Europapolitik Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit
Was haben Erzieherinnen, Verkäuferinnen, Busfahrer, Müllmänner und Pfleger in Krankenhäusern gemeinsam? Sie sind systemrelevant, werden aber nicht adäquat bezahlt. Das ist aus Sicht von Klára Dobrev, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, eine Erkenntnis aus der Covid-19-Krise. „Diese Menschen tragen die größte Last in der Pandemie, arbeiten oft rund um die Uhr, ohne dass dies von der Gesellschaft bemerkt wird.“ Getreu dem Motto: jede Krise birgt auch eine Chance in sich, forderte Dobrev während der Konferenz der Vorsitzenden der für Arbeit, Soziales, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zuständigen Ausschüsse der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments am Montag, 9. November 2020: Es sollte überdacht werden, welche Arbeit für die Gesellschaft wirklich wichtig ist. Dann gelte es zu überprüfen, ob diese Arbeit auch angemessen geschätzt, soll heißen bezahlt werden. Aktuell sei das nicht der Fall, so die EP-Vizepräsidentin während der vom SPD-Abgeordneten Dr. Matthias Bartke, Vorsitzender des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages, moderierten ersten Session der Konferenz.
Dobrev: Haben uns nicht genug um die Menschen gekümmert
Ein schonungsloses Fazit aus sozialpolitischer Sicht zog Dobrev auch hinsichtlich der Bewältigung der Finanzkrise 2008/2009. „Wir haben uns nicht genug um die Menschen gekümmert, die am stärksten von der Krise betroffen waren und es am meisten benötigt hätten.“ Banken seien gerettet worden – ebenso wie der europäische Wirtschaftsraum. Doch während das Bruttosozialprodukt in Europa nach der Krise stetig angestiegen sei, sei auch die Armut in Europa gewachsen, hätten sich die Unterschiede zwischen Arm und Reich verstärkt. Dem gelte es nun entgegenzuwirken. Ein starkes, wettbewerbsfähiges Europa bedeute auch „starke wettbewerbsfähige Menschen, also kluge und gesunde Menschen, die genug verdienen, um ein ordentliches Leben zu führen“. Daher müssten die sozialen Belange gestärkt werden, es brauche mehr Investitionen in Bildungs- und Gesundheitssysteme, sagte Dobrev, die ausdrücklich den Vorschlag der Europäischen Kommission für einen europäischen Mindestlohn begrüßte.
EU-Kommission plant keinen einheitlichen Mindestlohn
Eine einheitliche EU-weite Höhe des Mindestlohns ist gleichwohl nicht vorgesehen, wie Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, erläuterte. „Wir wollen keine Vereinheitlichung“, sagte er. Dies sei unrealistisch und daher auch kein Ziel der Kommission, die den Subsidiaritätsgedanken und damit auch die Verantwortung der nationalen Parlamente in dieser Frage ganz klar anerkenne. In Rede stand zuletzt immer wieder ein Indikator von beispielsweise 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns in den jeweiligen Mitgliedsstaaten. Ziel der EU-Kommission sei es auch, das Instrument der Tarifverhandlung zu stärken.
Der EU-Kommissar rief dazu auf, die mit der Covid-19-Krise verbundenen Chancen zum Wiederaufbau der Sozialsysteme in Europa nicht zu verpassen. Niemand dürfe zurückgelassen werden, betonte Schmit. Die Krise habe zudem gezeigt, wie bedeutend funktionierende Gesundheitssysteme für eine funktionierende Wirtschaft sind.
Scheele: Gute Erfahrungen mit dem Mindestlohn in Deutschland
Eventuell vorhandene Ängste vor Mindestlöhnen versuchte der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele, den Abgeordneten zu nehmen. „Deutschland hat ausgesprochen gute Erfahrungen mit seinem lange Zeit heftig umstrittenen Mindestlohn gemacht“, sagte Scheele. Der Mindestlohn habe „in einer Phase des konjunkturellen Aufschwungs“ weder Arbeitsplätze gekostet noch habe er dem weiteren wirtschaftlichen Aufschwung im Wege gestanden. Vielmehr seien Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt worden. Wichtig, so der BA-Chef, sei es, Mindestlöhne „zu entpolitisieren und zu entstaatlichen“. Eine Mindestlohnkommission, wie es sie nach dem Vorbild Großbritanniens in Deutschland gebe, empfehle sich auch für andere Mitgliedstaaten, sagte Scheele.
