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Rede zur Eröffnung der Ausstellung „The Holocaust against the Roma and Sinti and present day racism in Europe“ im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors

Lieber Herr Nachama,
sehr geehrter, lieber Herr Rose,
Frau Rosenberg,
Herr Prof. Steinbach,
meine Damen und Herren,
verehrte Gäste,

heute auf den Tag genau vor 40 Jahren, am 19. Oktober 1972, erhielt Heinrich Böll als erster Autor der Bundesrepublik Deutschland den Literaturnobelpreis. Er starb im Juli 1985 und wurde zum Erstaunen eines großen Teils der deutschen Öffentlichkeit auf seinen eigenen Wunsch zur Musik von Sinti und Roma zu Grabe getragen. Für Heinrich Böll war das Engagement für die Schwachen, das Eintreten für Benachteiligte, in ihren Rechten Eingeschränkte oder Gefährdete, gegen soziale Missstände, insbesondere aber das Engagement gegen Vergessen und Verdrängen der jüngeren deutschen Geschichte, ein prägender Teil seiner Literatur. Er hat damit nicht immer überall nur Begeisterungsstürme erzeugt, um es zurückhaltend zu formulieren, aber er hat damit ganz offenkundig einen nachhaltigen Beitrag für die Entwicklung des Selbstverständnisses dieser neuen Republik und ihren Umgang mit ihrer eigenen Geschichte geleistet.

„Alles Geschriebene ist gegen den Tod angeschrieben“, hat Heinrich Böll einmal formuliert und damit zum Ausdruck gebracht, dass es der Literatur immerhin gelingt, im Gedächtnis eines Landes und manchmal im Gedächtnis der Menschheit zu bewahren, was in den Realitäten des wirklichen Lebens verloren gegangen ist. Aber ganz sicher wäre Heinrich Böll der Letzte gewesen, der es für ausreichend gehalten hätte, dies für die herausragende Aufgabe der Literatur zu halten, ihr gewissermaßen die Planstelle für Bewahrung von Erinnerung und das Anschreiben gegen Vergessen zuzuweisen als Entlastung für eine Gesellschaft, die sich damit ungern auseinandersetzt.

Wir eröffnen heute gemeinsam eine Ausstellung, die an die Jahrhunderte alte Geschichte der Roma und Sinti in Europa und Deutschland erinnert und insbesondere an eine im Verhältnis zu dieser Zeitspanne außergewöhnlich kurze und beispiellose Zeit, die durch das organisierte Bemühen um systematische Vernichtung dieses Teils der deutschen und der europäischen Gesellschaft gekennzeichnet war.

1982, also 10 Jahre nach dem Ereignis, das ich gerade mit Blick auf den heutigen Tag in Erinnerung gerufen habe, ist der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gegründet worden. Eine wesentliche Voraussetzung dafür, nicht nur die wenigen verbliebenen und die wenigen nach Deutschland zurückkehrenden Sinti und Roma mit einem Sprachrohr zu versehen, ihnen die Möglichkeit einer Vertretung gemeinsamer Anliegen und Interessen zu geben, sondern auch einen konkreten praktischen Beitrag zur Dokumentation des Lebens von Sinti und Roma bei uns und in anderen Ländern Europas zu leisten, was in besonderer Weise durch das Dokumentationszentrum zum Ausdruck kommt, das 1997 in Heidelberg errichtet werden konnte.

Bei der Eröffnung dieser eindrucksvollen Dokumentationsstelle hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog in seiner Festrede ausdrücklich festgehalten: „Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns und mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise, vom Kleinkind bis zum Greis, ermordet.“
Es ist leider nicht übertrieben, vom „vergessenen Holocaust“ zu sprechen, und deswegen war es geradezu überfällig, dass wir mit der Einladung an Zoni Weisz im vergangenen Jahr, die Rede zur jährlichen Gedenkstunde im Deutschen Bundestag am 27. Januar zu halten, auch als Verfassungsorgan Deutscher Bundestag einen demonstrativen Beitrag zur Verdeutlichung dieser oft übersehenen Völkermordgeschichte geleistet haben.
Und ein bisschen finde ich es – obwohl es einem schwerfällt, im Zusammenhang mit solchen Themen und solchen Ereignissen den Begriff überhaupt in den Mund zu nehmen – tatsächlich ermutigend, dass es Gründe für die Annahme gibt, dass die damalige Rede von Zoni Weisz eine Wirkung gehabt und behalten hat, die weit über den Tag hinaus gegangen ist und die zur Erweiterung des Bewusstseins, zur Erweiterung der Kenntnisnahme einer deutschen und europäischen Bevölkerung beigetragen hat, die zweifellos überfällig war.

Als das Dokumentationszentrum in Heidelberg errichtet wurde, war der Beschluss zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma bereits gefasst. Nach zwanzigjähriger Planung und Bauphase können wir das Denkmal am nächsten Mittwoch endlich der Öffentlichkeit übergeben. Ich finde es gut, richtig und notwendig, dass dieses Ereignis in der nächsten Woche begleitet wird von einer Serie von Veranstaltungen, die nicht nur den historischen Kontext des Verbrechens zum Gegenstand haben, sondern ebenso den Stellenwert, das Leben und die Lebensumstände von Sinti und Roma in Deutschland und in Europa. Und die Ausstellung, die hier dankenswerter Weise in der „Topographie des Terrors“ gezeigt werden kann, trägt zur Vermittlung dieser Zusammenhänge bei.


Dass das Zustandekommen dieser Ausstellung neben Mitteln der europäischen Kommission, aus Mitteln des Auswärtigen Amtes, des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, liebenswürdigerweise auch der Böll-Stiftung und weiteren deutschen Stellen gefördert wird, versteht sich fast von selbst.

Dass die Ausstellung jedoch ausschließlich in englischer Sprache diese Ereignisse vermittelt, finde ich nicht sehr überzeugend, um nicht zu sagen ärgerlich. Der zutreffende Hinweis, die Ausstellung solle insbesondere auch im Ausland gezeigt werden, macht erklärlich, warum die Texte auch in Englisch verfügbar sein müssen. Dass sie ausschließlich in Englisch verfügbar sind, finde ich unpassend. Nach meinem Verständnis sind die national-sozialistischen Rassegesetze in deutscher Sprache verfasst worden. Und die Vernichtungskommandos sind in deutscher Sprache über die Kasernenhöfe und Konzentrationslager gebellt worden.

Es bleibt mehr als ein kleiner Wermutstropfen in einer ansonsten natürlich wichtigen und richtigen Initiative. Wenn ich das richtig aus den Unterlagen ersehen habe, gibt es immerhin die Möglichkeit, über Audio-Guides ergänzende Informationen für die hier in Berlin hoffentlich zahlreichen Besucher zugänglich zu machen. Aber nochmal: Gerade der Eindruck, den wir mit dieser Ausstellung auch an dritten Plätzen vermitteln, wäre noch überzeugender gewesen, wenn nicht, warum auch immer, die sprachliche Verharmlosung entstanden wäre, als die mir jedenfalls diese Verkürzung auf die englische Übersetzung vorkommt.

„Die Sprache“, um am Schluss noch einmal Heinrich Böll zu zitieren, „Die Sprache kann der letzte Hort der Freiheit sein. Wir wissen, dass ein Gespräch, dass ein heimlich weitergereichtes Gedicht kostbarer sein kann als Brot.“

Ja, das ist wahr. Aber ersetzen können Gedichte Brote eben nicht. Und Literatur kann das Gedächtnis an Menschen aufrecht erhalten, aber nicht Leben retten. Das bleibt eine Aufgabe, der sich jede Gesellschaft, ganz besonders, aber keineswegs nur die politisch Verantwortlichen, immer wieder neu stellen müssen. Und kein anderes Land in der Welt hat mehr Anlass, sich dieser Verpflichtung immer wieder neu zu vergewissern, als wir Deutsche.

Deswegen danke ich all denjenigen, die diese Initiative zu dieser Ausstellung und zu diesem mehrtägigen Begleitprogramm ergriffen haben. Ich wünsche der Ausstellung viele Besucher und bedanke mich bei all denjenigen, die sich nicht nur heute, sondern auch weit über das heutige Ereignis und über die Eröffnung des Denkmals in der nächsten Woche hinaus, um die Vermittlung dieses Anliegens bemühen.

Prof. Dr. Norbert Lammert
Präsident des Deutschen Bundestages

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Rede anlässlich des 100. Geburtstages von Raoul Wallenberg im Centrum Judaicum am 15. Oktober 2012

„Mir bleibt keine andere Wahl.“

Unter diesem Titel steht die Ausstellung, die aus Anlass des 100. Geburtstages von Raoul Wallenberg an das vielleicht größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit erinnert und zugleich auch an die Tragödie, dass ausgerechnet der, der sich diesem Verbrechen mit ganz ungewöhnlicher persönlicher Energie und beispiellosem Erfolg in den Weg gestellt hat, selber nicht zu retten war.

„Mir bleibt keine andere Wahl“, das ist der  wahrscheinlich meist zitierte Satz des kurzen Lebens einer großen Persönlichkeit, die den Eindruck erzeugt, als hätte es für dieses Leben keine anderen Möglichkeiten gegeben. Tatsächlich ist eher das Gegenteil richtig. Raoul Wallenberg wurde im August 1912 in der Nähe von Stockholm in einer berühmten Bankiers- und Unternehmensfamilie geboren. Seine Schwester hat daran erinnert, dass sein Vater drei Monate vor der Geburt des Sohnes gestorben war und sein Großvater väterlicherseits großen Einfluss auf seine frühen Jahre hatte; er war schwedischer Diplomat. Die Mutter Wallenbergs hatte auch jüdische Vorfahren. In der ersten Hälfte der 30er-Jahre hat Raoul Wallenberg in den Vereinigten Staaten studiert, Architektur. Er hat außerdem ein Sprachstudium in Deutsch, Englisch und Französisch absolviert. Nach dem Studium hat er zunächst eine Anstellung als Geschäftsmann in Südafrika, in Kapstadt, und dann in Palästina, in Haifa, wo er zum ersten Mal von Verfolgung der Juden in Deutschland aus erster Hand erfuhr. Er war dann in Stockholm ein gut beschäftigter, ungefährdeter Geschäftsmann. Als er ohne jede – schon gar rechtliche – Verpflichtung als schwedischer Diplomat nach Budapest ging, hatte er viele andere Möglichkeiten, sein weiteres Leben zu gestalten. Er hat sich entschieden, die Aufgabe anzunehmen, für die damals jemand gesucht wurde, der von Herkunft, beruflicher Erfahrung, persönlichen Verbindungen, nicht zuletzt auch Sprachkenntnissen, die Rolle überhaupt wahrnehmen konnte, die damals zu besetzen war, als Ungarn von deutschen Truppen okkupiert wurde. Das war im März 1944. Ab April 1944 mussten alle ungarischen Juden den gelben Stern tragen, noch im gleichen Monat begann die Ghettoisierung der ländlichen jüdischen Bevölkerung.

In einer deutschen Zeitung war vor ein paar Wochen aus Anlass des 100. Geburtstages von Raoul Wallenberg zu lesen: „Er war der verwöhnte Sprössling einer steinreichen Familie, aber frustriert, weil er nicht die Aufgaben bekam, die er für angemessen hielt.“ Die Aufgaben, die er jetzt übernahm, hätte er selbst nicht für angemessen halten können, niemand konnte das für angemessen halten. Aber das, was er damals als blutjunger Mann ohne jede diplomatische Berufserfahrung in Budapest nach seinem Eintreffen am 9. Juli 1944 auf den Weg gebracht hat, ist nicht nur in der Diplomatiegeschichte beispiellos.

Er hat damals ein Büro mit 16 Zimmern gemietet und eine „Humanitäre Abteilung“ seiner Gesandtschaft eingerichtet, in der er anfangs zwölf, am Ende 340 Angestellte und Hilfskräfte beschäftigte. Er hatte den Entwurf eines schwedischen Schutzpasses improvisiert und mit einer ebenso bewundernswerten Fantasie wie Energie Dinge probiert und durchgesetzt, die einem auch nachträglich beinahe unbegreiflich vorkommen. Dass unter den Bedingungen der Zeit die von ihm erstellten Pässe das schwedische Wappen verkehrt abbildeten, war vielleicht dasjenige in der damaligen Zeit, was am
wenigsten verkehrt war. Allein auf diesem Wege durch die Ausstellung der von ihm organisierten Schutzpässe konnten etwa 15.000 Personen gerettet werden. Er hat mehr als 30 sogenannte „Schutzhäuser“ errichtet – mit Krankenstationen, unter Tarnnamen wie „Schwedische Bibliothek“ oder „Schwedisches Forschungsinstitut“ oder was ihm auch immer eingefallen ist, jedenfalls regelmäßig mit schwedischen Flaggen behängt – und auf diese Weise exterritoriale Zufluchtsorte geschaffen. Er ist in laufende Transporte gegangen und hat durch Verlesen von Namenslisten schwedischer Schutzbefohlener Personen noch auf dem Todesmarsch zurückgeholt. Diejenigen, die ihn erlebt haben, beschreiben ihn als einen ebenso uneitlen, unauffälligen, wie auch energischen Menschen, dem zu erreichen dieses Zieles beinahe jedes Mittel recht war. Bitten, Empfehlungen, Hinweise, Drohungen, Täuschungen, was immer nur geeignet erschien, Menschenleben zu retten. Insgesamt rettete er während der ganzen 192 Tage, die seine Mission dauerte, rund 100.000 Menschen. In einer außergewöhnlich kurzen Zeit hat er außergewöhnlich viel erreicht. Aber natürlich nicht genug, um rund 200.000 Budapester Juden vor dem Tod zu bewahren.

