei nun tatsächlich sich besonders heftig im Wege stehenden Orientierungen nicht nur, aber insbesondere moderner Gesellschaften, die sich normativ durch den Gleichheitsgrundsatz und statistisch durch ein eher wachsendes Maß an Ungleichheit auszeichnen. Wie gehen Gesellschaften damit um, dass sie das Prinzip der Gleichheit aller Menschen als Verfassungsprinzip wie eine Fahne vor sich hertragen und gleichzeitig im täglichen Leben, in den tatsächlichen Lebensverhältnissen der Menschen ein immer höheres Maß an tatsächlicher Ungleichheit, wenn schon nicht bewirken, so doch zumindest tolerieren? Ich persönlich glaube nicht, dass es ein generelles Bedürfnis nach Gleichheit der tatsächlichen Lebensverhältnisse gibt. Anders formuliert, ich habe den Eindruck, dass die allermeisten Menschen mit dieser gerade erwähnten statistischen Ungleichheit relativ gut zurande kommen. Ungleichheit ist eine der größten Vorzüge der Schöpfung. Die Menschheit befände sich in einer völlig anderen Verfassung, wenn es Ungleichheit mit ihren stimulierenden Wirkungen einschließlich der Frustrationserfahrungen nicht gäbe. Ungleichheit wird aber immer dann ein Problem, wenn es keinen plausiblen Zusammenhang mehr gibt zwischen individueller Leistung und individuellem Einkommen, meinetwegen auch Exklusivität eines Angebots oder einer Leistung und damit verbundenem Einkommen oder Vermögen, sondern wenn der Eindruck entsteht, dass selbst bei verweigerter Leistung oder bei nachgewiesenen Fehlleistungen die Bezahlungen oder Abfindungen besonders üppig ausfallen.


Meine Damen und Herren, ich rede nicht über eine theoretische Fallkonstellation. Ich rede jetzt über die Lebenswirklichkeit. Nach jüngeren verfügbaren Statistiken erhalten die 128 Vorstände Deutscher Aktiengesellschaften mehr als eine Million Euro im Jahr. Die Chefs der 30 DAX-Konzerne verdienten im Jahr 2006 nach einer Untersuchung der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz durchschnittlich 3,42 Millionen Euro. Ist das ein Problem? Ich glaube nicht. Gibt es deshalb kein Problem? Doch, es gibt eins. Das Problem sind die zunehmend aus dem Lot geratenen Proportionen. Das Verhältnis der Vorstandsgehälter zu den Einkommen der übrigen Beschäftigten desselben Unternehmens hat sich in einer erstaunlichen Weise verselbständigt. In den 70er Jahren erhielt der Vorstandsvorsitzende eines Großkonzerns rund 25- bis 30-mal so viel Gehalt wie ein Arbeiter seines Unternehmens. In den 80ern war es rund 40-mal so viel, 1990 war es 100-mal so viel, im Jahr 2001 schließlich 350-mal so viel. Ich rede über Durchschnitte. In den Vereinigten Staaten, damit wir wenigstens den leisen Trost haben, anderswo sei es ja noch extremer, bekam der Vorstandsvorsitzende von Wal Mart 2005 mit 17,5 Millionen Dollar rund 900-mal so viel wie das Durchschnittseinkommen der Beschäftigten seines Unternehmens. Selbst als leidenschaftlicher Anhänger der Unverzichtbarkeit von Ungleichheit finde ich für diese Relationen keine überzeugende Begründung. Alles spricht für die Vermutung, dass die haushohe Mehrheit aller real existierenden Gesellschaften für solche Relationen keine nachvollziehbare Begründung findet. Was übrigens unter den Bedingungen einer demokratisch verfassten Gesellschaft hinreichend einschlägige Folgen hat. Für die Einschätzung der Angemessenheit von Relationen ist nämlich nicht das Selbstbewusstsein der Vorstandsmitglieder maßgeblich, sondern die Mehrheitsverhältnisse in der Wählerschaft. Und deswegen kann ich uns nur wechselseitig dringlichst empfehlen, die Erosionen ernst zu nehmen, die längst stattfinden. Und wenn ich jetzt nach den vorhin vorgetragenen Zahlen über die Reputation der Wirtschaftsordnung die Daten zum politischen System vortragen müsste, wären sie ja nur marginal besser. Die Bereitschaft, die Demokratie als bessere gegenüber denkbaren Alternativen zu akzeptieren, ist immer noch gerade so die Mehrheitsmeinung. Ein stolzer Befund. Aber die Minderheit, die auch das schon nicht mehr gelten lässt, wächst bedrohlich. Und zur Ergänzung des Befundes: Die Verteilung von Einkommen und Vermögen empfinden in Deutschland 73 Prozent der Bevölkerung als ungerecht. So hoch war der Anteil nie. Noch bei einer vergleichbaren Untersuchung vor gerade mal einem Jahr waren es 56 Prozent, die an dieser Stelle Vorbehalte gegenüber der Gerechtigkeit der Verteilungsrelationen angemeldet haben. Und was vielleicht noch aufschlussreicher ist: differenziert man die Skepsis der Befragten nach Parteipräferenzen, dann wird Sie nicht gänzlich überraschen, dass 91 Prozent der Anhänger der Linkspartei die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland als ungerecht empfinden. Bei der SPD sind es 76 Prozent, bei den Grünen-Wählern 75 Prozent, bei den Wählern der Union 66 Prozent und bei den Wählern der FDP 65 Prozent. Klartext: Bei den Wählerinnen und Wählern aller im Deutschen Bundestag vertretenen politischen Parteien beträgt die Einschätzung, wir haben es mit einer ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland zu tun, mindestens zwei Drittel. Mal nur nachrichtlich in Klammern: virtuell ist das eine verfassungsändernde Mehrheit.


Ich glaube, dieser Vertrauensverlust hat viel zu tun mit der grundlegenden Veränderung, die in den vergangenen drei, vier Jahrzehnten in Zeiten der Globalisierung im Verhältnis der beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital eingetreten ist. Seit Anfang der 70er Jahre, also seit fast vier Jahrzehnten, gibt es einen völlig eindeutigen statistischen Trend, dass die Wertschöpfung in unserer Volkswirtschaft, übrigens in allen anderen entwickelten Volkswirtschaften in einer sehr ähnlichen Weise, nicht mehr durch zusätzlichen Arbeitseinsatz zustande kommt, sondern durch die Verbindung von Kapitaleinsatz und Technologie, von Kapital und Wissen. Der Anteil der Arbeit an der Wertschöpfung moderner Volkswirtschaften befindet sich seit Jahrzehnten im Sinkflug. Und wir machen auch seit Jahren die eher schwierige Erfahrung, dass weder Arbeit verlässlich Wachstum schafft, noch Wachstum sicher Arbeit. Und wenn Sie sich den Zuwachs des Volksvermögens seit den 70er Jahren betrachten, dann machen Sie den ganz unmissverständlichen Befund, dass dieser Zuwachs ganz überwiegend auf Unternehmensgewinne und Kapitalerträge entfällt, während der Anteil der Arbeitseinkommen stagniert.


Nun müssen Sie mir nicht erklären, warum das so ist. Ich begreife das schon. Ich will nur darauf aufmerksam machen, das dies keine sich selbst erläuternde Entwicklung ist, die zu einer unaufhaltsamen Sympathiewelle für ein so verfasstes Wirtschaftssystem beiträgt. Und dass die Wirtschaft wie die Politik trotz einer relativ frühen Erkenntnis über diesen Zusammenhang nun seit Jahrzehnten das Thema einer überzeugenden Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital immer wieder vertagt hat, gehört zu den strategischen Fehlentwicklungen unseres Landes in einer im Ganzen eindrucksvollen 60-jährigen Geschichte. Zumal ja bei den gegebenen Rahmenbedingungen national und global fast nichts für die Vermutung spricht, dass sich diese Relationen in den nächsten Jahren in der gewohnten, vertrauten und viel sympathischeren Weise wieder zugunsten von Arbeitseinkommen korrigieren könnte.


Ich hatte darauf hingewiesen, dass nach meinem Eindruck sich auch das Verhältnis von Unternehmen und Unternehmern in einer bemerkenswerten Weise verändert, naturgemäß viel stärker in den größeren als in den kleineren und mittleren Unternehmen. Aber der Typus des persönlich und mit seinem Vermögen haftenden Unternehmers wird immer mehr zur seltenen Ausnahme, und der Typus des smarten Managers, der die Rentabilitätsinteressen des jeweiligen Unternehmens befördert, dominiert die Szene. Das ist mehr als eine marginale Veränderung der Rahmenbedingungen, zumal der zweite Typus von Unternehmer aus wiederum naheliegenden, um nicht zu sagen zwingenden Gründen ein ganz anderes Verhältnis zu seinem Unternehmen hat, mit dem ihn zunächst nicht mehr als ein Fünf-Jahres-Vertrag verbindet, übrigens bei statistisch auch nachweisbar immer kürzeren tatsächlichen Verweildauern im jeweiligen Unternehmen. Den Manager verbindet in der Regel - platt gesprochen - fast nichts mit dem Produkt des jeweiligen Unternehmens. Er hat ein vitales Interesse an den Bilanzen, die auch in immer kürzeren Fristen auf internationalen Kapitalmärkten Gegenstand intensiver Besichtigungen sind.


Wie soll man den Arbeitnehmern erklären, dass ihr Arbeitsplatz nicht gehalten werden kann, wenn weder das Produkt, das sie anbieten, am Ende seines Lebenszyklus angekommen ist, noch die Firma, die dieses Produkt herstellt, weder einen signifikanten Einbruch des eigenen Marktanteils hinnehmen muss noch eine negative Veränderung von Umsätzen oder Erträgen, wenn ganz im Gegenteil die Bilanz genau dieses betroffenen Unternehmens steigende Marktanteile, steigende Umsätze, Rekordgewinne ausweist und pro Beschäftigten des betroffenen Standortes einen Millionengewinn? Wie soll die Politik, bei der die Probleme dann regelmäßig abgeladen werden, wie soll die Politik den Arbeitnehmern erklären, dass ihr Arbeitsplatz leider nicht zu retten sei? Außer mit dem allerdings zutreffenden Argument, dass sich die Rentabilitätsinteressen in Zeiten der Globalisierung in der Weise verselbständigt haben, dass die Prioritäten ein für allemal in dieser Reihenfolge zementiert sind. Wenn dies aber die ehrliche und einzige Botschaft ist, dann möchte ich die nächsten Umfragen über das Ansehen von Marktwirtschaft am liebsten gar nicht mehr lesen.


Das heißt, ich empfehle uns dringend, uns mit Wirkungszusammenhängen auseinanderzusetzen, die zwischen der betriebswirtschaftlichen Rationalität vieler Entscheidungen, die ich nicht bestreite, und den ungewollten politischen Wirkungen eine zunehmend größere Diskrepanz entstehen lässt, die am Ende die Aufrechterhaltung der Ordnung gefährdet, in der überhaupt solche Zusammenhänge im wörtlichen und übertragenen Sinne „gemanagt“ werden können. Ich verkenne nicht, dass es sowohl in vielen Unternehmen wie in den Verbänden eine Reihe von bemerkenswerten Bemühungen gibt, diesem Problem, diesen Entwicklungen zu Leibe zu rücken. Dazu gehört ganz sicher auch der Versuch, über einen „Corporate Governance Kodex“ unterhalb von gesetzlichen Regelungen Ansprüche zu formulieren, von denen man - mit gesundem Menschenverstand - vermuten könnte, dass sie der Glaubwürdigkeit und damit der Akzeptanz von Unternehmen und von Systemen behilflich sind. Aber Sie können genauso wenig wie ich übersehen haben, dass die Popularität dieses Kodexes in der deutschen Wirtschaft an den Stellen am ausgeprägtesten war, an denen die sich daraus hergeleiteten Verpflichtungen am wenigsten belastbar war und umgekehrt die Zögerlichkeit bzw. Verweigerung prompt an den Stellen am ausgeprägtesten war, wo es handfest wurde: Offenlegung der individuellen Gehälter, Haftungsregelungen für Manager, Abfindungsregelungen. Meine Damen und Herren, da bleibt noch manches zu tun.


Ich hatte gestern Mittag - pünktlich zur Erinnerung an meinen heutigen Auftritt - in meiner Post den Brief eines internationalen Management Consultant Unternehmens, der nach der Anrede mit dem Satz beginnt: „All companies sell just one basic product - trust.“ Vielleicht besteht unser Problem in der Wirtschaft wie in der Politik im Augenblick darin, dass immer mehr Unternehmen, immer mehr Institutionen beim Sortieren ihrer ständig neuen Angebote dieses „basic product“ vernachlässigen, jedenfalls immer seltener im Schaufenster haben: Vertrauen.


Für andere Systeme mag gelten, dass sie jedenfalls über eine gewisse Zeit auch ohne Vertrauen funktionieren. Für Demokratie und Wettbewerbssysteme gilt das genaue Gegenteil. Sie haben so lange Bestand, wie eine stabile Mehrheit der in der Regel nicht unmittelbar beteiligten Menschen den Eindruck haben, dass es im Großen und Ganzen fair und gerecht zugeht. Und wenn sie diesen Eindruck verlieren, warum auch immer, dann kann man die Eieruhr stellen. Und deswegen bin ich den Veranstaltern außerordentlich dankbar, dass sie sich die wenig gemütliche Aufgabe gestellt haben, dieses Forum mit einem solchen Thema zu belasten, das allerdings mehr als manche andere Tagesfragen eine intensive Beschäftigung verdient.

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Parlament

Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages Prof. Dr. Norbert Lammert zum 25jährigen Jubiläum der Grünen im Bundestag im Goya-Club Berlin


Verehrte Honoratioren und Alternative,
liebe Kolleginnen und Kollegen Parlamentarier aus dem Deutschen Bundestag und aus anderen Parlamenten,
meine Damen und Herren,


damals vor 25 Jahren, als das begann, was wir heute feiern, der grüne Parlamentarismus, jedenfalls der Einzug der Grünen in das deutsche Parlament, war manches ganz anders und vieles schon genauso wie heute. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich war dabei. Ich gehöre zu der wahrscheinlich überschaubaren Minderheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der heutigen Veranstaltung, die die damaligen Verhältnisse im Deutschen Bundestag nicht nur vom Hörensagen kennen.


Nun eignet sich ein Grußwort, um das ich gebeten worden bin, natürlich weder für eine historische Würdigung noch für eine ernsthafte politikwissenschaftliche Analyse, aber es reicht für einen qualifizierten Glückwunsch, der gleich beiden gilt: Den Grünen und dem deutschen Parlamentarismus.


Angefangen hat die parlamentarische Existenz der Grünen sehr bunt, sehr alternativ, nicht immer sehr fröhlich, manchmal auch sehr verbissen. Gestartet als Antiparteien-Partei, als Bewegung, die mit „diesem ganzen Laden“ nichts zu tun haben wollte, dezidiert systemkritisch, aber den Vorzügen des Parteiengesetzes - und insbesondere der steuerlichen Parteienfinanzierung - auch damals durchaus aufgeschlossen. Die vom Bundespräsidenten eingesetzte Sachverständigenkommission zur Neuordnung der Parteienfinanzierung schrieb 1983 in ihrem Bericht:


„Die Entstehungsgeschichte der Partei ‚Die Grünen' stellt somit einen in der Geschichte der Bundesrepublik bisher einmaligen Fall staatlich subventionierter Parteigründung dar, der deutlich zeigt, wie problematisch eine ausschließlich am Wahlergebnis orientierte Wahlkampfkostenerstattung sein kann.“


Selbst die heftigen Bemühungen der Grünen-Fraktion, diesem Skandal durch Änderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen abzuhelfen, haben ganz offenkundig die erforderlichen Mehrheiten schon in der Fraktion nicht gefunden. Mit der Geschäftsordnung des Bundestages standen die Grünen nach meiner Erinnerung schon damals in einem - ich würde mal sagen - dialektischen Verhältnis, das sich zunehmend veränderte, nachdem man den eigenen finsteren Vermutungen zum Trotz auch die bemerkenswerten Minderheitenrechte entdeckt hatte, die die Geschäftsordnung des Bundestages nicht erst seit dieser Zeit vorsieht, die deswegen auch nicht geändert wurden, und die jedenfalls ausreichen, einer real existierenden Regierung manche Mühen zu machen.


Im Übrigen, das kann ich jetzt im Rahmen des Grußwortes leider nicht mit all den sorgfältig herausgesuchten Zitaten im Einzelnen belegen, lässt sich schon für die allererste Legislaturperiode, sogar schon für die erste Runde dieser Legislaturperiode nachweisen, wie sehr doch zunehmend ein immer beachtlicherer Teil dieser grünen alternativen Fraktion seinen Frieden mit dem real existierenden deutschen Parlamentarismus machte.


Da gibt es wunderschöne Zitate von Joschka Fischer aus dem Jahre 1983, was die Fortschrittlichkeit des Parlamentarismus als solchen betrifft. Von Antje Vollmer, die zerknirscht berichtet, sie halte jetzt vom deutschen Parlament wesentlich mehr als vorher, als sie ihm nicht angehört habe. Bis hin zu Hans Christian Ströbele, der gesagt hat: „Wenn wir uns schon auf diese seltsame Art von Demokratiespiel einlassen und wählen lassen, ist es unsere erste Aufgabe, diesen Parlamentarismus beim Wort zu nehmen.“ Was immer er darunter dann auch verstanden haben mag.


Jedenfalls sehe ich den Entwicklungen, die es in diesem Vierteljahrhundert dann gegeben hat, mit einer Mischung aus Respekt und Trauer hinterher, weil uns manche Aufschlüsse natürlich nicht mehr in der Weise zugänglich sind, wie das in den grandiosen Zeiten öffentlicher Fraktionssitzungen der Fall war. Und die jetzige Art der Presseberichterstattung über Gremiensitzungen ist ja doch nur ein bescheidener Abklatsch der damaligen Transparenz, deren Abschaffung unter diesem Gesichtspunkt natürlich dringend rechtfertigungsbedürftig ist. Dazu werden wir ja sicher heute im Laufe des Abends noch manches hören. Jedenfalls möchte ich denjenigen, die damals noch nicht dabei waren, den verzweifelten Brief des damaligen parlamentarischen Geschäftsführers Eberhard Bueb zur Kenntnis bringen, der mit Datum vom 17. Oktober 1985 an die Mitglieder der Fraktion unter Betreff „Miserabelste Koordination in der Fraktion in den Sitzungswochen“ folgenden Brief geschrieben hat:


„Liebe Leute.

so geht es wirklich nicht!

