Besuch

Die Entfernung

Aus: Calle, Sophie: Die Entfernung, Dresden 1996 (vergriffen).

„Wenn ein Herrschaftssystem verfällt oder gestürzt wird, verlieren die von ihm geschaffenen Denkmäler, soweit sie der Legitimation und Festigung des Herrschaftssystems dienten, grundsätzlich ihre Existenzberechtigung.“ 
(aus: Mitteilung des Abgeordnetenhauses von Berlin, Juni 1992)
 

Nach der Wiedervereinigung trat dieser Fall für die zahlreichen Denkmäler ein, die den Kommunismus und den Personenkult in der ehemaligen DDR repräsentierten. Der Berliner Senat bildete eine unabhängige Kommission zum Umgang mit den politischen Denkmälern im ehemaligen Ost-Berlin. In einer Mitteilung dieses Gremiums werden Richtlinien für die Erhaltung, die Umgestaltung und die Entfernung dieser Denkmäler sowie für das weitere Verfahren mit ihnen aufgeführt.

Bereits 1991 wurde das Lenin-Denkmal auf dem Platz der Vereinten Nationen (ehemals Leninplatz) abgerissen.

Das Hammer & Zirkel-Emblem an dem jetzt leerstehenden Palast der Republik wurde abgenommen.

Die Lenin-Gedenktafel an der alten Bibliothek wurde entfernt.

Der Abriss des Ernst-Thälmann-Denkmals ist beschlossen, aber noch nicht vollzogen.

Die hier dokumentierte Recherche betrifft das Verschwinden einiger Denkmäler der ehemaligen DDR in Berlin:

Die Lenin-Statue vor der Russischen Botschaft

Das Lenin-Denkmal auf dem Platz der Vereinten Nationen (ehemals Leninplatz)

Die Tafel zum Gedenken an Lenins Besuch an der Bibliothek am Bebelplatz

Die beiden Kampfgruppendenkmäler an der Hohenschönhauser Straße

Das DDR-Staatswappen am Palast der Republik

Die Gedenktafel für die Ermordeten des Zweiten Weltkriegs in der Friedrichstraße

Die Ehrengarde an der Neuen Wache

Der Soldat auf dem Sowjetischen Ehrenfriedhof bei Michendorf

Die Inschrift am Eingang zum Nikolaiviertel

Die Straßenschilder an der Wilhelm-Pieck-Straße

Um diesen Vorgang zu dokumentieren, suchte ich Orte auf, von denen Symbole der DDR-Geschichte entfernt worden sind. Ich bat Passanten und Anwohner, die Gegenstände zu beschreiben, die einst diese leeren Stellen füllten. Ich fotografierte die Abwesenheit und ersetzte die fehlenden Monumente mit ihren Erinnerungen.

1) Lenin (Russische Botschaft)

`Darunter ist eine Leninbüste, so ein Meter fünfzig groß, aus Bronze. Der guckt teilnahmslos auf die Straße. Nichts Heroisches in seinem Blick, ein ganz normales Bildnis. Keine Hände. Eine Andeutung von Hemd und Jackett. Es ist lange her, dass ich ihn gesehen habe. Die Kiste ist kurz nach der ,,Wende„ drübergekommen.'

`Ich erinnere mich nicht, vielleicht war da am Anfang noch ein Stalin, der dann durch einen Lenin ersetzt wurde. Der ist genauso groß wie die Kiste. An die Geste, an die Gliedmaßen kann ich mich nicht mehr erinnern, nur an den Kopf mit dem spitzen Bart. Sein Gesichtsausdruck, der war so ausdruckslos und kalt wie alle diese Gesichter von diesen Monumentaldenkmälern. Es stellt keinen Menschen dar, sondern einen Typus, standardisiert bis insletzte, ohne individuelle Züge. Es ist sowieso schwer, sich Lenin ais Menschen vorzustellen.'

`Ein majestätischer Blick, aber nicht zu majestätisch. Ein ruhiger, erhabener Blick. Allwissend. Der bleibt da. Ich sehe eine Kiste, ich weiß aber, was drunter ist, ich kann mir auch vorstellen, wie er aussieht. Wie auf alten Fotos, irgendwie sehr ernst und weise.'

`Er wirkt wie ein Monster. Wie bestimmte Figuren in Horrorfilmen mit quadratischem Kopf, die sich durch die Stadt bewegen, oder wie konstruktivistische Büsten von Mussolini. Man kann durchaus noch so einen blockhaften Kopf auf dem Halsansatz sehen. Du konntest nicht erkennen, ob es nun ein edles Material wie Marmor ist oder nur verwaschener Putz. Im Winter war er abgedeckt, damit er nicht zerstört wurde, und auch um das politisch zu entschärfen. Ich frage mich, ob es unter der Kiste leer ist, oder ob die noch etwas versteckt.'

`Lenin ist drunter. Man konnte ihn nur durch das Gitter der Sowjetischen Botschaft sehen, ohne jemals herankommen zu können. Aus Bronze. Er schaute nach Norden. Er steht auf einem weißen Sockel. Nur Kopf und Schultern. Er guckte geradeaus mit dem nachdenklichen Gesichtsausdruck, wie man ihn kennt. Ernst und erhaben. Jenseits von Gut und Böse. Man sollte ihn nicht vergessen.'

`Das war nur eine Leninbüste, die ist jetzt wintermäßig verpackt. Er ist — wie alle Lenins — standardisiert. Diesen Auftrag hat der Künstler erfüllt, ohne persönlichen Ausdruck, wie aus der Fabrik. Auch unter der Kiste, da bin ich sicher, wird der sich nicht lockern. Der Gesichtsausdruck von Lenin müsste sich verändert haben, wenn er mitbekommen hat, was jetzt passiert.'

`Er trägt eine Kapuze, er wirkt verlegen. Auf jeden Fall sieht er etwas bedeppert aus. Da war eine Andeutung von Kleidungsstück, ein etwas lächerlicher naturalistischer Anklang. Aus Sandstein, ein helles Grau, Lenin ist ungefähr lebensgroß. Bei dem großen Lenin hätte ich wahrscheinlich selbst mitgeholfen, dass er wegkommt. Er war so typisch diktatorisch, protzig. Aber der hier hat ja fast privaten Charakter. Er fehlt mir nicht, aber ich fände es schöner, wenn er dort stehen würde. Sogar jetzt noch drehe ich immer meinen Kopf, wenn ich an dieser Fassade vorbeikomme, um zu sehen, ob er zurückgekommen ist. Er gehört zur Russischen Botschaft. Aufgestellt worden ist er bei der Einweihung des Gebäudes, Anfang der 50er Jahre, er ist der einzige Berlin-Lenin, der noch existiert. Er genießt diplomatische Immunität, kann man sagen. Aber eines Tages werden wir die Kiste wegnehmen, und er wird verschwunden sein.'

`Der guckte geradeaus, auf die Straße. Ich weiß nicht mehr, ob er aus Bronze oder aus Stein gehauen war. Ein ziemlich langweiliges Ding. Ich bin sicher, er ist noch hier, unter der Kiste. Vielleicht wollte Jelzin den Lenin nicht mehr sehen, also haben sie schnell die Kiste drüber gemacht, bevor er kam. Manchmal haben sie ihn ordentlich sauber gemacht. Dann kam die Kiste wieder drauf. Etwas ist da und ist zur gleichen Zeit nicht mehr da. Es gehört zur diplomatischen Mentalität, dass man immer den Schein wahren möchte.'