Meine Damen und Herren, in seinem großen „Roman eines Schicksallosen“, erzählt Imre Kertész die autobiografisch geprägte Geschichte eines 15-jährigen Jungen, der 1944, also genau in dieser Zeit, als 15-Jähriger aus einem Bus geholt und nach Auschwitz gebracht wird. Er erzählt diese Geschichte in einem
geradezu empörend unauffälligem Ton, als seien die unglaublichen Ereignisse schlicht der Normalfall, mit dem man sich damals auseinanderzusetzen hatte. Imre Kertész hat bei einem Weltbankett in Stockholm, am Tage der Verleihung des Literaturnobelpreises, in Anwesenheit des schwedischen Königs und des ungarischen Ministerpräsidenten in seiner Tischrede hervorgehoben, für ihn, Imre Kertész, war der Holocaust, dem er selber nur durch ein Wunder entkam, „ein Trauma, nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Zivilisation“. Er
habe das wahre Antlitz dieses Jahrhunderts gesehen. Dass ein Mann mit der Biographie von Imre Kertész und von seinem Rang heute in Berlin lebt, das ist, jedenfalls für mich, ein kaum überbietbares Symbol des neuen Europa, in dem wir heute miteinander leben, als sei es eine schiere Selbstverständlichkeit, die gegen die Logik der europäischen Geschichte nie anders vorgesehen gewesen sei. In seinem berühmten Aufsatz „Die exilierte Sprache“ hat Imre Kertész geschrieben: „Meiner Ansicht nach wird die Tragödie des Judentums nicht beschädigt und auch nicht geschmälert, wenn wir den Holocaust heute, mehr als fünf Jahrzehnte danach, als Welterfahrung, als europäisches Trauma betrachten. Schließlich hat sich Auschwitz nicht im luftleeren Raum vollzogen, sondern im Rahmen der westlichen Kultur, der westlichen Zivilisation, und diese Zivilisation ist ebenso Auschwitz-Überlebender wie einige zehn- oder hunderttausend über die ganze Welt verstreute Männer und Frauen, die noch die Flammen des Krematorien gesehen und den Geruch des verbrannten Menschenfleischs eingeatmet haben. In diesen Flammen wurde alles zerstört, was wir bis dahin als europäische Werte schätzten und an diesem ethischen Nullpunkt, in dieser moralischen und geistigen Finsternis erweist sich als einziger Ausgangspunkt gerade das, was diese Finsternis erzeugt hat: der Holocaust.“

Imre Kertész hat in diesem Zusammenhang von der „unermesslichen moralischen Reserve“ gesprochen, die sich aus diesem Ereignis und dieser Erfahrung unserer Zivilisation ergeben habe. So etwas kann überhaupt nur jemand sagen und schreiben, der es selbst erlebt hat. Dass in diesen unglaublichen Zeiten die europäische Zivilisation nicht untergegangen ist, das verdanken wir Männern wie Raoul Wallenberg. Und deswegen ist das Jahr, in dem wir an seinen 100. Geburtstag erinnern, eine besonders gute Gelegenheit, das eine wie das andere ins Bewusstsein zurufen: Dass es diese Verbrechen tatsächlich gegeben hat und dass es Menschen gab, die es nicht akzeptiert haben
und sich dagegen aufgelehnt haben und die etwas unternommen haben, um die Katastrophe – so weit wie es überhaupt menschenmöglich war – in Grenzen zu halten.

„Mir bleibt keine andere Wahl“ – hat Raoul Wallenberg nicht einmal, sondern mehrfach in Briefen nach Stockholm geschrieben, immer wieder mit dem Hinweis, „Ich habe diese Aufgabe angenommen und könnte nie zurückkehren, ohne zu wissen, dass ich alles getan habe, was in der menschlichen Macht liegt, um so viele Juden wie möglich zu retten.“ Was in seiner Macht lag, hat er weiß Gott getan, umso bedrückender ist die Erfahrung, dass er, der so unglaublich vielen Menschen das Leben gerettet hat, selber nicht zu retten war – nachdem die Befreiung Budapests sich als die Ersetzung eines totalitären Regimes durch ein anderes herausstellte. Und auch dies bleibt eine Mahnung, die nicht nur im Jahr seines 100. Geburtstages von Bedeutung bleibt.

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Rede zum „Tag der Deutschen Einheit“ in München

Gemeinsam stärker.

Wir sind das Volk. Wir sind Deutschland. Wir sind Europa.

„Wir sind Europa“: mit diesem Titel sorgte ein Manifest prominenter Persönlichkeiten im Frühjahr für Aufsehen. „Wir sind Europa“. Das erinnert – sicher nicht zufällig – an den Ruf „Wir sind das Volk“.

Aus diesem Selbstbewusstsein wuchs vor 23 Jahren, worauf wir heute am Nationalfeiertag mit Stolz und Dankbarkeit blicken: ein freies, vereintes, demokratisches Deutschland. Mutige Bürger rissen 1989 die Mauer nieder, stürzten eine Diktatur. Unterstützt und mitgetragen von Freunden und Partnern in Europa und darüber hinaus ebneten die damals politisch Verantwortlichen entschlossen und zugleich besonnen den Weg zur deutschen Einheit. Seit dem 3. Oktober 1990 gestalten wir sie gemeinsam, Menschen in Ost und West, Frauen und Männer, hier Geborene und Zugewanderte. Sicher, manches bleibt noch zu tun, aber die Erfolge und Errungenschaften der deutschen Einheit sind deutlich sichtbar. Sie werden von unseren Nachbarn und vielen Beobachtern in der ganzen Welt meist stärker wahrgenommen und gewürdigt als hierzulande.
In Europa müssen wir heute keine Mauern mehr zum Einsturz bringen, aber um Europa zu vereinigen, braucht es wiederum besonnene und weitsichtige Politik – und Bürgerinnen und Bürger, die sich für die gemeinsame Idee Europa engagieren.

„Wir sind das Volk“, dichtete Ferdinand Freiligrath 1848 in den Tagen der deutschen Revolution. Wir sind ein Volk, heißt es seit dem 3. Oktober 1990. Dazwischen liegen anderthalb Jahrhunderte schwieriger deutscher Geschichte im Ringen um Einigkeit und Recht und Freiheit. Wir Deutsche hatten unsere Geschichte nie für uns allein. Von mehr Nachbarn als jedes andere Land in Europa umgeben, waren die Deutschen immer auch von den Entwicklungen in den Nachbarländern und diese von den Ereignissen in Deutschland direkt und indirekt betroffen. Das gilt nicht nur für das unvorstellbare Leid, das von unserem Land in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausging. Auch die glücklichsten Momente der deutschen Nachkriegsgeschichte, der Fall der Mauer und die deutsche Einheit, haben eine europäische Dimension. Ohne die Überwindung der Spaltung Europas wäre die deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit unseres Landes war umgekehrt Voraussetzung für das Zusammenwachsen Europas in einer Union west-, mittel- und osteuropäischer Staaten. Unser besonderer Dank gilt deshalb unseren Nachbarn, den ausländischen Freunden und Partnern, ohne die wir heute nicht den Geburtstag des wiedervereinigten Deutschlands begehen könnten.

„Wir sind Deutschland.“ Stärker vielleicht noch als andernorts wird uns in Bayern bewusst: Deutschland, das ist gelebte Vielfalt. Heimat ist überall, aber überall anders. Nur in München findet Jahr für Jahr rund um den Nationalfeiertag über ganze zwei Wochen das größte Volksfest der Republik statt. Anderswo wird schon morgen die Arbeit wieder aufgenommen – damit der Vorsprung der Bayern nicht zu groß wird. Bayern und Brandenburger, Franken und Friesen, Rheinländer und Westfalen, Thüringer und Pfälzer, Hessen und Württemberger: Jede Landsmannschaft hat ihre Geschichte, ihre eigene Identität, hat besondere Talente und beachtlichen Tatendrang. Manchmal muss man daran erinnern, was doch eigentlich alle ganz genau wissen: Zusammen sind sie stärker als jede für sich allein, erst zusammen bilden sie Deutschland. Vierzig Jahre einer Teilung, 28 Jahre einer menschenverachtenden Mauer, die das Land, Gemeinden, Familien trennte, konnten nicht das Gefühl außer Kraft setzen, zusammenzugehören. Am 3. Oktober 1990 war allen bewusst, was heute – zum Glück – als schiere Selbstverständlichkeit gilt: Gemeinsam können wir mehr aus unseren Möglichkeiten machen, frei und einig durch eine Verfassung, die das Recht garantiert, Parlamente und Regierungen zu wählen und abzuwählen und so das eigene Schicksal selbst zu bestimmen. Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben gezeigt, zu welch beispielloser gelebter Solidarität wir Deutsche fähig sind. Diese Erfolgsgeschichte des Zusammenwachsens und das zusammen Wachsen sind auch eine Botschaft für Europa.

Deutschland – Europa: Das sind schon lange keine Gegensätze mehr. Es sind zwei Betrachtungen des gleichen Sachverhaltes. Wir sind deutsche Europäer, der Zusammenführung Europas nicht weniger verpflichtet als der Einheit unseres Landes. Das eine erscheint uns heute – gut zwei Jahrzehnte nach den umwälzenden Ereignissen – noch selbstverständlicher als das andere. Der Zusammenhang ist aber nicht nur von historischem Interesse, sondern auch von aktueller politischer Bedeutung. Die Weiterentwicklung Europas, liegt im deutschen Interesse. Das ist im Allgemeinen kaum umstritten, im Alltag aber durchaus nicht immer präsent.

Wir sind Europa! Was aber ist das? Wim Wenders, ein deutscher Regisseur, der in Amerika arbeitet, dessen filmische Handschrift unverkennbar europäische Züge trägt, wurde kürzlich mit dem Satz zitiert: „Aus der europäischen Idee ist die Verwaltung geworden, und jetzt denken die Menschen, dass die Verwaltung die Idee ist.“
Das ist klug beobachtet, die Schlussfolgerung liegt nahe. Wir dürfen die Mittel, mit denen wir die EU gestalten, nicht mit den Zielen verwechseln. Europa ist mehr als eine Verwaltung, mehr als die viel – und im Übrigen oft zu Unrecht – gescholtene Bürokratie, mehr als Richtlinien und mehr als Verträge. Und es ist auch mehr als der Euro. Sicher, wer heute Meldungen über Europa verfolgt, muss den Eindruck gewinnen: Es geht meist um Geld, scheinbar nur um Geld, jedenfalls immer wieder um immer mehr Geld, um Schulden und ihre Tilgung, um Schuldenschnitte und ihren Umfang. Und es geht um immer wieder neue, endlose Verhandlungen, die – kaum beendet – mit erhöhtem Einsatz wieder aufgenommen werden müssen.

Aber wurde nicht auch die Deutsche Einheit, nachdem sie mit Freudentränen zustande gekommen war, immer wieder und viel zu oft verkürzt auf ökonomische Fragen? Im Blick auf die Solidität der Finanzen darf die Solidarität nicht unter die Räder geraten. Und umgekehrt: Die Bereitschaft zur Solidarität bleibt ohne Wirkung, wenn sie nicht mit dem Willen zur soliden Nutzung unserer Möglichkeiten verbunden ist. An beiden Einsichten führt kein Weg vorbei.

Die D-Mark war die starke Währung eines vermeintlichen Wirtschaftswunderlandes, aber sie war nicht Deutschland – und der Euro, die europäische Währung, ist nicht Europa. Sie ist ein wesentliches, unverzichtbares Mittel auf dem Weg zu einer politisch wie ökonomisch integrierten Union. Aber sie ist nicht ihr Kern – und schon gar nicht kann sie diesen ersetzen: die gemeinsamen Werte und Überzeugungen, die gemeinsamen historischen Erfahrungen und den aus zwei Weltkriegen wirksam gewordenen Willen zu einer gemeinsamen Zukunft.

„Europa eine Seele geben“, so hat Jacques Delors, der große französische Kommissionspräsident, die eigentliche Herausforderung der europäischen Staatengemeinschaft beschrieben.

Unser Verständnis Europas ist das Verständnis einer großen Idee, einer Vorstellung vom Menschen und seiner Würde und seiner Freiheit und seines Anspruchs auf Selbstbestimmung – eben von all dem, wofür vor über zwei Jahrzehnten Deutsche in einem Teil unseres Landes noch mutig aufbegehren mussten. Weil wir alle bei selbstkritischer Betrachtung unfreiwillig selber gelegentlich zu dem Eindruck beitragen, als ginge es in Europa um nichts anderes als die Lösung finanzieller Probleme, sollten wir gerade heute, an unserem Nationalfeiertag, als deutsche Europäer das Bewusstsein dafür stärken, was die Europäische Gemeinschaft in einer globalisierten Welt bedeutet: Sie ist der historisch einzigartige, beispiellose und zugleich beispielhafte Weg ihrer Mitgliedsstaaten, nationale Souveränitätsrechte zu übertragen - mit dem Ziel, ihre Souveränität zu wahren, die in Zeiten der Globalisierung nur gemeinsam mit Erfolg geltend gemacht werden kann. Dieser Prozess der Abtretung nationaler Souveränitätsrechte an europäische Gremien war notwendig, und er war gewollt, im Übrigen von keinem anderen Land früher und konsequenter als von Deutschland. Und er ist getragen von der Einsicht, dass in der Welt von heute nationale Souveränität an den Realitäten scheitern muss. Mit anderen Worten: Wir tauschen zunehmend nationale Souveränität, die unter gründlich veränderten Kräfteverhältnissen politisch wie ökonomisch verlorengeht, gegen den Selbstbehauptungswillen einer Staatengemeinschaft, die gemeinsam die Kraft entfalten kann und entfalten soll, zu der die Nationalstaaten allein nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in der gewohnten und gewünschten Weise in der Lage sind. Gemeinsam sind wir stärker!

Bei allen aktuellen Schwierigkeiten, die es zweifellos gibt, kann und sollte uns ermutigen, was wir Deutsche seit dem 3. Oktober 1990 in unserem Land gemeinsam erreicht haben – nicht nur aus eigener Kraft, auch mit großen Förderhilfen der EU. Damals lagen – bei aller Freude über die Deutsche Einheit – gewaltige Aufgaben vor uns. Es gab keinen vorgegebenen Weg, dem wir einfach hätten folgen können.

