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Kultur und Geschichte

„Der Schriftsteller als Orakel ist problematisch“

Der Dichter als Mahner und Seher – das 20. Jahrhundert bietet dafür viele Beispiele. Die Rolle als „politisches Orakel“ wie etwa bei Sartre sei problematisch, sagte der Schriftsteller Daniel Kehlmann am Freitag, 18. Januar 2013, im Bundestag. Der 37-jährige Erfolgsautor war Gast in der Vortragsreihe „W-Forum“ der Wissenschaftlichen Dienste des Parlaments, um das Verhältnis der Schriftsteller zu Politik und Öffentlichkeit aus seiner Sicht zu skizzieren.

„Wir sind beeinflusst von der romantischen Idee des Dichters als Seher, der Zugang zu Wahrheiten hat, die der Normalbürger nicht kennt“, sagte der gebürtige Wiener, der in seiner Heimatstadt, in Berlin und New York lebt und empfiehlt, vielleicht eher dem politischen Urteil von Zahnärzten oder Ingenieuren zu vertrauen als dem von Schriftstellern.

Demokratie als System unbefriedigender Kompromisse

Deren Verklärung als „bessere Politiker“ sieht er als deutsche und französische Tradition, während die angelsächsischen Autoren eine viel randständigere Position einnähmen – was der Literatur nicht schade, sondern nütze.

Eine der Erfahrungen des „furchtbaren 20. Jahrhunderts“, in dem sich auch große Schriftsteller Diktaturen angedient haben, ist aus Sicht des Autors, dass wenig Glorie darin steckt, die mühsamen Prozesse demokratischer Kompromissfindung zu beschreiben. Demokratie sei, wenn sie funktioniert, ein System der „für alle Seiten ein bisschen unbefriedigenden Kompromisse“ zwischen Werten, die „eigentlich unvereinbar sind“.

Lieber mittelmäßige Literatur als ein despotischer Staat

Je unglamouröser ein Staatswesen sei, desto besser für die Bürger, sagte der Autor des Welterfolgs „Die Vermessung der Welt“, dessen Verfilmung zurzeit in den Kinos zu sehen ist.

Aber entsteht in der Demokratie auch eher schlechte Literatur? „Wenn es so wäre – und es könnte sein, dass es so ist – wäre das kein Grund, für despotische Systeme zu sein“, lautete Kehlmanns Antwort. Besser sei eine mittelmäßigere Literatur und ein Staat, „der einen nicht einsperrt“.

„Ungeheures Arbeitspensum der Politiker“

Sein Blick auf die heutigen Politiker hat eine Reise im Jahr 2006 nach Lateinamerika geschärft, die er im Tross des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier (SPD) mitmachen durfte.

Verblüfft vom „ungeheuren Arbeitspensum“ sei er gewesen, das der Minister und seine Mitarbeiter auf so einer Reise bewältigen: „Selbst als Begleitperson konnte ich das kaum durchstehen.“

„Zynische Einstellung zur Politik ausgetrieben“

Von morgens sechs Uhr bis spät in die Nacht Termine, dann eine interne Pressekonferenz, danach noch Beratungen mit den Mitarbeitern. Für ihn offenbarte sich das Politikerdasein als „ständiges Pensum an Präsenz und Einsatz ohne Rückzugsmoment“. Selbst den vorhandenen Schlafraum im Flugzeug habe Steinmeier nicht ein einziges Mal benutzt. „Eine zynische Einstellung zur Politik wird einem da schon ausgetrieben.“

Überhaupt stellte er dem Schriftsteller als dem „Analysierenden“, der aber keine Veränderungen zustande bringt, den Typus des Politikers als „geborenen Realisator“ gegenüber, dessen „déformation professionelle“ darin besteht, Dinge immer nur auf ihre Machbarkeit und Praktikabilität hin zu prüfen, anstatt abstrakter über Zusammenhänge nachzudenken.

„Die Vermessung der Welt“ als Abiturstoff

Kehlmann ist ein international bekannter, junger Gegenwartsautor, dessen Werke heute bereits zum Schulkanon und Abiturstoff zählen. Darauf hatten Prof. Dr. Ulrich Schöler, Leiter der Abteilung „Wissenschaft und Außenbeziehungen“ der Bundestagsverwaltung, und Prof. Dr. Joachim Rickes, Fachbereichsleiter im Wissenschaftlichen Dienst und als Literaturwissenschaftler ausgewiesener Kehlmann-Experte, gleich zu Beginn des W-Forums hingewiesen.

Für Kehlmann selbst ist das einerseits eine große Ehre, andererseits aber auch mit Sorge verbunden. An seine eigene Schulzeit erinnerte er sich so, dass man sich für Pflichtlektüren „schon mal nicht“ interessiert hat. „Wenn, Die Vermessung der Welt‘ offizielle Schullektüre wird, dann mache ich jetzt etwas, was weniger zur Schullektüre taugt.“

„Tiefgreifender Wandel, den wir noch nicht verstehen“

Kehlmanns Haltung zu modernen Kommunikationstechnologien, zur Netzpolitik und damit auch zum Urheberrecht ist eindeutig. „Hier passiert ein tiefgreifender Wandel, den wir noch nicht verstehen, weil wir so darin gefangen sind.“ Das Internet ermögliche es, anonym all das zu äußern, was man nicht äußern sollte – Aggression, Welthass, Ressentiments, Engstirnigkeit.

Auf der anderen Seite wäre etwa der Arabische Frühling ohne das Internet nicht möglich gewesen. Durch die Existenz von E-Mails habe sich das soziale Leben verändert.

Für eine Stärkung des Urheberrechts

Völlig überrascht haben ihn nach seinen Worten die Reaktionen auf einen Aufruf zur Beibehaltung und Stärkung des geltenden Urheberrechts, den er mitunterzeichnet hatte. Es sei eine Generation herangewachsen, für die es selbstverständlich geworden sei, Dinge „herunterzuladen“. Es gebe kein Bewusstsein mehr, dass „das nicht ideal ist“.

Die Haltung „Weil ich es will, ist es auch richtig“, nannte er besorgniserregend. Denn damit sei das Bewusstsein einer Professionalisierung des Künstlerdaseins als Lebens- und Existenzform in Gefahr verlorenzugehen. (vom/18.01.2013)

 

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