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Parlament

„Leiser Stolz auf eine solche Bundesrepublik“

Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die das Grundgesetz von September 1948 bis Mai 1949 geschaffen hatten, wären „zufrieden und sehr erstaunt“, welche Wurzeln die Freiheit innerhalb der letzten 65 Jahre in Deutschland geschlagen hat, sagte Dr. Navid Kermani am Freitag, 23. Mai 2014, als Festredner in der Feierstunde des Bundestages aus Anlass des 65. Jahrestages der Verkündung des Grundgesetzes. Der 46-jährige Schriftsteller und habilitierte Orientalist wurde als Kinder iranischer Einwanderer im westfälischen Siegen geboren und lebt heute in Köln.

Ein Kind von Einwanderern hält die Festrede

Im Beisein von Bundespräsident Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, des stellvertretenden Bundesratspräsidenten Volker Bouffier und von Bundesverfassungsgerichtspräsident Prof. Dr. Andreas Voßkuhle sagte der Kermani, es gebe nicht viele Staaten auf der Welt, in denen ein Kind von Einwanderern, „das noch dazu einer anderen als der Mehrheitsreligion angehört“, an die Verkündung des Grundgesetzes erinnert. Noch am 50. Jahrestag des Grundgesetzes wäre es schwer vorstellbar gewesen, dass ein Deutscher die Festrede im Bundestag hält, der nicht nur deutsch ist.

In dem anderen Staat, „dessen Pass ich besitze“, sei dies trotz allen Protesten und allen Opfern für die Freiheit undenkbar geblieben. „Es wird keine 65 Jahre und nicht einmal 15 Jahre dauern, bis auch in Iran ein Christ, ein Jude, ein Zoroastrier oder ein Bahai wie selbstverständlich die Festrede in einem frei gewählten Parlament hält“, prophezeite der Gastredner unter großem Beifall.

Willy Brandts Kniefall in Warschau

Welchen Abschnitt der deutschen Geschichte er sich auch vor Augen halte, in keinem sei es freier, friedlicher, toleranter zugegangen „als in unserer Zeit“, fuhr Kermani fort.

Wenn er eine einzige Geste benennen wollte, für die in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Wort Würde angezeigt erscheine, dann sei es Willy Brandts Kniefall vor dem Ehrenmal im ehemaligen Warschauer Ghetto gewesen. Hier habe einer seinen Patriotismus so verstanden, dass er vor den Opfern Deutschlands auf die Knie ging. Damit habe dieser Staat „Würde durch einen Akt der Demut erlangt“.

Kosmopolitische Linie des deutschen Geistes

Kermani räumte ein, dass ihm Tränen in die Augen schießen, wenn er die Aufnahmen vom Warschauer Kniefall sieht: „Es sind neben allem anderen, neben der Rührung, der Erinnerung an die Verbrechen, des jedes Mal neuen Staunens, es sind auch Tränen des Stolzes, des sehr leisen und doch bestimmten Stolzes auf eine solche Bundesrepublik Deutschland.“

Kermani sprach von einer kosmopolitischen Linie deutschen Geistes, die von Goethe und Schiller, Kant und Schopenhauer, Hölderlin und Büchner, Heine und Nietzsche, Hesse und den Brüdern Mann zu Willy Brandt führe. Sie alle hätten mit Deutschland gehadert, sich als Weltbürger gesehen und an die europäische Einigung geglaubt, lange bevor die Politik das Projekt entdeckt habe.

Die Entstellung des Artikels 16

Würdigte der Redner eingangs den „bemerkenswert schönen Text“ und die „literarische Qualität“ des Grundgesetzes von 1949 – „im deutschen Sprachraum vielleicht nur mit der Luther-Bibel vergleichbar“ – so sparte er nicht mit Kritik an den „Verstümmelungen“, die dem Grundgesetz hier und dort zugefügt worden seien. Nur wenige der zahlreichen Eingriffe hätten dem Text gutgetan.