Wir mussten ihn selbst suchen und finden und dabei manche Zweifel und viele Hindernisse überwinden. Auch heute kann niemand sicher wissen, welche Lösung in Europa die richtige ist. Aber es spricht weder gegen die Regierung noch gegen das Parlament, nicht gegen die Koalition und schon gar nicht gegen die Opposition, dass die schweren, schwierigen und oft unpopulären Entscheidungen solidarischer Unterstützung von Mitgliedstaaten im Euro-Krisenmanagement im Deutschen Bundestag regelmäßig mit breiter Mehrheit über die Fraktionsgrenzen hinweg beschlossen worden sind.

Die Finanzkrise ist im übrigen nicht wie eine Naturkatastrophe über uns hereingebrochen. Zur Wahrheit gehört, woran nicht nur Verfassungsrichter in den letzten Monaten mehrmals erinnert haben: Hätten die Mitgliedsstaaten sich immer an das gemeinsame Recht gehalten, gäbe es diese europäische Krise nicht. Auch deshalb muss das Recht, die Einhaltung gesetzlicher und vertraglicher Verpflichtungen, wieder Vorrang vor ökonomischen Kalkülen haben. Es ist jedenfalls im Umgang mit den derzeitigen Herausforderungen allemal eher hinzunehmen, dass die Erwartungen der Märkte durch unsere Rechtsordnung und unsere demokratischen Verfahren enttäuscht werden, als dass umgekehrt die Erwartungen an unsere Rechtsordnung durch eine Verselbstständigung der Finanzmärkte leerlaufen. Für die Bürger muss nachvollziehbar und transparent bleiben, was und warum etwas geschieht. Auch deshalb, auch deshalb, ist es wichtig, dass die nationalen Parlamente bei der Bewältigung der Krise ihre verfassungsmäßigen Aufgaben wahrnehmen. Dass der Deutsche Bundestag in der rechtsverbindlichen Gestaltung europäischer Angelegenheiten in den vergangenen Monaten entgegen einer weitverbreiteten Vermutung nicht an Bedeutung verloren, sondern an gesetzlich fixierten Mitwirkungsrechten erheblich gewonnen hat, schwächt im Übrigen die Regierung nicht; es stärkt sie vielmehr in ihrer Verhandlungsposition. Vor allem fördert es die Akzeptanz in der Bevölkerung für das, was getan werden muss, und es stärkt die Zustimmung zu Europa.

Und für das Verhältnis eines in vollem Umfang politisch gleichberechtigten Europäischen Parlamentes zu den anderen europäischen Institutionen gilt dies in gleicher Weise.

Der Ruf „Wir sind ein Volk“ leitete 1989/90 eine Entwicklung ein, die historisch gesehen scheinbar alternativlos auf das Ziel der deutschen Einheit zusteuerte, politisch aber zur Umsetzung des mutigen Engagements der Bürger und des Weitblicks der damals politisch Verantwortlichen bedurfte. Heute gibt es keine vernünftige Alternative zu Europa, aber durchaus Alternativen zu dem Europa, wie wir es kennen: In seinen gegenwärtigen Grenzen, seinen gegenwärtigen Zuständigkeiten, seinen Institutionen, Gremien, Richtlinien und Regelungen. Wir brauchen eine breite und gründliche Diskussion darüber, in welchem Europa wir in Zukunft leben wollen. Die Europäische Union ist kein Staat, sie ist eine Gemeinschaft von Staaten, die nach den vertraglichen Vereinbarungen ihrer Mitglieder immer mehr staatliche Aufgaben wahrnimmt. Dieses Modell gab es bisher nirgendwo. Wir bauen sozusagen den Prototyp. Erstaunlich ist nicht, dass es dabei Probleme gibt. Entscheidend ist, dass wir sie lösen können.

Die Europäische Union bleibt gewiss hinter manchen Ansprüchen zurück, die uns aus der Praxis demokratisch verfasster Nationalstaaten vertraut sind. Aber wahr ist auch, dass es keine andere Staatengemeinschaft oder internationale Organisation gibt, die eine vergleichbare oder gar höhere demokratische Legitimation ihrer Organe und deren Entscheidungen aufweist als die Europäische Union. Auch deshalb ist es politisch wie juristisch gerechtfertigt und geboten, dass unser Grundgesetz die Bundesrepublik Deutschland nicht nur für den europäischen Integrationsprozess öffnet, sondern sich dem Ziel verpflichtet, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen“.

Dieses Bekenntnis des Grundgesetzes darf man nicht nur als Legitimation eines weiteren europäischen Integrationsprozesses werten, es muss als historisch begründete, politisch bewusste Selbstverpflichtung unseres Landes für eine gemeinsame Zukunft mit allen unseren Nachbarn und Partnern in Europa verstanden werden.

Wer nicht auf der Stelle treten will, hat zwei Alternativen: Vorwärts oder rückwärts. Dies gilt für Deutschland wie für Europa. Wenn der Integrationsprozess Europas nicht weiter vorankommt, weil uns der Mut verlässt, weil uns die falsche Einschätzung der eigenen Interessen und der Notwendigkeit, diese Interessen zu bündeln, um sie überhaupt wahrnehmen zu können, daran hindert, im 21. Jahrhundert weiter nach vorn zu marschieren, statt jeweils einzeln zurück ins 19. Jahrhundert, dann hätte Europa seine Zukunft hinter sich. Und jeder einzelne Staat ganz gewiss. Es wäre die mutlose und zugleich übermütige Wiederherstellung eines Zustandes, den dieser Kontinent mit dem Beginn des Baus der Gemeinschaft hinter sich lassen wollte: Die Rivalität von Nationalstaaten, deren Ehrgeiz größer war als ihre Möglichkeiten. Wir brauchen aber ein Europa, dessen Möglichkeiten über den Ehrgeiz seiner Mitgliedsstaaten hinausreicht, ein Europa selbstbewusster Bürger, ein Europa, das eindeutig und unerschütterlich für die eigenen Werte eintritt.

Am Tag der deutschen Einheit wird dieser Zusammenhang besonders deutlich: Nur in Europa, zusammen mit unseren Nachbarn und Partnern in der europäischen Gemeinschaft können und wollen wir sichern, was wir im Lied der Deutschen als unsere gemeinsamen Ziele proklamieren: Einigkeit und Recht und Freiheit.

Ich wünsche allen, die in diesem Lande leben, einen schönen und fröhlichen Nationalfeiertag: Dankbar für das, was wir gemeinsam erreicht haben, ermutigt für das, was wir in Zukunft gemeinsam bewältigen werden.

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Festrede anlässlich des 10-jährigen Jubiläums der Kulturstiftung des Bundes am 22. Juni 2012 in Halle (Saale)

Sehr geehrter Ministerpräsident, Staatsminister, Frau Oberbürgermeisterin,
liebe aktive und ehemalige Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten und Regierungen des Bundes und der Länder,
liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter des Stiftungsrats der Kulturstiftung und Bundes,
liebe Frau Völckers, lieber Herr Farenholtz,
lieber Durs Grünbein,
verehrte Gäste!

Zu Beginn dieser Woche hat das Bundesverfassungsgericht einmal mehr klargestellt, welche Kompetenzen Legislative und Exekutive in unserer Verfassungsordnung haben, und dass die Regierung das Parlament weder ersetzen kann noch verdrängen darf.

Das gilt selbstverständlich auch in umgekehrter Richtung. Auch aus diesem Grunde kann ich die Bundeskanzlerin nicht ersetzen und kaum vertreten. Zumal ich keine Richtlinienkompetenz habe, die es in der Kulturpolitik glücklicherweise auch nicht gibt. Deswegen werde ich auch keine Festrede vortragen, sondern eine politische Intervention, die vermutlich das von Durs Grünbein vorgegebene ästhetische Niveau nicht hält, aber – wenn es gut geht – beiträgt zur Selbstverständigung über den Stellenwert von Kultur in unserer Gesellschaft zwischen Kulturstaat und Bürgerinitiative. Ich werde im folgenden einige der Fragen aufgreifen, die Durs Grünbein vorhin genannt hat, aber nicht behandeln wollte. Und da ich im Unterschied zu ihm nicht „für Gedichte bestellt“ bin, habe ich zehn Kurzinterventionen mitgebracht, bei denen in jeder einzelnen auch von der Kulturstiftung des Bundes die Rede sein wird, obwohl ich über sie nicht sprechen werde.

1.
Es gibt viele große Kulturnationen. Aber es gibt nur wenige Staaten, die für Kunst und Kultur absolut und relativ so viele Mittel einsetzen wie Bund, Länder und Gemeinden in Deutschland. Über 90 Prozent der Kulturausgaben – jedenfalls in einem anspruchsvollen Verständnis von Kultur – werden aus staatlichen Haushalten aufgebracht. Weniger als 10 Prozent von Privatpersonen, gemeinnützigen Organisationen und Sponsoren, deren Beitrag zur Finanzierung von Aktivitäten und Initiativen hochwillkommen und in manchen Fällen auch dringend erforderlich ist, deren Anteil an der Gesamtfinanzierung der deutschen Kulturszene inzwischen aber maßlos überschätzt wird. In absoluten Beträgen stellen die öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden gegenwärtig etwa 9,5 Milliarden Euro für Kunst- und Kulturförderung in Deutschland zur Verfügung, dazu kommen noch einmal etwa 1,5 Milliarden für auswärtige Kulturpolitik, also für die Vermittlung deutscher Kunst und Kultur im Ausland. Das ist eine Menge Geld, aber durchaus übersichtlich, denn umgerechnet auf die Köpfe dieses Landes sind das gerade mal rund 130 Euro pro Jahr, die sich im Übrigen, der Ministerpräsident hat es angedeutet, in einer auch verfassungsrechtlich begründet sehr unterschiedlichen Weise auf die Länder und Gemeinden und den Bund verteilen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf die Kulturausgaben pro Kopf in den verschiedenen Bundesländern, die ein bemerkenswertes Süd-Nord- und Ost-West-Gefälle erkennen lassen, das mit der Größe und Wirtschaftsstärke der jeweiligen Bundesländer ganz offenkundig nicht und schon gar nicht alleine zu erklären ist.

2.
Öffentliche  Ausgaben müssen sich rechtfertigen. Kulturausgaben auch – ganz selbstverständlich. Zur Konsolidierung öffentlicher Haushalte sind Kulturetats dagegen völlig ungeeignet. Dafür ist ihr Anteil an den Gesamtausgaben zu gering und ihre Bedeutung zu hoch. Relativ zu den Gesamtausgaben der öffentlichen Haushalte betragen die Kulturausgaben in Deutschland 1,7 Prozent: etwas weniger als 1 Prozent beim Bund, etwas weniger als 2 Prozent bei den Ländern, etwas mehr als 2 Prozent bei den Gemeinden. Der Anteil der Kulturausgaben in diesem gerade vorgetragenen Sinne an unserem Bruttoinlandsprodukt beträgt überschaubare 0,4 Prozent. Das ist jedenfalls keine Größenordnung, bei der Künstler und Kulturfreunde in eine geradezu psychedelische Stimmung geraten, und es ist eben auch keine Größenordnung, bei der Kämmerer und Finanzminister ernsthaft in Depressionen verfallen.

3.
Kultur ist ein Standortfaktor, längst als solcher herauf- und herunterdiskutiert. Die Attraktivität von Städten und Regionen stützt sich immer stärker auf ihre Kunst- und Kulturszene, nicht nur für Touristen, sondern vor allem für die Menschen, die dort leben und arbeiten. Nimmt man die öffentlichen, privatwirtschaftlichen und gemeinnützigen Aktivitäten zusammen, erzielt der Kultursektor in Deutschland nach einer Schätzung des Arbeitskreises ‚Kulturstatistik’ pro Jahr eine stolze Wertschöpfung von weit über 30 Milliarden Euro. Das ist ziemlich genau die Größenordnung der Energie-Versorgung in Deutschland und weit mehr als klassische Wirtschaftsbranchen wie  Landwirtschaft, Bergbau oder auch Stahlindustrie.

Kultur, meine Damen und Herren, rechnet sich! Alle einschlägigen ökonomischen Studien belegen den Zusammenhang von Kultur und Wirtschaftswachstum. Die Ausgaben für Kunst und Kultur fließen direkt und indirekt in die jeweilige heimische Wirtschaft zurück. Aber gerade weil dies inzwischen häufig empirisch belegt worden ist, füge ich ausdrücklich hinzu: ein Staat, der Kulturförderung nur noch als eine besondere Form der Wirtschaftsförderung missversteht, bleibt weit hinter den Ansprüchen zurück, die ein Kulturstaat für sich in Anspruch nehmen muss.  

4.
Kunst- und Kulturförderung ist eine öffentliche Aufgabe, jedenfalls in Deutschland. Sie ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. Und dieses ganz unangefochtene Verständnis einer Gemeinschaftsaufgabe öffentlicher Hände würde es in dieser Form vermutlich nicht geben, wenn es nicht durch die komplizierte deutsche Geschichte über Jahrhunderte so gewachsen wäre, die über eine beinahe unübersehbare Zahl von Klein- und Kleinststaaten erst spät zum Nationalstaat gefunden hat. Vielleicht auch deshalb gibt es in regelmäßigen Abständen neue Diskussionen über die vermeintlich dringliche Entflechtung von Zuständigkeiten. Die Föderalismusreformkommissionen der letzten Jahre haben in diesem Zusammenhang einen besonders zweifelhaften Beitrag geleistet. Jedenfalls ist ein Jubiläum wie dieses ein guter Anlass, mit nüchternem Blick darüber nachzudenken, ob eine solche Entflechtung nicht nur gut gemeint, sondern auch wirklich durchdacht ist. Dass am Ende einer erfolgreichen Entflechtung der Zuständigkeiten zur Förderung von Kunst und Kultur mehr Geld als bisher zur Verfügung stünde, ist jedenfalls eine treuherzige Vorstellung, die weder durch die Verfassungslage noch durch die Haushaltslage von Bund und Ländern gedeckt ist. Der Streit, der gelegentliche, immer mal wieder angezündete Streit zwischen Bund und Ländern um die sogenannte Kulturhoheit ist auch deshalb abwegig, weil das Verständnis des Staates von Kunst und Kultur kaum missverständlicher ausgedrückt werden könnte, als durch diesen Begriff selbst. Ein Staat, der Kunst und Kultur mit hoheitlicher Gebärde begegnet, ist sicher kein Kulturstaat.

