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Geschichte

Primor: Deutsche Vorbild in Sachen Erinnerung

Die Deutschen sind in Sachen Erinnerung und Gewissenserforschung weltweit vorbildlich geworden, sagte der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, am Sonntag, 16. November 2014, in der zentralen Gedenkveranstaltung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge zum Volkstrauertag im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes in Berlin. Der Vorsitzende des Volksbundes, der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Meckel, hatte den Diplomaten und Publizisten eingeladen, die Gedenkrede in diesem Jahr zu halten.

12.000 Juden fielen für Kaiser und Vaterland

Im Beisein von Bundespräsident Joachim Gauck, Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth, Bundesratspräsident Volker Bouffier, des stellvertretenden Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof und Verteidigungsministerin Dr. Ursula von der Leyen, gab Primor seiner Verblüffung über diese Bitte Ausdruck: Wieso ich?

„Ich bin Jude, kein deutscher Jude, ich bin Ausländer. Ich musste mir Gedanken machen“, sagte Avi Primor, dessen Mutter 1932 aus Frankfurt nach Palästina emigrierte und so der Shoah entging. Im Ersten Weltkrieg hätten Juden auf allen Seiten gekämpft. Besonders begeisterte Patrioten seien die deutschen Juden gewesen. Im deutschen Kaiserreich habe es 500.000 Juden gegeben. Von 110.000 jüdischen Soldaten seien 12.000 für Kaiser und Vaterland gefallen, 40.000 schwer verwundet und versehrt worden.

Gemeinsames Trauern ist möglich

„Wir verstehen heute diese Vaterlandsliebe nicht mehr – können wir um diese Soldaten trauern?“, fragte Primor und gab die Antwort: „Natürlich können wir.“ Auch ehemalige Feinde könnten zusammen trauern. Primor erinnerte an die Geste von Bundeskanzler Helmut Kohl und des französischen Präsidenten François Mitterrand in Verdun 1984 und an den Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck in diesem Jahr im südwestfranzösischen Oradour-sur-Glane, das 1944 von der Waffen-SS dem Erdboden gleichgemacht worden war.

Gemeinsames Trauern gebe es auch in Israel. Vor ein paar Jahren sei dort ein Verband von israelischen und palästinensischen Familien entstanden, die ihre Kinder im „ewigen Krieg“ zwischen Israelis und Palästinensern verloren hätten. Auf dem heutigen Rabin-Platz in Tel Aviv seien Särge aufgestellt worden, die Hälfte mit der israelischen, die andere Hälfte mit der palästinensischen Flagge bedeckt. Dabei seien sie nicht einmal „ehemalige“ Feinde, sondern „immer noch“ Feinde.

Ein Symbol der Haftungsgemeinschaft

Im Zweiten Weltkrieg hätten die Juden nur noch auf einer Seite kämpfen können. Juden oder Zuwanderer, die mit der Vergangenheit Deutschlands nicht zu haben, hätten eine gemeinsame Verantwortung, betonte Primor, also könnten sie auch trauern. Juden in Deutschland zahlten auch Steuern, aus denen Wiedergutmachungszahlungen an Nazi-Opfer finanziert würden: „Es ist eine Haftungsgemeinschaft“, betonte Primor. Der Volkstrauertag sei ein Symbol der Haftungsgemeinschaft.

Viele Deutsche seien unschuldig gefallen. Auch viele Deutsche seien Opfer der Nazis geworden, „nicht alle waren Verbrecher“. Viele seien jung gewesen und hätten keine Wahl gehabt. Halb- und Vierteljuden hätten an der Front „eifrig gedient“, um ihre Familien zu retten, doch: „Sie hätten auch sich nicht retten können.“ Nach dem „Endsieg“ hätten auch sie umgebracht werden sollen.

„Kollektivschuld war für uns selbstverständlich“

Avi Primor erinnerte an den Aufschrei, den es 1985 in Amerika und Israel gab, als Bundeskanzler Kohl mit Präsident Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg besuchte, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS begraben sind. Alle Wehrmachtsoldaten „waren für uns die gleichen“, erläuterte Primor die damalige Sicht der Dinge. „Nach dem Krieg war für uns eine Kollektivschuld selbstverständlich.“ Hitler sei demokratisch gewählt worden, alle hätten ihm zugejubelt.

Als Beispiel für diese verbreitete Haltung gegenüber den Deutschen schilderte Primor eine Begegnung des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, der die Nazi-Zeit im KZ verbracht hatte und nur noch einen Arm hatte, mit der späteren israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir. Golda Meir habe seine ausgestreckte Hand nicht angenommen, sondern ihm den Rücken gekehrt, weil er ein Deutscher war, wegen deren Kollektivschuld. „Wir haben es so gesehen“, anders als der erste israelische Premierminister David Ben-Gurion, der schon früh von einem „anderen Deutschland“ gesprochen habe, sagte Primor. „Wir wollten von den Deutschen so gut wie nichts wissen, weil man gesagt hat, die Deutschen würden verdrängen und leugnen.“

„Die Deutschen verdrängen nicht mehr“

Die 1968er-Bewegung sei „ein Schock für uns“ gewesen: „Die Deutschen verdrängen nicht mehr, sie wollen die Wahrheit wahrnehmen.“ Doch Ben-Gurion habe recht gehabt: Adenauer und de Gaulle, das sei eine neue Realität gewesen, ein anderes Deutschland. Heute strebten die deutschen kein deutsches Europa mehr an, sondern ein europäisches Deutschland.„

Während man in allen Ländern Mahnmäler und Gedenkstätten sehen könne, die an große Siege und Helden der Nation erinnerten, baue Deutschland Denkmäler, um auch an das eigene Verbrechen zu erinnern, um die Erinnerung an die nationale Schande zu verewigen. “Ganz vorbildlich„, urteilte Avi Primor. “Mit so einem Deutschland trauere ich gerne zusammen. Mit ihm will ich gemeinsam Verantwortung für die Zukunft tragen.„

Erinnerung an Peter Kollwitz

Im Anschluss sprach Bundespräsident Gauck das Totengedenken. Eingangs hatte Volksbund-Präsident Markus Meckel ebenfalls auf den Friedhof in Bitburg hingewiesen. Auf den Soldatenfriedhöfen seien Soldaten aller Schichten und Geistesrichtungen beerdigt – überzeugte Nazis und ihre Gegner. Die meisten hätten keine Wahl gehabt. Auch derjenige, der sich schwer schuldig gemacht habe, verdiene ein Grab. Unrecht und Verbrechen blieben, was sie sind. Meckel fügte hinzu, auch heute brauche es Menschen, die bereit sind, Risiken auf sich zu nehmen und zur Not ihr Leben einzusetzen, damit die Würde des Menschen gewahrt wird.

Die belgischen Schaulspieler Kathelijn Vervarcke und Philipp Kocks erinnerten in einer Lesung an die beiden Peter Kollwitz, Sohn und Enkelin der Malerin Käthe Kollwitz, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg gefallen waren, der erste als Kriegsfreiwilliger 1914 in Westflandern, der zweite 1942 an der Ostfront. 

Die Gedenkstunde wurde umrahmt vom Oberstufenchor der Liebigschule Gießen unter Leitung von Peter Schmitt und vom Bläserensemble des Musikkorps der Bundeswehr in Siegburg. (vom/17.11.2014)

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