Parlament

Ansprache des Bundestagspräsidenten bei der Gedenkfeier „75 Jahre Beginn Zweiter Weltkrieg“

Sehr geehrter Herr Staatspräsident! Herr Bundespräsident! Verehrte Repräsentanten aller Verfassungsorgane! Exzellenzen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste!

Als Johannes Paul II., der große, unvergessene polnische Papst, 1996 das wiedervereinigte Deutschland besuchte, führte ihn sein Weg natürlich auch nach Berlin. Unweit vom Reichstagsgebäude ging er durch das offene Brandenburger Tor. Seinen Begleitern soll er damals gesagt haben, der Zweite Weltkrieg habe nun endlich sein Ende gefunden.

Dieser Zweite Weltkrieg, der mit dem deutschen Überfall auf Polen vor 75 Jahren begann, dauerte sechs Jahre. Doch er wirkte Jahrzehnte nach, in denen Staaten und Gesellschaften Europas die Folgen zu tragen hatten. Er wirkte nach in Familiengeschichten und unzähligen biografischen Schicksalen weltweit.

Gerade als Pole war dem Papst die fortwährende Gegenwart der Geschichte bewusst. Als junger Mann hatte Karol Wojtyła in Krakau unter deutscher Besatzung gelitten. Er erlebte als Student, wie die deutsche Sicherheitspolizei fast 200 Professoren und Mitarbeiter der berühmten Jagiellonen-Universität in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Dachau verschleppte. Ihn selbst verpflichteten die Deutschen zu harter Zwangsarbeit. Diese Vergangenheit vor Augen hat Johannes Paul II. später einmal die Freiheit als „fortwährende Eroberung“ beschrieben. Er hat gefragt:

Wo liegt die Wasserscheide zwischen Generationen, die nicht genug bezahlt haben, und Generationen, die zu viel bezahlt haben? Wir, auf welcher Seite stehen wir?

Meine Damen und Herren, wir erinnern heute an den verheerendsten Krieg in der Geschichte, an einen von Deutschland mutwillig herbeigeführten Krieg, für den Generationen viel, zu viel bezahlen mussten. Zugleich sehen wir täglich die schockierende Gewalt und das menschliche Leid gegenwärtiger Kriege ‑ in Syrien, im Irak, im Südsudan, im Nahen Osten, in der Ukraine. Auch heute zahlen Generationen viel für ihre Freiheit ‑ ohne die Gewissheit, sie tatsächlich zu erreichen. Auf welcher Seite stehen wir? ‑ Diese Frage stellt sich für jede Generation neu. Und für uns Deutsche stellt sie sich ganz besonders.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor der Sommerpause haben wir in einer Gedenkstunde an den Ausbruch, die Ursachen und Folgen des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren erinnert. Die Epoche, die sich an den Sommer 1914 anschloss, wird nicht zu Unrecht gelegentlich als „Zweiter Dreißigjähriger Krieg“ bezeichnet. Denn nur 20 Jahre nach Ende des ersten löste das nationalsozialistische Deutschland den zweiten der beiden Weltkriege aus, die den europäischen Kontinent im 20. Jahrhundert verwüsteten.

Seine schreckliche Bilanz: über 50 Millionen Kriegstote weltweit, Abermillionen entwurzelte Menschen ‑ Deportierte, Vertriebene, Flüchtlinge; ein zerstörtes Europa, geteilt durch einen Eisernen Vorhang in rivalisierende politisch-ideologische Blöcke, vor allem jedoch gekennzeichnet von bislang beispiellosen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Mit der ‑ anders als 1918 ‑ totalen Niederlage war Deutschland nicht nur militärisch besiegt, sondern es hatte sich auch moralisch diskreditiert.

Indem wir an diese deutsche Schuld erinnern, bekennen wir uns zu unserer Verantwortung und zu den Lehren, die wir aus dieser Geschichte gezogen haben. Wir sind dankbar für die Chance, die unserem Land zuteil wurde, in die Gemeinschaft der Nationen zurückkehren zu dürfen. Uns ist bewusst, dass es dazu der Bereitschaft zur Versöhnung all derjenigen Nationen bedurfte, die unter der deutschen Besatzung schwer gelitten und unter hohen Verlusten aufseiten der Gegner Hitler-Deutschlands gekämpft haben.

Ihr Besuch, Herr Staatspräsident, unterstreicht die besondere Bedeutung, die dabei den Beziehungen zu unseren polnischen Nachbarn zukommt. Polen wurde das erste Opfer des Zweiten Weltkriegs; Ihre Landsleute litten länger als alle anderen unter der deutschen Besatzung. Umso mehr muss es in der Tat als Wunder gelten, „dass Polen und Deutsche heute nicht nur Nachbarn sind, die sich vertragen, sondern Freunde, die sich mögen“, wie unser Bundespräsident aus Anlass des 70. Jahrestages des Warschauer Aufstandes zu Recht hervorgehoben hat.

Herr Staatspräsident Komorowski, ich danke Ihnen im Namen dieses Hauses für den besonderen Beitrag, den Sie persönlich dazu geleistet haben, und für die Bereitschaft, heute zu uns zu sprechen. Seien Sie uns herzlich willkommen!

(Beifall)

Ihnen, Herr Bundespräsident, möchte ich meinen Respekt dafür ausdrücken, dass Sie und wie Sie in der vergangenen Woche in Danzig zum richtigen Anlass am richtigen Platz das Richtige und Notwendige gesagt haben.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, als Hitler am 1. September 1939 kurz nach 10 Uhr vor das gleichgeschaltete Parlament trat ‑ nicht mehr hier im ausgebrannten Reichstagsgebäude, sondern gegenüber in der Kroll-Oper ‑, lag Polen bereits seit Stunden unter Feuer. Kurz vor Sonnenaufgang hatte das Schulschiff „Schleswig-Holstein“, das ‑ perfide genug ‑ zu einem Freundschaftsbesuch in Danzig war und dort vor Anker lag, damit begonnen, die polnische Garnison auf der Westerplatte zu beschießen. Zur gleichen Zeit wurde die Stadt Wielun östlich von Breslau unter hohen zivilen Verlusten von deutschen Kampfbombern dem Erdboden gleichgemacht.

Dem deutschen Überfall war ein diplomatisches Schurkenstück vorausgegangen: Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt, den Hitler am 23. August mit Stalin geschlossen hatte, war in seiner Absicht und seiner Wirkung ein Angriffspakt zweier ideologischer Antipoden, die sich in einem geheimen Zusatzprotokoll darauf verständigt hatten, Mittelosteuropa mit imperialer Brutalität in Einflusssphären untereinander aufzuteilen: von Finnland über die baltischen Staaten und Polen bis nach Rumänien. Am 17. September 1939 marschierte die Rote Armee in Ostpolen ein, mit der zynischen Begründung, den Polen Ordnung und Ruhe zu bringen, vor allem aber die Ukrainer und Weißrussen schützen zu wollen. Es folgten Deportationen und massenhafte Exekutionen, darunter das Massaker an Tausenden Offizieren in Katyn im Frühjahr 1940.

Auf deutscher Seite war das, was die deutsche Propaganda als „Polenfeldzug“ verharmloste, tatsächlich der Auftakt zu einem geschichtlich beispiellosen Rassenkrieg ‑ der sich bald auch gegen die Sowjetunion richten sollte. Die deutschen Eroberungen im Osten hatten bereits im Überfall auf Polen den Charakter eines kühl kalkulierten Vernichtungskrieges. In einer Geheimkonferenz mit ranghöchsten Vertretern der Wehrmacht hatte Hitler am 22. August 1939 seine Vorstellungen des bevorstehenden Krieges unmissverständlich klargemacht. Es gibt verschiedene Aufzeichnungen dieser Unterredung mit unterschiedlichem Wortlaut. In der Tendenz ist immer wieder das Gleiche zu lesen: Es geht um die „restlose Zertrümmerung Polens“, um Verfolgung bis zur „völligen Vernichtung“.