Kermani bezog sich ausdrücklich auf die „Entstellung“ des Artikels 16a. Der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ sei 1993 zu einer „monströsen Verordnung aus 275 Wörtern“ geworden, „wüst aufeinander gestapelt und fest ineinander verschachtelt“, nur um zu verbergen, „dass Deutschland das Asyl als ein Grundrecht praktisch abgeschafft hat“.

„Danke, Deutschland“

Deutschland müsse nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen, aber es habe genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittländer abzuwälzen. Kermani plädierte für eine „faire Chance“, sich legal um die Einwanderung bewerben zu können, um nicht auf das Asylrecht zurückgreifen zu müssen. „Dem Recht auf Asyl wurde sein Inhalt, dem Artikel 16a seine Würde genommen. Möge das Grundgesetz spätestens bis zum 70. Jahrestag seiner Verkündung von diesem hässlichen, herzlosen Fleck gereinigt sein.“

Deutschland habe eine „gewaltige demografische Veränderung“ in nur einer Generation gut bewältigt: Seit dem Zweiten Weltkrieg sei mehr als die Hälfte der heutigen Bevölkerung, Vertriebene und Aussiedler berücksichtigt, in die Bundesrepublik eingewandert. Ohne es zu merken, habe das Land eine „grandiose Integrationsleistung“ vollbracht. Kermani schloss unter dem Beifall der Zuhörer mit einer symbolischen Verbeugung und den Worten: „Danke, Deutschland.“

„Besonderer Glücksfall der deutschen Geschichte“

Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert hatte eingangs hervorgehoben, das Grundgesetz stifte als „unangefochtene Grundlage der politischen Verfassung unseres Landes“ ein „Gefühl von Zusammengehörigkeit und des Willens zu einer gemeinsamen Zukunft“. Das heutige Deutschland sei nicht mehr das von 1949. Etwa 16 Millionen Menschen hätten eine persönliche oder familiäre Einwanderungsgeschichte: „Das sind rund 20 Prozent der Bevölkerung.“

Es zähle zu den „großartigen Leistungen des Grundgesetzes“, diese Vielfalt zu ermöglichen: „Die vom Grundgesetz garantierten Menschenrechte gelten für alle, die hier leben.“ Das Grundgesetz gehöre zu den besonderen Glücksfällen der deutschen Geschichte mit seiner Fähigkeit zur „Bewältigung auch veränderter Aufgabenstellungen und neuer Herausforderungen“.

„Selbst gesetzte Grenzen einhalten“

Beifall erhielt der Bundestagspräsident für seinen selbstkritischen Frage, ob die Änderungen und Ergänzungen der letzten Jahrzehnte ähnlich gelungen seien wie der Verfassungstext von 1949. Heute habe das Grundgesetz den doppelten Umfang und sei damit zwar deutlich länger, aber nicht unbedingt deutlich besser geworden als der „schlanke Text von 1949“. Inzwischen sei manche „zweitrangige Frage“ geregelt, während die Grundsätze des Wahlsystems noch immer keinen Verfassungsrang hätten.

Mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht sagte Lammert, es gebe den gelegentlichen Ehrgeiz, die geltende Verfassung durch „schöpferische Auslegung weiterzuentwickeln“. Das Gericht sollte sich immer wieder vergewissern, „ob es die ihm selbst gesetzten Grenzen seinerseits so einhält, wie es dies von anderen Institutionen verlangt“.

Kritik an Wahlverfahren

Überfällig nannte der Präsident ein Verfahren zur Wahl der Mitglieder des höchsten deutschen Gerichts, das dem Grundgesetz und den Mindestanforderungen genügt, die der Bundestag anderen Wahlen zugrunde legt.

Dass der Deutsche Bundestag in geheimer Wahl mit Kanzlermehrheit den Präsidenten des Bundesrechnungshofes wähle und gleichzeitig nachträglich von der Bestellung einer neuen Verfassungsrichterin erfahre, die durch einen zwölfköpfigen Richterwahlausschuss in dieses hohe Amt befördert wird, sei beider Verfassungsorgane unwürdig, betonte Lammert.