Ich bin nicht länger bereit, diese chaotische Arbeitsweise in der Fraktion zu tolerieren. (...) Die Verwaltung des Bundestages, die uns äußerst loyal gegenübersteht, macht Überstunden um Überstunden, nur weil Ihr nicht in der Lage seid, Anträge etc. fristgerecht abzugeben! (...)

Und noch was, liebe Leute:

Schaut mal in Euer kleines grünes Buch hinein, das ist die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, da steht auch drin, wozu Ihr welche Antragsarten, Kleine u. Große Anfragen, schriftl., mündl., dringliche Fragen etc. machen könnt.

Wenn Ihr das nach gut 2 1/2 Jahren parlamentarischer Praxis noch nicht intus habt, na dann Gute Nacht!

Mit bedauerlichen Grüßen

Eberhard Bueb“


Meine Damen und Herren, es kann ja nun gar nicht übersehen werden, dass es seit damals einen Professionalisierungsschub gegeben hat, den die meisten sich damals nicht nur nicht hätten vorstellen können, sondern vermutlich für rufschädigend gehalten hätten. Deswegen bleibt natürlich besonders bedauerlich, dass manche der liebenswürdigen, geradezu programmatischen Absichten in diesen 25 Jahren schließlich doch auf der Strecke geblieben sind: Dieses wunderschöne Rotationsprinzip, das den konkurrierenden Parteien das Leben wirklich leichter gemacht hat, oder die Öffentlichkeit von Fraktionssitzungen.


Auf der anderen Seite sind natürlich auch eine ganze Reihe von nachhaltigen Wirkungen im deutschen Parlamentarismus festzuhalten: Vollwertkost in sämtlichen Kantinen des deutschen Bundestages gab es zu Beginn der 80er Jahre definitiv nicht. Fahrradständer an Parlamentsgebäuden, die heute auch nicht mehr so ganz intensiv genutzt werden, ebenfalls nicht.


Im übrigen hätte ich natürlich gerne gewusst, was ich in Ermangelung der Live-Berichterstattung aus den Fraktionssitzungen heute nicht mehr weiß, ob es immer noch die Debatten über die Zulässigkeit der Benutzung von Dienstfahrzeugen der Fahrbereitschaft des Bundestages zur Anreise zu Demonstrationen gibt oder ob diese Frage nun ein für alle mal einvernehmlich entschieden ist. Alles große Themen der damaligen Gründerjahre einer grünen Parlamentsfraktion. Also, meine Damen und Herren, sie werden bei dieser Materialsammlung verstehen, dass ich es schon als ziemliche Härte empfinde, nur ein Grußwort, nicht aber eine fundierte Analyse vom unaufhaltsamen Aufstieg der Grünen im Kontext des deutschen Parlamentarismus vortragen zu dürfen.


Die heutige Veranstaltung findet nicht im Fraktionssaal der Grünen statt, auch nicht in der Bundesgeschäftsstelle, sondern im Goya-Club. Das war früher mal ein ebenso renommiertes wie alternatives Theater, hätte sich damals besonders gut für eine solche Veranstaltung geeignet, wurde dann mit erheblichem Aufwand umgebaut und sollte nach den Erläuterungen des Manager-Magazins - ausgerechnet des Manager-Magazins! - „...der exklusivste Nachtclub der Hauptstadt werden, mehr noch, das angesagteste Etablissement der ganzen Republik.“ Das hat dann nicht ganz so geklappt. Jedenfalls habe ich mich gefragt, wie wohl die Reaktion in der Grünen-Fraktion und in der deutschen Öffentlichkeit gewesen wäre, wenn der damalige parlamentarische Geschäftsführer Joschka Fischer in seiner Begabung und Verpflichtung zu Visionen im Gründungsjahr der Fraktion angekündigt hätte, er plane unter anderem auch die Feierlichkeiten zum 25jährigen Bestehen, und er habe sich zu diesem Zweck eine gediegene, größere Veranstaltung vorgestellt, die im unnachsichtigen Kampf gegen das Kapital im Goya-Club in Berlin nach vollzogener Wiedervereinigung stattfinden sollte. Im Übrigen spiele er mit dem Gedanken, zu dieser Veranstaltung notfalls auch einen der Union angehörigen Parlamentspräsidenten als Ehrengast einzuladen, den er im damaligen Tagesgeschäft vorzugsweise als „Armleuchter“ - mit Verlaub - zu bezeichnen pflegte. Wir hätten das alle miteinander für eines dieser berüchtigten, satirischen Kabinettstückchen gehalten, mit denen er uns damals - nicht immer - aber doch immer wieder fraktionsübergreifend viel Freude gemacht hat.


Und da er heute Abend ja glücklicherweise dabei ist und manches nachher, wenn schon nicht korrigieren, so doch präzisieren kann, will ich ihm noch eine wichtige Veränderung mitteilen, die jedenfalls nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag eingetreten ist. Für die Anfangsjahre der Grünen, des grünen Wirkens im deutschen Parlament, erklärt Joschka Fischer in einem Interview im Pflasterstrand vom April 1983:


„Der Bundestag ist eine unglaubliche Alkoholikerversammlung, die teilweise ganz ordinär nach Schnaps stinkt. Je länger die Sitzung dauert, desto intensiver.“


Lieber Joschka, das ist definitiv besser geworden. Jedenfalls stinkt es nicht mehr so, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass Holundersekt nicht den penetranten Geruch entwickelt, der früher von dir in Sitzungen des Deutschen Bundestages beobachtet worden ist.


Meine Damen und Herren, verehrte alternative Kolleginnen und Kollegen, sage irgendeiner, in diesen 25 Jahren habe sich die Republik nicht verändert. Sie hat sich verändert, ganz offenkundig, und die Grünen insbesondere. Das eröffnet - wie ich finde - für beide die schönsten Prognosen für die Zukunft: Für die Grünen wie für das Parlament. Und zu beidem gratuliere ich herzlich.

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Parlament

„Deutschland gratuliert: 60 Jahre Israel“ Rede des Bundestagspräsidenten zum Festakt der Frankfurter Paulskirche

Deutschland gratuliert Israel zum 60. Geburtstag!


Dieser schlichte Satz ist bei weitem nicht so banal wie er sich anhört. Dass die Deutsch-Israelische Gesellschaft, der Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Zentralrat der Juden in Deutschland gemeinsam einen Festakt zum israelischen Staatsjubiläum ausrichten, gehört zu den scheinbaren Selbstverständlichkeiten, an die wir uns zu gewöhnen begonnen haben.


Tatsächlich erscheinen die heutigen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel beinahe wie ein Wunder der Geschichte, gemessen an der entsetzlichen Vergangenheit, die Deutsche und Juden immer in beispielloser Weise verbinden wird.


In den gut sechs Jahrzehnten nach der Befreiung der Konzentrationslager hat sich eine Freundschaft entwickelt, auf die niemand ernsthaft hoffen konnte. Schließlich waren unter den Staatsgründern Israels die Überlebenden der Todeslager und die Vertriebenen aus den zerstörten Ghettos.


Der heutige Staatspräsident Simon Peres hat daran erinnert, dass im jungen israelischen Staat „die Auffassung überwog, dass der Bruch mit Deutschland endgültig und ewig sein müsse“.


Dies zeigt einmal mehr: Wer über die Zukunft der deutsch-israelischen Beziehungen reden will, der muss auch über die Vergangenheit reden.


Schon vor über 80 Jahren wurde das „Deutsche Komitee Pro Palästina“ gegründet, 1926 in Berlin. Gründungsmitglieder waren unter anderem Reichstagspräsident Paul Löbe, der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, Albert Einstein, Thomas Mann, Eduard Bernstein und Leo Baeck.


Im Programm des Komitees hieß es, man werde „in der Überzeugung, dass der Aufbau der im Palästinamandat vorgesehenen Heimstätte für das jüdische Volk als ein Werk menschlicher Wohlfahrt und Gesittung Anspruch auf die deutschen Sympathien und die tätige Anteilnahme der deutschen Juden hat, bemüht sein, die deutsche Öffentlichkeit über das jüdische Kolonisationswerk in Palästina aufzuklären, die Beziehungen zwischen Deutschland und Palästina und die Versöhnung der Völker zu pflegen“.


Leider hat sich die Geschichte völlig anders entwickelt


In genau einem Jahr wird die Bundesrepublik Deutschland 60 Jahre alt, gegründet auf der Verabschiedung eines Grundgesetzes, das „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gleich im ersten Artikel sein grundlegendes Selbstverständnis formuliert hat: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt“.


Zwischen den beiden Staatsgründungen, den Daten und Ereignissen, gibt es einen inneren Zusammenhang. Der israelische Staat ist auf der Asche des Holocaust gegründet, die zweite deutsche Demokratie auf den Trümmern eines totalitären Regimes, das die Würde des Menschen in einer beispiellosen Weise angetastet und in einer monströsen Verbindung von Menschenverachtung und Größenwahn am Ende das eigene Land politisch, ökonomisch und moralisch ruiniert und Millionen Opfer zurückgelassen hat.


Es war ein doppelter Glücksfall, dass mit Konrad Adenauer und David Ben Gurion in beiden Ländern unmittelbar nach der Staatsgründung die jeweiligen ersten Regierungschefs die Einsicht und die Größe zu einem völligen Neuanfang hatten.


Zwischen Adenauer und Ben Gurion ist damals das Vertrauen neu entstanden, das Grundlage einer neuen, immer engeren Zusammenarbeit und schließlich der Freundschaft zwischen unseren Ländern geworden ist.


Das heutige Jubiläum ist deshalb auch und vor allem ein Anlass zur Dankbarkeit; Dankbarkeit für die Arbeit und den Einsatz all der Frauen und Männer in Israel, die neue Brücken gebaut und alte Wege wieder gangbar gemacht haben: Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer und Künstler.


60 Jahre Israel ist Anlass zur Freude. Unter außergewöhnlich schwierigen Bedingungen ist in Israel, gestützt auf eine Entscheidung der Vereinten Nationen, nicht nur eine Heimstatt der Juden aus aller Welt entstanden, sondern eine offene, freie Gesellschaft und ein starker demokratischer Staat: Bis heute die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten. Und noch beachtlicher als ihr Entstehen erscheint ihre Stabilität auch unter den existenziellen Herausforderungen aller zurückliegenden Jahrzehnte.


Schließlich sind 60 Jahre Israel Anlass für großen Respekt. Respekt für eine herausragende Leistung des politischen und wirtschaftlichen Aufbaus und einer außerordentlichen sozialen Integration.


Von damals kaum mehr als 600.000 Einwohnern ist Israel in 60 Jahren auf eine Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen gewachsen. Jahr für Jahr werden viele Tausende Zuwanderer aus beinahe allen Ländern der Welt integriert. Heute lebt etwa die Hälfte der jüdischen Weltbevölkerung in Israel, einem Staat, an dessen Gründung nur ein Bruchteil der damals über den Globus verstreuten Juden aktiv beteiligt war.


Ungetrübt ist dieses Jubiläum gleichwohl nicht, weder mit Blick auf die innere Verfassung noch die äußeren Bedingungen:

  • Auch sechzig Jahre nach der Staatsgründung hat Israel noch immer keine gesicherten Grenzen,
  • Sieben Kriege hat das Land in dieser Zeit überstehen müssen.
  • Bis heute gibt es keinen Frieden mit den Palästinensern.


„Dass wir es nicht geschafft haben, Frieden mit unseren Nachbarn, den Palästinensern, zu schließen“ hat der neue israelische Botschafter in Deutschland, Yoram Ben-Zeev, vor einigen Tagen in einem Interview als „größten Fehler in den 60 Jahren“ bezeichnet (Badisches Tageblatt vom 6. Mai 2008).


Wer jemals das Elend der Palästinenser insbesondere im Gazastreifen gesehen hat, der muss in der Tat auch nach der israelischen Verantwortung für die aktuellen Verhältnisse fragen. Und natürlich ist die Frage erlaubt, ob manche Sicherheitsvorkehrungen - zum Beispiel im Westjordanland mit rund 600 Kontrollposten - nicht eher den Islamismus fördern als die Friedensbereitschaft auf beiden Seiten.


Und diese Debatte findet statt, nicht nur in der internationalen Öffentlichkeit, sondern insbesondere unter den Israelis selbst. „Die Neigung der Mehrheit der Israelis, ein Fortdauern des Konflikts als Teil des Alltags zu akzeptieren, ist Beleg dafür, wie weit sie sich vom Idealismus und von den Hoffnungen der ersten Israelis entfernt haben“, schreibt Tom Segev, ein prominenter israelischer Historiker und Publizist in seinem Artikel „Heiliges verrücktes Land“ zum Staatsjubiläum (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Mai 2008).


Der israelische Botschafter in Deutschland hat in seinem bereits zitierten Interview keine Zweifel daran gelassen, dass auch die israelische Politik Veränderungen braucht: „Israel kann nicht für alle Zeit als Besatzer wahrgenommen werden. Das verhindert sonst wahren Frieden. Es ist besser für uns und unsere Kinder, nicht dauerhaft Besatzer zu sein (…) Israel wird sich aus dem Westjordanland zurückziehen müssen. Die Regierung hat beschlossen, keine weiteren Sperranlagen an der Grenze zu errichten. Diese haben den Palästinensern schon viel Leid zugefügt. Auch darf Israel keine weiteren Siedlungen in Ostjerusalem bauen. Wichtig ist nur, dass Israels Sicherheit gewährleistet ist“.


Das eine muss in der Tat so klar und eindeutig sein wie das andere: Israel muss mit demselben Recht wie seine Nachbarn in international anerkannten Grenzen leben können, frei von Angst, Terror und Gewalt.


Manches ist verhandelbar, das Existenzrecht Israels nicht.


Ein atomar bewaffneter Staat in seiner Nachbarschaft, geführt von einem offen antisemitisch orientierten Regime, ist nicht nur für Israel unerträglich. Die Weltgemeinschaft darf eine solche Bedrohung nicht dulden.


Deutschland ist nicht irgendein Mitglied dieser Weltgemeinschaft. Wir haben für die Existenz und die Sicherheit Israels eine historisch begründete besondere Verantwortung.


Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dies in ihrer denkwürdigen Rede vor der Knesset vor wenigen Wochen eindrucksvoll unterstrichen.


„Normal“ sind die Beziehungen zwischen unseren Ländern nie gewesen, „normal“ dürfen sie nie werden, sie werden immer ganz besondere sein und bleiben müssen.


Im sechzigsten Jahr des Staates Israel - und ein Jahr vor dem 60. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland - gibt es dafür neben bewährten Strukturen neue Signale.

  • Über einhundert Städtepartnerschaften gibt es zwischen deutschen und israelischen Kommunen.
  • Dutzende von Hochschul- und Wissenschaftskooperationen.
  • Es gibt einen lebhaften, wechselseitig befruchtenden Kulturaustausch,
  • und intensive, weiter wachsende Handelsbeziehungen.


Zusätzlich wird es in Zukunft regelmäßige, jährliche Regierungskonsultationen geben, die Deutschland bislang nur mit sechs Ländern unterhält, und Israel ab sofort nur mit einem einzigen: Deutschland. Ausgerechnet Deutschland.


In ihrem Beitrag für die Wochenzeitung des Bundestages „Das Parlament“, hat die Präsidentin des israelischen Parlaments, der Knesset, Dalia Itzik, unter der mehrdeutigen Überschrift „Am Anfang war Wüste“ einen Satz geschrieben, der unauffällig daherkommt, aber nichts weniger ist als spektakulär. „Deutschland ist heute der größte Freund Israels in Europa. Es ist neben den USA das einzige Land der Welt, das Israel auf sicherheitspolitischer, militärischer und wirtschaftlicher Ebene hilft.“


Freundschaften kann man sich nicht verdienen. Freundschaften sind ein Geschenk, auf das es keinen Anspruch gibt. Zwischen Deutschland und Israel schon gar nicht.


Dass unsere beiden Länder heute, nach sechzig Jahren, nicht nur durch eine beispiellose Vergangenheit miteinander verbunden sind, sondern auch durch beispielhafte gemeinsame Werte und Orientierungen, dass sie gemeinsame Interessen für eine gemeinsame Zukunft haben, das ist das schönste denkbare Geschenk, das wir uns wechselseitig zum Jubiläum machen können.


Deutschland gratuliert Israel. Dass diese Freundschaft bestehen bleibt, sich weiter festigt und entwickelt, das ist unser aller Wunsch zum 60. Geburtstag.

 

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Parlament

Rede des Bundestagspräsidenten anlässlich der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages „Die Zerstörung der Demokratie in Deutschland vor 75 Jahren“

 

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Verehrte Repräsentanten der Verfassungsorgane unseres Landes! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Exzellenzen! Meine Damen und Herren!

Als am 10. Mai 1933 mitten in der Hauptstadt unter staatlicher Regie und Aufsicht 20 000 Bücher verbrannt wurden, darunter die Werke der bedeutendsten deutschen Schriftsteller und Publizisten, direkt neben der Staatsoper Unter den Linden, vor der Hedwigs-Kathedrale, gegenüber der Humboldt-Universität - ein bizarres Staatsschauspiel in der unglaublichen Kulisse der Berliner Repräsentationsbauten von Kunst, Kirche und Wissenschaft -, war das sogenannte Tausendjährige Reich gerade einmal 100 Tage alt. Damals hatte das neue Regime innerhalb weniger Wochen nach einem legalen Regierungswechsel schon beinahe alles durchdekliniert, was die nächsten zwölf Jahre bestimmen sollte: Rechtsbruch, Verfassungsbruch, Zivilisationsbruch.

Mit dem Weg in die nationalsozialistische Diktatur vor 75 Jahren verbindet sich eine Reihe bedeutsamer Gedenktage, an die wir in dieser Stunde im Deutschen Bundestag erinnern. Die Zeit des NS-Regimes hat am 30. Januar 1933 begonnen - die Auflösung der Weimarer Republik zweifellos früher. Das eine ist aber ohne das andere nicht erklärbar.