Zum Opfer fielen den Massenerschießungen vorrangig Angehörige der gesellschaftlichen Elite, Vertreter des Staates, Bürgermeister, Richter, Geistliche, Adelige, Gewerkschafter, Wissenschaftler und Künstler, Kaufleute, Lehrer, Anwälte und Ärzte. Die ersten Massaker geschahen bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn in kaschubischen Wäldern. Zugleich wurde mit nie dagewesener Härte eine jahrhundertealte jüdische Tradition ausgelöscht. Als Hauptschauplatz der industriellen Vernichtung der europäischen Juden, die aus allen besetzten Gebieten deportiert wurden, wurde Polen ‑ in den Worten seines großen Literaten Andrzej Szczypiorski ‑ zum „größten Friedhof der Zivilisation“.

Im Gedenken an diese von Deutschen verübten Verbrechen erinnern wir auch an all diejenigen, die in schier aussichtsloser Lage in Deutschland wie in den besetzten Nachbarländern mutigen Widerstand leisteten und ihn mit ihrem Leben bezahlten, etwa im Warschauer Ghetto 1943 oder beim Warschauer Aufstand der polnischen Heimatarmee 1944. Wir erinnern an die Frauen und Männer der Weißen Rose und des 20. Juli.

Meine Damen und Herren, Deutsche und Polen haben nicht nur eine gemeinsame Grenze, sie teilen sich vor allem eine gemeinsame Geschichte. In ihr haben Grenzen freilich eine unheilvolle Bedeutung gespielt, vor allem seit Brandenburg-Preußen zur europäischen Macht aufgestiegen war. Der große Preußenkönig Friedrich II. war kein Freund Polens. Er blickte mit demonstrativer Geringschätzung auf die aus dem 16. Jahrhundert überkommene polnische Adelsrepublik. Kaltblütig nutzte er 1772 die Gelegenheit, auf ihre Kosten sein Territorium zu vergrößern. Polen, seiner Freiheit beraubt, wurde zum Spielball Preußens, Habsburgs und Russlands, die ihre machtpolitischen Ambitionen zulasten eines Nachbarn durchsetzten.

Gedemütigt nahmen die Polen in der Folge vorweg, was später Preußen nach der eigenen Niederlage gegen Napoleon tat: Sie leiteten große Reformen ein. 1791 verabschiedeten sie die erste schriftliche Verfassung, die es in Europa überhaupt gab, auf den Tag genau vier Monate vor der französischen Nationalversammlung. Was darauf folgte, waren militärische Strafaktionen der politischen Reaktion in Berlin und Sankt Petersburg. Mit der zweiten und dritten polnischen Teilung 1793 und 1795 war der polnische Staat nach 800 Jahren Existenz von der europäischen Landkarte getilgt. Das preußische Territorium hatte sich dafür verdoppelt. „Wo liegt die Wasserscheide zwischen Generationen, die nicht genug bezahlt haben, und Generationen, die zu viel bezahlt haben?“

Die Polen haben festgehalten an der Idee nationaler Einheit. Mit ihrem Durchhaltewillen wurden sie auch den Liberalen in Deutschland zum Vorbild. „Denn ohne Polens Freiheit keine deutsche Freiheit. Ohne Polens Freiheit kein dauernder Friede“, hieß es beim Hambacher Fest 1832, als man neben der schwarz-rot-goldenen auch die polnische weiß-rote Fahne hisste. Die proklamierte Verbindung aus deutschem Einheitsstreben und polnischer Unabhängigkeit hatte allerdings nur rhetorische Bedeutung. In der Revolution 1848 dominierten bereits wieder die nationalen Töne, auch in der Paulskirche, als die Frankfurter Nationalversammlung gegen die Proteste der Polen die preußische Provinz „Großherzogtum Posen“ in den Deutschen Bund eingliederte. Wer heute gelegentlich in aktuellen Zusammenhängen vermeintliche „polnische Empfindlichkeiten“ beklagt, hat offenbar keine Vorstellung von dem Trauma einer Nation, die über mehrere Jahrzehnte und Jahrhunderte als Staat von der Landkarte verschwunden war.

Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte für viele Völker in Mittelosteuropa die Gründung eigener Nationalstaaten. Auch die Polen nahmen 1918/19 ihr nationales Selbstbestimmungsrecht wieder in eigenen Grenzen wahr ‑ nach über 120 Jahren Fremdherrschaft. Die neue Friedensordnung, die der Versailler Vertrag geschaffen hatte, sah unter anderem einen Sonderstatus für Danzig vor als völkerrechtlich selbstständiges Gebilde einer vom Völkerbund kontrollierten Freien Stadt. Ein Korridor verhalf dem neuen polnischen Staat zum Zugang zum Meer und trennte zugleich Ostpreußen vom Rest Deutschlands ‑ ein Umstand, den Hitler als Vorwand zu nutzen wusste, um 1939 den von ihm lange angestrebten Krieg vom Zaune zu brechen.

Meine Damen und Herren, Deutsche haben 1939 den Krieg begonnen. Sie haben ihn 1945 verloren. Aber sie haben nicht alleine dafür bezahlt. Die bedingungslose Kapitulation, die wir Deutschen heute als Befreiung erkennen, brachte für die Polen zunächst keine Freiheit. Es gehört zur polnischen Tragödie im 20. Jahrhundert, dass dem Sieg über Hitler bleierne Jahrzehnte folgten, in denen den Polen – und mit ihnen allen, die unter sowjetische Herrschaft kamen – die Selbstbestimmung weiter vorenthalten blieb.

Nach 1945 erlebte Polen eine gigantische Westverschiebung des eigenen Landes, die für Millionen Menschen den Verlust der Heimat bedeutete. Wenn wir heute auch des Leids gedenken, das dabei Deutsche, meist persönlich schuldlos, als Opfer politischer Entwicklungen erlitten haben, dann können wir dies nur deswegen, weil wir zugleich keinen Zweifel über Ursache und Wirkung lassen. Hitlers unbändiger Vernichtungswille, unter dem Völker und Nationen von der Atlantikküste bis in den Kaukasus, vom Nordkap bis nach Nordafrika so unendlich schwer gelitten haben, schlug am Ende gegen das eigene Volk zurück. Bei flächendeckenden Bombardements auf deutsche Städte starben Hunderttausende Zivilisten, jahrhundertealte Stadtbilder wurden ausgelöscht, für Millionen Soldaten folgten Jahre der Kriegsgefangenschaft, viele kehrten nie mehr heim. Das Land blieb auf Jahrzehnte geteilt.

In der Trauer über den erlittenen Verlust fehlt es in Deutschland gelegentlich noch heute an Wissen über und an Verständnis für das Vertreibungsschicksal der Polen. Beispielhaft dafür ist die Familiengeschichte unseres Staatsgastes: Er trägt den Namen seines Onkels, der 1943 mit 16 Jahren wegen seiner Mitwirkung im polnischen Untergrund in Vilnius auf deutschen Befehl erschossen wurde. Die Wurzeln der Familie Komorowski liegen im heutigen Litauen. Nach deren Vertreibung durch die sowjetischen Besatzer kam Bronisław Komorowski in der Nähe von Breslau zur Welt – in einem Haus, das vorher Deutschen gehört hatte. Sie, verehrter Herr Staatspräsident, sagen deshalb:

Ein Europa, in dem jedes Volk sich auf das Leid der eigenen Opfer konzentrierte, wäre ein grauenvoller Kontinent. Die Vergangenheit soll uns dazu verpflichten, eine gemeinsame Zukunft zu planen.

Möglich geworden ist dies erst durch die großen Umwälzungen, die 1989 mit maßgeblicher polnischer Beteiligung Europa verändert haben.