5.
Es wäre schön, wenn sich der verfassungsrechtlich in der Tat besonders begründete Ehrgeiz der Länder in der Förderung von Kunst und Kultur wieder stärker in einem Aufgabenfeld niederschlagen würde, in dem die Zuständigkeiten wie die Verantwortung der Länder völlig unbestritten und zunehmend unverzichtbar ist: der Kulturellen Bildung. Die Vermittlung von Grundlagen und Interesse an bildender Kunst und Musik, wenn  eben möglich auch die Motivation zur eigenen aktiven künstlerischen Betätigung, ist in den deutschen Schulen längst notleidend geworden. Der allgemein beklagte Unterrichtsausfall ist in den musischen Fächern nahezu überall außerordentlich hoch. Immer häufiger wird der Unterricht fachfremd erteilt, was im Übrigen schon als Errungenschaft ausgewiesen wird, weil er wenigstens stattfindet, wenn etwa der Sportlehrer sich bereit erklärt hat, mit einer wiedergefundenen Mundharmonika ausgestattet, den Musikunterricht zu erteilen. Immer häufiger findet ein Unterricht statt ohne die unbestrittene Professionalität, die in den geistes- und naturwissenschaftlichen Fächern für völlig unverzichtbar gehalten wird. Für den Umgang mit Kunst und Kultur gilt aber natürlich in genau der gleichen Weise wie in der Physik und der Chemie, dass ohne Kenntnis auch kein Verständnis und ohne Motivation auch kein Engagement zu erreichen ist. Wenn jedoch bei Kindern und Jugendlichen das Interesse  an Kunst und Kultur nicht nachwächst, dann vermindert sich unvermeidlicherweise in Zukunft sowohl das Angebot wie die Nachfrage für die künstlerischen Berufe sowie in großen und kleinen Kultureinrichtungen, deren Bestand keineswegs nur durch die aktuellen Haushaltsprobleme ihrer Träger gefährdet ist. Meiner festen Überzeugung nach ist der große und bunte Garten der Kulturlandschaft in Deutschland weniger in seinen Blüten bedroht als in seinen Wurzeln.

6.
Der Staat der Staat ist nicht für Kunst und Kultur zuständig, sondern für die Bedingungen, unter denen sie stattfinden und sich entfalten können. Und das ist eben nicht dasselbe. Die wichtigste Aufgabe des Staates gegenüber Kunst und Kultur ist nicht die finanzielle Förderung, sondern die Sicherung freier Entfaltungs- und Gestaltungschancen. Während finanzielle Mittel nicht nur durch staatliche Haushalte aufgebracht werden können, wenngleich aber überwiegend aufgebracht werden müssen, der Staat also insoweit prinzipiell ersetzbar ist, kann die Gewährleistung von freien Arbeitsbedingungen nur durch den Staat erfolgen. Kunst hat keinen Zweck. Wofür auch immer sie in Anspruch genommen wird, ist nicht wesentlich. Sie mag einen Zweck erfüllen, den sie nicht hat. Nur zweckfrei erfüllt sie ihren Zweck. Deshalb ist die vielleicht wichtigste einzelne Qualifikation von Kulturpolitikern die Einsicht in die eigene Bedeutungslosigkeit und die Souveränität, hartnäckig und fröhlich daran zu arbeiten, dass andere die Bedingungen für die Entfaltung ihrer kreativen Möglichkeiten vorfinden. Welche Gedichte und Romane geschrieben, wie Theater und Opern inszeniert, Bilder gemalt und Ausstellungen konzipiert werden, geht die Politik nichts an. Sie hat mit Urheberrecht zu tun, nicht mit Literatur. Mit Künstlersozialversicherung, nicht mit bildender Kunst. Der Zweck der Kulturpolitik ist Kultur, nicht Politik.

7.
Nirgendwo, in keinem anderen Bereich der Gesellschaft, ist die Distanz zum Staat so groß und so demonstrativ und zugleich die Erwartung der Alimentierung durch den Staat so ausgeprägt wie in der Kunst und Kultur.  Das scheint intellektuell weder besonders originell noch moralisch von bestechender  Größe, ist aber eine weit verbreitete Attitüde. Worauf es aber allein ankommt: Sie ist berechtigt. Die Kunst hat einen Anspruch gegenüber dem Staat – soweit er ein Kulturstaat sein will – nicht aber der Staat gegenüber Kunst und Kultur. Mit anderen Worten: Der Kunst kann der Staat egal sein. Dem Staat die Kunst nicht – und die Kultur schon gar nicht.

8.
Es bleibt schwierig. Politik und Kunst sind keine natürlichen Zwillinge. Ihr Verhältnis gilt allgemein als schwierig. Es muss geradezu gespannt sein, um nicht unter Verdacht  zu geraten. Völlig unabhängig von wechselseitigen Sympathien oder Antipathien beteiligter Künstler und Politiker geht es im Kern um die Unvereinbarkeit der jeweiligen Orientierung. Die Politik muss zu Kompromissen bereit und in der Lage sein, die Kunst nicht. Die Kunst riskiert mit der Bereitschaft zum Kompromiss ihre innere Legitimation, die die Politik umgekehrt verspielt, wenn sie im ideologischen Eifer ihre Fähigkeit zum Konsens durch Relativierung von Interessen verliert. Politik ist nicht mit ästhetischen Kriterien zu organisieren. Die Kunst dagegen kann nicht nach politischen Gesichtspunkten stattfinden. Bemühungen, sich über diese eigenen Gesetzlichkeiten hinwegzusetzen, führen fast zwangsläufig zu offener oder verdeckter Zensur, Propaganda und/oder Protektion, für die es auch und gerade in der jüngeren deutschen Geschichte viele abschreckende Beispiele gibt.

9.
In einer modernen Gesellschaft wächst der Bedarf an Kunst und Kultur und offensichtlich das Interesse daran. Nie waren Angebot und Nachfrage so breit wie heute, obwohl die Ernsthaftigkeit sowohl bei Anbietern als auch bei Nachfragern, bei Konsumenten wie bei Produzenten nicht immer über jeden Zweifel erhaben ist. Kunst muss sich weder über Märkte organisieren noch durch Preise als Maßstab der Bewertung definieren. Aber nicht alles, was sich nicht rechnet, ist deshalb große Kunst. Und das große Publikumsinteresse an Festivals und Premieren ist auch offensichtlich nicht immer und nur allein der Kunst geschuldet. Der große öffentliche Jubel bestätigt ebenso wenig den Rang eines Kunstwerkes, wie umgekehrt die breite Ablehnung seine Bedeutung widerlegt. Die Kunst ist frei – und individuelle Meinung über sie auch. Es gibt nicht nur eine Anmaßung der Politik gegenüber der Kunst. Es gibt gelegentlich auch eine Anmaßung ausgewiesener und selbsternannter Kunstsachverständiger gegenüber der Öffentlichkeit, das eigene ästhetische Urteil für das einzig mögliche zu erklären. Die wechselseitige Bereitschaft zur Toleranz, zur Achtung vor dem Urteilsvermögen und der Entscheidungsfreiheit des Anderen hebt das Spannungsverhältnis von Kunst und Politik nicht auf, aber macht es erträglich und manchmal aber sogar ertragreich.

10.
Über den Stellenwert von Kunst und Kultur für eine moderne Gesellschaft wird schon gar in Deutschland gern und gelegentlich mit fundamentalistischem Eifer gestritten. Nach den Beobachtungen des früheren britischen Intendanten der Bayrischen Staatsoper, Sir Peter Jonas, muss „in einem Land wie England Kunst Entertainment sein, sie  muss ein gesellschaftliches Ereignis sein. In Frankreich muss sie eine gewisse Kulinarik haben, eine Pompösität und ein bisschen Grandezza. In Deutschland muss die Kunst ernst sein, ein Konzept haben, muss intellektuell logisch sein und sie sollte interpretieren.“ Welche Kultur wir brauchen ist jedenfalls nicht hoheitlich zu beantworten. Aber dass wir Kunst und Kultur brauchen, der Staat und die Gesellschaft, und dass sie jeweils ihre eigene Verantwortung haben, und dass wir nur dann ein Kulturstaat sind, wenn wir als Bürgergesellschaft diese Verantwortung übernehmen – wir alle –,  darüber gibt es keinen Zweifel.

Die Kulturstiftung des Bundes hat in ihren zehn Jahren seit ihrer Gründung einen besonderen Beitrag dazu geleistet, solche Zweifel auszuräumen. Dazu dürfen wir ihr gratulieren – und uns auch.

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Parlament

Grußworte zur Vereidigung des Bundespräsidenten

Es gilt das gesprochene Wort.

Ich eröffne die gemeinsame Sitzung des Bundestages und des Bundesrates nach Artikel 56 des Grundgesetzes.

Auch im Namen des Präsidenten des Bundesrates begrüße ich alle Gäste aus dem In- und Ausland, die Besucher auf den Tribünen und die Zuschauer, die diese Veranstaltung an den Fernsehgeräten oder über das Internet verfolgen. Ich heiße Sie alle sehr herzlich willkommen.

Besonders herzlich begrüße ich Herrn Bundespräsidenten Dr. Joachim Gauck mit seiner Lebensgefährtin Daniela Schadt und seinen Vorgänger im Amt, Herrn Bundespräsidenten Christian Wulff und seine Ehefrau Bettina sowie auf der Ehrentribüne die Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker, Professor Roman Herzog, Professor Horst Köhler mit ihren Ehefrauen. Ich begrüße die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, und den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Professor Dr. Andreas Voßkuhle.

Meine Damen und Herren, die Vereidigung des Bundespräsidenten ist die erste und zugleich beste Gelegenheit zweierlei zu verbinden: die guten Wünsche für das neue Staatsoberhaupt und den Dank an den Vorgänger im Amt. Für mich ist es auch und gerade mit Blick auf die letzten Wochen ein Gebot der Redlichkeit wie der politischen Kultur, Christian Wulff nicht nur für manche nachwirkenden Inititativen und Impulse seiner Amtszeit als Bundespräsident zu danken, sondern zugleich auch für das, was er in drei Jahrzehnten politischer Arbeit für seine Heimatstadt, für Niedersachsen und für unser Land geleistet hat. Das eingeübte Zusammenwirken von Bundestag und Bundesrat mit verteilten Rollen zeigt sich heute in der Verständigung darüber, dass ich mich zunächst an den neuen, heute zu vereidigenden Bundespräsidenten wenden werde, dann im Anschluss der Herr Bundesratspräsident sich an dessen Vorgänger Christian Wulff.

Meine Damen und Herren,
wir vereidigen heute den elften deutschen Bundespräsidenten, den ersten, der nicht aus dem Westen kommt und nicht direkt aus einem anderen hohen politischen Amt.

Es zeigt den Fortschritt der inneren Einheit unseres geeinten Landes, den die meisten längst für selbstverständlich halten, dass Joachim Gauck das erste Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland ist, das in der DDR aufgewachsen ist. Zum Verständnis seines bisherigen öffentlichen Wirkens ist seine Erfahrung des Lebens unter den Bedingungen von Diktaturen nicht wegzudenken. Joachim Gauck weiß aus eigener Anschauung, was ein Leben in Gängelung, Bevormundung und Unfreiheit bedeutet – und was die Kraft der Freiheit vermag.

Sehr verehrter Herr Bundespräsident, lieber Herr Dr. Gauck, als Sie am 18. März 1990, bei der ersten freien Wahl zur DDR-Volkskammer Ihre Stimme abgaben, da sei, so haben Sie gesagt, „alle Freiheit Europas in das Herz des Einzelnen gekommen. Ich wusste: Nie, nie und nimmer wirst du auch nur eine Wahl versäumen.“ Diesen Satz haben Sie feierlich bekräftigt, als Sie, 22 Jahre später, in der Bundesversammlung selbst zur Wahl standen – für das höchste Amt, das unser Land zu vergeben hat. Vor wenigen Tagen wurden Sie mit überwältigender Mehrheit zum 11. Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Sie haben seit Wiederherstellung der deutschen Einheit stets dafür geworben, statt (Zitat) „Trübsal zu blasen“, sich über die gewonnene Einheit in Freiheit dankbar zu freuen. Heute, lieber Herr Gauck, freuen sich viele in unserem Land mit Ihnen. Ihre Wahl ausgerechnet am 18. März ist mehr als eine hübsche Pointe, mit Ihrer Wahl und Vereidigung zum Staatsoberhaupt schreibt die deutsche Einheitsgeschichte vielmehr ein weiteres, ein neues Kapitel.

Herr Bundespräsident, als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen haben Sie konsequent zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mit den Mitteln des Rechtsstaates beigetragen. Dabei ist Ihnen und Ihren Mitarbeitern, Beteiligten und Betroffenen, die Erfahrung nicht erspart geblieben, dass der Rechtsstaat vieles leisten kann, aber seinen Prinzipien folgend selbst gesetzte Grenzen respektieren muss, die nicht selten das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen verletzen. Für Sie war es dabei stets handlungsleitend, wo immer möglich zurückzugeben oder wiederherzustellen, was in der Diktatur vielen genommen worden war: Die Würde des Menschen. Sie ist es, was zu Ihrem Lebensthema wurde, als Pfarrer, Bürgerrechtler und als politisch denkender Mensch.

Die Würde des Menschen umfasst beileibe nicht nur, aber doch wesentlich die Freiheit. Politisch bedeutet sie in einer pluralistisch verfassten Gesellschaft, dass es neben dem eigenen Standpunkt stets auch andere berechtigte und gut begründete Meinungen geben darf. Gesellschaften erlauben nicht nur Widerspruch, sie brauchen ihn auch. Demokratie ist gerade kein Verfahren zur Vermeidung von Streit, sondern zur fairen Austragung unterschiedlicher Interessen und Meinungen. Auch ein Bundespräsident, der von einem großen Konsens getragen wird, kann den unverzichtbaren Grundkonsens für den legitimen Streit nicht alleine stiften und bewahren, ohne den es keine stabile und lebendige Demokratie gibt, aber er kann durch die Autorität des Amtes wie der Person wesentlich dazu beitragen.