Am 10. April 1932, heute auf den Tag genau vor 76 Jahren, gewann im zweiten Wahlgang der greise Paul von Hindenburg als Amtsinhaber die Reichspräsidentenwahl. Um Hitler zu verhindern, hatten sich alle demokratischen Parteien hinter diesen Mann gestellt, der als bekennender Monarchist sieben Jahre zuvor gegen ihren begründeten Widerstand mit den Stimmen der Republikfeinde ins Amt gehoben worden war.

Dass die Republik von Weimar neben vielen anderen Problemen gewiss zu wenig überzeugte und engagierte Demokraten hatte - bis in die Spitzen der Verfassungsorgane hinein -, gehört zu ihren größten Belastungen, unter denen sie schließlich zusammengebrochen ist.

Die politische Kultur der Weimarer Republik litt von Beginn an unter dem weitverbreiteten Zweifel über die Vorzüge und die Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie. Diese Skepsis war genährt von Vorbehalten gegenüber dem Prinzip der Repräsentation und vom Misstrauen in die pluralistisch-demokratischen Entscheidungsprozesse. Das verbreitete Unverständnis für die Notwendigkeit von Kompromissen stürzte 1930 die letzte von einer parlamentarischen Mehrheit getragene Reichsregierung. In der Auseinandersetzung um eine Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge erwiesen sich in der damaligen Großen Koalition aus SPD, Zentrum, Deutscher Volkspartei, Deutscher Demokratischer Partei und Bayerischer Volkspartei die jeweiligen Parteiinteressen größer als die gemeinsame Verantwortung für stabile politische und wirtschaftliche Verhältnisse. Schließlich wurde das Scheitern der Regierung eher in Kauf genommen als der Konflikt mit der eigenen Klientel. Die Republik ist deshalb keineswegs nur an ihren vielen Gegnern, die es zweifellos gab, zugrunde gegangen, sondern auch durch das Versagen ihrer demokratischen Stützen. In einer beispiellosen Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung, mit der sich in Straßen- und Saalschlachten zunehmend der Eindruck eines begonnenen Bürgerkrieges verbreitete und Pöbeleien und Prügeleien als Obstruktionsstrategie der Republikfeinde zum parlamentarischen Alltag wurden, wuchs sich die Missachtung des Reichstages zu einer Parlamentsverachtung breiter Bevölkerungsschichten aus, die schließlich auch im Parlament selbst immer hemmungsloser zum Ausdruck kam.

Das Ende der Weimarer Demokratie war weder zufällig noch zwangsläufig. Dies ist bei allen offenen Fragen über die tieferen Ursachen des Siegeszuges der Nationalsozialisten ein fundiertes historisches Urteil. Am 30. Januar 1933 wurde an die Spitze der ersten deutschen Republik ein Mann gestellt, der diese nicht nur öffentlich verhöhnte, sondern auch geschworen hatte, sie zu vernichten. „Ich prophezeie feierlich“, äußerte sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein prominenter Zeitgenosse, der über persönliche Erfahrungen mit Hitler verfügte, „dass dieser unselige Mann unser Reich in den Abgrund stürzen und unsere Nation in unfassbares Elend bringen wird.“ Es war General Erich Ludendorff, der nur zehn Jahre zuvor noch maßgeblich an Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle in München und am damals missglückten Umsturzversuch beteiligt gewesen war.

Illusionen über die künftigen Verhältnisse hätte niemand haben dürfen. Adolf Hitler hatte nie einen Zweifel daran gelassen, was er mit der Macht anstellen würde, wenn er sie nur bekommen würde. Im sogenannten Ulmer Reichswehrprozess hatte er 1930 nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal offen erklärt, die NSDAP werde, sollte sie an die Macht kommen, die Weimarer Verfassung auf legalem Wege in eine völlig andere staatliche Grundordnung umformen.

Viel Zeit hat er sich dafür nicht genommen. Mit seinem Einzug in die Reichskanzlei begann die systematische Zerstörung einer Demokratie, der seine Partei unmissverständlich den Kampf angesagt hatte.

In dieser Republik, der es erkennbar an Demokraten fehlte, war der Anspruch auf politische Teilhabe des Volkes bereits seit 1930 unterlaufen. Mit den Präsidialregierungen auf der Grundlage des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung war die parlamentarische Demokratie weitgehend ausgeschaltet. Die präsidialen Notverordnungen hatten immer häufiger die Gesetzgebung unter parlamentarischer Kontrolle verdrängt. Nach den Juliwahlen 1932 tagte der Reichstag gerade noch zweimal - Hermann Göring war inzwischen Reichstagspräsident -, nach den Neuwahlen vom November dreimal.

Vor diesem Hintergrund entwirft die vom NS-Regime geprägte, bis heute oft wiederholte Behauptung, die Nationalsozialisten hätten 1933 in einer Demokratie mit demokratischen Mitteln die Demokratie besiegt, ein allzu simples Bild der politischen Realitäten am Ende der Weimarer Republik. Ebenso ist der zeitgenössische zynische Kommentar Oswald Spenglers, die Machteroberung der Nationalsozialisten sei kein Sieg gewesen, denn es hätten die Gegner gefehlt, schlicht falsch. Vielmehr wurde unmittelbar mit dem Machtantritt am 30. Januar unter Berufung auf die erlassenen Notverordnungen mit beispiellosem politischem Terror der Weg in die Diktatur eingeschlagen. 500 bis 600 Regimegegner wurden bereits damals ermordet. Allein in Preußen kam es im März/April zu Festnahmen von annähernd 30 000 politischen Gegnern, die Mehrzahl von ihnen Kommunisten.

Der Reichstagsbrand am 27. Februar und in dessen unmittelbarer Folge die Außerkraftsetzung der Grundrechte durch die sogenannte Verordnung zum Schutz von Volk und Staat, die Reichspräsident Paul von Hindenburg auf Antrag der Reichsregierung schon am folgenden Tag erließ, bot das Mittel zur verschärften staatlichen Verfolgung politischer Gegner, zur brutalen Zerschlagung jeder Opposition, in den Parteien, den Gewerkschaften, den Kirchen und unter den Intellektuellen. Sie wurden politisch kaltgestellt, verfolgt, in Gefängnisse verschleppt, aus dem Land getrieben, ermordet.

Von insgesamt 1 583 damals noch lebenden amtierenden oder ehemaligen Reichstagsabgeordneten mussten nach dem 30. Januar 1933 über 300 massive Behinderungen und soziale Einbußen hinnehmen, wurden aus ihren Berufen verdrängt und um ihr Vermögen gebracht. Wenigstens 416 Mandatsträger wurden von der Justiz verurteilt und von SA oder SS inhaftiert, wobei mindestens 73 während dieser Haft ums Leben kamen. Nicht weniger als 167 ehemalige Parlamentarier waren ab 1933 zur Ausreise gezwungen. Von sechs Parlamentariern ist bekannt, dass sie in den Selbstmord getrieben wurden.

Unter den noch am 28. Februar 1933 in sogenannte Schutzhaft genommenen Literaten und Publizisten befanden sich Carl von Ossietzky, Erich Mühsam und Egon Erwin Kisch. Noch am selben Tag verließen Bertolt Brecht und Alfred Döblin Berlin. Mit der Machtübernahme war bereits Lion Feuchtwanger von einer Vortragsreise im Ausland nicht mehr zurückgekehrt, ebenso Albert Einstein. Am 11. Februar ging Thomas Mann ins Exil. Viele prominente Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur, aber auch Betroffene aller Bevölkerungsschichten, insbesondere deutsche Juden, folgten diesem Beispiel. Die Emigration aus Deutschland nach 1933 umfasste annähernd eine halbe Million Menschen; schätzungsweise 30 000 davon sind als aktive Regimegegner geflohen.

Unter diesen Bedingungen fanden die Hitler zugesagten Neuwahlen zum Reichstag am 5. März 1933 statt, die den politischen Behinderungen und dem massiven Straßenterror zum Trotz der NSDAP dennoch mit 44 Prozent weniger und den Parteien der Linken mit einem Drittel der Stimmen mehr als erwartet einbrachten.

Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, das als Ermächtigungsgesetz in die Geschichte einging, zementierte am 23. März 1933 die nationalsozialistische Diktatur. Es wurde in einem Parlament verabschiedet, in dem die Mandate der KPD in einem offenen Verfassungsverstoß als nichtexistent behandelt wurden, einem Parlament, in dem die neuen Machthaber die Geschäftsordnung handstreichartig geändert hatten, um der NSDAP die nötige Mehrheit zu sichern, die sie selbst unter den Bedingungen der Wahl vom März 1933, die weder frei noch fair war, alleine nicht erzielt hatte.

Weder die breite Öffentlichkeit noch die meisten Vertreter der Parteien und Verbände hatten die ganze Dimension und die weitgehenden Folgen dieses Gesetzes erkannt, das an Tragweite alle Ermächtigungen übertraf, die das Parlament jemals einer Regierung bewilligt hatte. Ohne jede parlamentarische Kontrolle war den Befugnissen der Reichsregierung künftig keine rechtliche Schranke mehr gezogen. Die Regierung, nicht das Parlament, war künftig befugt, Gesetze zu „erlassen“, die auch von der Verfassung abweichen konnten - und sollten. Dies bedeutete das Ende des Rechtsstaates mit Folgen nicht nur für die staatliche Ordnung, sondern auch für das Leben jedes einzelnen Bürgers.

Ich bin Ihnen, Herr Kollege Vogel, außerordentlich dankbar, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind, die Bedeutung dieses Ereignisses im Kontext der Geschichte der Weimarer Republik und für dieses Land in dieser gemeinsamen Gedenkstunde in besonderer Weise zu würdigen.

Meine Damen und Herren, im Völkischen Beobachter lieferte zu dieser Zeit eine kleine Meldung eine Vorahnung dafür, was in einem nie gesehenen Terrorsystem enden sollte. Sie kündigte die Errichtung eines ersten Konzentrationslagers mit einem Fassungsvermögen für 5 000 Menschen in der Nähe von Dachau an, wo „ohne Rücksicht auf kleinliche Bedenken“ die kommunistischen, aber auch sozialdemokratischen Funktionäre untergebracht werden sollten.

Der Artikel erschien am 21. März 1933. An diesem sogenannten Tag von Potsdam reichten sich in der Potsdamer Garnisonskirche die Republikgegner über dem Grab Friedrich des Großen und 62 Jahre nach der ersten Reichstagseröffnung durch Bismarck die Hand. Es war die symbolische Versöhnung von einer am Kaiserreich orientierten konservativ-reaktionären Tradition mit der vermeintlich „nationalsozialistisch-revolutionären Erneuerung“. Diese beinahe operettenhafte Potsdamer Inszenierung ging dem tragischen Schauspiel in der Kroll-Oper am 23. März voraus. Hier folgte - schon unter der demonstrativen, doppelt symbolkräftigen Dekoration eines riesigen Hakenkreuzes auf der Stirnwand einer als Parlamentssaal ausstaffierten Opernbühne - der Auslieferung des Staates durch die konservativ-reaktionären Machteliten Ende Januar die Selbstaufgabe des Parlamentes zugunsten der Regierung, einer Regierung, deren Kanzler den Reichstag noch unmittelbar vor der Abstimmung mit der unglaublichen Herablassung düpierte, sie - die Regierung - behalte sich „auch für die Zukunft vor, ihn von Zeit zu Zeit über ihre Maßnahmen zu unterrichten oder aus bestimmten Gründen, wenn zweckmäßig, auch seine Zustimmung einzuholen.“ Das deprimierende Protokoll dieser Reichtagssitzung kann heute auch und gerade denjenigen als abschreckendes Beispiel für die mutwillige Zerstörung einer Demokratie dienen, die die damaligen Verhältnisse in Deutschland, wenn überhaupt, nur vom Hörensagen kennen.

Staatshörigkeit und Legalitätsglaube, vage Zusicherungen und Versprechen, politische Einschüchterung und brutale Bedrohung brachten die Zustimmung der notwendigen Zweidrittelmehrheit. Das Ermächtigungsgesetz war im bürgerlichen Lager das Ergebnis von Erpressung, Täuschung und Selbsttäuschung, sagt der Historiker Heinrich August Winkler. Er hat den politischen „Mehrwert“ dieses Gesetzes für die Stabilisierung des Regimes pointiert in die Worte gefasst:

Der Schein der Legalität förderte den Schein der Legitimität und sicherte dem Regime die Loyalität der Mehrheit, darunter, was besonders wichtig war, der Beamten.

Bei der Abstimmung im Reichstag fehlten 107 Abgeordnete: die 81 Fraktionsmitglieder der KPD und auch 26 Abgeordnete der SPD, die bereits in Haft saßen oder sich aus berechtigter Angst um ihr Leben auf der Flucht befanden. Es ist das historische Verdienst der 94 verbliebenen sozialdemokratischen Abgeordneten, mit großem persönlichem Mut der Repression widerstanden zu haben. Sie weigerten sich, dem gewalttätigen Umsturz hinter der Fassade einer scheinbaren parlamentarischen Normalität den Ausweis von Legalität zu geben. Sie sind damit - die meisten von ihnen damals wie heute der breiten Öffentlichkeit unbekannt - zu stillen Helden der Demokratie und des Parlamentarismus in Deutschland geworden. Einer von ihnen war Paul Löbe, langjähriger Präsident des Reichstages, später Alterspräsident des ersten Deutschen Bundestages; er wertete das Ermächtigungsgesetz 1949 als einen „illegalen Akt“ und den Widerstand dagegen als „eine patriotische Tat“. Als das wollen und werden wir es in ehrendem Gedenken behalten.

Der Fraktionsvorsitzende der SPD, der Abgeordnete Otto Wels, aus dessen Rede wir gleich im Anschluss den zentralen Abschnitt hören werden, sprach die letzten wirklich freien Worte im Deutschen Reichstag, der damals in diesem Gebäude schon nicht mehr zusammentreten konnte und nach dieser Sitzung auch nicht mehr gebraucht wurde. Angesichts der Machtlosigkeit und des Verlustes an Freiheit reklamierte er für alle im Widerstand stehenden Deutschen nur mehr die Ehre, die offensichtlich mehr als eine „Sekundärtugend“ ist.

Auf sie bezog sich auch der nach Österreich emigrierte Schriftsteller Oskar Maria Graf, als im Mai 1933 in über 50 deutschen Städten - übrigens auf Initiative der Deutschen Studentenschaft - die Bücher von mehr als 250 Autoren verhöhnt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, darunter die Werke der Gebrüder Mann, von Bertolt Brecht, Stefan Zweig, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Erich Kästner, Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky. „Diese Unehre habe ich nicht verdient!“, hieß es in Grafs öffentlichem Aufschrei, als er sich selbst auf der Liste verfemter Schriftsteller nicht fand.

Joseph Roth hatte schon ein Jahr vor diesem Akt der Unkultur gegenüber Freunden geäußert: „Sie werden unsere Bücher verbrennen und uns damit meinen.“ In seinem Fall meinte dies zweierlei: den Intellektuellen und den Juden. Nur eine knappe Woche nach dem Ermächtigungsgesetz, am 1. April 1933, zeigte sich die menschenverachtende Rassenideologie in einer von den neuen Machthabern gesteuerten und reichsweit durchgeführten Aktion gegen die deutschen Juden. Der Boykott jüdischer Geschäfte, der von nackter Gewalt auf offener Straße begleitet war, und das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, mit dem Beamte „nicht-arischer Abstammung“ in den Ruhestand versetzt wurden, bildeten das unübersehbare Fanal einer brutalen Ausgrenzung, die in die Vernichtungslager führen sollte. Den Frontalangriff der Nationalsozialisten auf die Menschenrechte zeichnete Joseph Goebbels in seinem Boykottaufruf in gewohnt großen historischen Linien. Seine Parole, das Jahr 1789 aus der Geschichte zu streichen, machte deutlich: In Abkehr von den westlichen Prinzipien - Toleranz, individuelle Freiheit, Gewaltenteilung, Demokratie und Rechtsstaat - meinte die Idee der Nation im NS-Verständnis die Volksgemeinschaft in einem autoritär geführten Staat. Der ausdrückliche Abschied von der unantastbaren Würde des Menschen führte schließlich in den Holocaust als beispiellosem Menschheitsverbrechen.

Das Jahr 1933 lässt sich ebenso wenig aus der Geschichte streichen wie irgendein anderes davor oder danach. So weit reicht der maßlose Anspruch auch von Despoten nicht. Aber er reicht erschreckend weit:

Am 2. Mai, unmittelbar nach dem Tag der Arbeit, werden überall in Deutschland die Gewerkschaftshäuser gestürmt, am 22. Juni wird die SPD verboten, die anderen Parteien lösen sich scheinbar freiwillig auf.

Schon Mitte des Jahres, nach gerade einmal fünf Monaten, ist das Parteiensystem - wie angekündigt - beseitigt, die NSDAP die einzig verbliebene selbstständige Organisation. Bis dahin waren ihr mehr als 1,5 Millionen Menschen als Mitglieder beigetreten - mehr als alle demokratischen Parteien in Deutschland heute zusammen an Mitgliedern haben. Freie Wahlen haben danach nicht mehr stattgefunden. Es fehlten dafür inzwischen auch sämtliche Voraussetzungen.

Die Auflösung der Weimarer Demokratie hat nicht erst am 30. Januar begonnen. Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler war eben nicht der Anfang vom Ende, sondern der Abschluss einer langen politischen Agonie, die als „nationale Erhebung“ gefeiert in den nationalen Untergang führte.

Zu dieser fast unbegreiflichen Entwicklung beigetragen hat nicht zuletzt ein erschreckender Mangel an Einsicht und Zivilcourage auch bei prominenten Vertretern der Wirtschaft, der Medien, der Kirchen wie der Universitäten. Die Weimarer Zeit kennzeichnete in Politik, Verwaltung, Justiz und Kultur ein gewiss facettenreiches, in seinem Kern aber oft antidemokratisches Denken. Das machte auch und gerade vor den Universitäten und der Wissenschaft nicht halt. Im Gegenteil: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat unlängst in einer Ausstellung hier in Berlin über die eigene Vergangenheit dokumentiert, dass viele Wissenschaftler in Deutschland keineswegs erst hätten gleichgeschaltet werden müssen. Vielmehr habe sich „die Mehrheit geradezu aufgedrängt, nationalsozialistische Politik zu gestalten, und das häufig schon in den 20er Jahren, ganz ohne Not“, so Dieter Hüsken, der für die DFG die Ausstellung ausgerichtet hat.