2) Lenin-Denkmal

`Ich war ein kleiner Junge, als es enthüllt wurde. Das muss so 1970-71 gewesen sein. Sie nahmen das Tuch ab, und auf einmal war er da: Lenin stand da. Doppelt so hoch wie die Straßenlaternen. Es war eine lächerliche Mischung von heroisch und populär. Der Kopf war leicht hochgereckt, und er schaute in die Ferne, in weite Sphären, sozusagen.'

`Das war eine Leninstatue, aus ukrainischem Granit gemacht, 19 Meter hoch auf einem Marmorsockel. Er trug eine Krawatte und einen langen Mantel, fasste sich ans Revers; er war der Inbegriff der sowjetischen Revolutionskunst. Es gab auf der anderen Seite der Straße eine kleine Kaufhalle, wo mein Vater damals große Kisten mit Eis gekauft hat, und Lenin schien in Richtung der Kaufhalle zu schauen, eigentlich darüber hinweg. Er hatte keinen deutlichen Gesichtsausdruck, weder ein Lächeln noch sonst etwas. Er wirkte übermenschlich. Viel später habe ich festgestellt, dass Lenin ein sehr kleiner Mann war.'

`So seine 20 Meter hatte der schon, würde ich sagen, ein Lenin in voller Lebensgröße, aus sibirischem Stein gemacht. Auf der einen Seite machte er den Eindruck eines freundlichen Onkels, nichts Bedrohliches, verbindlich. Aber andererseits habe ich nie begriffen, warum er so unnahbar war. Ich hatte immer das Gefühl, dass er mich ausschimpft.'

`Die Atmosphäre war genauso wie bei allen Denkmälern, die von Kommunisten gemacht wurden. Das Gesicht war furchtbar. Vor allem, wenn er nachts angestrahlt wurde. Verbissen.'

`Er war als freundlicher Mensch dargestellt. Wir sind mit Lenin groß geworden, der war für uns nicht anstößig. Er hatte nichts Unheimliches, trotz seiner Größe. Er hat immer so vor sich hin gebrütet, dieser ernste und weise Gesichtsausdruck. Mit der Architektur des Platzes ist die Größe ziemlich gut aufgegangen. Der hat mich ästhetisch nie negativ berührt.'

`Schön? Nein, schön war er nicht. Diese Denkmäler waren alle ziemlich schlecht, das liegt mehr oder weniger in der Natur der Sache. Wir wohnten über ihm. 11. Etage. So habe ich ihn gewöhnlich nur von hinten gesehen. Immer wenn ich von meinem Balkon aus rausschaute, war er nur im Wege. Ich hatte mich an ihn gewöhnt und musste sozusagen mit ihm leben. Der hat geguckt, wie jeder andere, der an die Macht will. Herrschsüchtig. Und das ist das Problem mit allen großen Leuten in der Politik.'

'Er war wie so eine Art Jesus, in Stein gehauen. Er guckte geradeaus, in Richtung Fernsehturm, glaube ich.'

`Er schaute nach Süden, über die Kreuzung. Der hatte diese richtig buschigen Augenbrauen. Die Augen waren offen. Ich erinnere mich nicht an ihren Ausdruck. Weil er ja nun sehr groß war, mindestens 15 Meter hoch. Viel markanter als Lenin selbst war die in Stein gehauene Fahne, die nach oben hin spitz wurde. Er stand davor, hatte seinen rechten Arm auf die Brust gelegt, und sein linker Arm war nach unten ausgestreckt, die Hand zur Faust geballt.'

`Majestätisch. 29 Meter hoch! Und außerdem noch aus Marmor gemacht. Um ihn herum waren 200 Rosen. Sogar die haben sie weggemacht... Das hat eine halbe Million von unseren Steuergeldern gekostet, und jetzt so ein Mist hier. Es ist eine furchtbare Schweinerei. Der steht doch schon immer da. Der hat doch niemandem was getan. Der konnte doch nichts dafür.'

`Mit ihm fing das ganze Elend an. Schließlich ist Lenin ja ein ausländischer Bürger. Wenn es Marx wäre, da würde man ja noch überlegen. Warum bekam ein russischer Bürger so ein großes Denkmal?'

`Ich sehe immer noch seinen Blick zum Horizont, seinen rechten Arm ausgestreckt. Starr, und dennoch war er überhaupt nicht statisch. Anders als Marx und Engels auf dem Forum. Die sind noch da, aber sie sind sehr enttäuschend, nur kleine Fische. Während Lenin auf dem Platz lebendig war, er war ein Eroberer, prachtvoll, strahlend. Lenin, der Zukunft entgegentretend.'

`Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie er aussah, aber der Typ hier, der wohnt noch hier. Die ganze Situation gibt dir das Gefühl, dass die Heimat umgebaut wird. Das Problem ist, dass nun Leute über den ganzen Bau und das Klima in der Stadt entscheiden, die vorher nicht hier gelebt haben. Es geht doch darum, dass die Wessis uns gar nichts lassen wollen.'

`Es ist nicht alles so geworden, wie der Westen vom Osten her aussah, aber es ist eine Genugtuung, dass der nicht mehr da steht. Ich fand immer, dass er keinen Bezug zu Berlin hatte. Ich hatte keine Ahnung, was es dort sollte, dieses gigantische, aufwendige Lenin-Denkmal. Ich fand nie, dass er da so dominant positioniert werden sollte.'

`Ich finde, dass er als Teil der Architektur hierhergehört. Er war schon sehr markant auf dem Platz, er nimmt das Zentrum ein, alles andere war nach seinem Maß gebaut. Die Verkehrsführung war so angelegt, dass man in einen Halbkreis um ihn herumfahren musste, egal in welche Richtung man fuhr. Ich weiß nicht mehr, ob Lenin nach den Gebäuden ringsherum gebaut wurde oder umgekehrt. Der Platz mit diesen wellenförmigen S-Häusern und dem Denkmal war schon ein Ensemble. Jetzt stimmt der Platz nicht mehr. Man hat versucht, dem Platz ein neues Gesicht zu geben, indem man Steine dort hingelegt hat, und ihn mit der Namensgebung neutraler zu gestalten, Platz der Nationen, aber er war für Lenin gestaltet, und diese Findlinge können ihn kaum ersetzen.

`Wenn ich dort vorbeikomme, fällt mir immer wieder das Loch auf. Ich war noch ein Kind, als der gebaut wurde. Ich konnte ihn aus der 21. Etage sehen. Wenn wir runtergegangen sind, haben wir gesagt: “Wir sind unterwegs zu Lenin.„ Von drinnen hatte er einen humaneren Blick, weniger kritisch als von seinen Füßen aus, wo man sich erniedrigt vorkam. Sie sind ihn einfach so losgeworden, 1991. Völlig zerstört und begraben. Er ruht in nummerierten Einzelteilen 30 km von Berlin auf einem ehemaligen Schießplatz. Ich hab' mir die Dekonstruktion im Fernsehen angeschaut. Mir wurde klar, dass er aus 15 Steinblöcken zu zwei bis vier Tonnen bestand. Der Abbau bereitete ihnen Probleme. Das dauerte etwa drei Wochen, weil es wohl logistische Probleme gegeben hat. Er hat auf seine Art Widerstand geleistet.'

