Besuch

Deserteursplakette

`Sie hing dort in der Dunkelheit. Man konnte sie schwer lesen. Das war eine Bronzetafel mit einer leicht geriffelten Oberfläche. Sie bestand nur aus Text. Die Buchstaben standen vor. An den Stellen, wo das eingeschraubt war, gab es kleine, viertelkreisförmige Aussparungen. Darauf stand, dass zwei Soldaten dort ermordet worden sind von faschistischen Henkern oder Nazi-Banden, irgend so eine Beschreibung. Das war 1989 oder 1990, dass die weggekommen ist.'

'Es war eine sehr menschliche Gedenktafel für junge Soldaten. Die Tafel war optisch relativ unauffällig. Keine Verzierung, sondern nur ganz klar der Schriftzug: Zwei junge Soldaten sind von „entmenschten SS-Banditen“ erhängt worden. Sie war aus einem etwas körnigen Material. Diese Tafel vermisse ich besonders, mehr als andere Denkmäler. In der DDR hat man im Grunde genommen einem Volk untersagt, um Kriegstote zu trauern. Es gab eigentlich nur den Widerstand. Diese Tafel erinnerte an zwei ganz normale, junge Leute, die nicht wussten, wie sie in diesen Krieg hineingezogen worden sind, und die plötzlich von diesen „Banditen“ aufgehängt wurden. Gerade diese Tafel, die an junge deutsche Soldaten erinnert, die hätte man lassen sollen?

`Wenn ich die Plakette sah, fühlte ich mich an das kaputte Berlin von 1945 erinnert. Auf der Tafel war ein Text, dass hier in den letzten Kriegsstunden von SS-Leuten zwei Deserteure umgebracht worden sind. Am Text der Plakette hat mir der Ausdruck der „entmenschten SS-Banditen“ nicht gefallen. Zu stark. Allerdings war der Text unkritisch, das war so ein typischer DDR-Text aus den 50er Jahren. Später haben verschiedene Leute immer mal was aus Papier angeklebt mit einem vernünftigeren, passenderen Text, aber das ist nach ein paar Tagen weg gewesen. Wenige Tage vor der Wiedervereinigung, also vor dem 3. Oktober 1990, ist die alte bronzene Tafel abgerissen worden.'

`Es war eine dunkle Bronze, etwa 35 x 40 cm. Aufgestellt wurde sie. um 1948 und gestohlen 1990. Ein Text, der erklärte, dass es in den letzten Kriegstagen die Anweisung Hitlers gab, dass alle Leute umgebracht werden müssen, die nicht die Kriegsziele Hitlers vertreten. Dort waren zwei Artillerieleute an einem Sturmgeschütz. Die SS kam vorbei, hat die Leute erst gewaschen, ihnen neue Kleidung angezogen, hat sie rasiert, und dann haben sie sie ganz sauber aufgehängt und ihnen ein Schild um den Hals gemacht, und auf dem Schild stand: „Ich habe mein Geschütz nicht so gepflegt, wie der Führer es befohlen hatte.“ Die Tafel sollte wieder angebracht werden. Sie geben etwas auf, was auf jeden Fall dokumentiert sein sollte, zumindest durch irgendeine Gedenktafel.'

`Ich erinnere mich nicht an etwas Besonderes. Nichts. Nichts hiervon hat mich interessiert.'

'In der Dunkelheit war eine Gedenktafel. Zwei deutsche Soldaten starben hier einmal. Ich erinnere mich nicht, wann oder warum. Ich hatte selbst junge, tote deutsche Soldaten gesehen. Aber ich habe mir diese beiden nie wirklich bildlich vorgestellt, vielleicht vage, schemenhaft. Ich habe dort nie Blumen gesehen.'

Aus: Calle, Sophie: Die Entfernung, Dresden 1996 (vergriffen).