Dass Berlin nicht Weimar ist, so wie Bonn nie Weimar wurde, manifestiert sich nicht zuletzt in dem großen Konsens, mit dem wir heute im deutschen Parlament - und nicht nur hier - auf das Jahr 1933 und seine Lektionen zurückblicken. Der deutsche Parlamentarismus ist auch heute nicht unangefochten, aber er erweist sich auch am Ende seines sechsten Lebensjahrzehnts als robuster und vitaler als gemeinhin vermutet - vielleicht nicht ganz so stark, wie er sein könnte, und nicht immer so selbstbewusst, wie er gelegentlich sein sollte. Doch wo hatten und haben im internationalen wie im historischen Vergleich Parlamente ähnlich viel oder gar mehr Einfluss auf die Bildung und die Kontrolle von Regierungen, auf die Gesetzgebung und die öffentliche Meinung als in Deutschland heute?

Aus der Doppelerfahrung des Scheiterns von Weimar und der nationalsozialistischen Diktatur begründete sich der den westlichen Werten verpflichtete Geist des Grundgesetzes: der Schutz der individuellen Freiheitsrechte, die Mitwirkung des Bürgers in einer pluralistisch und repräsentativ verfassten parlamentarischen Demokratie und die Verhinderung einer verselbstständigten Staatsgewalt. Vor 60 Jahren wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat als Lehre von Weimar nicht allein die Funktionsfähigkeit des Regierungssystems verbessern. Sie leitete in ihren Verfassungsberatungen vor allem das Ziel einer wehrhaften Demokratie, in der sich demokratische Freiheiten nicht für die Zerstörung der freiheitlichen Demokratie missbrauchen lassen sollten. Während in der Weimarer Reichsverfassung die Grundrechte nur nach Maßgabe der Gesetze galten, sind sie im Grundgesetz unmittelbar geltendes, gerichtlich durchsetzbares Recht und damit verbindliche Orientierung für die Gesetzgebung.

Die Weimarer Verfassung hatte bei ihrer durchaus ehrgeizigen Formulierung naturgemäß noch nicht die Erfahrung ihres späteren Scheiterns, die wiederum zur prägenden Orientierung der Schöpfer des Bonner Grundgesetzes führte, die neue politische Ordnung in ihrem rechtsstaatlichen Kern durch den berühmten Art. 79 Abs. 3 mit den Grundrechten und den Strukturprinzipien der Republik, der Demokratie, des Rechtsstaates, des Sozialstaates und des Bundesstaates unter besonderen, verfassungsrechtlich irreversiblen Schutz zu stellen. Bis heute ist das gelungen.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, 75 Jahre sind inzwischen seit der Auflösung und Zerstörung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland vergangen. Sie wurde keine vierzehn Jahre alt. Nach grausamen, unvorstellbaren, entsetzlichen zwölf Jahren war die Nazi-Herrschaft zu Ende - und mit ihr das Deutsche Reich als selbstständiger Staat zerstört, politisch und militärisch gescheitert, wirtschaftlich ruiniert und moralisch diskreditiert.

Im nächsten Jahr können wir das 60-jährige Bestehen der Bundesrepublik Deutschland feiern. Ihre politische Stabilität und ihr großes Ansehen in der Welt war wie das Scheitern der Weimarer Demokratie weder zufällig noch zwangsläufig.

Zur demokratischen Erinnerungskultur gehört, das eine genauso wenig für selbstverständlich zu halten wie das andere. Für beides gibt es Ursachen und gibt es Verantwortliche, nicht nur in den Parlamenten, aber hier ganz besonders.

Wir verneigen uns heute vor allen Opfern der nationalsozialistischen Diktatur, und unser besonderer und dankbarer Respekt gilt all denen, die während und nach der brutalen Zerstörung der ersten deutschen Demokratie den politischen, sozialen und moralischen Wiederaufbau unseres Landes möglich gemacht haben.

 

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Parlament

Föderalismus und Parlamentarismus - Rede vor dem Bayerischen Landtag


Präsident Alois Glück: Ich bitte die Medienvertreter, den Raum wieder freizugeben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Ich begrüße Herrn Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Lammert im Namen des Hohen Hauses herzlich im Bayerischen Landtag. Herr Bundestagspräsident, herzlich willkommen.
(Allgemeiner Beifall)
Nach unseren intensiven Recherchen in den Archiven sind Sie, lieber Herr Prof. Dr. Lammert, der erste Bundestagspräsident, der während einer Plenarsitzung zu den bayerischen Landtagsabgeordneten spricht. Soweit wir wissen, trifft dies auch für die anderen Landtage zu, abgesehen von Festakten. Jedenfalls sind Sie -- das wissen wir jetzt aus eigener Erfahrung -- der erste Parlamentspräsident, den wir als Redner in unserem neuen Plenarsaal begrüßen können. Wir sehen in Ihrem Besuch eine besondere Anerkennung und Wertschätzung der Landesparlamente durch den Repräsentanten des Deutschen Bundestages und des Parlamentarismus in Deutschland.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, niedrige Wahlbeteiligungen bei den letzten Landtagswahlen in Hessen und in Niedersachsen sowie bei den Kommunalwahlen in Bayern unterstreichen die entsprechenden Umfragen, deren Ergebnisse man in den Medien nachlesen konnte: Viele Bürgerinnen und Bürger haben immer weniger Vertrauen in Politiker und in politisches Handeln. Das sind keine neuen Entwicklungen. Natürlich sind wir immer bemüht, selbstkritisch unsere Arbeitsabläufe und Strukturen, unsere Debattenkultur und unsere politischen Rituale zu hinterfragen. Bisher haben wir jedoch noch keinen Königsweg gefunden, dem vorbeschriebenen Trend wirksam zu begegnen.
Welche Rolle haben in diesem Zusammenhang die Parlamente? Wie leistungsfähig können sie sein angesichts der stetig steigenden Anforderungen und der parallel dazu steigenden Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger? Diese Fragen sind nicht nur für uns Abgeordnete von Bedeutung. Die Rolle und das Ansehen der Parlamente sind zentral für die Demokratie.
Herr Bundestagspräsident, Sie selbst haben in Ihrer Antrittsrede die Bedeutung der Parlamente so beschrieben. Ich zitiere: „Was ein politisches System als Demokratie qualifiziert, ist nicht die Existenz einer Regierung, sondern die Existenz eines Parlamentes und seine gefestigte Rolle im Verfassungsgefüge wie in der politischen Realität.“ Soweit das Zitat.
Zu einer gefestigten Rolle gehört auch das Vertrauen und Zutrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Kompetenz der politischen Akteure, nach sachgerechten und vor allem auch gerechten Lösungen zu suchen. Eines unserer Werkzeuge in den Parlamenten, Vertrauen in uns und in unsere Entscheidungen zu fördern, sind die föderalistischen Strukturen. Im Zeitalter der Globalisierung müssen wir als Länder und als Bundesrepublik Deutschland, als Landtage und als Bundestag bereit sein, Aufgaben an die nächste Ebene abzugeben, in der die Aufgaben am sachgerechtesten erledigt werden können.
In der Föderalismusreform I sind dafür wichtige Schritte getan worden, auch hinsichtlich der Neuverteilung der Aufgaben zwischen dem Deutschen Bundestag und den Landesparlamenten sowie zwischen Bund und Ländern. Der Bund ist in seiner Handlungsfähigkeit gestärkt worden, die Länder ebenfalls.
Solche Veränderungen setzen die Bereitschaft voraus, politisches Handeln nicht primär als Machtfrage zu verstehen und darauf zu reduzieren, sondern in erster Linie im Hinblick auf Handlung und Verantwortung zu reflektieren. Über die Bedeutung des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in ihre Akteure haben Sie, Herr Bundestagspräsident, in Ihrer Antrittsrede Folgendes gesagt. Ich zitiere: „... denn die Bewältigung der großen Herausforderungen, vor denen unser Land steht -- andere Länder übrigens auch --, setzt gerade angesichts weitreichender, vielfach unerwünschter Veränderungen der gewohnten Lebensbedingungen vor allem eines voraus: Vertrauen in die dafür verantwortlichen Institutionen, Vertrauen in die Legitimation, in die Kompetenz und in die Integrität der politischen Akteure.“
Herr Bundestagspräsident, ich bitte Sie, nun zu uns zu sprechen.
(Allgemeiner Beifall)


Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert: Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, Herr Ministerpräsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, verehrte Gäste! Zunächst ganz herzlichen Dank für die freundliche Einladung und die liebenswürdige Begrüßung. Dass ich mich freue, heute bei Ihnen im Bayerischen Landtag zu Gast sein zu können und zu Ihnen und mit Ihnen sprechen zu können, ist zugegebenermaßen keine besonders originelle Einleitung, aber dafür ist es die reine Wahrheit.
Dass ich als Preuße westfälischer Herkunft mit einem langjährigen Dienstort in Bonn und seit einigen Jahren wieder mit dem Dienstort Berlin jemals im Bayerischen Landtag sprechen würde, hätte ich mir trotz hinreichend entwickelten Selbstbewusstseins ernsthaft nur schwer vorstellen können. Deswegen möchte ich mich natürlich auch aus diesem Grunde ganz herzlich bei Ihnen, insbesondere bei Ihrem Präsidenten für die Einladung sehr bedanken, zumal ich weiß, dass der Bayerische Landtag mit Einladungen an Gastredner noch behutsamer und sparsamer umgeht als der Deutsche Bundestag.
Dass Bayern nicht irgendein Land in Deutschland ist, weder historisch noch politisch, weder mit Blick auf Geografie noch Ökonomie noch Kultur, bedarf keiner besonderen Betonung; hier schon gar nicht. Vor einigen Tagen war in den meisten deutschen Zeitungen zu lesen, dass Bayerisch die beliebteste Mundart in Deutschland sei.
(Zuruf: Probieren Sie es nicht! -- Heiterkeit)
-- Ich habe den Zwischenruf gehört.
(Engelbert Kupka (CSU): Der kommt von der SPD!)
Ich greife ihn auch gerne auf, weil aus der Allensbach-Studie hervorgeht, dass die Bayern selbst zu 77 % in die eigene Sprache ganz verliebt sind, was den Durchschnittswert für Deutschland, den ich gerade zitiert habe, locker mehr als verdoppelt.
Unter all den in dieser Umfrage nachgefragten Dialekten und Mundarten in Deutschland ist die offenkundig unauffälligste das Westfälische. Zwar mögen es nur 7 % aller Befragten besonders, aber umgekehrt geben auch nur 2 % an, es überhaupt nicht leiden zu können. Das halte ich für eine vergleichsweise günstige Ausgangsposition. Ich gehe jetzt einmal davon aus, dass ich nicht mit heftigem Rückenwind rechnen kann, aber mich auch nicht unbedingt auf stürmischen Gegenwind einstellen muss, wenn ich einige der Überlegungen vortrage, von denen ich vermute, dass sie den Bayerischen Landtag in ähnlicher Weise befassen und gelegentlich auch besorgen wie den Deutschen Bundestag.
Im Übrigen ist mir dabei natürlich sehr bewusst, dass der bayerische Staat noch älter ist als der deutsche und dass auch mit Blick auf die Anfänge des Parlamentarismus, dessen Wachsen und Entstehen hierzulande nicht immer nur eine einfache Übung war, die Bayern früher unterwegs waren als manche andere. Immerhin ist es jetzt genau 500 Jahre her, seit im Jahr 1508 die Landstände Bayerns mit der erklärten Landesfreiheit ein größeres Mitspracherecht erhielten. Vor genau 200 Jahren, 1808, hat Bayern seine erste einheitliche Verfassung erhalten, die unter anderem die Gleichheit vor dem Gesetz und beim Zugang zu Staatsämtern sowie die Gewissensfreiheit und die damals gesetzlich noch etwas limitierte Pressefreiheit gewährleistete. Bis zur Eröffnung des ersten Bayerischen Landtags hat es dann zwar noch ein paar Jahre gedauert, aber er ist immerhin 1819 zusammengetreten. Das ist fast 30 Jahre früher als die Frankfurter Paulskirche, in der der erste ernsthafte Versuch, Einheit und Freiheit, Nationalstaat und Parlamentarismus zusammenzubinden, damals gescheitert ist.
Ich habe damit schon die beiden Stichworte angedeutet, über die ich gerne sprechen möchte -- zwei Themen, die uns gemeinsam angehen, den Bund wie die Länder und ihre Parlamente zumal: den Föderalismus und den Parlamentarismus. Beide Aspekte sind für unsere Verfassungsordnung konstitutiv. Wir halten sie nicht nur rechtlich, sondern auch politisch für völlig unverzichtbar. Für diese beiden unaufgebbaren Festlegungen unserer Verfassungsordnung gilt bei nüchterner Betrachtung: Sie sind beide nicht sonderlich populär. Es wäre schön, wenn es anders wäre, aber der Blick auf die Realitäten lässt eine andere Beurteilung schwerlich zu.
Was den Föderalismus und seine Akzeptanz in Deutschland angeht, gibt es einige interessante, auch wiederum nicht gänzlich neue Befunde, die in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung deutlich werden, die gerade Anfang dieses Jahres, im Februar fertiggestellt worden ist. Nach dieser Studie hält jeder vierte Bürger in Deutschland die Bundesländer für gänzlich überflüssig. In acht von 16 Bundesländern -- das ist immerhin genau die Hälfte -- spricht sich die Mehrheit der Befragten für eine Fusion mit mindestens einem Nachbarland aus. Bundesweit, also insgesamt betrachtet, sind 40 % aller Befragten für eine solche Zusammenlegung. Nur 3 % der befragten Bürger in Deutschland denken überhaupt an Landespolitik, wenn sie nach besonderen Merkmalen ihres eigenen Bundeslandes gegenüber anderen Bundesländern gefragt werden.
Um das im Konkreten zu bestätigen, was ich vorhin im Allgemeinen gesagt habe: Bayern ist natürlich anders. Die mit Abstand stärkste Identifikation mit der Landesebene findet sich in einem westdeutschen und interessanterweise auch in einem ostdeutschen Bundesland, nämlich in Bayern und Mecklenburg-Vorpommern. Die meisten Bundesbürger identifizieren sich nach ihren eigenen Auskünften zuerst mit der Stadt, mit ihrer engeren Heimat, in der sie leben. Danach folgen -- das ist interessant -- die Bundesebene und die Europaebene. Die Ebene des Bundeslandes wird in mehr als der Hälfte der Bundesländer von den Menschen am wenigsten genannt, wenn es um die Identifikation mit politischen Einheiten geht.
Auch hier fällt Bayern aus dem allgemeinen Befund deutlich heraus. In Bayern ist die Identifikation der Menschen mit dem Land, mit dem Freistaat, fast genauso hoch wie die Identifikation mit der unmittelbaren engeren Heimat, deutlich höher als die Identifikation mit der Bundesebene und nochmals deutlich ausgeprägter als mit der europäischen Ebene.
Nun muss man solche durch Umfragen erhobenen Einschätzungen in ihrer Bedeutung nicht überschätzen. Sie geben allerdings in der Regel schon -- gerade weil sie meistens nicht auf sorgfältigem Nachdenken beruhen, sondern spontan erfolgen -- reflexhaft Einschätzungen wieder, die die Verhaltensmuster der Menschen prägen. Ich kann jedenfalls zwischen dem Befund und manchen Erfahrungen im real existierenden deutschen Föderalismus manche Parallelen entdecken, einschließlich der Unterschiede, der Identifikation der Menschen mit ihren jeweiligen Ländern, auf die ich gerade Bezug genommen habe.
Der Freistaat Bayern jedenfalls ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel für lebendigen Föderalismus und für die Vielfalt in der Einheit, die unser Land so attraktiv macht. Dass es bei uns so viele unterschiedliche Städte, Regionen und Landschaften gibt, so viele Bräuche, Traditionen, Kulturen und Dialekte, macht im wörtlichen Sinn den Reichtum dieses Landes aus und sollte uns gelegentliche Neigungen zur Verzweiflung über Komplizierungen oder auch über Auswüchse des real existierenden Föderalismus mit Gelassenheit ertragen lassen.
Sie alle -- das gilt sicher nicht nur, aber ganz besonders auch für den Bayerischen Landtag -- dürfen auf dieses Land stolz sein und stolz sein auf die bemerkenswerten Leistungen und Erfolge, die im Freistaat und weit über ihn hinaus für unser deutsches Gemeinwesen erbracht worden sind. Ich finde, das ist auch und gerade richtig unter Berücksichtigung mancher aktueller Probleme und Ärgernisse, mit denen wir uns auch in diesen Tagen auseinanderzusetzen haben.
Ich möchte diesen Hinweis mit einer ganz persönlichen Bemerkung verbinden: Ich gehöre zu denjenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind, die fast genauso alt sind wie diese zweite deutsche Republik und die sowohl in ihren persönlichen Lebensbedingungen als auch in ihrer politischen Laufbahn nachweislich auf den Schultern der Männer und Frauen stehen, die dieses Gemeinwesen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben. Ich möchte diese seltene Gelegenheit gerne nutzen, um meinen ausdrücklichen Respekt gegenüber der Gründergeneration zum Ausdruck zu bringen, die unter weiß Gott bescheidenen Bedingungen die Grundlagen für das gelegt hat, was heute vielen ganz selbstverständlich erscheint.
(Allgemeiner Beifall)
Unsere heutige gelegentliche Neigung zu Bequemlichkeit oder zur Resignation angesichts vergleichsweise bescheidener Probleme und Herausforderungen wird geradezu beschämt von dem Mut und dem Engagement einer Generation, die damals Grund gehabt hätte, ihren Neuanfang für aussichtslos zu halten.
Diese Freude und der begründete Stolz auf das Erreichte werden ein wenig durch die allgemeine Missstimmung gegenüber Politik und politischen Institutionen eingetrübt, die auch der Landtagspräsident gerade in seiner Begrüßung angesprochen hat. Weder die Parteien noch die Parlamente, weder die Regierung noch die Opposition befinden sich gegenwärtig auf dem Höhepunkt ihres öffentlichen Ansehens. Es gibt viel unzutreffende, es gibt aber auch manche berechtigte Kritik am Zustand unseres politischen Systems.
Dabei müssen wir hier auch gar nicht über die Zufälligkeiten und Unschärfen von Umfrageergebnissen streiten. Eines wird man nüchtern feststellen müssen: Das, was wir zum Funktionieren einer demokratischen modernen Gesellschaft am dringendsten brauchen, geht zunehmend verloren, nämlich Vertrauen. Dies gilt nicht nur für die Politik -- das ist wohl wahr -- und nicht nur für Politiker. Es gilt für Unternehmer, es gilt für Banker, es gilt für Sportler, für Funktionäre der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche, es betrifft die Medien, und es macht auch nicht vor den Kirchen halt.
Ich empfehle uns dringend, nicht zu unterschätzen, welcher Gesamteindruck sich in der Öffentlichkeit zunehmend fast ergeben muss, denn, wo immer man hinguckt, immer häufiger werden Erwartungen enttäuscht und wird das Vertrauen nicht bestätigt, das man gerade mit der Übernahme prominenter Aufgaben diesseits und jenseits der Politik -- wie ich finde -- zurecht verbindet.
Deshalb empfehle ich uns sehr, diesen Sachverhalt ernst zu nehmen. Der Befund, über den wir hier reden, ist keineswegs eine Momentaufnahme. Wir reden nicht über eine vorübergehende Schlechtwetterfront. Wenn überhaupt, so reden wir über climate change, über einen Klimawandel, der sich auch im Verhältnis der Wählerinnen und Wähler gegenüber der Politik seit nunmehr einer beachtlich langen Zeit in einem besorgniserregenden stabilen Trend bemerkbar macht. Er wird in vielen Indizien deutlich. Dazu gehört die auch von Alois Glück genannte, seit Jahren rückläufige Wahlbeteiligung. Dazu gehört auch der nicht zu übersehende bemerkenswerte Verlust der Bindungskraft politischer Parteien, insbesondere der Volksparteien. Alleine die beiden großen Volksparteien in Deutschland haben in den vergangenen 15 Jahren zusammen mehr als eine halbe Million Mitglieder und noch mehr Wähler verloren.
Dieser geringe Anteil an erhaltener, schon gar wachsender Bindungskraft führt, kombiniert mit der rückläufigen Wahlbeteiligung, zu einem außerordentlich ernüchternden Befund: Die Partei der Nichtwähler ist inzwischen die politische Gruppierung in Deutschland mit den höchsten Zuwachsraten.
Dennoch -- und gerade deshalb -- müssen wir sorgfältig zwischen der Zustimmung zur Demokratie als Staatsform und der Kritik an der Arbeit demokratischer Institutionen und den konkret stattfindenden politischen Ereignissen unterscheiden. Diese Kritik ist im Übrigen nicht nur erlaubt, sie ist auch notwendig, auch wenn nicht jede Kritik berechtigt und in Art und Umfang überzeugend ausfallen muss. Der bekannte Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter hat in diesem Zusammenhang einmal bündig festgestellt, dass wir uns „am Abschluss der klassischen parlamentarischen Epoche“ befinden. Das ist eine starke Formulierung. Auch der amtierende Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat kürzlich öffentlich den, wie er das nennt, Bedeutungsverlust der Parlamente beklagt und dies um die Besorgnis ergänzt, wir hätten es mit einem „verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Verfallsprozess“ zu tun. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist starker Tobak und stammt von Leuten, deren Einschätzung es sich im Allgemeinen als ernst zu nehmen empfiehlt. Man kann dem sicher auch mit dröhnendem Selbstbewusstsein entgegentreten, als sei ausgeprägtes und unerschütterliches Selbstbewusstsein schon eine hinreichende Kompensation gegenüber starken und unerfreulichen empirischen Belegen.
Aber ich will diesen beiden, beispielhaft aus der Wissenschaft und aus der obersten Rechtsprechung genannten, kritischen Einschätzungen auch eine auffällig gegenteilige Einschätzung gegenüberstellen. Sie stammt vom langjährigen Leiter des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Armin von Bogdandy. Er hat einmal zum gleichen Sachverhalt genau umgekehrt festgehalten:
Nach der herrschenden Lehre ist die Geschichte des zeitgenössischen Parlamentarismus eine Verfallsgeschichte: weniger Macht, geringere Kompetenzen, verschwindendes Ansehen. -- Tatsächlich aber ist der Parlamentarismus in den zurückliegenden Jahrzehnten von Erfolg zu Erfolg geeilt.
Was ist denn nun eigentlich richtig? -- Ich beginne zunächst einmal mit dem vermittelnden Vorschlag, dass die Behauptung vom Ableben des Parlamentarismus ebenso übertrieben ist wie die Vermutung einer unaufhaltsamen Erfolgsgeschichte. Wie auch sonst im richtigen Leben ist bei einem genauen und nüchternen Blick die Sache nicht ganz so spektakulär, wie das die Formulierungen in manchen wissenschaftlichen und weniger wissenschaftlichen Publikationen vermuten lassen. Die Realität im Allgemeinen ist eher grau, und die Wirklichkeit spielt sich nicht tagtäglich in großen Ereignissen ab, sondern sie schlägt sich in der Abarbeitung von Alltagsanforderungen nieder. Dabei wird man auch, und gerade was die Funktion und die Leistungsfähigkeit von Parlamenten angeht, fairerweise nicht übersehen dürfen, dass die Anforderungen, denen sie sich heute ausgesetzt sehen, die Landtage wie der Bundestag -- und das Europäische Parlament übrigens auch --, nicht nur anders als früher sind, sondern höher, größer als früher sind.
Ein so unverdächtiger, erfahrener und kluger Beobachter wie Hans-Jochen Vogel, der Erfahrungen in der Kommunalpolitik, in der Landes- und in der Bundespolitik hat, dessen größter Teil seiner eindrucksvollen politischen Karriere mit diesem Freistaat besonders eng verbunden ist, der in Regierungsämtern und in Gesetzgebungsorganen über eine jahrzehntelange Erfahrung verfügt, hat gerade im Kontext dieser Auseinandersetzung einmal darauf hingewiesen, früher sei vieles wesentlich einfacher gewesen. Heute -- und ich finde, das ist ein beachtlicher Gesichtspunkt -- sei die Wahrung von Wohlstand und sozialer Sicherung bei rückläufiger Bevölkerungszahl und zunehmender Überalterung unter den Wettbewerbsbedingungen der Globalisierung eine neue und große Herausforderung, die es früher so nicht gegeben habe. Die Erwartungen der Öffentlichkeit im Umgang mit diesen Problemen sind allemal ausgeprägter als die tatsächlichen Gestaltungsspielräume, die sowohl bei den Regierungen als auch bei den Parlamenten regelmäßig sehr viel enger sind, als die Öffentlichkeit in den großzügigen Entwürfen erhofft und gelegentlich vermutet.
Große Koalitionen -- wenn ich mir diese Wasserstandsmeldung aus Berlin erlauben darf -- machen das Finden von gemeinsamen Lösungen nicht unbedingt einfacher, sondern eher schwieriger. Große Koalitionen haben große Mehrheiten für das Durchsetzen von Lösungen, die sie aber leider aus dem gleichen Grund nur selten finden. Das macht wiederum einen erheblichen Teil der operativen Probleme in der Gestaltung von Politik und schon gar in der Vermittlung von Politik gegenüber den Wählerinnen und Wählern aus. Es ist im Übrigen auch schwer zu übersehen, dass die konkreten Erwartungen an Regierungen und Parlamente sich nicht selten wechselseitig ausschließen, weil das, was die einen für absolut dringlich halten, die anderen mit Sicherheit für unzumutbar erklären und umgekehrt. Auf diese Weise werden durch Festhalten an gewohnten Verhältnissen und liebgewordenen Besitzständen genau die Veränderungen verhindert, deren Ausbleiben die Wähler anschließend Parteien, Parlamenten und Regierungen vorwerfen.
Die meisten Menschen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wissen durchaus, dass Veränderungen unvermeidlich sind. Sie erwarten aber, dass es dabei gerecht zugeht. Gerechtigkeit ist nach meinem ganz persönlichen Empfinden das große Thema moderner Gesellschaften überhaupt. Nachdem sich im Wettbewerb der Systeme, der nun entschieden ist, liberale Demokratie und marktwirtschaftliche Ordnung gegen autoritäre und totalitäre Ordnungen durchgesetzt haben, empfinden die meisten Menschen ihre Freiheit in der Regel nicht mehr als bedroht. Diese halten sie für gesichert. Bedroht sehen sie vielmehr die Gerechtigkeit bei der Entwicklung von Lebensverhältnissen und Entwicklungsperspektiven. Da dies völlig unbeschadet von der Frage geschieht, ob das eine hinreichende, vollständige und wirklichkeitsnahe Erwartungshaltung ist, empfiehlt es sich für Parteien wie für Regierungen und Parlamente sehr, sich redlich Mühe zu geben, dieser Erwartung gerecht zu werden. Sonst verlieren sie nämlich nicht nur Sympathie, sondern sie verlieren auch Vertrauen.
Parlamente, meine Damen und Herren, müssen gewiss lernfähig sein, ebenso wie Regierungen. Für die Parteien gilt das ganz gewiss. Sie sollten aber nicht wankelmütig sein. Mit Abstand wichtiger und wirksamer als die schwankende Popularität einer Politik ist ihre Glaubwürdigkeit. Was die Politik an Glaubwürdigkeit verliert -- wodurch auch immer --, durch Wankelmütigkeit, durch Wortbruch, durch Gleichgültigkeit, durch Beliebigkeit -- warum auch immer --, kann sie an Popularität weder gewinnen noch ausgleichen. Wenn mich mein Eindruck über die, vorhin vom Landtagspräsidenten angedeutete und von mir nun etwas entfaltete, Vertrauenskrise, die es zweifellos gibt, nicht täuscht, dann glaube ich, legt das die Schlussfolgerung nahe, dass wir alle, nicht nur die Politiker, aber die Politiker ganz gewiss, möglicherweise bescheidener in unseren Ankündigungen werden sollten, dafür aber anspruchsvoller in den Zielen und mutiger in den Entscheidungen.
(Allgemeiner Beifall)
Streit ist nicht nur erlaubt, sondern im Ringen um die beste Lösung unverzichtbar. Er sollte aber immer an der Sache orientiert sein. Er muss Diffamierungen und Übertreibungen vermeiden.
Die Politik kann im Übrigen immer nur so gut sein wie die Leute, die sich für das Gemeinwohl zur Verfügung stellen. Buh-Rufe von den Zuschauerplätzen sind zwar auch erlaubt, ersetzen aber nicht das eigene Engagement. Jeder, der sich für die Politik für zu gut hält, muss wissen, dass er sie damit anderen überlässt, die er selbst für schlechter hält.
(Heiterkeit und Beifall bei der CSU und bei Abgeordneten der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die meisten prinzipiellen Vorbehalte und Vorwürfe gegenüber dem Parlamentarismus sind weder neu noch überzeugend. Es ist natürlich nicht zu bestreiten, dass die öffentlichen Debatten über wichtige und manchmal auch weniger wichtige Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft weder ausschließlich noch immer zuerst in den Parlamenten stattfinden. Nachfragen wird man allerdings müssen, ob dies zum einen überhaupt nötig und zum anderen jemals anders gewesen ist. Die Vorstellung, dass alles und jedes, was von politischer Bedeutung ist, in erster Linie im Parlament und vor allen Dingen in jedem Fall zuerst dort stattfinden müsse, ist weder wirklichkeitsnah noch sinnvoll. Wenn man neben dem Interesse an öffentlichen Diskursen auch noch ein Restinteresse an Ergebnissen dieser Diskurse hat, kommt man vernünftigerweise zu neuen Einsichten: dass nämlich manche Entscheidungen vorbereitet werden müssen, wenn sie überhaupt zustande kommen sollen, und dass das große öffentliche Palaver nicht um so sicherer zu den gewünschten Ergebnissen führt, desto lautstärker und öffentlichkeitswirksamer es vorher inszeniert worden ist.
(Beifall bei der CSU)
Dass ein beachtlicher Teil des politischen Entscheidungsprozesses nicht auf der Vorderbühne, sondern in den Kulissen stattfindet, ist für viele Beobachter ein Ärgernis; das ist mir wohl klar. Das ist aber die Voraussetzung dafür, dass Kompromisse überhaupt möglich werden, von denen Georg Simmel einmal gesagt hat, sie gehörten zu den größten Errungenschaften der Menschheit. Das mag man für eine übertrieben pathetische Formulierung halten, das ist aber in jedem Fall eine unaufgebbare Errungenschaft. Eine Gesellschaft, die nicht mehr kompromissfähig ist, wäre weder eine humane noch eine freiheitliche Gesellschaft. Also muss ein politisches System, das sich von seinem Grundverständnis her als Ordnungsrahmen einer freiheitlichen Gesellschaft versteht, die Voraussetzungen dafür schaffen und erhalten, dass Kompromisse möglich bleiben oder möglich werden.
Die Aufgaben der Parlamente haben sich nicht nur in Deutschland in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sicher gewandelt, und sie sind ganz gewiss nicht geringer geworden. Das gilt im innerstaatlichen Verhältnis wie im europäischen Zusammenhang. Der Lissabonner Vertrag, der in wenigen Wochen nicht nur im Bundestag und Bundesrat ratifiziert wird, sondern hoffentlich auch in allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, stärkt die Rolle der Parlamente im europäischen Entscheidungsprozess -- eine überfällige Korrektur von dessen Sitten mit Blick auf die demokratische Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, für die wir alle miteinander über viele Jahre hinweg gemeinsam eingetreten sind.
Für die Föderalismusreform gilt im Übrigen präzise das Gleiche. Man mag gegenüber den Ergebnissen der Föderalismusreform manche Vorbehalte haben -- da fielen mir auch ein paar Hinweise ein --, aber dass diese Föderalismusreform die Rolle der Parlamente geschwächt hätte, kann man beim besten Willen nicht erkennen, ganz im Gegenteil: Durch die eindeutigere Zuweisung von Zuständigkeiten und die damit verbundene Stärkung auch der Rolle der Landtage im jeweiligen eigenen Zuständigkeitsbereich der Länder ist die Aufgabenstellung und die Verantwortung der Parlamente gewachsen und keineswegs diminuiert worden.
(Beifall bei der CSU)
Ich will allerdings auch unter dem Eindruck der tatsächlichen Folgen der gerade verabschiedeten Föderalismusreform den vorsichtigen Hinweis geben, dass es vor allem unter diesem Gesichtspunkt auch hilfreich wäre, wenn Landesregierungen und Landtage noch tapferer der Versuchung widerständen, die Aussicht auf finanzielle Beteiligung des Bundes für noch interessanter zu halten als die gerade frisch gewonnenen, neuen eigenen Kompetenzen.
(Beifall bei der CSU)
Das bringt mich zum vorletzten Punkt, auf den ich gerne zu sprechen kommen möchte, nämlich zur originären Gesetzgebungskompetenz der Parlamente. In diesem Zusammenhang gibt es einen in der Literatur, in der Berichterstattung, in der öffentlichen Wahrnehmung immer wieder erhobenen Vorwurf, der lautet, dass die Parlamente ihre Gesetzgebungskompetenz immer weniger wahrnähmen. Dieser Vorwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist gleich doppelt abwegig. Er ist zum einen abwegig, weil sich die Funktion von Parlamenten schon unter den Bedingungen moderner parlamentarischer Systeme keineswegs auf die Aufgabe der Gesetzgebung reduziert und auch um Gottes willen nicht auf diese Aufgabe reduziert werden darf. Zum anderen nehmen die Parlamente die Aufgabe der Gesetzgebung nach wie vor in einem eher erschreckenden Umfang wahr. Von einem Rückzug aus der Gesetzgebung kann bei jeder nüchternen Betrachtung und bei allerbestem Willen keine Rede sein.
In Deutschland befinden wir uns gegenwärtig geradezu auf dem Höhepunkt einer politischen Kultur, die Sachverhalte überhaupt erst dann für geregelt hält, wenn sie durch Gesetz geregelt werden. Wenn wir mehr Zeit hätten, als wir vernünftigerweise für eine solche gemeinsame Beschäftigung in Unterbrechung Ihrer sonstigen Aufgaben der heutigen Tagesordnung freiräumen können, könnten wir der Reihe nach sämtliche Politikfelder in Deutschland durchgehen, angefangen vom Schul- und Hochschulsystem über den Arbeitsmarkt, den sozialen Sicherungssystemen im Allgemeinen bis hin zu den Rahmenbedingungen der Förderung und Entwicklung von Familien in Deutschland, von der Energieversorgung bis zum Umweltschutz, von der Bildung bis zur Kultur, die sich für besonders staatsfern hält -- wir könnten dutzendweise die Gesetzgebungsanforderungen aufführen, denen deutsche Parlamente leider mit erschreckender Regelmäßigkeit nachkommen.
Ich mache überhaupt kein Hehl aus meiner festen, in mehr als einem Vierteljahrhundert parlamentarischer Erfahrung gewachsenen Überzeugung, dass deutsche Parlamente nicht zu wenig, sondern zu viel Gesetzgebung machen
(Beifall bei der CSU)
und dass wir immer wieder von diesem Virus befallen sind, Themen, die fraglos bedeutend sind, erst dann für erledigt zu halten, wenn wir sie in Gesetzesform gegossen haben.
Im Übrigen -- diese Erfahrung werden viele von Ihnen teilen -- regeln Gesetze immer angenommene Durchschnittsfälle. Genau diese Durchschnittsfälle kommen leider im richtigen Leben nicht vor, sodass wir, kaum dass ein Gesetz die angenommenen Durchschnittsfälle geregelt hat, über unsere Sprechstunden oder über Petitionen mit den tatsächlichen Fallkonstellationen konfrontiert werden und regelmäßig mit der erstaunten, meist dann auch empörten Nachfrage, ob das denn ernsthaft so gemeint gewesen sei. Die ehrliche Auskunft lautet dann regelmäßig: natürlich nicht. Und schon beginnt der Novellierungsprozess für das gerade abgeschlossene Gesetzgebungsverfahren, das vielleicht besser von vornherein unterblieben wäre.
(Heiterkeit und Beifall bei der CSU)
Das Nichtraucherschutzgesetz ist vermutlich nicht das letzte auffällige Beispiel einer solchen langen Serie.
(Heiterkeit bei der CSU -- Franz Maget (SPD): Aber das beliebteste!)
Niemand wird auf den Einfall kommen, ich hätte dabei irgendjemanden ganz besonders im Auge; denn es ist zunächst einmal im Deutschen Bundestag gegen meinen verzweifelten und nicht ausreichenden Widerstand verabschiedet worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir in einer Gesellschaft, die so verfasst ist, wie sie ist, nicht nur Parlamente, sondern auch das Fernsehen haben und dass nicht nur in Parlamenten, sondern auch im Fernsehen über Politik geredet wird,
(Engelbert Kupka (CSU): Zerredet!)
mag man je nach Betrachtungsweise als Bestätigung der Verfallstheorie wahrnehmen oder auch nicht.
Die inzwischen hoffnungslos inflationären Fernsehtalkshows sind jedenfalls nach meiner persönlichen Einschätzung weder immer unterhaltsam noch in der Regel politisch bedeutsam.
(Beifall bei der CSU -- Hans Spitzner (CSU): So ist es!)
Geredet wird dort immer viel, entschieden wird regelmäßig nichts.
(Beifall des Abgeordneten Hans Spitzner (CSU))
Entschieden wird in den Parlamenten. Deswegen besteht für Minderwertigkeitskomplexe überhaupt kein Anlass. Mein besonderer Respekt gilt den Kolleginnen und Kollegen, die der Versuchung, sich an diesen Unterhaltungssendungen zu beteiligen, tapfer widerstehen.
(Beifall bei der CSU -- Manfred Ach (CSU): Sehr gut!)
Unsere Parlamente sind nicht immer so gut, wie sie sein könnten. Sie sind nicht immer so selbstbewusst, wie sie gelegentlich sein sollten. Sie sind aber allemal wichtiger und einflussreicher als die meisten Sendungen und Sitzungen, die sich größerer öffentlicher Aufmerksamkeit erfreuen.
(Beifall bei Abgeordneten der CSU)
Bei aller Neigung und Begabung zur Selbstkritik fallen mir weder im historischen noch im internationalen Vergleich mehr als eine Handvoll Parlamente ein, die einen ähnlichen Einfluss auf die Bildung und Kontrolle der Regierung, die Gesetzgebung und die Bildung der öffentlichen politischen Meinung haben als die Parlamente in Deutschland.
Ganz zum Schluss möchte ich eine Bemerkung zur jungen Generation machen, an deren Interesse und Engagement für viele wichtige, manchmal auch nicht ganz so wichtige Dinge kein ernsthafter Zweifel erlaubt ist, bei der wir aber auch nicht übersehen dürfen, dass das vorhin im Allgemeinen festgestellte begrenzte Vertrauen gegenüber politischen Institutionen und vor allem gegenüber den Parteien eine ganz besonders starke Ausprägung findet. Attraktiv erscheinen für junge Leute insbesondere Institutionen, die mit Politik wenig und mit Parteien gar nichts zu tun haben. Das muss uns nachdenklich stimmen. Denn es ist zweifellos keine Errungenschaft, es ist aber auch kein Naturgesetz. Deswegen wäre es nicht nur schön, sondern dringend nötig, dass mehr junge Leute als heute die öffentlichen Angelegenheiten für ihre Angelegenheiten halten. Über welche Themen wir auch immer reden und gelegentlich entscheiden, ob es Themen des Arbeitsmarktes, der Zukunft unserer sozialen Sicherung sind oder ob es auch ein scheinbar so abstraktes Thema wie die Zukunft des europäischen Verfassungsvertrages ist, wir verhandeln nicht über abgehobene abstrakte öffentliche Angelegenheiten, sondern wir verhandeln über die Zukunftsperspektiven von lebenden Menschen. Niemand ist von diesen Zukunftsperspektiven mehr und länger betroffen als die heute junge Generation.
Roman Herzog, unser früherer Bundespräsident, hat einmal gesagt: Es gibt viele demokratische Tugenden, Bequemlichkeit gehört nicht dazu. Das ist ein kluger Satz. Er gilt nicht nur für das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat. Er gilt auch für das Verhältnis der Politik gegenüber der Gesellschaft. Er gilt im Übrigen auch für das Verhältnis von Parlamenten gegenüber Regierungen. Die erste demokratische Tugend ist Verantwortung, Verantwortung für sich selbst und Mitverantwortung für das eigene Land. Parlamente und Parlamentarier müssen diese Verantwortung beispielhaft wahrnehmen. Das gelingt nicht immer, es gelingt auch nicht immer gleich gut. Dass es aber in diesem Land, in diesem Freistaat und in dieser Republik seit gut 60 Jahren eine für deutsche historische Verhältnisse so beispiellos lange Zeit im Ganzen mit einem so vorzeigbaren Erfolg gelungen ist, ist ein Anlass, Dank und Respekt gegenüber all denjenigen zu sagen, die dazu beigetragen haben und es hoffentlich auch in Zukunft weiter tun werden. -- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Lang anhaltender allgemeiner Beifall)