Meine Damen und Herren, die deutsch-polnische Geschichte im 20. Jahrhundert manifestiert sich mehr als anderswo in Danzig. Mehr noch: Diese Stadt ist zu einem europäischen Erinnerungsort geworden. Mit dem Versailler Vertrag war sie Menetekel für einen neuen europäischen Konflikt, 1939 wurde sie zum Ort des Kriegsausbruchs. Später jedoch, mit der Solidarnosc-Bewegung, wurde aus der ehedem Freien Stadt Danzig die Stadt der Freiheit – ein Schauplatz der friedlichen Revolutionen in ganz Ost- und Mittelosteuropa.

An die großen polnischen Verdienste um die deutsche Einheit und die Freiheit in einem vereinten Europa erinnert seit 2009 an der Ostfassade des Reichstagsgebäudes ein Mauerstück der ehemaligen Danziger Lenin-Werft. In Ihrer Amtszeit als Sejm-Marschall, lieber Herr Komorowski, haben wir es gemeinsam enthüllt. Im Gegenzug verweist in Kreisau, auf dem Gut der Familie Moltke, ein Stück der Berliner Mauer auf den 9. November 1989. Dieser herausragende Ort des deutschen Widerstandes steht für den Aufbruch in den deutsch-polnischen Beziehungen nach Ende des Ost-West-Konflikts. Hier nahmen am 12. November 1989 Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki an einer Versöhnungsmesse teil, nachdem der deutsche Bundeskanzler seinen Staatsbesuch in Polen wegen des Falls der Berliner Mauer unterbrochen hatte.

Die Mauern, in Danzig wie in Berlin, sind durch Bürgerrechtler, durch zivilgesellschaftliches Engagement überwunden worden. Herr Staatspräsident, Sie haben beide Mauerstücke, das der Berliner Mauer und das der Danziger Werft, als „Symbole der Integration, des Dialogs und der Verständigung“ bezeichnet. Die Aussöhnung zwischen unseren beiden Nationen mit ihrer jahrhundertealten Geschichte leidvoller territorialer Veränderungen beweist, dass Frieden in Europa nur möglich ist, wenn die territoriale Integrität der Staaten nicht mehr infrage gestellt wird ‑ eine Erkenntnis, um die auch in Deutschland lange, auch noch im Kontext der Wiedervereinigung und der Diskussion über die deutsch-polnische Grenze, gerungen wurde. Diese Erkenntnis ist im heutigen Europa aktueller denn je. Gerade deshalb ist die Wahl eines polnischen Ministerpräsidenten zum Präsidenten des Europäischen Rates ein starkes Signal und ein Symbol für das Selbstverständnis dieser Europäischen Union.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, „wo liegt die Wasserscheide zwischen Generationen, die nicht genug bezahlt haben, und Generationen, die zu viel bezahlt haben? Wir, auf welcher Seite stehen wir?“ Der 1. September 1939 und seine Folgen sind und bleiben für uns Deutsche ein Stück Geschichte, das nicht einfach Vergangenheit ist. Sie beschämt uns, und sie stärkt uns in unserem Willen und der Selbstverpflichtung unserer Verfassung, gemeinsam mit allen unseren Nachbarn und Partnern „als gleichberechtigtes Glied in einem freien Europa dem Frieden in der Welt zu dienen“. Dass Polen und Deutsche daran gemeinsam arbeiten ‑ als Nachbarn, als Partner, als Freunde ‑, ist ein ermutigendes Beispiel dafür, dass wir aus der Geschichte lernen können, wenn wir ihre Lektionen begriffen haben.

Ihre Anwesenheit heute im Deutschen Bundestag, Herr Staatspräsident, bestätigt diesen Zusammenhang. Wir freuen uns auf Ihre Rede.

(Beifall)

Bronisław Komorowski, Präsident der Republik Polen (Simultanverdolmetschung):

…..

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Sehr geehrter Herr Staatspräsident, ich danke Ihnen für diese Rede, die weit über den Anlass hinaus ein wichtiger Beitrag zur notwendigen öffentlichen Auseinandersetzung mit den von Ihnen angesprochenen Themen sein wird. Ich danke Ihnen für Ihr bewegendes und eindrucksvolles Zeugnis der deutsch-polnischen Versöhnung und Freundschaft und für Ihr Bekenntnis zu unserer gemeinsamen Verantwortung für ein einiges, freies und demokratisches Europa.

Wir hören nun die Europahymne.

(Europahymne)

(Beifall)

Die Mitglieder des Hauses erinnere ich daran, dass wir uns um 10.30 Uhr zur Wiederaufnahme unserer parlamentarischen Geschäfte an gleicher Stelle ‑ hier ‑ versammeln.

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Ansprache des Präsidenten bei der Gedenkfeier „100 Jahre Erster Weltkrieg“

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Verehrte Repräsentanten der Verfassungsorgane unseres Landes! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Exzellenzen! Lieber Alfred Grosser! Meine Damen und Herren!

Ich begrüße Sie alle herzlich, hier im Plenarsaal und über die elektronischen Medien, ganz besonders Herrn von Weizsäcker und Giscard d’Estaing.

Was geht uns der Erste Weltkrieg an? Andere Nationen wissen das für sich eindeutiger zu beantworten als wir Deutsche. Franzosen und Briten nennen ihn den „Großen Krieg“, für sie war er der verlustreichste im 20. Jahrhundert. Für andere, etwa die Polen, die Tschechen und Slowaken oder die Ungarn, stand an dessen Ende die Gründung eigener Nationalstaaten. In der Erinnerung der Deutschen sind die Jahre 1914 bis 1918 dagegen von den späteren Schrecken der nationalsozialistischen Diktatur überlagert. Dabei hat der Erste Weltkrieg in fast jeder deutschen Familie Spuren hinterlassen.

Wir sind die Enkel und Urenkel derjenigen, die vor 100 Jahren in den Krieg zogen, im naiven Glauben, ihn binnen Wochen für sich entscheiden und mit diesem einen alle anderen beenden zu können – übermütig, verblendet, verführt. Wir sind die Enkel und Urenkel derjenigen, die in diesem Krieg „für Kaiser und Vaterland“ fielen, die verwundet, verstümmelt, entsetzlich entstellt zurückkehrten, persönlich traumatisiert, als Generation verbrannt. Ihrer aller erinnern wir heute im stillen Gedenken.

Was geht uns der Erste Weltkrieg an? In seinem Roman „Die Kapuzinergruft“ schreibt Joseph Roth, man spreche zurecht vom „Weltkrieg“, aber „nicht etwa, weil ihn die ganze Welt geführt hatte, sondern [– so Roth –] weil wir alle infolge seiner eine Welt, unsere Welt, verloren haben.“  Der Weltkrieg läutete eine Zeitenwende ein. Damals endete eine Weltordnung, in der vorrangig die europäischen Staaten den Ton angaben. Mit den USA und Japan traten neue weltpolitische Akteure auf den Plan. Nicht nur Kaiserkronen rollten, etwa in Deutschland und in Russland; mit dem Habsburger und dem Osmanischen Reich gingen ganze Imperien unter. Sie hinterließen alte Krisenherde und schufen neue, uns noch immer herausfordernde Konfliktregionen: auf dem Balkan, im Nahen und Mittleren Osten, im Kaukasus. Die Vertreibung und Vernichtung der Armenier machten Deportation und Massenmord zu Mitteln der Kriegsführung. Der Erste Weltkrieg wurde die Wasserscheide zu einer „Welt von gestern“, und er war zugleich, so ein aktueller Buchtitel, die „Büchse der Pandora“ für das gewalttätige 20. Jahrhundert.