`Endlich ist dieser Steinklotz verschwunden. Der Kopf wurde zuerst abgenommen. Das war eine große Genugtuung für mich. Ich habe sogar ein Gedicht mit dem Titel “Die Freude„ darüber geschrieben. Jetzt liegt er im Köpenicker Forst in einer Grube, mit Sand bedeckt. Keiner weiß so genau, wem er nun gehört. Uns jedenfalls nicht.'

`1990 war der weg, gleich nach der Wende. Stück für Stück. Er wurde mit deutscher Präzision zerlegt. Zuerst wurde er geköpft. Irgendwo, irgendwann wird er wieder aufgestellt werden. Man sollte ihn im Müggelsee versenken, so dass ihm das Wasser bis zum Hals stehen würde.'

`Ich hätte die Dinge so gelassen, wie sie sind; Lenin repräsentiert immer noch ein loyales Politikerbild. Jemand, auf den ich nicht verzichten möchte. So wie der Platz jetzt aussieht, ist er noch viel trostloser und erbärmlicher, als er aussah, als Lenin dort stand. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn vor mir, genau da, wo jetzt der Springbrunnen ist. Rotbraun, mit dem gleichen Gesichtsausdruck wie alle anderen Lenin-Büsten: kämpferisch, vorwärtsguckend. Wenn man in Deutschland einen freien Platz hat, stellt man dort entweder einen Springbrunnen oder einen Gartenzwerg auf. Wenigstens haben sie ihm die gröbste Beleidigung erspart, ihn durch Gartenzwerge zu ersetzen.'

`Ich erinnere mich nur selten an ihn. Helga, die hat da das Caf6, die hat noch so einen kleinen Lenin, der wie dieser aussieht. Sagen wir mal so: Ich hatte an und für sich kein, wie man sagen würde, persönliches Verhältnis zu ihm. Der hat mich nie interessiert, ich bin nie dahin gefahren, um mir den anzusehen. Ich habe nicht einmal ein Foto von ihm.'

3) Bibliothek (Bebelplatz)

`Mir persönlich fällt die Abwesenheit nicht auf. Wenn ich jetzt vorbeigehe, sehe ich gar nichts mehr. Ich glaube, es war eine Tafel aus einfachem Kupfer, wo drauf stand, dass Karl Marx oder Lenin, einer von beiden, hier drin studiert hat.'

`Also besonders schön fand ich sie nicht, aber sie war auch nicht geschmacklos. Das war rein formell der Hinweis, dass hier Lenin mal war. Da war kein Datum und kein Jahr. Keine Bilder drauf. Jetzt ist sie weg, und mir ist das egal.'

`Ich erinnere mich nur noch sehr schwach. Ich stelle mir vor, dass da so eine Art Reliefkopf war, mit so einer Schrift untendrunter. Die war aus Messing oder Bronze. Vom Inhalt her, ging es darum, dass hier Lenin mal studiert hat, dass er sich mal hier aufgehalten hat am Ende des vorigen Jahrhunderts. Das war alles. Vermutlich hat die jemand geklaut'

`Ich glaube, ein Bronzekopf war als Relief mit drin, eine Seitenansicht. Sie war völlig schmucklos, der Informationsgehalt kam durch die Reliefbuchstaben. Der Text war historisch, nicht übertrieben, aber pathetisch. Da stand nach meiner Erinnerung dran, dass Lenin während seiner Zeit in Berlin, Neunzehnhundertsowieso, hier in dieser Königlichen Bibliothek studiert hat. Eines Nachts, ungefähr vor einem Jahr, als niemand mehr hier war, ist das offensichtlich weggemacht worden. Es waren ja nur vier Schräubchen, mit denen es befestigt war, das ist im Handumdrehen weg gewesen.'

`Ich habe das nie angefasst, aber ich schätze, das war Schmiedeeisen, und die Buchstaben waren sozusagen erhaben. Ungefähr 45 x 70 Zentimeter groß. Da stand drauf: “Hier arbeitete Lenin im Jahr 1895.„ Also da stand nichts dran, was nicht hätte bleiben können. Es gehört zur Geschichte des Hauses, und es gibt so wenig Möglichkeiten der Erinnerung. Jetzt, wo sie weg ist, fehlt sie mir.

`Das war ein Schild, vielleicht Bronzeimitat, jedenfalls ziemlich verwittert, und da stand drauf, dass Lenin in dieser Bibliothek studiert hat. Ich habe diese Tafel immer als etwas Lächerliches empfunden. Es hat mich immer gestört, warum gleich eine Tafel außen an das Gebäude angebracht wird, wenn irgendjemand — noch dazu Lenin — dort mal ein Buch gelesen hat. Ich gehörte mit zu denen, die den Antrag gestellt hatten, die Tafel zu entfernen.'

`Die wurde nicht entfernt, die wurde gestohlen. Das war 1993 oder 1994. Die war aus grauem gemeißeltem Stein. Ich weiß nicht mehr hundertprozentig, was darauf stand. Wenn man jahrelang vorbeigegangen ist, hat man das nicht mehr gesehen. Ich glaube, es war ein Schild, das besagte, dass Lenin hier mal gelebt hat. Besonders schön war es nicht, aber es war ein Hinweis, der in Ordnung war.'

`Da war irgendeine Gedenktafel. Die war so braun, aus Metall, schlicht, ordinär fast. Kann sein, dass da Lenin dran stand, aber weil das nicht stimmte, wurde das dann entfernt. Weil dieser Bereich der Bibliothek noch gar nicht gebaut war, zu der Zeit, als Lenin sich hier in Berlin aufgehalten hat.'

`Sie sollte auch noch offiziell entfernt werden, aber davor ist sie geklaut worden. Was heißt gefallen oder nicht? Es ist ein historisches Gebäude, und Lenin war ja nicht irgendwer, warum soll man das wegmachen, aus irgendwelchen politischen Gründen? Es hätte dem Gebäude nicht geschadet, und dass die Tafel weg ist, ändert ja nichts an dem Fakt, dass er dort studiert hat.'

4) Kampftruppendenkmal

`Das Denkmal stellte eine Kampfgruppe dar. Es war ziemlich groß. Ich glaube, es waren zwei Figuren, aber man vergisst es leider so schnell.'

`Im Kopf habe ich die Dinge immer noch, und ich suche in der Landschaft nach diesen Bildern. Da war mal ein Denkmal. Eine Gruppe von vier, fünf Leuten mit Betonsockel, schätzungsweise alle so drei Meter hoch. Die Figuren waren aus Bronze. Einer von ihnen hatte seine Faust gereckt. Sie sahen wirklich nicht so aus, als hätte es ihnen Spaß gemacht. Aber außerdem hatten sie auch nicht viel zu lachen. Der Typ rechts schien Hallo zu sagen, aber er konnte keinen Dialog aufbauen, weil keiner ihn auch nur anschaute.'

`Das war ein dunkler Guss, Eisen oder so. Das war eine Dreiergruppe, drei Leute. Arbeiter und ein Kampfgruppenmann vielleicht. Einer hatte eine Hand, wie so eine Mistforke, bisschen groß geraten. Und die waren bewaffnet, wie die Kampfgruppen damals ausgestattet waren. Für mich war wichtig, dass sich das auf einem Berg befand, der aus Trümmern besteht, die aus dem zerbombten Berlin zusammengekarrt wurden. Dieses Denkmal stellt die Werktätigen dar, die ihre Errungenschaften verteidigen, und das hatte für mich einen Zusammenhang, weil dieser Krieg ja von jemand anders ausgegangen ist.'

