Neue Wache
`Das war eine Ehrenwache. Besonders Kleine oder Dicke standen da nie rum. Die waren alle gesiebt nach den Parametern der Größe und der Statur und politischer Überzeugung. Da kam nicht jeder vor die Neue Wache. Das war eine Ehre, das Beste vom Besten. Die Soldaten waren ausgesucht, gleiche Größe, gleiches Alter, gutaussehende Männer. Das waren Personen, die die Deutschen in der besten Art vorgestellt haben. Es waren gut gewachsene Leute, sportlich ausgebildet, und auch ein gutes, klares Gesicht, also nicht mit langer Nase oder mit Glatze, oder mit einem kurzen Arm und einem langen. Da war alles tip-top, wie man das so erwartet vom ordentlichen Deutschen, ordentlich nicht falsch verstanden. Ich persönlich bin der Meinung, das hat mit Militarismus nichts zu tun.'
`Vorher stand hier die Ehrenwache der Nationalen Volksarmee. Steingraue Uniform, nicht das Feldgrau der deutschen Wehrmacht, das war eine grundsätzlich neue Farbe. Eine weiße Ehrenbinde mit versilbertem Schloss, einem runden. Dann eine Ehrenkordel. Der übliche Stahlhelm, der so leicht oval oben war, nicht wie der deutsche Stahlhelm. Karabiner, eine K 44, eine sowjetische Bauart.'
`Die haben sich einen Punkt gesucht im Gelände und haben draufgeguckt und haben sich nicht bewegt.'
`Das waren immer zwei mit Gewehren und einer schlingerte da rum und passte auf. Sie hatten die üblichen NVA-Uniformen an, olivfarben, nichts Außergewöhnliches, nichts Repräsentatives. Sie standen auf der zweiten Stufe — einer dort, wo man den Lichtstrahl sehen kann und der andere dort drüben, man kann noch eine schwarze Stelle sehen — eine Viertelstunde standen sie jeweils, und alle fünf Minuten haben sie in der Regel das Gewehr von einer Schulter auf die andere gewechselt. Das war nicht zeitlich begrenzt. Hier war eine bewegliche Platte, wenn der eine das Gewicht vom Körper verlagert hat, dann war es wie ein Signal, dann haben sie beide gleichzeitig gewechselt.'
`Nach einer Stunde wurden die Wachsoldaten, vom nahegelegenen Zeughaus aus, ausgetauscht. Da kam dann ein Offizier heraus mit neuen Soldaten. Er ist vorneweg marschiert und die beiden hinterher, im Stechschritt. Er hatte wie bei einer Parade einen Stock mit einer goldenen Kugel oben dran, damit hat er Bewegungen vollführt und die anderen rumkommandiert: „Abteilung halt!“ Sie antworteten mit lächerlichen Drehbewegungen und sagten: „Wache übergeben.“ Wie mechanische Puppen haben sie ihr freies Bein hochgeworfen und mit den Armen gewedelt. Sie sind dann wieder ins Wachhaus reinmarschiert.'
`Die Wachablösung war eine ziemlich preußische Exerzierangelegenheit. Da marschierten acht heraus und lösten die anderen ab. Die machten da ganz komische Tanzbewegungen. An jedem Mittwoch war ein großer Wachaufzug. Da ist die gesamte Wachkompanie aufgezogen. Normalerweise wurde dafür der Verkehr gesperrt. Zwei stiegen runter und zwei dann wieder hoch, wurden wieder eingegliedert in die Gruppe, drehten sich noch mal rum, salutierten und spazierten wieder ab.'
`Mittwochs war die große Wachablösung, und die gesamte Kompanie ist hier aufgezogen, mit einer Kapelle, das waren etwa hundert Mann bei dem ganzen Brimborium. Dafür wurde der Verkehr gesperrt. Die Musiker mussten diese üblichen absurden Bewegungen auch alle mitmachen: marschieren und dabei noch im Takt bleiben.'