Meine Damen und Herren,

der Weltkrieg kostete Millionen Opfer, Soldaten wie Zivilisten. Er setzte Menschen in beispiellosen Massen in Bewegung, im Stellungskrieg im Westen, aber auch – was häufig vergessen wird – auf den Schlachtfeldern im Osten Europas. Es war – soweit solche Unterscheidungen Sinn machen – der letzte konventionelle und der erste moderne Krieg. An der Front erlebten die Soldaten die industrialisierte Apokalypse. Die zerstörerische Wirkung der modernen Waffen machte neben Gefangenen, Verwundeten und Toten auch „Vermisste“ zu einer neuen, für die Hinterbliebenen – im Wortsinne – trostlosen Kategorie der Kriegsopfer. Soldaten, die der Einsatzbefehl in die Schützengräben von Verdun schickte, hatten – statistisch gesehen – noch eine Lebenserwartung von zwei Wochen!

„Wir sind die Toten. Vor wenigen Tagen noch/ Lebten wir, fühlten den Morgen und sahen den leuchtenden Sonnenuntergang,/ Liebten und wurden geliebt, und nun liegen wir/Auf Flanderns Feldern.“ So heißt es in dem Gedicht „In Flanders Fields“ des kanadischen Kriegsteilnehmers John Mc Crae, dem in der englischsprachigen Welt wohl populärsten Gedicht über den Ersten Weltkrieg. Crae schrieb es am 3. Mai 1915 unter dem Eindruck eines gefallenen Freundes, vertont hat es der Amerikaner Charles Ives. Anna Prohaska wird es gleich vortragen, deren Urgroßvater, selbst ein Komponist, vor 100 Jahren im Felde stand.

Was geht uns der Erste Weltkrieg an? Er stellt uns leider noch immer aktuelle Fragen, wie es zu einer solchen Katastrophe kommen konnte. Dass die Mächte 1914, wie es der britische Premier David Lloyd George ausdrückte, in den Krieg „hineingeschlittert“ seien, ist uns als Antwort zu wenig. Schuldzuweisungen an einzelne der damaligen Akteure sind so simpel wie unzureichend. Der Erste Weltkrieg hatte komplexe Ursachen und einen konkreten Anlass. Der nationalistische und militaristische Geist in den europäischen Gesellschaften, die verfehlte Allianzpolitik der rivalisierenden Großmächte, die untereinander eher Ängste schürte als befriedete, das Wettrüstender imperialistischen Staaten: All das bildete ein explosives Gemisch. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers am 28. Juni 1914 in Sarajewo legte die Zündschnur, und es gelang nicht, sie diplomatisch zu löschen. Viele Staatsoberhäupter und ihre Regierungen agierten blauäugig oder gaben sich der verhängnisvollen Eigendynamik von Forderungen, Drohungen und Reaktionen fatalistisch hin – nicht wenige handelten hochmütig und mutwillig. Dass die Verwandten auf den europäischen Thronen, der deutsche Kaiser Wilhelm II. mit seinen Vettern, dem britischen König George V. und dem russischen Zaren Nikolaus II., die Krise auf dem Balkan weder lösen konnten, noch wirklich lösen wollten, zeigt die Bedeutung stabiler supranationaler Institutionen, die wir in Europa inzwischen haben und längst lästig finden

Die Krise, die sich im Juli 1914 zuspitzte, bleibt ein Lehrstück politisch unverantwortlichen Handelns! Statt Deeskalation anzustreben wurde der Sprung ins Ungewisse gesucht, ebenso kalkuliert wie kopflos. Dem Kaiserreich und dem deutschen Militär fällt dafür ein hohes Maß an Verantwortung zu. Der brutale Angriff auf das neutrale Belgien war völkerrechtswidrig, die Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung mit willkürlichen Hinrichtungen und Massenerschießungen ein Verbrechen. Die Zerstörungen von Städten und Kulturdenkmälern, die militärisch sinnlose, barbarische Beschießung der Kathedrale von Reims oder das Niederbrennen der Universitätsbibliothek von Löwen: sie sind beschämend und unentschuldbar.

Meine Damen und Herren,

über dem Eingangsportal dieses Hauses, des Reichstagsgebäudes, prangt die Inschrift: „Dem deutschen Volke“. Angebracht wurde sie 1916, mitten im Krieg. Spötter hatten vorgeschlagen, man solle besser „Dem deutschen Heere“ schreiben – und damit den in Staat und Gesellschaft verbreiteten Militarismus bloßgestellt.  Wilhelm II. wiederum favorisierte „Der deutschen Einigkeit“, womit er seine Distanz zum Parlament als Ort widerstreitender Meinungen und Interessen bekundete. Gegenüber dem gesellschaftlichen Pluralismus, dieser Grundtatsache moderner Staaten, forderte er nationale Geschlossenheit – und viele aus der Geisteselite taten es ihm gleich. Wilhelm II., der keine Parteien, sondern nur noch Deutsche kennen wollte, schloss am 4. August 1914 hier im Reichstag den sogenannten „Burgfrieden“ mit dem Parlament. Bei nur zwei Enthaltungen stimmten die Abgeordneten für die Kriegskredite. Der Mobilisierung zum Krieg folgte der „innenpolitische Waffenstillstand“. Die Abgeordneten übertrugen gemeinsam zentrale Kompetenzen an die Exekutive für kriegsnotwendige wirtschaftliche Maßnahmen. Es war im Wortsinn ein Ermächtigungsgesetz: die verhängnisvolle Entmündigung des Parlaments, die später das Muster zur Selbstabdankung der Weimarer Demokratie abgeben sollte.

Krisen sind Stunden der Exekutive, Kriege Zeiten des Militärs. Und die Parlamente? Sie haben im Ausnahmezustand einen schweren Stand. Das galt 1914 sogar für die Staaten, in denen der Parlamentarismus längst etabliert war. Auch in Frankreich und in Großbritannien wurde heftig um das Primat der Politik und um die Rechte der Parlamente gerungen – am Ende übrigens erfolgreich. In Deutschland war die Ausgangslage eine andere. Das Kaiserreich kannte zwar – im Unterschied zu den meisten etablierten Demokratien – bereits das allgemeine und gleiche Wahlrecht, wohlgemerkt: für Männer!, die Parteien im Reichstag waren aber weit entfernt von der Regierungsmacht. In Deutschland dauerte es länger, bis sich ein parlamentarisches Selbstbewusstsein herausbildete. Erst spät, 1917, gewann das Parlament, das mit neuen Gremien seine Kontrollaufgaben auch während der häufigen Vertagungen wahrzunehmen suchte, die politische Initiative zurück, in den drängenden Verfassungsfragen, am deutlichsten mit der Friedensresolution vom Juli 1917. Darin bekannte sich der Reichstag mehrheitlich zum Verständigungsfrieden ohne Annexionen – letztlich erfolglos. Die durchgreifende Parlamentarisierung des Reiches gelang erst im Herbst 1918. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der bei Kriegseintritt 1917 zum Kampf für Demokratie und Freiheit aufgerufen hatte, machte diese zur Bedingung für Friedensverhandlungen; in militärisch aussichtsloser Lage hatte Deutschland den USA zuvor ein Waffenstillstandsangebot unterbreitet. Die Regierung war fortan nicht mehr vom Willen des Kaisers abhängig, sondern der Reichstagsmehrheit verantwortlich. Das war erst kurz vor der Revolution vom 9. November, die damit nicht mehr aufzuhalten war.

Die junge Republik von Weimar, die aus ihr hervorging, hatte nicht nur die Niederlage zu verarbeiten, das Militär wälzte zudem die eigene Verantwortung auf die Politik ab, die nun den Frieden schließen musste. Zur deutschen Tragödie wurde, dass die parlamentarische Demokratie in dem Moment in den Sattel gehoben wurde, als der Versailler Vertrag dem Land eine doppelte Last aufbürdete, die von den Siegern deklarierte besondere Verantwortung für den Ausbruch des Krieges und hohe Reparationen zur Wiedergutmachung – beides erwies sich als eine schwere Hypothek, die die Republik bis zu ihrem bitteren Ende nicht abtragen konnte. Das Deutsche Reich hatte freilich 1871 den Franzosen und noch 1918 den Russen im Friedensvertrag von Brest-Litowsk ähnlich gnadenlose Gebietsabtretungen und finanzielle Belastungen auferlegt.