`Die Dinger sind ziemlich spät aufgestellt worden, vielleicht 1983, und standen nicht lange da. Die waren sehr umstritten, viele Leute fanden sie hässlich. Damals hab ich das aus einem ganz anderen Gesichtspunkt gesehen, ich habe nicht gedacht, dass man zu jeder kleinen Geschichte ein Denkmal braucht. Aber wenn ich es aus dem jetzigen Kontext heraus sehe und sehe, wie mit Eigentum umgegangen wird, und dass das Kapital selber sein Eigentum mit militanter Gewalt verteidigt, dann denke ich, dass dieses Denkmal durchaus seine Berechtigung hatte, und dass auch die Aufforderung, dass die Werktätigen genauso ihre Rechte verteidigen müssen, berechtigt ist. Dass da jetzt etwas fehlt, kann man nicht sagen, aber dieses ganze Ensemble mit dieser Treppe sieht sehr öde aus, leer und tot.'

'Es ist ein Wunschtraum der Partei gewesen, dass es in dieser Form so einen Kontext gibt zwischen der jungen Generation und der Generation, die diese Kampfgruppen darstellten. Das schien sinnvoll zu sein, aus dem Arbeiteraufstand von 1953 heraus, wo sie in der Stalinallee angefangen haben, die Arbeit niederzulegen, weil sie fanden, sie waren unterbezahlt, und es schlechtes Essen gab. Da kam es auch zu Übergriffen auf volkseigene Betriebe, und da haben die Belegschaften angefangen, ihre Betriebe zu verteidigen. Aus diesem An laß sind die Betriebe, also die Belegschaften mit Waffen ausgestattet worden. Ausgelöst hat dieses Denkmal in mir ein Gefühl dafür, dass diese Art von Kampfgruppen eine berechtigte Anwesenheit hat.'

`Das war eben nicht so ein militantes Ding, es ging nur darum, darzustellen, dass Kampfgruppen ein Teil der Bevölkerung sind. Ich erinnere mich an Männer mit schönen breiten Schultern, besonders an den einen in der Mitte, der eine Mütze trug. Ob da Frauen waren, weiß ich nicht mehr, aber in den Kampfgruppen sind Frauen nicht üblich gewesen.'

'Es war eine Gruppe von Soldaten, die eine Länge von mindestens vier Metern gehabt hat. Im Frühjahr 1992 ist das abgebaut worden. Sie waren zu dritt, wie die Musketiere, aber der vierte, d'Artagnan, kam nicht rechtzeitig, um sie zu retten. Was mir auffiel, war, dass man zunächst versuchte, Seile um die ganze Figurengruppe zu legen; aber am Ende haben sie es so abgebaut, dass sie das Seil um den Kopf der mittleren Figur gehängt haben. Dabei könnte auch zum Ausdruck kommen, dass sie mit der ganzen Gruppe nicht fertig wurden und darum eine einzelne Person von ihnen angegriffen wurde. Es scheint einen übereinstimmenden Umgang mit diesen Denkmälern zu geben, sie nämlich einer Hinrichtung zu unterziehen, in diesem Fall der Hinrichtung durch den Strang. Das Verschwinden hat mich nicht weiter berührt, ich war nie in einer Kampfgruppe, ich war immer parteilos.'

`Ich habe mich geärgert, als es entfernt wurde. Die DDR-Führungsleute haben mit Sicherheit dafür gesorgt. Das Denkmal konnte sie so nicht mehr an ihre eigene Geschichte erinnern. Es passierte 1993. Es gab damals mächtig Schwierigkeiten, das Ding abzureißen, weil die Bezirke Lichtenberg und Prenzlauer Berg sich nicht entscheiden konnten. Also hat man das Ding in einer Nachtaktion abgerissen, von der Polizei still beobachtet'

`Mir fehlt das nicht. Wenn die Karl-Marx-Straße in West-Berlin nicht mehr so heißen würde — er ist immerhin eine historische Persönlichkeit gewesen — das hätte mich schon berührt. Ich könnte es nicht ertragen, wenn Marx, Engels, Lenin, solche Persönlichkeiten, die in der Weltgeschichte mal was dargestellt haben, in der Senke verschwinden würden. Aber dieses Denkmal hier berührt mich absolut überhaupt nicht. Das hatte nichts da zu suchen, in dem Park. Verloren in der Landschaft. Ganz persönlich würde ich sagen — als Kunsthistoriker darf ich's nicht sagen, aber als Privatmann würde ich sagen — war es ein sehr naives und ehrlich gesagt, ein sehr schlechtes Kunstwerk. Drei kolossale Figuren auf einer minimalen Fläche, vielleicht sollte diese Sparsamkeit des Raumes unsere Lebensbedingungen widerspiegeln. Sie hätten den Sockel aufheben sollen, als sie das Denkmal abrissen. Er könnte noch mal gebraucht werden.'

5) Relief und Kind

Wir sind da früher immer rodeln gegangen und da gab's diese sogenannte Teufelseisbahn. Da war eine Figur von einem Jungen, ein zehnjähriger Junge, dem Kampfgruppendenkmal auf der anderen Seite zugewandt In meiner Erinnerung hatte der Junge nur eine Hose an und ist am Oberkörper gar nicht bekleidet gewesen. Er wird so im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren gewesen sein. Er reichte den Soldaten auf einer Flachrelief-Wand einige nicht identifizierbare Blumen. Warum ein Kind in ihren scheußlichen Krieg verwickeln?'

'Das waren zwei Arbeiten, eigentlich. Einmal die Figur eines Jungen mit den Blumen, etwa ein Meter fünfzig groß, und dann noch eine Wand, zwei oder drei Meter hoch, die die Einordnung in die Geschichte vollzogen hat. Und dann war natürlich, wie immer, eine Taube in einer Ecke. Ich hatte eine Klassenkameradin, die dort wohnte, eine Jüdin, die dort im Krieg mit ihrer Mutter von einem Mann versteckt wurde. Und dieser Mann hat dann nach dem Krieg die Mutter umgebracht. Unter den Augen des Kindes. Das hat mich immer mehr als alles andere berührt.'

'Der Junge war eine freistehende Figur. Die Dargestellten auf dem Relief haben in eine Richtung geschaut, in die Marschrichtung, ohne ihm einen Blick zuzuwerfen. Nur ein Soldat hat den Jungen beachtet, er erwiderte seinen Blick nicht nur mit seinen Augen, sondern mit seinem ganzen Körper. Er war ein junger Pionier, der symbolisch seinen Dank an die Soldaten dafür ausdrückte, dass sie ihn schützten. Die Darstellung war sehr schematisch, eine Mischung aus Stilisierung und Naivität.'

'Da war eine Gruppe weiter unten angesiedelt, das war also treppenförmig. Vor dieser Reliefgruppe stand ein kleiner Junge mit einem Mädchen, acht oder neun Jahre alt, und Blumen in der Hand, mit freundlichem Gesichtsausdruck. Das war eine bunte Mischung von Leuten, Kampfgruppenmitgliedern, Werktätigen, auch Kindern, wie bei einer Ersten-Mai-Demonstration.'