Lücken im sozialen Sicherungssystem
Mit Blick auf die aktuelle Krisenbewältigung lobte er das Kurzarbeitergeld, das Deutschland „am Arbeitsmarkt gut und erfolgreich durch die Krise gebracht hat“. Lücken im sozialen Sicherungssystem gebe es dennoch, räumte der BA-Chef ein. Menschen, die nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt seien und nicht vom Kurzarbeitergeld profitieren könnten, seien in einer schwierigen Situation. „Selbstständige, insbesondere Solo-Selbstständige, und Kulturschaffende fallen derzeit bei uns durch fast alle Raster, da eventuelle Sonderprogramme niemals die Lebenserhaltungskosten so absichern können, wie es das Kurzarbeitergeld tut“, sagte Scheele.
Kinder aus der Armut holen
Ein Allheilmittel ist das Kurzarbeitergeld aber nicht, gaben die Abgeordneten mehrerer Parlamente während der Diskussion zu bedenken. Gelinge es nicht, die Wirtschaft zu stabilisieren, landeten all jene, die heute Kurzarbeitergeld bekommen in kurzer Zeit dennoch in der Arbeitslosigkeit. Eine deutliche Forderung richtete sich darauf, Kinder aus der Armut zu holen. Ein Beitrag dazu könne ein europäisches Kinderkostengeld sein.
Plädoyer für mehr Digitalisierung
Unterschiedliche Auffassungen gab es darüber, ob und wie die EU-Kommission einen einheitlichen Mindestlohn vorgeben sollte, um Wettbewerbsungleichheiten zu vermeiden. Diskutiert wurde dabei, ob die Mitgliedstaaten den Mindestlohn an ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausrichten sollten, um die eigenen Unternehmen nicht zu überfordern. Ein klares Plädoyer von allen Diskussionsteilnehmenden gab es für mehr Digitalisierung, Umschulungsmöglichkeiten für Arbeitnehmer und das Recht auf Lebenslanges Lernen.
Bartke: Europa hat in der Krise Charakter gezeigt
Dr. Matthias Bartke sagte zum Abschluss des ersten Teils der Konferenz, Europa habe in der Krise Charakter gezeigt. Der soziale Zusammenhalt sei gestärkt, gleichzeitig aber habe die Krise wie ein Brennglas für schon vorher vorhandene Probleme gewirkt. Die EU stehe derzeit vor riesigen Herausforderungen, so Bartke. „Ich würde mir wünschen, dass die heutige Konferenz Auftakt für weitere regelmäßige Formen des Austausches zwischen uns Parlamentariern zu diesen Themen ist“, sagte er. Die Zusammenarbeit bei der Beschäftigungs- und Sozialpolitik in der EU müsse die Parlamente der Mitgliedstaaten, die auf diesem Feld ihre zentralen Kompetenzen beibehalten, immer einschließen.
Regelung der Sorgfaltspflichten entlang der Lieferketten
Die Zeit der Freiwilligkeit ist vorbei. Zumindest wenn es um die Sorgfalts- und Rechenschaftspflichten europäischer Unternehmen entlang globaler Lieferketten geht. Das ist die Erkenntnis des zweiten Teils der Konferenz der Vorsitzenden der für Arbeit, Soziales, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zuständigen Ausschüsse der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments am Montag, 9. November 2020.
Gesetzliche Regelungen müssen her – das scheint klar. Weniger klar hingegen ist, ob diese auf nationalstaatlicher oder auf EU-Ebene angesiedelt sein sollten. Auch stellt sich die Frage, für welche Unternehmen die Regelungen gelten sollten und wie weit die Verantwortung der Unternehmen geht? Tatsächlich bis ins letzte Glied der Lieferkette? Auf einige dieser Fragen gab es während der von Uwe Kekeritz (Bündnis 90/Die Grünen), stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Deutschen Bundestag, moderierten Diskussion Antworten – andere Fragen sind derzeit noch ungeklärt.