In einem Vortrag vor genau einem Jahr hat Joachim Gauck festgehalten, dass wir „[..] so gerne eine letzte Autorität [hätten], die wir anrufen können bei all diesen Streitfragen, wenn sich unsere Parteien und Politiker nicht einigen. Aber eben diese Unsicherheit müssen wir aushalten.“ Tatsächlich ist in unserem demokratischen Gemeinwesen für eine solche „letzte“ Autorität kein Platz. Das gilt sogar für das Amt des Bundespräsidenten.

Lieber Herr Gauck, es ist gut, dass Sie gleich nach Ihrer Nominierung gesagt haben, Sie seien weder ein „Supermann“ noch „ein fehlerloser Mensch“. Das eine ist so beruhigend wie das andere. Mit diesem Bekenntnis, dass vielleicht manche überrascht hat, haben Sie in Erinnerung gerufen, dass zu den notwendigen Voraussetzungen für die Übernahme einer politischen Funktion keine übermenschlichen Fähigkeiten gehören. Ämter werden von Menschen ausgefüllt, die mit dem Amt zwar Verantwortung übernehmen, aber durch das Amt weder unfehlbar noch unantastbar werden. Einen Anspruch auf Respekt und Würde haben im demokratischen Rechtsstaat nicht nur Staatsoberhäupter, aber dieser selbstverständliche Anspruch muss auch für diejenigen gelten, die – durch Wahlen legitimiert – für begrenzte Zeit hohe Ämter in und für diesen Staat ausüben.

Herr Bundespräsident, Sie werden getragen von einer Woge der Sympathie. Es ist Ihnen und Ihrem Amt zu wünschen, dass dies so bleibt, nicht nur am Beginn einer fünfjährigen Amtszeit. Die Erwartungen, die an das Amt gestellt werden, sind hoch. Und die Hoffnungen, die sich auf Ihre Person richten, sind vielleicht noch größer. Wer ein Amt übernimmt, braucht das Vertrauen der Menschen, die er vertreten soll. Sie, lieber Herr Gauck, genießen dieses Vertrauen, und wir alle wünschen Ihnen bei Ihrer Amtsführung alles Gute, vor allem eine stets glückliche Hand zum Wohle der Menschen in unserem Land. Und ganz persönlich wünsche ich Ihnen, dass Sie auch Freude an der Wahrnehmung dieses hohen Amtes haben.

Das Wort hat nun der Präsident des Bundesrates, der in den letzten Wochen die Befugnisse des Bundespräsidenten wahrgenommen hat. Damit verband sich, wie Sie, lieber Herr Seehofer, bekannt haben, eine „schöne Erfahrung“ für die eigene politische Tätigkeit – aber natürlich auch eine zusätzliche Arbeitsbelastung. Ihre Aufgaben haben Sie fast unauffällig, mit bayrisch-präsidialer Souveränität ausgeführt, dafür gebührt Ihnen unser Dank und unsere Anerkennung.

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Parlament

Einleitende Worte zur 15. Bundesversammlung am 18. März 2012

  Meine Damen und Herren! Verehrte Gäste! Herzlich willkommen allen Mitgliedern der Bundesversammlung, ganz besonders den Frauen und Männern, die heute zum ersten Mal an der Wahl unseres Staatsoberhauptes teilnehmen.

  Ich begrüße die Repräsentanten unserer Verfassungsorgane: die Mitglieder des Bundestages, der Bundesregierung, des Bundesrates, des Bundesverfassungsgerichts, die von den Landtagen gewählten Wahlmänner und Wahlfrauen. Für alle stellvertretend nenne ich namentlich den Präsidenten des Bundesrates, Horst Seehofer, der in den vergangenen vier Wochen die Befugnisse des Bundespräsidenten wahrgenommen hat und dem ich dafür Dank und Respekt ausspreche.

  Ich heiße auch die Botschafter und Repräsentanten vieler Länder willkommen, die mit ihrer Anwesenheit zeigen, dass die heutige Wahl auch im Ausland, bei unseren Freunden und Partnern weit über die Europäische Union hinaus, großes Interesse findet.

  Schließlich begrüße ich alle, die diese Bundesversammlung im Rundfunk, im Fernsehen oder im Internetangebot des Deutschen Bundestages verfolgen.

  All denen, die an diesem denkwürdigen Wochenende hier in Berlin ihren Geburtstag feiern, möchte ich persönlich und sicher auch im Namen aller Mitglieder der Bundesversammlung herzlich gratulieren.
  Meine Damen und Herren, nach dem Grundgesetz wird der Bundespräsident für fünf Jahre gewählt.
– Ich entnehme der spontanen Beifallsbekundung, dass Änderungen der Verfassung insofern nicht beabsichtigt sind.

Dass die Abstände in jüngerer Zeit immer kürzer wurden, wird niemand für eine Errungenschaft halten.
Wir sollten uns alle bemühen, die politische Realität auch in dieser Hinsicht wieder näher an die Verfassungsnorm zu bringen. Der vorzeitige Wechsel im höchsten politischen Amt der Republik ist weder eine Staatskrise noch eine Routineangelegenheit.

  Diese heutige Versammlung findet nur 20 Monate nach der letzten Bundesversammlung statt, die am 30. Juni 2010 Christian Wulff zum zehnten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt hat. Die Geschichte dieser kurzen Präsidentschaft wird zu einem späteren Zeitpunkt geschrieben werden.

  Die Umstände des Rücktritts und die Gründe, die dazu geführt haben, werden erst mit angemessenem Abstand zu den Ereignissen fair zu bewerten sein. Dabei geht es auch um das Verhältnis von Amt und Person, um Erwartungen an Amtsträger, aber auch um die Rolle der Öffentlichkeit, der öffentlichen wie der veröffentlichten Meinung. Dies gilt für Beteiligte und Betroffene wie für Beobachter. Es gibt durchaus Anlass für selbstkritische Betrachtungen, nicht nur an eine Adresse.

  Manches war bitter, aber unvermeidlich. Manches war weder notwendig noch angemessen, sondern würdelos, von der zunehmenden Enthemmung im Internet, im Schutze einer tapfer verteidigten Anonymität, gar nicht zu reden.

  Unsere Verfassung schreibt vor, dass spätestens 30 Tage nach dem Rücktritt des Bundespräsidenten eine neue Bundesversammlung einzuberufen ist. Ich habe Sie, meine Damen und Herren, innerhalb dieser Frist zum 18. März eingeladen. Dieser Tag, der 18. März, gehört zu den Daten, an denen ähnlich wie am 9. November immer wieder deutsche Geschichte geschrieben wurde. Dieser Tag steht wie nur wenige andere in einer bemerkenswerten Traditionslinie der deutschen Geschichte.

  Am 18. März 1793 wurde die Mainzer Republik proklamiert. Sie war unter dem Eindruck und unter dem Einfluss der Französischen Revolution der erste radikaldemokratische Versuch deutscher Jakobiner, eine Republik zu gründen.

– Es müssen sich jetzt nicht bei jedem Datum die tatsächlichen oder vermeintlichen Erben der jeweiligen Ereignisse zu Wort melden.

  55 Jahre später, am 18. März 1848, begann die erste deutscheRevolution.

– Eigentlich hätten es jetzt ein paar mehr sein müssen. –

Die Demonstranten forderten damals auch hier, unweit vom heutigen Platz der Republik, Freiheit und Demokratie und die deutsche Einheit, einen deutschen Nationalstaat. Schon im Februar 1848 formierte sich in der Berliner Bevölkerung politischer Protest. Forderungen nach Reformen, nach Bürger- und Menschenrechten wurden immer lauter.

  Der Barrikadenkampf, der am 18. März 1848 in Berlin begann, war ein gewaltiger, auch gewalttätiger Schritt auf dem Weg zur Demokratie in Deutschland. Bereits seit Anfang des Monats hatten sich in Berlin Menschen vor dem Schloss versammelt, um Presse- und Versammlungsfreiheit und eine Volksvertretung zu fordern. Am 18. März 1848 waren es Schüsse von Soldaten in die versammelte Menge vor dem Berliner Schloss, die zur Katastrophe führten. Das war der berühmte Funken, der das Pulverfass zum Explodieren brachte, in der Konfrontation des Militärs mit Handwerkern, Schriftstellern, Arbeitern, Dienstboten und Studenten. Am Ende des Barrikadenkampfes blieben mindestens 270 Tote auf den Straßen liegen, darunter viele Frauen, Jugendliche und Kinder.

  Die Revolution führte damals nicht zum Erfolg, aber wenige Monate später zur ersten gesamtdeutschen Na-tionalversammlung frei gewählter Abgeordneter, die eine Verfassung für ganz Deutschland berieten und beschlossen, die freilich nie in Kraft getreten ist. Der „Friedhof der Märzgefallenen“ ist heute als bedeutender Schauplatz der Revolution ein authentischer Ort der Demokratie. Seit dem vergangenen Jahr endlich wird dieses viele Jahre vernachlässigte Gelände im Berliner Friedrichshain mit einer Dauerausstellung aufgewertet. Doch es hat lange gebraucht, bis die Bedeutung dieser Revolution von 1848/49 allgemein erkannt und anerkannt wurde.

  Die Erinnerung an die Freiheitskämpfe blieb auch im Kalten Krieg gespalten. Die Märzereignisse und die Paulskirche wurden im geteilten Deutschland jeweils ideologisch vereinnahmt. Die DDR ehrte die Aufständischen des 18. März; die Bundesrepublik hingegen hob mit der Würdigung der Verfassunggebenden Nationalversammlung die deutsche Parlamentstradition hervor. 1848 aber war beides – der proletarisch dominierte Aufstand gegen die gewalttätige Obrigkeit und die vom Bürgertum getragene parlamentarische Auflösung des Konflikts zwischen Krone und Volk.

  Meine Damen und Herren, am 18. März 1990 schließlich erfüllte sich mit den ersten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR eine der zentralen Forderungen nach Freiheit, für die zuvor in Ostdeutschland Hunderttausende auf die Straßen gegangen waren.

Die herausragende Wahlbeteiligung bei diesen Volkskammerwahlen – mehr als 93 Prozent – war ein bemerkenswerter Beleg für das neu gewonnene demokratische Selbstbewusstsein der Bürger in der DDR. Damit markiert dieser 18. März vor 22 Jahren auch die letzte Etappe eines langen und schwierigen Wegs zur deutschen Einheit in Frieden und Freiheit.

  Der 18. März ist also ein nicht wegzudenkender Baustein unserer Verfassungstradition; denn zur Vorgeschichte dieses Datums im Jahre 1848 gehörten die sogenannten Märzforderungen, die ein Jahr später in der Paulskirchen-Verfassung ihren deutlichen Niederschlag fanden. Insbesondere mit Blick auf die Grundrechte sollte diese erste demokratisch beschlossene Verfassung für ganz Deutschland alle weiteren Verfassungen unseres Landes prägen. Und schon damals wurde zu diesen Grundrechten auch und nachdrücklich die Pressefreiheit gezählt.

  Heute erfüllt die freie Presse eine wichtige und unverzichtbare Kontrollfunktion in unserer Demokratie. Es gibt keine Demokratie ohne Transparenz und ohne Kontrolle. Aber Demokratie ist mehr als der Anspruch auf organisierte Transparenz. Demokratie braucht auch Vertrauen.

Sie gründet auch und vor allem auf dem Vertrauen in ihre Repräsentanten.

Ein auf Dauer gesetztes Misstrauen zerstört nicht nur jede persönliche Beziehung, sondern macht auch die Wahrnehmung öffentlicher Ämter unmöglich.

  Mit keinem Amt verbinden sich mehr Erwartungen auf Vertrauen und Autorität als mit dem Amt, das wir heute durch diese Bundesversammlung neu zu besetzen haben. Die Erwartungen und Hoffnungen an den Bundespräsidenten sind riesig, wobei die Nüchternheit des Verfassungstextes wie die darin niedergelegten Aufgaben und Kompetenzen in einem bescheidenen Verhältnis zu den hohen Erwartungen an den jeweiligen Amtsinhaber stehen.

  Wie er oder sie das Amt ausfüllt, bleibt ihnen jeweils überlassen. Das war bei zehn Bundespräsidenten in mehr als 60 Jahren so, und das wird gewiss auch künftig so sein – und es ist auch gut so. Amt und Person sind in der Lebenswirklichkeit nicht voneinander zu trennen. Aber sie sind nicht dasselbe. Weder geht das Amt in der Person auf, noch die Person im Amt. Darauf sollten im Übrigen nicht nur die Gewählten Wert legen, sondern auch die Wählerinnen und Wähler.

  Meine Damen und Herren, es war über 30 Jahre lang gute Übung, Bundesversammlungen am 23. Mai, am Tag der Verkündung unseres Grundgesetzes, abzuhalten. Dies war uns schon wegen der besonderen Umstände der letzten Bundesversammlung nicht möglich, und das gilt ebenso für diese 15. Bundesversammlung.

  Es ist eine durchaus glückliche Fügung, dass wir uns heute an einem 18. März versammelt haben. Mir gefällt – den in der Verfassung vorgesehenen Normalfall vorausgesetzt, dass wir wieder in den üblichen Fünfjahresrhythmus zurückkehren –, dass künftig jeder Bundespräsident an einem 18. März gewählt oder vereidigt werden könnte.

Wenn damit die historischen Zusammenhänge, die Kontinuitäten und Brüche unserer Geschichte mehr in unser Bewusstsein rücken, wäre dies ein willkommener Beitrag zu unserem demokratischen Selbstverständnis.
  Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und komme nun zu den formellen Hinweisen, die ich zur Konstituierung der Bundesversammlung vorzutragen habe.

