Besuch

Anke Feuchtenberger

Wahl, Kohle auf Papier, 2018

Die deutsche Comiczeichnerin Anke Feuchtenberger (geb. 1963 in Berlin, DDR) gilt als eine der renommiertesten Erfinderinnen und Zeichnerinnen von Bildgeschichten in Deutschland. Ihre Bücher sind nicht Comics im herkömmlichen Sinne, sondern auf Einzelzeichnungen beruhende Bilderzählungen, in denen sich, begleitet von kurzen Texten, dichte, oft heitere oder absurde Geschichten entfalten. Anke Feuchtenberger begann ihre freiberufliche künstlerische Arbeit 1991 mit Arbeiten wie dem Wahlplakat „Alle Frauen sind mutig! stark! schön!“ für den Unabhängigen Frauenverband zur ersten gemeinsamen deutschen Wahl und anderen Plakaten für Frauenhäuser, Notruftelefone und Frauentheater. Sie verwendet ihre unverwechselbare Bildsprache zudem für komplex erzählte Bildkompositionen wie den erst im Jahr 2017 eingeweihten Comic-Altar ,,Tracht und Bleiche„, in dem sie die Passionsgeschichte in Anlehnung an Bildprogramme aus dem Mittelalter neu und vor allem in moderner Sprache für das Landesmuseum Westfalen-Lippe ins Bild setzte – und dabei immer wieder Frauen in den Mittelpunkt des Geschehens rückte.

Auch für die Auftragsarbeit zum 100. Jahrestag des Frauenwahlrechts bezog sich Anke Feuchtenberger auf viel ältere Motive und Sehgewohnheiten. Im Mittelpunkt ihrer Kohlezeichnung steht eine Frauengruppe verschiedenster Lebensalter: die erste ein Mädchen, die sich auf die zweite, eine alte, mit einer Kelle wasserschöpfende Frau stützt, die dritte und zentrale Gestalt gebeugt, auf ihren Schultern ein Baby, in den Armen ein kleines Mädchen haltend, das den von der Mutter gehaltenen Kinderwagen von sich stößt, so dass er ins Meer, das die drei umgibt, zu fallen droht.

Anke Feuchtenberger knüpft damit an mehrere in der Kunstgeschichte tradierte mythologische Erzählungen an und nutzt deren Ikonografie, um ihren persönlichen Zugang zum Thema auszudrücken: Frauengestalten wie diese sind als Allegorie auf die Lebensalter bekannt, in denen sich der Kreislauf des Lebens zwischen Geburt und Tod manifestiert. Sie erinnern aber auch an Anna Selbdritt – eine seit dem achten Jahrhundert verwendete Bildmetapher für Anna, die Mutter der heiligen Maria, und Maria, die ihrerseits den Jesusknaben auf dem Arm trägt und damit als Gottesmutter und Himmelskönigin erkenntlich wird, und andere  Frauengestalten, die in der christlichen Passionsgeschichte eine zentrale Rolle spielen. Die weibliche Schöpfung ist auch in der dritten Assoziationsebene des Werks von Anke Feuchtenberger enthalten: Eigentlich war es ein Knabe, den Kirchenvater Augustinus mit einer Kelle am Strand traf, wo dieser versuchte, das Wasser des Meeres in ein kleines Loch zu schöpfen. Die Begegnung zwischen dem Heiligen und dem Knaben gilt als Metapher für die Vorstellungskraft des Menschen, das Göttliche begreifen und beschreiben zu können. Ging es bei Augustinus noch um die göttliche Dreifaltigkeit, also um die Dreieinigkeit von Gottvater, Sohn und Heiligem Geist, verwandelt sich die Allegorie in Feuchtenbergers Werk zu einer Allegorie für die Vorstellungskraft um die Rolle der Frau und deren Veränderbarkeit, die
durch die Bildzitate die Geschichte des Abendlandes von der frühen Neuzeit bis in unsere Tage umfasst.

Anke Feuchtenberger studierte an der Kunsthochschule Weißensee Berlin. Seit 1997 ist sie Professorin und unterrichtet Zeichnen und Graphische Erzählung an der Universität für angewandte Wissenschaften in Hamburg. Ihre Bücher wurden in die französische, englische,
italienische, finnische und chinesische Sprache übersetzt. Sie erhielt den Förderpreis des e.O. Plauen Preises (1997) und den Max-und-Moritz-Preis des Internationalen Comicsalons Erlangen.
Sie lebt und arbeitet in Hamburg und Vorpommern. (kvo)

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