Kekeritz: Politik muss Rahmen setzen, der für alle gilt
„Wir alle stehen in der Verantwortung, für faire Arbeitsbedingungen und den Schutz der Umwelt zu sorgen“, sagte Kekeritz zu Beginn der Veranstaltung. Aktuell würden aber europäische Unternehmen ihre Sorgfaltspflichten bei den Lieferketten nicht ausreichend beachten. Auch der Blick auf deutsche Unternehmen sei „sehr ernüchternd“. Für Unternehmen, die ihre Verantwortung ernst nehmen, sei dies „mehr als ärgerlich“. Daher müsse die Politik einen Rahmen setzen, der für alle gilt. Die zentrale Frage sei also nicht mehr, „ob es ein Lieferkettengesetz gibt, sondern wie es ausgestaltet werden muss“, sagte der Grünen-Politiker.
Kekeritz stellte die Frage nach der Verortung der Gesetzgebung – auf nationaler Ebene oder auf EU-Ebene - und ließ klare Präferenzen für nationalstaatliche Regelungen erkennen. Als Bundestagsabgeordneter, so Kekeritz, habe er nur zu oft erlebt, dass Probleme ausgesessen statt angegangen werden, mit dem Verwies darauf, es brauche eine europäische Lösung.
EU-Justizkommissar Reynders kündigt Initiative für 2021 an
Eine solche sei in Arbeit, sagte EU-Justizkommissar Didier Reynders, der eine Initiative zu Sorgfaltspflichten für Unternehmen in der EU entlang ihrer Lieferketten für das zweite Quartal 2021 angekündigt hat. Kein Problem hat der EU-Kommissar damit, dass in einzelnen Mitgliedstaaten oder einzelnen wirtschaftlichen Sektoren weitergehende Maßnahmen beschlossen werden. „Warum nicht?“, sagte Reynders auf entsprechende Nachfragen.
Lara Wolters, Mitglied im Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments und dort Berichterstatterin zum Thema Sorgfaltspflicht und Rechenschaftspflicht von Unternehmen, sieht auf europäischer Ebene viel Bewegung bei dem Thema. Man sei einer Lösung näher als das beispielsweise in Deutschland der Fall sei, schätzte sie ein. Gleichwohl stießen auch die Bemühungen von Reynders und ihr auf Widerstände – besonders bei den Unternehmen, die einerseits ein Interesse an klaren Regelungen hätten, anderseits aber auch Ängste vor den Haftungsfolgen. Dennoch: „Wir stehen auf europäischer Ebene gut da“, befand sie.
Wolters: Nicht länger hinter Entschuldigungen verstecken
Wolters stimmt der Einschätzung des Diskussionsleiters Kekeritz zu, dass der Verweis auf die europäische oder gar internationale Relevanz häufig als Vorwand genutzt wird, nationale Maßnahmen nicht zu ergreifen. „Dafür ist jetzt aber nicht die Zeit“, sagte Wolters. „Wir können von der augenblicklichen Dynamik profitieren und dürfen uns nicht länger hinter Entschuldigungen und Vorwänden verstecken.“ Klar ist für sie, dass Sorgfaltspflichten der Unternehmen nicht optional, sondern verpflichtend sein müssen.
EU-Justizkommissar Reynders teilte die Einschätzung der Europaparlamentarierin, dass die Zeit günstig sei, um zu Lösungen zu gelangen. „Wir haben derzeit für das Vorhaben mehr Unterstützung als vor der Pandemie – auch von den Unternehmen, die gleiche Wettbewerbsbedingungen fordern“, sagte Reynders. Die Regelung für mehr Sorgfaltspflichten, seien nicht gegen die Unternehmen gerichtet, betonte er. Vielmehr seien sie in deren Interesse, weil sie dadurch resilienter würden.