'Es stellte uniformierte Männer dar, so zehn bis fünfzehn, fast menschengroß. Männer mit russischen Maschinengewehren. Die marschierten in einer Reihe. Sie haben das Kind schon beachtet, ihre Gesichter waren so ernst bis freundlich. Es gibt keine echten Männer mehr. Ich wohne gleich gegenüber, und dieses Denkmal hat mich immer träumen lassen.'

'Genau dreiundzwanzig Männer, dichtgedrängt, einer an dem anderen, ich wäre nicht gerne wie die Sardinen da hineingestopft. Davor war die Bushaltestelle. Ich habe meinem Sohn anhand der Helme das Zählen beigebracht, hoch bis dreiundzwanzig.'

'Das Bild, was mir immer am stärksten ins Auge fiel, war die Taube aus Bronze oben drauf, etwa fünfzig Zentimeter groß und so naiv. Wie meine Mutter eine aus Ton machen würde. Ich würde diese Gruppe ais lustig beschreiben. Ein Junge, ein paar Soldaten, die Geschichte und das Ganze führt zum Frieden. Eine sehr einfache Erklärung. Das war typisch für die DDR-Mentalität: Erst gab es die Geschichte und revolutionäre Bewegungen, dann kam die DDR und die Kampfgruppen, dann kam der Sozialismus, und der mündet in Frieden, so einfach ist das.'

'Das wurde öfter beschmiert, den Jungen hat man mehr als einmal umgeschmissen, aber er wurde immer wieder aufgerichtet. Irgendwann ist da jemand hingegangen und hat über die ganze Reliefwand Farbe drübergeschmiert, Gelb- und Grüntöne. Es wurde leuchtender, fast fröhlich. Die Farbe ist so lange draufgeblieben, bis das Denkmal abgebaut wurde, noch eine ganze Weile nach der Einheit.'

'Ich erinnere mich gar nicht mehr daran. Nicht mein Geschmack. Aber ich bin sicher, dass es irgendwo eine Taube gab. Es gibt immer eine Taube.'

6) DDR-Wappen

`Ich glaube, es war an einem Montagmorgen, in der Dämmerung. Sie haben es 'mit einer Brechstange heruntergerissen. Jetzt ist es verschwunden und damit wohl auch die Möglichkeit, sich zu erinnern. Ein Wappen war da drin. In dem Kreis waren eine Gerstenähre, ein Hammer und ein Zirkel, aus edlem Material gemacht, Kupfer glaube ich. Ich fand das ziemlich grässlich.'

`Na klar war das schön! Man konnte darin sehen, was man jetzt in der neuen Gesellschaftsform nicht mehr sieht. Wie Sie sehen, steht das sowieso leer.'

`Das war das Staatsemblem der DDR. Der Hammer symbolisierte die Arbeiterschaft, der Zirkel stand für die Intelligenz und die Gerstenähren für die Bauern. Am Schreibtisch erdachte Symbolik. Das hat mich nicht weiter interessiert'

`Hammer und Sichel. Ach nee, halt, Hammer und Zirkel in einem Lorbeerkranz. Es muss im Frühjahr 1990 entfernt worden sein. Ob es fehlt oder nicht, darüber kann man nicht streiten, es war ein Staatswappen. Es hätte ruhig dort bleiben können. Immerhin hat es auch unser Geld gekostet ... Die wollten das nicht mehr ansehen, also haben sie es einfach verschwinden lassen.'

`Es war sehr ausgewogen. Es war logisch. Es war deutsch. Wir haben es so oft gesehen, dass wir es nicht mehr in Frage stellten. Es sah ziemlich gut aus. Es hat uns nicht gestört.'

`Es war ein Schandfleck. Ein Zeichen aus der Klamottenkiste der Geschichte. Hammer, Sichel, Lorbeerkranz. Mist. Mir ist das wurscht, dass das weg ist. Die üblichen Embleme: Hammer, Sichel und ein Schriftzug, irgendwas mit Arbeit und Handwerk ... Ungefähr zwei Meter groß. Aus sehr schwerem Metall. Für mich war das bloß Dekoration. Es hat keinen tiefen Hintersinn gehabt. Wir werden da wohl etwas anderes finden müssen.'

`Wenn ich dort vorbeigehe, fehlt es mir, ich sehe diesen komischen Kranz, der als Konstruktion da hängt. Man hätte es ganz abnehmen sollen. Diese einst notwendige Halterung sieht jetzt sinnlos aus.'

`Die Lächerlichkeit wird durch die leere Halterung besonders sichtbar. Es kommt mir vor, als ob man einen alten Mann lächerlich macht, der gebrechlich ist. Was bleibt, sind diese nicht zusammengehörenden Formen: Kreis und Sechseck. Wie die Quadratur des Kreises.'

`Der leere Rahmen ist jetzt ein Verweis auf die gesamte Situation. Ich finde nicht, dass man immer alles erhalten und rekonstruieren muss. Man kann die Dinge auch einfach belassen, wie sie sind. Als Spuren. Statt nur noch Coca-Cola Reklame aufzuhängen.'

`Da ist Widerstand in diesem Loch. In meinem Kopf ist es ja noch da. Ich kann es dort sehen, wie einen Geist.'

`Da war ein Zirkel. Zirkel ziehen Kreise. Die vollkommene Form. Die Werkzeuge der Utopie sind nun verschwunden. Was bleibt, ist die Utopie, aber eine leere. Man sieht nur die Leere.'

7) Deserteurenplakette

`Sie hing dort in der Dunkelheit. Man konnte sie schwer lesen. Das war eine Bronzetafel mit einer leicht geriffelten Oberfläche. Sie bestand nur aus Text. Die Buchstaben standen vor. An den Stellen, wo das eingeschraubt war, gab es kleine, viertelkreisförmige Aussparungen. Darauf stand, dass zwei Soldaten dort ermordet worden sind von faschistischen Henkern oder Nazi-Banden, irgend so eine Beschreibung. Das war 1989 oder 1990, dass die weggekommen ist.'

'Es war eine sehr menschliche Gedenktafel für junge Soldaten. Die Tafel war optisch relativ unauffällig. Keine Verzierung, sondern nur ganz klar der Schriftzug: Zwei junge Soldaten sind von “entmenschten SS-Banditen„ erhängt worden. Sie war aus einem etwas körnigen Material. Diese Tafel vermisse ich besonders, mehr als andere Denkmäler. In der DDR hat man im Grunde genommen einem Volk untersagt, um Kriegstote zu trauern. Es gab eigentlich nur den Widerstand. Diese Tafel erinnerte an zwei ganz normale, junge Leute, die nicht wussten, wie sie in diesen Krieg hineingezogen worden sind, und die plötzlich von diesen “Banditen„ aufgehängt wurden. Gerade diese Tafel, die an junge deutsche Soldaten erinnert, die hätte man lassen sollen?

`Wenn ich die Plakette sah, fühlte ich mich an das kaputte Berlin von 1945 erinnert. Auf der Tafel war ein Text, dass hier in den letzten Kriegsstunden von SS-Leuten zwei Deserteure umgebracht worden sind. Am Text der Plakette hat mir der Ausdruck der “entmenschten SS-Banditen„ nicht gefallen. Zu stark. Allerdings war der Text unkritisch, das war so ein typischer DDR-Text aus den 50er Jahren. Später haben verschiedene Leute immer mal was aus Papier angeklebt mit einem vernünftigeren, passenderen Text, aber das ist nach ein paar Tagen weg gewesen. Wenige Tage vor der Wiedervereinigung, also vor dem 3. Oktober 1990, ist die alte bronzene Tafel abgerissen worden.'

