Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 196. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2016 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer und Willi Brase 19415 A Begrüßung der neuen Abgeordneten Bettina Bähr-Losse 19415 B Wahl der Abgeordneten Bartholomäus Kalb, Eckhardt Rehberg und Carsten Schneider als Mitglieder des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau 19415 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 19415 B Absetzung des Tagesordnungspunktes 18 19417 A Nachträgliche Ausschussüberweisungen 19417 B Begrüßung einer Delegation des österreichischen Nationalrates 19419 D Tagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beteiligung des Bundes an den Kosten der Integration und zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen Drucksache 18/9980 19417 D Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF 19418 A Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) 19420 A Ulrike Gottschalck (SPD) 19420 D Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19421 D Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) 19423 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) 19424 D Bernhard Daldrup (SPD) 19426 A Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19427 C Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) 19428 D Martin Gerster (SPD) 19430 C Alois Rainer (CDU/CSU) 19431 B Josip Juratovic (SPD) 19432 C Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Christian Kühn (Tübingen), Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gemeinsam für bezahlbares Wohnen – Lebenswert und klimafreundlich Drucksache 18/10027 19433 B Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19433 C Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) 19434 D Caren Lay (DIE LINKE) 19437 B Florian Pronold, Parl. Staatssekretär BMUB 19438 D Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19439 C Kai Wegner (CDU/CSU) 19440 D Caren Lay (DIE LINKE) 19441 B Klaus Ernst (DIE LINKE) 19443 A Kai Wegner (CDU/CSU) 19443 C Michael Groß (SPD) 19444 C Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19445 A Sylvia Jörrißen (CDU/CSU) 19446 A Detlev Pilger (SPD) 19448 C Claudia Tausend (SPD) 19449 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19450 C Michael Groß (SPD) 19451 B Klaus Mindrup (SPD) 19451 D Bernhard Daldrup (SPD) 19452 D Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellungen Drucksache 18/9946 19453 C Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV 19453 D Halina Wawzyniak (DIE LINKE) 19454 D Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/ CSU) 19456 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19457 D Dirk Wiese (SPD) 19458 D Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19459 C Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) 19460 B Dr. Fritz Felgentreu (SPD) 19461 C Iris Ripsam (CDU/CSU) 19462 B Tagesordnungspunkt 33: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einbeziehung der Bundespolizei in den Anwendungsbereich des Bundesgebührengesetzes Drucksache 18/9759 19463 B b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. Juni 1997 zur Neufassung des internationalen Übereinkommens vom 13. Dezember 1960 über Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt „EUROCONTROL“ Drucksache 18/9877 19463 B c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 8. Oktober 2002 über den Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zum Internationalen Übereinkommen vom 13. Dezember 1960 über Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt „EUROCONTROL“ entsprechend den verschiedenen vorgenommenen Änderungen in der Neufassung des Protokolls vom 27. Juni 1997 Drucksache 18/9878 19463 C d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/55/EU über die elektronische Rechnungsstellung im öffentlichen Auftragswesen Drucksache 18/9945 19463 C e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften zur Bevorratung von Erdöl, zur Erhebung von Mineralöldaten und zur Umstellung auf hochkalorisches Erdgas Drucksache 18/9950 19463 C f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes Drucksache 18/9951 19463 D g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zollverwaltungsgesetzes Drucksache 18/9987 19463 D h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 7. April 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über den grenzüberschreitenden Einsatz von Luftfahrzeugen zur Ergänzung des Abkommens vom 9. Oktober 1997 über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden in den Grenzgebieten Drucksache 18/9988 19464 A i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 19. Mai 2016 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt Montenegros Drucksache 18/9989 19464 A j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission vom 7. März 2016 für Beschlüsse des Rates zur Festlegung von Standpunkten der Union in den Stabilitäts- und Assoziierungsräten EU – Republik Albanien sowie EU – Republik Serbien im Hinblick auf die Beteiligung der Republik Albanien sowie der Republik Serbien als Beobachter an den Arbeiten der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte und die entsprechenden Modalitäten im Rahmen der Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates Drucksache 18/9990 19464 B k) Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Das Teilhaberecht menschenrechtskonform gestalten Drucksache 18/10014 19464 B Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Maria Klein-Schmeink, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern Drucksache 18/9856 19464 C b) Antrag der Abgeordneten Matthias Gastel, Tabea Rößner, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Fahrverbot für laute Güterwagen Drucksache 18/10033 19464 C Tagesordnungspunkt 34: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai 2005 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten und über die Finanzierung des Terrorismus Drucksachen 18/9235, 18/9800 19464 D b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Strafrechtsübereinkommen des Europarats vom 27. Januar 1999 über Korruption und dem Zusatzprotokoll vom 15. Mai 2003 zum Strafrechtsübereinkommen des Europarats über Korruption Drucksachen 18/9234, 18/9850 19465 A c) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungs- und versorgungsanpassungsgesetzes 2016/2017 (BBVAnpG 2016/2017) Drucksachen 18/9533, 18/9865 19465 B     – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/9866 19465 B d)–f) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 364, 365 und 366 zu Petitionen Drucksachen 18/9828, 18/9829, 18/9830 19465 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Tabea Rößner, Katharina Dröge, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mindestqualitätsvorgaben für Internetzugänge einführen Drucksachen 18/8573, 18/10062 19466 A Zusatztagesordnungspunkt 4: Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD und DIE LINKE: Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates der Bundesstiftung Baukultur gemäß § 7 des Gesetzes zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ Drucksache 18/10021 19466 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Umsetzung der Auflagen des Bundesverfassungsgerichts zu CETA durch die Bundesregierung Klaus Ernst (DIE LINKE) 19466 B Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) 19467 C Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19468 C Bernd Westphal (SPD) 19470 A Dr. Matthias Heider (CDU/CSU) 19471 A Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) 19472 A Sigmar Gabriel, Bundesminister BMWi 19473 A Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19475 C Barbara Lanzinger (CDU/CSU) 19476 D Dr. Nina Scheer (SPD) 19477 D Peter Beyer (CDU/CSU) 19479 B Dirk Wiese (SPD) 19480 B Mark Hauptmann (CDU/CSU) 19481 C Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften Drucksache 18/9986 19483 A Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär BMF 19483 A Susanna Karawanskij (DIE LINKE) 19484 A Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) 19485 A Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19486 B Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) 19487 B Dr. Jens Zimmermann (SPD) 19488 C Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) 19489 C Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: BAföG an die Lebenswirklichkeit anpassen – Keine weiteren Nullrunden für die Studierenden Drucksache 18/10012 19490 C Nicole Gohlke (DIE LINKE) 19490 C Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) 19492 A Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19494 C Oliver Kaczmarek (SPD) 19495 D Katrin Albsteiger (CDU/CSU) 19497 B Dr. Daniela De Ridder (SPD) 19499 A Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) 19500 A Dr. Daniela De Ridder (SPD) 19500 B Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung und Ergänzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verhütung und Unterbindung terroristischer Handlungen durch die Terrororganisation IS auf Grundlage von Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen in Verbindung mit Artikel 42 Absatz 7 des Vertrages über die Europäische Union und den Resolutionen 2170 (2014), 2199 (2015), 2249 (2015) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sowie des Beschlusses der Staats- und Regierungschefs vom NATO-Gipfel am 8./9. Juli 2016 Drucksache 18/9960 19500 D Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA 19500 D Sevim Dağdelen (DIE LINKE) 19502 C Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg 19503 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19505 A Jürgen Hardt (CDU/CSU) 19506 A Stefan Liebich (DIE LINKE) 19506 C Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19507 B Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) 19507 D Florian Hahn (CDU/CSU) 19508 A Tagesordnungspunkt 9: a) Antrag der Abgeordneten Harald Ebner, Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gentechnikfreiheit Deutschlands sichern Drucksache 18/10028 19509 A b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes Drucksache 18/6664 19509 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Harald Ebner, Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu den Entwürfen für eine Durchführungsverordnung und zwei Durchführungsbeschlüsse der Europäischen Kommission über das Inverkehrbringen von Saatgut zum Anbau der gentechnisch veränderten Maislinien MON 810, 1507 und Bt11 (Dokumente SANTE/10702/2016 CIS Rev. 3, SANTE/10704/2016 CIS Rev. 3, SANTE/10703/2016 CIS Rev. 3) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Keine Zulassung der gentechnisch veränderten Maislinien MON 810, 1507 und Bt11 für den Anbau in der EU Drucksache 18/10029 19509 C Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19509 C Kees de Vries (CDU/CSU) 19510 D Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) 19511 D Elvira Drobinski-Weiß (SPD) 19513 A Rita Stockhofe (CDU/CSU) 19514 B Carsten Träger (SPD) 19516 A Artur Auernhammer (CDU/CSU) 19516 D Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Erklärung nach § 29 GO) 19517 D Dagmar Ziegler (SPD) (Erklärung nach § 29 GO) 19518 C Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Entlastung insbesondere der mittelständischen Wirtschaft von Bürokratie (Zweites Bürokratieentlastungsgesetz) Drucksache 18/9949 19519 A Brigitte Zypries, Parl. Staatssekretärin BMWi 19519 B Thomas Lutze (DIE LINKE) 19520 A Helmut Nowak (CDU/CSU) 19520 D Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19522 C Matthias Ilgen (SPD) 19523 D Margaret Horb (CDU/CSU) 19524 D Marcus Held (SPD) 19526 A Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Ulla Jelpke, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Medizinische Versorgung für Geflüchtete und Asylsuchende diskriminierungsfrei sichern – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Luise Amtsberg, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen verbessern Drucksachen 18/7413, 18/6067, 18/9933 19527 A Reiner Meier (CDU/CSU) 19527 A Kathrin Vogler (DIE LINKE) 19527 D Heike Baehrens (SPD) 19529 A Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19530 A Ute Bertram (CDU/CSU) 19531 A Mechthild Rawert (SPD) 19532 A Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Mehr Bildungschancen für benachteiligte Kinder und Jugendliche schaffen – Bundesprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ nach 2017 weiterentwickeln und fortsetzen Drucksache 18/10016 19533 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bundesprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ weiterentwickeln und seine Fortführung jetzt vorbereiten Drucksachen 18/8181, 18/10063 19533 C Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU) 19533 C Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) 19534 C Martin Rabanus (SPD) 19535 C Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19537 A Stefan Müller, Parl. Staatssekretär BMBF 19537 D Dr. Karamba Diaby (SPD) 19539 B Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) 19540 A Tagesordnungspunkt 13: a) Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Franziska Brantner, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbrechen nach dem Völkerstrafrecht nicht ungesühnt lassen Drucksache 18/10031 19541 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour, Dr. Franziska Brantner, Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Syrien – Luftbrücke einrichten, humanitäre Not lindern Drucksachen 18/9687, 18/9939 19541 B Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19541 C Erika Steinbach (CDU/CSU) 19542 C Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) 19543 B Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) 19544 A Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19544 C Tobias Zech (CDU/CSU) 19545 C Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19546 D Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) 19547 B Tobias Zech (CDU/CSU) 19547 D Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Schutz vor Biowaffen ausbauen – Das Biowaffenübereinkommen stärken Drucksache 18/10017 19548 B Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) 19548 C Kathrin Vogler (DIE LINKE) 19549 B Robert Hochbaum (CDU/CSU) 19550 A Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19550 D René Röspel (SPD) 19551 D Julia Obermeier (CDU/CSU) 19552 C Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Roland Claus, Stefan Liebich, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz Drucksache 18/8130 19553 B Susanna Karawanskij (DIE LINKE) 19553 C Christian Haase (CDU/CSU) 19554 C Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19555 C Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) 19556 C Kai Wegner (CDU/CSU) 19557 B Sebastian Hartmann (SPD) 19558 B Tagesordnungspunkt 14: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten (CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz) Drucksache 18/9982 19559 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Katja Keul, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zukunftsfähige Unternehmensverantwortung – Nachhaltigkeitsberichte wirksam und aussagekräftig ausgestalten – Umsetzung der CSR-Richtlinie Drucksache 18/10030 19559 B Ulrich Kelber, Parl. Staatssekretär BMJV 19559 C Karin Binder (DIE LINKE) 19560 A Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU) 19561 A Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19562 A Metin Hakverdi (SPD) 19563 B Alexander Hoffmann (CDU/CSU) 19563 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19564 C Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika unterstützen – Absetzung der Präsidentin Brasiliens missbilligen Drucksache 18/10013 19565 B Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) 19565 C Dr. Andreas Nick (CDU/CSU) 19566 B Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19567 D Klaus Barthel (SPD) 19568 C Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Achtung der Menschenrechte in Burundi einfordern – Friedensdialog fördern Drucksachen 18/8706, 18/9938 19570 C Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Schutz von Walen und Delfinen stärken Drucksache 18/10019 19570 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Steffi Lemke, Nicole Maisch, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wirksamen Walschutz weltweit durchsetzen Drucksache 18/10032 19570 D Tagesordnungspunkt 19: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften über das Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch (Landwirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammgesetz – LwErzgSchulproG) Drucksachen 18/9519, 18/9760, 18/9879 Nr. 3, 18/10058 19571 A Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/18/EU zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/EG des Rates Drucksachen 18/9417, 18/10057 19571 B Tagesordnungspunkt 21: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen Dienstes im Bereich des Bundes Drucksachen 18/9441, 18/10045 19571 C – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10059 19571 D Tagesordnungspunkt 22: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Mikrozensus und zur Änderung weiterer Statistikgesetze Drucksachen 18/9418, 18/10067 19572 A Tagesordnungspunkt 23: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes Drucksache 18/9981 19572 B Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung Drucksache 18/9958 19572 C Tagesordnungspunkt 25: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung Drucksache 18/9983 19572 D Nächste Sitzung 19572 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 19573 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bundesprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ weiterentwickeln und seine Fortführung jetzt vorbereiten (Tagesordnungspunkt 10 b) 19573 C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Achtung der Menschenrechte in Burundi einfordern – Friedensdialog fördern (Tagesordnungspunkt 16) 19573 C Iris Eberl (CDU/CSU) 19573 D Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) 19574 C Gabi Weber (SPD) 19575 D Inge Höger (DIE LINKE) 19577 B Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19578 A Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Schutz von Walen und Delfinen stärken – des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke, Nicole Maisch, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wirksamen Walschutz weltweit durchsetzen (Zusatztagesordnungspunkte 8 und 9) 19578 C Gitta Connemann (CDU/CSU) 19578 D Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU) 19579 C Christina Jantz-Herrmann (SPD) 19580 D Birgit Menz (DIE LINKE) 19581 C Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19582 B Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften über das Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch (Landwirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammgesetz – LwErzgSchulproG) (Tagesordnungspunkt 19) 19583 B Katharina Landgraf (CDU/CSU) 19583 C Carola Stauche (CDU/CSU) 19584 A Jeannine Pflugradt (SPD) 19584 D Karin Binder (DIE LINKE) 19585 D Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19586 C Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/18/EU zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/EG des Rates (Tagesordnungspunkt 20) 19587 C Karsten Möring (CDU/CSU) 19587 C Ralph Lenkert (DIE LINKE) 19588 D Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19589 C Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin BMUB 19590 B Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen Dienstes im Bereich des Bundes (Tagesordnungspunkt 21) 19591 B Markus Koob (CDU/CSU) 19591 B Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) 19592 A Frank Junge (SPD) 19592 D Susanna Karawanskij (DIE LINKE) 19593 B Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 19594 A Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Mikrozensus und zur Änderung weiterer Statistikgesetze (Tagesordnungspunkt 22) 19594 D Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU) 19595 A Barbara Woltmann (CDU/CSU) 19595 C Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) 19596 B Jan Korte (DIE LINKE) 19597 B Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19598 B Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 23) 19600 A Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) 19600 A Sebastian Hartmann (SPD) 19600 D Herbert Behrens (DIE LINKE) 19601 D Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19602 D Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär BMVI 19603 C Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung (Tagesordnungspunkt 24) 19604 B Uwe Feiler (CDU/CSU) 19604 B Ingrid Arndt-Brauer (SPD) 19604 D Richard Pitterle (DIE LINKE) 19605 D Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 19606 B Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär BMF 19607 A Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung (Tagesordnungspunkt 25) 19608 A Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU) 19608 A Alexander Hoffmann (CDU/CSU) 19609 A Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) 19609 C Richard Pitterle (DIE LINKE) 19609 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 19610 C Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV 19611 C 196. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2016 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich und mache Sie darauf aufmerksam, dass seit der letzten Sitzungswoche die Kollegin Sibylle Pfeiffer und der Kollege Willi Brase jeweils ihren 65. Geburtstag gefeiert haben. Dazu gratulieren wir herzlich. (Beifall) Alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr! Für den ausgeschiedenen Kollegen Peer Steinbrück ist die Kollegin Bettina Bähr-Losse als Mitglied des Deutschen Bundestages nachgerückt, die ich auch im Namen des ganzen Hauses herzlich begrüßen möchte. (Beifall) Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit. Dann müssen wir noch die Wahl von Mitgliedern des Verwaltungsrats der Kreditanstalt für Wiederaufbau durchführen. Hierzu schlägt die CDU/CSU-Fraktion vor, den Kollegen Bartholomäus Kalb sowie den Kollegen Eckhardt Rehberg für eine weitere Amtszeit als Mitglieder des Verwaltungsrates zu berufen. – Das erzeugt offenkundig keine größere Beunruhigung, (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Zustimmung! – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Aber nur, wenn geteilt wird!) sondern allgemeines Einvernehmen. Dann soll das so sein. Auf Vorschlag der SPD-Fraktion soll der Kollege Carsten Schneider ebenfalls für eine weitere Amtszeit als Mitglied des gleichen Gremiums gewählt werden, was er durch Nicken bestätigt. – Niemand lässt erkennen, dass er dagegen Einwände habe. Dann ist auch das so beschlossen. Die drei genannten Kollegen sind für eine weitere Amtszeit gewählt. Schließlich gibt es eine interfraktionelle Vereinbarung, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Lage in Syrien und Irak und die internationalen Bemühungen um eine Stabilisierung der Region (siehe 195. Sitzung) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 33) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Maria Klein-Schmeink, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern Drucksache 18/9856 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Gastel, Tabea Rößner, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fahrverbot für laute Güterwagen Drucksache 18/10033 ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 34) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Tabea Rößner, Katharina Dröge, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mindestqualitätsvorgaben für Internetzugänge einführen Drucksachen 18/8573, 18/10062 ZP 4 Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD und DIE LINKE Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates der Bundesstiftung Baukultur gemäß § 7 des Gesetzes zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ Drucksache 18/10021 ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Umsetzung der Auflagen des Bundesverfassungsgerichts zu CETA durch die Bundesregierung ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Ebner, Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu den Entwürfen für eine Durchführungsverordnung und zwei Durchführungsbeschlüsse der Europäischen Kommission über das Inverkehrbringen von Saatgut zum Anbau der gentechnisch veränderten Maislinien MON 810, 1507 und Bt11 (Dokumente SANTE/10702/2016 CIS Rev. 3, SANTE/10704/2016 CIS Rev. 3, SANTE/10703/2016 CIS Rev. 3) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Keine Zulassung der gentechnisch veränderten Maislinien MON 810, 1507 und Bt11 für den Anbau in der EU Drucksache 18/10029 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Künast, Katja Keul, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zukunftsfähige Unternehmensverantwortung – Nachhaltigkeitsberichte wirksam und aussagekräftig ausgestalten – Umsetzung der CSR-Richtlinie Drucksache 18/10030 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Schutz von Walen und Delfinen stärken Drucksache 18/10019 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke, Nicole Maisch, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wirksamen Walschutz weltweit durchsetzen Drucksache 18/10032 ZP 10 a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben (Flexi-Rentengesetz) Drucksache 18/9787 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Drucksache 18/10065 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10066 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Statt Rente erst ab 67 – Altersgerechte Übergänge in die Rente für alle Versicherten erleichtern – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Flexible und sichere Rentenübergänge ermöglichen – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Britta Haßelmann, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kommunales Ehrenamt stärken – Anrechnung von Aufwandsentschädigungen auf die Rente neu ordnen Drucksachen 18/3312, 18/5212, 18/5213, 18/10065 ZP 11 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze Drucksache 18/9232 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Drucksache 18/10064 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Etablierung von Leiharbeit und Missbrauch von Werkverträgen verhindern – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Corinna Rüffer, Katja Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen verhindern Drucksachen 18/9664, 18/7370, 18/10064 ZP 12 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aufklärung der Umstände der Verhaftung und des Todes im Fall Jaber Albakr Dabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 18 – hier geht es um die abschließende Beratung eines Gesetzentwurfs zur Neuordnung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung – soll abgesetzt werden. Stattdessen sollen unter Beibehaltung der Debattenzeit von 25 Minuten der Antrag auf der Drucksache 18/10019 mit dem Titel „Schutz von Walen und Delfinen stärken“ sowie der Antrag auf Drucksache 18/10032 mit dem Titel „Wirksamen Walschutz weltweit durchsetzen“ aufgerufen und sofort über sie abgestimmt werden. Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkteliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs. Ich mache Sie schließlich noch auf mehrere nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam: Der am 22. September 2016 (190. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Finanzausschuss (7. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes Drucksache 18/9466 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Der am 22. September 2016 (190. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz vor Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen Drucksache 18/9535 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Sportausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss Digitale Agenda Der am 22. September 2016 (190. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen Drucksache 18/9536 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Die am 30. September 2016 gemäß § 80 Absatz 3 der Geschäftsordnung überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung im Straßenverkehr 2014 und 2015 (Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 2014/15) Drucksache 18/9640 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich frage auch hier vorsichtshalber, ob irgendjemand Einwände hat. – Das ist nicht erkennbar. Also ist es so beschlossen. Nun sind wir bei unserem ersten Tagesordnungspunkt, dem Tagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beteiligung des Bundes an den Kosten der Integration und zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen Drucksache 18/9980 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Debatte 77 Minuten dauern. – Das ist offenbar einvernehmlich. Also verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man kann vermutlich darüber streiten, ob man die große Zahl von Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr in Deutschland angekommen sind, so vorhersehen konnte. Ich glaube, das Ausmaß hat uns alle überrascht. Die Bundesregierung jedenfalls hat vom ersten Moment an alles getan, um die Herausforderungen zu meistern. Ich habe schon bei der Einbringung des Bundeshaushalts 2016 im September des vergangenen Jahres gesagt: Diese Aufgabe hat oberste Priorität, und wir werden sie auch finanzieren. – Das ist uns bisher auch gut gelungen. Alle staatlichen Ebenen arbeiten eng zusammen. Wir haben mit den beiden Asylpaketen eine gute gesamtstaatliche Lösung hinbekommen und passgenaue Antworten gefunden, die allen Beteiligten gerecht werden. Am Geld wird die Integration nicht scheitern; auch das hat die Bundesregierung von Anfang an gesagt. Die Bundesregierung wird ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung bei der Aufnahme und Integration der zu uns Gekommenen gerecht. Der Bund hat für die Bewältigung der Zuwanderung und zur Bekämpfung der Fluchtursachen in diesem Jahr etwa 18,2 Milliarden Euro ausgegeben bzw. eingestellt – ausgegeben ist noch nicht alles. 