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35. Sitzung – Öffentliche Anhörung zu dem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP „Mahnmal für die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Zeugen Jehovas“, BT-Drucksache 20/6710

Zeit: Montag, 22. Mai 2023, 11 Uhr
Ort: Berlin, Jakob-Kaiser-Haus, Sitzungssaal 1.302

Die Historiker Wolfgang Benz, Detlef Garbe, Tim Müller und Uwe Neumärker halten die geplante Errichtung eines Mahnmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Zeugen Jehovas für „überfällig“. Dies betonten die vier Wissenschaftler als Sachverständige in einer öffentlichen Anhörung des Kulturausschusses am Montag, 22. Mai 2023, zu dem von den Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gemeinsam vorgelegten Antrag (20/6710) für ein solches Mahnmal im Berliner Tiergarten.

Widerstand gegen Nationalsozialismus

Wolfgang Benz und Detlef Garbe wiesen darauf hin, dass die Zeugen Jehovas als einzige religiöse Gemeinschaft geschlossen Widerstand gegen Nationalsozialismus geleistet hätten. Die rund 25.000 Zeugen Jehovas im Deutschen Reich hätten den sogenannten „Hitlergruß“, den Eid auf Adolf Hitler, den Wehrdienst und jegliche Beschäftigung in der Rüstungsindustrie konsequent verweigert, führte Benz an. Die Glaubensgemeinschaft sei bereits 1933 verboten worden und ab 1934 sei es zu einer großen Zahl von Inhaftierungen in Konzentrationslagern gekommen, sagte Garbe. Im KZ seien die Zeugen Jehovas mit einem „lila Winkel“ gekennzeichnet worden. „Im Gegensatz zur Mehrheit der Christen haben sie nicht weggeschaut“ angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen gegenüber den Juden und anderen verfolgten Gruppen, betonte Benz. Die Nationalsozialisten hätten die Glaubensgemeinschaft „unter dem Beifall katholischer und protestantischer Kirchenfürsten“ als Helfer des Kommunismus diffamiert.

Garbe betonte, dass die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nachkriegsdeutschland lange Zeit verdrängt worden und unerforscht geblieben sei. In Westdeutschland seien Entschädigungszahlungen für die Verfolgungen aufgrund des verweigerten Wehrdienstes vom Bundesgerichtshof abgelehnt worden mit der Begründung, dass die Wehrdienstverweigerung kein widerständiges Verhalten dargestellt habe. In DDR sei den Zeugen Jehovas der Status als Verfolgte des Faschismus aberkannt worden und 1950 seien sie erneut verboten worden. Bis heute sei der Blick der Mehrheitsgesellschaft auf die Zeugen Jehovas von Vorurteilen geprägt, sagte Garbe.

Widerstand aus antitotalitärer christlicher Ethik

Tim Müller, Vorstandsmitglied der Arnold-Liebster-Stiftung, wies darauf hin, dass den Zeugen Jehovas aus verschiedenen Widerstandsgruppen während des Nationalsozialismus viel Bewunderung entgegen gebracht worden sei. Ihre selbstlose Hilfe innerhalb und außerhalb der Konzentrationslager für andere Opfergruppen ginge aus vielen zeitgenössischen Dokumenten hervor.

Der Widerstand der Zeugen Jehovas sei nicht aus politischen Gründen erfolgt, sondern aus einer „antitotalitären christlichen Ethik“ heraus „mit Mut und Menschlichkeit“, sagte Müller. Die Errichtung eines zentralen Mahnmals in Berlin sollte nicht nur als „spät angenommene Pflicht, sondern als Ehre für den deutschen Staat“ verstanden werden.

„Verantwortung für alle Opfer des Nationalsozialismus“

Der Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Uwe Neumärker, bezeichnete die Errichtung eines Mahnmals für die verfolgten Zeugen Jehovas als „überfällig“. Auch wenn der Holocaust, die Ermordung von sechs Millionen Juden ein Alleinstellungsmerkmal unter den deutschen Massenverbrechen im besetzten Europa besitze, so übernehme Deutschland die moralische Verantwortung für alle Opfer des Nationalsozialismus. Aus diesem Grund ehre der Bundestag sie alle am 27. Januar eines jeden Jahres in einer Gedenkveranstaltung und habe die Bundesrepublik in ihrer Hauptstadt nationale Denkmäler auch für die verfolgten Homosexuellen, die ermordeten Sinti und Roma sowie die Opfer der „Euthanasie“-Morde errichtet.

Wolfgang Benz verwies darauf, dass es sich beim vorgesehenen Ort für das Mahnmal im Berliner Tiergarten nahe des Goldfischteichs um einen historisch authentischen Ort handelt. Der Goldfischteich sei ein Ort des Widerstands gegen das NS-Regime gewesen. Dort habe Ernst Varduhn, bei den Zeugen Jehovas in leitender Position engagiert, eine Stuhlvermittlung betrieben. Sein Gewerbe habe als zentraler Treffpunkt gedient, an dem Flugschriften gegen den Nationalsozialismus an Kuriere übergeben worden seien, führte Benz aus. Im Sommer 1936 sei Varduhn festgenommen und inhaftiert worden.

Mahnmal im Berliner Tiergarten

Nach dem Willen der vier Fraktionen soll sich die Bundesregierung unter Berücksichtigung der bereits bestehenden Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen für ein Denkmal für die verfolgten und ermordeten Zeugen Jehovas in Europa am historischen Ort im Berliner Tiergarten einsetzen und über die Verfolgung dieser Opfergruppe informieren.

Das Mahnmal soll aus einer Gedenkskulptur und Informationstafeln bestehen. Die Realisierung des Mahnmals soll in Abstimmung mit dem Land Berlin erfolgen, mit der Planung und Umsetzung soll die Bundesstiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas beauftragt werden. Darüber hinaus soll die Bundesregierung Maßnahmen ergreifen, um Defizite in der Aufarbeitung der Geschichte, der öffentlichen Anerkennung und der wissenschaftlichen Erforschung der verfolgten und ermordeten Zeugen Jehovas in Europa zu beseitigen. (aw/22.05.2023)

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