Meine Damen und Herren,

was geht uns der Erste Weltkrieg an? Die Bundesrepublik ist der Rechtsnachfolger dieses Staates, der 1918 geächtet aus dem Krieg hervorging, der als deutsche Demokratie Teil des Völkerbundes sein wollte, dessen Weg aber, selbstverschuldet, in die Diktatur führte, in den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Wir haben sehr viel später daraus gelernt, dass militärische Maßnahmen grundsätzlich kein geeignetes Mittel politisch gewollter Veränderungen sind und wenn überhaupt nur das letzte Mittel der Konfliktbeilegung sein dürfen.

In Deutschland werden die historischen Lektionen zweier Weltkriege mit maßgeblicher deutscher Beteiligung politisch besonders deutlich durch die Verankerung unserer Armee im demokratischen Staat. Als erstes Land der Welt nahm die Bundesrepublik Kriegsdienstverweigerung als ein Grundrecht in ihre Verfassung auf. Die deutsche Öffentlichkeit debattiert seit 20 Jahren kontrovers über jede Beteiligung an einem internationalen Militäreinsatz, und anders als in den allermeisten Ländern der Welt hat über jeden bewaffneten Auslandseinsatz der Bundeswehr das Parlament das letzte Wort. Der Kernsatz des fast auf den Tag genau vor 20 Jahren verkündeten „Out of Area“-Urteils des Bundesverfassungsgerichts lautet: „Für den militärischen Einsatz von Streitkräften ist dem Grundgesetz das Prinzip eines konstitutiven Parlamentsvorbehalts zu entnehmen.“

Zu dieser besonderen Verantwortung für unsere „Parlamentsarmee“ steht der Deutsche Bundestag, auch wenn sich mit der gemeinsamen europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik neue Fragen an ihn richten. Vor 100 Jahren führte die machtbesessene Forderung nach dem „Platz an der Sonne“ in die Katastrophe. Heute nimmt Deutschland die von der Staatengemeinschaft eingeforderte und sichtbar gewachsene Rolle unseres Landes in der Welt aus Verantwortung für Frieden, Freiheit und Menschrechte zögernd und mit erkennbarer Zurückhaltung wahr, eingebunden in ein Bündnis- und Sicherheitssystem befreundeter Staaten, das wir offensichtlich weiter brauchen.

Zu Beginn dieses Gedenkjahres 2014 konnte und wollte sich kaum einer auch nur vorstellen, dass ausgerechnet unser Kontinent einen Rückfall erleiden würde in jene Zeiten, als Repression und Gewalt die freie Selbstbestimmung von Bürgern unterdrückte. Mit den Ereignissen in der Ukraine und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland wird die territoriale Integrität souveräner Staaten in Europa erstmals wieder infrage gestellt. Trotz der Entschlossenheit, völkerrechtswidrige und mutwillige Veränderungen an Europas Grenzen nicht hinzunehmen, will niemand deshalb einen Krieg, das unterscheidet die heutige Lage entscheidend von 1914. Manche alte Lektionen müssen neu vermittelt, manche neue Erfahrung nüchtern aufgearbeitet werden. Zwischen den jeweils kategorischen Ansprüchen von Frieden und Freiheit gibt es keine glatten Lösungen. Aber niemand in Europa hat eine größere Verpflichtung und Verantwortung als Deutschland, sich immer wieder um solche Lösungen zu bemühen, nachdem wir durch die Unterstützung unserer Nachbarn und Partner Jahrzehnte später beides endlich haben realisieren können.

Meine Damen und Herren,

die Lettern des Schriftzugs „Dem deutschen Volke“ wurden 1916 aus französischen Kanonen gegossen. Sie waren während der Befreiungskriege gegen Napoleon erbeutet worden. Das ist auch deswegen von Bedeutung, weil für viele Deutsche und die Franzosen der Weltkrieg ein deutsch-französischer Krieg war. Seitdem hat sich die Welt grundlegend verändert, aus Feinden wurden Freunde, enge Partner, gemeinsam sind wir Garanten für den Frieden im Zentrum eines vereinten Europa.

Die deutsch-französische Freundschaft, die wir im vergangenen Jahr in einer gemeinsamen Sitzung mit der Assemblée Nationale hier im Reichstagsgebäude gewürdigt haben, lebt auch und gerade von Initiativen aus der Zivilgesellschaft. Sie, lieber Alfred Grosser, waren einer der herausragenden Wegbereiter; für das wechselseitige Verständnis beider Nationen haben Sie persönlich viel geleistet. Sie wurden 1925 in Frankfurt am Main geboren. Ihr Vater war ein Veteran des Ersten Weltkriegs. Ausgezeichnet für seine Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse teilte er das Schicksal anderer deutscher Patrioten jüdischen Glaubens, die ihrer Heimat dienten und von den Nationalsozialisten aus ihr verstoßen wurden. Ausgerechnet Frankreich, wo Ihr Vater im Krieg stationiert war, nahm Ihre Familie 1933 auf. Warum Sie heute als Franzose unser Gast sind, darauf gibt also die Geschichte, dieses „Zeitalter der Extreme“, Antwort. Was aus Ihrer Sicht der Erste Weltkrieg für uns heute bedeutet, möchten wir von Ihnen hören. Ich danke im Namen des ganzen Hauses für Ihre Bereitschaft, gleich zu uns zu sprechen.

Was geht uns der Erste Weltkrieg an? Er war nicht der von manchem ersehnte „war against war“ – der Krieg gegen den Krieg. Ihm folgten andere, noch verlustreichere. Die Erinnerungen der Europäer an die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts werden immer dissonant bleiben, sie werden von nationalen Siegen und Niederlagen erzählen, Verantwortung und Schuld zuweisen. Der wichtigste Sinn unseres gemeinsamen Gedenkens aber bleibt die beispielhafte europäische Erfahrung, der Gewalt ein Ende gesetzt zu haben. Vor 40 Jahren, damals lebte noch die Generation der Kriegsteilnehmer und der Bundestag tagte noch in Bonn, sagte Alfred Grosser in seiner Rede zum Volkstrauertag: „Wir sind die Glücklichen, weil wir die Überlebenden sind. Nicht nur, weil wir leben, sondern weil wir durch unser Wirken Sterben und Leid verhindern können.“ Diese Worte haben Geltung bis heute, für uns Deutsche, für uns Europäer. Wir leben seit sieben Jahrzehnten in Frieden. Wir sind die Glücklichen! Daraus erwächst unsere Verantwortung!

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Rede von Prof. Dr. Norbert Lammert zur Feierstunde „65 Jahre Grundgesetz“

Guten Morgen, meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Frau Bundeskanzlerin! Herr Vizepräsident des Bundesrates! Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts! Exzellenzen! Lieber Herr Kermani! Verehrte Gäste! Wir feiern heute einen 65. Geburtstag. Das ist nichts Außergewöhnliches; denn das geschieht in Deutschland jeden Tag ‑ und in diesem Jahr geschätzt ungefähr 970 000 Mal. So viele Menschen des Jahrgangs 1949 leben nämlich bei uns.

65 ist längst kein besonderes Alter mehr ‑ für einen Menschen nicht und für Staaten ohnehin nicht. 65 Jahre sind aber bezogen auf die Geschichte der Demokratie in Deutschland durchaus ein beachtlich langer Zeitraum. Mit 65 Jahren ist das Grundgesetz inzwischen länger gültig als die Verfassung von Weimar und die Verfassung des Kaiserreichs zusammengenommen. Im Unterschied zu den beiden vorgenannten Verfassungen war es 1949 bekanntlich nur als vorläufige Lösung gedacht.