`Es war eine dunkle Bronze, etwa 35 x 40 cm. Aufgestellt wurde sie. um 1948 und gestohlen 1990. Ein Text, der erklärte, dass es in den letzten Kriegstagen die Anweisung Hitlers gab, dass alle Leute umgebracht werden müssen, die nicht die Kriegsziele Hitlers vertreten. Dort waren zwei Artillerieleute an einem Sturmgeschütz. Die SS kam vorbei, hat die Leute erst gewaschen, ihnen neue Kleidung angezogen, hat sie rasiert, und dann haben sie sie ganz sauber aufgehängt und ihnen ein Schild um den Hals gemacht, und auf dem Schild stand: “Ich habe mein Geschütz nicht so gepflegt, wie der Führer es befohlen hatte.„ Die Tafel sollte wieder angebracht werden. Sie geben etwas auf, was auf jeden Fall dokumentiert sein sollte, zumindest durch irgendeine Gedenktafel.'

`Ich erinnere mich nicht an etwas Besonderes. Nichts. Nichts hiervon hat mich interessiert.'

'In der Dunkelheit war eine Gedenktafel. Zwei deutsche Soldaten starben hier einmal. Ich erinnere mich nicht, wann oder warum. Ich hatte selbst junge, tote deutsche Soldaten gesehen. Aber ich habe mir diese beiden nie wirklich bildlich vorgestellt, vielleicht vage, schemenhaft. Ich habe dort nie Blumen gesehen.'

8) Neue Wache

`Das war eine Ehrenwache. Besonders Kleine oder Dicke standen da nie rum. Die waren alle gesiebt nach den Parametern der Größe und der Statur und politischer Überzeugung. Da kam nicht jeder vor die Neue Wache. Das war eine Ehre, das Beste vom Besten. Die Soldaten waren ausgesucht, gleiche Größe, gleiches Alter, gutaussehende Männer. Das waren Personen, die die Deutschen in der besten Art vorgestellt haben. Es waren gut gewachsene Leute, sportlich ausgebildet, und auch ein gutes, klares Gesicht, also nicht mit langer Nase oder mit Glatze, oder mit einem kurzen Arm und einem langen. Da war alles tip-top, wie man das so erwartet vom ordentlichen Deutschen, ordentlich nicht falsch verstanden. Ich persönlich bin der Meinung, das hat mit Militarismus nichts zu tun.'

`Vorher stand hier die Ehrenwache der Nationalen Volksarmee. Steingraue Uniform, nicht das Feldgrau der deutschen Wehrmacht, das war eine grundsätzlich neue Farbe. Eine weiße Ehrenbinde mit versilbertem Schloss, einem runden. Dann eine Ehrenkordel. Der übliche Stahlhelm, der so leicht oval oben war, nicht wie der deutsche Stahlhelm. Karabiner, eine K 44, eine sowjetische Bauart.'

`Die haben sich einen Punkt gesucht im Gelände und haben draufgeguckt und haben sich nicht bewegt.'

`Das waren immer zwei mit Gewehren und einer schlingerte da rum und passte auf. Sie hatten die üblichen NVA-Uniformen an, olivfarben, nichts Außergewöhnliches, nichts Repräsentatives. Sie standen auf der zweiten Stufe — einer dort, wo man den Lichtstrahl sehen kann und der andere dort drüben, man kann noch eine schwarze Stelle sehen — eine Viertelstunde standen sie jeweils, und alle fünf Minuten haben sie in der Regel das Gewehr von einer Schulter auf die andere gewechselt. Das war nicht zeitlich begrenzt. Hier war eine bewegliche Platte, wenn der eine das Gewicht vom Körper verlagert hat, dann war es wie ein Signal, dann haben sie beide gleichzeitig gewechselt.'

`Nach einer Stunde wurden die Wachsoldaten, vom nahegelegenen Zeughaus aus, ausgetauscht. Da kam dann ein Offizier heraus mit neuen Soldaten. Er ist vorneweg marschiert und die beiden hinterher, im Stechschritt. Er hatte wie bei einer Parade einen Stock mit einer goldenen Kugel oben dran, damit hat er Bewegungen vollführt und die anderen rumkommandiert: “Abteilung halt!„ Sie antworteten mit lächerlichen Drehbewegungen und sagten: “Wache übergeben.„ Wie mechanische Puppen haben sie ihr freies Bein hochgeworfen und mit den Armen gewedelt. Sie sind dann wieder ins Wachhaus reinmarschiert.'

`Die Wachablösung war eine ziemlich preußische Exerzierangelegenheit. Da marschierten acht heraus und lösten die anderen ab. Die machten da ganz komische Tanzbewegungen. An jedem Mittwoch war ein großer Wachaufzug. Da ist die gesamte Wachkompanie aufgezogen. Normalerweise wurde dafür der Verkehr gesperrt. Zwei stiegen runter und zwei dann wieder hoch, wurden wieder eingegliedert in die Gruppe, drehten sich noch mal rum, salutierten und spazierten wieder ab.'

`Mittwochs war die große Wachablösung, und die gesamte Kompanie ist hier aufgezogen, mit einer Kapelle, das waren etwa hundert Mann bei dem ganzen Brimborium. Dafür wurde der Verkehr gesperrt. Die Musiker mussten diese üblichen absurden Bewegungen auch alle mitmachen: marschieren und dabei noch im Takt bleiben.'

`Das haben sie immer im Radio übertragen. Den guten alten Stechschritt; im Radio noch viel interessanter als in natura. So etwas können sich nur Männer ausdenken!'

`Jeden Mittwoch war hier Ehrenparade und Zapfenstreich. An diesem Tag war hier alles voll, ausländische Besucher. Es ist eine Touristenattraktion gewesen.'

`Es war sehr seriös. Das war die zentrale Gedenkstätte für die Gefallenen der Kriege. Dabei war es gar nicht nötig zu sagen, für die DDR, das Dritte Reich oder im Ersten Weltkrieg, es war für alle Toten. Das gibt es überall, es gibt eine Ehrung, Staatsempfänge finden statt, da grüßt die Armee; in Moskau, London, Kopenhagen. Tag und Nacht, das ganze Jahr durch.'

'Es war angemessen. Mir gefällt das nicht, dass die Ehrenwache nicht mehr da ist. Man kann sagen, wie man will, es wäre preußisch gewesen, übertrieben oder überzogen..., aber wenn eine Ehrung erfolgt, dann muss es exakt sein, dann muss etwas dahinterstehen. In Moskau herrscht Ordnung, es ist in Paris ordentlich und ordentlich in London. Die Armee ist überall sichtbar. Warum nicht hier? Wenn man etwas ehren will, dann gehört Disziplin dazu, man macht sich sonst lächerlich.'

`Wenn ich die stehen gesehen habe, musste ich immer an das Lied von Biermann denken: “Soldaten sehn' sich alle gleich. Lebendig und als Leich'.„ Ich bin mit meinem kleinen Sohn extra mal dorthin gegangen, um ihm diese unglaubliche Lächerlichkeit und die Unsinnigkeit dieser Rituale zu zeigen. Daher kommt wohl auch seine Abneigung gegen die Bundeswehr heute.'