Präsident Alois Glück: Herr Bundestagspräsident, herzlichen Dank für diese Rede. Das war und ist eine gute Stunde für den Bayerischen Landtag und für den Parlamentarismus in Deutschland. Herzlichen Dank dafür.

Ich darf Sie nun bitten, sich in das Ehrenbuch des Bayerischen Landtags einzutragen. Anschließend wird die Sitzung kurz unterbrochen. Es geht dann mit den Ersten Lesungen weiter.

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Parlament

Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, bei der Gedenkveranstaltung zu Ehren von Dr. h. c. Annemarie Renger, Bundestagspräsidentin a. D.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Bundesratspräsident!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Liebe Familienangehörige von Frau Renger!
Herr Bundeskanzler Schröder! Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren!


Es gibt Persönlichkeiten, von denen man sagen darf: Sie haben Parlamentsgeschichte geschrieben. Annemarie Renger gehört zweifellos dazu. Als sich am 9. November 1989 im Bonner Wasserwerk in die laufenden Beratungen des Bundestages hinein die Nachricht von der Öffnung der Mauer verbreitete, war die amtierende Präsidentin Annemarie Renger. Für sie schloss sich damit der Kreis einer eindrucksvollen politischen Laufbahn von den Anfängen der Bonner Republik bis zu ihrem absehbaren Ende.


Annemarie Renger gehörte zur Generation des demokratischen Neubeginns. Die Erfahrungen von Diktatur und Krieg haben ihre Biografie geprägt. Aus einem sozialdemokratischen Elternhause stammend, in Leipzig geboren, von ihrem in der Arbeiterbewegung engagierten Vater politisch geprägt, litt sie unter dem Zerfall des demokratischen Deutschlands. Sie erlebte sehr bewusst politische Repression, Krieg und Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur, den politischen, wirtschaftlichen und moralischen Zusammenbruch Deutschlands, den demokratischen Wiederanfang im Westen und die neue Diktatur im Osten.


Der 8. Mai 1945 war für Annemarie Renger persönlich wie politisch ein befreiender Einschnitt. Sie nutzte die neue Freiheit für politisches Engagement, zunächst als Assistentin und Vertraute von Kurt Schumacher. Fast alle kennen das berühmte Foto, das Kurt Schumacher zeigt, gestützt von Annemarie Renger. Dieses Foto, unzählige Male gedruckt, ist geradezu eine Ikone der Nachkriegsgeschichte.


Dass sie politisch etwas bewegen wollte, hat Annemarie Renger schon sehr früh gewusst. „Politik war mein Lebenselement“, schreibt sie in ihren Erinnerungen. Nach Kurt Schumachers Tod strebte sie selbst politische Verantwortung an und kandidierte als Abgeordnete für den Deutschen Bundestag. Sie gehörte damals zu den Jüngeren und zu denen, die noch die Weimarer Republik erlebt hatten und auf diese Weise eine Brücke zwischen der ersten parlamentarischen Demokratie und dem demokratischen Neubeginn in Deutschland herstellen konnten.


Von 1953 an gehörte sie bis 1990, also nicht weniger als 37 Jahre lang, ununterbrochen dem Deutschen Bundestag an. Das war eine ganz seltene, außergewöhnlich lange und politisch bemerkenswerte Zeit, die von den Aufbaujahren bis zum Fall der Mauer und zur Wahl des ersten gesamtdeutschen Parlaments reichte.


Ebenso außergewöhnlich wie die Dauer ihrer politischen Arbeit war, verlief auch ihre politische Laufbahn: Sie war die erste Frau, die in ihrer Fraktion Parlamentarische Geschäftsführerin wurde. Sie gehörte zu den ersten Frauen, denen der Sprung ins Parteipräsidium gelang. Der Höhepunkt ihrer politischen Karriere aber war die Wahl zur Präsidentin des Deutschen Bundestages. Sie war die erste Frau der Welt an der Spitze eines frei gewählten Parlaments.


Als Annemarie Renger 1972 gegen manche - übrigens nicht nur männliche - Vorurteile für das Amt des Bundestagspräsidenten kandidierte, war das beinahe eine Provokation. Aber sie brachte die „gesunde Portion Selbstvertrauen“, wie sie es selbst formulierte, mit - auch gegenüber der eigenen Fraktion, wie sie auch später immer freimütig bekannte. Immerhin brachte sie sich selbst ins Gespräch, als es um die Kandidatur ging.


Wahrscheinlich brachte sie es ziemlich genau auf den Punkt, als sie später in einem Interview sagte:

Ich habe mich in der Fraktion selber für das Amt des Bundestagspräsidenten vorgeschlagen. Glauben Sie, man hätte mich sonst genommen?


An Selbstbewusstsein und Initiative hat es ihr jedenfalls nie gemangelt. Als sie nach dem Krieg von Kurt Schumacher hörte, sagte sie:

Den Mann muss ich kennenlernen.


Auch hier war sie es, die die Initiative ergriff und ihm ihre Mitarbeit antrug.


Bei ihrer Kandidatur 1972 galt es für Annemarie Renger gleich eine doppelte Herausforderung zu meistern; denn zum einen stand das hohe Amt überhaupt zum ersten Mal in der neuen Republik den Sozialdemokraten zu, und zum anderen war der Bundestag ausgerechnet 1972 extrem männerdominiert. Zu Beginn der 7. Wahlperiode saßen lediglich 30 Frauen im Deutschen Bundestag. Damit betrug der Frauenanteil bei den Abgeordneten lediglich 5,8 Prozent - so wenig wie in keiner Legislaturperiode zuvor und natürlich in keiner danach. Rückblickend sagte Annemarie Renger:

Ich war der Meinung, dass man jedes Amt annehmen muss, das Frauen in den Stand setzt zu beweisen, Frauen können es genauso gut - vielleicht sogar besser als Männer.


Energisch, resolut, selbstbewusst, stark - das sind Attribute, mit denen Annemarie Renger immer wieder charakterisiert wird. Wer sie erlebt hat, kann bestätigen, dass sie alle zutreffend sind. Ein anschauliches Beispiel für ihre Resolutheit, der sich kaum jemand entziehen konnte, stammt aus den parlamentarischen Anfangsjahren der Grünen - 1987 -: Als damals der Abgeordnete Thomas Ebermann, an den sich der eine oder andere noch erinnern wird, in recht salopper Kleidung zum Rednerpult geht, weist ihn die amtierende Sitzungspräsidentin Annemarie Renger ebenso kurz wie eindeutig zurecht: „Machen Sie das Hemd zu.“ Das war so unmissverständlich und ultimativ, dass selbst Thomas Ebermann der Aufforderung unverzüglich Folge leistete.


(Heiterkeit)


Sie selbst, stets Grande Dame, fiel durch stilvolle Kleidung auf. Ihre Hüte und Frisuren waren legendär. Ihre natürliche Autorität blieb ihr bis ins hohe Alter. Als das Präsidium des Deutschen Bundestages zu ihrem 85. Geburtstag hier im Hause einen Empfang gab, dominierte sie ganz selbstverständlich die Szene und verteilte demonstrativ ihre durchaus abgestuften Sympathiebekundungen.


Annemarie Renger hatte nicht nur Bewunderer und Freunde. Das trifft übrigens auch für die Frauen zu, deren Sache ihr doch stets am Herzen lag. Aber dem Feminismus konnte sie die von manchen erwartete Bedeutung nie richtig abgewinnen. Auch ihre Partei hatte es nicht immer leicht mit ihr - und sie nicht immer nur Freude an ihrer Partei. Gelegentliche Dissonanzen ziehen sich jedenfalls durch ihr gesamtes politisches Leben: Nur wenige Monate waren seit ihrer Wahl zur Bundestagspräsidentin vergangen, als sie im April 1973 aus dem Parteipräsidium abgewählt wurde.


Gezweifelt aber hat Annemarie Renger nie - weder an sich noch an ihrer Partei -:

Ich bin mit den Vorstellungen und Symbolen der Sozialdemokratie aufgewachsen. Sie haben mir und meinen Eltern während der Nazizeit inneren Halt gegeben.


So notierte sie in ihren Lebenserinnerungen.


Sie vertrat die sozialdemokratische Idee mit Überzeugung und Loyalität - was sie allerdings nicht daran hinderte, sich als Abgeordnete auch schon mal gegen ihre Fraktion zu stellen:

Dennoch habe ich in Fragen, die mir wichtig waren, eine eigene Meinung im Plenum vertreten, die zuweilen nicht „im Trend“ lag.


So umschrieb Annemarie Renger diese Haltung, Art. 38 des Grundgesetzes auf ihrer Seite wissend - eine Verfassungslage, liebe Kolleginnen und Kollegen, die bis heute weder an rechtlicher Verbindlichkeit noch an aktueller politischer Relevanz eingebüßt hat.


Annemarie Renger bekleidete hohe politische Ämter, und sie war Kandidatin ihrer Partei für das Amt des Staatsoberhauptes. Gleichwohl kann man von ihrer Biografie gewiss nicht sagen, ihr Leben sei vom Schicksal begünstigt gewesen - schon gar nicht immer. Sie hatte im Gegenteil eine ganze Reihe persönlicher Schicksalsschläge zu verkraften. Ihr erster Mann fiel im Weltkrieg, ebenso drei ihrer Brüder. Auch ihren zweiten Mann und ihren einzigen Sohn hat sie überlebt. Aber Annemarie Renger besaß bewundernswerten Lebensmut und Durchhaltewillen. Ihre Devise war:

Ich lasse mich nicht unterkriegen.


Ihre Rolle als Präsidentin füllte Annemarie Renger sowohl nach dem Urteil ihrer Kolleginnen und Kollegen als auch in der öffentlichen Wahrnehmung mit Bravour aus. Sie leitete die Sitzungen überparteilich, souverän und mit der ihr eigenen charmanten Resolutheit. Sie hat das Parlament nach außen hervorragend repräsentiert und hat nach innen viel bewegt. Sie hat lange überfällige Parlamentsreformen angeschoben, sie brachte das Parlament den Bürgern näher. Nicht zuletzt intensivierte sie die parlamentarischen Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn und leitete die ersten Bundestagsdelegationen nach Polen, Rumänien und in die Sowjetunion.


Besonders lag ihr die Verbundenheit mit Israel am Herzen. 14 Jahre lang war sie Vorsitzende der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe. Ihr Engagement um die Aussöhnung mit Israel, um den christlich-jüdischen Dialog wurde mit hohen Auszeichnungen gewürdigt, darunter mit der Ehrendoktorwürde der Ben-Gurion-Universität, der Buber-Rosenzweig-Medaille und dem Heinz-Galinski-Preis der jüdischen Gemeinde Berlin.


Am Ende ihrer vierjährigen Amtszeit als Parlamentspräsidentin hat Annemarie Renger mit berechtigtem Stolz gesagt:

Ich habe erreicht, was ich wollte. Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann.


Niemand wird das mehr in Zweifel ziehen.


Wir nehmen heute Abschied von einer bemerkenswerten Frau und einer unverwechselbaren Persönlichkeit. Wir verneigen uns vor einer bedeutenden Parlamentarierin, vor einer leidenschaftlichen Demokratin. Annemarie Renger hat sich um Deutschland verdient gemacht.

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Parlament

Grußwort des Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert anlässlich der Auftaktveranstaltung der Christlich-Muslimischen Friedensinitiative

Exzellenzen,
verehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten und Regierungen und Verwaltungen des Bundes, der Länder und der Kommunen,
meine Damen und Herren,

es gab Zeiten in Deutschland, da reichte das fröhliche Bekenntnis zu einer multikulturellen Gesellschaft als Nachweis der Weltoffenheit, Toleranz und Modernität völlig aus. Die Zeiten haben sich geändert und die Debatten auch. Die Christlich-Muslimische Friedensinitiative lädt zu der heutigen Auftaktveranstaltung mit dem ausdrücklichen Hinweis ein: „Weltweit zeichnen sich Spannungen zwischen islamischen Kulturenkreisen und der westlichen Welt ab, auch in Deutschland.“ Und dieser Hinweis auf die Lage wird verbunden mit einer Absichtserklärung: „Die Christlich-Muslimische Friedensinitiative möchte helfen, Brücken zu schlagen.“ Eine solche Initiative unterstütze ich gerne. Sie ist nicht einfach, aber sie ist nötig. Und ich bin überzeugt, sie ist auch möglich.

In den Begrüßungsworten ist schon mehrfach ein allgemeiner Hinweis auf die nicht einfache Lage erfolgt. Ruprecht Polenz hat von der Neigung oder der Versuchung zu wechselseitigem Misstrauen gesprochen. Tatsächlich lassen sich aus einer Reihe von Daten, von Umfragen, diese Versuchung, diese weitverbreiteten Einstellungen, Vermutungen und Stimmungen mühelos belegen. Es kann kein Zweifel daran sein, dass die Symptome einer sich verfestigenden, vielleicht vergrößernden Distanz zwischen denjenigen, die nach Deutschland gekommen sind, und denjenigen, die immer schon hier gelebt haben, in jüngerer Zeit eher stärker als geringer geworden sind. Und wir wissen aus Umfragen, dass sich die Vorstellung der Deutschen über den Islam in den vergangenen Jahren jedenfalls nicht in der Weise entwickelt hat, wie es ganz offenkundig den Initiatoren dieser Aktion ausdrücklich vorschwebt.