Von Provisorium ist schon lange keine Rede mehr. Das Grundgesetz ist die unangefochtene Grundlage der politischen Ordnung unseres Landes. Es gilt längst als eine der großen Verfassungen der Welt, bietet jungen Demokratien Orientierung und inspiriert andere Staaten bei der Verfassungsgebung immer wieder bis in einzelne Formulierungen hinein. Es gibt nur wenige Texte, bei denen die Diskrepanz zwischen dem bescheidenen Anspruch und der tatsächlichen Wirkung so ausgeprägt ist wie bei dieser Verfassung, die noch nicht einmal so heißen durfte.

Das Grundgesetz gehört zu den besonderen Glücksfällen der deutschen Geschichte, zu dem wir uns alle nur gratulieren können.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, ein wesentlicher Grund für das Ansehen und die hohe Akzeptanz des Grundgesetzes ist ganz gewiss die bemerkenswerte Fähigkeit zur Bewältigung auch veränderter Aufgabenstellungen und neuer Herausforderungen. Es hat sich in den vergangenen 65 Jahren den gesellschaftlichen wie den politischen Veränderungen gewachsen gezeigt ‑ auch und gerade bei der Wiedervereinigung unseres Landes vor bald 25 Jahren.

Die denkwürdige Entscheidung der ersten und einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten, damit einen existierenden Staat aufzulösen und die staatliche Einheit Deutschlands wiederherzustellen, ist ein historisch beispielloser Vorgang, der die Bindungskraft dieser Verfassung eindrucksvoll belegt.

Der Ursprungstext hat im Laufe der Jahre manche Ergänzungen erfahren. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes - Konrad Adenauer, Carlo Schmid, Theodor Heuss, Helene Wessel, um nur wenige, herausragende Persönlichkeiten des Parlamentarischen Rates zu nennen - konnten sich 1948/49 noch nicht vorstellen, dass wir einige Jahre später, nur wenige Jahre später, eine Bundeswehr brauchen und Mitglied der NATO werden würden. Noch weniger absehbar war, dass Deutschland Teil einer Europäischen Gemeinschaft werden könnte, die sich nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft versteht, sondern als eine politische Union, in der nationale Souveränitätsrechte zunehmend auf diese Gemeinschaft übertragen werden. Das eine wie das andere bedurfte der verfassungsmäßigen Legitimation.

Es gibt aber auch Anlass, selbstkritisch darüber nachzudenken, ob uns all die weiteren Änderungen und Ergänzungen der letzten Jahrzehnte in ähnlicher Weise gelungen sind wie der Verfassungstext von 1949.

(Beifall)

Das Grundgesetz hat heute nahezu den doppelten Umfang, ist damit zwar deutlich länger, aber nicht unbedingt deutlich besser geworden als der schlanke Text von 1949.

(Vereinzelt Beifall)

Dass wir inzwischen manche zweitrangige Frage in der Verfassung geregelt haben, manchmal mit erschreckender Präzision, während zum Beispiel die herausragende Frage der Grundsätze unseres Wahlsystems, dem das Parlament und - über den Bundestag - die Regierung ihre demokratische Legitimation verdanken, noch immer keinen Verfassungsrang hat, gehört zu den im wörtlichen Sinne „fragwürdigen“ Aspekten unseres Grundgesetzes.

(Beifall)

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat kürzlich eine solche Ergänzung ausdrücklich empfohlen.

Zu den glücklichen Innovationen des Grundgesetzes gehört zweifellos die Schaffung eines Bundesverfassungsgerichts, auch wenn man nicht mit jeder einzelnen Entscheidung glücklich sein muss.

(Beifall)

Das Bundesverfassungsgericht ist in der deutschen Verfassungsgeschichte beispiellos. Es erfreut sich zu Recht höchsten Ansehens im Inland wie im Ausland. Unser besonderer Respekt und Dank gilt den aktiven und ehemaligen Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts. Ich freue mich, dass ich heute Morgen eine stattliche Delegation aus Karlsruhe auf der Ehrentribüne bei uns begrüßen kann.

(Beifall)

An der besonderen Stellung des Bundesverfassungsgerichts in der politischen Architektur unseres Landes besteht kein Zweifel. Niemand will das im Übrigen ändern. Es hat entscheidend zur Machtbalance der Verfassungsorgane beigetragen. Ich schließe die Rolle, die das oberste Gericht im europäischen Einigungsprozess gespielt hat, hier ausdrücklich mit ein,

(Vereinzelt Beifall)

und schon gar die bemerkenswerten, gemeinsamen und erfolgreichen Anstrengungen zur Parlamentarisierung europäischer Entscheidungsprozesse.

Dass dabei politischer Streit gelegentlich nicht zu vermeiden ist, ist weder ungewöhnlich noch problematisch; denn das Grundgesetz selbst begründet das für unsere Demokratie durchaus produktive Spannungsverhältnis zwischen den Verfassungsorganen. Es ist dem demokratischen Verfassungsstaat systemimmanent.

Bei der Wahrnehmung des politischen Gestaltungsauftrags, den das Parlament zweifellos hat, gibt es unbestreitbar immer wieder die Versuchung des Gesetzgebers, im Regelungseifer die Grenzen der Verfassung zu strapazieren. Es gibt aber auch den gelegentlichen Ehrgeiz des Verfassungsgerichts, die geltende Verfassung durch schöpferische Auslegung weiterzuentwickeln.

(Beifall)

Natürlich ist es die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts und seine herausgehobene Funktion in unserem Verfassungsgefüge, darauf zu achten, dass niemand und keine Institution die von der Verfassung gesetzten Grenzen überschreitet. Dabei sollte sich auch das Gericht immer wieder vergewissern, ob es die ihm selbst gesetzten Grenzen seinerseits so einhält, wie es dies von anderen Institutionen verlangt.

(Beifall)

Die Versuchung, solche Grenzen auszuloten oder zu verschieben, beschränkt sich jedenfalls nicht auf Parlamente und Behörden. Diese Beobachtung lässt sich auch für das Verfassungsgericht machen und wird im Übrigen ja nicht nur in Wissenschaft, Politik und Medien diskutiert, sondern auch von amtierenden Verfassungsrichtern in Sondervoten vorgetragen, mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die Verletzung der Grenzen zwischen gesetzgeberischer Gestaltung und verfassungsrechtlicher Kontrolltätigkeit.

Es dient gewiss der Stärke wie dem Ansehen sowohl des Parlamentes wie des Verfassungsgerichtes, wenn wir uns jeweils sorgfältig um die Beachtung dieser Grenzen bemühen. Die Gewaltenteilung erträgt sicher und braucht auch neben dem wechselseitigen Respekt der Verfassungsorgane kritische und selbstkritische Bezüge. Und überfällig ist zweifellos ein Verfahren zur Wahl der Mitglieder des höchsten deutschen Gerichts, das nicht nur dem Wortlaut des Grundgesetzes Rechnung trägt, sondern auch den Mindestanforderungen genügt, die der Bundestag anderen Wahlen, zum Beispiel des Wehrbeauftragten, des Datenschutzbeauftragten und des Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes zugrunde legt.

Dass der Deutsche Bundestag gestern in geheimer Wahl mit Kanzlermehrheit den Präsidenten des Bundesrechnungshofes wählt ‑ zweifellos ein wichtiges Amt ‑ und gleichzeitig nachträglich von der Bestellung einer neuen Verfassungsrichterin erfährt, die durch einen zwölfköpfigen Richterwahlausschuss in dieses hohe Amt ‑ sicher nicht weniger wichtig ‑ befördert wird, ist beider Verfassungsorgane unwürdig.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, Deutschland ist im Jahre 65 des Grundgesetzes ein anderes Land als 1949. In den vergangenen Jahrzehnten ist Deutschland ethnisch, kulturell und religiös vielfältiger geworden. Der Bundespräsident hat dies gestern bei der Einbürgerungsfeier zu Recht hervorgehoben und gewürdigt. Heute leben hier etwa 16 Millionen Menschen mit einer persönlichen oder familiären Einwanderungsgeschichte. Das sind rund 20 Prozent der Bevölkerung, und der Anteil insbesondere unter den Jüngeren steigt kontinuierlich.