`Das militärische Zeremoniell vermissen viele. Die Mehrheit spricht sich dafür aus, nicht nur Bürger aus dem Osten. Man würde sich das sicherlich mehr zu Herzen nehmen, wenn die Männer noch da wären. Da waren immer viele Zuschauer; die haben das nicht mit Skepsis betrachtet, sondern mit Anerkennung, gerade die, die selber noch im Krieg waren.'

`Man hat sich daran gewöhnt. Meiner Meinung nach kommt so etwas wieder. Wenn man Unter den Linden gegangen ist, dann hat man gewusst, hier stehen die Soldaten. Sie gehörten dazu. In der Zeit von Hitlerdeutschland hat sogar eine Wache dringestanden, neben dem Granitblock.'

`Die Ehrenwache existierte seit etwa 1957 bis zum 3. Oktober 1990. Es war immer so eine Geschichte, die man seinem Onkel und der Tante und den Kumpels aus dem Westen vorgeführt hat. Das hatte Attraktionswert. Sie hatten weiße Handschuhe an. Im Sommer haben sie furchtbar geschwitzt. Dazu hatten sie Stahlhelme auf, die dunkle Schatten in ihr Gesicht warfen. Es hat immer Spaß gemacht, sich neben sie zu stellen und sie provokant anzustarren. Die durften sich ja nicht bewegen, außer einem Augenklappern. Sie rührten sich keinen Zentimeter. Sie guckten geradeaus. Sie hatten eine absolute Pokermiene. Das Faszinierendste fand ich immer den Lidschlag eines Soldaten in einer Fernsehaufzeichnung. Mir haben sie aber auch leid getan, die hatten echt einen harten Job erwischt.'

`Die waren alle gleich groß. So 1,80 bis 1,85m groß, schlank und stark gebaut. Die wurden extra dafür ausgesucht. Eine Wache jetzt und früher ist überhaupt nicht zu vergleichen. Sie sind nur da, um Vandalismus und Grafittis zu verhindern. Sie sind wirklich nicht mehr als U-Bahn-Schergen. C'est la vie.'

9) Soldat (Sowjetischer Ehrenfriedhof)

`Er war ein ganz einfacher Soldat, ohne Schulterstücke, vielleicht so 25 Jahre alt. In seiner linken Hand trug er eine schwarze Maschinenpistole, eine MP 44. In seiner rechten Hand eine rote Fahne mit einem Stern drauf. Der ist runtergefallen von seinem Sockel vor ungefähr vier Monaten. Hooligans, hab' ich gedacht, oder irgendwelche Jugendliche haben den runtergestürzt. Er ist jetzt in Teltow, bei einem Schlosser.'

`Als ich — es muss irgendwann im Oktober gewesen sein — dorthin kam, lag die Figur auf dem Rücken, der rechte Arm war abgebrochen und die Fahne in drei Teile zerbrochen. Wir haben die Polizei gerufen, aber da waren keine Spuren, keine Fußspuren, also muss er von selbst umgefallen sein. Die Fahne war halbrund. Da hat sich wahrscheinlich der Wind drin gefangen.'

`Die Figur des Soldaten war mit je sechs Bolzen in jedem Stiefel auf einer Stahlplatte befestigt. Sie war zweieinhalb Tonnen schwer. Und zweivierzig groß.'

`Der hat mir gefallen. Ein bisschen naturgetreu war der schon nachgemacht. Vor zwei Jahren haben sie den noch gemalert, da stand ich mit einer Leiter dran. An Krieg hab' ich auf gar keinen Fall gedacht. Wir hatten ja auch mit den Soldaten und den Offizieren ein wunderbares Verhältnis.'

`Hier liegen fünfeinhalbtausend Russen. Aber unter dem Denkmal war niemand begraben... Der Friedhof ist von 1945, aber er ist erst 1947 hier aufgestellt worden. Die Maschinenpistole fällt mir sofort ein. Die Figur war silbern gestrichen und die Maschinenpistole schwarz. Die Soldaten haben ihn mit einem Rasierpinsel gestrichen.'

`Solange ich hier bin, wurde er mehrmals gestrichen, er hatte drei verschiedene Farben: erst Mennige, dann Schwarz — da sah er aus wie ein Schornsteinfeger — erst zum Schluß war er mit Silberbronze gestrichen. Das Detail, an das ich mich am meisten erinnere, waren seine Fingernägel, fein ausgearbeitet.'

`Er war ein freundlich aussehender junger Mann, kein verzerrtes Gesicht. Ich hab' ihn auch mal unter dem Mantel angefasst, um zu sehen, ob er hohl ist.'

`Unglücklich war der bestimmt nicht. Frauen haben Blumen hingestellt und ihm einen Namen gegeben. Er hieß Egon. Und Lieder hat man ihm gesungen, wie ,,Treuer Kamerad“.'

`Er blickte ungefähr nach Nordosten. Von vorne, vom Eingang, hat man den stehen sehen, leuchten sehen: Wenn ich vorbeigehe, sehe ich, dass da keiner ist: Mir fehlt er, ein Friedhof ohne einen Soldaten ist ein nackter Friedhof.'

`Er fehlt mir eigentlich nicht. Was mir fehlt, ist der Orientierungspunkt. Er stand ja im Zentrum des Platzes. Wir haben uns immer an ihm orientiert, an der roten Fahne.'

`Er kommt wieder hierher, er muss wieder hierhin. Der Soldat kommt wieder...'

10) Friedenstaube (Nikolaiviertel)

`Da war eine Inschrift. An die Schrift kann ich mich nicht genau erinnern, obwohl ich hier oft vorbeigegangen bin. Aber ich bin sicher, es war auf keinen Fall was Vernünftiges.'

`Das war eine große Taube, so ein bisschen „picassoresque“, mit diesem Zweig in ihrem Schnabel, sie hatte etwa die Größe einer Etage, aber ich bin da ja nie raufgekrabbelt und habe nachgesehen.'

`Da drüben, wo man diese Reklametafeln sehen kann, war eine Friedenstaube und darunter eine Aufschrift: BERLIN, STADT DES FRIEDENS, oder so ähnlich. Schön fand ich das nicht. Das war so in Gold gehalten, irgendwie protzig, und die Schrift war eigentlich hässlich, aber es passte in dieses Viertel und in diese Zeit. Das muss nicht mehr da sein, aber das finde ich auch nicht sehr schön da.'

`Da stand: BERLIN, HAUPTSTADT DER DDR, HAUPTSTADT DES OSTENS. Die Schrift war ätzend. Und darunter war die Taube von Picasso, in Bronze gegossen. Ich kann nicht so sagen, ob es schön oder nicht schön war. Das kann jeder selbst entscheiden; die Taube, die jetzt an der Spree angebracht ist, gehörte ursprünglich hierher.'

`Man hat das von weitem gesehen. Da war eine Taube, eine gutaussehende Taube, aus Edelstahl gemacht und ein Schriftzug: BERLIN STADT DES FRIEDENS.'

`Gleich ins Auge stechend war sie nicht. Die war auch ein bisschen vergilbt. Ich glaube, da war irgendein Spruch, aber was nun genau, weiß ich nicht. Ich hab' nie auf solche Reklame geguckt.'

`Also, aus Porzellan war es nicht, aber so was Ähnliches. Es muss etwas sehr Wertvolles gewesen sein. Eine Friedenstaube ist immer weiß, also war die Friedenstaube weiß. Wahrscheinlich sollte das eine positive Grundhaltung ausdrücken. Solche verborgenen Dinge wirken oft stärker als offene, wie etwa Kampfgruppendenkmäler oder ein Panzer auf einer Rampe.'