Kauder: Allgemeinverbindlicher Wertekatalog

Eigene Akzente setzten die Spitzen der Bundestagsfraktionen in ihren Beiträgen. Volker Kauder (CDU/CSU) erinnerte an einen Satz des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Bundesrepublik weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutral sei. Die Werte des Grundgesetzes seien zu einem allgemeinverbindlichen Wertekatalog geworden.

Kauder nannte es eine Selbstverständlichkeit, „dass wir Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts umsetzen“. Allerdings entscheide das Parlament über die Grundlagen der politischen Gestaltung, nicht das Gericht. Mit Blick auf die Kermani-Rede sagte Kauder, Deutschland sei das Land in Europa, das die meisten Asylbewerber aufnehme.

Oppermann: Ein Leben in Frieden und Freiheit gesichert

„Das Grundgesetz selbst hätte sich zum 65. Geburtstag eine solche Festrede wie die von Narvid Kermani gewünscht“, lobte Thomas Oppermann (SPD). Das Grundgesetz habe „uns ein Leben in Frieden und Freiheit gesichert, eine geglückte Demokratie beschert“ und sei die beste Verfassung, die Deutschland jemals hatte.

Immer noch modern sei das Grundgesetz, das als „offene Verfassung“ angelegt sei und „gesellschaftsverändernde Kraft“ habe. „Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat unser Land moderner gemacht“, urteilte Oppermann. Als Herausforderungen bezeichnete er die Einwanderung, den Schutz der Grundrechte im digitalen Zeitalter und die notwendige Vertiefung der EU.

Gysi: Beste Verfassung der deutschen Geschichte

Auch für Dr. Gregor Gysi (Die Linke) ist da Grundgesetz die beste Verfassung in der Geschichte Deutschlands, was auch für die ehemaligen Bürger der DDR gelte. Gysi mahnte gleichwohl die Erfüllung des Artikels 146 an, wonach das deutsche Volk nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Entscheidung eine neue Verfassung beschließt.

Der Artikel 1 mit dem Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ sei die einzig richtige Antwort auf die Nazi-Barbarei gewesen. Gysi bezeichnete das Bundesverfassungsgericht als „sehr, sehr wichtige Einrichtung“.

Göring-Eckardt: Freiheit und Recht effektiv schützen

Unter großem Beifall sagte Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen), die DDR sei „ohne Wenn und Aber“ ein Unrechtsstaat gewesen. Mit der Umsetzung des Grundgesetzes, der „besten Verfassung, die wir haben“, habe man noch zu tun. Göring-Eckardt nannte eine „nicht zu rechtfertigende Verletzung der Grundrechte“, wenn Daten erschnüffelt würden.

Es gehe darum, die Freiheit und das Recht der Bürgerinnen und Bürger so effektiv wie nur möglich zu schützen: „Das stärkt unsere Demokratie“. Bundestag und Regierung sollten das große Freiheitsversprechen des Grundgesetzes für alle erfüllen, die in Deutschland leben.

Hasselfeldt: Föderalismus hat Deutschland stark gemacht

Die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Gerda Hasselfeldt, erinnerte daran, dass sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes am Menschenbild der christlich-abendländischen Tradition orientiert hätten. „Mit dem Grundgesetz wurde ein Signal des Friedens und der Freiheit nach innen wie nach außen gesendet, das uns den Weg in die internationale Staatengemeinschaft geebnet hat, sagte Hasselfeldt. 

Das Grundgesetz sei nicht in Stein gemeißelt, es müsse auf gesellschaftliche Veränderungen Antworten geben. Bayern habe seinerzeit das Grundgesetz abgelehnt, weil der föderale Staatsaufbau nicht weit genug gegangen sei. Doch habe das Grundgesetz mit seinem klaren Bekenntnis zum Föderalismus Deutschland stark gemacht. (vom/23.05.2014)

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