Zu den großartigen Leistungen des Grundgesetzes gehört es, diese Vielfalt zu ermöglichen. Die vom Grundgesetz garantierten Menschenrechte gelten für alle, die hier leben,

(Beifall)

seien es Deutsche oder Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und Staatsangehörigkeit, die ihre Identität als eine doppelte oder sogar mehrfache empfinden. Navid Kermani hat das einmal für sich kurz und bündig so formuliert: „Meine Heimat ist nicht Deutschland. Sie ist mehr als Deutschland.“ Was also läge näher, als zum 65. Geburtstag unserer Verfassung einen Mann einzuladen, der aus genau dieser Perspektive spricht und noch dazu mit dem Grundgesetz groß geworden ist, das er nach seinen eigenen Worten als „eine der größten Errungenschaften der deutschen Geschichte“ versteht und verteidigt?

Navid Kermani vermittelt in seinen Reden und Texten die Konturen und die Voraussetzungen eines gesellschaftlichen Konsenses, die jene kulturelle und religiöse Vielfalt braucht, die längst deutscher Alltag ist. Er lässt dabei niemals Zweifel aufkommen an der Universalität von Demokratie, Gewaltenteilung, Religionsfreiheit, weltanschaulicher Neutralität des Staates, Toleranz, Menschenrechten, also an all dem, was unser Grundgesetz als unaufgebbare Basis unseres Zusammenlebens verbindlich für alle hier lebenden Menschen definiert. Das Grundgesetz ist, so Kermani, „die deutsche Ausprägung von Werten, die in ihrem Kern nichts Deutsches haben, sondern universal sind.“

Meine Damen und Herren, der französische Historiker Ernest Renan hat einmal sinngemäß erläutert, eine Nation sei geprägt vom Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit und von dem Willen zu einer gemeinsamen Zukunft. Unser 65 Jahre altes, 65 Jahre junges Grundgesetz stiftet als unangefochtene Grundlage der politischen Verfassung unseres Landes genau das, was wir alle in Deutschland brauchen ‑ woher wir auch kommen, welchen Glauben wir auch haben, welche Sprache wir auch sprechen ‑: ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Willens zu einer gemeinsamen Zukunft.

Lieber Herr Kermani, wir sind neugierig auf Ihren Blick auf das Grundgesetz. Seien Sie uns herzlich willkommen!

(Beifall)

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Parlament

Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Dmitrij Schostakowitsch
Streichquartett Nr. 8 c-moll, op. 110
1. Satz Largo

Präsident Prof. Dr. Norbert Lammert:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Präsident des Bundesrates!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Exzellenzen!
Verehrte Gäste!

Heute vor 70 Jahren, am 27. Januar 1944, endete die Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht - nach fast 900 Tagen. Damals war das Sterben in der eingeschlossenen Stadt längst zu einer grausamen Alltäglichkeit geworden, die jeden Maßstab sprengte. Mindestens 800 000 Menschen, wahrscheinlich mehr als 1 Million, sind während der dreijährigen Blockade in Leningrad zu Tode gekommen, durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss, durch Krankheiten und Kälte - die allermeisten sind verhungert.

Ihr Tod war von den Verantwortlichen des deutschen Vernichtungskrieges im Osten einkalkuliert. Leningrad sollte nicht erobert, sondern als Wiege des sogenannten „jüdischen Bolschewismus“ vernichtet werden. Eine Anweisung an die militärische Führung vor Ort führte erläuternd aus:

Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teiles dieser großstädtischen Bevölkerung besteht in diesem Existenzkrieg unsererseits nicht.

Daniil Granin haben die Geschehnisse in dem fast vollständig von der Außenwelt abgeriegelten Leningrad persönlich und als Schriftsteller bis heute nicht losgelassen. Er selbst hat als Soldat an der Leningrader Front gekämpft. Das ganze Ausmaß der menschlichen Katastrophe hat sich jedoch auch ihm erst viele Jahre später bei der Arbeit an seinem dokumentarischen Buch über die Blockade offenbart. Ich danke Ihnen, sehr geehrter Herr Granin, dass Sie in Ihrem hohen Alter heute zu uns gekommen sind und am Tage des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag zu uns sprechen werden.

(Beifall)

Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee befreit - zufällig auf den Tag genau ein Jahr nach Ende der Leningrader Blockade. Kein Zufall ist dagegen der Zusammenhang zwischen Auschwitz und Leningrad, zwischen dem Völkermord an den europäischen Juden und dem mörderischen Raub- und Vernichtungsfeldzug im Osten Europas: Sie wurzelten in der menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenideologie.

Meine Damen und Herren, wir gedenken heute aller Menschen, denen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des von Deutschland ausgegangenen Angriffskrieges ihre Rechte, ihr Besitz, ihre Heimat, ihr Leben, ihre Würde entrissen wurden: der Juden, der Sinti und Roma, der Kranken und Menschen mit Behinderungen, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Opfer der Kindertransporte, der Kriegsgefangenen, der zu „Untermenschen“ degradierten slawischen Völker - all jener, die in Auschwitz, Treblinka, Belzec und in den anderen Vernichtungslagern ermordet wurden, die erschossen, vergast, erschlagen, verbrannt, durch Zwangsarbeit vernichtet wurden, die verhungert sind. Wir gedenken auch jener, die verfolgt, drangsaliert, getötet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder weil sie anderen Schutz und Hilfe gewährten. Allen heute hier im Bundestag anwesenden Zeitzeugen gilt unser besonderer Gruß und Respekt.

Wir wissen um die Abermillionen Toten. Ihnen sind wir es schuldig, uns jenseits der ebenso unglaublichen wie abstrakten Zahlen bewusst zu machen, dass damals - um mit der russischen Schriftstellerin und Blockadeüberlebenden Lidia Ginsburg zu sprechen - „millionenfach ein Mensch“ zugrunde gegangen ist.

Wir wissen auch um die Täter. „Auch-Menschen“ hat sie der jüdisch-sowjetische Kriegsreporter Wassili Grossmann in seinem Augenzeugenbericht über Treblinka genannt. Und bis heute treibt uns - trotz allen Wissens um die historischen Zusammenhänge, trotz mancher klugen Analysen - die Frage um: Wie ist eine solche Entmenschlichung möglich geworden?

Mit dem Angriff auf die Sowjetunion erreichte die nationalsozialistische Vernichtungspolitik eine neue Dimension: In den besetzten sowjetischen Gebieten nahm der umfassende systematische Massenmord seinen Lauf. Mit dem völkerrechtswidrigen sogenannten „Barbarossa-Erlass“ hatte Hitler auch Zivilisten praktisch für vogelfrei erklärt; sie wurden als vorgebliche oder tatsächliche Partisanen und im Zuge von sogenannten „Vergeltungsmaßnahmen“ getötet.

Von den fast 3 Millionen osteuropäischen Juden, die mit dem Krieg gegen die Sowjetunion unter deutsche Herrschaft kamen, hat nur ein Bruchteil überlebt. Ein großer Teil dieser Opfer des Holocaust war bereits vernichtet, vornehmlich durch Erschießen, als im Verlauf des Jahres 1942 die fabrikmäßige Ermordung in den Vernichtungslagern anlief. Der Treibstoff für die Tötungsmaschinerie in Auschwitz, das Giftgas Zyklon B, war vorab an sowjetischen Kriegsgefangenen - man muss es so sagen - getestet worden.