`Man hätte es in Ruhe lassen sollen. Anders als bei anderen Denkmälern habe ich die Friedenstaube nicht als Bedrohung, mir eine geistige Richtung aufzuzwingen, empfunden. Sie fehlt nicht, aber sie könnte wieder dran, denn es war ja nichts Verkehrtes dran, nicht wahr? Das war ja ganz eindeutig: Das war eine FRIEDENSTAUBE. Das haben sogar die Kinder gewusst, dass es ein Symbol des Friedens ist, egal welche Gesellschaftsordnung. Wir gehen ja auch nicht einfach nach West-Berlin und nehmen irgendetwas weg, oder?'

`Das ist natürlich instinktlos, das durch dieses Schild zu ersetzen. Ich erkenne mein altes Berlin kaum wieder. Aber das kann man nicht wieder hinhängen, der symbolische Akt ist durch das Wegnehmen zerstört.'

`Mir fehlt das. Da war dieser große Schriftzug BERLIN, HAUPTSTADT DER DDR, STADT DES FRIEDENS. Ja, ich fand das schön, weil auch dieses STADT DES FRIEDENS ein Ausspruch war, der für die Politik der DDR stand. Das kam 1988 da dran, als das Nikolaiviertel gebaut wurde. Das ist damals eine internationale Auszeichnung gewesen. Das ist uns nicht einfach eingefallen und dann da rangeklatscht worden, sondern Berlin wurde damals STADT DES FRIEDENS. Das war eine Ehrung.'

`Der Spruch BERLIN, STADT DES FRIEDENS war so ein Herzenswunsch vom Staatsratsvorsitzenden, von ihm persönlich ausgesucht, also von Erich Honecker. Für mich war diese Aufschrift Zynismus. In der DDR gab es Frieden, aber es war ein Friedhofsfrieden. Ich finde es schade, dass sie wegkam, weil man das daran thematisieren kann.'

`Die Aussage fehlt mir eindeutig. Es war wichtig, dass Frieden dargestellt wird. Berlin versuchte, als Stadt des Friedens dargestellt zu werden, was sicherlich in dem politischen Kontext nicht einfach war. Es ist wirklich vielen Leuten auf Galle geschlagen. Dieser HAUPTSTADT DER DDR-Teil war mir egal, aber STADT DES FRIEDENS war bezeichnend für mich.'

`Wenn ich es hätte ändern müssen, hätte ich nur STADT DES FRIEDENS weggenommen und das Bild dort gelassen. Das sah aus wie Messing, zumindest goldfarben, einen halben Meter bestimmt in der Größe. Die Taube im Seitenprofil mit so einem Flügel, einem Schnabel und Kopf und soll wohl einer Picassozeichnung nachgebildet gewesen sein. Sie haben das weggenommen, weil Picasso Kommunist war, und sie mögen heute keine Kommunisten mehr. In Paris ist Picasso noch erlaubt, aber hier nicht.'

`So schön war die Taube nicht, aber ich hätte es bei dem Schriftzug belassen. Dies ist auf keinen Fall besser. Die Menschen in Ost-Berlin sind nicht in der Lage, konsequent mit Kapitalismus umzugehen, sonst hätten sie da eine viel bessere und eindeutigere Werbung hingemacht. Eine große Coca-Cola-Werbung wäre konsequenter gewesen.'

11) Wilhelm-Pieck-Straße

Pieck, Wilhelm

- geboren: in Guben, 3. Jan. 1876
- gestorben: in Berlin, 7. Sept. 1960
deutscher Politiker;
seit 1895 Mitglied der SPD;
im 1. Weltkrieg Mitglied der Spartakusgruppe u. Mitbegründer der KPD, deren Zentralkomitee er bis 1946 angehörte;
1930-1933 MdR (Mitglied des Reichsparlaments);
Vertreter der KPD bei der Komintern;
lebte ab 1933 im Exil, zuerst in Paris dann in der UdSSR;
ab 1935 Vorsitzender der KPD;
1943 Mitbegründer des „Nationalkomitees Freies Deutschland“;
1946-1954 mit Otto Grotewohl Vorsitzender der SED;
hatte als Präsident der DDR seit 1949 nur geringen politischen Einfluss.

Tor, Torstraße:

Allgemein: größere Eingangsöffnung, die im Unterschied zur Tür auch Fahrzeugen Durchlass gewährt. Als selbständiges Bauwerk vor allem als Stadttor und Burgtor, oft als Doppelturmanlagen.

`Die Umbenennung habe ich schon mitgekriegt. Wilhelm Pieck hat dort gearbeitet und war mir noch der angenehmste von den sozialistischen Politikern. Ich bin hin- und hergerissen, was die Umbenennung betrifft. Jedenfalls finde ich es besser, dass auf einen historischen Namen zurückgegriffen wird, als sich einen neuen wie ,,Toleranzstraße„ auszudenken. Torstraße hieß sie ja schon einmal.'

`Torstraße ist der passende Name. Weil sie zu den Stadttoren führte. Ich erinnere mich sogar noch daran, als sie das erste Mal von Elsäßerstraße in Wilhelm-Pieck-Straße umbenannt wurde. Daran würde ich mich gar nicht erinnern, wenn meine Mutter nicht so eine Abneigung dagegen gehabt hätte. In Berlin haben sich ja sehr viele sozialistische Politiker auf Straßennamen verewigt, ich finde das nicht berechtigt.'

`Die hieß wahrscheinlich vorher Adolf-Hitler-Straße, sonst hätten sie das nicht geändert. Der Scheißhaufen ist derselbe, nur die Fliegen sind andere. Wer soll sich da noch zurechtfinden?'

`Sie ist vor einem halben Jahr umbenannt worden. Ich habe dort gewohnt und mich eigentlich ganz wohl gefühlt. Das war ja nicht gerade Herr Stalin, der dort deutsche Geschichte geschrieben hat. Von der Sache her finde ich diese Umbenennung kompletten Blödsinn, eine Identitätsverwischung. Ich sage immer noch Wilhelm-Pieck-Straße, ich weigere mich, Torstraße zu sagen. Sie sollten ihn zurückkommen lassen.'

`Wenn es meine Kindertage, meine persönliche Geschichte betrifft, dann sage ich immer Wilhelm-Pieck-Straße. Wenn ich aber nach dem Weg gefragt werde, sage ich Torstraße. Ich finde die alten Namen wichtig, als Mahnmale. Armer Junge, da wird weder jemals wieder eine Straße nach ihm benannt werden, noch ein Denkmal zu seinem Gedächtnis aufgestellt werden. Er war nur ein kleiner Fisch, kein sehr rühmliches Ziel. Viele Leute fragen sich, ob sie nun im Westen oder im Osten sind, weil sich die Grenzen nun doch ziemlich aufheben. Eine Standortbestimmung über diese spezifischen Namen der Ostpolitiker wäre also völlig in Ordnung.'

Wilhelm-Pieck-Straße war gar nicht so schlecht. Sie war mit der Geschichte der DDR verbunden... Mich wundern allgemein die Namensänderungen in allen Regimen, in allen Ländern... Wahrscheinlich gibt es für den neuen Namen eine logische Erklärung. Aber mir gefällt die Vorstellung, dass Torstraße auf das Tor zur Hölle verweist, um uns an die Sünden der Vergangenheit zu erinnern.'

12) Mauer