In einer Umfrage des Allensbach-Institutes im Jahre 2006 wurde deutlich, dass sich die Vorstellung der Deutschen über den Islam in der jüngeren Vergangenheit zunehmend eingetrübt hat. Und dabei ist der eigentlich besorgniserregende Punkt weniger der Vergleich zur Situation vor 10 Jahren. Dass die traumatischen Erfahrungen des 11. September 2001 zu einer gründlichen Veränderung in den Wahrnehmungen geführt haben, das kann niemanden ernsthaft überraschen. Aber dass sich - und das ist ein auffälliges Ergebnis dieser Untersuchung - zwischen 2004, also nach diesem Ereignis, und 2006 die Vorstellungen in der Weise verändert haben, wie sie sich verändert haben, das ist ein Anlass zur Besorgnis. Die Zahl derjenigen, die mit dem Islam Vorstellungen verbinden wie Fanatismus, Rückwärtsgewandtheit, Intoleranz, Mangel an Demokratie, hat zugenommen, ausnahmslos für alle diese genannten Merkmale. Und die Eigenschaft „Friedfertigkeit“ bescheinigen in dieser Umfrage aus dem Jahre 2006 dem Islam gerade acht Prozent der Deutschen.

Es gibt auch andere Umfragen. Eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF im Juli vergangenen Jahres hatte das bemerkenswerte Ergebnis, dass fast die Hälfte der Deutschen es gut findet, dass es in Deutschland Moscheen gibt. Eine deutliche Mehrheit von 70 Prozent hat kein Problem mit dem Kopftuch einer Muslimin, aber in der gleichen Umfrage sagen 79 Prozent der Bundesbürger, sie hätten den Eindruck, dass die meisten hier lebenden Muslime nicht genug tun, um sich einzugliedern. Übrigens verbunden mit dem eher am Rande erfassten Zugeständnis, dass die allermeisten von sich erklären, sie fühlten sich eigentlich über den Islam nicht richtig informiert.

Und schließlich haben nach einer im Januar dieses Jahres veröffentlichten Studie des Weltwirtschaftsforums die inzwischen zahlreichen Foren eines Dialogs zwischen dem Islam und dem Westen, die es seit Beginn dieses Jahrhunderts zweifellos gibt, nicht wirklich zu einer Annäherung geführt. Die Autoren dieser Studie kommen zu dem Schluss, dass häufig eher der Monolog dominiere und die Dialogforen nicht oder kaum aufeinander abgestimmt seien. Im übrigen, das wird den meisten von uns vertraut vorkommen, besteht auf beiden Seiten der tatsächlichen oder virtuellen Dialogpartner die gefestigte Auffassung, die jeweils andere Seite bemühe sich nich hinreichend um eine Verbesserung der Beziehungen.

Man muss Umfragen nicht übertrieben ernst nehmen, aber man sollte sie auch nicht für belanglos erklären, schon gar nicht dann, wenn gemessene Daten mit den noch sehr viel subjektiveren Lebenserfahrungen übereinstimmen. Deswegen ist es ganz sicher gut und richtig, dass wir gerade in Deutschland vergleichsweise früh, früher jedenfalls als andere europäische Länder, dies auch zu einem politischen, auch zu einem staatlichen Anliegen gemacht haben. Ich sage das gerade deshalb, weil ich diese bürgerschaftliche Initiative für eine ganz besonders wichtige und unverzichtbare Ergänzung, aber natürlich nicht Alternative zu solchen staatlichen Bemühungen halte.

Deutschland hat als erstes westliches Land bereits 2002 einen Politikschwerpunkt „Dialog mit dem Islam“ im Auswärtigen Amt geschaffen. Es wurde das Amt eines Beauftragten für den Dialog mit der islamischen Welt eingerichtet, und das Parlament hat zusätzliche Mittel für Projekte und Austauschprogramme zur Verfügung gestellt, die nicht nur, aber insbesondere dem kulturellen Dialog gewidmet sind. Es gibt, wie Sie alle wissen, seit dem September 2006 die Deutsche Islamkonferenz auf Initiative der Bundesregierung, die als ein langfristiger Kommunikationsprozess gedacht ist, zwischen dem deutschen Staat und Vertretern der in Deutschland lebenden Muslime, die ihren Beitrag durch regelmäßige Kommunikation leisten soll zu einem breitangelegten Konsens über die Einhaltung gesellschafts- und religionspolitischer Grundsätze und Orientierungen in unsem Land und im Umgang miteinander.

Meine Damen und Herren, wenn mich mein Eindruck nicht trübt, sind vielleicht auch wegen der gerade knapp geschilderten Wahrnehmungen und Einstellungen und Vermutungen einschließlich der damit verbundenen Verunsicherungen in jüngerer Zeit die Einsichten gewachsen, dass eine moderne Gesellschaft nicht nur Vielfalt braucht, sondern auch Gemeinsamkeit. Und dass das jeweils eine das andere nicht ersetzen kann. Ohne Gemeinsamkeit erträgt eine Gesellschaft auch keine Vielfalt. Die spannende Frage ist längst nicht mehr, ob das eine das andere ersetzen kann, sondern wie diese Gemeinsamkeit zustande kommt. Integration kann man nicht auch gemeinsam schaffen, Integration kann man nur gemeinsam schaffen. Integration findet nur statt, wenn sie gewollt wird - auf beiden Seiten. Die Wahrheit ist, dass diese Minimalvoraussetzung nicht immer gegeben ist - auf beiden Seiten.

Integration ist sicher nicht dasselbe wie Assimilierung. Dass das eine mit dem anderen nichts zu tun habe, ist allerdings die nächste weitverbreitete Vereinfachung. Man fördert das eine Anliegen nicht, wenn man das andere mit dogmatischer Gebärde zurückweist. Schon gar dann, wenn es sich nicht um eine politisch zugemutete, gesetzlich erzwungene, sondern von vielen Menschen in diesem Lande mit dem berühmten Migrationshintergrund gewollte Anpassung an die Lebensverhältnisse, an die Traditionen dieses Landes handelt.

Ich selber komme aus einer Region, dem Ruhrgebiet, die erst durch Zuwanderung entstanden ist. Diese große deutsche Wirtschaftsregion gäbe es gar nicht, wenn sich in einem Zeitraum von gerade einmal 80 Jahren nicht weniger als vier Millionen Menschen in eine von den Abmessungen her sehr überschaubare Region zugewandert wären und wenn sie sich nicht integriert hätten. Ich kann von Erfolgsgeschichten berichten und von Erfahrungen des Scheiterns. Neben vielen objektiven Voraussetzungen, die darüber entscheiden, ob Integration stattfindet oder nicht, gibt es die mindestens so wichtige subjektive Voraussetzung, dass man sie will. Deswegen müssen wir vor allen Dingen die Menschen ermutigen, die sie wollen, und die begriffen haben, dass Integration natürlich nicht heißt, Wurzeln zu kappen, aber natürlich heißt, Wurzeln zu schlagen. Und wer das eine mit dem anderen für unvereinbar erklärt, hat eine der wesentlichen Voraussetzungen für gelungene Integration in diesem Land beseitigt.

Multikulturalität ist eine wunderschöne Erfahrung. Sie ist eine unverzichtbare Bereicherung, eine unvermeidliche nebenbei, also eine ebenso unvermeidliche wie unverzichtbare Begleiterscheinung moderner Gesellschaften in Zeiten der Globalisierung. Aber der richtige Hinweis auf die Multikulturalität unserer Gesellschaft ist doch kein Konzept zur Selbstverständigung und Orientierung unserer Gesellschaft. Und diese Orientierung ereignet sich nicht von selbst, sie muss erarbeitet werden. Gemeinsam.

Auch moderne Gesellschaften werden nicht durch Politik zusammengehalten, sondern durch Kultur, durch Überzeugungen, durch Orientierungen, durch Werte, die in einer Gesellschaft geteilt werden und die deshalb Grundlage auch von gesetzlichen Regelungen werden können. Keine dieser gesetzlichen Regelungen, auf die wir uns am leichtesten als gemeinsame Orientierung verständigen können, hat Bestand, wenn die kulturelle Grundlage erodiert, auf der diese gesetzlichen Regeln beruhen. Deshalb kann wiederum der richtige Hinweis auf die für alle gültige Verfassungsordnung und die sich daraus gründenden Gesetze die Verständigung über die kulturellen Grundlagen dieser Gesellschaft sicher nicht ersetzen. Verständigung wiederum findet entweder gemeinsam statt oder sie findet nicht statt. Und wir haben ein gemeinsames Interesse, dass sie stattfindet. Und deshalb - noch einmal - unterstütze ich diese Bemühung gerne, weil sie schwierig, weil sie nötig und weil sie möglich ist.

Die mit Abstand wichtigsten einzelnen Vermittler von Orientierungen, Überzeugungen, Werten in einer Gesellschaft sind die Religionen. Auch das hat man in unserer Gesellschaft zeitweilig ein bisschen unterschätzt und erreicht uns nun mit den üblichen Verzögerungen von Wahrnehmungen, an denen man vielleicht nicht so ein ausgeprägtes Interesse hatte und bei denen man irgendwann nicht mehr bestreiten kann, dass es gleichwohl so ist, wie es ist. Und deswegen müssen wir, wenn wir gerade auch unter dem Gesichtspunkt eines zivilgesellschaftlichen Engagements über dieses große Thema einer gemeinsamen Verständigung auf die gemeinsamen kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft reden wollen, über ein so kompliziertes Thema reden wie das Verhältnis von Politik und Religion. Nicht, weil es sich hier um Varianten von ein- und demselben handelte, sondern weil es sich nicht um Varianten von ein- und demselben handelt, jedenfalls nicht nach unserem Verständnis. Und da sind wir auch schon mitten im Thema.

Dieses außergewöhnlich sensible und gleichzeitig zentrale Thema „Politik und Religion“ kann ich heute Morgen in unserem Zeitrahmen nicht mit der Gründlichkeit behandeln, wie es dieses Thema ganz gewiss verdient. Aber ich will wenigstens einige wenige Hinweise geben, die vielleicht auch verdeutlichen helfen, warum dieses Thema so zentral und warum es eben gleichzeitig so schwierig ist. Religionen, meine Damen und Herren, handeln von Wahrheiten. Sie definieren Wahrheiten und Ansprüche. In dem sie das tun, integrieren sie und desintegrieren sie eine Gesellschaft zugleich. Es ist ein im übertragenen Wortsinn frommer Wunschglaube, dass Religionen immer und ganz gewiss Konsens in einer Gesellschaft stiften. Das war schon in vormultikulturellen Zeiten nicht wahr. Zu den Komplizierungen dieses Themas gehört, dass der Anspruch auf Wahrheiten Abstimmungen ausschließt. Mehrheiten können über Wahrheiten nicht befinden. Ob ein Satz wahr ist oder nicht, ist völlig unerheblich gegenüber der Frage, ob dieser Satz mehrheitliche Zustimmung findet oder nicht. Ob eine Botschaft wahr ist, darüber kann man in unterschiedlicher Weise befinden, sicher ist, dass man mit den Mitteln einer Mehrheitsentscheidung Wahrheiten nicht identifizieren kann. Was im übrigen auch umgekehrt bedeutet, dass der höchst subjektive Anspruch auf Wahrheit durch den Hinweis auf haushohe gegenteilige Mehrheiten überhaupt nicht ernsthaft zu erschüttern ist.

Politik, meine Damen und Herren, handelt nicht von Wahrheiten, Politik handelt von Interessen. Der moderne Politikbegriff beruht geradezu auf der Bestreitung des Anspruchs ewiger Wahrheiten. Das jedenfalls in unserer Zivilisation entstandene Verständnis von Politik und demokratischer Ordnung beruht auf der Grundüberzeugung, dass es einen Anspruch auf ewige Wahrheit als Grundlage für konkretes gesellschaftliches Handeln nicht gibt. Und dass Anspruch auf allgemeine Zustimmung nur hat, was allgemeine Akzeptanz findet, in einer Gesellschaft also nur das Geltung hat, worauf sich diese Gesellschaft verständigt. Das Mittel zur Feststellung der Geltung ist die Mehrheitsentscheidung. Was die Mehrheit beschließt, gilt, auch wenn es nicht wahr ist. Das ist im übrigen eine Quelle ewiger Auseinandersetzungen zwischen jeweiliger Regierung und jeweiliger Opposition, die natürlich beide von dem unerschütterlichen Glauben getragen und motiviert sind, dass sie selbst jeweils Recht und die vermaledeite Konkurrenz hoffnungslos Unrecht haben. Aber die Logik des Systems beruht auf der gemeinsamen Überzeugung, dass nicht Wahrheitsansprüche Entscheidungen legitimieren, sondern eine Verfahrensregel. Und die Verfahrensregel lautet: es gilt, worauf sich die Mehrheit verständigt - bis sich möglicherweise eine andere Mehrheit auf etwas anderes verständigt, was wiederum nicht wahr sein muss, aber wiederum gilt.

Spätestens an dieser Stelle meiner Ausführungen ist der Einwand unvermeidlich, das, was ich hier vortrage, sei doch ganz offenkundig das westliche, nicht unwesentlich christliche Staats- und Politikverständnis. Das ist wahr oder besser: das ist zutreffend. Genauso zutreffend wäre der Hinweis, der Islam, jedenfalls in der ganz großen Mehrheit seiner Interpreten, habe ein anderes Verständnis von Religion und Staat, von Glaube und Politik als das, was ich als den vorläufigen Endpunkt einer hochkomplizierten abendländischen Religions- und Politikgeschichte sehr verkürzt, aber ich hoffe, im Kern zutreffend, dargestellt habe.

Soweit es hier zwei ganz unterschiedliche Vorstellungen über das Verhältnis von Politik und Religion gibt, halte ich eine Einsicht für notwendig, vielleicht ärgerlich, aber unvermeidlich. Nämlich, diese beiden - so es sie denn gibt - unterschiedlichen Vorstellungen über die Legitimation politischer Entscheidungen, können nicht beide zugleich in ein- und derselben Gesellschaft gelten. Völlig ausgeschlossen. Es muss klar sein, was gilt. Der innere Zusammenhang jeder Gesellschaft, natürlich auch unserer - so besonders sind die Deutschen nicht, wie wir inzwischen auch verlässlich wissen - hängt von einem Mindestmaß an Gemeinsamkeiten ab, die für alle gelten. Ich persönlich finde es in einem hohen Maße aufschlussreich, persönlich auch ermutigend, dass es immer häufiger muslimische Intelektuelle gibt, die zu einer, wie sie selber sagen, modernen Interpretation des Islam und des Korans kommen, die sich diesem Verständnis der Trennung von religiösen Glaubensüberzeugungen auf der einen Seite und politischen Entscheidungen auf der anderen Seite annähern. Ob überhaupt und in welchem Umfang diese Autoren repräsentativ sind, ob sie längst einen Trend gesetzt haben oder eben nicht, das können andere sicher sachverständiger beurteilen als ich.

Dass es aber diese Stimmen gibt, dass sie zunehmen, begründet meine Überzeugung, dass es möglich ist und nicht nur nötig, was heute hier auf den Weg gebracht werden soll. Mir fällt in diesem Zusammenhang ein, dass gerade vor wenigen Wochen der langjährige Vorsitzende der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, in einem Interview Aufsehen erregt hat mit der Bemerkung, von mir aus könnte man auch in Rom eine Moschee bauen, die größer ist als der Petersdom. Und er hat hinzugefügt, allerdings stelle ich mir vor, dass ich dann in Zukunft nicht mehr mit meiner Verhaftung rechnen muss, wenn ich in Saudi-Arabien eine Messe lese. Und er hat den einen wie den anderen sehr konkreten, sehr lebenspraktischen Bezug mit der allgemeinen Schlussfolgerung verbunden, ohne ein gewisses Maß an Reziprozität in der Gewährung von Religionsfreiheit als einem der unaufgebbaren Grundrechte und Menschenrechte werden wir das gemeinsame Problem schwerlich lösen können.

Meine Damen und Herren, die Bewältigung der Herausforderungen, von denen hier heute Morgen nicht zum ersten Mal und ganz sicher nicht zum letzten Mal die Rede ist, ist im Kern eine politische Aufgabe. Aber diese politische Aufgabe kann überhaupt nur gelöst werden, wenn sie von der Gesellschaft als Aufgabe begriffen und vor allem von der ganzen Gesellschaft auch als Aufgabe wahrgenommen wird. Deshalb drei ganz knappe Bemerkungen zum Schluss zum geforderten, gewünschten und gewollten Dialog der Kulturen.

Erstens: Bei wirklich ernsthafter nüchterner Betrachtungsweise gibt es keinen Dialog der Kulturen. Wie soll der eigentlich stattfinden? Ein Dialog kann es immer nur zwischen Individuen geben. Vielleicht gibt es ihn auch zwischen Institutionen, aber auch bei denen entscheidet sich die Frage, ob es ihn gibt und wie es ihn gibt über die handelnden Personen, die für diese Institutionen stehen. Das lässt mich mit besonderen Erwartungen und besonderer Zuversicht gerade auf die Konstellation blicken, die dieser Initiative zugrunde liegt.

Zweitens: Ein Dialog von Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugungen und mit unterschiedlicher kultureller Herkunft hat nur Sinn und hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn die Bereitschaft besteht, zuzuhören, dazuzulernen und unterschiedliche Überzeugungen wechselseitig zu respektieren. Wenn dies für alle drei genannten Aspekte in unserem Land sichergestellt wäre, bräuchten wir diese Initiative nicht. Der Umstand, dass wir sie heute auf den Weg bringen, ist die Demonstration unserer Einsicht, dass wir hier was tun müssen. Auch übrigens auf beiden Seiten.

Die König-Fahad-Akademie in Bad Godesberg zum Beispiel war über Jahre hinweg nach allem, was wir wissen, kein Trainigscamp zur Einübung des Dialogs der Kulturen. Insofern, das gehört zur Ernsthaftigkeit einer solchen Veranstaltung dazu, es reicht nicht, Konferenzen zu veranstalten, in denen man die Notwendigkeit des Dialogs beschwört, wenn die Umsetzung dieser Einsicht dann im Alltag verzögert oder verweigert wird, scheitert oder nicht einmal in Angriff genommen wird.