Niederfranke: Europäische Regelung hätte größere Wucht
Wie steht Dr. Annette Niederfranke, Direktorin der Vertretung der Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) in Deutschland, zu der Frage: Europäische Richtlinie oder nationale Gesetze? Die Wucht einer europäischen Regelung wäre größer, sagte Niederfranke. Damit sei auch die Hoffnung begründet, dass in den Nationalstaaten mehr passiert - „nicht nur in Deutschland und Frankreich“. Und dennoch: Deutschland, so sagte sie, habe einen Prozess verabredet. Erst wollte man über die Freiwilligkeit gehen – falls das nicht geht, sollte per Gesetz reguliert werden.
Allgemein sei aber zu sagen, dass der Versuch des Reinregulierens in Unternehmen auf Widersprüche stoße, „zwischen Interessen der Arbeitgeber, der Gewerkschaften und den Staaten“. Deutschland, so Niederfranke, befinde sich genau in diesem Aushandlungsprozess. Da gehe es um eventuelle Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen, falls andere Staaten nicht mitziehen. Diese Debatten würden aber in allen Ländern zu dem Thema geführt. „Deshalb ist der soziale Dialog so wichtig.“
Wie weit geht die unternehmerische Verantwortung
Eine ganz wichtige Frage ist laut Niederfranke: Wie weit geht die unternehmerische Verantwortung? Ist nur die erste Ebene der Lieferkette oder auch noch die 30. Ebene betroffen? Klar sei aus Sicht der Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten NationenILO, dass Menschenrechte, insbesondere Kinderrechte, unverhandelbare Grundrechte seien, die alle Länder einzuführen hätten und deren Umsetzung auch zu kontrollieren sei. „Wir stellen aber fest: Es ist nicht so.“ Daher sei zu hoffen, dass von einer deutschen oder europäischen Initiative ein Schub ausgehen kann, „der die Lieferkettenfrage menschenwürdiger macht“.
Die Haftungsfrage ist aber auch aus Sicht von Lara Wolters sehr wichtig. Unternehmen wollten wissen, wie weit ihre Verantwortung reiche, „ohne nachts Angst zu haben, vor Gericht gezerrt zu werden“. Bei dieser Diskussion sei es wichtig, zwischen der Pflicht zu schützen und der Pflicht zu achten zu unterscheiden. Die Pflicht der Unternehmen sei es, ihre Angestellten zu schützen, nicht etwa alle Menschen in einem Produktionsland. Wenn Unternehmen zeigen können, dass sie etwas getan haben, um entlang ihrer Lieferketten die Risiken zu minimieren, „ist doch eigentlich alles in Ordnung“, sagte die Europa-Parlamentarierin. Gebe es jedoch Jahr für Jahr Probleme, ohne dass die Unternehmen dagegen etwas tun, sei dies eine andere Situation.
Selbstverpflichtungen reichen nicht aus
Nicht nur die Referenten sondern auch die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, „dass Selbstverpflichtungen nicht ausreichen“, wie etwa Carolina Trautner (CSU), Bayrische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales, sagte. Unternehmen, die Menschenrechte verletzen, dürften daraus nicht auch noch einen Vorteil ziehen, betonte Trautner. Daher sei es Zeit für eine europäische Lösung. „Wenn Europa einen gemeinsamen Kurs einschlägt, profitiert die ganze Welt“, zeigte sie sich überzeugt. Anders als Trautner gab es aber auch Stimmen, die forderten, auf nationaler Ebene erste Schritte zu einer gesetzlichen Regulierung zu gehen.
Kekeritz: Nüscht geht voran
Uwe Kekeritz sprach am Ende von einer interessanten Diskussion. Ihn freue die Einschätzung, dass klarere Regelungen im Sinne eines Lieferkettengesetzes auch im Interesse der Unternehmen seien, weil sie dadurch krisenfester würden. Auch das klare Bekenntnis, das Menschenrechte nicht teilbar sind, freue ihn. Eines, so Kekeritz, irritiere ihn dennoch. „Alle sagen dasselbe. Alle wollen das Gleiche. Und nüscht geht voran.“ (hau/10.11.2020)