`Das haben sie immer im Radio übertragen. Den guten alten Stechschritt; im Radio noch viel interessanter als in natura. So etwas können sich nur Männer ausdenken!'
`Jeden Mittwoch war hier Ehrenparade und Zapfenstreich. An diesem Tag war hier alles voll, ausländische Besucher. Es ist eine Touristenattraktion gewesen.'
`Es war sehr seriös. Das war die zentrale Gedenkstätte für die Gefallenen der Kriege. Dabei war es gar nicht nötig zu sagen, für die DDR, das Dritte Reich oder im Ersten Weltkrieg, es war für alle Toten. Das gibt es überall, es gibt eine Ehrung, Staatsempfänge finden statt, da grüßt die Armee; in Moskau, London, Kopenhagen. Tag und Nacht, das ganze Jahr durch.'
'Es war angemessen. Mir gefällt das nicht, dass die Ehrenwache nicht mehr da ist. Man kann sagen, wie man will, es wäre preußisch gewesen, übertrieben oder überzogen..., aber wenn eine Ehrung erfolgt, dann muss es exakt sein, dann muss etwas dahinterstehen. In Moskau herrscht Ordnung, es ist in Paris ordentlich und ordentlich in London. Die Armee ist überall sichtbar. Warum nicht hier? Wenn man etwas ehren will, dann gehört Disziplin dazu, man macht sich sonst lächerlich.'
`Wenn ich die stehen gesehen habe, musste ich immer an das Lied von Biermann denken: „Soldaten sehn' sich alle gleich. Lebendig und als Leich'.“ Ich bin mit meinem kleinen Sohn extra mal dorthin gegangen, um ihm diese unglaubliche Lächerlichkeit und die Unsinnigkeit dieser Rituale zu zeigen. Daher kommt wohl auch seine Abneigung gegen die Bundeswehr heute.'
`Das militärische Zeremoniell vermissen viele. Die Mehrheit spricht sich dafür aus, nicht nur Bürger aus dem Osten. Man würde sich das sicherlich mehr zu Herzen nehmen, wenn die Männer noch da wären. Da waren immer viele Zuschauer; die haben das nicht mit Skepsis betrachtet, sondern mit Anerkennung, gerade die, die selber noch im Krieg waren.'
`Man hat sich daran gewöhnt. Meiner Meinung nach kommt so etwas wieder. Wenn man Unter den Linden gegangen ist, dann hat man gewusst, hier stehen die Soldaten. Sie gehörten dazu. In der Zeit von Hitlerdeutschland hat sogar eine Wache dringestanden, neben dem Granitblock.'
`Die Ehrenwache existierte seit etwa 1957 bis zum 3. Oktober 1990. Es war immer so eine Geschichte, die man seinem Onkel und der Tante und den Kumpels aus dem Westen vorgeführt hat. Das hatte Attraktionswert. Sie hatten weiße Handschuhe an. Im Sommer haben sie furchtbar geschwitzt. Dazu hatten sie Stahlhelme auf, die dunkle Schatten in ihr Gesicht warfen. Es hat immer Spaß gemacht, sich neben sie zu stellen und sie provokant anzustarren. Die durften sich ja nicht bewegen, außer einem Augenklappern. Sie rührten sich keinen Zentimeter. Sie guckten geradeaus. Sie hatten eine absolute Pokermiene. Das Faszinierendste fand ich immer den Lidschlag eines Soldaten in einer Fernsehaufzeichnung. Mir haben sie aber auch leidgetan, die hatten echt einen harten Job erwischt.'
`Die waren alle gleich groß. So 1,80 bis 1,85m groß, schlank und stark gebaut. Die wurden extra dafür ausgesucht. Eine Wache jetzt und früher ist überhaupt nicht zu vergleichen. Sie sind nur da, um Vandalismus und Graffitis zu verhindern. Sie sind wirklich nicht mehr als U-Bahn-Schergen. C'est la vie.‘
Aus: Calle, Sophie: Die Entfernung, Dresden 1996 (vergriffen).