Drittens schießlich: Ein ernsthafter und ein gelungener Dialog bliebe auch dann folgenlos, wenn er nicht Adressaten findet, die das, was man gemeinsam als richtig und notwendig erkannt hat, auch umzusetzen bereit und in der Lage sind. Und dass wir hier ein nicht zu unterschätzendes ganz praktisches handfestes Problem in den vergangenen Jahren hatten, auch dies scheint mir eine der grundlegenden Einsichten zu sein, auf denen diese Initiative beruht. Deswegen freue ich mich, dass dies in der Verbindung von Persönlichkeiten und Institutionen beginnt, die heute Morgen hier dargestellt worden ist, dass das Interesse der türkischen Religionsgemeinschaften durch DITIB zum Ausdruck gebracht wird und dass die Städte sowohl in Gestalt der Oberbürgermeister wie in Gestalt ihres gemeinsamen Verbandes, des Deutschen Städtetages, sich ausdrücklich und demonstrativ an die Spitze dieser Initiative stellen.

Meine Damen und Herren, Kofi Annan, der langjährige Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat sein von ihm herausgegebenes Manifest mit dem Titel „Brücken in die Zukunft“ mit einem Zitat des bedeutenden islamischen Mystikers Rumi beendet, das ich gerne auch an den Schluss meines Beitrages stellen möchte, weil es sich vielleicht als Motto der Bemühungen eignet, die hier auf den Weg gebracht werden sollen. Das Zitat lautet: „Draußen hinter den Ideen von rechtem und falschem Tun liegt ein Acker. Wir treffen uns dort. Das ist die ganze Aufgabe. Aber um sie zu erledigen, bedarf es zweier Voraussetzungen. Erstens man muss sich treffen wollen. Und zweitens muss man den Acker tatsächlich bearbeiten.“

Man muss sich treffen, man muss tatsächlich arbeiten. Und vor allem: man muss es wollen.

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Parlament

Rede des Bundestagspräsidenten Dr. Norbert Lammert anlässlich der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag an die Opfer des Nationalsozialismus

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Verehrte Frau Köhler! Frau Bundeskanzlerin! Herr Bundesratspräsident! Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts! Exzellenzen! Verehrte Familie von Lenka Reinerová! Liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages! Verehrte Gäste!

In wenigen Tagen ist es genau 75 Jahre her seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland am 30. Januar 1933. Damals war der erste Versuch parlamentarischer Demokratie in unserem Lande endgültig gescheitert. Unter dem Eindruck dieser Entwicklung sezierte noch im selben Jahr Thomas Mann die vermeintliche „deutsche Revolution“, zu der die nationalsozialistische Propaganda den Weg in den menschenverachtenden Unrechtsstaat stilisierte. In einem Brief an Albert Einstein schrieb der Nobelpreisträger, ihr Wesen sei nicht „Erhebung“, sondern „Hass, Rache, gemeine Totschlaglust“. Das ganze Ausmaß dessen, wohin die rassistische Verblendung und Vernichtungswut geführt hatten, zeigte sich zwölf Jahre später: Als am 27. Januar 1945 die Rote Armee in Auschwitz das größte der deutschen Vernichtungslager erreichte, fand sie noch etwa 8 000 entkräftete Menschen vor, dort, wo zuvor 1,2 Millionen Deportierte aus ganz Europa - Frauen wie Männer, Alte und Kinder - entrechtet, entwürdigt und ermordet worden waren.

Seit 1996 begehen wir in Deutschland den 27. Januar und damit die Befreiung von Auschwitz als nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Seit drei Jahren folgt die internationale Staatengemeinschaft diesem Beispiel weltweit.

Ich hätte es übrigens für durchaus angemessen gehalten, wenn diese zentrale öffentliche Veranstaltung im deutschen Parlament im Hauptprogramm einer der beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten übertragen würde - in diesem Jahr, im letzten Jahr, in jedem Jahr, auch und gerade mit Blick auf die gleichzeitigen Programmangebote.

Wir gedenken in dieser Stunde im Deutschen Bundestag aller Opfer eines beispiellosen totalitären Regimes: Juden, Christen, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Homosexuellen, politisch Andersdenkenden sowie Männern und Frauen des Widerstandes, Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten, Kriegsgefangenen und Deserteuren, Greisen und Kindern an der Front, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und der Millionen Menschen, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden. Wir erinnern damit an unvorstellbares Menschheitsverbrechen, an Völkermord und systematisch betriebenen Massenmord. Und wir bekennen zugleich unsere besondere Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz.

Der Holocaust ist und bleibt die fortwährende Quelle für ein „Gefühl der Fassungslosigkeit“, wie es der Historiker Saul Friedländer einmal ausgedrückt hat. Diese Fassungslosigkeit entbindet uns aber weder von der Verantwortung, alles zu tun, damit sich Ähnliches nicht wiederholt, noch bewahrt sie uns vor der Auseinandersetzung mit der Frage, wie es in Deutschland dazu kommen konnte. Der Deutsche Bundestag wird sich in Kürze in einer besonderen Veranstaltung dieser Frage stellen und der besonderen Verpflichtung, die sich aus ihrer Beantwortung ergibt.

Der 30. Januar 1933 war weder ein „Betriebsunfall der deutschen Geschichte“ noch war er unausweichlich - und schon gar nicht war dies die „Machtergreifung“, wie es in der falschen Revolutionsmetaphorik der Nationalsozialisten hieß. Dass der Weg in die Diktatur keine Zwangsläufigkeit war, ist eine beständige Mahnung an alle demokratischen Kräfte: Jeder Bestrebung, unsere heute gefestigte Demokratie und ihre Ansprüche zu ignorieren, zu verhöhnen, zu unterlaufen oder offen angreifen zu wollen, werden wir gemeinsam und entschieden entgegentreten. Nach den bitteren Erfahrungen des letzten Jahrhunderts dulden wir keine Form von Extremismus, Rassismus und Antisemitismus - nirgendwo in der Welt und in Deutschland schon gar nicht.

Meine Damen und Herren, ein absoluter Machtanspruch, der sich unter welchen Vorzeichen auch immer anmaßt, Untaten zu rechtfertigen, darf nicht toleriert werden: So lautet im Rückblick auf ihr eigenes Leben in einem Jahrhundert der Extreme die ganz persönliche Konsequenz der tschechischen Schriftstellerin und Journalistin Lenka Reinerová, die wir nach dem großen ungarischen Autor und Zeitzeugen Imre Kertész im vergangenen Jahr als Rednerin für die heutige Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag eingeladen hatten. Ihre gesamte Familie wurde in deutschen KZs ermordet. In bewegenden Erzählungen hat sie darüber immer wieder geschrieben. Nur durch Zufall war es ihr als publizistisch aktiver Kommunistin gelungen, sich selbst dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen, als deutsche Truppen in Prag einmarschierten. Sie floh zunächst nach Frankreich, wo sie als Ausländerin zwischenzeitlich interniert wurde und Einzelhaft erlitt. Und auch der abenteuerliche Weg in die Emigration nach Mexiko führte zunächst nur zur neuerlichen Internierung in einem berüchtigten Wüstenlager der Sahara. Der Flucht vor den Nationalsozialisten und dem Verlust ihrer Familie in der Schoah folgten nach Krieg und Exil Schreibverbote und Verbannung unter der kommunistischen Diktatur in ihrer alten Heimat.

Lenka Reinerová ist als deutschsprachige Autorin die wohl letzte bedeutende Vertreterin einer ehemals stolzen Tradition deutsch-tschechisch-jüdischer Kultur in Prag. Ich bedauere es sehr, dass sie, trotz aller Bemühungen bis zuletzt, heute hier nicht anwesend sein kann, um zu uns zu sprechen. Denn damit entgeht uns nicht nur eine beeindruckende persönliche Begegnung mit dieser Jahrhundertzeugin und großen Erzählerin. Wir müssen leider auch auf ihr viel gerühmtes gesprochenes Prager Deutsch verzichten. Wir wissen aber, verehrte, liebe Frau Reinerová, dass Sie in der deutschen Botschaft in Prag über den Bildschirm diese Gedenkveranstaltung mitverfolgen. Auf diesem Weg möchte ich Sie im Namen des Deutschen Bundestages und aller hier Anwesenden herzlich grüßen. Wir wünschen Ihnen von Herzen alles Gute, vor allem eine schnelle Genesung!

(Beifall)

Meine Damen und Herren, „Ich wandre durch Theresienstadt, das Herz so schwer wie Blei“, so heißt es in dem eben vorgetragenen Kinderlied von Ilse Weber. Die Antwort auf die Schlussfrage ihres Liedes, „wann wohl das Leid ein Ende hat, wann sind wir wieder frei?“, hat sie nicht mehr erlebt. Als Krankenschwester im KZ Theresienstadt folgte sie den von ihr betreuten Kindern nach Auschwitz und wurde dort in der Gaskammer umgebracht. „Bleischwer“, so wiegt auch im Empfinden von Lenka Reinerová der Verlust ihrer nach Theresienstadt deportierten Verwandten. Doch Hass nütze nichts, sagt sie ohne Verbitterung. Trauer aber bleibe. Diese Trauer fülle für immer einen Winkel der Seele. Angesichts solch schmerzhafter Erinnerungen von Überlebenden und Nachkommen der Ermordeten sollten wir Deutsche uns beständig die Versöhnungsbereitschaft bewusst machen, die wir nach dem Krieg erlebt haben. Sie war ganz sicher nicht selbstverständlich.

Vor gut einem Monat wurde in Bochum der jüngste Synagogenneubau in Deutschland eingeweiht. Das alte Gotteshaus war wie viele andere vor 70 Jahren in der Nacht vom 9. November 1938 angezündet und zerstört worden. Heute hat die jüdische Gemeinde in Bochum wie andernorts wieder so viele Mitglieder wie vor der Zeit des Nationalsozialismus. Ihr Leitspruch lautet: „Wo ein Haus ist, ist Heimat.“ Es erfüllt uns mit Freude und Dankbarkeit, dass sich heute Menschen jüdischen Glaubens hier wieder zu Hause fühlen. Vielerorts haben sich religiös und kulturell lebendige jüdische Gemeinden entwickelt, deren Zahl beständig wächst. Diese Entwicklung könnte in unserer Gedenkstunde kaum schöner repräsentiert sein als durch den Gesang Avitall Gerstetters, die als erste jüdische Kantorin Europas regelmäßig in Berliner Synagogen amtiert.

Versöhnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir aber nicht nur im eigenen Land erlebt, sondern auch mit unseren Nachbarn: Frankreich und Polen, Niederlande und Ungarn, Belgien und Slowakei. Lenka Reinerová gehört zu den wichtigen Botschafterinnen der deutsch-tschechischen Aussöhnung. „Traumcafé einer Pragerin“ heißt eine ihrer Erzählungen. Darin lässt sie literarisch die Blütezeit deutsch-tschechisch-jüdischer Kultur im polyglotten Vorkriegs-Prag wieder aufleben. Mit bewundernswert langem Atem ist es Frau Reinerová aber auch gelungen, in ihrer Heimatstadt ein Literaturhaus deutschsprachiger Autoren zu gründen, das kein Traumcafé ist, sondern ein wirklicher Treffpunkt für den literarischen Austausch zwischen Deutschen und Tschechen. Man könne doch der Sprache nichts übel nehmen, begründet die Ehrenbürgerin Prags dieses jahrzehntelange Engagement für die deutsche Sprache. Hier erfüllt sich mit Leben, was die Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997 und der vor zehn Jahren gegründete Zukunftsfonds gewollt hatten: die Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen, ermöglicht durch möglichst viele beidseitige Begegnungen.

„Im Herzen Europas“, so lautete der Titel einer deutschsprachigen Prager Zeitschrift, für die Lenka Reinerová zur Zeit des Prager Frühlings 1968 arbeitete - ein Ereignis von wiederum historischem Rang, dem wir in diesem Jahr ebenfalls gedenken. Nach der Niederschlagung dieses mit vielen Hoffnungen nicht nur in Mittel- und Osteuropa verbundenen Versuchs eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ durch sowjetische Panzer und Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 flog Lenka Reinerová wegen angeblicher „politischer Unzuverlässigkeit“ zunächst aus der Partei, dann aus ihrem Verlag und damit aus ihrer Arbeit. Erst von 1985 an durfte sie wieder unter ihrem eigenen Namen publizieren. Sie war fest entschlossen, nie wieder irgendwo Mitglied zu werden. Aber als sie 80 wurde, hat sie sich - „aus einem Gefühl der Zugehörigkeit“, wie sie das formuliert hat - von der jüdischen Gemeinde in Prag registrieren lassen. An ihrem 85. Geburtstag ist sie bei Amnesty International eingetreten.

Meine Damen und Herren, 40 Jahre nach dem Prager Frühling und über 60 Jahre nach Kriegsende liegt Prag nicht mehr nur kulturell im Herzen Europas. Tschechien und Deutschland befinden sich heute in der Mitte eines freiheitlichen und demokratischen Europas. Sie gehören beide zur europäischen Staatenfamilie, die mit der Erweiterung des Schengen-Raums gerade erst einen weiteren wichtigen Schritt getan hat, um dauerhaft eine gemeinsame friedliche Zukunft zu sichern.

Aus der furchtbaren Erfahrung des von Deutschland entfesselten Vernichtungskrieges begründet sich ganz wesentlich die Idee der europäischen Einigung, deren Anfänge wir im vergangenen Jahr feierten. Wir Deutsche konnten in diesem Prozess Vertrauen zurückgewinnen und übernehmen heute Verantwortung in Europa und in der Welt. Es wäre aber leichtfertig, zu sagen, dass wir aufgrund unserer historischen Erfahrung gegen Verirrungen gefeit seien. Das sind wir nicht. Es ist beschämend, dass in unserem Land beständig Polizeipräsenz notwendig ist, um jüdische Einrichtungen vor Angriffen zu schützen. Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind noch immer ein ernstes Problem, das auch in neuen Formen und anderer Gestalt auftritt. Wir Deutsche wollen unserer besonderen Verantwortung gerecht werden, auch und gerade in der EU. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die während der deutschen Ratspräsidentschaft erzielten Fortschritte in der strafrechtlichen Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit überall in Europa. Und es soll auch ein Signal sein, dass im Rahmen der OSZE heute ein internationales Expertenforum im Bundestag tagt, um über Herausforderungen und erfolgreiche Methoden in der Bekämpfung des Antisemitismus zu diskutieren.

Meine Damen und Herren, historisches Wissen gewinnt durch die emotionale Dimension der Erinnerung von Überlebenden. Deshalb freue ich mich über die auch in diesem Jahr wieder stattfindende Jugendbegegnung, deren Teilnehmer ich herzlich begrüße. Auf Einladung des Deutschen Bundestages können sich Jugendliche aus Deutschland und den Nachbarstaaten intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus befassen, in diesem Jahr besonders mit dem Schicksal von Kindern als Opfer. Sie besuchten mit dem Konzentrationslager Theresienstadt einen authentischen Ort des Verbrechens und trafen dabei auch auf Zeitzeuginnen des Holocaust. Besonders danke ich auch für die Teilnahme der Überlebenden des grausam-berühmten „Mädchen-Zimmers 28“ in Theresienstadt, deren bittere Erfahrungen und zugleich ermutigenden Botschaften Gegenstand einer eindrucksvollen Ausstellung im Paul-Löbe-Haus sind, die wir in dieser Woche gemeinsam eröffnet haben.

Die Weitergabe authentischer Erfahrungen ist unverzichtbar für eine Erinnerungskultur, die lebendig bleiben muss. Denn sonst bliebe das Wissen um den Völkermord in der Anonymität des millionenfachen Todes abstrakt. „Sie waren zu vielstellig, zu nichtssagend in ihrer Unvorstellbarkeit“, schreibt Lenka Reinerová über ihr eigenes Empfinden, als sie die Zahl von 92 000 ermordeten Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück las. An anderer Stelle heißt es: „Wenn Bücher schreien könnten!“ Denn auch der literarischen Verarbeitung sind Grenzen gesetzt. Mehr als alle Literatur berühren uns die unmittelbaren Zeugnisse. Saul Friedländer, als Kind deutschsprachiger Juden wie Lenka Reinerová in Prag geboren, sagte in seiner bewegenden Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im letzten Jahr:

Wenn wir diesen Schreien lauschen, dann haben wir es nicht mit einem ritualisierten Gedenken zu tun.

Diese individuellen Stimmen würden uns erschüttern wegen der Arglosigkeit der Opfer, ... ihrer völligen Hilflosigkeit, ihrer Unschuld und der Einsamkeit ihrer Verzweiflung. Die Stimmen der Menschen bewegen uns unabhängig von aller rationalen Argumentation, da sie den Glauben an die Existenz einer menschlichen Solidarität stets von neuem einer Zerreißprobe aussetzen und in Frage stellen.

Es sind Menschen wie Lenka Reinerová, die von sich behaupten und behaupten dürfen, dennoch an das Leben und an die Menschen zu glauben. „Mein Schicksal ist das Schicksal meiner Generation“, sagt sie und verbindet damit den Auftrag an sich und die noch Lebenden, über das Erlebte zu berichten. Sie empfindet das nicht als Pflicht, sondern als bloße Selbstverständlichkeit. Mit dem Ende der Zeitzeugenschaft wird sich aber die Vergangenheit der ganz unmittelbaren persönlichen Erfahrung endgültig entzogen haben. Dann stellt sich gewiss noch drängender als bisher die Frage: Welches Geschichtsbild festigt sich, wenn nur kulturell überlieferte Erinnerungen Gegenstand unseres Gedenkens sind? In dieser Grundfrage unserer Gedenkdiskurse liegt eine beständige Herausforderung. Im Spannungsfeld von historischem Wissen und dem Verlust an authentischer Erinnerung der Überlebenden müssen wir geeignete Formen des Gedenkens finden. Dafür gibt es kein Rezept. Diese Spannung müssen wir aushalten, damit müssen wir umgehen - und das stets aufs Neue. Das - und nicht nur das - sind wir den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft schuldig.

Ich danke der Schauspielerin Angela Winkler, dass sie nun die kurze Rede von Lenka Reinerová und einen Auszug aus ihrer für diese Gedenkveranstaltung von ihr selbst ausgewählten Erzählung „Der Ausflug zum Schwanensee“ vorträgt.

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