Der rassenideologische Raub- und Vernichtungskrieg, dessen erklärter Zweck die „Dezimierung der slawischen Bevölkerung um 30 Millionen“ war, bediente sich einer weiteren Waffe: des Hungers. Sie erwies sich dort am brutalsten, wo es kein Entkommen gab: im eingeschlossenen Leningrad und in den Kriegsgefangenenlagern. Mehr als die Hälfte aller sowjetischen Kriegsgefangenen, über 3 Millionen Menschen, sind in deutschem Gewahrsam elendig zugrunde gegangen.

Die menschlichen Tragödien, die sich in der belagerten Millionenmetropole abspielten, sind uns heute völlig unvorstellbar. Lange Zeit waren sie, zumindest im Westen Deutschlands, auch wenig bekannt. Die Erinnerung an den Russlandfeldzug war in der jungen Bundesrepublik von der Tragödie bei Stalingrad in ihrer besonderen deutschen Wahrnehmung dominiert; die Belagerung Leningrads und die dem Hunger preisgegebenen Zivilisten fanden im Mythos einer vermeintlich „sauberen Wehrmacht“ keinen Platz. In der DDR, die den Antifaschismus zur Staatsdoktrin erhoben hatte, war hingegen die sowjetische Sichtweise prägend: Die Blockade Leningrads demonstrierte demnach die herausragende Opferbereitschaft seiner Einwohner und galt als Symbol für den heldenhaften sowjetischen Sieg gegen den Faschismus. Die leidvolle Wirklichkeit des Lebens in der abgeriegelten, hungernden Metropole im brutalen Kampf zwischen zwei totalitären Regimen stand auch hier nicht im Vordergrund.

Unter den Eingeschlossenen war - bis zu seiner Evakuierung - der schon damals weltberühmte Komponist Dmitrij Schostakowitsch, der später mit Blick auf seine musikalischen Werke einmal von „Grabdenkmälern“ gesprochen hat. Für sein Streichquartett Nr. 8, das uns durch diese Gedenkstunde begleitet, gilt das insbesondere. Unter dem Eindruck des zerstörten Dresden geschrieben und offiziell den Opfern des Faschismus und des Krieges zum Gedenken gewidmet, reflektiert dieses wohl persönlichste Werk Schostakowitschs auch das eigene Erleben von Verfolgung, Krieg, Drangsalierung - die eigene von Tragik und Widersprüchen geprägte Geschichte eines russischen Künstlers, dessen Leidenszeit mit dem siegreichen „Großen Vaterländischen Krieg“ keineswegs beendet war.

Meine Damen und Herren, es gehört zu den großen Verdiensten Daniil Granins und seines Schriftstellerkollegen Ales Adamowitsch, dass sie den Bewohnern des belagerten Leningrad jenseits der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung eine Stimme gegeben haben. Ihr zweibändiges Blockadebuch konnte Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre nur zensiert erscheinen, zu viel zeigte es von den menschlichen Abgründen in diesen 900 Tagen, über die das sowjetische Regime Schweigen bewahren wollte. In den gesammelten Erzählungen und Tagebüchern offenbart sich, was der Hunger den Menschen antut: die körperlichen und seelischen Qualen, die zerstörten Beziehungen, die Grausamkeit, der Verlust der Menschlichkeit. Es zeigt aber auch, wie Menschen selbst in größter existenzieller Not darum kämpfen, ihre Hoffnung und ihre Würde zu bewahren.

Sehr geehrter Herr Granin, Sie haben es damals ausdrücklich als eine Pflicht verstanden, für die Nachgeborenen aufzuzeichnen, was tatsächlich gewesen ist, und die junge Generation mittelbar zu Zeugen zu machen - eine Aufgabe, die sich heute nicht weniger stellt und die zu erfüllen mit jedem Jahr schwieriger wird.

Umso mehr freue ich mich, dass wieder 80 junge Menschen derEinladung des Deutschen Bundestages zu einer internationalen Jugendbegegnung gefolgt sind und sich gemeinsam mit einem der dunkelsten Kapitel in der europäischen Geschichte auseinandergesetzt haben. Sie haben in den vergangenen Tagen Orte des Gedenkens in Sankt Petersburg besucht, mit Wissenschaftlern und Zeitzeugen diskutiert, sich ein Bild vom Schicksal jüdischer Einwohner, von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen, von Behinderten und psychisch Kranken in der besetzten Sowjetunion gemacht, stalinistische Repressionen während der Leningrader Blockade und den Umgang mit der Erinnerung an diese fast 900 Tage thematisiert. Seien Sie hier im Deutschen Bundestag herzlich willkommen!

(Beifall)

Wenn heute junge Deutsche mit jungen Russen, Belarussen und Ukrainern, mit Polen, Franzosen, Israelis und jungen Menschen aus anderen Ländern zusammenkommen, um zu erfahren, zu verstehen und zu erinnern, steht dahinter auch die Hoffnung, dass über die jeweils unterschiedliche nationale Erinnerung hinweg Brücken im Sinne eines gemeinsamen Gedächtnisses geschlagen werden können.

Ein Vierteljahrhundert nach der friedlichen Revolution in der DDR und dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen in Ost- und Mitteleuropa, der den Weg zu einer „Gesamt“-Europäischen Union bereitete, 75 Jahre nach dem deutschen Angriff auf Polen und ein Jahrhundert nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges, dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, stellt sich die Frage: Kann es eine europäische Erzählung vom blutigsten Jahrhundert in der europäischen Geschichte geben, eine miteinander geteilte Erinnerung, die unterschiedliche Erfahrungen nicht relativiert, nicht nivelliert, die Verantwortung nicht verdrängt, die keine wechselseitigen Rechnungen aufmacht, weil diese weder dem Leid der einzelnen Opfer noch der Schuld der Täter gerecht werden können?

Die Verantwortung, die wir Deutsche tragen, bleibt: Unsere Geschichte trägt uns eine besondere Verpflichtung auf, gegen jede Form von Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit, gegen Heilsversprechen und kollektive Schuldzuweisungen vorzugehen. Nie wieder dürfen Staat und Gesellschaft zulassen, dass Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer politischen Einstellung, ihrer sexuellen Orientierung, wegen ihrer Andersartigkeitzum Feindbild einer schweigenden Mehrheit gemacht, verachtet, gedemütigt oder bedroht werden.

(Beifall)

Die von Fremdenhass getriebenen Morde an Bürgern türkischer und griechischer Herkunft, von rassistischen Parolen begleitete Proteste gegen Flüchtlingsheime, jede antisemitische Straftat - jede! -

(Beifall)

fordern unsere rechtsstaatliche, politische und zivilgesellschaftliche Gegenwehr als Demokraten heraus.

(Beifall)

In Deutschland jedenfalls ist Intoleranz nicht mehr tolerierbar.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, die Geschichte lehrt uns die Unbedingtheit der Würde des Menschen - jedes einzelnen Menschen - und das Wissen um ihre Gefährdung. Völkermord bleibt möglich: in Afrika, wie in Ruanda vor 20 Jahren, wo Hunderttausende Menschen, geschätzte drei Viertel der ethnischen Minderheit der Tutsi, ermordet wurden, und auch in Europa, wie wir seit Srebrenica wissen. Im Bewusstsein zu halten, dass die Menschheit ihre größten Verirrungen und Verbrechen keineswegs ein für allemal hinter sich hat, bleibt unsere gemeinsame Verantwortung.

Sehr geehrter Herr Granin, Sie haben in Bezug auf die Deutschen von sich einmal gesagt, dass Sie „vom Hass zum Verständnis und zur Freundschaft“ einen langen Weg zurückgelegt haben, der Sie weit mehr Jahre gekostet habe als der Krieg. Ich bin dankbar, dass Sie diesen Weg auf sich genommen haben und heute bei uns sind. Und ich danke allen, die diese Gedenkstunde hier im Plenarsaal oder an den Bildschirmen verfolgen.

(Beifall)

Dmitrij Schostakowitsch
Streichquartett Nr. 8 c-moll, op. 110
2. Satz Allegro

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