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Parlament

Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Bundesratspräsident!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Liebe Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag!
Verehrter, lieber Herr Reich-Ranicki!
Verehrte Gäste! Meine Damen und Herren!

Frédéric Chopin ist einer der großen europäischen Künstler, die der Welt gehören ‑ auch wenn Polen wie Franzosen ihn verständlicherweise gerne als ihren Landsmann für sich in Anspruch nehmen. Seine Werke sind Teil des kulturellen Erbes der Menschheit. Und zu seinen Meisterwerken zählt ohne Zweifel das unscheinbare Nocturne in cis-Moll, das wir gerade gehört haben. Der polnische Pianist und Komponist Wladyslaw Szpilman, dem der beeindruckende Film Der Pianist ein Denkmal gesetzt hat, spielte dieses Nocturneim polnischen Rundfunk, als dieser seine Sendung wegen des Angriffs deutscher Truppen auf Warschau unterbrach. Mit genau demselben Stück ‑ wieder gespielt von Wladyslaw Szpilman ‑ nahm der polnische Rundfunk seine Sendungen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf.

Stellvertretend für viele Gäste, insbesondere Überlebende und Vertreter der Opfergruppen, begrüße ich heute Morgen Detlev Hosenfeld, dessen Vater, der Wehrmachtshauptmann Wilhelm Hosenfeld, seit 1940 in Polen NS-Opfer versteckte, darunter den Pianisten Szpilman, der deshalb überlebte.

In seiner Biografie schreibt Marcel Reich-Ranicki, dass die deutsche Wehrmacht, direkt nachdem sie in Warschau einmarschiert war, ein Chopin-Denkmal sprengte. Die Nationalsozialisten unterstellten seiner Musik revolutionäre Gedanken. Verboten war es ohnehin, Musikwerke aufzuführen, die mit der polnischen Nationaltradition zusammenhingen ‑ schon gar im Warschauer Getto.

Im Sommer dieses Jahres jährt sich zum 70. Mal der Tag, an dem die SS die sogenannte Umsiedlung der Juden aus dem Warschauer Getto befahl. Sie, verehrter Herr Reich-Ranicki, mussten am 22. Juli 1942 ebenjene Sitzung protokollieren, an dem Tag, so schreiben Sie, an dem ‑ Zitat ‑ „über die größte jüdische Stadt Europas das Urteil gefällt worden war, das Todesurteil.“ Von dieser Deportation ausgenommen sein sollten nur wenige, darunter auch jene, die ‑ wie Sie ‑ für den „Judenrat“ arbeiteten. Mit Ihrer im vergangenen Jahr verstorbenen Frau Teofila, die Sie in Freuden und Leiden über Jahrzehnte begleitet hat, entgingen Sie gemeinsam der Deportation und der Ermordung der Juden des Warschauer Gettos im KZ Treblinka. Ein halbes Jahr später, im Januar 1943, sollten auch Sie und Ihre Frau deportiert werden. Sie konnten sich in letzter Sekunde retten, indem Sie flohen und sich versteckten, anderthalb lange Jahre ‑ im Unterschied zu Ihren Eltern und Ihrem Bruder, die von den Nazis ermordet wurden.

Ihr Schicksal steht stellvertretend für das von Millionen Menschen. All jener, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ausgegrenzt, gedemütigt, beraubt, vertrieben, verfolgt, gefoltert und ermordet wurden, gedenken wir heute, am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Wir gedenken der Juden, der Sinti und Roma, der Homosexuellen, der Menschen mit Behinderungen, der Kranken, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Künstler und Wissenschaftler, der aus rassistischen, politischen oder religiösen Motiven Verfolgten. Wir erinnern auch an diejenigen, die schikaniert, inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder verfolgten Menschen Schutz und Hilfe gewährten. Wir gedenken aller Opfer des Nationalsozialismus, für dessen Grausamkeit und Menschenverachtung nicht zuletzt die sogenannte Wannsee-Konferenz steht, die sich vor einer Woche zum 70. Mal jährte.

Anfang Januar 1942 hatte Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei, hochrangige Vertreter von SS- und Polizeidienststellen für den 20. Januar zu einer ‑ Zitat ‑ „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ eingeladen. Bei diesem Treffen, unter Beteiligung von Staatssekretären aus dem Auswärtigen Amt, dem Justiz- und Innenministerium sowie Görings Superministerium und Hitlers Reichskanzlei, wurde der Holocaust generalstabsmäßig geplant und organisiert ‑ an mehr als 11 Millionen Menschen nach Adolf Eichmanns Berechnungen über die Anzahl der Juden im Herrschaftsbereich des NS-Regimes, in den Staaten der Verbündeten, der Neutralen wie der Kriegsgegner. Beschlossen war der Massenmord damals längst und die Schwelle zum Genozid bereits überschritten, als in der Villa am Wannsee der systematische Ablauf und die perfiden Details für den industriell perfektionierten Völkermord besprochen wurden.

Das Haus der Wannsee-Konferenz ist heute einer der vielen Orte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die uns erinnern und mahnen, uns dafür einzusetzen, dass in Deutschland alle Menschen frei und gleich und ohne Angst leben können. Das sind unser Ziel und unsere Verpflichtung. Die vergangenen Wochen und Monate mit der Aufdeckung einer beispiellosen Mordserie haben uns allerdings wieder vor Augen geführt, dass wir dieses Ziel noch nicht erreicht haben. Aber: Jeden Tag setzen sich überall in Deutschland Bürgerinnen und Bürger dafür ein.

Da sind Einzelne, Vereine, ganze Dörfer; da sind Menschen, die den Rechtsextremen, die durch ihre Städte marschieren wollen, immer wieder entgegentreten und zeigen: Wir dulden eure Diffamierungen, euren Hass nicht, schon gar nicht eure Gewalt.

(Beifall)

Es sind Menschen, die Zivilcourage beweisen, die nicht wegsehen, Diskriminierungen nicht unwidersprochen stehen lassen. Es sind Menschen, die ein Beispiel geben und die Mut machen.

Dieses Engagement werden wir brauchen und diesen Mut auch. Nach dem Expertenbericht zum Antisemitismus in Deutschland, den der Deutsche Bundestag 2008 in Auftrag gegeben hatte und vor wenigen Tagen erhalten hat, gibt es hierzulande einen latenten Antisemitismus in der Größenordnung von etwa 20 Prozent der Bevölkerung. Das ist für Deutschland genau 20 Prozent zu viel.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Reich-Ranicki, Ihr Buch Mein Leben ist, wie Sie schreiben, „voll von kleinen Geschichten, die helfen, die große Geschichte besser zu verstehen“. So heißt es im Vorwort zu jenem Auswahlband Ihrer Biografie, der mittlerweile in vielen Schulen gelesen wird. Ihre Schilderungen vermitteln uns eine Ahnung von dem, was Sie erlitten haben und Sie ‑ wie alle Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ‑ Ihr Leben lang begleitet.

Sie ermöglichen uns den Blick auf den Alltag im Warschauer Getto, in dem nichts alltäglich, sondern alles Ausnahmezustand war: Demütigung, Willkür, Tod. Wie hält ein Mensch es aus, mit der ständigen Bedrohung, mit dieser Angst zu leben? Ihre ganz persönliche Antwort: mithilfe der Liebe, der Poesie und der Musik, in der „die unentwegt um ihr Leben Bangenden“ Schutz und Zuflucht, eine Gegenwelt in Zeiten größter Bedrängnis suchten.

Wir werden im Anschluss an Ihre Rede die Sonate für Violine und Klavier Nr. 3, Opus 37von Mieczyslaw Weinberg hören. Er wurde 1919 in Warschau in eine jüdische Familie geboren. Mit zwölf Jahren nahm ihn das Konservatorium in Warschau auf. 1939 floh er vor den Deutschen in die Sowjetunion. Seine Eltern und seine Schwester wurden deportiert und 1943 von den Nazis im Zwangsarbeiterlager Trawniki ermordet. Mieczyslaw Weinberg machte es sich zu seiner Lebensaufgabe, mit Musik an das tragische Schicksal seiner Familie und der Millionen ermordeter Juden zu erinnern. „Ich sehe es als meine moralische Pflicht, vom Krieg zu schreiben, von den Gräueln, die der Menschheit in unserem Jahrhundert widerfuhren“, hat er einmal gesagt. In seiner Musik zeigt sich die Kraft der Kunst, der Musik wie der Literatur, der Sie, Herr Reich-Ranicki, Ihr berufliches Wirken gewidmet haben.

Ihnen und all jenen, die ihre erschütternden Erfahrungen aufgeschrieben haben und mit uns teilen, verdanken wir nicht nur Texte; ihre Bücher sind Erinnerungen, die bleiben, auch und gerade für nachfolgende Generationen. Und: Es sind Erinnerungen, aus denen wir als immerwährenden Auftrag gelernt haben.

Nach allem, was Sie erlebt und erlitten haben, bin ich Ihnen wie vielen Überlebenden des Holocaust zutiefst dankbar, dass Sie mit Deutschland nicht nur die eine, die menschenverachtende Seite unserer Geschichte verbinden, die wir nicht vergessen oder verdrängen werden.

Ich danke Ihnen, dass Sie trotz Ihrer angegriffenen Gesundheit unsere Einladung angenommen haben und heute zu uns zu sprechen. - Sie haben das Wort.

(Beifall)

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Parlament

Rede anlässlich der Eröffnungsfeier „200 Jahre Ludwig Windthorst“ des Ludwig-Windthorst-Kreises am 9. Januar 2012 in Osnabrück

Herr Vorsitzender, lieber Herr Fritz Brickwedde,
sehr geehrter Herr Bischof,
liebe aktive und ehemalige Mitglieder des Europäischen Parlaments, des
Deutschen Bundestages, des niedersächsischen Landtages,
Herr Bürgermeister,
meine Damen und Herren,
liebe Schüler und Lehrer des Gymnasiums Carolinum,

ich möchte mich zunächst herzlich bedanken für die freundliche Einladung und die besonders liebenswürdige Begrüßung. Ich freue mich, dass ich in diesem Jahr, in dem wir aus gutem Grund an Ludwig Windthorst erinnern, gleich zu Beginn mit dabei sein kann. Und ich freue mich besonders, dass diese Veranstaltung nicht irgendwo, sondern in diesem ehrwürdigen Gymnasium stattfindet. Ich habe, um an die Bemerkung von Fritz Brickwedde anzuknüpfen, auch einmal eine Schulbank gedrückt, nachprüfbar nicht hier, damit habe ich mich auch den
subtilen Leistungsvergleichen kunstvoll entzogen, wie sie Fritz Brickwedde glaubte zu früheren Schülern und deren Leistungsfähigkeit oder -bereitschaft schon bei der Begrüßung anstellen zu müssen. Aber ich bin natürlich sehr beeindruckt, welche bemerkenswerten Persönlichkeiten auch und gerade in jüngerer Zeit aus diesem Gymnasium hervorgegangen sind.

Als ich mich auf diese Veranstaltung vorbereitet habe und dabei auch den Ort, an dem Sie stattfindet, in den Blick genommen habe, habe ich mich an meine eigene Gymnasialzeit erinnert. Sie war nämlich die Zeit, in der mein ernsthaftes Interesse an Politik begründet wurde. Und ich habe mich an zwei ganz unterschiedliche Bemerkungen erinnert, die mich damals in meinem Verhältnis zur Politik – und übrigens auch und nicht zuletzt in meinem Verhältnis zur Kirche und zu religiösen Überzeugungen auf der einen Seite und politischem Engagement auf der anderen Seite – sehr beeindruckt und auch ein Stück provoziert haben. Die eine Bemerkung, die mir aus dem Schulunterricht vertraut wurde, stammt von Dietrich Bonhoeffer, dem großen evangelischen Theologen und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Sie lautet: „Es gibt keinen Rückzugsort des Christen von der Welt (…). Jeder Versuch, der Welt auszuweichen, muss früher oder später mit einem sündigen Verfall an die Welt bezahlt werden.“ Den anderen Satz habe ich in einem der Kalenderblätter mit mal mehr, mal weniger intelligenten Sprüchen gefunden. Ich habe ihn damals in einer Mischung aus Faszination und Verärgerung abgerissen und bis heute verwahrt. Er stammt von einem französischen Publizisten, Charles Péguy, und lautet: „Solange man keine Politik betreibt, ist es nicht schwer, gleichzeitig ein guter Christ und guter Staatsbürger zu sein.“ Das ist ja mal eine Ansage, deren eigentliche Provokation in der logischen Umkehrung des gleichen Satzes besteht.

Sobald man Politik betreibt, ist es mindestens schwierig, wenn nicht ausgeschlossen, gleichzeitig ein guter Christ und ein guter Staatsbürger zu sein. Ob das die einzige Motivation für mich gewesen ist, mich trotzdem oder
deswegen auf dieses Glatteis zu begeben, weiß ich nicht, aber es hat mich immer wieder über die Jahre und Jahrzehnte hinweg als provozierende Mahnung begleitet. Und ich muss vermutlich nicht erläutern, warum mir diese beiden Sätze – insbesondere der zweite – spontan wieder eingefallen sind, als ich mich mit der Frage beschäftigt habe, was lässt sich wohl zu Ludwig Windthorst sagen. Die Kurzfassung lautet: Ludwig Windthorst ist der wandelnde Gegenbeweis zu der Vermutung, die in dem zuletzt vorgetragenen Zitat zum Ausdruck gekommen ist. Es mag schwierig sein, aber es ist möglich, gleichzeitig guter Christ und guter Staatsbürger zu sein.

