Besuch

Lenin-Denkmal

`Ich war ein kleiner Junge, als es enthüllt wurde. Das muss so 1970-71 gewesen sein. Sie nahmen das Tuch ab, und auf einmal war er da: Lenin stand da. Doppelt so hoch wie die Straßenlaternen. Es war eine lächerliche Mischung von heroisch und populär. Der Kopf war leicht hochgereckt, und er schaute in die Ferne, in weite Sphären, sozusagen.'

`Das war eine Leninstatue, aus ukrainischem Granit gemacht, 19 Meter hoch auf einem Marmorsockel. Er trug eine Krawatte und einen langen Mantel, fasste sich ans Revers; er war der Inbegriff der sowjetischen Revolutionskunst. Es gab auf der anderen Seite der Straße eine kleine Kaufhalle, wo mein Vater damals große Kisten mit Eis gekauft hat, und Lenin schien in Richtung der Kaufhalle zu schauen, eigentlich darüber hinweg. Er hatte keinen deutlichen Gesichtsausdruck, weder ein Lächeln noch sonst etwas. Er wirkte übermenschlich. Viel später habe ich festgestellt, dass Lenin ein sehr kleiner Mann war.'

`So seine 20 Meter hatte der schon, würde ich sagen, ein Lenin in voller Lebensgröße, aus sibirischem Stein gemacht. Auf der einen Seite machte er den Eindruck eines freundlichen Onkels, nichts Bedrohliches, verbindlich. Aber andererseits habe ich nie begriffen, warum er so unnahbar war. Ich hatte immer das Gefühl, dass er mich ausschimpft.'

`Die Atmosphäre war genauso wie bei allen Denkmälern, die von Kommunisten gemacht wurden. Das Gesicht war furchtbar. Vor allem, wenn er nachts angestrahlt wurde. Verbissen.'

`Er war als freundlicher Mensch dargestellt. Wir sind mit Lenin groß geworden, der war für uns nicht anstößig. Er hatte nichts Unheimliches, trotz seiner Größe. Er hat immer so vor sich hin gebrütet, dieser ernste und weise Gesichtsausdruck. Mit der Architektur des Platzes ist die Größe ziemlich gut aufgegangen. Der hat mich ästhetisch nie negativ berührt.'

`Schön? Nein, schön war er nicht. Diese Denkmäler waren alle ziemlich schlecht, das liegt mehr oder weniger in der Natur der Sache. Wir wohnten über ihm. 11. Etage. So habe ich ihn gewöhnlich nur von hinten gesehen. Immer wenn ich von meinem Balkon aus rausschaute, war er nur im Wege. Ich hatte mich an ihn gewöhnt und musste sozusagen mit ihm leben. Der hat geguckt, wie jeder andere, der an die Macht will. Herrschsüchtig. Und das ist das Problem mit allen großen Leuten in der Politik.'

'Er war wie so eine Art Jesus, in Stein gehauen. Er guckte geradeaus, in Richtung Fernsehturm, glaube ich.'

`Er schaute nach Süden, über die Kreuzung. Der hatte diese richtig buschigen Augenbrauen. Die Augen waren offen. Ich erinnere mich nicht an ihren Ausdruck. Weil er ja nun sehr groß war, mindestens 15 Meter hoch. Viel markanter als Lenin selbst war die in Stein gehauene Fahne, die nach oben hin spitz wurde. Er stand davor, hatte seinen rechten Arm auf die Brust gelegt, und sein linker Arm war nach unten ausgestreckt, die Hand zur Faust geballt.'

`Majestätisch. 29 Meter hoch! Und außerdem noch aus Marmor gemacht. Um ihn herum waren 200 Rosen. Sogar die haben sie weggemacht... Das hat eine halbe Million von unseren Steuergeldern gekostet, und jetzt so ein Mist hier. Es ist eine furchtbare Schweinerei. Der steht doch schon immer da. Der hat doch niemandem was getan. Der konnte doch nichts dafür.'

`Mit ihm fing das ganze Elend an. Schließlich ist Lenin ja ein ausländischer Bürger. Wenn es Marx wäre, da würde man ja noch überlegen. Warum bekam ein russischer Bürger so ein großes Denkmal?'

`Ich sehe immer noch seinen Blick zum Horizont, seinen rechten Arm ausgestreckt. Starr, und dennoch war er überhaupt nicht statisch. Anders als Marx und Engels auf dem Forum. Die sind noch da, aber sie sind sehr enttäuschend, nur kleine Fische. Während Lenin auf dem Platz lebendig war, er war ein Eroberer, prachtvoll, strahlend. Lenin, der Zukunft entgegentretend.'

`Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie er aussah, aber der Typ hier, der wohnt noch hier. Die ganze Situation gibt dir das Gefühl, dass die Heimat umgebaut wird. Das Problem ist, dass nun Leute über den ganzen Bau und das Klima in der Stadt entscheiden, die vorher nicht hier gelebt haben. Es geht doch darum, dass die Wessis uns gar nichts lassen wollen.'

`Es ist nicht alles so geworden, wie der Westen vom Osten her aussah, aber es ist eine Genugtuung, dass der nicht mehr da steht. Ich fand immer, dass er keinen Bezug zu Berlin hatte. Ich hatte keine Ahnung, was es dort sollte, dieses gigantische, aufwendige Lenin-Denkmal. Ich fand nie, dass er da so dominant positioniert werden sollte.'

`Ich finde, dass er als Teil der Architektur hierhergehört. Er war schon sehr markant auf dem Platz, er nimmt das Zentrum ein, alles andere war nach seinem Maß gebaut. Die Verkehrsführung war so angelegt, dass man in einen Halbkreis um ihn herumfahren musste, egal in welche Richtung man fuhr. Ich weiß nicht mehr, ob Lenin nach den Gebäuden ringsherum gebaut wurde oder umgekehrt. Der Platz mit diesen wellenförmigen S-Häusern und dem Denkmal war schon ein Ensemble. Jetzt stimmt der Platz nicht mehr. Man hat versucht, dem Platz ein neues Gesicht zu geben, indem man Steine dort hingelegt hat, und ihn mit der Namensgebung neutraler zu gestalten, Platz der Nationen, aber er war für Lenin gestaltet, und diese Findlinge können ihn kaum ersetzen.

`Wenn ich dort vorbeikomme, fällt mir immer wieder das Loch auf. Ich war noch ein Kind, als der gebaut wurde. Ich konnte ihn aus der 21. Etage sehen. Wenn wir runtergegangen sind, haben wir gesagt: „Wir sind unterwegs zu Lenin.“ Von drinnen hatte er einen humaneren Blick, weniger kritisch als von seinen Füßen aus, wo man sich erniedrigt vorkam. Sie sind ihn einfach so losgeworden, 1991. Völlig zerstört und begraben. Er ruht in nummerierten Einzelteilen 30 km von Berlin auf einem ehemaligen Schießplatz. Ich hab' mir die Dekonstruktion im Fernsehen angeschaut. Mir wurde klar, dass er aus 15 Steinblöcken zu zwei bis vier Tonnen bestand. Der Abbau bereitete ihnen Probleme. Das dauerte etwa drei Wochen, weil es wohl logistische Probleme gegeben hat. Er hat auf seine Art Widerstand geleistet.'

`Endlich ist dieser Steinklotz verschwunden. Der Kopf wurde zuerst abgenommen. Das war eine große Genugtuung für mich. Ich habe sogar ein Gedicht mit dem Titel „Die Freude“ darüber geschrieben. Jetzt liegt er im Köpenicker Forst in einer Grube, mit Sand bedeckt. Keiner weiß so genau, wem er nun gehört. Uns jedenfalls nicht.'

`1990 war der weg, gleich nach der Wende. Stück für Stück. Er wurde mit deutscher Präzision zerlegt. Zuerst wurde er geköpft. Irgendwo, irgendwann wird er wieder aufgestellt werden. Man sollte ihn im Müggelsee versenken, so dass ihm das Wasser bis zum Hals stehen würde.'

`Ich hätte die Dinge so gelassen, wie sie sind; Lenin repräsentiert immer noch ein loyales Politikerbild. Jemand, auf den ich nicht verzichten möchte. So wie der Platz jetzt aussieht, ist er noch viel trostloser und erbärmlicher, als er aussah, als Lenin dort stand. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn vor mir, genau da, wo jetzt der Springbrunnen ist. Rotbraun, mit dem gleichen Gesichtsausdruck wie alle anderen Lenin-Büsten: kämpferisch, vorwärtsguckend. Wenn man in Deutschland einen freien Platz hat, stellt man dort entweder einen Springbrunnen oder einen Gartenzwerg auf. Wenigstens haben sie ihm die gröbste Beleidigung erspart, ihn durch Gartenzwerge zu ersetzen.'

`Ich erinnere mich nur selten an ihn. Helga, die hat da das Caf6, die hat noch so einen kleinen Lenin, der wie dieser aussieht. Sagen wir mal so: Ich hatte an und für sich kein, wie man sagen würde, persönliches Verhältnis zu ihm. Der hat mich nie interessiert, ich bin nie dahin gefahren, um mir den anzusehen. Ich habe nicht einmal ein Foto von ihm.'

 

Aus: Calle, Sophie: Die Entfernung, Dresden 1996 (vergriffen).