Meine Damen und Herren, als Ludwig Windthorst vor 200 Jahren geboren wurde, wurde er in ein Deutschland hineingeboren, das mit dem Land, in dem wir heute leben, von der Geografie mal abgesehen, nicht viele Ähnlichkeiten hatte. Das sogenannte Heilige Römische Reich deutscher Nation war kurze Zeit vorher sangund
klanglos, beinahe unauffällig, aufgelöst worden. Deutschland befand sich politisch in einer diffusen  Übergangsphase zwischen absoluter Monarchie und konstitutioneller Monarchie, feudaler Standesgesellschaft und bürgerlichen Aufbruchsbewegungen. Europa war geprägt von den Schlägen der napoleonischen Kriege, Deutschland ein Flickenteppich von Territorien mit mehr, meist aber weniger ausgeprägter Staatlichkeit. Und für diejenigen, die gelegentlich aus verständlichen Gründen darüber zu verzweifeln drohen, dass die Europäische Gemeinschaft, in der wir heute leben, beinahe und demnächst ganz sicher 30 Staaten als Mitglieder organisieren soll und will, lohnt gelegentlich der Hinweis darauf, dass das ein Zehntel der rund 300 Staaten ausmacht, die es
allein in Deutschland bis zum Untergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation einmal gegeben hat.

Ludwig Windthorst ist nach meiner festen Überzeugung aus vielen Gründen eine für uns nach wie vor nicht nur eindrucksvolle historische Persönlichkeit, sondern ein wichtiger Orientierungspunkt, nicht zuletzt auch deswegen, weil er in seinem beruflichen und politischen Wirken eine zwar unterschiedlich
ausgeprägte, aber jeweils intensive Befassung sowohl mit der Exekutive, Legislative und Judikative aufweist. Nach seinem Jurastudium in Göttingen und Heidelberg war seine erste berufliche Verwendung die eines Richters am höchsten Gerichtshof des Königreichs Hannover. Er hat dann, was auch nicht mehr viele wissen, erfolglos für die Frankfurter Nationalversammlung kandidiert, und es ist schon mehr als eine schöne Spekulation, ob und was es wohl hätte ändern können, wenn jemand von seinem Zuschnitt und seinem Kaliber tatsächlich Mitglied der Paulskirche geworden wäre, dieser ebenso ehrgeizigen wie erfolglosen ersten parlamentarischen Anstrengung, Deutschland demokratisch zu einen. Er wurde dann als Abgeordneter in die zweite Kammer der allgemeinen Ständeversammlung des Königreichs Hannover gewählt, dessen Präsident er von 1851 bis 1853 war, bis er zum Justizminister des Königreichs Hannover benannt wurde.

Meine Freude, heute mit dabei sein zu können, hängt also auch ein kleines bisschen damit zusammen, dass Ludwig Windthorst einer meiner zahlreichen Amtsvorgänger im Amt des Parlamentspräsidenten ist. Das ist inzwischen nicht mehr ganz so selten, wie das damals noch der Fall war. Aber wahr ist, und ich will das unterstreichen, was sowohl Fritz Brickwedde wie der Bischof in ihren Begrüßungsreden gesagt haben: Ludwig Windthorst ist eine große Gestalt des deutschen Parlamentarismus. Er ist zweifellos einer der ganz wichtigen
Wegbereiter des demokratischen Rechtsstaates. Er ist eine herausragende Persönlichkeit im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche, Politik und Religion, Begründer und Führer des Zentrums und ein Christdemokrat, wie er im Buche steht: Christ und Demokrat und der Beleg dafür, dass beides gleichzeitig möglich ist.

Ludwig Windthorst ist genau 100 Jahre nach Friedrich II. geboren, an dessen Geburtstag wir in diesem Jahr, wie ich vermute, noch auffälliger erinnern werden, als es für Ludwig Windthorst zu erwarten steht. Zweifellos unterscheidet die beiden Männer mehr als sie miteinander verbindet, mindestens teilen sie aber miteinander, dass sie beide ihre überschaubare Körpergröße durch ihre politische Bedeutung bei weitem überboten haben.

Als Ludwig Windthorst 1853 zum Justizminister des Königreichs Hannover gewählt wurde, soll der damalige protestantische Oberbürgermeister von Osnabrück erklärt haben: „Der fähigste unter den neuen  Regierungsmitgliedern ist ohne Zweifel Windthorst, ein Katholik, ein echter Jesuit, dem Junkertum zugetan, schlau, unverschämt, wenn’s sein muss. Er wird die übrigen einsacken.“ Und ein zweiter, damals weitverbreiteter Kommentar zu seiner Tätigkeit als Justizminister lautete: „Im Ministerium riecht’s nach Weihrauch“. Ob das zutrifft, wird mit dem zeitlichen Abstand nur noch schwer verlässlich zu überprüfen sein. Immerhin, so denke ich, ist die Schlussfolgerung erlaubt, dass es üblere denkbare Gerüche in deutschen Ministerien gibt als Weihrauch.

Seine große Zeit begann mit seiner Wahl zum Abgeordneten des Reichstages, zunächst im Norddeutschen Bund und dann im Kaiserreich. Dem Reichstag hat er von 1871 bis zu seinem Tod 1891 zwanzig Jahre angehört. Hier hat er ganz sicher und unter vielerlei Gesichtspunkten die Rolle seines Lebens gefunden. Er war der unbestrittene Führer, wenn auch nie der Vorsitzende des Zentrums, und er hat diese Partei mit dem besonderen Selbstverständnis einer durch Glauben, durch religiöse Überzeugungen geprägten Orientierung als Grundlage für
politisches Handeln in einer ebenso beispiellosen wie beispielhaften Weise profiliert, wobei man, mit dem großen zeitlichen Abstand von inzwischen zwei Jahrhunderten, gelegentlich daran erinnern muss, dass das für ihn und andere keineswegs immer gemütlich gewesen ist. Nicht alle haben an ihm immer nur Freude gehabt. Und er vermutlich an manchen seiner Kombattanten und tatsächlichen wie vermeintlichen Konkurrenten auch nicht. Das hängt ganz wesentlich auch damit zusammen, dass er sich in all diesen Jahren nie die eigene Urteilsbildung von anderen hat abstreiten oder abnehmen lassen. Wenn ich Ludwig Windthorst ausdrücklich als eine der großen Gestalten des deutschen Parlamentarismus würdige, dann insbesondere wegen dieser souveränen Sturheit, die unter vielen nützlichen und notwendigen Qualifikationen für die Übernahme öffentlicher Ämter vielleicht die wichtigste einzelne Qualifikation darstellt, jedenfalls darstellen sollte.

Ludwig Windthorst hat im berühmt-berüchtigten preußischen Kulturkampf ganz selbstverständlich die Interessen der Kirche gegenüber dem Staat vertreten, aber zu glauben, er habe es in einem ununterbrochenen und unerschütterlichen Schulterschluss mit dem Vatikan getan, verkennt nicht nur die Kompliziertheit der damaligen Verhältnisse, sondern auch die gelegentlichen Winkelzüge des Vatikans. Von den Zeiten sind wir ja glücklicherweise inzwischen fast zwei Jahrhunderte entfernt, so dass es besonders schön ist, bei einer solchen
Veranstaltung neben den Aktualitäten auch die historischen Unterschiede festhalten zu können. Aber zu der von mir ausdrücklich gerühmten Unabhängigkeit von Ludwig Windthorst gehört eben auch, dass er sich die Freiheit der eigenen Meinung und des eigenen Urteils immer dann genommen hat, wenn er dazu Grund und Anlass sah. Er hat beispielsweise nicht gezögert, mit den Sozialdemokraten gegen das Sozialistengesetz zu stimmen, von dem das Zentrum unmittelbar ja nicht betroffen war, und das man bei einer kleingeistigen Betrachtung ja auch für eine Wettbewerbserleichterung anderer politischer Gruppierungen hätte halten können.

Ein besonderer Anwendungsfall dieser gelegentlichen Reibungen war der sogenannte „Septennatsstreit“, der im Jahr 1887 ausgetragen wurde und mit Bismarcks Forderungen zusammenhing, den Heeresetat gleich für sieben Jahre festzulegen. Diese für jeden Parlamentarier und parlamentarische Budgetrechtsvorstellungen einigermaßen kuriose Vorstellung fand – wie ich nicht weiter erläutern muss – Bismarck aus anderen Gründen außerordentlich naheliegend. Und aus nicht ganz so offensichtlichen Gründen fand sie die Unterstützung des Vatikans, nicht aber die von Ludwig Windthorst, dem das parlamentarische Budgetrecht um Längen wichtiger war als die taktischen Interessen, die der Vatikan – aus zugegeben natürlich wieder verständlichen Gründen – zur Befriedung von Auseinandersetzungen mit dem preußischem Staat durch Zugeständnisse an dieser Stelle glaubte befördern zu können. Deswegen ist es sicher kein Zufall, dass eine der großen Reden von Ludwig
Windthorst, die genau diese Unabhängigkeit nach der einen wie der anderen Seite zum Gegenstand hatte, in genau diesem Jahr 1887, am 6. Februar in Köln, gehalten wurde. In ihr unterstrich Ludwig Windthorst die Unabhängigkeit des Zentrums vom Papst und die Unterscheidung zwischen kirchlichen Belangen auf
der einen Seite und politischen Sachfragen auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung ist uns bis heute erhalten geblieben – und der Streit darüber, was auf die eine und die andere Seite gehört, auch.

Es kann nach diesen wenigen Hinweisen auf seine Biografie nur noch begrenzt überraschen, dass sein heftigster, erbittertster Gegner, nämlich Otto von Bismarck, zugleich sein größter Bewunderer war. Von Otto von Bismarck gibt es eine Serie von Zitaten über Ludwig Windthorst, die der Reihe nach vorzutragen, den heutigen Abend alleine füllen würde. Ich will mich auf zwei beschränken, die auf zwei jeweils charakteristische Aspekte aufmerksam machen, die zur Beschreibung von Rolle und Selbstverständnis von Ludwig Windthorst besonders
gut geeignet sind. Schon 1872, also ein Jahr nach Gründung des Deutschen Reiches und dem Einzug von Ludwig Windthorst in den Deutschen Reichstag, erklärt Otto von Bismarck zur Rolle Windthorsts im politischen Katholizismus: „Es bestand, ehe die Zentrumsfraktion sich bildete, eine Fraktion, die man als ‚Fraktion Meppen’ bezeichnete; sie bestand, soviel ich mich erinnere, aus einem einzigen Abgeordneten, einem großen General ohne Armee. Indessen, wie Wallenstein, ist es ihm gelungen, eine Armee aus der Erde zu stampfen.“ Und das zweite Zitat, bei denen Ihnen die Unterschiede zu den heutigen Verhältnissen auch sofort auffallen werden, stammt aus dem Jahre 1890, also kurz vor Ende des politischen Wirkens von Ludwig Windthorst: „Es gibt nicht
zwei Seelen in der Zentrumspartei, sondern sieben Geistesrichtungen, die in allen Farben des politischen Regenbogens schillern, von der äußersten Rechten bis zur radikalen Linken. Ich für meinen Teil bewundere die Kunstfertigkeit, mit welchen der Kutscher des Zentrums all diese auseinanderstrebenden Geister so elegant zu lenken versteht.“

Meine Damen und Herren, Ludwig Windthorst war, so klein von Gestalt er auch gewesen ist, ein großer Taktiker und gewiefter politischer Stratege. Er hat mit einem unbändigen Elan und der bereits hervorgehobenen souveränen Sturheit die Wahrung von Menschenrechten, insbesondere von Minderheitenrechten, um welche Minderheiten auch immer es sich handelte, gegen preußische Machtansprüche verteidigt, ganz besonders, aber keineswegs ausschließlich die Religionsfreiheit der Katholiken während des sogenannten Kulturkampfes. Er war
als Repräsentant der Zentrumspartei zugleich die eindrucksvollste Verkörperung der Eigenständigkeit der Politik auch und gerade gegen kirchliche Bevormundungsversuche. Und er war, was man auch nicht unterschätzen darf,
weil dies wiederum zu den scheinbaren Selbstverständlichkeiten unseres heutigen politischen Lebens gehört, einer der ersten Berufsparlamentarier, der ausschließlich von seiner jährlichen Pension lebte, nämlich der Pension, die er nach der Entlassung aus dem Amt des Justizministers des Königreiches Hannover bezog. Aus dieser jährlichen Pension bestritt er brav alle Auslagen, einschließlich der Reisekosten und des Briefportos.

Otto von Bismarck wusste vermutlich sehr genau, warum er gegen hauptberufliche Parlamentarier war, und warum die einzige für ihn vorstellbare – und deswegen zu seinen Lebzeiten auch einzig realisierbare – Lösung die von Freizeitparlamentariern sein sollte, die für die Bestreitung ihrer Aufwendungen Diäten als Tagespauschalen bekamen, aber natürlich kein Gehalt. Damit wollte er sicherstellen, dass nur Leute in Parlamenten tätig werden konnten, die sich wegen anderer Einkommensquellen ein solches Engagement erlauben konnten. Und bei dem ausgeprägt herzlichen Dauerverhältnis zwischen Otto von Bismarck und Ludwig Windthorst würde es mich nicht völlig verblüffen, wenn er für ihn geradezu das lebende abschreckende Beispiel für die Aussichten gewesen sein sollte, die von einem – von ihm ohnehin nicht gewünschten – deutschen
Parlamentarismus drohten, wenn dort selbstbewusste Abgeordnete versammelt wären, die dieses Mandat gleichzeitig als bezahlten Beruf ausüben können würden.

Dass Ludwig Windthorst nebenbei nicht nur ein besonders fleißiger, sondern ein mehr als rekordverdächtiger Parlamentarier war, wird in der geradezu unglaublichen Zahl deutlich, dass er in deutschen Parlamenten über 2.200 mal das Wort ergriffen haben soll. Ich habe jetzt nicht mehr die Zeit gehabt nachzuprüfen, ob er – was sicher verdient wäre – damit im Guinness-Buch der Rekorde verzeichnet ist, jedenfalls kann ich mir kaum vorstellen, dass es in der deutschen Parlamentsgeschichte, aber möglicherweise auch anderswo, irgendjemanden gegeben hat, der an diese Zahl heranreichte oder sie gar überböte.

Nun war – quantitativ betrachtet – Ludwig Windthorst offenkundig ein Vielredner, aber es gibt zwei Aspekte, unter denen ich ihn wiederum geradezu vorbildlich finde – und nach wie vor aktuell. Erstens: Ludwig Windthorst hat oft geredet, aber fast immer kurz. Er hat damit nicht wirklich stilbildend gewirkt, was ich sehr bedauere, aber er hätte vermutlich die parlamentarische Wirkung, die er zweifellos hatte, gar nicht entfalten können, wenn er seine Kollegen und die Öffentlichkeit durch endlose Ansprachen strapaziert hätte. Nein! Ludwig Windthorst war der Debattenredner, der durch kurze präzise Reden und noch präzisere Zwischenrufe die Aufmerksamkeit des Plenums und der Öffentlichkeit erreichte. Und auch, wenn historisch verbürgt ist, dass es einen relativ banalen
praktischen Grund dafür gab, will ich eine zweite damit verbundene Eigenschaft ausdrücklich als beachtlich und vorbildlich hervorheben, nämlich die, dass er grundsätzlich nicht vom Rednerpult, sondern von seinem Platz aus gesprochen hat. Der praktische Grund war sehr einfach. Er hatte die Sorge, dass ihn hinter dem Rednerpult niemand mehr sehen könnte und zog es deswegen vor, vom Platz aus zu reden. Bedauerlicherweise haben die meisten heutigen Parlamentarier diese Sorge nicht und laufen mit Fleiß zum Podium und müssen – jedenfalls nach meiner Erfahrung – spätestens auf der Strecke von ihrem Platz zum Pult von dem missionarischen Eifer erwischt werden, nun eine bedeutende Rede halten zu müssen. Darunter leidet der deutsche Parlamentarismus bis heute in einem erheblichen Umfang. Denn in Parlamenten sollen nicht möglichst oft bedeutende Reden gehalten werden, es soll debattiert werden. Und deswegen würde mir eigentlich eine Debattenkultur, wo es kurze präzise Diskussionsbeiträge vom Platz aus gibt, wesentlich besser gefallen, als die Art, wie wir das nun seit vielen Jahrzehnten praktizieren. Ich weiß, lieber Hans-Gert Pöttering, dass das Europäische Parlament – aus wiederum anderen Gründen – dem Bundestag und anderen nationalen Parlamenten in dieser Hinsicht voraus
ist, es wird wohl weniger mit der Großwüchsig- oder Kleinwüchsigkeit der Abgeordneten, sondern mit der Sprachenvielfalt zusammenhängen. Gleichwohl ist dies schon ein Punkt, dessen Bedeutung man für das Klima der Auseinandersetzungen keineswegs unterschätzen sollte.

Ich will, wenn Sie dafür noch einen Augenblick Geduld haben, über die Schilderung der Biografie und der Bedeutung Ludwig Windthorst in seiner Zeit hinaus ein paar, soweit das möglich ist, verallgemeinernde Bemerkungen machen, zu dem Verhältnis von Staat und Kirche, Politik und Religion, das sich mit Ludwig Windthorst mehr als vermutlich mit irgendeiner zweiten einzelnen Persönlichkeit in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus verbindet.

Religion ist natürlich zunächst einmal und in erster Linie Privatsache. Am Anfang wie am Ende eines Menschenlebens ist das ganz offensichtlich. Aber dass Religion mehr ist als eine private Angelegenheit, davon war Ludwig Windthorst Zeit seines Lebens nicht nur überzeugt, sondern er war ein überzeugender
Verkünder dieser Überzeugung. Inzwischen haben wir auch jenseits der Lebenszeit von Ludwig Windthorst manche historischen Erfahrungen mit Gesellschaften gemacht, die geglaubt haben, dass ihnen die ultimative
Distanzierung von jeder Art religiöser Orientierung einen Zuwachs von Humanität, mindestens aber von Modernität sichern könnte; übrigens auch in der deutschen Geschichte nach Ludwig Windthorst. Die jeweiligen Gesellschaften sind durch eine solche zum Prinzip erhobene Distanz gegenüber Religion und
religiösen Überzeugungen nicht moderner geworden – und schon gar nicht humaner.

Ludwig Windthorst hat damals in der doppelten Rolle als überzeugter Christ und als engagierter Staatsbürger für eine Verbindung und zugleich konsequente Trennung von Politik und Religion geworben, von Glauben und Handeln, von der ich persönlich glaube, dass sie heute am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht weniger wichtig und nicht weniger aktuell ist als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dass die moderne Politik, dass die Welt von heute, in der wir leben, auch und gerade der vielbeschworene „Westen“, ohne den Beitrag der Religionen weder zu erklären noch zu verstehen ist, dafür gibt es hinreichend viele und häufig zitierte Belege. Das, was in einer konkreten Gesellschaft an Orientierungen, an Werten, an möglichen Verbindlichkeiten vorhanden ist, die über individuelle Interessen hinausgehen, speist sich ganz wesentlich aus religiösen Überzeugungen. Zu dieser Einsicht kann und muss man übrigens völlig unabhängig von eigenen religiösen Überzeugungen kommen. Eine der spektakulärsten Belege für diesen offenkundigen Zusammenhang hat Jürgen
Habermas in seinem denkwürdigen Dialog mit dem damaligen Präfekten der Römischen Glaubenskongregation Kardinal Ratzinger geliefert. Beide haben sicher bei ihrer inzwischen berühmten ersten persönlichen Begegnung in der Katholischen Akademie in München zu nachhaltigen Irritationen in den jeweiligen Fanclubs gesorgt. Jürgen Habermas, der ja gelegentlich mit dem Hinweis kokettiert, dass er ein religiös unmusikalischer Mensch sei, weist mit umso größerem Nachdruck, aber gleichzeitig auch umso größerer Unbefangenheit darauf hin, dass die Zivilisation des Westens ohne die Quellen religiöser Überzeugungen und Tradition weder zu verstehen noch zu bewahren sei, so dass auch und gerade der säkulare Staat nicht nur legitimiert, sondern verpflichtet sei,
die Lebendigkeit dieser Traditionen und dieser geistigen Quellen des eigenen Staatsverständnisses zu sichern.

Religion ist nicht die einzige, aber sie ist ganz sicher eine unverzichtbare Quelle von Werten in einer Gesellschaft, von Überzeugungen, die über die eigene Person hinaus Geltung beanspruchen. Ich will in diesem Zusammenhang auf eine Gemeinsamkeit und eine Besonderheit zwischen Politik und Religion aufmerksam machen, weil sie fast alleine erklärt, warum uns das Spannungsverhältnis, in dem schon Ludwig Windthorst gelebt hat, zwischen Staat und Kirche, Politik und Religion, nicht nur bis heute erhalten geblieben ist,
sondern nach menschlichem Ermessen auch erhalten bleiben wird. Religion ist – ebenso wie Politik – der Versuch der Domestizierung von Gewalt, entweder durch Sinngebung, durch Vermittlung zeitlos gültiger verbindlicher Werte oder durch Strukturen, durch Institutionen, durch Verfahrensregeln, die die Anwendung von Gewalt bei der Austragung von Interessen entweder ausschließen oder soweit wie eben möglich eingrenzen. Der erste Versuch der Domestizierung von Gewalt ist der Versuch der Domestizierung durch Religion, der zweite durch Politik. Historisch betrachtet sind beide Versuche nur begrenzt erfolgreich gewesen und werden gleichwohl für nicht aufgebbare Errungenschaften gehalten, ohne die eine Gesellschaft mit ihren Konflikten, die es sicher immer geben wird, ganz offenkundig nicht zurande käme.

Und damit bin ich bei dem zweiten Punkt, auf den ich kurz hinweisen möchte, der neben der Gemeinsamkeit von Politik und Religion in dem Bemühen um Eingrenzung von Gewalt den wesentlichen fundamentalen Unterschied
beschreibt. Religion handelt von Wahrheiten, Politik handelt von Interessen. Das ist erkennbar nicht dasselbe. Und es ist auch nicht austauschbar. Religionen handeln von Wahrheiten. Indem sie das tun, integrieren sie und desintegrieren sie zugleich Gesellschaften. Es ist bestenfalls gut gemeint, aber nicht wirklichkeitsnah, Kulturen im Allgemeinen und Religionen im Besonderen als prinzipiell integrationsstiftend oder integrationsfördernd beschreiben zu wollen. Sie sind bei genauem Hinsehen das eine wie das andere. Sie tragen zur Entstehung von Konflikten bei und können bei intelligenter Wahrnehmung und Handhabung bei deren friedlicher Austragung helfen. Für beides gibt es zahlreiche historische Beispiele, man kann im Kontext des Windthorst-Jahres auf
den preußischen Kulturkampf als das eine, vergleichsweise übersichtliche Beispiel hinweisen, oder auf die Erfahrung von Multikulturalität in Zeiten der Globalisierung mit all den Verirrungen fundamentalistischer Glaubensverständnisse, die das 21. Jahrhundert prägen.

Wenn ich auf diese Gemeinsamkeiten und die damit zugleich auch verbundenen Unterschiede aufmerksam mache, dann deswegen, weil es mir vor allen Dingen auf folgende Einsicht ankommt: Der Anspruch auf Wahrheit schließt Abstimmungen aus. Mehrheiten können über Wahrheiten nicht entscheiden. Wahrheiten sind nicht abstimmungsfähig und Mehrheiten sind nicht wahrheitsfähig. Die zweite Einsicht ist fast noch schmerzlicher als die erste, zumal wiederum ein nüchterner Blick in die politische Kultur unseres Landes schwerlich übersehen lässt, dass es zu den Großzügigkeiten gehört, dass sich bei uns Mehrheiten besonders gerne einreden, das Vorhandensein dieser Mehrheit sei der Nachweis der Richtigkeit der eigenen Meinung. Tatsächlich ist logisch das
Gegenteil wahr. Hätte man die Richtigkeit der eigenen Überzeugung belegen können, wäre die Abstimmung unnötig gewesen. Sie hat stattgefunden, weil überhaupt niemand mit Schlüssigkeit für alle die offensichtliche Richtigkeit dieses statt jenes Interesses hat belegen oder beweisen können, so dass man sich vernünftigerweise auf die allgemeine Verfahrensregel verständigt hat, dass das gelten soll, was die Mehrheit beschließt, ohne das es damit wahr würde. Es gilt deswegen folgerichtig auch nur solange, bis neue Mehrheiten anderes beschließen, die sich dann meistens wiederum einbilden, jetzt sei ihre Meinung wahr und nicht nur gültig.

Meine Damen und Herren, unsere Kultur, die ja über Jahrhunderte gewachsen ist und die so, wie sie gewachsen ist, ohne den überragenden Beitrag der christlichen Religion und der christlichen Kirchen ganz sicher nicht hätte
wachsen können, zeichnet sich im Kern durch eine einzigartige Verbindung von Glaube und Vernunft aus, mit dem für unser Staatsverständnis konstitutiven Aspekt des Verzichts auf absolute Wahrheitsansprüche, die jedenfalls eine politische Entscheidung nie legitimieren können. Der Anspruch, recht zu haben, reicht als politische Legitimation in keinem Fall aus. Das ist ebenso bitter wie hilfreich, wenn man es denn nur einmal begriffen hat. Es ist bitter dann, wenn man sich in einer Mehrheitsposition befindet, und der gleiche Gedanke ist eine unersetzbare Quelle des Trostes, wenn man sich vorübergehend und unverdientermaßen in Minderheits-, sogar in Oppositionsverhältnissen wiederfindet, dass die Mehrheit zwar legitimerweise tut, was sie tut, aber damit noch lange nicht recht hat, und dass andere Mehrheiten auch zu anderen Entscheidungen kommen können.

Ich persönlich zögere keinen Augenblick – nicht nur, aber ganz besonders auch unter dem Eindruck der überragenden Lebensleistung von Ludwig Windthorst – zu sagen, dass Politik ohne ein festes Fundament von Überzeugungen, aus denen heraus sich überhaupt ein plausibler Geltungsanspruch herleiten lässt, ohne
verbindliche Orientierung also, zu einer reinen Selbstinszenierung von Macht verkommt. Politisches Handeln darf nicht allein auf Zweckmäßigkeitsfragen reduziert werden, auf das virtuose Abarbeiten von wechselnden Fallkonstellationen. Aber dass Politik etwas anderes ist und auch etwas anderes sein muss als Religion, auch nicht die Verlängerung von Religion mit anderen Mitteln, das ist jedenfalls eine gefestigte Überzeugung der westlichen Zivilisation.

Deswegen, meine Damen und Herren, ist das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Politik, zwischen Glauben und Handeln nicht auflösbar. Es wäre nur auflösbar um den Preis der wechselseitigen Banalisierung. Religion ist aber nicht banal und Politik auch nicht. Dies erfordert immer wieder die Besinnung sowohl auf das Gemeinsame als auch auf das jeweils Besondere.

Papst Benedikt hat in seiner denkwürdigen Rede vor dem Deutschen Bundestag vor wenigen Wochen auf einen dieser zentralen Aspekte noch einmal ausdrücklich aufmerksam gemacht. Letzter Maßstab und Grund für seine Arbeit als Politiker dürfen nicht der Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn sein.
„Die Politik“, so Papst Benedikt vor dem Deutschen Bundestag, „die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen. Natürlich wird ein Politiker den Erfolg suchen, der ihm überhaupt die Möglichkeit politischer Gestaltung eröffnet. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht untergeordnet.“ Das hätte, so wie ich ihn einschätze, Ludwig Windthorst sofort gegengezeichnet, ohne dass sich damit alle gelegentlichen mehr oder weniger kleinen Auseinandersetzungen in Wohlgefallen aufgelöst hätten. Und vielleicht hätte ihm – wie im Übrigen mir – dieser Satz aus der Papstrede, die er leider nicht mehr hören konnte, besonders gut gefallen, den ich zum Schluss zitieren möchte. „Wir können doch nicht verbergen, dass wir in dieser selbstgemachten Welt im Stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.“ Das hätte Ludwig Windthorst gefallen. Mir gefällt es außergewöhnlich gut, und es ist eine herrliche, aber keineswegs einfache Orientierung für den Umgang mit Herausforderungen und Wertüberzeugungen – auch und gerade im 21. Jahrhundert.

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