2017 werden wir knapp 21 Milliarden Euro, 2018 sogar 22 Milliarden Euro bereitstellen. Es ist klar, dass wir die wirtschaftliche Entwicklung im Nahen Osten und in Afrika fördern müssen, um, soweit es uns möglich ist, die Ursachen für die Flüchtlingsströme zu bekämpfen und sie damit zu verringern. Auch deswegen bildet die Zusammenarbeit mit Afrika einen Schwerpunkt europäischer Politik, aber auch unsere G-20-Präsidentschaft, die im Dezember beginnt. Der Bund hat aber auch die Länder und die Kommunen in den letzten beiden Jahren deutlich entlastet. Ich möchte die Zahlen einmal im Zusammenhang vortragen. Im Jahre 2015 haben wir pauschal 2 Milliarden Euro über den Länderanteil an der Umsatzsteuer zur Verfügung gestellt. In diesem Jahr sind es rund 6,9 Milliarden Euro. Wir haben mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz eine verfahrensabhängige Kostenbeteiligung des Bundes sichergestellt – auch für die kommenden Jahre. Vom ersten Tag der Registrierung bis einen halben Monat nach der Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge erhalten die Länder pro Bewerber 670 Euro pro Monat. Im Augenblick findet die Spitzabrechnung für die Abschlagszahlung 2017 statt. Das wird in diesem Jahr über die bereits eingestellten Gelder in Höhe von knapp 3 Milliarden Euro hinaus einen erheblichen zusätzlichen Betrag erfordern. Darüber hinaus hat die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ihre Liegenschaften den Gebietskörperschaften zur Unterbringung von Flüchtlingen mietzinsfrei zur Verfügung gestellt. Gegen Nachweis erstattet sie auch die entstandenen notwendigen und angemessenen Erstinstandsetzungs- und Erschließungskosten. Diese bereits umfassenden Entlastungen von Ländern und Kommunen durch den Bund haben mit dazu beigetragen, dass sich die Haushaltslage von Ländern und Kommunen gegenwärtig sehr positiv entwickelt. Dies muss man immer wieder ins Gedächtnis aller Beteiligten rufen. Mit dem Gesetz zur Beteiligung des Bundes an den Kosten der Integration und zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen, das uns im Entwurf heute vorliegt, bringen wir die zwischen Bund und Ländern auf Regierungschefebene am 16. Juni und 7. Juli dieses Jahres vereinbarten Entlastungen auf den Weg. Alleine diese weiteren Entlastungen summieren sich bis zum Jahr 2019 auf knapp 20 Milliarden Euro. Im Einzelnen: Der Bund wird in den Jahren 2016 bis 2018 die Kosten der Unterkunft und Heizung für anerkannte Asyl- und Schutzberechtigte vollständig übernehmen. Dadurch werden die Kommunen voraussichtlich um etwa 2,6 Milliarden Euro entlastet. Die Länder erhalten vom Bund für die Jahre 2016 bis 2018 eine jährliche Integrationspauschale in Höhe von 2 Milliarden Euro. Der Bund gewährt den Ländern für den im Integrationskonzept enthaltenen Wohnungsbau zusätzlich jeweils 500 Millionen Euro als Kompensationsmittel für die Jahre 2017 und 2018 über die bereits in den Entflechtungsmitteln enthaltenen Mittel für den sozialen Wohnungsbau hinaus. Der Bund verbessert außerdem die Finanzausstattung der Kommunen, wie schon im Koalitionsvertrag festgelegt, ab dem Jahr 2018 um zusätzliche 5 Milliarden Euro pro Jahr. Er verzichtet dazu auf Anteile am Aufkommen der Umsatzsteuer und erhöht seine Beteiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die Länder haben sich in den genannten Konferenzen auf einen Schlüssel der Verteilung geeinigt, der allerdings, wie ich weiß, im parlamentarischen Verfahren, was ja auch die Aufgabe des Bundestages ist, einer intensiven Prüfung und Beratung unterzogen werden wird. Das alles ist jedenfalls – das sage ich auch vor dem Hintergrund der Verhandlungen in der vergangenen Woche – doch wohl ein Beweis dafür, dass der Bund Länder und Kommunen bei ihren Aufgaben nachhaltig unterstützt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Es wird ja in der Öffentlichkeit auch angesichts der Zahlen, die eine gute Haushaltslage der öffentlichen Hand in Deutschland insgesamt belegen – damit stehen wir im Gegensatz zu vielen unserer Nachbarländer in Europa –, die Frage gestellt: Können wir nicht noch mehr tun? – Hier ist zunächst einmal schon der Hinweis notwendig, dass sich hier zunehmend ein gesamtstaatliches Problem verdichtet. Das haben wir gerade auch im jüngsten Gutachten gelesen, das das ifo-Institut für das Bundeswirtschaftsministerium erstellt hat. Es reicht nämlich nicht aus, dass wir Geld bereitstellen, sondern die Mittel müssen auch abfließen, die Vorhaben müssen auch umgesetzt werden. Hier haben wir zunehmend ein gesamtstaatliches Problem. Ich nenne als Beispiel den Kindertagesstättenausbau. Der Bund hat ihn in den vergangenen Jahren mit Milliardenbeträgen gefördert. Anfang dieses Jahres haben wir die Mittel dafür im Zusammenhang mit den Flüchtlingsherausforderungen noch einmal deutlich erhöht. Ein paar Wochen danach mussten wir aber zunächst einmal das entsprechende Programm verlängern, weil die bereits etatisierten Mittel nicht schnell genug abgeflossen sind. Sie werden nicht abgerufen. Das heißt, wir müssen schneller werden; denn wir können natürlich die Kindertagesstätten für Flüchtlinge nicht erst dann bauen, wenn aus den Flüchtlingen schon Senioren geworden sind. Dann müssten wir eher Betreuungsheime bauen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Das muss in Deutschland ein bisschen schneller gehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Das sehen wir zunehmend auch – das belegen entsprechende Gutachten – bei den Ausgaben für die öffentliche Verkehrsinfrastruktur. Auch hier müssen wir besser werden. Deswegen ist es ein wichtiger Schritt, dass wir in den Vereinbarungen zwischen dem Bund und den Ländern in der vergangenen Woche in diese Richtung Fortschritte erzielt haben, die wir jetzt noch umsetzen müssen. Ich lasse in meinem Haus auch prüfen – ich will damit zeigen, dass wir alles tun, um irgendwie Lösungen zu finden –, ob wir bei Projekten, durch die wir den Kommunen Mittel zur Verfügung stellen, nicht möglicherweise auch Kapazitäten für Planungsverfahren bei den Kommunen mit einbeziehen können. Das ist verfassungsrechtlich nicht ganz einfach, aber wir suchen jeden Weg, um zu helfen. Wir haben in der vergangenen Woche auch beschlossen, die Mittel für den Fonds zur Förderung von Investitionen finanzschwacher Kommunen aufzustocken und zu verlängern. Diese Mittel verteilen wir nach einem Schlüssel über die Länder, der auch nicht völlig ohne Probleme ist. Es ist aber besser, wir helfen finanzschwachen Gemeinden über einen nicht hundertprozentig perfekten Schlüssel, als gar nicht. Außerdem heben wir die Zwecksetzung ein Stück weit auf, weil wir bei der Verwendung dieser Mittel für Kommunen durch die Föderalismusreform außergewöhnlich beschränkt sind. Ich glaube, das ist richtig; denn so können wir in den nächsten Jahren auch in finanzschwachen Kommunen mehr für Schulen tun. Deswegen begrüße ich die Absprachen, die wir in der vergangenen Woche dazu getroffen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Der Bund wird jedenfalls seine Bemühungen fortsetzen, im Rahmen seiner Möglichkeiten finanzschwachen Gemeinden zu helfen. Aber noch einmal: Wir müssen dafür werben, dass die Weitergabe der Mittel in allen Ländern entsprechend der Zielsetzung erfolgt. Deswegen ist es wichtig, dass wir mit den Ländern vereinbart haben, dass der Bund und auch der Bundesrechnungshof in Zukunft stärker darauf achten können, dass die Mittel entsprechend der Zwecksetzung bei den Ländern verwendet werden. Das ist keineswegs irgendein Angriff auf die Länder oder Ausdruck eines Misstrauens ihnen gegenüber, sondern es geht einfach nur darum, unsere jeweiligen Aufgaben innerhalb der föderalen Grundordnung optimal zu erfüllen. Ich will zu den Vereinbarungen in der vergangenen Woche gar nichts weiter sagen. Das war wie immer ein langes Ringen. Noch manches Mal wird es angesichts der Herausforderungen durch die rasanten, schnellen Veränderungen in Zeiten der Globalisierung wichtig sein, losgelöst vom aktuellen Streit gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir unser föderales System, das ja im Prinzip gut und richtig ist, noch leistungsfähiger machen können. Die Länder, die Gemeinden und der Bund haben jedenfalls die großen Herausforderungen durch die starke Zuwanderung von Flüchtlingen bisher in einem außergewöhnlich guten Maße gemeistert. Auch das ist ein Ruhmesblatt für die Bundesrepublik Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deswegen werden wir weiter daran arbeiten, dass die föderale Ordnung diese Aufgaben meistern kann, dass sie sich durch schnelle Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit bewährt. Der Bund ist sich seiner Verantwortung für die Bewältigung dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe bewusst. Wir alle miteinander, Länder, Gemeinden und der Bund, haben im Großen und Ganzen alles getan, um die starke Zuwanderung von Flüchtlingen zu meistern. Wir haben das bisher ganz gut hinbekommen. Dass uns das weiterhin gelingen kann, dazu soll der vorliegende Gesetzentwurf beitragen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Besuchertribüne möchte ich eine Delegation des österreichischen Nationalrates herzlich begrüßen, die in dieser Woche mit vielen Mitgliedern des Bundestages aus verschiedenen Gremien zahlreiche Gespräche führt und damit unterstreicht, dass wir viele gemeinsame Interessen und ganz sicher eine gemeinsame Verantwortung haben. Herzlich willkommen und weiterhin gute Zusammenarbeit! (Beifall) Ich erteile das Wort nun der Kollegin Gesine Lötzsch für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Monatelang haben Bund und Länder laut und öffentlichkeitswirksam über die Verteilung der Kosten gestritten. Man kann über diesen Streit vieles sagen, aber eines, finde ich, muss man sagen: Er war vor allen Dingen gefährlich, und zwar brandgefährlich im wahrsten Sinne des Wortes. Das dürfen wir nicht zulassen, meine Damen und Herren. Wir haben gesehen, dass es in dem monatelangen Streit zu Annäherungen kam. Aber ich will daran erinnern, dass wir auch schon Situationen hatten, in denen wir schwierige Fragen in ganz kurzer Zeit gelöst haben. Ich darf Sie daran erinnern, wie schnell wir die Bankenrettung beschlossen haben. Da haben wir eine einzige Woche gebraucht, um die entsprechenden Maßnahmen umzusetzen. Ich finde, diesen Vergleichsmaßstab muss man schon anlegen. Eine Lösung in der Frage der Kosten war überfällig. Ob diese Lösung die richtige ist, müssen wir noch kritisch diskutieren, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) Diese Diskussion war doch Wasser auf die Mühlen derjenigen in unserem Land, die für jedes der Probleme, die wir haben und die wir auch schon hatten, bevor Menschen vor Krieg, Not und Hunger zu uns geflohen sind, die Geflüchteten verantwortlich machen. Das zuzulassen, das ist politische Verantwortungslosigkeit, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) Denn die Probleme waren doch schon vorher da: Wohnungsmangel, marode Schulen, marode Gebäude und Brücken sowie Investitionsstau an allen Ecken und Enden. Der IWF, der Internationale Währungsfonds, der nun bestimmt keine Vorfeldorganisation der Linken ist, hat die Bundesrepublik mehrmals deutlich aufgefordert, mehr zu investieren. Das müssen wir endlich tun. Wir brauchen in dieser Gesellschaft keine Sündenböcke. Es geht nicht nur um die Geflüchteten, sondern es geht um unsere Gesellschaft insgesamt. Es geht um uns alle. Das müssen wir endlich begreifen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) Herr Schäuble, Sie haben zu Recht gesagt: Man muss jetzt dafür sorgen, dass das Geld in den Kommunen ankommt, und es muss dafür gesorgt werden, dass das Geld, was da ist, auch dafür verwendet wird, wofür es bereitgestellt wurde. – Wenn jetzt aber mit einem kleinen ironischen Unterton gesagt wird: „Die schaffen das nicht in den Kommunen. Die Kommunen haben dafür nicht das Personal. Warum haben sie nichts vorbereitet?“, möchte ich und muss ich Sie alle daran erinnern, dass systematisch mit den Schlagworten „schlanker Staat“, „Privatisierung“, „die Privaten können alles besser“ die kommunalen Verwaltungen und auch Landesverwaltungen kaputtgespart wurden. Wir stehen jetzt vor einem Trümmerhaufen. Dieser muss schnellstens aufgeräumt werden, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) Wir haben im Bundeshaushalt Geld für viele Bauprojekte zur Verfügung gestellt, die jetzt nicht umgesetzt werden können. Gestern im Haushaltsausschuss sagte die Bauministerin – ich sage es einmal höflich – ein bisschen hilflos, es gebe auch bei Studiengängen einen Schweinezyklus, es gebe halt nicht genug Bauingenieure und Architekten und sie wisse nicht, was man da machen solle. Was man da machen soll, kann ich Ihnen sagen: Wir brauchen eine nachhaltige und vorausschauende Politik und keine Politik, die von einem Monat zum anderen hechelt. Wir müssen unser Gemeinwesen so ausgestalten, dass wir nicht in eine Situation kommen, dass der Staat schwach ist. Wir brauchen einen starken Staat; denn nur Reiche können sich einen schwachen Staat leisten – und das wollen wir nicht, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) Natürlich wird viel über Ängste und Herausforderungen gesprochen, und manchmal wird gesagt, dass die Leute sich bestimmte Bedrohungen nur einbilden. Wir müssen aber, wie ich glaube, die Menschen nicht mit Worten, sondern mit Taten überzeugen. Wenn Menschen vergeblich eine bezahlbare Wohnung suchen, dann sind wir alle in der Verantwortung und können nicht einfach sagen, sie bildeten sich das nur ein. Die Wohnungsfrage ist eine ganz zentrale Frage bei der Bewältigung der Probleme, vor denen wir stehen, und hier müssen wir ansetzen und zu guten Entscheidungen kommen, meine Damen und Herren. Ich will Ihnen aber abschließend sagen, dass der Schlüssel für die Bewältigung aller dieser Probleme in der Lösung einer zentralen Frage, nämlich der Gerechtigkeitsfrage, liegt. Vor knapp drei Wochen ist ein Erbenverschonungsgesetz beschlossen worden. Große Teile der Gesellschaft finanzieren die gesamte Gesellschaft, und es wird den Reichen erlaubt, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Das dürfen wir nicht länger mitmachen. Wir brauchen eine gerechte Besteuerung, wir brauchen eine Erbschaftsteuer, wir brauchen eine Vermögensbesteuerung. Es kann nicht sein, dass 1 Prozent der Bevölkerung in unserem Land über ein Drittel des Eigentums verfügt. So können wir unsere Gesellschaft nicht gerecht gestalten. Gerechtigkeit ist die Schlüsselfrage, nicht nur für die Geflüchteten, sondern für alle Menschen in unserem Land. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Gottschalck für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ulrike Gottschalck (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Anders als meine Vorrednerin würde ich die Kommunalverwaltung nicht als Trümmerfeld bezeichnen – im Gegenteil. Ich sage: Wir sind stolz auf unsere Kommunen; denn wir haben starke Kommunen in Deutschland, und die Städte, Gemeinden und Landkreise sind die Kraftwerke unseres sozialen Miteinanders, weil sie Kinderbetreuung, Nahversorgung, gute Mobilität, das soziale Netz und alles Mögliche mehr vor Ort organisieren. Und das muss auch finanziert werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutschland braucht deshalb starke Kommunen, in denen die Menschen gern leben. Denn die Menschen erleben dort auch, ob die Daseinsvorsorge, ihr ganz normales Leben, funktioniert oder eben nicht. Und damit es funktioniert, müssen die Kommunen gut ausgestattet sein. Es gibt Kommunen, denen es gut geht, aber es gibt leider auch Kommunen, die seit Jahren darum kämpfen, finanziell handlungsfähig zu bleiben. Zusätzlich wächst die Kluft zwischen armen und reichen Kommunen. Deshalb hat sich die Regierungskoalition darauf verständigt, dass die Entlastung der Kommunen absolute Priorität bekommt. Das finanzielle Engagement des Bundes zugunsten von Ländern und Kommunen ist – das sollten wir immer wieder betonen – in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig. Bis zum heutigen Tag haben wir die Kommunen bereits um viele Milliarden Euro entlastet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Da ist zunächst einmal die Übernahme der Kosten der Grundsicherung zu nennen. Dann unterstützen wir den Ausbau der Kinderbetreuung, obwohl dieser in die verfassungsrechtliche Zuständigkeit der Länder fällt. Wir geben sogar noch Geld für die Betriebskosten und die Sprachförderung in den Kitas. Wir haben das Zukunftsinvestitionsprogramm aufgelegt, und die Mittel für die Städtebauförderung werden von 54 Millionen Euro auf 1,3 Milliarden Euro im nächsten Jahr erhöht. Auch das Programm „Soziale Stadt“ wird davon erheblich profitieren. Hinzu kommen Denkmalschutzprogramme, die Übernahme des BAföG sowie – ich kann das gerne fortsetzen – die Breitbandversorgung, der Hochwasserschutz und die Stärkung des Tourismus. Kommunalinteressen sind bei der GroKo in guten Händen. „Versprochen, gehalten!“, meine sehr geehrten Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir eine weitere Entlastung von Ländern und Kommunen auf den Weg bringen, die sich bis zum Jahr 2019 auf 20 Milliarden Euro summiert. Konkret sollen die Kosten der Unterkunft und Heizung für anerkannte Asyl- und Schutzberechtigte in der Grundsicherung vollständig erstattet werden. So werden die Kommunen spürbar von zusätzlichen Ausgaben entlastet. Damit wird eine wichtige kommunale Forderung aufgegriffen. Zusätzlich sollen die Länder für die Jahre 2016 bis 2018 eine Integrationspauschale in Höhe von 2 Milliarden Euro und 2017 und 2018 je 500 Millionen Euro für den Wohnungsbau bekommen, was auch extrem wichtig ist. Wenn dieses Geld auch noch von den Ländern ordnungsgemäß verwandt wird, kommt all dies ebenfalls den Kommunen zugute. Die Vertreter der Kommunen begrüßen deshalb auch diesen Gesetzentwurf. Indem er die zugesagte Entlastung der Kommunen um 5 Milliarden Euro regelt, bekommen sie Planungssicherheit für ihre Haushalte. Sie kritisieren jedoch, dass die Entlastung nicht vollständig über die Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft realisiert wird. Insbesondere kritisieren sie, dass 1 Milliarde Euro und damit ein Fünftel der Entlastung an die Länder über deren Anteile an der Umsatzsteuer fließt. Sie befürchten, dass dieses Geld nicht eins zu eins in den Kommunen ankommt. Auch ich hege Zweifel, meine sehr geehrten Damen und Herren. Aber wir müssen uns nicht wundern, wenn am Verhandlungstisch nur der Bund und die Länderfürsten sitzen, von denen sich zudem einige auch noch zu modernen Raubrittern entwickeln. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, der schlimmste ist Horst Seehofer!) Ich will dabei nicht parteipolitisch werden. Das betrifft Politiker jeglicher Couleur – unsere wie eure. Und sie passen erst einmal auf die Finanzen in ihren jeweiligen Ländern auf. Wir brauchen zukünftig einen Dreieckstisch von Bund, Ländern und Kommunen. Alle Beteiligten und Verantwortlichen müssen sich auf gleicher Augenhöhe begegnen und gemeinsam Handlungsmöglichkeiten sichern. Wir alle sind nun gefordert, bei den Ländern genau aufzupassen und dafür zu sorgen, dass die Mittel auch bei den Kommunen ankommen. Das betrifft im Übrigen auch die aktuell vereinbarten Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Ich glaube, hier liegt noch viel Arbeit vor uns. Denn wir müssen ja die Gesetze in Papierform bringen und zusehen, dass sie verfassungskonform sind. Und der Teufel liegt bekanntlich im Detail. Ich denke, nach den Haushaltsberatungen wird es munter mit dieser Gesetzgebung losgehen. Wir auf Bundesebene, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben auf jeden Fall unsere Hausaufgaben gemacht. Erneut fließen Bundesmittel in Milliardenhöhe in die Kommunen. Und das ist gut so. Wir wissen ja: Deutschland braucht starke Kommunen; denn sie sind die Orte, wo soziale Gesellschaft und lebendige Demokratie herrschen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat reden wir heute über einen Gesetzentwurf, bei dem es lange gedauert hat, bis er das Parlament erreichte, und der schon lange Zeit überfällig war; denn er bringt Entlastungen für die Kommunen und die Länder bei der Integration und unterstützt sie bei der Aufgabe der Eingliederung. Gerade die Kommunen leisten sehr wichtige Aufgaben dabei und sind eigentlich die Stütze des Ganzen. Denn ohne die Kommunen wären wir bei der Integration und der Aufnahme von Menschen, die auf der Flucht waren, nicht da, wo wir heute sind. Das wissen wir alle. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist gut so, dass durch die Einbringung des Gesetzentwurfs klar wird, dass der Bund sich aus der Verantwortung, endlich die Kosten der Integration wenigstens ansatzweise zu übernehmen, nicht länger wegdrückt. Dazu haben die Länder und die kommunalen Spitzenverbände Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, wirklich drängen müssen. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) – Das ist so, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wie viel Druck hat es vonseiten der Länder und der Kommunen gebraucht und wie oft mussten sie immer wieder betonen: „Wir nehmen die Menschen auf, die auf der Flucht vor der Not aus den Kriegs- und Krisenregionen zu uns kommen, und wir brauchen dabei auch die Unterstützung des Bundes. Der Bund muss anerkennen, dass es eine gesamtstaatliche Aufgabe ist, Integration zu finanzieren, und muss deshalb auch einen finanziellen Beitrag leisten“? Es ist gut, dass heute endlich klar ist, dass auch in den Jahren 2016 bis 2018 die Kommunen um 2,6 Milliarden Euro bei den Kosten der Unterkunft für Flüchtlinge entlastet werden und dass eine Integrationspauschale in Höhe von 2 Milliarden Euro jährlich an die Länder fließt. Das ist notwendig im Hinblick auf die Aufgaben, die Kommunen und Länder vor Ort zu bewältigen haben, wenn es um die Integrationsleistung geht. Die folgende Frage wird aber nicht beantwortet und bleibt offen: Warum gibt es statt der Festlegung auf jährliche Zahlungen für einen bestimmten Zeitraum keine strukturelle Entlastung im Bereich der Integration? Dass eine solche strukturelle Entlastung wichtig ist, ist von uns, den Kommunen und den Ländern immer wieder betont worden. Aus der Integration und aus den Fluchtbewegungen resultieren Aufgaben vor Ort, die nicht planbar sind. Wenn es wieder so lange dauert, bis der Bund Bereitschaft zeigt, hier etwas zu tun, dann ist das mangelhaft. Man könnte durch eine klar vereinbarte strukturelle Unterstützung viel besser ein Signal setzen als durch einmaliges Entgegenkommen bzw. durch Vereinbarungen, wie sie nun getroffen wurden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist wichtig für die weiteren Debatten, die wir führen werden. Das heißt nicht, dass wir nicht anerkennen, dass es hier einen Einstieg bei der Beteiligung an den Integrationskosten vonseiten des Bundes gibt. Das ist richtig, notwendig und überfällig. Frau Kollegin Gottschalck, Sie haben gerade gesagt: Versprochen und gehalten. – Ich möchte auf einen Punkt hinweisen, wo das nicht der Fall ist. Sie haben im Koalitionsvertrag zugesagt, dass 5 Milliarden Euro an die Kommunen gehen. Wenn man sich den Gesetzentwurf genau anschaut, dann stellt man fest, dass dem nicht so ist. 4 Milliarden Euro gehen an die Kommunen, und 1 Milliarde Euro geht an die Länder. Das heißt, aus dem „Versprochen und gehalten“ ist nichts geworden. Die 5 Milliarden Euro gehen schließlich nicht in Gänze an die Kommunen. Sie haben darüber hinaus versprochen, dass 5 Milliarden Euro als Entlastung bei der Eingliederungshilfe an die Kommunen gehen. Davon redet in diesem Haus niemand mehr. Beim Bundesteilhabegesetz wird nun ganz anders argumentiert. Wir müssen erst einmal sehen, wie hier die Finanzierung laufen soll. All diejenigen, die sich in dieser Hinsicht Hoffnungen gemacht haben, werden enttäuscht, weil nun klar ist, dass es dafür keine Mittel mehr geben wird. 4 Milliarden Euro sollen nun zum einen über den Umsatzsteueranteil und zum anderen über die Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft an die Kommunen gehen. Dabei haben Sie ein ganz großes Problem. Selbst Herr Schäuble hat vorhin von den finanzschwachen Kommunen geredet. Aber Sie verfahren hier wieder nach dem Gießkannenprinzip. Statt 5 Milliarden Euro gehen über einen Verteilungsschlüssel nur 4 Milliarden Euro an die Kommunen, 2,4 Milliarden Euro davon über die Umsatzsteuer. Davon profitieren aber in erster Linie nicht die finanzschwachen Kommunen, wie wir alle hier im Saal wissen. Wichtig wäre doch, dass finanzschwache Kommunen Priorität bei der Unterstützung bekommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es darf nicht das Signal gesendet werden, dass vor allen Dingen die Kommunen, denen es gut geht, Unterstützung erhalten. Schauen Sie sich einmal bei den Kommunen um. Diese werden Ihnen sofort sagen, was das, was Sie nun planen, bedeutet. Wenn der Verteilungsschlüssel so bleibt, wie Sie ihn vorschlagen, dann wird beispielsweise Düsseldorf mehr Geld bekommen als Solingen oder Mönchengladbach, obwohl es sich bei Letzteren um finanzschwache Kommunen handelt. Ich könnte ähnliche Vergleiche zu Pirmasens, Duisburg und vielen anderen Städten ziehen. Was Sie machen, ist nicht richtig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie dürfen nicht nach dem Gießkannenprinzip verfahren. Der Ansatzpunkt muss vielmehr sein, die finanzschwachen Kommunen durch den Bund zu entlasten. Ich hoffe, dass wir in den anstehenden Beratungen den Gesetzentwurf noch entsprechend ändern werden. Sie sollten zugunsten der finanzschwachen Kommunen umdenken. Das Gleiche gilt auch für die Länder. Ich weiß nicht, warum diese hier Druck gemacht und dafür gesorgt haben, dass dieser Schlüssel zustande kommt, und sich gleichzeitig 1 Milliarde Euro nur für sich genommen haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Ralph Brinkhaus das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte angesichts der Rede der Kollegin Haßelmann zwei Vorbemerkungen machen. Erstens. Der Verteilungsschlüssel, den Sie beklagen, geht auf einen besonderen Wunsch der Ministerpräsidenten zurück. Ich erinnere Sie daran, dass Sie von den Grünen an zehn Landesregierungen beteiligt sind. Das heißt, Sie kritisieren Ihre Kollegen aus den Ländern, insbesondere den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Zweitens. Sie haben kritisiert, dass sich der Bund zu spät um die Flüchtlinge in den Kommunen gekümmert hat. Das ist mitnichten der Fall. Der Bundesfinanzminister hat bereits darauf hingewiesen, dass der Bund schon im letzten Jahr 670 Euro pro Flüchtling und Monat pauschal bereitgestellt hat. Wenn sich jemand zu spät um die Belastungen der Kommunen gekümmert hat, dann war das in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen die rot-grüne Landesregierung, (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Richtig!) die die Kommunen bei den Migrations- und Flüchtlingskosten am langen Arm hat verhungern lassen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben heute drei Pakete, die wir beschließen. Das ist zum einen das Integrationspaket, über das schon sehr viel geredet worden ist. Es geht aber auch um 5 Milliarden Euro Entlastung für die Kommunen, und – darüber ist noch gar nicht geredet worden – es gibt ein Paket zum sozialen Wohnungsbau. Auch da geht es immerhin um 500 Millionen Euro. Ich kann der Kollegin Gottschalck nur zustimmen: Der Bund hat seine Zusagen vollumfänglich eingehalten, soweit es möglich war. Wir haben geliefert. Wir haben Wort gehalten, und man muss sagen: wieder einmal Wort gehalten; denn wenn man sich anschaut, in welcher Höhe seit 2009 die Länder und Kommunen erst durch die schwarz-gelbe Koalition und dann durch die Große Koalition entlastet worden sind, dann stellt man fest, dass das schon eine ganze Menge ist. Im Bereich der Bildung sind die Ausgaben des Bundes für die Länder und Kommunen nahezu verdoppelt worden. Geld ist in Forschungseinrichtungen und Exzellenzinitiativen gesteckt worden, weiterhin in den Hochschulpakt und in die Förderung von Kitas. Schauen wir uns den sozialen Bereich an. Im sozialen Bereich haben wir uns ganz stark bei der Übernahme der Kosten für die Unterkunft engagiert, wir haben die Kosten für die Grundsicherung im Alter und für Erwerbsminderung übernommen, wir haben die BAföG-Kosten übernommen und viele andere Dinge mehr. Nehmen wir den Bereich Infrastruktur. Der Bundesfinanzminister hat es gerade erwähnt: Wir haben ein Paket für finanzschwache Kommunen aufgelegt, damit diese investieren können, und zwar in einer Höhe von 3,5 Milliarden Euro. Diese Summe wird in den nächsten Jahren noch weiter steigen. Wir beteiligen uns an den Betriebskosten von Kitas, wir leisten direkte und indirekte Hilfe im Bereich des Breitbandausbaus. Wir sind an ganz vielen Stellen aktiv geworden, um Länder und Kommunen zu entlasten. Der Höhepunkt war sicherlich die letzte Woche, als eine Einigung über den Länderfinanzausgleich erzielt worden ist. Da geht es um 9,5 Milliarden Euro, die wir leisten, damit der Ausgleich zwischen den finanzschwachen und den finanzstarken Ländern besser gelingen kann. Jetzt erwarte ich von den Ministerpräsidenten oder den heute angesichts der Bedeutung der Debatte sehr zahlreich anwesenden Vertretern des Bundesrates nicht unbedingt, dass sie Danke schön sagen. Das sind wir nicht gewohnt. Aber ich würde mir vielleicht wünschen, dass eines passiert, nämlich dass man anerkennt, was der Bund für die Länder und die Kommunen leistet. Die Erfahrung in der Vergangenheit war leider: Ehe die Tinte unter dem Gesetz trocken ist, wird nicht Danke gesagt, sondern: mehr, noch mehr. – Das geht so nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) Jetzt könnte man fragen: Wieso denn? Der Bund schreibt Überschüsse, er verzeichnet eine schwarze Null, er kommt doch super klar mit seinem Geld und hat hohe Steuereinnahmen. – Wer das sagt, der verschweigt, dass von jedem Euro Einkommensteuer 57,50 Cent an die Länder und Kommunen gehen, der verschweigt, dass von jedem Euro Umsatzsteuer 48 Cent an die Länder und Kommunen gehen, der verschweigt, dass die Einnahmen der Länder und Kommunen in den vergangenen Jahren stärker gestiegen sind als die Einnahmen des Bundes, der verschweigt, dass die Pro-Kopf-Verschuldung auf Bundesticket größer ist als die konsolidierte Verschuldung auf Landesebene, und der verschweigt, dass die Zinsausgaben des Bundes im Vergleich zu denen der konsolidierten Länderhaushalte viel höher sind. Es ist wichtig, das hier zu sagen, weil wir nämlich an der Grenze unserer Belastungsfähigkeit angekommen sind. Unser Haushalt ist mittlerweile auf Kante genäht, und zwar deswegen, weil wir so viel von den Mitteln, die eigentlich für Bundesaufgaben vorgesehen waren, an die Länder und Kommunen weiterleiten. Das geht so nicht weiter, weil wir nämlich vor sehr großen Herausforderungen stehen. Ich möchte das an einigen Beispielen erläutern. Schauen wir uns die wirtschaftliche Entwicklung an. Momentan läuft es gut. Aber was ist denn, wenn es schlechter läuft? Dann sind wir gleich dreifach belastet: Wir haben weniger Steuereinnahmen – das haben die Länder und Kommunen auch –, aber wir werden die Sozialversicherungssysteme stabilisieren müssen, und von uns wird erwartet werden, dass wir mit Steuergeldern die konjunkturellen Impulse setzen. Wir haben ganz neue Herausforderungen, über die wir vor drei oder vier Jahren noch gar nicht nachgedacht haben. Das betrifft die Integration, aber vor allen Dingen die Vermeidung von Flucht- und Migrationsursachen. Dafür werden wir sehr viel Geld ausgeben müssen: in Afrika, in Nordafrika und woanders auf der Welt. Dann haben wir den Punkt äußere Sicherheit. Wir haben Konflikte, die mittlerweile vor unserer Haustür sind, zum Beispiel in der Ukraine. Gestern war die Konferenz im Bundeskanzleramt. Wir haben komplett neue sicherheitspolitische Herausforderungen im Bereich der Cybersicherheit, für die wir sehr viel Geld ausgeben müssen. Wir haben Herausforderungen in der inneren Sicherheit, zum Beispiel bei der Terrorismusbekämpfung. Wir müssen schauen, wie wir mit dem demografischen Wandel umgehen. Das ist eine Herausforderung für unsere Sozialsysteme. Wir haben natürlich auch die Kosten der Integration. Die 2 Milliarden Euro, die wir momentan zusätzlich in den Pott hineinwerfen, werden nicht das Ende der Fahnenstange sein. Und Folgendes ist schon fast vergessen: An Deutschland hängt auch die Stabilisierung Europas. Auch das ist nicht umsonst zu haben, meine Damen und Herren. Deswegen müssen wir sagen: Der Rucksack des Bundes ist mittlerweile voll. Und jeder, der da noch weitere Ziegelsteine hineinpackt, versündigt sich an denjenigen, die hier in 20 Jahren sitzen werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Denn die würden nur noch damit beschäftigt sein, die Steuergelder des Bundes an Länder und Kommunen weiterzuleiten, Belastungen aus der Vergangenheit abzutragen und Sozialversicherungssysteme zu stabilisieren. Lassen Sie mich – das gehört nicht ganz zur Debatte, aber sicherlich zur politischen Großwetterlage – eines dazu bemerken: Dieses Fairnessgebot im Hinblick auf die kommende Generation gilt auch für die Menschen, die im Augenblick, wahlkampfmotiviert, meinen, dass sie durch eine Ausweitung des Rentensystems noch den einen oder anderen Punkt sammeln können. Wer heute Rentengeschenke und Zusagen auf Kosten der kommenden Generation macht, der nimmt unseren Kollegen, die hier in 20 Jahren sitzen werden, Handlungsfreiheit. Und das geht so nicht, meine Damen und Herren! (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn ich jetzt einmal einen Strich unter diese ganze Beratung ziehe, fallen mir dazu drei Punkte ein. Erstens. Es ist richtig – auch die Kollegin Gottschalck hat das gesagt –, dass wir die Kommunen unterstützen, weil sie der Ort sind, wo die Bürgerinnen und Bürger Politik unmittelbar wahrnehmen. Man kann niemandem erklären, dass Politik in Deutschland funktioniert, wenn die Schulen in einem schlechten Zustand sind, wenn die Infrastruktur in einem schlechten Zustand ist. Deswegen ist es richtig, dass jetzt Geld an die Kommunen fließt. Zweitens. Wir erwarten aber auch von den Ländern, dass die 5 Milliarden Euro, die jetzt in den Topf geworfen werden, und somit auch die 1 Milliarde Euro – die Ministerpräsidenten haben sich im Übrigen ausbedungen, dass sie nicht in den kommunalen Topf hineinkommen, Frau Haßelmann – eins zu eins an die Kommunen weitergeleitet werden und dass dieses Geld auch bei den Kommunen ankommt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir erwarten weiter, dass die Integrationsmittel, die jetzt von uns gezahlt werden, dazu benutzt werden, um insbesondere die Kommunen von den zusätzlichen Integrationskosten zu entlasten. Und wir erwarten, dass das Geld, das wir für den sozialen Wohnungsbau bereitstellen, zusätzlich vor Ort – in den sozialen Brennpunkten der Kommunen – investiert wird, damit wir dort die Wohnungsnot mindern können. Vor allen Dingen erwarten wir eines, meine Damen und Herren: dass kein Land – das ist ein Appell an den Bundesrat – jetzt auf die Idee kommt, zu sagen: Na ja, die Kommunen haben jetzt mehr Geld vom Bund bekommen, das können wir an anderer Stelle einsparen und einen kommunalen Finanzausgleich machen, im Zuge dessen den Kommunen das Geld wieder weggenommen wird, das der Bund ihnen jetzt gibt. – Das ist eine Sache, meine Damen und Herren, die wir nicht dulden werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Drittens. Die Ministerpräsidenten stehen in der Verantwortung für die Kommunen. Die Kommunen sind Bestandteil der Länder, und dementsprechend ist es auch deren Aufgabe, für eine auskömmliche und ordentliche Finanzausstattung zu sorgen. Daran müssen sich die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten messen lassen; denn das ist föderale Verantwortung. Wer föderale Verantwortung darauf reduziert, immer nur nach dem Geld des Bundes zu suchen, der höhlt dieses föderale System aus. Das wollen wir nicht, und das werden wir auch in den Beratungen berücksichtigen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Dağdelen hat nun das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Brinkhaus, ich finde es bemerkenswert, dass Sie sich hier hinstellen und süffisant sagen, dass sie von den Kommunen und Ländern zwar kein Dankeschön erwarten, aber Anerkennung. Ich meine, es sind doch nicht die Länder und die Kommunen gewesen, die die Entscheidungen in der Flüchtlingspolitik getroffen haben. Es war die Bundesregierung, es war die Bundeskanzlerin, die die Entscheidungen getroffen und letztlich mit dazu beigetragen haben, (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) dass die Länder und die Kommunen vor vielen großen Problemen standen, die sie erst einmal nicht bewältigen konnten. Sie konnten sie letztendlich auch nur bewältigen, weil es Hunderttausende von freiwilligen Helferinnen und Helfern – aus Kirchen, Organisationen und Verbänden – gegeben hat, die geholfen haben, die Entscheidungen der Bundesregierung vor Ort abzufedern. Das alles ist doch von der Bundesregierung zu verantworten. Also erwarten und fordern Sie nicht Anerkennung. Es ist doch das Mindeste, dass der Bund den Kommunen und Ländern die finanziellen Mittel zur Verfügung stellt, die erforderlich sind, um mit den Problemen fertig zu werden, die die Entscheidungen der Bundesregierung mit sich gebracht haben. (Beifall bei der LINKEN) Nach einer aktuellen Umfrage von Infratest dimap aus diesem Monat halten 85 Prozent der Deutschen die Vermittlung von Sprachkenntnissen für die zentrale Aufgabe bei der Integration der Flüchtlinge in Deutschland. Auch dem Schulbesuch wird eine hohe Bedeutung beigemessen: 74 Prozent der Befragten halten die Integration von Flüchtlingskindern in den Schulen für sehr wichtig. Die Vermittlung deutscher Grundwerte erachten 62 Prozent der Befragten als eine sehr wichtige Aufgabe und die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt 53 Prozent. Die angemessene Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen sehen 42 Prozent als eine sehr wichtige Aufgabe. Zur Erinnerung: 85 Prozent halten die Vermittlung von Sprachkenntnissen bei der Integration der Flüchtlinge für wichtig. Da muss ich schon sagen: Es ist wirklich ein unglaublicher Skandal, dass die Bundesregierung überhaupt nichts tut, um Geld für zusätzliche Integrationskurse zur Verfügung zu stellen, (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist völlig falsch!) obwohl sie weiß, dass der Bedarf an Integrationskursen immer weiter steigt. Die Bundesregierung hat gerade selbst festgestellt – vor zwei Tagen war das in der Rheinischen Post zu lesen –, dass weniger als 40 Prozent der Asylbewerber und Geduldeten mit einer Teilnahmeberechtigung im laufenden Jahr einen Integrationskurs besuchen konnten. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Wie kann man so was behaupten? Völlig falsch!) Dem großen Bedarf an Integrationskursen steht weiterhin nur ein unzureichendes Angebot gegenüber. Ich finde, es muss endlich genügend Plätze geben. (Beifall bei der LINKEN) Die Regierung, besonders der Innenminister, muss auch aufhören, immer nur zu behaupten, die Flüchtlinge würden nicht Deutsch lernen. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das tut er gar nicht!) Nein, Sie sind in der Bringschuld! Sie geben nicht genügend Integrationskurse frei, und Sie setzen sich auch nicht dafür ein, dass genügend Mittel zur Verfügung stehen. Sie haben gesagt, dass Sie 2016  559 Millionen Euro für Integrationskurse für 300 000 Personen zur Verfügung stellen wollen. Vor kurzem hat die Bundesregierung auf eine Anfrage von uns Linken geantwortet, dass das Geld, das eigentlich für 300 000 Personen gedacht war, für 550 000 Personen reichen soll. Wie machen Sie das? Sie setzen die Kursgrößen höher an und versuchen, sozusagen statistisch die Nachfrage zu verkleinern. Dabei wissen wir aber, dass wir 800 000 Plätze brauchen. Daneben haben wir noch ein anderes Problem. Ganz aktuell habe ich gehört, dass beispielsweise aus der Region Hannover Flüchtlinge ein bis anderthalb Jahre auf einen Platz in einem Integrationskurs warten müssen, um Deutsch zu lernen. Was ist der Grund? Die Volkshochschulen sagen: Es gibt nicht genügend Lehrkräfte. – Warum gibt es nicht genügend Lehrkräfte? Weil die Arbeitsbedingungen miserabel sind und die Bezahlung miserabel ist. Die Lehrkräfte, die diese Kurse geben, arbeiten auf Hartz-IV-Niveau. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Da sind Sie aber nicht auf aktuellem Stand! Das haben wir bereits deutlich verbessert!) Wir Linke fordern seit Jahren: Verbessern Sie die Arbeitsbedingungen und die Löhne der Lehrkräfte. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Alles passiert!) Dann werden sich auch Lehrkräfte für so eine Mammutaufgabe zur Verfügung stellen, und dann wird es auch gelingen, den Flüchtlingen genügend Plätze zur Verfügung zu stellen. (Beifall bei der LINKEN) Sie müssen sich doch einmal vorstellen: Wenn ein Flüchtling subsidiären Schutz erhält, muss er im Vorfeld eine Vereinbarung unterzeichnen, dass er diesen Kurs absolviert. Bis dieser Fall eintritt, ist er theoretisch bei so einer langen Wartezeit gar nicht mehr im Lande. Meine Damen und Herren, ich finde, so schaffen wir keine guten Rahmenbedingungen für Integration. Ich finde es auch nicht angemessen, dass angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, angesichts des Investitionsstaus, den wir haben, und angesichts der sozialen Spaltung, die wir haben und die es auch gab, bevor die Flüchtlinge kamen, der Bundesfinanzminister – ich muss es so sagen – so obsessiv an der schwarzen Null hängt. Eins kann ich Ihnen sagen: Wer so an der schwarzen Null hängt, statt zu investieren, (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Alles klar! Sparen hat mit Ihnen nichts zu tun!) sowohl für Flüchtlinge als auch für Einheimische, der darf sich nicht wundern, dass das dann zu vielen braunen Nullen in unserer Gesellschaft führt. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Bernhard Daldrup für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Bernhard Daldrup (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will die richtige Bilanz, die der Bundesfinanzminister eben vorgetragen hat, nicht wiederholen, sondern noch einmal darauf aufmerksam machen, dass das Wichtigste an diesem Gesetz zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Tatsache ist, dass wir in den nächsten drei Jahren ungefähr 20 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Hier den Eindruck zu erwecken, als wäre das nichts, ist schon eine ziemliche Dreistigkeit, wie ich finde. Das ist eine wichtige, notwendige und gute Entscheidung gewesen, die wir getroffen haben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Der zweite wichtige Punkt an diesem Gesetz ist – ich unterstreiche ausdrücklich das, was die Kollegin Gottschalck gesagt hat –, dass wir Wort gehalten haben – ich komme darauf zurück, Britta Haßelmann –, das heißt mit anderen Worten: Wir haben uns in dieser Großen Koalition als Anwalt der Kommunen verstanden, und wir haben die Maßnahmen gemeinsam auf den Weg gebracht. Das ist gut für die Kommunen und gut für die Länder, gut für Deutschland insgesamt. Das ist ein Erfolg unserer Arbeit, den wir uns nicht ohne Weiteres zerreden lassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich will noch einmal auf folgende Frage aufmerksam machen: Was war eigentlich unser Ausgangspunkt, und weshalb wollten wir den Kommunen helfen? Der Ausgangspunkt war Bedürftigkeit. Wir haben gesagt: Wir müssen Kommunen, die sich in einer finanziell prekären Situation befinden, helfen. Das ist nicht bei allen Kommunen in Deutschland so, sondern nur bei einem bestimmten Teil. Wir haben mittlerweile – das ist relativ unstreitig – in diesem Bereich eine Art Zweiklassengesellschaft. Wir haben weiterhin drei Probleme: Wir haben zu hohe Sozialausgaben; meistens bundesgesetzlich verursacht. Wir haben eine Investitionsschwäche, Infrastrukturdefizite in erheblichem Umfang. Und wir haben ein Schuldenproblem bei den Kommunen mit gefährlich hohen Kassenkrediten. Das alles zusammen führt dazu, dass wir die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland insgesamt nicht so gewährleisten können, wie wir das wollen. Deshalb war Bedürftigkeit unser Ausgangspunkt, um Kommunen in prekären Finanzsituationen zu helfen. Das haben wir in der Vergangenheit mit einer großen Zahl von Maßnahmen gemacht, wie das eben vorgetragen worden ist. Es kann sein, dass Mittel nicht schnell genug abfließen; darauf hat der Finanzminister hingewiesen. Wenn wir Hilfestellungen zum Beispiel im Personalbereich geben können, dann ist das gut. Ich will an dieser Stelle noch einmal auf den Kernpunkt unserer Koalitionsvereinbarung eingehen, nämlich die 5 Milliarden Euro Entlastung, und darauf aufmerksam machen, dass wir zusätzlich eine Integrationspauschale in Höhe von dreimal 2 Milliarden Euro eingeführt haben, die die Länder so verwenden können, wie sie es für richtig halten. Es wäre besser, wenn in der Vereinbarung zwischen Ländern und Bundesregierung stehen würde, dass daran auch die Kommunen beteiligt werden müssen, Herr Brinkhaus, als wenn dort stehen würde, es stünde den Länderhaushalten zur Verfügung. Das nur einmal am Rande. Aber ich finde, diese pauschale Unterstützung, Britta, ist ein vernünftiger Ansatzpunkt, weil die Kommunen selber immer nach einer solchen Integrationspauschale gerufen haben. Das, was Frau Dağdelen vorgetragen hat, finde ich, ehrlich gesagt, völlig grotesk. Vor dem Hintergrund der Kosten in Höhe von 18 Milliarden Euro für diesen gesamten Bereich in 2016, aufsteigend in den kommenden Jahren, vor dem Hintergrund, dass die Mittel für die Integrationskurse von 204 Millionen Euro auf über 500 Millionen Euro aufgestockt worden sind, zu sagen, man würde in diesem Bereich nichts tun, ist einfach nicht richtig; es ist einfach falsch. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die Tatsache, dass wir 2,6 Milliarden Euro flüchtlingsbedingte KdU übernehmen, die Tatsache, dass wir zweimal 500 Millionen Euro für den Wohnungsbau zur Verfügung stellen, das alles macht in der Summe 20 Milliarden Euro aus. Wir stehen zu unserem Wort. (Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) – Die Bundeswehr ist nicht Teil der Kommunalpolitik, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Nur weil wir etwas für die Bundeswehr tun, soll das, was wir für die Länder tun, nicht in Ordnung sein? Was ist das denn für eine Auffassung? Das, was Sie sagen, ist doch absurd. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die haben keine anderen Argumente! Das ist das Problem!) Ich will an dieser Stelle noch einmal auf den Verteilungsmechanismus zu sprechen kommen. Es ist mir auch wichtig, dass die 1 Milliarde Euro, die über die Länderhaushalte verteilt werden soll, im weiteren Gesetzgebungsverfahren hinterfragt werden soll. Wir sollten nicht eine Erwartung an die Länder formulieren, die nicht eingelöst werden kann. Das sollten wir ändern. Ich glaube, wir können das auch ändern. Das ist ein vernünftiger Gesichtspunkt. Wir sollten uns tatsächlich die Frage stellen: Warum werden 2,4 Milliarden Euro über den Umsatzsteueranteil und nur 1,6 Milliarden Euro über erhöhte KdU, also über den Sozialindikator, verteilt? Die Wirkungen entsprechen nämlich nicht unserem Ziel „Hilfe nach Bedürftigkeit“. Das kann ich Ihnen gerne nachweisen. Wir stärken auf diese Art und Weise diejenigen mit hohen Gewerbesteuereinnahmen, die Schwächeren werden geschwächt. Frankfurt beispielsweise bekommt auf der Grundlage des derzeitigen Schlüssels von den 4 Milliarden Euro 127 Euro pro Einwohner, Oberhausen 64 Euro, Düsseldorf 102 Euro, Trier – eine der zehn höchstverschuldeten Städte in Deutschland – gerade einmal 48 Euro. Das heißt mit anderen Worten: Das ist nicht in Ordnung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir müssen hier nicht auf die Länder gucken, sondern auf die Kommunen, und wir müssen diesen Sachverhalt ändern. Einen wirklichen Nutzen erfahren die Menschen erst, wenn sich die Situation bei den Kitas und der sonstigen Infrastruktur verändert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hier stellt sich also die Frage, warum wir diesen Verteilungsschlüssel eigentlich wählen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Wollten Sie sich bei mir vergewissern, Herr Kollege, ob ich bemerkt habe, dass Ihre Redezeit überschritten ist? Bernhard Daldrup (SPD): Nein, ich wollte das selbstverständlich nicht, sondern wollte vorbeugend darauf aufmerksam machen, dass ich es schon selber wahrgenommen habe. (Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Noch schöner wäre, wenn Sie es berücksichtigen könnten. (Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bernhard Daldrup (SPD): Ich verfolge jetzt ganz zielgerichtet die Absicht, das zu berücksichtigen, (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wenn Sie mir freundlicherweise gestatten, noch einen Satz zu sagen, der bei der Angelegenheit, bei dem Thema wichtig ist. Diesen Verteilungsschlüssel gibt es deshalb, weil wir bei einer stärkeren Entlastung der Kommunen bei den Kosten der Langzeitarbeitslosigkeit in Konflikt mit einer verfassungsrechtlich gebotenen Verwaltungszuständigkeit kommen. Es darf eigentlich nicht sein, meine Damen und Herren, dass die Hilfe für Kommunen in einer Notsituation daran scheitert, dass wir eine Verfahrensgrenze – Bundesauftragsverwaltung – erreichen. Da muss der Maßstab sein, die Hilfe für die Betroffenen zu stärken. Leider kann ich das jetzt nicht mehr im Einzelnen ausführen, ohne mich der Gefahr auszusetzen, dass der Präsident noch einmal eingreift. Präsident Dr. Norbert Lammert: Völlig richtig. Bernhard Daldrup (SPD): Insofern bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich will damit abschließen, zu sagen: Wir zeigen Verantwortung, wir nehmen sie wahr, wir halten in dieser Angelegenheit Wort, und ich glaube, wir haben genug Selbstbewusstsein, sie auch im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu zeigen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Anja Hajduk erhält nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen hier in der Debatte über die Bundesbeteiligung an den Kosten der Integration und über eine Entlastung der Kommunen. Das erkennen wir an; das ist wichtig, das ist richtig. Und wir erkennen auch an, dass dort Summen zur Verfügung gestellt werden. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr gut!) Unsere Kritik richtet sich aber gegen die Verteilung der Mittel, und diese Kritik muss hier heute Raum haben; denn die Verteilung muss dringend verändert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]) Die Verteilung der 5 Milliarden Euro zur Entlastung der Kommunen muss man doch vor dem Hintergrund des folgenden Befundes sehen: Die Finanzlage der Kommunen in Deutschland ist nicht per se schlecht, sondern höchst unterschiedlich – sanierte Straßen und Schulen dort, geschlossene Schwimmbäder und marode öffentliche Einrichtungen woanders. Viel zu oft sind Kommunen entweder finanzschwach, weil sie geringe Einnahmen haben, oder sie leiden unter extrem hohen Altschulden. Wenn dann noch eine Strukturschwäche bedingt, dass es hohe Sozialausgaben gibt, dann führt das bei zu vielen Kommunen dazu, dass sie in einer totalen Abwärtsspirale stecken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Oder politisch vielleicht schlecht geführt sind!) – Es können auch mal politische Fehler dahinterstecken. Aber ich glaube, es gibt keinen Zweifel, Herr Kollege, dass es strukturell bedingt auch im Westen und nicht nur einnahmebedingt im Osten kommunale Probleme gibt, um die wir uns hier im Bund auch kümmern sollten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Und ich akzeptiere nicht, dass Sie sich dahinter verstecken, dass es einen grünen Ministerpräsidenten gibt, der vielleicht mal im Bundesrat einen anderen Akzent gesetzt hat. Sie haben selber auch Ministerpräsidenten, (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Einen zu wenig!) und der Bundestag ist dazu da, auch mal den Ministerpräsidenten zu sagen, wo sie irren, wo man zielgenauer finanzschwachen Kommunen helfen muss. Wir nehmen diese Verantwortung ernst, und das sollten Sie auch tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Offensichtlich nicht! – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Immer dieses Kretschmann-Bashing der Grünen! Das geht doch gar nicht!) Deswegen: Vor dem Hintergrund der großen Spreizung bei den kommunalen Finanzen bleibt es falsch, dass von dem Kuchen der 5 Milliarden Euro erst einmal 1 Milliarde Euro, sage und schreibe 20 Prozent, an die Länder geht. Ich bin froh, dass Herr Daldrup hier gesagt hat, er beabsichtige, dass wir diesen Schlüssel anpacken und ihn noch verändern. Wir werden Sie dabei unterstützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber, Herr Daldrup, es ist auch falsch, dass definiert ist, dass ein Großteil der 4 Milliarden Euro nach dem Umsatzsteueranteil der Gemeinden verteilt wird. Das heißt, auch hier profitieren wieder die finanzstarken Gemeinden. Besser wäre es, zu sagen: Der Großteil der restlichen 4 Milliarden Euro wird unter Berücksichtigung der Anhebung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft verteilt; denn dann wirkt es zielgenau in den Gemeinden, die hohe Sozialausgaben haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hohe Sozialausgaben gleich strukturschwache, gleich finanzschwache Kommune – das ist doch nicht so schwer zu verstehen. Wir fordern Sie auf, auch an dieser Stelle den Schlüssel zu ändern. Wir werden einen entsprechenden Vorschlag vorlegen, und wir hoffen, dass Sie dabei sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte das Thema in einen größeren Zusammenhang stellen. Ich bin Finanzminister Schäuble schon dankbar für den Rahmen, den er gesetzt hat. Im Moment haben wir die Situation, dass die öffentlichen Haushalte in Deutschland insgesamt gesehen gut dastehen: Die kommunalen – in Gänze –, die der Länder und des Gesamtstaats verzeichnen ein Plus. In solchen Zeiten, in denen der öffentliche Haushalt gut dasteht, werden es die Bürgerinnen und Bürger nicht verstehen, wenn die Politik unfähig ist, zielgenau dort zu helfen, wo Mangel besteht. Deswegen: Wenn wir die Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern in Bezug auf funktionierende und gute Politik oder auch in Bezug auf hohe Ausgaben für Zuwanderung und Integration insgesamt erhalten wollen, dann müssen Investitionen in die Behebung mangelhafter Infrastruktur oder auch schlicht fehlender Infrastruktur getätigt werden, vor allem in jenen Gebieten, die von Wegzug betroffen sind, die darunter leiden, dass sie nicht so attraktiv sind und daher nicht so viele Menschen anziehen. Wir könnten mit vorhandenen Mitteln – ich betone: vorhandenen Mitteln – die Probleme beheben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich komme zum Schluss. Wir werden bei der jetzt vorliegenden Einigung mit Blick auf die Bund-Länder-Finanzbeziehungen sehr genau darauf achten, wie das jetzt ausgelegt wird, was neu verabredet ist, dass der Bund mehr Steuerungsrechte bei Finanzhilfen erhält; es ist nämlich eine grundgesetzliche Erweiterung der Mitfinanzierungskompetenzen des Bundes im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur für finanzschwache Kommunen verabredet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich freue mich über die Selbstkritik des Finanzministers Schäuble an der fehlerhaften Beschränkung des Bundes, den Ländern und Kommunen bei der Bildungsinfrastruktur zu helfen. Diese Selbstkritik war überfällig. Ich bin froh, dass sie auch zu einem Beschluss geführt hat. Das Ganze geht aber nur richtig auf, wenn wir genau definieren: Was sind finanzschwache Kommunen? Diesem Problem begegnet man nicht mit der Verteilung von Umsatzsteuerpunkten nach dem Gießkannenprinzip; vielmehr geht es um eine genaue Definition, was „finanzschwach“ bedeutet. Damit fangen wir am besten bei dem vorliegenden Gesetzentwurf an. Dann haben Sie uns auch auf Ihrer Seite. Ich glaube, das ist mit Blick auf die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger überfällig. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Eckhardt Rehberg für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Bund entlastet Länder und Kommunen in einem historischen Ausmaß. All denjenigen, die heute den Bund kritisiert haben, empfehle ich, den Bericht des Bundesrechnungshofs zum Haushalt 2017, und zwar die Seiten 24 und 25, zu lesen. Dort hat der Bundesrechnungshof unter der Überschrift „Entlastung von Ländern und Kommunen“ aufgelistet, dass diese um 73 Milliarden Euro entlastet werden, allein in diesem Jahr um zusätzlich über 10 Milliarden Euro. Frau Kollegin Haßelmann, auch im Jahr 2015 gab es eine Soforthilfe des Bundes für die Integration der Flüchtlinge in Höhe von 2 Milliarden Euro. Das heißt, der Bund hat an dieser Stelle sofort gehandelt. Ihren Vorwurf weise ich zurück. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Lassen Sie mich einen zweiten Punkt ansprechen. Bundesfinanzminister Schäuble und auch Ralph Brinkhaus haben darauf hingewiesen – ich will das noch einmal kontrastieren –: Aktuell sieht die gesamtstaatliche Steuerverteilung beim Mischsteuersatz so aus: 44 Prozent bekommt der Bund und 56 Prozent bekommen die Länder und Gemeinden. Aufgrund der in den nächsten vier Jahren zu erwartenden Steuermehreinnahmen verschiebt sich die Verteilung hin zu 40 Prozent für den Bund und 60 Prozent für die Länder und Gemeinden. Das heißt, die Anteile an den Steuereinnahmen – ich war nie ein großer Freund davon, das über Umsatzsteuerpunkte zu regeln; darauf gehe ich noch ein – werden sich in den nächsten Jahren massiv weiter zugunsten der Länder und der Kommunen verschieben. Das muss auch bei diesem 5-Milliarden-Euro-Paket und bei den Integrationsleistungen, die der Bund für die Länder und Kommunen bezahlen will, berücksichtigt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in dieser Legislaturperiode – Herr Kollege Daldrup, 20 Milliarden Euro sind es in diesem Paket; das ist richtig – den Ländern und Kommunen 80 bis 90 Milliarden Euro mehr zur Verfügung stellen als in der letzten Legislaturperiode. Insgesamt sind es in diesem Jahrzehnt fast 200 Milliarden Euro, wenn ich das Jahr 2010 zum Vergleich heranziehe. Es gibt kein Jahrzehnt, in dem der Bund die Länder und Kommunen so stark entlastet hat wie in dieser und der letzten Legislaturperiode. Wir stehen aber vor einer ganz gravierenden Herausforderung; mehrere Redner haben darauf hingewiesen. Deshalb muss das Geld, das politisch für Kindertagesstätten, den sozialen Wohnungsbau und für die Integration von Flüchtlingen vereinbart worden ist, auch in den Kommunen ankommen. Das ist sachlich geboten. Dort gehört es hin. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich bin mir mit meinen Vorrednern darüber einig, dass für uns – ich meine damit den gesamten Bundestag – viel Arbeit ansteht, wenn wir im Rahmen der Neugestaltung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen das vereinbaren – ich nenne das einmal eine „Liste B“ –, worüber wir am Donnerstag und Freitag der vergangenen Woche gesprochen haben. Ich glaube, wir müssen alle ein Interesse daran haben, dass der Bundesrechnungshof wieder kontrollieren kann. Frau Kollegin Hajduk, es war übrigens das Bundesverfassungsgericht, das mit einem Beschluss aus dem Jahr 2010 dem Bundesrechnungshof die Werkzeuge aus der Hand geschlagen hat, nachdem fünf Länder geklagt haben. Das heißt, wir müssen eine Grundgesetzänderung vornehmen, damit wieder kontrolliert werden kann. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Ich halte eine Steuerung und eine Kontrolle der Mittel, die der Bund an die Länder durchreicht, für zwingend geboten – die Länder haben bei den Finanzen die Verantwortung, die Zuständigkeit für die Kommunen –, damit die Bund-Länder-Beziehungen wieder in die Waage gebracht werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Ulrike Gottschalck [SPD] – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da unterstützen wir Sie!) Man kann die Verteilung der 4 Milliarden Euro kritisieren. Mecklenburg-Vorpommern ist bekanntlich kein finanzstarkes Land, hat dennoch im Gegensatz zu anderen im Koalitionsvertrag vereinbart, dass von den Überschüssen drei Viertel zur Schuldentilgung genutzt werden und ein Viertel für die Kommunen verwendet werden. Mecklenburg-Vorpommern tilgt übrigens seit zehn Jahren Schulden. Gelegentlich sollten sich andere Länder ein Beispiel daran nehmen und das Geld nicht für irgendwelche Dinge verpulvern, die nicht nachhaltig und vernünftig sind. Wer hier sagt: „Ich will einen höheren Anteil an den Mitteln für die Kosten der Unterkunft haben“, der muss auch sagen: Ich will eine Grundgesetzänderung. – Anders geht das nicht. Wer das will, muss an dieser Stelle auch sagen, dass dieser Grundgesetzänderung auch zwei Drittel des Bundesrates zustimmen müssen. – Das ist die Konsequenz. Dabei wünsche ich viel Vergnügen. Ich bin da durchaus dabei. Für mein Bundesland bedeutet die Verteilung von 1 Milliarde Euro nach KdU 30 Millionen Euro, von 1 Milliarde Euro nach Umsatzsteuer 14 Millionen Euro, und nach dem Königsteiner Schlüssel – darauf will ich noch einmal eingehen – heißt 1 Milliarde Euro 20 Millionen Euro. Auch der Königsteiner Schlüssel ist nicht zwingend dazu geeignet, finanzschwache Kommunen und finanzschwache Länder hinsichtlich des Ziels der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ausgleichend zu behandeln, so sage ich es einmal. Ich persönlich versperre mich da keiner Diskussion. Im Zusammenhang mit dem Kommunalinvestitionsprogramm ist mancher Kollege zu mir gekommen und hat gefragt: Eckhardt, warum kriegen die Steuerstarken mehr als die Steuerschwachen? – Für mich sind aber Kassenkredite – ich wiederhole das, was ich gestern im Haushaltsausschuss gesagt habe – kein Maßstab für die Finanzschwäche von Kommunen. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht alle!) Sie können nämlich zwei wesentliche Gründe haben: Es kann sein, dass die Rechtsaufsicht – sprich: das Innenministerium – versagt hat und die Zügel zu locker gelassen hat. Es kann aber auch anders sein. Das hat der Kollege Mattfeldt in einem Zwischenruf deutlich gemacht: Nicht immer liegt die Ursache für eine Finanzschwäche der Kommunen in der Strukturschwäche, sondern manchmal auch in falschem kommunalpolitischen Handeln. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber das hilft doch nichts!) Dafür kann, sollte und darf man den Bund nicht in Haftung nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist es aber nicht allein, und das wissen Sie auch!) Das können wir aus meiner Sicht nicht machen. Ich will noch auf einen weiteren Punkt eingehen, den ich mit Blick auf die Anhörung zu diesem Gesetzespaket für wichtig halte. Wir können uns im Bund so viel bemühen, wie wir wollen, möglicherweise auch die Rechte des Bundesrechnungshofes stärken, aber es gibt einen Punkt, bei dem wir alle in allen 16 Ländern gefordert sind: Es gibt heute kommunale Finanzausgleichssysteme, bei denen per Gesetz die zusätzlichen Finanzmittel, die die Kommunen erhalten, über Vorwegabzüge wieder in die Landeskasse fließen. Ich habe dabei drei Länder im Kopf – ich behalte sie einmal für mich –, von denen ich es definitiv weiß, mit ganz unterschiedlichen parteipolitischen Farben. (Zuruf von der SPD: Nennen Sie sie!) Deshalb ist es, Kollege Daldrup – auch Ingbert Liebing spreche ich ganz direkt an –, auch eine Aufgabe der Kommunalpolitik, dafür zu sorgen, dass diese Mechanismen aufgelöst werden. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: So ist es!) Denn wenn wir sie nicht auflösen, haben wir im Bund nichts gewonnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sonja Steffen [SPD]) Eine letzte Bemerkung an dieser Stelle: Es geht mir nicht darum, dass Bundestagsabgeordnete nicht zu Kita- oder Schuleröffnungen nach erfolgter Sanierung eingeladen werden; das ist überhaupt nicht mein Thema. Aber ich erlebe fast nie, egal ob das bei mir zu Hause ein CDU- oder ein SPD-Minister ist, dass darauf hingewiesen wird, dass der Bund zu 90 Prozent, zu 50 Prozent oder zu 10 Prozent Geld dazugegeben hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Josip Juratovic [SPD]: Sehr richtig!) Das Dreisteste, das ich erlebt habe – die Wahlen sind bei uns vorbei –, war, dass der jetzige Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Brodkorb, in Rostock groß plakatiert hat, der Hochschulbau sei seine ganz eigene Finanzierungssache gewesen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die SPD-Fraktion erhält der Kollege Martin Gerster das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Martin Gerster (SPD): Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute den Gesetzentwurf zur Beteiligung des Bundes an den Kosten der Integration diskutieren, dann geht es natürlich in erster Linie und vordergründig um Geld. Ich möchte aber für die SPD-Fraktion noch einmal betonen: Es geht um Menschen, um Menschen, die auf der Flucht sind vor Krieg, Terror, Verfolgung oder Armut oder sich aus anderen Gründen auf den Weg gemacht haben, um woanders Obdach, Unterschlupf zu finden. Wir haben in Deutschland in der Tat viele Flüchtlinge aufgenommen. Nicht alle können bleiben, viele wollen und andere müssen zurück in ihre Heimatländer. Aber bei jenen, die hier bleiben, ist es, finde ich, unsere Pflicht, alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit sie sich hier gut integrieren und eine Perspektive für ihr weiteres Leben aufbauen können. Ich denke, das ist gut für die Betroffenen ganz individuell, aber auch für unsere Gesellschaft, und es ist die beste Prävention gegen eine erfolgreiche Ansprache von Terrororganisationen und ein Abdriften in Bereiche von Kriminalität und Gewalt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine ich, dass Flüchtlingspolitik eine riesengroße Herausforderung und eine gesamtstaatliche Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen ist. Daher ist es nur folgerichtig, dass sich die verschiedenen Ebenen gegenseitig unterstützen und ergänzen. Wir dürfen das jedoch nicht auf eine gute Verteilung der Aufgaben reduzieren, sondern wir müssen klären, wer wie viel wofür bezahlt. Es ist fast ein Jahr her, dass wir an dieser Stelle das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz beraten und beschlossen haben. Mit diesem Gesetz hat sich der Bund bereits verpflichtet, die Kosten für Asylbewerberinnen und Asylbewerber in Höhe einer Fallpauschale zu übernehmen. In diesem Jahr werden wir deshalb über 2 Milliarden Euro an die Länder überweisen. Dazu kommen in mehrfachen Tranchen 500 Millionen Euro für sozialen Wohnungsbau und – nicht zu vergessen – die 350 Millionen Euro jährlich für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kommen nochmals jährlich drei Jahre lang 2 Milliarden Euro obendrauf sowie die bereits mehrfach angesprochenen 5 Milliarden Euro zur weiteren Entlastung von Kommunen. Der Kollege Bernhard Daldrup, die Kollegin Ulli Gottschalck, aber auch Eckhardt Rehberg sind schon darauf eingegangen, dass es durchaus kritisch gesehen wird, welche Regelung aktuell im Gesetzentwurf hinsichtlich der Verteilung des Geldes vorgeschlagen wird. Ich sage auch: Wir haben zu Recht eine klare Erwartungshaltung, wofür dieses Geld eingesetzt werden soll. Denn wir müssen dafür sorgen, dass Integration vor Ort erfolgreich ist, dass sie gelingt. Ich finde es nach wie vor beeindruckend, wie viele Menschen sich, egal ob im Hauptamt, im Ehrenamt, in Helferkreisen, in Behörden, in Kommunalverwaltungen, unglaublich engagieren, damit Integration tatsächlich auch erfolgreich ist und funktioniert. Deswegen will ich an dieser Stelle all jenen meine Anerkennung und meinen Dank aussprechen, die sich so unglaublich einbringen. Es ist wirklich fantastisch, was man vor Ort zum Teil an Engagement sieht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will – aus Zeitgründen nenne ich nur wenige Beispiele – an dieser Stelle noch einmal betonen, dass sich das Engagement des Bundes ja nicht darin erschöpft, ganz im Gegenteil. Ich finde es als Haushälter und Berichterstatter für den Einzelplan 06, Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums, unglaublich, was wir in den letzten Jahren im Haushalt auf die Beine gestellt haben. Ich will an die Stellenaufwüchse beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erinnern. Dort haben wir die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf jetzt über 7 000 verdreifacht, damit beim Thema Integration vieles besser läuft, aber natürlich auch weil wir ein großes Interesse daran haben, dass die vielen Anträge auf Asyl schneller entschieden werden können. Ich will daran erinnern, dass wir die Mittel für Integrationskurse innerhalb von wenigen Monaten verdreifacht haben. Ich bekomme eher die Rückmeldung, dass viele Plätze noch unbesetzt sind, als die Meldung, dass Leute lange warten müssen, bis sie einen Platz bekommen. Die Vergütung der Lehrkräfte haben wir deutlich verbessert. Wir haben die Situation der Träger von Integrationskursen deutlich verbessert. Ich denke im Übrigen auch an die Migrationsberatung, an die Jugendmigrationsdienste und an die Bundespolizei. Ich finde, insgesamt leistet der Bund einen großen Beitrag für eine Integration, die gelingt und erfolgreich ist. Deswegen glaube ich, dass wir gut beraten sind, diesen Gesetzentwurf zu unterstützen. In der Anhörung werden wir natürlich noch einmal darüber diskutieren, wie wir mit den weiteren 5 Milliarden Euro umgehen, über die so strittig diskutiert wird, zumindest darüber, wie sie weitergeleitet werden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Alois Rainer erhält nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Alois Rainer (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat der Bund die Länder und die Kommunen finanziell so stark unterstützt wie in dieser Legislaturperiode. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Länder die Zuständigkeit und die Verantwortung für eine den Aufgaben angemessene und auskömmliche Finanzausstattung der Kommunen haben. (Ulrike Gottschalck [SPD]: So ist es!) Viele Zahlen sind genannt worden. Einige würde ich gerne wiederholen, damit sie bei uns im Gedächtnis bleiben. Allein in dieser Legislaturperiode erhalten die Länder und Kommunen eine Entlastung durch den Bund von circa 80 bis 90 Milliarden Euro. Wenn wir den Finanzzeitraum von 2010 bis 2020 betrachten, dann reden wir von circa 200 Milliarden Euro. Das sind fast zwei Drittel eines jährlichen Bundeshaushalts. Ich bin der festen Überzeugung: Das ist der richtige Weg. Denn Bund, Länder und Kommunen haben die Aufgabe, schutzsuchende Menschen zu versorgen und Integration zu ermöglichen. Das kostet nicht nur Kraft, sondern auch Geld. Es ist richtig, dass der Bund seine Verantwortung gegenüber den Ländern und Kommunen wahrnimmt und sie finanziell unterstützt. Die Integration von Flüchtlingen in unsere Gesellschaft ist von zentraler Bedeutung. Nur eine gelungene Integration gibt Sicherheit und Vertrauen. Aber in dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es nicht nur um Mittel für Integration, sondern auch um weitere Unterstützung, weitere Mittel für unsere Kommunen. Meine Damen und Herren, wir sprechen im Wesentlichen von drei Punkten: Erstens geht es um die Änderungen im Finanzausgleichsgesetz. Hier wird der Länderanteil an der Umsatzsteuer für die Jahre 2016 bis 2018 um jeweils 2 Milliarden Euro erhöht. Damit hält der Bund seine am 7. Juli dieses Jahres gemachte Zusage, sich an den Kosten der Integration zu beteiligen, ein. Mit der jährlichen Integrationspauschale in Höhe von 2 Milliarden Euro stehen den Ländern über die Umsatzsteuerverteilung mehr Mittel zur Verfügung. An dieser Stelle spreche ich gerne die Forderung des Deutschen Städtetages aus; denn sie ist auch meine Forderung. Ich appelliere an die Länder, ihren Kommunen zügig einen angemessenen Teil der 2 Milliarden Euro wiederzugeben. Ich kann nur ein Beispiel nennen, und zwar den Freistaat Bayern. Der Freistaat Bayern unterstützt seine Kommunen nämlich wie kein anderes Land in unserer Republik. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer erhöht sich ebenfalls, und zwar im Jahr 2018 um 2,76 Milliarden Euro und ab dem Jahr 2019 um 2,4 Milliarden Euro. Weiter erhalten die Länder für 2018 und 2019 jeweils 1 Milliarde Euro zusätzlich. Allein diese Änderung im FAG bedeutet für Länder und Kommunen eine Entlastung von 13 Milliarden Euro bis 2019. Zweitens geht es um die Änderungen im Entflechtungsgesetz. Mit den Änderungen im Entflechtungsgesetz gewährt der Bund den Ländern die für den Wohnungsbau in Aussicht gestellten Mittel in Höhe von 500 Millionen Euro jährlich. Drittens geht es um die Änderungen im SGB II. Mit der vorgesehenen Entlastung der Kommunen in Höhe von 5 Milliarden Euro halten wir ein weiteres Versprechen aus dem Koalitionsvertrag ein. Die Erhöhung der Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft führt bei den Kommunen in den Jahren 2016 bis 2019 zu Mehreinnahmen von rund 5,5 Milliarden Euro. Meine Damen und Herren, damit zeigt der Bund, dass er Länder und Kommunen bei der Erledigung ihrer Aufgaben nachhaltig unterstützt. Dies ist das richtige Signal. Dieses Signal können wir aber nur aufgrund unserer guten und zukunftsorientierten Haushalts- und Wirtschaftspolitik setzen. Denn hätten wir das Geld nicht zur Verfügung – wir sprechen, wenn es um die Steuereinnahmen geht, nämlich nicht nur vom Geld des Bundes, sondern vom Geld von Bund, Ländern und Kommunen –, könnten wir den Kommunen diese Unterstützung nicht zukommen lassen. Deshalb auch ein ganz herzlicher Dank an unseren Finanzminister für die stabile und zukunftsorientierte Haushaltspolitik! (Beifall bei der CDU/CSU) Eine eventuell gerechtere Verteilung über die Umsatzsteuer ist schon des Öfteren angesprochen worden. Nur, hier wird es enorm schwierig werden. Denn klar ist: Die Umsatzsteuerbeteiligung ist damals als Ersatz für die Gewerbekapitalsteuer eingeführt worden. Man wusste: Gewerbekapitalsteuer nehmen insbesondere solche Kommunen ein, in denen es große Gewerbebetriebe gibt. Darum ist die Systematik der Umsatzsteuerbeteiligung so, wie sie ist. Es wird, wie es der Kollege Rehberg gerade gesagt hat, schwierig werden, hier eine Grundgesetzänderung zu erreichen. Ich bin froh, dass wir die Kommunen in dieser Form und in dieser Höhe unterstützen können. Das ist einmalig, meine sehr verehrten Damen und Herren. Darüber dürfen wir uns alle freuen, und wir dürfen das auch sagen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vorhin hieß es, dass die Mittel für die Integrationskurse nicht reichen würden. Dazu gibt es nur eines zu sagen: Die Mittel für die Integrationskurse sind auf 559 Millionen Euro verdoppelt worden, und für 2017 planen wir eine weitere Erhöhung. Auch der Stundenlohn für die Lehrkräfte ist verdoppelt worden. Also von wegen, wir würden nichts tun. Wir tun in diesem Bereich nämlich viel. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist es! Frau Dağdelen war mal wieder nicht informiert!) Wir haben die Probleme erkannt, und wir packen sie an. Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf diesem Weg machen wir weiter. Wir machen eine gute Politik. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Juratovic für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Josip Juratovic (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade in diesen Tagen, wo deutschlandweit der Tag des Ehrenamts gefeiert wird, möchte ich den stillen Helden in unserem Land, die selbstverständlich die Willkommenskultur in den Ämtern, den Vereinen, aber auch im Einzelnen millionenfach gelebt haben und leben, meinen herzlichen Dank aussprechen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Sie haben im Zusammenhang mit den Flüchtlingen Unvorstellbares geleistet, was an sich unbezahlbar ist. Doch die Kosten der Kommunen für die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge lassen sich durchaus benennen. Zwar gibt es noch keine verlässlichen Zahlen, aber Schätzungen gehen von zweistelligen Milliardenbeträgen allein für 2015 aus. Der Bund hat den Kraftakt der Kommunen bereits in der Vergangenheit unterstützt. Nun entlastet er durch den vorliegenden Gesetzentwurf die Kommunen um weitere Milliarden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden nicht nur von trockenen Zahlen, wir reden hier von mehr. Wir sprechen von Obdach für Menschen, manchmal improvisiert, aber letztlich von geheiztem Wohnraum für Alleinstehende und Familien. Das ist genauso wichtig wie das, was folgt, nämlich dafür Sorge zu tragen, dass diese Menschen an unserer Gesellschaft teilhaben können. Liebe Haushälter, in der zweiten Novemberwoche findet die Bereinigungssitzung für den Haushalt 2017 statt. Ich bitte Sie ausdrücklich, die Posten für die Integration von Flüchtlingen, speziell die Mittel für die Migrationsberatung für Erwachsene und die Jugendmigrationsdienste, mindestens in der Höhe des vergangenen Jahres aufrechtzuerhalten, wenn nicht gar zu erhöhen. Denn momentan nimmt der Druck im Hinblick auf die Erstversorgung von Flüchtlingen zwar ab, da die Zahl der Flüchtlinge derzeit sinkt, die wahre Herausforderung im Hinblick auf die Integration derer, die bei uns Schutz suchen, beginnt jedoch erst. Und glauben Sie mir: Das wird ein Langstreckenlauf. – Der darf nicht zum Hürdenlauf werden, nur weil die Gelder fehlen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein Weiteres hinzufügen, was mir als SPD-Integrationsbeauftragten wichtig ist. Wie gesagt, es klingt, als ginge es bei der Entlastung der Kommunen durch den Bund nur ums Geld. Tatsächlich sprechen wir von den Kosten für die Versorgung von Menschen, die, bis sie bei uns landeten, die Hölle durchquert haben. Unser politisches Ansinnen muss es sein, unserer international verankerten humanitären Verpflichtung gerecht zu werden und den Menschen, die vor einem brutalen Bürgerkrieg geflohen sind, einen sicheren Hafen zu gewähren. Allerdings können wir die schönsten Maßnahmen- und Kostenübernahmepakete schnüren, wir können uns den Kopf über die besten Strategien zerbrechen und Millionen in Sprach- und Integrationskurse stecken, es bleiben wirkungslose Maßnahmen, wenn wir sie nicht mit Leben erfüllen. Wir müssen das Ziel, dass die Menschen an unserer Gesellschaft teilhaben können, verinnerlichen. Das funktioniert nur, wenn die richtige Haltung und das passende gesellschaftliche Klima dafür vorhanden sind. Dafür brauchen wir einen wehrhaften, handlungsfähigen Staat, der vor allem rechte Übergriffe ahndet und rechten Propagandisten der Abschottung und Ausgrenzung deutlich die Stirn bietet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Brandanschläge auf Asylbewerberheime oder Moscheen machen alle Bemühungen in dieser Richtung zunichte. Die Taten werden so gut wie nie aufgeklärt oder werden gar verharmlost. Kolleginnen und Kollegen, Brandstiftung ist ein Verbrechen und kein politisches Signal und muss entsprechend behandelt werden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Menschen müssen sich sicher fühlen, um sich als Teil der Gesellschaft zu fühlen. Wir brauchen eindeutige Antworten auf rechte Umtriebe. Nur so wird erfolgreiche Integration möglich. Dann und nur dann hat sich unser finanzieller Einsatz egal ob vom Bund oder von Ländern gelohnt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 18/9980 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 4: Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Kühn (Tübingen), Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gemeinsam für bezahlbares Wohnen – Lebenswert und klimafreundlich Drucksache 18/10027 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Auch hier soll die Aussprache nach einer interfraktionellen Vereinbarung 77 Minuten andauern. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die antragstellende Fraktion das Wort. Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Woche findet in Quito, der Hauptstadt Ecuadors, die dritte UN-Siedlungskonferenz, Habitat III, statt. Dort treffen sich die Vertreter aus Megacitys und anderen Städten, um nach Lösungen im Hinblick auf die immensen sozialen Probleme in den Städten, den gigantischen Ressourcenverbrauch und die Luftverschmutzung zu suchen. Auch der Oberbürgermeister Berlins hat sich auf den Weg nach Quito gemacht. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Er reist gerne!) Die drängendste Frage, die sich für Berlin, München, Stuttgart, Düsseldorf, Dresden und viele andere Städte stellt, ist die Frage nach dem Wohnen. Wenn man über das Wohnen redet, dann geht es nicht einfach nur um die Wohnung oder die Miete, sondern das Wohnen ist inzwischen zu der sozialen Frage unserer Zeit und unserer Gesellschaft geworden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Meine Damen und Herren, wo jemand wohnt, entscheidet heute über die Chancen beim Bewerbungsgespräch. Es entscheidet über die Schule oder die Kita, in die Kinder gehen können. Es entscheidet bei den Alten über die Nachbarschaft. Es entscheidet darüber, ob ich im Alter dort gepflegt werden kann, wo ich möchte – ja oder nein –, dort wo meine Community ist. Es entscheidet darüber, ob Kinder drinnen und draußen Platz zum Spielen haben. Es entscheidet darüber, ob die Wohnung sicher ist oder im Keller eingebrochen wird. Sind die Baumaterialien okay? Sind sie gesund? Wie ist es mit der Wärmedämmung? Kann man den Einkauf zu Fuß erledigen? Bekomme ich Hilfe, wenn ich sie brauche – spätestens im Fall der Pflege? All das hat mit dem Wohnen zu tun, und deswegen ist und bleibt es eine so zentrale Frage. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die explodierenden Mieten sind inzwischen zu einer Art Spaltpilz der Gesellschaft geworden. Besonders Familien mit kleinen Einkommen, Rentnerinnen und Rentner, Alleinerziehende und Migrantinnen und Migranten sind immer öfter wegen steigender Mieten gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen und anderswo eine Bleibe zu finden. Ich habe neulich einen Brief von einem Menschen bekommen, der am Rand von Berlin wohnt. Ich glaube, es war jemand, der am Rand von Zehlendorf wohnt und sich über Wildschweine freut. Ich finde, das ist eine sehr hervorragende Wohnlage. – Das meine ich nicht, wenn ich sage, dass Menschen an den Rand gedrängt werden. Ich meine nicht Wohngebiete, in denen man sich noch wunderbar abschotten kann und es besonders gut hat, sondern ich meine Wohngebiete, in denen man spürt, dass der soziale Zusammenhalt infrage gestellt wird und dass dort diejenigen wohnen, die sich anderes Wohnen nicht mehr leisten können. Ich finde, das ist etwas, was uns nicht egal sein kann, auch wenn wir noch keine Situation wie in den Vorstädten von Paris und Brüssel haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Menschen spüren inzwischen, dass da etwas ins Rutschen geraten ist. Der Anteil der Miete am Netto steigt – und die Löhne eben nicht mit. Die Minimietpreisbremse, die Sie eingeführt haben, ist jedenfalls keine Antwort darauf – weder, um jemanden zu beruhigen, noch in der Sache selbst. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 264 deutsche Städte, in denen bezahlbarer Wohnraum fehlt, haben es seit der Einführung der Mietpreisbremse mit steigenden Mieten zu tun. Das ist ja wohl das Gegenteil dessen, was Sie versprochen haben. Dass Sie das jetzt merken und nach dem Motto „Haltet den Dieb“ verfahren, finde ich besonders unglaubwürdig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Ausnahmen öffnen Tür und Tor, und es gibt schon möblierte Wohnungen von 10 Quadratmetern, für die 700 Euro Miete verlangt werden. Das ist nicht nur unzumutbar, sondern auch unverantwortlich, und Sie sind diejenigen, die einen Teil der Verantwortung dafür tragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Meine Damen und Herren, seitdem die schwarz-gelbe Koalition 1989 – ja, das ist lange her – die alte Wohngemeinnützigkeit abgeschafft hat, sind kontinuierlich 2 Millionen gemeinnützige, bezahlbare Wohnungen verloren gegangen. Jedes Jahr fallen weitere 60 000 Wohnungen aus der Sozialbindung heraus. 60 000 Wohnungen ohne Sozialbindung! Und was tun Sie? Viel fordern, wenig durchsetzen! Schlagzeilen produziert Frau Hendricks auch diesbezüglich sehr gerne, besonders dann, wenn es neue Gesprächskreise gibt. Der Gesprächskreis „Bündnis für bezahlbares Bauen“ jedenfalls ist eine schöne Aktion gewesen. Passiert ist leider gar nichts. Sie müssen jetzt Geld in die Hand nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hören Sie auf, herumzudrucksen. Wir schlagen Ihnen vor, ein Sofortprogramm aufzulegen: 1 Million Wohnungen in fünf Jahren, 1 Million sozialgebundene Wohnungen, 1 Million bezahlbare Wohnungen. Nur derjenige, der tatsächlich bezahlbaren Wohnraum schafft und erhält, bekommt Geld vom Staat. Das ist die neue Wohngemeinnützigkeit, die wir Ihnen vorschlagen. Damit kann die Struktur in unseren Städten tatsächlich verbessert und es kann auch verhindert werden, dass die Kluft noch größer wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sören Bartol [SPD]: In Ihrem Antrag stehen aber zehn Jahre drin!) Man muss sich vorstellen, worum es geht. Ein Blick auf den Wohnungsmarkt in Berlin zeigt, dass zwei Drittel der Wohnungsangebote heute Wohneigentum betreffen. Um das restliche Drittel Mietwohnungen streiten sich dann Studierende, Niedrigverdiener und Alleinerziehende. Dieser Zustand muss dringend und deutlich beendet werden, meine Damen und Herren. Packen Sie es endlich an! Tun Sie nicht mehr so, als wäre Wohnen eine nette Nebensache. Wohnen ist das, was wir alle tun und tun müssen. Beim Wohnen geht es um den sozialen Zusammenhalt. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kümmern Sie sich darum! Machen Sie nicht nur Ankündigungen, sondern sorgen Sie tatsächlich dafür, dass hier etwas geschieht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Georg Nüßlein hat nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Frau Katrin Göring-Eckardt, wenn man Ihren Antrag an dieser Stelle bewerten soll, dann ist das Wort „würdigen“ dafür ein zu positives Wort. Positiv fällt mir zu diesem Antrag immerhin ein, dass uns alle hier im Haus die Sorge eint, wie wir zu mehr, bezahlbarem und, wenn Sie so wollen, gern auch zu klimafreundlichem Wohnraum kommen. Das halte ich für einen ganz wichtigen und ganz breiten Ansatz. Wenn nun der Regierende Bürgermeister von Berlin meint, er müsse sich die Anregungen dazu in Ecuador holen, dann ist das schön, und wir nehmen das zur Kenntnis. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich hoffe aber, meine Damen und Herren, dass der Lösungsansatz, den er mitbringt, ein bisschen breiter ist als das, was Sie in Ihrem Antrag als Perspektive eröffnen. Sie verengen nämlich die Sichtweise sehr stark. Das geht los mit der Frage: Wo soll gebaut werden? Da beziehen Sie sich ausschließlich auf die Metropolen, auf die Megastädte, wie Sie sie vorhin genannt haben. Diese sind in Deutschland nicht ganz so zahlreich. Tatsächlich haben wir auch ein Wohnungsproblem in den kleineren Städten und teilweise im ländlichen Raum. Auch das wollen wir an dieser Stelle einmal direkt ansprechen. (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, so ist es! Aber Sie müssen ja was dagegen machen!) Sie verengen Ihre Sichtweise auch in der Frage: Wer soll bauen? In Ihrem Antrag gibt es zwei Akteure. Vorrangig ist das der Staat, und an zweiter Stelle sind das die Genossenschaften. (Klaus Mindrup [SPD]: Richtig!) Nun muss ich Ihnen sagen: Was den Staat angeht, haben wir bereits – Stichwort „sozialer Wohnungsbau“ – ein massives Staatsversagen hinter uns. Wir haben gesehen, was der Staat macht: Die Länder haben Geld für den Wohnungsbau bekommen, dieses aber für etwas ganz anderes eingesetzt als dafür, wofür wir es uns vorgestellt haben. Nun tragen Sie das Thema Gemeinnützigkeitsbindung quasi als Monstranz vor sich her. Mir stellt sich die Frage, wer unter dieser Voraussetzung tatsächlich investieren soll. Am Schluss braucht ein Bau Investoren; das ist absolut klar. Da sind aus unserer Sicht gerade private Investoren notwendig. (Beifall bei der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit Jahren sagen Sie das!) – Ich komme gleich darauf. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ja zwölf Minuten!) Selbst der altruistischste Investor wird am Schluss von Zinsen und von einer Abschreibung profitieren wollen. Nun ist die Situation bei den Zinsen momentan ein bisschen einfacher. Aber dieser Niedrigzins wird durch steigende Baupreise überkompensiert. Auch das mit der Abschreibung ist so eine Sache. Der tatsächliche Abschreibungssatz müsste angesichts dessen, was wir momentan an Technik verlangen – darauf komme ich nachher beim Stichwort „Klimaschutz“ zu sprechen –, erheblich höher als das sein, was man den Anlegern mit 2 Prozent momentan steuerlich zubilligt. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Fraktion stellt denn den Finanzminister?) Dann geht es mit der Frage weiter: Unter welchen Bedingungen soll investiert werden? Das ist gerade Ihr Einwand gewesen. Da geht es mit dem Thema „teures Bauland“ los. Ich sage Ihnen ganz offen: Meine Erfahrung ist, dass der Aufschrei vieler Beteiligten, insbesondere auch von den Grünen, groß sein wird, sobald wir über Arrondierungen im Innenbereich bzw. über die Frage reden, wie wir mehr Bauland ausweisen können. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben das Thema nicht verstanden!) Da sind Sie nämlich in einem Konflikt, meine Damen und Herren. Natürlich ist das letztlich auch Landschaftsverbrauch. Das wird doch gar nicht anders gehen. Wenn Sie mehr Bauland ausweisen, müssen Sie natürlich auch in Teilen in den Außenbereich gehen. Wohlgemerkt: Wir wollen das tun. Allerdings ist das angesichts derjenigen, die uns aus Gründen des Umweltschutzes daran hindern wollen, ein schwieriges Unterfangen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bauland ist auch deshalb teurer, weil die Grunderwerbsteuern hoch sind. Auch da könnten Sie fragen, wer daran schuld ist, in welchen Ländern sie besonders hoch sind und ob Sie vielleicht in der jeweiligen Landesregierung dieser Länder vertreten sind. Ich empfehle Ihnen dringend, sich das einmal anzuschauen; dann können Sie an der Stelle etwas ändern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch mal zu den Vorschlägen in unserem Antrag! Zu den Einzelpunkten in unserem Antrag, zum Beispiel zur Wohnungsgemeinnützigkeit! Sagen Sie doch mal, wie die CDU dazu steht!) – Ich sage etwas zu der nächsten Frage, nämlich wie man weiteres Bauland gewinnen kann. – Wir haben derzeit die Problematik, dass aufgrund von fehlenden Reinvestitionsmöglichkeiten die Eigentümer von Bauland nicht verkaufen. Denen muten wir zu, dass, wenn sie es tatsächlich tun, erst einmal der Fiskus kassiert, und zum Schluss haben sie das Geld, können es aber nicht reinvestieren. Deshalb meinen wir, dass es eine intelligente Variante wäre, darüber nachzudenken, ob man den Grundstücksbesitzern nicht die Chance eröffnen sollte, steuerfrei in Mietobjekte zu investieren, wenn sie Bauland verkaufen. Das halte ich für einen zielführenden Ansatz. (Beifall bei der CDU/CSU) Lassen Sie uns über solche Dinge reden statt über theoretische Gedankenspiele zur Gemeinnützigkeit. Es gab schließlich einen Grund, warum man sie abgeschafft hat, nämlich die Tatsache, dass die Fehlbelegung zum Schluss ein hohes Ausmaß angenommen hatte und dass sie bei weitem nicht den erwünschten Erfolg gebracht hat. Es ist sinnvoller, zur Subjektförderung via Wohngeld überzugehen und diejenigen, die Miete zahlen müssen, so zu fördern, dass sie dies tun können, statt den von Ihnen vorgeschlagenen Weg zu gehen, jetzt wieder ein neues Etikett zu vergeben und Gemeinnützigkeit einzuführen, wenn am Ende ganz andere in diesen Wohnungen wohnen, als eigentlich beabsichtigt war. Wem hilft denn das, meine Damen und Herren? Ich kann das überhaupt nicht nachvollziehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Katrin Göring-Eckardt hat vorhin die Baukostensenkungskommission angesprochen. Sie haben recht: Kommissionen sind das eine, und das, was wir dann in der Politik diskutieren, ist das andere. Dabei spielt das Thema Klimaschutz eine ganz hervorragende Rolle, allerdings nicht im positiven Sinne. Klimaschutz ist ein eminent wichtiges Thema. Aber wir sind auf dem besten Wege, ihn zu nichts anderem als zu einem Kostentreiber zu machen. Das ist mir zu wenig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Weil diese Bundesregierung nichts dazu tut!) – Hören Sie einmal zu! Das ist viel wichtiger; dann lernen Sie etwas. Nehmen wir die Zusammenführung von EnEV und EE-Wärmegesetz. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Wann kommt denn das?) – Hören Sie zu! Schauen Sie sich die derzeitige Realität im Neubau an! Wir bauen massiv isolierte, faktisch luftdichte Gebäude. À la bonne heure: Dagegen ist nichts einzuwenden. Dann sagt man aber: Du musst eine immens teure aufwendige Heizung installieren, um an den wenigen Tagen, an denen du sie wirklich brauchst, dieses Gebäude heizen zu können. – Wie passt denn das zusammen? Beim Thema Sanierung sind wir an demselben Punkt. Auch dazu gibt es Forderungen, die Standards weiter anzuheben. 120-Prozent-Sanierung sage ich dazu. Dem Klima würde man mehr helfen, wenn viele Wohnungen teilsaniert würden, statt nur einige wenige nach allerhöchstem Standard sozusagen zu 120 Prozent zu sanieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diesen Weg muss man gehen, und so muss man aus meiner Sicht den Klimaschutz sehen. Angesichts der komischen Diskussion über das Thema „angemessene Wirtschaftlichkeit“, die viele Ihrer grünen Länderminister an dieser Stelle beginnen, frage ich mich: Was soll das? Wenn man erst einmal über die Frage diskutieren muss, was „angemessen“ ist, muss man das Ganze letztlich gar nicht diskutieren. Das Allerschönste ist, dass Sie schreiben: Wenn es nicht wirtschaftlich ist, soll der Staat einspringen und das Ganze fördern. – Wer diskutiert denn dann? Wer denkt denn an der Stelle überhaupt noch über die Frage der Wirtschaftlichkeit nach? Ich glaube, dass das ein falscher Ansatz ist, meine Damen und Herren. So wird Klimaschutz nicht funktionieren. Klimaschutz muss etwas sein, das wir mit Technologieoffenheit und Innovationsfreude angehen und bei dem wir bereit sind, etwas zu bewegen, gerne auch im Baubereich. Wir müssen aber aufhören, die Trauben immer höher zu hängen, bis keiner mehr hochspringt. Das ist doch der Weg, den wir zurzeit beschreiten. Bei jeder Gelegenheit – bei der Zielsetzung angefangen bis hin zu den Maßnahmen – hängen wir die Trauben ein Stück höher und wundern uns, wenn sich zum Schluss keiner mehr bemühen wird, überhaupt noch daranzukommen. Investitionsattentismus werden Sie am Schluss mit solchen Anträgen erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie wollen Sie die Sanierung?) – Eng? Ich merke doch, dass sie eng sind. Sie hören nicht zu. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das, was Sie erzählt haben, hat nichts mit der Realität zu tun!) – Sie hören nicht zu. Wir diskutieren dann über die Frage: Was soll oder – ich sage das in Ihrem Jargon – was darf denn gebaut werden? (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nennen Sie doch mal ein Beispiel!) Auch da sind Sie eng. Sie sagen: nur der Niedrigstandard im Mietwohnungsbau, allerdings bei hohem Klimaschutzstandard – billig, billig, billig. Ich sage Ihnen: Auch der Bezug einer besser ausgestatteten Mietwohnung sorgt am Schluss dafür, dass eine andere Mietwohnung frei wird. Die Leute haben doch vorher auch irgendwo gewohnt. Das Gleiche gilt für das Eigenheim. Kein einziger Satz findet sich in Ihrem Antrag zum Thema Eigenheim, obwohl Deutschland dabei einen immensen Nachholbedarf hat. Wir haben eine Eigenheimquote von 53 Prozent. Frankreich liegt bei 65 Prozent, Italien bei 73 Prozent. Wir täten gut daran, uns auch mit Blick auf das Thema Alterssicherung darüber Gedanken zu machen, wie mehr Menschen zu eigenen vier Wänden kommen. Das ist, meine Damen und Herren, ein Grundbedürfnis der Menschen. Wir sollten etwas dafür tun, dass sie das befriedigen können. (Beifall bei der CDU/CSU) Stattdessen – da nehme ich die Schuld durchaus auf uns – haben wir in der letzten Großen Koalition die Eigenheimzulage abgeschafft. Das war aus meiner Sicht ein fataler Fehler. Wir müssen jetzt wenigstens darüber reden, wie man mit der Wohnungsbauprämie verfährt, die auf Uraltdaten basiert. Wir sollten auch darüber reden, ob man gezielt mit Baukindergeld einen Beitrag dazu leisten kann, dass sich junge Familien wenigstens im ländlichen Raum, wo es geht, ein eigenes Heim leisten können. Das sollten wir tun. (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer stellt denn den Finanzminister? Machen Sie doch mal einen Vorschlag!) – Jetzt brüllen Sie doch nicht die ganze Zeit. Wer die ganze Zeit brüllt, hat Unrecht, Herr Kollege. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das ist ein Zwischenruf! Das ist parlamentarischer Brauch! – Gegenruf von der CDU/CSU: „Pöbeln“ heißt das!) Fazit der Geschichte ist: Staatliche Regulierung gibt es in Deutschland genug. Anträge, die nur staatliche Regulierung fordern, sind überflüssig. Denn daran haben wir, meine Damen und Herren, in diesem Land nun wirklich keinerlei Mangel. Auch Markteingriffe machen das nicht besser. Frau Katrin Göring-Eckardt hat vorhin das Thema Mietpreisbremse angesprochen, die sich aus ihrer Sicht nicht rentiert. Ich habe sie – das sage ich ganz offen – nicht gewollt und nicht gebraucht. (Sören Bartol [SPD]: Dass Sie das noch einmal sagen! Wer ist schuld an der Verzögerung?) Ich bin eher in Sorge gewesen, dass aus der Mietpreisbremse eine Investitionsbremse wird. Das haben wir immerhin an der Stelle verhindern können. (Sören Bartol [SPD]: Genau!) Es wird tatsächlich gebaut – auch in den Metropolen. (Sören Bartol [SPD]: Das wird im Protokoll so ausgedruckt!) Wir brauchen – da werden wir in der Tat mit dem Finanzminister reden müssen – steuerliche Rahmenbedingungen, wie ich sie angemahnt habe, beim Thema Bauland und bei den Abschreibungen. Dort sind 2 Prozent zu wenig. Man braucht mindestens 3 Prozent, um die ökonomische Realität abbilden zu können. Mir geht es darum, das Thema nicht auf Brennpunkte zu verengen – auch nicht bei steuerlichen Förderungen. Denn wäre dies der Fall, würden wir Feuer mit Öl bekämpfen. Das wäre falsch. Klimaschutz ist wichtig, lässt sich aber nur mit guter Technik und mit dem Blick fürs Ganze machen. Der fehlt Ihnen, meine Damen und Herren. Deshalb wird uns dieser Antrag ebenso wenig wie Sie weiterbringen. In diesem Sinne sage ich vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rede hat uns auch nicht weitergebracht! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Caren Lay das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Caren Lay (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach drei Jahren Großer Koalition im Bund fällt die wohnungspolitische Bilanz dieser Regierung, ehrlich gesagt, bescheiden aus. Hier wurde viel geredet – fast immer auf Antrag der Opposition. Von der Regierung und insbesondere von der SPD wurde viel angekündigt, aber durchgesetzt wurde kaum etwas. Auch wurden keine wirklich sinnvollen Regelungen in dieser Legislaturperiode erlassen. Ich beginne mit dem Lieblingsprojekt, der Mietpreisbremse. Wie sie sich jetzt darstellt, ist sie faktisch ein Rohrkrepierer. Das belegen verschiedene unabhängige Studien. Sie attestieren, dass die Mietpreisbremse in der derzeitigen Form nicht wirkt. Selbst dort, wo sie eingeführt wurde, steigen die Mieten weiter an. Das darf nicht sein. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unsere Vorschläge, die Mietpreisbremse nachzuschärfen, haben wir in der letzten Sitzungswoche hier im Bundestag eingebracht. Die Grünen bringen ihre Vorschläge heute ein. Wer noch nichts eingebracht hat, ist die Große Koalition. (Beifall des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich bin Ihnen, Herr Dr. Nüßlein, fast dankbar, dass Sie ehrlich gesagt haben, Sie wollten die Mietpreisbremse nicht. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!) Genau das ist auch das Problem. Die Große Koalition hat letztlich ein Gesetz auf den Weg gebracht, das zwar eine schöne Überschrift hat, das aber so viele Ausnahmen und Lücken enthält – daran hat die CDU/CSU alles gesetzt –, dass es das Papier nicht wert ist. Ihre Blockadehaltung in diesem Punkt ist das eigentliche Problem. Sie wollen nicht, dass die Mietpreisbremse wirkt. Das muss sich endlich ändern. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch der soziale Wohnungsbau kommt nicht in Schwung. Wir freuen uns, dass Geld draufgesattelt wurde und dass im vorletzten Jahr 12 000 Sozialwohnungen und im letzten Jahr 15 000 Sozialwohnungen neu gebaut wurden; das ist gut. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Jahr für Jahr unglaublich viele Sozialwohnungen aus der sogenannten Sozialbindung herausfallen. Wenn es sich dabei im Schnitt um schätzungsweise 85 000 Wohnungen im Jahr handelt, dann bleibt trotz der Neubauten Jahr für Jahr ein Minus von rund 70 000 Sozialwohnungen, die aus der Sozialbindung herausfallen. Wenn wir nicht ein bisschen mehr Tempo machen, dann haben wir in 25 Jahren überhaupt keine Sozialwohnungen mehr. Das darf nicht sein. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich appelliere an die Vertreter der Länder: Setzen Sie das Geld, das Ihnen der Bund für den sozialen Wohnungsbau gibt, tatsächlich für den sozialen Wohnungsbau ein! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Viele Länder füllen mit diesem Geld die Lücke, die durch die abgeschaffte Eigenheimförderung entstanden ist. Das ist schlichtweg eine Zweckentfremdung von Geldern. Das können wir nicht dulden. (Beifall bei der LINKEN) Nun habe ich Applaus von der CDU/CSU bekommen. Das finde ich natürlich schön. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Aber nur in diesem Punkt!) Aber eines will ich deutlich sagen: Sich hinter dem Versagen der Länder bei der sozialen Wohnungspolitik zu verstecken, geht nicht. Schauen wir uns einmal an, um welche Bundesländer es sich handelt, die in den letzten zwei Jahren trotz der Subventionen des Bundes gar keine Sozialwohnungen gebaut haben. Wer war das denn? Das waren Sachsen, das Saarland und Mecklenburg-Vorpommern. Fällt Ihnen etwas auf? Wer regiert denn dort? Dort regiert die CDU zusammen mit der SPD. Sich hier hinter den Ländern zu verstecken, kann keine Lösung sein. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich appelliere an die Länder, die Geltungsdauer der Sozialbindungen zu verlängern. Ansonsten fallen Hunderttausende Sozialwohnungen in den nächsten Jahren weg. Das heißt konkret, dass Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende Menschen mit geringem Einkommen aus ihren Wohnungen fliegen werden. Deswegen lautet mein Appell an die Vertreter der Länder: Verlängern Sie die Geltungsdauer der Sozialbindungen! Kaufen Sie die sogenannten Belegungsbindungen auf! Das ist das Gebot der Stunde. Auch der Bund muss seine Politik verändern. Erstens reicht das Geld hinten und vorne nicht aus. Wir sagen: 5 Milliarden Euro für einen sozialen, gemeinnützigen Wohnungsbau sind gut angelegtes Geld. Zweitens sollten wir mit dem Geld, das der Bund nun einsetzt, nicht auch noch die Fehler der Vergangenheit wiederholen. 15 Jahre lang werden die Wohnungen, die mit Geldern der sozialen Wohnraumförderung subventioniert werden, als Sozialwohnungen gebunden. Danach fliegen sie aus der Sozialbindung wieder heraus. Das bedeutet häufig, dass die Mieterinnen und Mieter ausziehen müssen. Das ist, ehrlich gesagt, keine sinnvolle Förderung. Deswegen sagen wir als Linke: Einmal Sozialwohnung, immer Sozialwohnung! Das muss für die Zukunft gelten. (Beifall bei der LINKEN) Dass das gut funktioniert, kann man sich übrigens in Wien ansehen. Das Wiener Modell der Gemeindewohnung sollten wir uns als Vorbild nehmen. Die Abschaffung der Wohngemeinnützigkeit im Jahr 1990 war ein fataler Fehler, ein Jahrhundertfehler. Deswegen gehört die Einführung einer neuen Wohngemeinnützigkeit in das Zentrum einer neuen sozialen Wohnungspolitik. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Grundproblem ist Folgendes: Fast alle Akteure auf dem Markt wollen vor allen Dingen mit Wohnungen viel Geld verdienen. Dem müssen wir etwas Neues entgegensetzen, einen neuen Sektor, der nicht für die Rendite wirtschaftet, sondern der das Recht der Menschen auf bezahlbares Wohnen in den Mittelpunkt stellt. Das ist eine neue Wohngemeinnützigkeit. (Beifall bei der LINKEN) Das Mantra der CDU „bauen, bauen, bauen“ ist übrigens keine Lösung. Ich meine, es herrscht regelrecht eine Goldgräberstimmung auf dem Immobilienmarkt. Es gibt ein Zehnjahreshoch bei den Baugenehmigungen. Aber das Magazin Panorama hat herausgefunden, dass gerade einmal 5 Prozent der im Neubau befindlichen Wohnungen in den 20 größten deutschen Städten überhaupt für Normalverdiener erschwinglich sind, in Berlin nur 2,5 Prozent. Wir reden hier nicht nur von Geringverdienern und von Hartz-IV-Empfängern, sondern es wurde der Durchschnittsverdienst zugrunde gelegt. Ich muss einfach sagen: Wenn nur 5 Prozent aller Neubauten in den Großstädten für den Durchschnittsverdiener als Mieter erschwinglich sind, dann läuft etwas mit der Bau- und Wohnungspolitik dieser Regierung falsch. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein letzter Punkt: Wir brauchen nicht nur eine wirkungsvolle Mietpreisbremse; was wir vor allen Dingen noch brauchen, ist eine Spekulationsbremse. Wir müssen verhindern, dass Firmen die Möglichkeit haben, die Grunderwerbsteuer zu umgehen, und zwar nicht nur durch miese Tricks, sondern indem sie ganz legale Steuertricks – Share Deals – anwenden. Das dürfen wir nicht länger dulden. Das müssen wir hier im Deutschen Bundestag verhindern. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das wäre doch eigentlich ein schöner Schlusssatz gewesen. Caren Lay (DIE LINKE): Herr Präsident, mein letzter Satz. – Es kann doch nicht sein, dass der Bund weiter mitspekuliert. Wir müssen endlich das Prinzip ändern, dass die bundeseigenen Immobilien weiterhin im sogenannten Höchstgebotsverfahren abgegeben werden. Wir brauchen hier ein Vorkaufsrecht der Kommunen. Ein gutes Beispiel ist das Dragoner-Areal hier in der Stadt Berlin. Ich finde, dieser Vertrag mit dem Großinvestor muss rückabgewickelt werden. Dieses Areal muss zurück an das Land Berlin, damit es gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern sozial entwickelt werden kann. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Bundesregierung erhält nun der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Florian Pronold, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Es ist Aufgabe der Opposition, das Haar in der Suppe zu suchen. Aber wenn man kein Haar findet, gleich eine ganze Perücke hineinzuwerfen, wie man das heute in der Debatte macht, übersteigt schon das Erträgliche. (Widerspruch bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nehmen wir doch einmal die Fakten, von denen hier viele reden, zur Kenntnis. Wir haben heute die aktuellen Baugenehmigungszahlen bekommen. Im ersten Halbjahr ist in Sachen Neubau so viel passiert wie seit 2002 nicht mehr. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir haben eine Steigerung um 25 Prozent auf dem Wohnungsmarkt. Der zweite Punkt: Wer spricht denn über die Maklerregelung, die wir durchgesetzt haben? Eine halbe Milliarde Euro ersparen wir Mietsuchenden jedes Jahr. Wir verhindern, dass sie ausgebeutet und über den Tisch gezogen werden. Diese Regelung wirkt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Das ist völlig irrelevant aus Sicht der Opposition. Wir haben zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit der Mietpreisbremse eine gesetzliche Regelung in einem Bereich geschaffen, in dem es bisher überhaupt keine gab, nämlich bei der Wiedervermietung. Wir haben jetzt die erste Klage, die erfolgreich war. Die wird auch Wirkung zeigen. Es hat nie jemand behauptet, dass eine Mietpreisbremse es schafft, die Mieten zu reduzieren. (Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eine Mietpreisbremse bremst die Entwicklung ab. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tut sie nicht!) Wir haben immer gesagt: Ohne dass wir zusätzliche Anstrengungen beim Bauen unternehmen, wird es keinen bezahlbaren Wohnraum geben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Man kann natürlich kurzfristig die eine oder andere Umfrage machen. Die kann man auf der Basis der Daten von Internetportalen machen – eine sehr seriöse Geschichte. Ich bin dafür, dass man das wirklich seriös macht. Dann wird man sehen, dass die Mietpreisbremse ihre Wirkung entfaltet. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sagen schon die ganze Zeit, dass sie sie nicht hat!) Wir sehen aber auch, dass es bestimmte Bereiche gibt, bei denen man noch nachbessern muss. Der Bundesjustizminister hat auch angekündigt, dass wir das so schnell wie irgend möglich machen werden. (Beifall bei der SPD – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, angekündigt! Das ist das, was Sie am besten können! Ankündigen, ankündigen, ankündigen!) Dagegen spricht doch nichts. Deswegen macht man doch das Instrument nicht madig, sondern man schaut, was man noch verbessern kann. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Parlamentarischer Staatssekretär, darf ich Sie in Ihrer Dynamik einmal ganz kurz unterbrechen? Die Kollegin Lisa Paus würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Florian Pronold, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Na gerne. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bitte schön. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Pronold, Sie haben ja gerade gesagt, dass die Mietpreisbremse wirkt. Insofern würde man normalerweise nicht unbedingt annehmen, dass die Preise sinken. Man würde aber annehmen, dass sie nicht mehr so stark steigen, wie sie es vorher getan haben. Das würde ich klassischerweise unter einer wirksamen Mietpreisbremse verstehen. Alle Menschen in diesem Land haben das, glaube ich, so verstanden. Wissen Sie, dass es eine Studie zum Beispiel für das Land Berlin gibt – von Ihrem Haus gibt es, glaube ich, noch keine entsprechende Studie –, in der genau dem nachgegangen worden ist? Da wurde darauf untersucht, inwieweit die Mietpreisbremse tatsächlich zu einem weniger großen Anstieg der Mieten geführt hat. Sie kam zu dem Resultat, dass leider das Gegenteil der Fall ist, dass die Mietpreise im Land Berlin weiter – und zwar stärker – angestiegen sind. Wie würden Sie diesen Befund jetzt vor dem Hintergrund erläutern, dass Sie gesagt haben, dass die Mietpreisbremse wirkt? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Florian Pronold, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Ich glaube, wenn Sie zugehört hätten, (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Habe ich!) dann wüssten Sie, dass ich bereits zum Beispiel auf diese eine Studie eingegangen bin. Ich bin darauf eingegangen, auf welcher Datenbasis sie erstellt worden ist. Man sollte sehr vorsichtig sein, bei unsicherer Datenbasis nach relativ kurzer Zeit eine abschließende Bewertung vorzunehmen. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ganzen Ausnahmen! Das muss Ihnen doch zu denken geben, Herr Pronold! Sie wissen doch, dass sie nicht wirken kann!) Vorher habe ich auch noch einmal deutlich gemacht, dass wir eine enorm gute Regelung für einen Bereich getroffen haben, wo es vorher noch überhaupt keine gab. Es gab keine Regelung für die Frage der Wiedervermietung. Das war der erste große Schritt. Es ist doch kein Wunder, dass bei angespannten Wohnungsmärkten – dasselbe erleben wir übrigens auch in anderen Bereichen, etwa bei der Ausbildung, wo Menschen dringend auf etwas angewiesen sind – viele die Rechte, die sie haben, gar nicht wahrnehmen, weil sie froh sind, dass sie endlich etwas gefunden haben. Deswegen reicht es eben nicht, nur auf der rechtlichen Ebene etwas zu machen, sondern wir müssen auch das Marktversagen auf dem Wohnungsmarkt beenden. Und das bedeutet, dass es auch in ordentlichem Ausmaß Neubau und vor allen Dingen bezahlbaren Wohnraum geben muss. Damit bin ich beim nächsten Thema. Ich habe manchmal ein gutes Gedächtnis, was Oppositionsanträge und die darin enthaltenen Forderungen angeht. Ich erinnere mich, welche Forderungen es vor wenigen Jahren in Bezug auf die Steigerung bei der sozialen Wohnraumförderung gab. Heute betreibt diese Bundesregierung bzw. die Große Koalition eine soziale Wohnraumförderung – das schlägt sich auch im Haushalt nieder –, die die meisten Oppositionsanträge von vor wenigen Jahren übertrifft. Und jetzt heißt es nach dem üblichen Motto: Das reicht nicht. Meine Bitte ist jetzt – ich werde gleich zur Bauministerkonferenz unterwegs sein –, dass alle, die sagen, dass es nicht reicht, dort, wo sie in den Ländern Verantwortung tragen, dafür Sorge tragen, dass das Geld auch wirklich entsprechend ausgegeben wird. Denn die Berichte, die wir aus den Ländern bekommen – darin geht es darum, was mit dem Dreifachen des Geldes jetzt passiert –, bringen mich schon zum Nachdenken darüber, ob es richtig ist, dass wir das machen. Ich weiß jetzt schon, dass Länder sagen: Da kommt das Dreifache vom Bund; also geben wir weniger dazu. Warum sollen wir da etwas machen? – Andere geben überhaupt keine vernünftigen Berichte ab. Ich finde, das Thema Wohnungsnot ist viel zu ernst, als dass man es so abhandeln kann. Wir haben hier die Gelder von 500 Millionen Euro auf 1,5 Milliarden Euro verdreifacht. Das ist eine Riesenleistung, und das ist ein Beitrag zu bezahlbarem Wohnen. (Beifall bei der SPD) Frau Göring-Eckardt, Sie haben heute, glaube ich, das erste Mal zur Wohnungspolitik geredet. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, Herr Pronold, nicht zum ersten Mal!) Man muss auch wissen, dass es eine Föderalismusreform gab, nach der seit 2008 die Alleinverantwortung für die soziale Wohnraumförderung bei den Ländern angesiedelt ist. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie haben angekündigt, dass Sie jetzt investieren wollen!) Und der Bund übernimmt jetzt eine Übergangsfinanzierung. Ich sage Ihnen: Wichtig ist, dass wir jetzt in der aktuellen Situation die Gelder verdreifacht haben, und zwar eben auch, um Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Wir haben vorhin eine Debatte zum Thema Integration gehabt. Für die SPD ist es wichtig, dass wir die Menschen auf dem sozialen Wohnungsmarkt nicht gegeneinander ausspielen. Deswegen haben wir gesagt: Wir brauchen keinen Flüchtlingswohnungsneubau, sondern wir brauchen bezahlbaren Wohnraum für alle. Es darf nicht sein, dass die alleinerziehende Mutter gegen die syrische Familie ausgespielt wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dafür tragen wir mit diesem Geld Sorge; aber die Länder müssen dort auch entsprechend mitziehen. Es gibt kaum einen Bereich, wo die Große Koalition so erfolgreich agiert hat wie im Wohnungsbau. Meine Redezeit ist heute etwas kurz. Ich würde gerne noch etwas zur Frage der Städtebauförderung sagen, dazu, was wir dort machen, um zu verhindern, dass wie in anderen europäischen Ländern Ghettos entstehen, was wir insgesamt in vielen anderen Bereichen gemacht haben. Dem ging übrigens auch ein Beschluss des Haushaltsausschusses voraus, bei Bundesgrundstücken nicht mehr das Höchstpreisverfahren anzuwenden. Auch da ist noch zu wenig passiert; das stimmt. Wir haben lange gekämpft. Jetzt haben wir da aber den ersten Schritt getan. Schauen Sie sich auch einmal – bei all dem, was man an der BImA kritisieren kann – an, was wir für die Flüchtlingsunterbringung in diesem Bereich gemacht haben. Da haben wir vielen Kommunen und Ländern wirklich geholfen – auch weil der Bund mit gutem Beispiel voranging. Und wenn es eine erfolgreiche Politik gibt, dann ist es die beim sozialen Wohnungsbau, bei der Wohnungspolitik des Bundes. Sie können da noch so viele Haare in der Suppe suchen, Sie werden keine finden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Kai Wegner von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Kai Wegner (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Staatssekretär hat zur Verantwortung von Bund und Ländern bereits das Richtige gesagt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, der Bund hat Verantwortung für die soziale Wohnraumförderung übernommen. Ich würde mir wünschen, dass wir – auch Sie –, statt wohlfeile Anträge an den Deutschen Bundestag zu formulieren, gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Länder – auch die Länder, in denen Sie Verantwortung tragen – dieses Geld zielgerichtet für die soziale Wohnraumförderung verwenden, statt es in Haushaltslöchern versickern zu lassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frau Lay, Sie sprachen von Jahrhundertfehlern. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie auch den Fehler als Jahrhundertfehler bezeichnet hätten, den Ihre Partei, als sie in Berlin in Regierungsverantwortung war, zu verantworten hat. Sie waren es nämlich, die die größte staatliche Wohnungsbaugesellschaft in Berlin privatisiert haben. Da das noch nicht reichte, haben Sie sie gleich noch an die Börse gebracht, Frau Lay. Das ist Praxispolitik der Linken in den Ländern, und es ist unredlich, wenn Sie das hier anders darstellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Wegner, darf ich Sie kurz unterbrechen? Die Kollegin Lay hätte eine Zwischenfrage an Sie. Gestatten Sie diese? Kai Wegner (CDU/CSU): Sehr gerne. Vielleicht bezeichnet sie das dann ja auch als Fehler. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bitte schön. Caren Lay (DIE LINKE): Herr Kollege, selbstverständlich. Das habe ich immer gesagt. Das haben auch andere Rednerinnen und Redner dieser Fraktion hier immer wieder gesagt. Dieser Verkauf in Berlin war ein Riesenfehler. Das muss man unumwunden zugeben. Da gibt es überhaupt nichts zu diskutieren. Ich muss mich, ehrlich gesagt, aber etwas wundern, warum Sie als Vertreter der Union das hier jetzt so hochziehen. Geben Sie mir erstens darin recht, dass die extreme Haushaltsnotlage des Landes Berlin damals vorwiegend durch die Große Koalition, vor allen Dingen durch das Agieren der Union, verschuldet war? Geben Sie mir zweitens recht, dass es die Union war – damals in der Opposition –, die die rot-rote Regierung wegen des Haushalts verklagt hat? Geben Sie mir drittens recht, dass es Ihre Partei war, die in Berlin gefordert hat, sämtliche staatlichen Wohnungsunternehmen zu privatisieren? Finden Sie nicht auch, dass derjenige, der im Glashaus sitzt, nicht Steine auf andere werfen sollte? (Beifall bei der LINKEN) Kai Wegner (CDU/CSU): Dann habe ich ja Glück, dass ich nicht im Glashaus sitze. Glauben Sie es mir: Ich bin seit vielen Jahren Mitglied der Berliner CDU und war in unterschiedlichen Funktionen tätig. Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem die Berliner CDU die komplette Privatisierung aller staatlichen Wohnungsbaugesellschaften gefordert hat, Frau Lay. (Caren Lay [DIE LINKE]: Dann kann ich Ihnen das noch mal vorlesen! Das war Ihre Position!) Ganz im Gegenteil: Die Privatisierung der größten staatlichen Wohnungsbaugesellschaft in Berlin ist in Ihrer Regierungszeit beschlossen und vollzogen worden. (Caren Lay [DIE LINKE]: Sie haben gesagt, dass es nicht reicht!) Das haben wir als Union im Übrigen sogar kritisiert, Frau Lay. (Caren Lay [DIE LINKE]: Sie haben gesagt: Es reicht nicht aus!) Das gehört zur Wahrheit, und es ist unredlich, etwas anderes zu behaupten. (Caren Lay [DIE LINKE]: „Es reicht nicht aus“ war Ihre Position! Auch die der Grünen!) – Man ist halt getroffen, wenn man den Spiegel vorgehalten bekommt und der Wahrheit ins Auge sehen muss, nämlich wie man in den Ländern Verantwortung trägt und hier andere Anträge formuliert. Von daher, Frau Lay, nehme ich das so zur Kenntnis. Meine Damen und Herren, diese Große Koalition wird sich mit Nachdruck weiter dafür einsetzen, dass für alle Menschen Wohnraum in Deutschland zur Verfügung steht – für alle Menschen, in allen Stadtvierteln, auch bezahlbarer Wohnraum. Wir haben da einiges erreicht und einiges erledigt. Ich sage nicht, dass wir schon fertig sind. Wir haben noch vieles vor uns. Aber wir haben die Mittel für die soziale Wohnraumförderung deutlich erhöht und diskutieren, sie in den nächsten beiden Jahren nochmals um 500 Millionen Euro zusätzlich zu erhöhen. Das ist eine Kraftanstrengung. Diese Regierung, diese Koalition sieht aber die Verantwortung, die wir haben. Aber noch einmal: Ich erwarte von den Ländern, dass sie nicht immer nur nach Geld rufen, sondern diese Mittel dann auch passgenau einsetzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben das Leistungsniveau des Wohngeldes deutlich angehoben, um einkommensschwache Haushalte bei den Wohnkosten schnell, wirkungsvoll und treffsicher zu entlasten. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vollkommen verpufft!) Ja, wir haben das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen ins Leben gerufen und die Maßnahmen identifiziert, die zu mehr Wohnungsbau führen sollen. Ja, wir haben auch die Mietpreisbremse eingeführt, damit Menschen nicht aus ihren angestammten Wohnvierteln verdrängt werden. Wir haben aber schon immer gesagt – auch ich habe das schon immer gesagt –: Eine Mietpreisbremse, so sinnvoll sie auch sein mag, schafft keine einzige neue bezahlbare Wohnung, meine Damen und Herren. Auch das gehört zur Wahrheit. Wir werden einen Investitionspakt für die soziale Integration im Quartier auflegen und die Fördermittel für die Stadtentwicklung noch einmal deutlich erhöhen. All diese Maßnahmen, meine Damen und Herren, sind richtig und wichtig; denn insbesondere in den Ballungszentren steigen die Mieten weiter. Auch die Preise für Wohneigentum schießen in die Höhe. Je größer die Stadt, desto stärker die Preissteigerung. Die Gründe dafür sind klar; sie liegen auf der Hand. Deutschlands Städte sind attraktiv, sie ziehen viele Menschen an, und sie wachsen. Wo eine steigende Nachfrage auf ein nur gemächlich wachsendes Angebot trifft, steigen die Preise. Deshalb ist es auch so wichtig, dass die erste und wichtigste Antwort auf die steigende Nachfrage ist, dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, um mehr, um neuen Wohnraum zu schaffen. Deshalb ist die Devise völlig richtig, dass wir auf Bauen, Bauen und nochmals Bauen setzen müssen, meine Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist schon oft meine Heimatstadt Berlin erwähnt worden. Wir haben in Berlin derzeit eine Leerstandsquote von 1,7 Prozent. Wir alle wissen, wie die Stadt in den nächsten Jahren wächst. Wer meint, bei einer Leerstandsquote von 1,7 Prozent können wir weiter mit Regularien vorgehen, weitere Gesetze schaffen und damit einen stabilen Mietmarkt entstehen lassen, der irrt, meine Damen und Herren. Auch in Berlin gilt es, mehr Wohnungen zu bauen und auf die steigende Nachfrage zu reagieren. Ja, zur Wahrheit gehört auch – es wird immer wie ein Dogma hier vorgetragen, dass staatliche Gesellschaften für alles zuständig sind –: Wir brauchen die staatlichen Gesellschaften, um dieser Herausforderung gerecht zu werden. Wir brauchen auch die Genossenschaften. Auch das gehört zur Wahrheit. Wir werden dieser großen Herausforderung nur gerecht, wenn wir auch auf private Investitionen, private Investoren setzen. Nur in diesem Dreiklang – staatliche Gesellschaften, Genossenschaften und private Bauherren – werden wir dieser Herausforderung gerecht werden können. Nach allen Schätzungen benötigen wir in Deutschland jährlich mindestens 350 000 neue Wohnungen – 350 000 neue Wohnungen! Ja, ich bin sehr für eine behutsame Nachverdichtung in bestehenden Stadtquartieren. Aber zur Wahrheit gehört: Auch bei der Verdichtung gibt es Grenzen. Wer glaubt, dass wir diese große Zahl von neuen Wohnungen allein durch Geschossaufstockung und das Schließen von Baulücken im Innenbereich schließen können, der, meine ich, irrt. Zwischen Gründerzeithaus und Platte kann man nicht 350 000 neue Wohnungen errichten, meine Damen und Herren. Um den Menschen die Wohnungen bereitzustellen, die sie benötigen, müssen wir auch neues Bauland am Siedlungsrand erschließen. Wir brauchen im Bauplanungsrecht folglich mehr beschleunigtes Planen am Ortsrand. Frau Ministerin Hendricks, lieber Herr Staatssekretär Pronold, die Baurechtsnovelle hat leider immer noch keine Kabinettsreife, weil dort das so dringend benötigte Signal für den siedlungsnahen Außenbereich fehlt. Wir haben inzwischen folgende absurde Situation: Baulandeigentümer lassen nicht bauen, sondern lehnen sich zurück und erfreuen sich an den immer weiter steigenden Preisen. Dieses spekulative Verhalten müssen wir endlich unterbinden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der beste Weg, um den Baulandspekulanten den Garaus zu machen, wäre die spürbare Ausweitung weiterer bebaubarer Flächen; denn dann hätte das Spekulieren auf immer weiter steigende Preise ganz schnell ein Ende. Ja, liebe Frau Ministerin, lieber Herr Pronold, damit wir die Kabinettsreife schnell erreichen: Machen Sie den Weg frei, damit wir schnell zu mehr Bauland in unserem Land kommen können. Wir brauchen dieses Instrument, mit dem wir planungsrechtlich zügig auf den derzeitigen Wohnungsmangel reagieren können. Keiner sollte sich hinter diffusen europäischen Regelungen verstecken. Das klärt sich. Beim Bauland entscheidet sich am Ende des Tages, wer sich wirklich diesem Problem stellen und es lösen will. Meine Damen und Herren, ja, wir müssen bei der Städtebaurechtsnovelle auch mit Blick auf die Innenentwicklung das eine oder andere verändern. Ich begrüße, dass es einen neuen Baugebietstypus „Urbanes Gebiet“ geben wird. Wir wollen ein besseres Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe und damit auch den Bau zusätzlicher Wohnungen in urbanen Zentren. Urbane Gebiete sollen zudem die funktionale Durchmischung in unseren Städten stärken; denn gemischte Quartiere sind ein Garant für Lebensqualität, für Wohnzufriedenheit, für Standortbindung und für Identitätsbildung. Auch das ist ein wichtiger Baustein für lebenswerte Wohnverhältnisse in starken Stadtteilen. Meine Damen und Herren, das Thema Wohneigentum wurde angesprochen. Ich glaube, auch hier brauchen wir verstärkte Anstrengungen; das Thema Wohneigentum braucht eine höhere Wertschätzung, auch vonseiten der Bundesregierung und der Bundesministerin. Denn wer den Mut und die Möglichkeit hat, sich letztlich für die eigenen vier Wände zu entscheiden, der schafft am Ende des Tages Freiräume bei den Mietwohnungen, und es ist die beste Altersvorsorge für die Menschen. Von daher müssen wir größere Kraftanstrengungen unternehmen, um Wohneigentum weiter zu fördern. (Beifall bei der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir bei der Frage des bezahlbaren Wohnraums in lebenswerten Städten auch vor manchen Herausforderungen stehen, stehen wir doch im europäischen und erst recht im globalen Maßstab verhältnismäßig gut da. Urbanisierung ist ein weltweites Phänomen. Beim UN-Weltsiedlungsgipfel diskutieren deshalb 40 000 Menschen, wie die vielen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem starken Zuzug in große Städte gemeistert werden können. Es ist sicher kein Zufall, dass wir Deutschen bei der HabitatIII-Konferenz ein gefragter Ratgeber sind, wenn es darum geht, wie die großen Metropolen dieser Welt nachhaltiger, sicherer und lebenswerter gemacht werden können. Das deutsche Modell der Städtebauförderung kann für andere Länder beispielgebend sein; denn die Städtebauförderung hat sich bei uns in Deutschland in viereinhalb Jahrzehnten außerordentlich bewährt. Meine Damen und Herren, wir als Union glauben an die Kraft des Marktes. Wir bekennen uns aber auch zur staatlichen Verantwortung für alle, die auf den regulären Wohnungsmärkten aus verschiedenen Gründen keine Chance haben. Die soziale Balance ist ein hohes Gut. Wir wollen nicht nebeneinander leben, sondern wir wollen miteinander leben – Geringverdiener und Menschen mit höherem Einkommen, Ortsansässige und neu Hinzugezogene, Junge und Alte, Familien, Alleinlebende. Wir als Koalition werden weiterhin alle Anstrengungen unternehmen, damit alle Menschen in Deutschland eine bezahlbare Wohnung finden und die soziale Balance erhalten bleibt oder wiedergewonnen wird. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt mal konkret!) Denn auch in den Wohnvierteln entscheidet sich am Ende des Tages die Zukunft unseres Landes. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Klaus Ernst, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Klaus Ernst (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Wegner, jetzt muss ich Sie schon mal was fragen. Wo ist er denn? – Da ist er. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ja, ich doch nicht!) – Ja, ich habe ihn schon gesehen. Ich schiele doch nicht. – Sie haben gerade die Privatisierung von Wohnungen durch das Land Berlin unter Regierungsbeteiligung der Linken kritisiert. Frau Lay hat gerade erklärt, dass das ein Fehler war. Jetzt wissen wir, dass von 1990 bis heute über 350 000 Wohnungen des Bundes privatisiert wurden, oft unter Regierungsbeteiligung der CDU und der CSU. Sind Sie bereit, auch das als Fehler bezeichnen, (Beifall bei der LINKEN) oder ist es bei Ihnen so: „Wenn die Linke dasselbe macht wie Sie, dann ist es falsch, aber wenn Sie es machen, ist es richtig“? (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) Das wäre natürlich eine sehr bemerkenswerte Einstellung. – Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen würden, würde ich die Präsidentin bitten, sie zuzulassen. (Heiterkeit bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Aber so soll es hier eigentlich nicht laufen, (Heiterkeit) dass wir hier die Debatten verlängern und der Kollege Ernst noch etwas zusätzliche Redezeit bekommt. So war das nicht gedacht. (Kai Wegner [CDU/CSU]: Ich habe aber eine Zwischenfrage! – Heiterkeit) – Sie haben eine Zwischenfrage. Herr Kollege Ernst, lassen Sie die Zwischenfrage zu? Klaus Ernst (DIE LINKE): Ja, ich würde mich über die Zwischenfrage freuen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Dann, Herr Kollege Wegner, bitte schön. Kai Wegner (CDU/CSU): Lieber Herr Ernst, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. (Heiterkeit) Ich habe folgende Frage an Sie: Teilen Sie die Auffassung, dass Reden und Regierungshandeln in Einklang zu bringen sind (Caren Lay [DIE LINKE]: Vor allen Dingen bei Ihnen!) und das insbesondere für die Linke gilt, wenn sie Verantwortung trägt, lieber Herr Ernst? (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Gute Frage!) Klaus Ernst (DIE LINKE): Ja, Herr Wegner, diese Auffassung teile ich. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Wegner, bleiben Sie bitte stehen, bis die Antwort zu Ende ist. Man muss schon alles durchziehen, wenn man sich dazu bereit erklärt. (Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Klaus Ernst (DIE LINKE): Ja, ich teile diese Ansicht, Herr Wegner. Das muss übereinstimmen. Genau deshalb ist die Frage an Sie gerichtet gewesen, ob Sie das unterschiedlich bewerten. Wir bewerten es nicht unterschiedlich. Sie sagen also tatsächlich, wenn ich Sie jetzt richtig verstehe: Es war falsch, dass der Bund unter Regierungsbeteiligung der CDU die Wohnungen privatisiert hat. – Wenn Sie das täten, Herr Wegner, dann wären wir zumindest auf der Ebene, dass wir Tatbestände gleich bewerten. Wenn Sie das nicht tun, kann ich Ihre Aussage über das, was wir in Berlin gemacht haben, überhaupt nicht ernst nehmen. Dann ist es reine Polemik. So schaut’s aus. (Beifall bei der LINKEN) Ich wollte eigentlich zu ganz anderen Themen etwas sagen, nämlich zur Realität. Es ist noch früh am Morgen, deshalb können Sie mir sicherlich folgen, wenn ich Sie mit ein paar wenigen Zahlen belaste. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Vielleicht ist es für Sie früh! Für mich nicht!) Nach den Regelungen im Hartz-System liegt der durchschnittliche Bedarf alleinstehender Erwachsener bei 1 053 Euro. Man geht dabei von Kosten für die Unterkunft von 349 Euro aus. 349 Euro sind das, was ihm zugestanden wird. Wir wissen, dass ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, der den Mindestlohn erhält, ein Nettogehalt von 1 040 Euro hat; er hat also 13 Euro weniger. Wenn man die entsprechenden Realitäten zugrunde legt, nämlich das, was nach SGB IV als Kosten der Unterkunft für die Mieten in München angesetzt wird, dann stellt man fest: In München sind es 492 Euro, also 156 Euro mehr, in Frankfurt 132 Euro und in Stuttgart 87 Euro. Wenn jemand Mindestlohn bekommt, dann hat er also schlichtweg 156 Euro weniger Geld für Miete zur Verfügung, als im Hartz-System zugrunde gelegt wird. Das heißt aber nicht, dass man im Hartz-System zu viel bekommt. Das Problem ist, dass er zu wenig Mindestlohn erhält. Diese Problematik könnte man einigermaßen in den Griff bekommen, wenn man die Mieten begrenzen würde. Aber Ihre Mietpreisbremse ist nur heiße Luft; da passiert nichts. Es ist eben keine Mietpreisbremse. Ich möchte meinen Punkt noch etwas deutlicher machen; denn es gibt nicht nur die Menschen im Mindestlohn. Ein Polizeimeister – nennen wir ihn Herrn Müller – verdient in München mit Ballungsraumzulage usw. circa 2 600 Euro brutto. – Ich sehe gerade, meine drei Minuten Redezeit sind schon vorbei. Oje, oje! (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt wird es aber Zeit!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wenn Sie so lange andere Dinge ansprechen, dann ist Ihre Zeit um. Bringen Sie noch zügig Ihr Beispiel und kommen Sie dann zum Ende Ihrer Rede. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Eine letzte Matheaufgabe, und dann ist Schluss!) Klaus Ernst (DIE LINKE): Danke schön, Frau Präsidentin. – Dann erzähle ich wenigstens das Beispiel vom Polizeimeister zu Ende. Wenn man annimmt, dass dieser Polizeimeister ein Drittel seines Einkommens für Miete ausgibt und wenn man zugrunde legt, welche Mietpreise in München inzwischen gezahlt werden müssen, dann stellt man fest: Er könnte sich gerade noch eine Wohnung mit 33 Quadratmetern leisten. – Das Ergebnis ist übrigens, dass die Polizisten, die München und seine Bürger schützen, nicht mehr in München wohnen können, weil sie es sich nicht mehr leisten können. Wenn Sie meinen, das solle alles so bleiben, dann sagen Sie das dem Polizisten! Ich hoffe, dass er sie trotzdem schützt, wenn bei Ihnen eingebrochen wird. Herzlichen Dank fürs Zuhören. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Michael Groß, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU] – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Keine Rechenaufgaben mehr, bitte!) Michael Groß (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ging eben um die Arithmetik, die die Realität einiger Bürgerinnen und Bürger in unserem Land darstellt. Es ist wichtig, zu betonen, dass – anders als die Opposition das sieht – das Glas nicht leer, sondern mehr als halb voll ist. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ach ja?) Wir haben in den letzten drei Jahren in dieser Regierung viel erreicht. Es wurden mehr Baugenehmigungen erteilt. In diesem Jahr werden weit mehr als 300 000 neue Wohnungen gebaut. Wir haben das Wohngeld aufgestockt. Wir werden die Mittel für die soziale Wohnraumförderung auf 1,5 Milliarden Euro aufstocken. Wenn die Rechnung stimmt, die die Linke aufmacht, werden wir mindestens 45 000 bis 60 000 Wohnungen im sozialen Wohnungsbau, also Wohnungen mit Mietbindung, schaffen. Wenn die Länder sich noch einmal so engagieren, werden wir weit mehr als 100 000 Wohnungen erreichen. Das ist die Forderung, die wir alle haben, insbesondere wir von der SPD. (Beifall bei der SPD) Wir haben zurzeit eine Situation, in der wir berechtigterweise darüber diskutieren, ob ein Weiter-so möglich und notwendig ist. Wir haben aufgrund von Beobachtungen im In- und Ausland Erfahrungswerte, und wir haben die Konsequenzen zu ziehen. Man muss darauf achten: Ist der private Markt, die Wirtschaft allein in der Lage, den Wohnungsbedarf zu decken? Wir schließen uns natürlich der Forderung an, dass wir Genossenschaften brauchen – starke Genossenschaften, die als Korrektiv auf dem Wohnungsmarkt auftreten. Aber wir brauchen auch kommunale Wohnungsunternehmen. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Und Private!) Die kommunalen Wohnungsunternehmen sind übrigens diejenigen, die nach den Untersuchungen, die Sie ständig zitieren, zu fast 100 Prozent die Mietpreisbremse einhalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum brauchen wir eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit!) – Ich glaube, dass die neue Wohnungsgemeinnützigkeit vielleicht langfristig ein Konzept sein kann. Wir prüfen das ja gerade. Sie wissen selbst, dass wir als SPD gemeinsam mit dem Ministerium gesagt haben: Wir wollen dieses Konzept prüfen. Wir glauben aber auch, dass der Weg kürzer sein muss. Wir brauchen jetzt ein Korrektiv. Wir brauchen jetzt starke Genossenschaften. Wir brauchen jetzt starke Wohnungsbaugesellschaften, kommunale Wohnungsbaugesellschaften, die vor Ort als Korrektiv am Markt auftreten und für bezahlbaren Wohnraum sorgen können. Wir haben heute Morgen gehört, dass wir die Kommunen und die Länder in einem Maß entlastet haben, wie es das in der Bundesrepublik bisher noch nicht gegeben hat. Ich glaube, dass dieser Weg weiter beschritten werden muss. Ich glaube auch, dass wir darüber nachdenken müssen, eine gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen für den Wohnungsbau herzustellen, weil nur in der gemeinsamen Verantwortung vor Ort die regionalen Spezifika abgebildet werden können. Die Kommunen sind in der Lage, die Frage zu beantworten: Brauchen wir Wohnungen, welche Art von Wohnungen brauchen wir, und wo brauchen wir Wohnungen? Das muss vor Ort geregelt werden. Herzlichen Dank. Glück auf! (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Christian Kühn, Bündnis 90/Die Grünen. Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Sie in das Jahr 1988 entführen. Am 23. Juni 1988 wurde in Bonn, im Deutschen Bundestag, die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit debattiert und beschlossen. Schwarz-Gelb zerschlug damals das altbewährte System einer Wohnungsgemeinnützigkeit in Deutschland unter dem Vorwand des Skandals der Neuen Heimat. Es gab damals heftige Proteste von Sozialdemokraten und Grünen in dieser Plenardebatte. Ich verstehe nicht, warum die SPD an dieser Stelle heute so zögerlich auftritt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ein Blick in die Protokolle kann uns vielleicht helfen; ich will hier Herrn Lammert zitieren, der immer sagt, man solle sich auch die Unterlagen anschauen, das, was hier immer aufgeschrieben wird. Alle Befürchtungen, die in dieser Debatte damals vorgetragen worden sind, sind eingetreten: Mietsteigerungen, Verdrängung, weniger Mieterschutz, Unterversorgung und steigende Sozialtransfers beim Wohnen. Ich glaube, dieser Fehler, der 1988 gemacht worden ist, muss dringend korrigiert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Seitdem haben wir über 2 Millionen Sozialwohnungen in Deutschland verloren. Dieser Donnerstag 1988 war ein schwarzer Tag für Mieterinnen und Mieter in Deutschland. Er ist der ursächliche Auslöser der Krise, die wir heute auf unseren Wohnungsmärkten erleben. Dieser Fehler muss dringend korrigiert werden. Wir brauchen wieder ein System der Wohnungsgemeinnützigkeit. Wir brauchen wieder eine Orientierung, dass Wohnungen nicht länger Spekulationsobjekt sind, sondern als Daseinsvorsorge begriffen werden. Wir brauchen eine Gemeinwohlorientierung in der Wohnungspolitik, damit unsere Wohnungsmärkte wieder ins Gleichgewicht kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es gibt einige Kritiker dieser Wohnungsgemeinnützigkeit. Mittlerweile hat dazu auch die Wohnungswirtschaft das eine oder andere Gutachten – mit wenigen Seiten – verfasst und Stellung bezogen. Auch seitens der Union werden immer wieder Argumente zur Frage der Wohnungsgemeinnützigkeit vorgetragen. Herr Nüßlein hat zum Beispiel gesagt: Wir wollen keine neuen Wohnghettos. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt! Das ist richtig, aber ich habe es nicht gesagt!) Schauen wir uns doch einmal in Europa um: In Frankreich gibt es die Banlieues mit massiven sozialen Spannungen. Großbritannien: London ist eine sozial wirklich zerklüftete Stadt. Wien hingegen ist eine der lebenswertesten Städte Europas. Der Unterschied ist, dass es in Wien eine Wohnungsgemeinnützigkeit gibt und in Großbritannien und Frankreich nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deswegen: Nicht die Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit fördert soziale Ghettos, sondern deren Abwesenheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es wird außerdem behauptet, dass die Wohnungsgemeinnützigkeit zu hohen Kosten für die Kommunen führen würde. Aber wenn ich mir die Realität anschaue, dann sehe ich doch, dass die Sozialtransfers beim Wohnen wegen der steigenden Mieten zunehmen. Was wir mit diesem System wollen, ist, dass die Kommunen in Wohnungen, in Vermögen investieren und damit die Kosten der Unterkunft dauerhaft reduzieren. Mit der Wohnungsgemeinnützigkeit würden wir die Kommunen in Deutschland in Sachen Wohnen deutlich entlasten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Sie kommen jetzt auch bitte zum Schluss, Herr Kollege. Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nun zu meinem letzten Punkt. Sie führen immer wieder die Länder an: Die Länder müssen machen, die Länder müssen machen. Ich sage Ihnen eines: Wir Grüne werden nach 2019 nicht Däumchen drehend hier sitzen und zusehen, wie unsere Wohnungsmärkte weiter aus dem Ruder laufen. Es ist Zeit für eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit. Jedes Jahr verlieren wir 60 000 Sozialwohnungen in Deutschland. Wir brauchen endlich wieder ein System, das den Menschen in diesem Land eine soziale Antwort gibt. Wir brauchen diese neue Wohnungsgemeinnützigkeit. Wir haben diese Debatte beantragt, damit Sie endlich einmal Stellung in dieser Frage beziehen. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Sylvia Jörrißen. (Beifall bei der CDU/CSU) Sylvia Jörrißen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir alle hier wollen bezahlbares Wohnen, und im Gegensatz zu Ihnen, werte Kollegen der Grünen, arbeiten wir an ganzheitlichen Lösungen. Wir haben bereits vieles im Hinblick auf bezahlbares Wohnen auf den Weg gebracht und sind noch lange nicht fertig damit. Man kann die Sache natürlich schlechter reden, als sie ist. Nur bringt uns das keinen Millimeter weiter. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal den Mietern!) Das ist schade, weil das Thema viel zu wichtig ist: für Familien, die eine stadtnahe Wohnung in der Nähe von Versorgungs- und Bildungseinrichtungen oder in der Nähe vom Arbeitsplatz brauchen, für Studierende und Auszubildende, die mit wenig Geld zentral wohnen müssen, für Senioren, die dort, wo sie schon immer leben, altersgerechten Wohnraum suchen, und auch für Schutzsuchende, für die Wohnen ein Schlüssel zur erfolgreichen Integration ist. Deshalb setzt sich die Union weiterhin dafür ein, bezahlbaren und zielgruppengerechten Wohnraum zu schaffen. Das gilt sowohl für den Neubau als auch für die Modernisierung des vorhandenen Bestandes. Wir brauchen beides. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Uns fehlen 350 000 bis 400 000 neue Wohnungen jährlich. Das kann der Bund nicht allein anschieben. Hier müssen alle an einem Strang ziehen, auch die Länder und Kommunen. Es sind im Übrigen nicht nur Wohnungen im sozialen Wohnungsbau, die wir brauchen, sondern es sind Wohnungen für alle, die in unserem Land leben. Es ist sowohl geförderter als auch frei finanzierter Wohnungsbau durch kommunale und private Investoren oder auch durch Genossenschaften. Die Große Koalition ist die Herausforderungen auf dem Wohnungsmarkt längst angegangen. Es ist richtig, dass in bestimmten Ballungsgebieten die Märkte überhitzt sind und wir dort zu wenig Wohnraum für jene haben, die über geringe und mittlere Einkommen verfügen. Um die Symptome in den überhitzten Märkten abzumildern, haben wir die Mietpreisbremse eingeführt. Auch wir als Union wollen nicht, dass Menschen aus ihren angestammten Quartieren verdrängt werden. Deshalb haben wir den Mietern Rechte an die Hand gegeben, die sie jetzt auch tatsächlich wahrnehmen müssen. Aber die Mietpreisbremse allein löst das Problem des Wohnungsmangels nicht. Deshalb war uns immer die Verknüpfung mit Maßnahmen für den Wohnungsbau wichtig. Aus diesem Grund haben wir die Mittel für die soziale Wohnraumförderung bereits verdoppelt. Die bis 2019 vorgesehenen Kompensationsmittel in Höhe von ursprünglich 518 Millionen Euro haben wir um 500 Millionen Euro jährlich aufgestockt, und der aktuelle Haushaltsentwurf sieht sogar eine weitere Erhöhung auf über 1,5 Milliarden Euro jährlich vor. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist nach 2019?) Mit diesen Mitteln ist es den Ländern möglich, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Aber die Länder geben das Geld anscheinend nach wie vor für anderes aus. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau!) Die Zahlen der neu geschaffenen Sozialwohnungen steigen nicht in dem Maße, in dem es erforderlich und bei ordnungsgemäßer Verwendung der Mittel auch möglich wäre. Tatsächlich reicht in einigen Ländern der Neubau nicht einmal, um die Anzahl der aus der Sozialbindung fallenden Wohnungen auszugleichen. Deshalb lautet mein erneuter Appell an die Länder, die üppigen Bundesmittel vollumfänglich einzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU) Hierfür müssen die Förderprogramme so attraktiv ausgestattet sein, dass die Fördermittel auch abgerufen werden. Die Angebote großer Kredite sind langweilige Schaufensterdekorationen. Wir brauchen Kassenschlager, die die Investoren den Ländern aus den Händen reißen. Sie fragten gerade, was nach 2019 ist. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Aktuell liegen die Ergebnisse der Bund-Länder-Finanzverhandlungen vor. Die Ministerpräsidenten haben sich mit der Bundeskanzlerin und dem Finanzminister darauf geeinigt, dass ab 2020 eine Neuordnung in Kraft tritt. 2020 werden damit die Kompensationsmittel enden. Dann müssen die Länder ihre Verpflichtungen im sozialen Wohnungsbau aus einer höheren Beteiligung an der Umsatzsteuer finanzieren. Ich bin gespannt, wie die Prioritätendiskussion in den Ländern künftig verlaufen wird. (Zuruf von der CDU/CSU: Ich auch!) Liebe Kollegen der Grünen, in Ihrem Antrag erscheint die Einführung der Wohnungsgemeinnützigkeit als Allheilmittel der Probleme. Sie verkennen aber, dass diese den Wohnungsmangel nicht lösen wird, und zwar aus vielen Gründen nicht. In der Zeit nach den beiden Weltkriegen war die Wohnungsgemeinnützigkeit ein wichtiger Baustein der Wohnungspolitik. Schließlich fehlte es damals an funktionsfähigen Kapitalmärkten und Investoren, die Wohnungen finanzieren konnten. Aber heute haben wir andere Rahmenbedingungen. Die Probleme entstehen nicht durch eine mangelnde Zahl an Investoren, sondern beispielsweise dadurch, dass zu wenig Bauland zur Verfügung steht oder die Baukosten zu hoch sind. Wie will Ihre Gemeinnützigkeitsidee das lösen? (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das wird schwierig!) Es ist doch ein Irrglaube, wenn Sie annehmen, dass gewinnorientierte Unternehmen keine soziale Verantwortung für ihre Mieter und ihre Quartiere wahrnehmen. Der Erfolg eines Wohnungsunternehmens hängt doch maßgeblich davon ab, dass ein Stadtviertel prosperiert. Kommunale Unternehmen leisten wichtige Beiträge durch die Gewinnabführung zur Finanzierung der Kommunen. Herr Kühn, Sie haben gerade das Stichwort „Neue Heimat“ selbst ins Spiel gebracht. Vielleicht sollten wir der Öffentlichkeit den gigantischen Skandal des Gewerkschaftswohnungsbauunternehmens „Neue Heimat“ wieder in Erinnerung rufen: Mehrere Vorstandsmitglieder des gewerkschaftseigenen gemeinnützigen Unternehmens hatten sich persönlich bereichert, und der Gewerkschaftskonzern war erheblich verschuldet. Der ehemalige Vorstandschef hatte dem Unternehmen durch Privatgeschäfte einen Verlust in Höhe von 105 Millionen D-Mark beschert. Die Verbindlichkeiten der übernommenen Neuen Heimat betrugen etwa 16 Milliarden D-Mark. Der Verkauf platzte dann auch noch aufgrund dieser Überschuldung. Am Ende musste alles aufgelöst und verkauft werden. – Der Gemeinnützigkeitsstatus hatte das Unternehmen der natürlichen Kontrolle aller Geschäfte durch eine Gewinnorientierung entzogen. Die Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau war der fruchtbare Boden für millionenschweren Betrug und milliardenschwere Verluste, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In einem Unternehmen von über 3 000 in Deutschland!) frei nach dem Motto: Gewinne darf ich nicht machen, meinen Bonus organisiere ich mir trotzdem, und für Verluste kommen die anderen auf. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eine Generation weiter hoffen einige, dass sich die Öffentlichkeit nicht mehr daran erinnert. Aber das werden wir nicht zulassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) Lassen Sie mich zu einem wichtigen Förderprogramm kommen: „Altersgerecht Umbauen“. Aufgrund des demografischen Wandels und höherer Lebenserwartung ist es wichtig, dass wir in den kommenden Jahren ausreichend altersgerechten Wohnraum schaffen; denn die Menschen wollen so lange wie möglich selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden leben. Hier muss ich meine Verwunderung ausdrücken, dass der Haushaltsentwurf für alle möglichen zusätzlichen Projekte Hunderte Millionen Euro vorsieht, aber bei diesem Programm offensichtlich erst wir Parlamentarier das Eisen aus dem Feuer holen sollen. Die Mittel für dieses Jahr sind bei der KfW längst aufgebraucht. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau!) Da ich schon bei einem Appell an die Bauministerin bin, werte Frau Hendricks, möchte ich auf eine weitere Sache hinweisen, die mir sehr am Herzen liegt. Anfang des Jahres wurden die Ergebnisse des Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen vorgelegt. Die Erhöhung der Kompensationsmittel und die Erhöhung des Wohngeldes können ja nicht alles der Umsetzung gewesen sein. Insbesondere bei den Ergebnissen der Baukostensenkungskommission und den zusätzlichen Investitionsanreizen müssen nun Taten folgen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden unsere Herausforderungen in der Baupolitik nur bewältigen, wenn mehr gebaut wird. Wir können das Problem des Wohnungsmangels nicht mit den Stellschrauben des Mietrechts lösen, sondern müssen bauen, bauen und nochmals bauen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Denn nur durch mehr Wohnungsneubau werden die Ursachen steigender Mieten langfristig bekämpft. Es ist nicht nur die Schaffung von Sozialwohnraum nötig, sondern wir müssen auch den frei finanzierten privaten und den genossenschaftlichen Wohnraum fördern. Das geht am besten durch eine steuerliche Förderung. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Ja!) Diese kann, richtig eingesetzt, schnell und genau dort wirken, wo der Druck auf die Wohnungsmärkte am größten ist. Insofern bin ich sehr enttäuscht, dass die steuerliche Förderung nun nicht realisiert werden soll. (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU]) In meinen Augen ist sie bitter notwendig. Dieses Mittel war auch eine Empfehlung des Bündnisses und ein Projekt des Bundesfinanzministers und der Bundesbauministerin. Doch was hilft die beste Baupolitik, wenn kein Raum zum Bauen vorhanden ist? Das höre ich immer wieder in Gesprächen im Wahlkreis. Ich erwarte daher von den Kommunen, dass Bauland ausgewiesen wird und die Genehmigungsverfahren beschleunigt werden. Um den erhöhten Wohnraumbedarf zu decken, brauchen wir heute zusätzliche, neue Siedlungsgebiete und schnell mehr Bauland an den Ortsrändern. Um den Wohnraumbedarf zu decken, liebe Kollegen, müssen wir auch mit Maß an der baulichen Dichte ansetzen. Hierzu muss die Baunutzungsverordnung überarbeitet werden. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau!) Wir wollen einen neuen Baugebietstyp schaffen, der mehr Nachverdichtung und eine flexiblere Nutzungsmischung aus Wohnen und Gewerbe ermöglicht. Aber gerade beim Bauen müssen wir auch für Innovation und Kreativität offen sein und mit der Zeit gehen. Modulares und serielles Bauen wird in Zukunft wichtiger werden. Hier ist schon heute vieles möglich. Meine Damen und Herren, wir dürfen uns nicht nur um Mietwohnungen, sondern müssen uns darüber hinaus auch um selbstgenutztes Wohneigentum kümmern. Das ist uns als Union sehr wichtig. Der Bau von Eigentumswohnungen hat die gleiche Wirkung wie der Bau von Mietwohnungen. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) – Doch. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, hat er nicht!) Durch Umzugsketten und Sickereffekte wird am Ende auch hierbei Mietwohnraum frei. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Welche Studie belegt denn diese Sickerungseffekte? – Gegenruf des Abg. Christian Haase [CDU/CSU]: Der gesunde Menschenverstand!) Als Nebeneffekt, Herr Kühn, hat dies auch eine soziale Komponente. Wohneigentum ist nämlich die wichtigste Form der privaten Altersvorsorge. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist die einzige Form der Altersvorsorge, von der man sogar im jungen Alter schon etwas hat. Konkret geht es mir um die Wohnungsbauprämie. Junge Menschen und Familien müssen einen Anreiz haben, schon frühzeitig für Wohneigentum zu sparen. Hier müssen wir Anreize schaffen, die attraktiv sind. Die Wohnungsbauprämie im jetzigen Zustand ist es nicht. Wir müssen sie so verändern, dass sie wieder attraktiv wird, gerade für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen. Wir müssen hier Anpassungen an die Einkommens- und Preisentwicklung vornehmen; denn aufgrund inflationsbedingter Lohnerhöhungen sind viele Arbeitnehmer aus der Förderung herausgefallen. Hier besteht Handlungsbedarf. (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU] – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wer stellt denn den Finanzminister?) Ein Thema, das der Kollege Nüßlein schon angesprochen hat, unterstütze auch ich – die nordrhein-westfälische CDU hat hierzu noch weitergehende Ideen, für die auch ich mich starkmache und die beim nächsten Bundesparteitag eingebracht werden –, nämlich die bundesweite Einführung eines Baukindergeldes für alle Familien mit Kindern, die selbstgenutztes Wohneigentum erwerben. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Eine gute Idee!) Viele Familien fühlen sich heute mit den Kosten für die Kinder alleingelassen. Das Baukindergeld würde hier die notwendige Unterstützung bieten und für viele aus der Mitte unserer Gesellschaft einen Anreiz schaffen, zu bauen oder eigenen Wohnraum zu kaufen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kollegen, Wohnungsbaupolitik erfordert ein ganzheitliches Konzept. Nur durch die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum, die Sie in Ihrem Antrag fordern, liebe Grüne, sind die Herausforderungen nicht zu bewältigen. Wir setzen auf nachhaltige Lösungskonzepte und auf wirkliche Problemlösungen und sind hierbei auf einem guten Weg. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Detlev Pilger, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Detlev Pilger (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst darf ich feststellen: Die Überschrift, die die Grünen für ihren Antrag gewählt haben – „Gemeinsam für bezahlbares Wohnen – Lebenswert und klimafreundlich“ –, beschreibt ein Anliegen, das wir alle in diesem Haus vereint verfolgen sollten, egal durch welche parteipolitische Brille wir sehen. Ich finde diese Überschrift zutreffend. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU] und Klaus Ernst [DIE LINKE] – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir auch!) – Das glaube ich. – Wir befinden uns da auch in guter Gesellschaft, nämlich in der Gesellschaft des evangelischen Bischofs Dröge, der aus meiner schönen Heimatstadt Koblenz kommt und die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum als gesellschaftliche Aufgabe bezeichnet, die besonders der einkommensschwachen und armen Bevölkerung zugutekommt. Dahinter sollten wir uns, egal ob wir christlich motiviert oder humanistisch orientiert sind, vereinen können. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Machen wir ja auch!) Wir haben viel gemacht – das wurde hier schon mehrfach betont –: Im letzten Jahr wurde mehr gebaut als in den zehn Jahren zuvor. Unternehmen wurden gestärkt, Frau Jörrißen; damit wurden wichtige Arbeitsplätze gesichert. Wir haben die Mietpreisbremse eingeführt. Wir haben das Maklerprinzip geändert. Wir haben das Wohngeld erhöht. Allerdings haben wir – das muss man an dieser Stelle auch sagen, lieber Kollege Nüßlein; da sprechen die aktuellen Zahlen eine eindeutige Sprache – den sozialen Wohnungsbau wenig belebt und das, was wir durch den Wegfall der Sozialbindung an Wohnungen verlieren, bei weitem nicht kompensiert. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Die Länder!) – Nein, Frau Dött, das ist nicht nur Sache der Länder. Das ist auch eine Frage der Förderung und der Gemeinnützigkeit. (Beifall der Abg. Caren Lay [DIE LINKE] und Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das ist auch klar, liebe Frau Dött. Wissen Sie, warum das anders nicht funktioniert? Private Bauherren haben natürlich in erster Linie die Rendite vor Augen. Das ist ja auch richtig; denn sie sichern das Unternehmen und damit die Arbeitsplätze. Aber damit kann man keinen sozialen Wohnraum erwirtschaften. Das ist die Wahrheit. (Beifall der Abg. Caren Lay [DIE LINKE] und Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bei dem Anliegen, sozialen Wohnraum zu schaffen – da gebe ich den Kollegen der Grünen vollkommen recht –, sind unsere vordringlichen Ansprechpartner die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und die Genossenschaften; denn die setzen zu 90 Prozent – die Zahl kann man nachlesen – den sozialen Wohnungsbau um. Leider hat unser – ich zähle mich dazu – bisheriges Bauförderprogramm dies nicht voll und ganz kompensiert. Die gemeinnützigen Baugesellschaften wollen, brauchen und dürfen keine Gewinnmaximierung ausweisen; sie wollen gute Wohnqualität zu bezahlbaren Mieten anbieten. Hier ist eine gezieltere Förderung unbedingt notwendig, zum Beispiel in Form konkreter Bauzuschüsse für einzelne Bereiche des sozialen Wohnungsbaus, damit auch diese Baugesellschaften – das muss man denen selbstverständlich zubilligen – eine schwarze Null bei Bauvorhaben ausweisen können, was anders nicht möglich ist. (Beifall bei der SPD) Nur so werden wir längerfristig – wir müssen ja auch darüber nachdenken, wie lange eine Sozialbindung erfolgen soll – mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen für Familien, Menschen mit geringem Einkommen, Schutzsuchende, Alleinerziehende, alte Menschen, Studenten usw. Wer nicht glaubt, wie angespannt die Lage auf dem Wohnungsmarkt ist – ich war viele Jahre Aufsichtsratsvorsitzender einer Genossenschaft –, den lade ich ein, mich zu einem Wohnungsbesichtigungstermin zu begleiten. Da stehen 50, 60 Menschen in einer Reihe, und die gehen dann frustriert weg, weil ja nur einer die Wohnung bekommen kann. Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Eines ist mir besonders wichtig – ich bitte die Opposition, genau zuzuhören –: Wir haben im Bereich „Soziale Stadt“ wirklich viel gemacht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Liebe Frau Lay, Sie haben das eben nicht genannt; aber es gehört zur Realität, dass die vorhergehende Bundesregierung hierfür 40 Millionen eingestellt hatte und wir das dauerhaft auf 150 Millionen erhöht haben. Das kommt den Quartieren und den Menschen, die in diesen Quartieren leben, zugute. Die Verhältnisse in den Stadtteilen der „Sozialen Stadt“, lieber Herr Nüßlein, sind eine Katastrophe. Ich habe über 20 Jahre an einer Schule in einem sozialen Brennpunkt gearbeitet. Wir müssen dort dringend ansetzen, damit Kinder und Jugendliche eine Perspektive bekommen. Das gelingt uns bisher nicht. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Pilger, Sie hatten versprochen, zum Schluss zu kommen. Detlev Pilger (SPD): Ich weiß, ich bin über der Zeit. Ich komme zum Schluss. – Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss unser gemeinsames Ziel sein: die Aufwertung von sozialen Brennpunkten. Damit ist verbunden, dass sich Lebensperspektiven für junge Leute entwickeln. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] und Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rede hat mir gut gefallen!) – Ich danke dir. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Als Nächstes spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Claudia Tausend. (Beifall bei der SPD) Claudia Tausend (SPD): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Gelegentlich hört man in Gesprächen, dass vonseiten des Bundes und der Länder schon alles getan wurde, um die Wohnungsbautätigkeit anzukurbeln, nur die Träger der Planungshoheit, nämlich die Kommunen, kämen nicht so recht in Gang mit einer vernünftigen Bodenpolitik und beschleunigten Baulandausweisungen, der Inanspruchnahme von Fördermitteln und dem zügigen und kostengünstigen Bauen insgesamt. Da trifft es sich gut, dass der Stadtrat der Landeshauptstadt München jetzt, im Oktober, seine Beratungen über die sechste Fortschreibung des kommunalpolitischen Handlungsprogramms für den Wohnungsbau aufnimmt. München hatte ja bereits 1994 erstmals das größte kommunalpolitische Handlungsprogramm für den Wohnungsbau der Republik aufgelegt. In den letzten fünf Jahren sind 800 Millionen städtische Euro in den Neubau von bezahlbarem Wohnraum geflossen. Jetzt steht, wie gesagt, die sechste Fortschreibung an. Ich lese Ihnen einfach einmal ein paar Kernaussagen vor, die für sich selber stehen und aussagekräftig genug sind: Das jährliche Neubauvolumen soll von 7 000 auf 8 500 Wohneinheiten gesteigert werden. Dafür werden im Fünfjahreszeitraum, von 2017 bis 2021, rein städtische Mittel in Höhe von 1,25 Milliarden Euro eingesetzt. Die beiden Wohnungsbaugesellschaften der Stadt erhalten 250 Millionen Euro zusätzliches Eigenkapital für den Bau von geförderten Wohneinheiten. – Es wurde mehrfach gesagt: Die Träger des sozialen Wohnungsbaus sind fast ausschließlich öffentliche Wohnungsbauunternehmen, kommunale Wohnungsbauunternehmen und Genossenschaften. Deswegen müssen sie auch zusätzlich unterstützt werden. (Beifall bei der SPD) Die Vergabe von Grundstücken erfolgt künftig schwerpunktmäßig für Mietwohnungen – München ist wie viele andere Großstädte, zum Beispiel Berlin, eine Mieterstadt – und vorzugsweise in Erbpacht, um schonend mit den städtischen Flächenressourcen umzugehen, und in Form von Konzeptausschreibungen, damit man sich die Wohnungen auch leisten kann. Die stadteigene Förderung – das Programm heißt „München Modell“ – für Durchschnittsverdiener wird ausgeweitet, sodass künftig Familien mit einem Jahresbruttoeinkommen von bis zu 94 000 Euro unterstützt werden können. Damit sollen 60 Prozent der Münchnerinnen und Münchner anspruchsberechtigt sein und von dieser kommunalen Förderung profitieren können; denn die Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau sind viel zu niedrig. (Beifall des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das zu den Kernaussagen. Kommen wir zu den neuesten Erhebungen des IVD dazu, was Eigentumswohnungen in Deutschland kosten: In München kostet eine Wohnung trotz aller Bemühungen des Bundes, des Freistaats und auch der Kommune 4 200 Euro pro Quadratmeter; das ist eine Zunahme um 7,7 Prozent. Stuttgart folgt dahinter mit 2 950 Euro pro Quadratmeter, was ein Plus von 11,3 Prozent bedeutet. Hamburg liegt mit 2 500 Euro pro Quadratmeter an dritter Stelle, was einem Plus von 8,7 Prozent entspricht. – Diese Zahlen zeigen uns, dass wir mit unseren Bemühungen nicht nachlassen dürfen. Die Herausforderungen sind enorm. (Beifall bei der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Bauen erleichtern!) Ich nenne nur noch einige Stichpunkte, die mir ein Anliegen sind: Ich denke, dass die Liegenschaftspolitik des Bundes neue Impulse braucht. Die aktuelle Verbilligungsrichtlinie ist ein Fortschritt, aber eben nur ein Anfang. (Beifall bei der SPD) Die Bezuschussung von 25 000 Euro pro Wohneinheit ist nicht ausreichend. Noch einmal ein Münchner Beispiel: Wir bezuschussen eine Wohnung für Durchschnittsverdiener im Rahmen des Programms „München Modell“ mit bis zu 110 000 Euro. Hier ist also auch für die BImA noch sehr viel Luft nach oben. Letzter Gedanke: Wir brauchen – das ist von der Kollegin Jörrißen angesprochen worden – eine zügige Novellierung des Baugesetzbuches und der Baunutzungsverordnung, um in innerstädtisch verdichteten Räumen Bauland mobilisieren zu können. Ich zitiere Frau Dr. Merk, unsere Stadtbaurätin: Es wird jeder Zentimeter umgedreht. Trotzdem: Die Flächenreserven sind begrenzt. Wir brauchen dringendst dieses urbane Gebiet wie vorgesehen. – Ich appelliere an alle Kräfte hier im Hause, zügig die Novellierung des Baugesetzbuches und der Baunutzungsverordnung auf den Weg zu bringen. Ich bedanke mich. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächstes hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Renate Künast das Wort. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe hier ganz viele tolle Reden gehört, in denen manches, wie ich finde, in den Himmel gelobt wurde. Herr Pronold hat aufgeführt, was ganz toll ist, einschließlich der neuen Maklerregel. Herr Pronold, ich kann Ihnen nur sagen: Am Ende zählt nicht, ob Sie hier und da eine nette Nuance gesetzt haben, sondern, ob sich auf dem Mietmarkt tatsächlich etwas verändert. Das haben Sie nicht belegen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie haben gesagt, wir müssten doch einmal seriös reden. Wir versuchen hier seit Jahren, seriös zu reden. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Aber erfolglos!) Herr Wegner von der CDU meinte, statt wohlfeiler Anträge müssten wir bauen, bauen und nochmals bauen. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Ja, das stimmt!) Ich kann nur sagen: Das hat in Berlin ja ganz toll funktioniert. Als Sie noch Regierungsverantwortung hatten, haben wir gesehen, wie das mit der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum für die Menschen geklappt hat. Sie haben gesagt, es werde einen Umbruch geben. Ich sage nur: Mietwohnungen, Mietwohnungen, Mietwohnungen! (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sagen Sie doch mal was zu Tempelhof!) – Weil Sie Tempelhof ansprechen: Das haben Sie von der CDU in gemeinsamer Täterschaft mit der SPD versemmelt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sagen Sie etwas zu Ihrer Haltung dazu!) Wer 5 000 Wohnungen am Tempelhofer Feld bauen will und dafür einen Gesetzentwurf vorlegt, der keine Sozialbindung, keine Vergabe an Baugenossenschaften und keine Vorgabe, bezahlbare Mieten zu schaffen, beinhaltet, darf sich nicht wundern, wenn die Bevölkerung sagt: Wir haben die Nase voll und stimmen mit Nein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es geht eben nicht nur um Bauen, Bauen, Bauen. Es geht auch darum: Was wird gebaut? Für wen wird gebaut? Wie ist der rechtliche Rahmen? In diesem Zusammenhang muss ich etwas zu Frau Jörrißen sagen. Sie haben angeführt, um das Symptom der überhitzten Märkte zu mildern, hätten Sie die Mietpreisbremse eingeführt. Wir wissen doch mittlerweile alle, dass sie gar nichts bremst. Es gibt eine Untersuchung dazu: Eine Bremswirkung ist nicht vorhanden, meine Damen und Herren. Die Mietpreisbremse hat mehr Löcher als Käse. Deshalb gibt es keine Wirkung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE]) Frau Jörrißen beklagte auch die fehlende steuerliche Förderung. Ich lüfte ein Geheimnis: Der Bundesfinanzminister heißt Schäuble. Reden Sie mit ihm! Vielleicht können Sie eine Bauprämie einführen. Die Menschen würden sich bedanken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In Richtung Justizministerium, das in unserem Antrag erwähnt wird, und auch in Richtung CDU und SPD muss ich sagen: Wir warten nicht nur auf die Reform des ersten Mietrechtsnovellierungsgesetzes, sondern auch auf die zweite Novelle, die als Vorlage schon vorhanden sein soll. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Künast, darf ich Sie einmal unterbrechen? – Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Michael Groß? Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Das dachte ich mir. Michael Groß (SPD): Danke, dass Sie meine Frage zulassen. Sie haben dann etwas mehr Redezeit, Kollegin Künast. – Sie beziehen sich auf die Mietpreissteigerung, die Sie, ähnlich wie wir, zum Teil so darstellen, als handele es sich um Wucher. Warum kommt in Ihrem Antrag nicht § 5 Wirtschaftsstrafgesetz vor, in dem es um Wucher geht und mit dem die Mietpreissteigerung eingedämmt werden könnte? Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke für die Frage, Herr Kollege. Wir haben uns in diesem Antrag sehr auf den Themenkomplex „Was wird gebaut? Wie wird gebaut? Und wie wird das unterstützt?“ konzentriert und behandeln nur einen kleinen Rechtsteil. Wir werden, wenn Sie keine Novelle vorlegen, einen weiteren Antrag mit einem größeren Rechtsteil hinterherschieben. Ich will Ihnen aber sagen: Diese Wuchervorschrift ist eine Generalklausel, die vielleicht am Ende das eine oder andere auffangen kann. Ich persönlich glaube aber – darin bin ich mir mit vielen meiner Fraktion einig –, dass die stärkeren Werkzeuge im Mietrecht andere wären. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) Damit bin ich bei der Frage: Wo ist die nächste Mietrechtsnovelle? Sie soll fertig sein. Aber es gibt anscheinend keinen Termin zur Vorlage. Auf Nachfragen gestern am Rande des Ausschusses habe ich gehört, dass die im BMJV vorliegende nächste Novelle bei der CDU auf die Reaktion trifft, in den nächsten vier Wochen habe man keine Zeit, das zu behandeln. Da muss ich schon in Richtung CDU sagen: Weniger Krokodilstränen und hin und wieder einmal Hausaufgaben machen, wäre eine gute Sache. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE] – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir arbeiten Tag und Nacht!) Ich werfe Ihnen vor, dass Sie viel reden und auf sozial tun, aber in Wahrheit eine Verzögerungspolitik betreiben. Wir müssen nicht nur bauen. Die Frage ist: Was bauen wir? (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir können nicht alle Ihre Wünsche erfüllen! Das ist das Problem!) Herr Grosse-Brömer, wir brauchen eine Mietpreisbremse nicht mit einer Rügepflicht, sondern mit einer Auskunftspflicht des Vermieters. Wir müssen die gesetzlichen Schlupflöcher von „möblierter Wohnung“ bis „umfassender Modernisierung“ schließen. Meine Damen und Herren, die Mieterinnen und Mieter haben übrigens langsam die Nase voll von Ihren Reden. Sie wollen endlich die Wohnungen, über die Sie immer reden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat Klaus Mindrup, SPD-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der SPD) Klaus Mindrup (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es in Deutschland in der Wohnungspolitik mit zwei großen Megatrends zu tun. Wir haben einen enormen Zuzug aus dem ländlichen Raum in die Großstädte, und wir haben einen enormen Zuzug aus dem Ausland. Das hängt mit unserer wirtschaftlichen Situation in Deutschland zusammen und hat nicht primär etwas mit den Flüchtlingen zu tun. Im Antrag der Grünen ist von 1 Million Sozialwohnungen im Neubau in den nächsten zehn Jahren die Rede. Diese Zahl halte ich vor dem Hintergrund dieser Megatrends durchaus für realistisch. Angesichts der Kosten eines Neubaus liegen wir bei den Mieten aber heute bei Mietpreisen von deutlich über 10 Euro ohne Subventionierung. In Berlin liegen die Bestandsmieten noch unter 5,90 Euro. Das heißt, die Sicherung von bezahlbarem Wohnbau im Bestand ist viel billiger als der Neubau von bezahlbarem Wohnraum und die entsprechende Subventionierung. (Beifall bei der SPD) Deswegen brauchen wir das Mietrechtspaket II, und ich bitte die Union, an dieser Stelle mitzugehen. Denn das ist für den sozialen Frieden in unserem Land unerlässlich. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Was die von den Grünen prognostizierten Neubauzahlen angeht, die ich für realistisch halte, reden wir über 140 Milliarden bis 200 Milliarden Euro, die in den nächsten zehn Jahren investiert werden müssen. Das sind 14 Milliarden bis 20 Milliarden Euro pro Jahr. Wir haben zwar die Förderung verdreifacht – im sozialen Wohnungsbau sind es 1,5 Milliarden Euro –, aber wir werden sie sicherlich weiter erhöhen müssen, wenn diese Trends anhalten. Sie hängen, wie gesagt, mit der wirtschaftlichen Situation zusammen. Wenn wir bei 20 Milliarden Euro pro Jahr ankommen, werden allein dafür 3,8 Milliarden Euro Umsatzsteuer bezahlt. Wenn sich der Bund, wie Frau Jörrißen gesagt hat, ab 2020 aus der Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau stehlen will, dann nimmt der Bund die Einnahmen aus der Umsatzsteuer, tut aber nichts dafür. Ich finde das nicht in Ordnung. Deswegen muss man das Grundgesetz ändern. Bezahlbarer Wohnraum ist eine Gemeinschaftsaufgabe. (Beifall bei der SPD – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit einführen!) Wir haben in der Vergangenheit schon einiges getan. Was kaum erwähnt worden ist, ist die Änderung der Politik der KfW. Im Wohnungsneubau sind die Zinsbindungsfristen von 10 auf 20 Jahre verlängert worden. Das heißt, wenn eine Genossenschaft neu baut, kann sie jetzt 20 Jahre sicher kalkulieren. Das hat dazu geführt, dass die Möckernkietz-Genossenschaft in Berlin 470 neue Wohnungen bauen kann. Das hat diese Bundesregierung ermöglicht. Das ist hier noch nie gewürdigt worden. Ich denke, man sollte das an dieser Stelle tun. (Beifall bei der SPD) Auch der Klimaschutz ist kräftig kritisiert worden. Wir wollen Klimaschutz richtig machen, Klimaschutz im Quartier betreiben und Strom und Wärme vor Ort erzeugen und speichern, Stichwort „Mieterstrom“. Das ist sozialverträglich, das schafft Arbeitsplätze, und das ist auch sinnvoll. Kommen wir zur Wohnungsgemeinnützigkeit, weil sie angesprochen wurde. Die Abschaffung war ein schwerer Fehler. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn man wie ich durch Wien geht – ich bin oft in Wien –, dann weiß man das. Aber das ist passiert, und wir als SPD waren dafür nicht verantwortlich. Jetzt geht es darum, gemeinsam mit der Wohnungswirtschaft neue Wege zu finden. Es ist zu Recht gesagt worden: Zurzeit will die Wohnungswirtschaft eine neue Gemeinnützigkeit nicht. Auch die meisten Genossenschaften – auch die städtischen – wollen das nicht. Deswegen sollten wir die vorgesehenen Anhörungen durchführen und das Ganze diskutieren, aber wir sollten den Beitrag der derzeitigen gemeinwohlorientierten Wohnungswirtschaft nicht zu gering schätzen. Die Genossenschaften in Berlin vermieten im Schnitt Wohnungen für dauerhaft 5,05 Euro, und die städtischen Wohnungsbaugesellschaften in Berlin sind jetzt verpflichtet worden, 55 Prozent ihrer Wohnungen als Sozialwohnungen anzugeben. 160 000 neue Sozialwohnungen sind damit in Berlin mit einem Gesetz geschaffen worden. Es geht also auch, ohne dass wir den ganz großen Wurf machen. Es sind kleine Schritte, die wir gehen müssen. Wir müssen sie aber für die soziale Akzeptanz in diesem Land gehen. Sonst wächst ein sozialer Sprengstoff heran, mit dem wir alle nicht klarkommen können. Danke schön. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist jetzt der Kollege Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Bernhard Daldrup (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Meiste ist gesagt worden, nur nicht von jedem, könnte man jetzt sagen. Deswegen erlauben Sie mir, dass ich jetzt keine Bilanz vortrage, sondern mich auf das beziehe, was Florian Pronold, Michael Groß und andere bereits vorgetragen haben. Ich glaube, dass in der Bilanz für Investoren, Mieter, Länder und übrigens auch für Kommunen im Bereich des Wohnungsbaus durchaus etwas getan worden ist. Lassen Sie mich zwei andere Aspekte ansprechen. Städte sind steingewordene Gesellschaftspolitik. Aus ihren Grundrissen, aus ihren Strukturen kann man Wertordnungen ablesen. Vielleicht hat Frau Göring-Eckardt so etwas Ähnliches gemeint, als sie ganz zu Anfang über Zentrum und Peripherie gesprochen hat. Das Zitat stammt von einem großen Oberbürgermeister und Städtebauminister, nämlich Hans-Jochen Vogel. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die Wohnungsbaupolitik nicht eine Frage des Geldes allein ist, sondern dass Wohnungsbaupolitik immer auch Teil einer integrierten Stadtentwicklungspolitik und einer regional abgestimmten Raumordnungs- und Regionalplanung sein muss. Das heißt mit anderen Worten, dass beispielsweise auch das Verhältnis von Suborganisierung und Quartiersentwicklung, dezentraler Konzentration und Revitalisierung von Innenstädten dazugehört. Detlev Pilger hat dankenswerterweise darauf hingewiesen, was im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ und der Städtebauförderung getan worden ist, dass es dabei auch um kleinere und mittlere Städte geht und dass es nicht nur ein Problem von Ballungsräumen und Unistädten ist, über das wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt reden. Wer also, bei allem Druck, den es in manchen Städten gibt, Wohnungen zu bauen, nicht auch gleichzeitig auf die Stabilisierung stagnierender oder schrumpfender Teilregionen achtet, verschärft gesellschaftliche Segregation durch Abwanderung. Darüber muss man sich im Klaren sein. (Beifall bei der SPD) Ein zweiter Aspekt, den ich ansprechen will, bezieht sich auf die Finanzen. Wir haben heute Morgen schon darüber gesprochen: Finanzielle Stabilität gehört auch zu Stadtentwicklungspolitik und zu kommunaler Wohnungsbaupolitik. Wir haben zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen ziemlich spannenden Aspekt, der nicht ganz ungefährlich ist, weil er eine sehr wichtige Einnahmequelle der Städte darstellt, nämlich die Grundsteuer. Das ist die dritthöchste Einnahmequelle der Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland; denn die Einnahmen daraus betragen ungefähr 13 Milliarden Euro. Es ist wichtig, dass diese Einnahmequelle für die Kommunen erhalten bleibt. Aber die Grundsteuer ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt aller Voraussicht nach verfassungswidrig. Sie ist es deswegen, weil extrem unterschiedliche Einheitswerte zugrunde gelegt werden. Dieses Extrem kann man in Berlin gut deutlich machen. Hier – in anderen Teilen des Landes auch – haben wir Einheitswerte auf der Basis von 1964 im Westen und von 1935 im Osten. Das führt dazu, dass für ein 1 500 Quadratmeter großes Grundstück eine Grundsteuer in Höhe von 8 300 Euro im Westen und von 4 800 Euro im Osten gezahlt werden muss. Das ist ein eindeutiger und klarer Verstoß gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes. Das muss geklärt werden. Mieter in neuen Gebäuden zahlen deutlich mehr als Eigentümer von Jugendstilvillen – so kann man das auch thematisieren. Deswegen ist die Modernisierung der Grundsteuer eine wirklich wichtige Frage gerechter Politik – gerechter Kommunalpolitik und übrigens auch gerechter Wohnungsbaupolitik. Deswegen hoffe ich sehr, dass Sie das unterstützen. (Beifall bei der SPD) Sie alle haben die Gelegenheit, an einem fundamentalen Reformprojekt teilzunehmen. Nach ungefähr 30 Jahren sind die Länder zielgerichtet dabei, sich auf einen Gesetzentwurf zu verständigen. Alle machen mit, aber Bayern natürlich nicht. Deswegen müssen wir uns darum kümmern, dass diese Reform auf den Weg gebracht wird, bevor die jetzige Regelung vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wird und damit eine wichtige Einnahmequelle der Kommunen entfällt. Darum lautet meine Bitte: Wenn Sie etwas für integrierte Stadtentwicklung und für Wohnungsbaupolitik jenseits der Frage, woher man eigentlich zusätzliches Geld bekommt, tun wollen, dann helfen Sie mit, dass diese Reform der Grundsteuer zielgerichtet durchgeführt wird. Das hilft den Menschen in den Städten und Gemeinden sowie den Kommunen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/10027 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen dann zu Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellungen Drucksache 18/9946 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Auch hierzu höre ich von Ihrer Seite keinen Widerspruch. Dann ist auch das beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange für die Bundesregierung. – Bitte schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für einen Menschen, der gestalkt wird, wird ein Alptraum Wirklichkeit. Diese Menschen werden von ihren Peinigern angerufen, bedroht, verfolgt, im Bekanntenkreis schlechtgemacht und bekommen Mails, die sie nie lesen wollten, und das immer und immer wieder. Dies hat für viele Opfer gravierende Folgen. Diese Menschen, die Opfer von Stalking werden, empfinden oft ständige Unruhe, entwickeln Ängste, Schlafstörungen oder gar Depressionen. Viel zu lange wurde das Leid dieser Menschen kaum ernst genommen. Im Jahr 2007 wurde mit der Einfügung des § 238 das beharrliche Nachstellen als Straftat gegen die persönliche Freiheit in das Strafgesetzbuch aufgenommen und damit ein deutliches Zeichen gesetzt: Der Staat steht diesen Menschen zur Seite. Das war und ist eine gute und richtige Entscheidung. Wir wollen heute diesen Weg fortsetzen. Heute beraten wir in erster Lesung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes, das diesen staatlichen Schutz weiter ausbaut und vor allen Dingen effektiver gestaltet. Nach geltendem Recht hängt die Frage, ob sich jemand der Nachstellung strafbar macht oder nicht, davon ab, ob er das Opfer schwerwiegend beeinträchtigt und es zwingt, seine Lebensumstände zu ändern. Entscheidend für die Strafbarkeit ist also nicht allein das Handeln des Täters, sondern maßgeblich auch, ob und wie das Opfer darauf reagiert. Stellen Sie sich vor: Der Täter stellt seiner Expartnerin, einer Mutter mit Kind, nach. Wenn die Mutter dem Druck standhält, ist das Verhalten des Täters nicht strafbar. Wenn die Mutter aber aufgrund des Drucks beispielsweise ihren Arbeitsplatz wechselt oder umzieht, ist das Verhalten des Täters strafbar. „Muss es aber erst so weit kommen?“, frage ich. Wollen wir das zum Beispiel einer alleinerziehenden Mutter wirklich zumuten? Können und dürfen wir davon ausgehen, dass sie einen neuen Job findet, in dem Familie und Beruf vereinbar sind? Wie verhält es sich mit dem Kind, das sich bei einem Umzug etwa auf eine neue Kita oder eine neue Schule umstellen muss? Wir jedenfalls sind der Auffassung: Das können wir dem Opfer und seiner Familie nicht abverlangen. Auch diejenigen verdienen den Schutz des Strafrechts, die sich nach außen hin vom Stalking unbeeindruckt geben. Auch diese Menschen leiden oft unter schweren psychischen Belastungen. Das eigene Leben in diesem Moment nicht zusätzlich grundlegend umstellen zu müssen, ist für diese Menschen dann besonders wichtig. Deshalb sage ich: Die Strafbarkeit davon abhängig zu machen, wie das Opfer auf das Stalking reagiert, schützt lediglich den Täter. Ob der Täter ein willensstarkes Opfer vor sich hat, das sein gewohntes Leben trotz der massiven Einwirkungen durch das Stalking tapfer fortzuführen versucht, oder ein Opfer, das dem Druck nachgibt, ändert nichts am strafrechtlichen Unwertgehalt seiner Tat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Strafbarkeit sollte daher von der Qualität der Handlung des Täters abhängen und nicht von der Tapferkeit des Opfers. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Es gibt keine überzeugende Begründung, warum das tapfere Opfer weniger Schutz verdienen sollte. Meine Damen und Herren, unser Gesetzentwurf verbessert den Schutz vor Nachstellungen für die betroffenen Menschen durch drei grundlegende Änderungen: Erstens – das ist die entscheidende Änderung – wird es künftig ausreichen, dass Stalking objektiv dazu geeignet ist, das Opfer in seiner Lebensgestaltung schwerwiegend zu beeinträchtigen. Es ist schlimm genug, wenn das Opfer wegen der Nachstellung in Erwägung zieht, aus seinem gewohnten Lebensumfeld wegzuziehen. Für die Strafbarkeit verlangen wir nicht mehr, dass es dies auch in die Tat umsetzt. Zweitens wollen wir, dass Opfer nicht mehr auf den Privatklageweg verwiesen werden können; denn die Verweisung auf den Privatklageweg hat zur Folge, dass die Opfer das Verfahren gegen den Stalker selbst betreiben müssen. Zudem trägt dabei das Opfer das Kostenrisiko, was zur Folge haben kann, dass die Opfer von der Möglichkeit der Privatklage aus reiner Angst vor weiteren Problemen letztlich keinen Gebrauch machen. Wir wollen daher das Stalking aus dem Katalog der Privatklagedelikte streichen. Über eine Anklage gegen einen Stalker zu entscheiden, wird in Zukunft wieder allein Sache der Staatsanwaltschaft sein. Damit entlasten wir die Opfer zusätzlich. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN) Drittens stärken wir den Opferschutz in Gewaltschutzverfahren vor den Familiengerichten; denn dieses Verfahren ist für viele Stalkingopfer und die Opfer häuslicher Gewalt ein wesentlich wichtigerer Weg, um staatlichen Schutz zu erlangen. Insbesondere wird die effektivere Durchsetzung von Vergleichen in Gewaltschutzverfahren neu geregelt. Derzeit ist nur der Verstoß gegen eine gerichtliche Gewaltschutzanordnung strafbewehrt, nicht aber der Verstoß gegen eine in einem gerichtlichen Vergleich übernommene Verpflichtung. Künftig soll es in Gewaltschutzverfahren den durch das Familiengericht bestätigten Vergleich geben. Der Verstoß gegen eine Verpflichtung aus einem solchen Vergleich soll zukünftig ebenfalls strafbewehrt sein und damit ein Gleichlauf zu einer gerichtlichen Gewaltschutzanordnung hergestellt werden. Wenn sich der Täter in einem Gewaltschutzverfahren per Vergleich etwa dazu verpflichtet, vom Opfer Abstand zu halten, und das Familiengericht diesen Vergleich bestätigt, dann soll künftig ein Verstoß des Täters gegen die übernommene Verpflichtung strafbar sein. Ergänzend dazu muss in Zukunft auch in den Fällen eines gerichtlich bestätigten Vergleichs eine Mitteilung an die zuständige Polizeibehörde oder andere öffentliche Stellen erfolgen. Meine Damen und Herren, jedes Jahr zeigen etwa 20 000 Menschen, die Opfer von Stalking geworden sind, diese Nachstellungen an. Mit diesem Gesetzentwurf können wir heute etwas dafür tun, dass der Albtraum Stalking für möglichst viele von ihnen möglichst schnell vorbei ist. Ich meine, das sind wir den Opfern schuldig. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Halina Wawzyniak, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über das Gesetz zum besseren Schutz vor Nachstellungen reden, dann eint uns etwas in diesem Haus. Wir sind uns alle einig: Stalking ist eine erhebliche Einschränkung der individuellen Freiheit und nicht zu tolerieren. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb ist Stalking seit 2007 strafbar. Wir sind uns auch fraktionsübergreifend einig, dass die Opfer von Stalking geschützt werden müssen. Die Umwandlung des Straftatbestandes des Stalking von einem Erfolgsdelikt zu einem Eignungs- oder potenziellen Gefährdungsdelikt betrachten wir aus grundsätzlich rechtsstaatlichen Erwägungen heraus allerdings kritisch. Grundsätzlich bringt es das geschützte Rechtsgut – das ist hier der individuelle Lebensbereich in Form der Handlungs- und Entschließungsfreiheit des Opfers – aus unserer Sicht mit sich, dass unter Beachtung des Ultima-Ratio-Prinzips des Strafrechts eine tatsächliche Beeinträchtigung dieser Handlungs- und Entschließungsfreiheit vorliegen muss, um eine Strafbarkeit zu begründen. Das kann aus unserer Sicht anders als durch die Umwandlung in ein potenzielles Gefährdungsdelikt herbeigeführt werden. Ich werde darauf noch hinweisen. Bevor ich aber zum rein strafrechtlichen Aspekt komme, lassen Sie mich noch etwas sagen. Wir brauchen auch in diesem Bereich dringend Aufklärung und Prävention. Dazu gehören eine Sensibilisierung von Gerichten, Staatsanwaltschaften und Polizeibeamten und auch eine gesellschaftliche Debatte zur Unzulässigkeit beharrlicher Nachstellungen sowie ein ausfinanziertes und zuverlässiges Beratungs- und Hilfsangebot. Hinzukommen muss eine unkomplizierte und für Betroffene möglichst kostenfreie Unterstützung durch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte im Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz und in eventuellen weiteren Rechtsauseinandersetzungen. Das Strafrecht allein löst keine Probleme. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der zentrale Punkt aus unserer Sicht muss sein, dass der Stalker oder die Stalkerin an weiteren Handlungen gehindert wird. Wir finden, dass dies mit dem Gewaltschutzgesetz im Grunde eine gute Möglichkeit ist. Ich will hier einmal kurz erklären, was es mit dem Gewaltschutzgesetz auf sich hat; denn das kommt mir etwas zu kurz. Nach dem Gewaltschutzgesetz kann ein Gericht gegenüber einer Person, die vorsätzlich den Körper, die Gesundheit und auch die Freiheit einer Person widerrechtlich verletzt, befristet anordnen, dass diese Person es unterlässt, die Wohnung der verletzten Person zu betreten, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung der verletzten Person aufzuhalten, bestimmte Orte aufzusuchen, an denen sich die verletzte Person regelmäßig aufhält, Verbindungen zur verletzten Person aufzunehmen, auch unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln, oder das Zusammentreffen mit der verletzten Person herbeizuführen. Diese Anordnungen sind möglich gegen den ausdrücklich erklärten Willen der Person, die jemand anderem nachstellt oder wiederholt nachstellt, und sie ist auch ausdrücklich möglich, wenn diese Nachstellung nur mit Fernkommunikationsmitteln stattfindet. Hinzu kommt: Wer sich an dieses Betretungs-, Näherungs-, Aufenthalts- und Kontaktverbot sowie an das Abstandsgebot im Gewaltschutzgesetz nicht hält, kann mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft werden, soweit die entsprechende Anordnung und später der Vergleich vollstreckbar sind. Diese Anordnungen werden auch an Polizeibehörden und andere öffentliche Stellen übermittelt. Wir sagen klar: Diese Regelungen im Gewaltschutzgesetz, konsequent angewendet, sind im Hinblick darauf, dass dem Opfer so etwas nicht wieder passiert, eine gute Lösung. (Beifall bei der LINKEN) Nun schlagen Sie vor, den Straftatbestand von einem Erfolgsdelikt in ein potenzielles Gefährdungsdelikt umzuwandeln. Was meint das eigentlich? Das muss man vielleicht noch einmal erklären. Bislang musste die Lebensgestaltung tatsächlich schwerwiegend beeinträchtigt sein, um zu einer Strafe zu kommen. Zukünftig soll es so sein, dass für die Verwirklichung des Straftatbestandes – ich zitiere aus dem Gesetzentwurf – ausreichend ist, „dass die Handlung des Täters objektiv dazu geeignet ist, beim Betroffenen eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung herbeizuführen“. Es kommt also nicht mehr darauf an, ob die Lebensgestaltung tatsächlich und konkret schwerwiegend beeinträchtigt ist, sondern ob dies objektiv der Fall sein kann. Jetzt wiederhole ich noch einmal: Vor dem Hintergrund des Ultima-Ratio-Prinzips des Strafrechts und der Existenz des Gewaltschutzgesetzes finden wir dies problematisch. Nun wird zur Begründung immer auf ein Urteil des BGH verwiesen. Ich finde, dieses Urteil wird häufig zu kurz dargestellt. Der BGH hat im Jahre 2009 – ich zitiere wieder – gesagt: Die Lebensgestaltung des Opfers wird schwerwiegend beeinträchtigt, wenn es zu einem Verhalten veranlasst wird, das es ohne das Zutun des Täters nicht gezeigt hätte und das zu gravierenden, ernst zu nehmenden Folgen führt, die über durchschnittliche, regelmäßig hinzunehmende Beeinträchtigungen der Lebensgestaltung erheblich und objektivierbar hinausgehen. Das ist der Leitsatz. Wenn man dann noch einmal genauer hinschaut, heißt es: Weitergehende Schutzvorkehrungen des Opfers, wie etwa das Verlassen der Wohnung nur noch in Begleitung Dritter, ein Wechsel des Arbeitsplatzes oder der Wohnung und das Verdunkeln der Fenster der Wohnung sind dagegen als schwerwiegend anzusehen. Es ist eben explizit nicht gesagt worden, dass nur der Arbeitsplatzwechsel oder der Wohnortwechsel eine schwerwiegende Beeinträchtigung sind, sondern es handelt sich um eine Aufzählung etwa auch anderer Gründe, und diese sind nicht abschließend. Nun teilen wir das ursprüngliche Anliegen des Gesetzgebers, dass nämlich eine strafwürdige Handlung dann vorliegen soll, „wenn das Verhalten des Täters einen so hohen Druck auf das Opfer erzeugt, dass ein objektivierbarer Anlass für eine Verhaltensänderung besteht“. Wir finden, das kann man mit einer kleinen Änderung im derzeit bestehenden Gesetzestext machen. Wenn nämlich das Argument ist, dass „schwerwiegend“ die große Hürde ist, dann streicht man einfach aus dem Gesetz das Wort „schwerwiegend“. Das ist so naheliegend, dass es mich wundert, dass Sie nicht selbst darauf gekommen sind. (Beifall bei der LINKEN) Wenn das Wort „schwerwiegend“ gestrichen wird, dann reicht eine Beeinträchtigung der Lebensweise. Eine solche Beeinträchtigung wäre beispielsweise gegeben, wenn man ein ärztliches Attest oder das Attest einer Beratungsstelle vorlegen kann. Uns scheint das ein besserer Weg zu sein als die Umwandlung. Es sollte also einfach das Wort „schwerwiegend“ gestrichen werden. Dann hätten wir die Beeinträchtigung der Lebensweise. Wir finden – das will ich hier auch einmal kurz erwähnen – es richtig, dass der Vergleich mit den Anordnungen gleichgestellt wird. Auch finden wir richtig, dass das Privatklagedelikt gestrichen wird. Insofern kann ich Sie einfach nur ermuntern: Ich glaube, wir liegen so weit gar nicht auseinander. Es gibt viele gute Sachen in diesem Gesetzentwurf. Die vorgeschlagene Umwandlung in ein Gefährdungsdelikt teilen wir ausdrücklich nicht. Vielleicht kann aber durch eine kleine Streichung im bestehenden Gesetzestext hier auch noch erreicht werden, dass wir zustimmen könnten. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker. (Beifall bei der CDU/CSU) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen und Zuhörer hier im Saal und zu Hause an den Fernsehern! Ich bin froh, dass wir jetzt endlich hier im parlamentarischen Rahmen die Debatte beginnen können; denn die Verschärfung bei der Strafbarkeit des Stalkings ist ein wichtiges Anliegen der Union, das wir auch schon im Koalitionsvertrag untergebracht haben. Schon damals haben wir festgehalten, dass es ein auffälliges Missverhältnis zwischen den vielen Anzeigen, die gestellt werden – es sind etwa 20 000 im Jahr –, und den Verurteilungen – das sind jährlich etwa 200 – gibt. Das zeigt zum einen, dass hier schon ein großes empfundenes Unrecht, eine Bedrohung im Raum steht. Auf der anderen Seite zeigt das aber auch, dass die gesetzliche Regelung, die wir jetzt haben, dem nicht gerecht wird. Das ist ein Indiz dafür, dass hier Handlungsbedarf besteht. Dessen nehmen wir uns jetzt auch an. Wir haben deshalb im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir im Interesse der Opfer die tatbestandlichen Hürden für eine Verurteilung senken wollen. Es hat dann aber noch ziemlich lange gedauert, bis wir diesen Entwurf vorgelegt bekommen haben. Es waren die unionsgeführten Ministerien der Länder Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen, die einen Gesetzentwurf im Bundesrat eingebracht haben. Auf ihrem Entwurf beruht im Wesentlichen auch der Entwurf der Bundesregierung, den wir heute debattieren. Wer auch zur Beschleunigung dieses Verfahrens beigetragen hat, ist Mary Scherpe, eine Autorin und Bloggerin aus Berlin. Sie ist selber Betroffene und hat eine Onlinepetition zur Änderung des Stalkingparagrafen angestoßen. Im Dezember 2014, also vor mittlerweile fast zwei Jahren, hat sie dem Bundesministerium der Justiz fast 90 000 Unterschriften übergeben. Damals hieß es: Ja, das machen wir. Es geht nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie. Das wollen wir beraten. – Es hat dann leider noch ein bisschen gedauert, bis wir jetzt endlich in die Beratungen einsteigen konnten. Aber es ist ja noch nicht zu spät, und wir werden die Sache jetzt auch beherzt angehen. Die allererste Priorität scheint das damals noch nicht gehabt zu haben. Worum geht es bei § 238 StGB? Die Regelung ist noch gar nicht so alt. 2007 wurde sie in das Gesetzbuch geschrieben, auch damals maßgeblich geprägt von der Union. Vor allem die Kollegin Ute Granold darf ich in diesem Zusammenhang hier noch einmal erwähnen, die das Ganze damals als ihr Herzensanliegen betrieben hat. Vorausgegangen waren Fälle, in denen zunächst ein beharrliches Nachstellen zu verzeichnen gewesen war und dann auch massive Übergriffe, Angriffe auf die Person, teilweise sogar mit tödlichem Ausgang, erfolgt sind. Ich weiß als frühere Familienrichterin, dass diese Angriffe und dieses Stalking oft aus dem privaten Umfeld erfolgen, von Exliebhabern, Expartnern oder eben auch denen, die von vornherein abgewiesen worden sind. Bis zur Einführung des § 238 StGB hatte man letztendlich keine Handhabe gegen dieses beharrliche Nachstellen, weil die Handlungen, um die es da im Einzelnen geht, für sich genommen jeweils erlaubt sind, relativ unproblematisch sind, als Belästigung abgetan werden können. Aber in Summe sind sie eine ganz massive Beeinträchtigung der Lebensqualität. Sie ängstigen, und im Extremfall münden sie ja auch in massive Gefahren für Leib und Leben des Opfers. Damals musste man die Frage beantworten: Warum muss eigentlich immer erst etwas passieren, bevor man gegen den Täter vorgehen kann? Solche Nachstellungen, um die es jetzt geht, sind nicht immer so dramatisch. Trotzdem: Auch unterhalb dieser Schwelle sind sie sehr lästig und nicht zu verharmlosen. Nicht untypisch ist, dass die Situation von den beiden beteiligten Personen völlig unterschiedlich wahrgenommen wird. Ich möchte das hier anhand eines Beispiels darlegen, das sicher für sich genommen ganz klar unterhalb der strafbewehrten Schwelle bleibt, das aber das Problem schön wiedergibt. Sie kennen wahrscheinlich das Lied – ich will es hier jetzt nicht singen; dafür bräuchte ich im Übrigen auch einen männlichen Kollegen, da es nämlich ein Wechselgesang ist – Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen, das eigentlich von einer positiven Grundstimmung getragen ist. Man kann sich so richtig in die Situation hineinversetzen: Ein Mann fährt mit seinem eigentlich schnellen Wagen auf der Autobahn und klemmt sich hinter die Ente, an deren Steuer ein junges Mädchen sitzt. Er schildert das in der Art eines Ohrwurms mit einer hörbaren Selbstgefälligkeit und macht sich Gedanken darüber, was denn dieses Mädchen da jetzt wohl zu tun hat. Am Ende wird sie dann schon sein Mädchen. Aus ihrem Blickwinkel hört sich das Ganze völlig anders an: Sie macht sich Gedanken darüber, was dieser blöde Kerl da hinter ihr will. Sie ist genervt, sie ist verunsichert, sie fühlt sich bedrängt, und sie nimmt das zum Anlass, von der Autobahn runterzufahren, obwohl sie dadurch zu spät kommt. Es handelt sich eigentlich um eine banale Situation, aber sie zeigt, wie das wirkt, über das wir heute hier debattieren. Es geht um das Recht, sich unbehelligt, unbehindert, unbefangen, frei und ohne Rechtfertigungsdruck und ohne aufgezwungenen Kontakt bewegen zu können, leben zu können, entscheiden zu können. Dieses Recht ist durch beharrliche Nachstellungen massiv beeinträchtigt. Aus der Perspektive des Täters geht es um das Bestreben, Kontrolle zu gewinnen, Macht über jemand anderes auszuüben, das Opfer zu belästigen, es zu verängstigen, sich selbst immer wieder in Erinnerung zu bringen, und das mit all den Möglichkeiten, die man im digitalen Zeitalter hat, also per Telefon, per SMS, über Facebook, über Pakete, die man nicht selber bestellt hat, per Brief oder ganz real, indem man dem Opfer schon morgens auf der gegenüberliegenden Straßenseite auflauert. Für das Tatopfer hat das über viele Jahre hinweg weitreichende psychische oder soziale Folgen: Misstrauen, Angst, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen. Das zeigt auch, dass es hier um eine Facette eines Themas geht, mit dem wir uns hier schon häufig beschäftigt haben. Es geht immer wieder um den Schutz des Opfers vor Verletzung seines Rechts auf Selbstbestimmung seines Privatlebens und seiner sexuellen Selbstbestimmung. Es geht um Freiheit, die Entfaltung der Persönlichkeit, den Schutz vor Übergriffen der unterschiedlichsten Art, angefangen bei dem Thema Kinderpornografie, wo es um sexuelle Übergriffe und voyeuristische Bloßstellung geht, Strafbarkeit des Menschenhandels, wo es um Einschränkungen der Freiheit geht, um sexuelle Selbstbestimmung. Den Vergewaltigungsparagrafen haben wir gerade unter dem Stichwort „Nein heißt nein“ reformiert. In all diesen Fällen geht es jetzt letztendlich darum, dass die Freiheit, Nein zu sagen, respektiert werden muss, auch im Fall des Stalking. Es wäre schön, wenn dies jetzt der Schlussstein im Ausbau dieses Schutzes wäre. Das ist er noch nicht. Es bleiben noch andere Dinge übrig, die zu tun wären. Ich nenne hier kurz, dass wir Verbesserungen beim Cyber Grooming wollen – das ist eine Handlung zur Vorbereitung von Übergriffen –, bei der Strafbarkeit bei Kinderpornografie, bei Zuhälterei und sexueller Ausbeutung. Blicken wir über das Strafrecht hinaus, dann gehört auch die Bekämpfung von Kinderehen in den weiten Kontext dieses Themas. Meine Vorredner haben schon vorgetragen, was sich ändert. Ich möchte noch einmal auf den Fall der Bloggerin Mary Scherpe zurückkommen. Sie wurde jahrelang gestalkt. Sie hat dann alle Unterlagen gesammelt – alle Mails, alle SMS und dergleichen – und ist mit diesen Belegen zur Staatsanwaltschaft gegangen. Es wurde damit abgetan, es seien nur Belästigungen. Sie fand dann den Knackpunkt heraus, nämlich dass es an ihr selber lag, sie war zu taff, zu stark und hat sich davon nicht beeinträchtigen lassen. Sie sagt selber: Ich war kein gutes Opfer. Das darf natürlich nicht stehen bleiben. Das wäre die völlig falsche Zielrichtung; denn es darf nicht das Opfer gezwungen werden, sein Verhalten zu ändern, sondern es geht darum, auf den Stalker einzuwirken und ihm klarzumachen, dass er sich strafbar und übergriffig verhält. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das ist der Grund, weshalb wir diese Änderung im Tatbestand vollziehen. Die Tat des Täters muss nur noch objektiv geeignet sein, das Leben des Opfers schwerwiegend zu beeinträchtigen. Es wurde schon angesprochen, dass wir das Delikt aus dem Katalog der Privatklagedelikte herausnehmen, um auch dort das Opfer zu stärken. Parallel dazu wollen wir im Zivilrecht das Gewaltschutzgesetz anpacken, um auch hier zu einer besseren Durchsetzbarkeit der Vereinbarungen zu kommen. Ich denke, dass wir hier auf einem sehr guten Weg sind, und freue mich auf die Beratungen im Detail. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen ist Katja Keul. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund meiner kürzeren Redezeit werde ich mich auf diesen Gesetzentwurf beschränken. Damit will die Bundesregierung den Schutz gegen Nachstellungen verbessern. Das ist ein lobenswertes Anliegen. Darin sind wir uns alle einig. Es hat sich gezeigt, dass es nach der geltenden Gesetzeslage für Opfer von Nachstellungen oft schwierig ist, wirkungsvollen gerichtlichen Schutz zu erlangen. Allerdings ist nicht jede Verschärfung von Strafrecht gleichzusetzen mit einem besseren Opferschutz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Hier gilt es, zu differenzieren. Ich will mit dem Positiven beginnen: die Änderung in § 4 des Gewaltschutzgesetzes. Bislang war nur die Zuwiderhandlung gegen gerichtliche Anordnungen strafbar. Die meisten Gewaltschutzverfahren werden allerdings in der Praxis durch Vergleich beendet. Verstößt dann der Antragsgegner gegen diesen Vergleich, war eine Strafverfolgung bislang nicht möglich. Das soll nun anders werden. Wenn der Vergleich gerichtlich bestätigt worden ist, wird der Verstoß dagegen künftig strafbar, und das ist auch richtig so. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch die Streichung des Auffangtatbestandes der Vornahme einer vergleichbaren Handlung ist zu begrüßen. So ein schwammiges Tatbestandsmerkmal hat im Strafrecht nichts zu suchen und ist mit dem Bestimmtheitsgrundsatz kaum zu vereinbaren. Die Streichung haben wir daher bereits 2006 gefordert. Kommen wir aber nun zum kritischen Punkt. Die Umgestaltung des Tatbestandes des § 238 StGB von einem Erfolgs- in ein abstraktes Gefährdungsdelikt halte ich nicht für geeignet, um einen besseren Schutz vor Nachstellungen zu bewirken. Bisher ist der Tatbestand des § 238 StGB nur erfüllt, wenn das Opfer durch die Nachstellungshandlungen in seiner Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt wird. Eine solche schwerwiegende Beeinträchtigung wird von der Rechtsprechung unter anderem dann angenommen, wenn das Opfer weitgehende Schutzvorkehrungen wie etwa den Wechsel des Arbeitsplatzes oder der Wohnung veranlasst. Nach dem neuen Gesetzentwurf soll es künftig ausreichen, wenn das Täterverhalten potenziell dazu geeignet ist, eine gravierende Beeinträchtigung herbeizuführen. Ein tatsächlicher Erfolg soll nicht mehr notwendig sein. Damit wird der Anwendungsbereich des Stalkingparagrafen bedenklich weit gefasst und die Strafbarkeit erheblich vorverlagert. Das wirft im konkreten Fall mehr Fragen auf, als es Probleme löst. Soll die Eignung nur dann nachweisbar sein, wenn das Opfer über konkrete Reaktionen nachgedacht hat, und ist der Umstand, dass das Opfer die Reaktion verworfen hat, ein Indiz dafür, dass die Beeinträchtigung ungeeignet war? Die Bandbreite möglicher Reaktionen des Opfers auf eine Nachstellung ist vielfältig und nicht wissenschaftlich bestimmbar. Psychische Belastungen sind in jedem Fall individuell unterschiedlich. Jegliche Verobjektivierung der Geeignetheit als Tatbestandsmerkmal ist daher schwierig. Deshalb würde die Geeignetheit einer Handlung voraussichtlich weiterhin anhand derselben Anforderungen gemessen wie bisher. Das Opfer müsste dann eine nach außen wahrnehmbare Reaktion in irgendeiner Weise gezeigt haben. Die Probleme bleiben dieselben. Auch der Nachweis des Tatvorsatzes ist schwierig. Die Eignung zur Beeinträchtigung der Lebensgestaltung müsste vom Vorsatz des Täters umfasst sein. Die weite Fassung des Tatbestandes kann außerdem Verhaltensweisen erfassen, die gar nicht erfasst werden sollen. Beispielsweise könnten Journalisten, die sich zu Recherchezwecken in die Nähe von anderen Personen begeben, in die Gefahr geraten, wegen Nachstellung angezeigt zu werden. Dabei ist die Umgestaltung des Tatbestandes des § 238 StGB zum Eignungsdelikt keineswegs alternativlos. Schwerwiegende Beeinträchtigungen können nämlich auch erhebliche psychische Belastungen sein, die sich nicht äußerlich niedergeschlagen haben. Die Rechtsprechung hat dies allerdings dem bisherigen Wortlaut des Paragrafen bislang nicht entnehmen wollen. Warum setzen Sie also nicht beispielsweise beim Merkmal der schwerwiegenden Beeinträchtigung an und stellen ausdrücklich klar, dass psychische Belastungen dazugehören? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Im Gegensatz zur Eignung können psychische Belastungen eher, zum Beispiel durch psychologische Gutachten oder Krankschreibungen, belegt werden. Nachweisprobleme würden so vermindert werden. Auch innerhalb des Gewaltschutzgesetzes sind weitere Änderungen möglich. Der § 1 könnte erweitert werden, um weitere Erscheinungsformen des Stalkings zu erfassen. Denn das Gewaltschutzgesetz kann oft flexiblere, effektivere und schnellere Abhilfe schaffen als ein Strafverfahren. Nicht geeignet ist hingegen die Umwandlung des Tatbestandes des § 238 StGB in ein Eignungsdelikt. Von diesem rechtsstaatlich problematischen Vorhaben sollten Sie Abstand nehmen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Dirk Wiese das Wort. (Beifall bei der SPD) Dirk Wiese (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Einführung des Stalkingparagrafen unter der sozialdemokratischen Justizministerin Brigitte Zypries im Jahr 2006 war aus meiner Sicht ein bedeutender Schritt für den Opferschutz und ein wichtiges Signal des Gesetzgebers. Denn – Sie gestatten mir, dass ich aus der damaligen Debatte zitiere –: Stalking ist keine Privatsache, keine Sache von verschmähten Liebhabern, sondern strafwürdiges Unrecht. Dieser Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat leider an Aktualität nichts verloren. Über die vergangenen Jahre haben sich in der Praxis Anwendungsdefizite gezeigt, die nun eine Nachbesserung erforderlich machen. Denn auch bei Gesetzen, die bei der Verabschiedung richtig waren, muss man nach einem gewissen Zeitablauf und einer gewissen Beobachtung manchmal nachjustieren. Wie wichtig dieser Schritt ist, den wir hier heute angehen, belegt übrigens auch ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik: 2014 wurden bundesweit noch rund 21 000 Fälle erfasst, 2015 waren es nur 19 000. Allerdings geben Experten, die in den Beratungsstellen tätig sind, für den gleichen Zeitraum an, dass sie mit immer mehr Fällen zu tun bekommen. Wir sehen also, dass trotz steigender Fallzahlen immer weniger Fälle zur Anzeige gebracht werden. Einer der Gründe liegt leider auf der Hand: Die Opfer gehen nicht mehr zur Polizei; denn sie haben das Gefühl, dass das nichts bringt und ihnen dort nicht geholfen werden kann. Wenn Bürgerinnen und Bürger Straftaten erst gar nicht zur Anzeige bringen, weil sie kein Vertrauen in die Bestrafung der Täter haben, dann muss das für uns alle ein Weckruf sein, der deutlicher nicht sein kann. (Beifall bei der SPD) Deshalb haben wir von der SPD dafür Sorge getragen, dass die Verbesserung des Schutzes vor Stalking, Nachstellung, in dieser Wahlperiode angegangen wird. Ich danke Herrn Bundesjustizminister Heiko Maas und Herrn Staatssekretär Christian Lange für die Vorlage des Gesetzentwurfs. Frau Winkelmeier-Becker, Sie haben gerade in einem Nebensatz erwähnt, dass es etwas gedauert hat, bis der Gesetzentwurf vorlag. Leider wurden unter Schwarz-Gelb keine Verbesserungen in Angriff genommen. Es zeigt sich an dieser Stelle: Es bedarf eines sozialdemokratischen Justizministers, damit dieses Problem wieder angegangen wird. (Beifall bei der SPD) Ich gebe auch zu bedenken – da möchte ich meiner Kollegin Wawzyniak recht geben –, dass es mehr bedarf. Es bedarf einer Sensibilisierung der Gesellschaft im präventiven Bereich. Aber so wichtig der präventive Bereich auch ist: Wir müssen im Strafrecht Tatbestände reaktiv erfassen. Darum ist es richtig, dass es den § 238 im Strafgesetzbuch gibt und dass wir ihn an dieser Stelle noch einmal anpassen. Lassen Sie mich auf zwei Kernpunkte eingehen, die aus meiner Sicht die Verurteilung von Stalkern bisher erschwert haben. Erstens – Staatssekretär Lange hat es angesprochen –: Die Strafbarkeit von Stalking war bisher als Erfolgsdelikt ausgestaltet. Nehmen wir folgendes Beispiel: Ein Stalker, der jahrelang seine Exfreundin verfolgt, ihr womöglich ständig auflauert, ihr Umfeld kontaktiert und sie mit Geschenken und Bestellungen bombardiert, kurzum: ihr gesamtes privates Leben, ihren Alltag zur Hölle macht, konnte nicht verurteilt werden, wenn das Opfer standhaft blieb, nicht dem enormen Druck nachgegeben hat, nicht wegzog oder möglicherweise nicht den Arbeitsplatz gewechselt hat. Solche Konstellationen sind keine Seltenheit. In meinem Wahlkreis im Sauerland gibt es einen Fall, wo ein Pfarrer seit 15 Jahren gestalkt wird, aber die Bestrafung der Stalkerin mangels schwerwiegender Beeinträchtigungen bis zum heutigen Tage nicht möglich gewesen ist. Das kann aus meiner Sicht nicht sein. Darum ist es richtig, dass wir hier nachjustieren. Die Ausgestaltung als Eignungsdelikt ist daher ein richtiger Weg, um Opfer besser zu schützen. Es ist gut, dass wir das an dieser Stelle auf den Weg bringen. Der zweite wichtige Punkt ist, dass der Straftatbestand der Nachstellung aus dem Katalog der Privatklagedelikte gestrichen wird. Wir haben heute fraktionsübergreifend Zustimmung dazu vernommen. Ich denke, es ist wichtig, dass wir die entsprechenden Regelungen auf den Weg bringen. Abschließend möchte ich sagen: Ich halte den vorliegenden Gesetzentwurf für wichtig, um Stalkingopfer besser zu schützen und eine Verurteilung der Täter zu erleichtern. Ich bin gespannt auf die Fachanhörung. Falls es an der einen oder anderen Stelle notwendig ist – der ein oder andere Kollege hat darauf hingewiesen, Frau Wawzyniak auch –, dann kann durchaus das Struck’sche Gesetz noch zur Anwendung kommen; denn wir wollen die Opfer wirklich schützen. Das soll mit diesem Gesetzentwurf auf den Weg gebracht werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat Ulle Schauws, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ständiges Auflauern, Telefonterror, permanente E-Mails – wie in einem schlechten Film, und der will nicht enden: Die Fantasie von Stalkern und Stalkerinnen ist nahezu unbegrenzt, um ihren Opfern oft jahrelang nachzustellen. Rund 20 000 Anzeigen gab es laut Kriminalstatistik aus dem Jahr 2015, die Dunkelziffer liegt viel höher. Die meisten Opfer von Stalking sind in ihrer Lebensführung stark eingeschränkt und nicht selbstbestimmt. Ihr Alltag wird dominiert vom Gefühl der Bedrohung und der Angst. Viele erleiden schwerwiegende körperliche und seelische Schäden. Traumatisierungen sind oft die Folge. Insoweit war es gut, dass der sogenannte Nachstellungsparagraf, § 238, 2007 endlich in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurde. Aber für die meisten Stalkingopfer blieb dieser Paragraf bis heute eine Enttäuschung. Die Verurteilungsrate lag nach der Kriminalstatistik von 2014 nur bei etwa 20 Prozent. Das ist alarmierend. So geht es nicht weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die meisten Täter kommen davon, weil die rechtlichen Hürden für eine Verurteilung zu hoch sind, eben weil die Opfer eine schwerwiegende Beeinträchtigung ihrer Lebensgestaltung nachweisen müssen, und das kann nicht sein. Den Opfern darf nicht länger zugemutet werden, letztlich ihr ganzes Leben umkrempeln zu müssen, bevor Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das widerspricht auch dem Opferschutz. Insofern begrüße ich grundsätzlich den Vorstoß aus dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Das war überfällig. Es muss alles getan werden, damit Opfer von Stalking wieder selbstbestimmt leben können. Ihr Gesetzentwurf enthält durchaus Verbesserungen, zum Beispiel die Umwandlung des Privatklagedelikts in ein Antragsdelikt. Doch insgesamt greift er noch zu kurz, um tatsächlich und konsequent helfen zu können. Meine Kollegin Katja Keul hat das eben bereits ausführlich dargestellt. Wir schlagen deshalb Ergänzungen und eine Erweiterung im Gewaltschutzgesetz vor. Es muss umfassender Schutz ermöglicht werden. Darum muss es gehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist eine Tatsache, dass Frauen sehr viel häufiger von Stalking betroffen sind. 80 Prozent der Opfer sind weiblich, 86 Prozent der Täter sind männlich. Meist trifft es Frauen, die sich von ihren Partnern getrennt haben. Dass Expartner die Trennung nicht akzeptieren können und versuchen, weiter Kontrolle über die Frau auszuüben, macht deutlich: Es geht um das Thema Macht und Besitztum. Bei Stalking handelt es sich auch um eine geschlechtsspezifische Problematik. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein besserer Rechtsschutz für Opfer ist unabdingbar. Darüber hinaus bedarf es eines funktionierenden Hilfenetzes. Es müssen weitere Fachberatungsstellen auf- und ausgebaut werden, in denen Betroffene Unterstützung und Hilfe im Umgang mit Stalking erhalten können, ebenso Beratung und Hilfe bei rechtlichen Schritten. Auch die wichtigen Schulungen von Justiz und Polizei sollten weiter intensiviert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nur mit effektivem Rechtsschutz und guten Beratungsstrukturen kann ein wirksamer Opferschutz erreicht werden. Dafür müssen Sie alles tun. Dafür müssen wir alle gemeinsam auch die gesellschaftliche Sensibilisierung voranbringen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Dr. Volker Ullrich. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über viele Zehntausende Menschen in diesem Land, die albtraumhafte Begebenheiten erleiden müssen. Wir reden über den alltäglich bangen Blick aufs Mobiltelefon, über den verängstigten Blick über die Schulter, über die Angst, ans Telefon zu gehen, weil er doch wieder anrufen könnte, derjenige, der einer Person nachstellt, der ihr das Leben zur Hölle macht. Wir sprechen über Zehntausende Fälle, über Zehntausende Menschen, die sich in ihrer eigenen Haut nicht mehr wohlfühlen, die sich kaum aus dem Haus trauen oder Schwierigkeiten haben, soziale Kontakte zu pflegen, weil ein anderer nicht akzeptiert, wie dieser Mensch leben will oder welche Entscheidung er getroffen hat. Das allein ist es aber noch nicht. Die Nachstellungen tragen ein Eskalationspotenzial in sich. Das kann sogar so weit gehen, dass es zu ganz schweren Rechtsverletzungen kommt, zu tatsächlichen Körperverletzungen, ja sogar von Todesfällen ist auch in jüngster Zeit die Rede gewesen. Deswegen ist der Schutz vor Nachstellungen ein wichtiges strafrechtliches Anliegen. Er liegt im Kernbereich dessen, wozu Strafrecht gemacht ist: den Schutz der Opfer sicherzustellen. Wir haben hier erst eine sehr kurze, aber, wie ich meine, doch bemerkenswerte rechtspolitische Geschichte vorzuweisen. Bis vor zehn Jahren kannte das Strafrecht gar keinen Schutz vor Nachstellungen, sondern es mussten zusätzlich Straftatbestände verwirklicht werden: Hausfriedensbruch, sexuelle Nötigung, Beleidigung, schwere Körperverletzung. Es war auch eine Große Koalition, die im Jahr 2006 den § 238 StGB normiert hat. Heute ist es Zeit – das ist auch unsere Pflicht –, Bilanz zu ziehen. Wir haben nach zehn Jahren § 238 StGB festzustellen, dass er ein guter erster Schritt war, um vor Nachstellungen zu schützen. Aber er ist in seiner derzeitigen Form noch nicht ausreichend. Deswegen werden wir nachlegen und ein gutes Gesetz noch besser machen. Die Fallzahlen sprechen dafür, dass wir diesen Paragrafen ändern müssen. Wenn von etwa 20 000 Anzeigen im Jahr nur etwa 1 bis 2 Prozent zur Verurteilung kommen und man auch noch einpreisen muss, dass viele Menschen aus Angst und Scham gar nicht erst Anzeige erstatten, dann zeigt das, dass dieser Paragraf in seiner Konstruktion gut gemeint war, aber nicht in jeder Form auch hundertprozentig gut gemacht. Deshalb haben wir auch den Mut, zu sagen: Wir verbessern diesen Paragrafen. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist den Menschen schwer zu vermitteln, dass derjenige, der Opfer einer Straftat wird, sein Verhalten erst ändern muss und damit genau den Erfolg eigentlich herbeiführen muss, den sich der Täter von seinem Opfer wünscht. Für uns ist klar: Nicht das Opfer muss sein Verhalten ändern, sondern der Täter muss seiner Rechenschaft zugeführt werden. Das ist der Kern eines verantwortungsvollen Strafrechts. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Deswegen, denke ich, ist es richtig, zu sagen, dass die Deliktform, die sich jetzt von einem Erfolgs- zu einem Eignungsdelikt ändert, die richtige Form ist, weil auch bei einem Eignungsdelikt natürlich schon eine Rechtsverletzung vorliegt. Sie liegt bereits darin, dass der Täter eine Handlung vollzieht, die geeignet ist, eine schwerwiegende Folge herbeizuführen, dass er ein Verhalten an den Tag legt, welches typischerweise zu schweren psychischen Belastungen führt: zu den eben von mir beschriebenen Angstzuständen, zu dem Umstand, dass sich jemand nicht mehr traut, auf die Straße zu gehen, und zu vielen Hunderten oder Tausenden Anrufen. Allein dieser Umstand hat doch bereits einen Unrechtsgehalt an sich. Deswegen ist es richtig, dass dieser Paragraf zukünftig ein Eignungsdelikt ist; denn durch den Charakter des Eignungsdeliktes kann er den Opferschutz viel stärker verwirklichen. Vor diesem Hintergrund ist es ebenso richtig, dass wir dem Privatklageweg im Bereich von Nachstellungen ein Ende bereiten. Es war vielleicht gut gedacht, dass jeder, wenn die Schwelle noch nicht vorhanden war, dass der Staatsanwalt tätig wird, sein Recht selbst in die Hand nehmen sollte. Aber gerade im Fall von Nachstellungen haben wir die Konstellation, dass das Opfer seinem Peiniger, demjenigen, der nachstellt, gerade nicht begegnen möchte. Wenn Sie das Opfer nun auf den Privatklageweg verweisen, ist es ja gerade in der Situation, dass es seinem Täter vor Gericht begegnen muss, dass es selbst einen Prozess gegen den Täter anstrengen muss, wodurch es vor Gericht möglicherweise sogar zu einer Konfrontationssituation Täter/Opfer kommt – was der Täter vielleicht sogar herbeiführen möchte. Deswegen war der Privatklageweg aus Gründen eines objektiven Opferschutzes der falsche, und daher ist es richtig, wenn wir ihn streichen und sagen: Stalking, Nachstellungen, ist ein schwerwiegendes Delikt, das in die Lebenssphäre eingreift. Hier müssen die Staatsanwaltschaften selbst tätig werden. Sie müssen es unterbinden, und der Rechtsstaat muss hierbei zur Geltung kommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, die Botschaft der heutigen Debatte muss auch sein, dass die Opfer von Nachstellungen nicht allein sind, weil ihnen dieser Rechtsstaat zukünftig noch mehr Schutz gewährleistet. Aber sie sind auch nicht allein, weil durch diese Debatte die Botschaft ausgesendet wird, dass wir eine Sensibilisierung für die Opfer brauchen, dass sie nicht alleingelassen werden, dass Menschen, die Opfer von Nachstellungen werden, auch Verständnis in ihrem Freundes- und Verwandtenkreis bekommen, dass auch die Kollegen am Arbeitsplatz, die mitbekommen, dass eine Kollegin oder ein Kollege gestalkt, dass sie oder er Opfer von Nachstellungen wird, ihr bzw. ihm schützend zur Seite stehen, dass diese Gesellschaft insgesamt nicht akzeptiert, wenn Menschen Opfer von Nachstellung, von Bestellungen, von Anrufen, von SMS werden, dass jeder die Verpflichtung wahrnimmt, Menschen zu schützen und zu einem gedeihlichen und guten Miteinander beizutragen. In diesem Sinne freue ich mich auf gute Beratungen. Ich hoffe, dass wir aus einem guten Gesetzentwurf ein Gesetz machen, welches die Opfer schützt und damit stärker dazu beiträgt, dass viele Menschen weniger stark mit Angst konfrontiert sein müssen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Fritz Felgentreu das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Frau wird verfolgt. In diesem Fall erleidet sie Stalking durch eine andere Frau. Die Täterin bedient sich einer breiten Palette von Belästigungen: beleidigende Anrufe und SMS, Anspucken auf der Straße, Verfolgung bis vor die eigene Haustür, Belagerung der Wohnung. Die Betroffene muss sich in psychiatrische Behandlung begeben. Sie kann nicht mehr schlafen. Sie lässt die Rollläden herunter. Sie geht nur noch vor die Tür, wenn es nicht anders geht. Schließlich lässt sie sich vom Weißen Ring beraten und entscheidet sich, das Stalking zu ignorieren. Diese Strategie ist irgendwann erfolgreich. Nach ein paar Monaten lässt die Täterin von ihr ab. Dies ist ein Fall aus der Praxis, berichtet im Februar dieses Jahres in der Zeit. Lieber Kollege Ullrich, die Geschichte dieser Frau ist ein Beispiel dafür, warum wir den Stalkingparagrafen im Strafgesetzbuch ändern wollen, und zwar nicht nur aus der Sicht der Rechtspolitik, sondern auch aus der Sicht der Familien- und Frauenpolitik. Ich spreche hier heute als Mitglied des Familienausschusses. Uns geht es natürlich besonders darum, häuslicher Gewalt und der Gewalt gegen Frauen vorzubeugen. Prävention ist aus diesem Blickwinkel fast noch wichtiger als Strafverfolgung. Strafverfolgung muss immer auch der Prävention dienen. Deshalb war es ein dringend gebotenes und ein richtiges Signal, das der Bundestag 2007 Tätern wie Opfern gegeben hat. Damals wurde ganz klar: Stalking ist Unrecht. Stalking ist Gewalt. Der Rechtsstaat stellt Stalking unter Strafe. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass die präventive Wirkung von Strafgesetzen begrenzt ist, gerade auch in Stalkingfällen. Denn Stalker haben nur selten ein Unrechtsbewusstsein. Im Gegenteil: Meistens fühlen sie sich von der Person ungerecht behandelt, der sie nachstellen. Dennoch hat die gesellschaftliche und strafrechtliche Ächtung der Tat einen hohen Wert. Sie wirkt langfristig. Denn wenn wir in allen Köpfen verankert haben, dass Stalking Unrecht ist, dann wächst allmählich auch die Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Stalking ist auch immer ein Kontrollverlust des Täters. Wer merkt, dass er dabei ist, zum Stalker zu werden, der kann im selben Moment damit aufhören. Tut er es dennoch nicht, dann entscheidet er sich bewusst dafür, ein Verbrechen zu begehen. Um aber das Unrecht zu bestrafen, das der Frau angetan wurde, von der ich eben erzählt habe, ist der Stalkingparagraf in seiner jetzigen Form nicht geeignet; denn sie hat sich letztlich durchgesetzt. Mit einer großen Kraftanstrengung hat sie die Nerven behalten und ihr Leben weitergelebt. Unser Recht bestraft aber bisher, wie wir gehört haben, nicht die Tat, sondern deren Auswirkungen. Nur wenn das Opfer sein Leben nicht so weiterleben kann wie bisher, dann muss der Täter mit Strafe und sogar mit Gefängnisstrafe rechnen. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wenn ein Fall wie dieser angezeigt wird, dann wird das Ermittlungsverfahren wahrscheinlich eingestellt mit dem völlig inakzeptablen Ergebnis, dass der Täter oder hier die Täterin sich auch noch bestätigt fühlen kann. Denn nach geltendem Recht hat sie scheinbar nichts Verbotenes getan. Die SPD-Fraktion begrüßt deshalb die vorgeschlagene Neufassung. Auch die Geeignetheit zur Bestrafung finden wir richtig. Diese juristische Formulierung bedeutet aus unserer Sicht: Die Tat soll bestraft werden und nicht ihre Wirkung. (Beifall bei der SPD) Wir schärfen damit auch das Bewusstsein dafür, dass Stalking Unrecht ist. Dieses Bewusstsein ist der bestmögliche Schutz für die meistens weiblichen potenziellen Opfer eines Delikts mit hoher Dunkelziffer. Die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ist eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft. Die geplanten Gesetzesänderungen werden dafür sorgen, dass das Strafrecht in Zukunft in einem Punkt wirkungsvoller zum Schutz gegen Gewalt beitragen kann. Das finden wir gut, das finden wir richtig. Wir freuen uns auf die Debatte, die vor uns liegt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und begrüße Sie von meiner Seite. Erlauben Sie mir bitte, die Elisabethschule aus Aichach recht herzlich zu begrüßen. Das ist bei uns ums Eck; manche werden es wissen. (Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Ja!) – Kollege Ullrich weiß das. Nächste und letzte Rednerin in dieser Debatte ist Frau Iris Ripsam für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Iris Ripsam (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe kennt keine Grenzen – das klingt romantisch. Wenn aber aus Liebe grenzenlose Belästigung wird, dann, meine Damen und Herren, hat das mit Liebe nichts mehr zu tun. Bei dem strafrechtlich relevanten Nachstellen, dem sogenannten Stalking, sind Täter und Opfer sehr häufig, aber nicht ausschließlich ehemalige Beziehungspartner. Nach einer Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim werden fast 12 Prozent aller Menschen in Deutschland im Laufe ihres Lebens mindestens einmal gestalkt. Wir sprechen hier also nicht von einer verschwindend geringen Minderheit. Meine Damen und Herren, wenn von der Liebe nichts mehr bleibt als Angst, dann müssen wir den Opfern zur Seite stehen. (Beifall des Abg. Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]) Das bedeutet aber auch, dass wir die Opfer von Nachstellungen ausreichend schützen müssen, also mit den Mitteln des Strafrechts. Seit neun Jahren ist Stalking ein Straftatbestand. Dennoch kommt es auffallend selten zu einer Verurteilung. Was sind die Gründe dafür? Das Nachstellen ist nach geltender Rechtslage ein Erfolgsdelikt. Dies bedeutet, dass Stalking erst dann strafbar ist, wenn das Opfer dem Druck des Täters nachgibt und beispielsweise aus Furcht vor diesem den Wohnort oder den Arbeitgeber wechselt; erst dann kann es zu einer Verurteilung kommen. Dabei muss dem Täter nicht nur eine Belästigung über einen längeren Zeitraum nachgewiesen werden. Vielmehr muss auch bewiesen werden, dass die Nachstellung zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Lebensumstände geführt hat. In einem jüngst bekannt gewordenen Fall hatte eine Münchnerin den Täter mehrfach angezeigt und war aus Furcht mehrmals umgezogen. Dennoch wurde sie zwei Tage vor Prozessbeginn von besagtem Täter mit einem 25 Zentimeter langen Messer erstochen. Meine Damen und Herren, dieser Fall ist nicht nur einer von vielen, in denen jede Hilfe für die Opfer zu spät kommt. Der Fall weist gravierende Lücken des geltenden Straftatbestandes des § 238 des Strafgesetzbuches beim Opferschutz auf. Das Opfer hat alles getan, um den Nachstellungen des Täters zu entkommen. Mehr konnte es nicht tun. Dennoch wurde es vom Täter erstochen. Der Opferschutz war somit zu Recht ein großes Thema der Union und des Koalitionsvertrages, dessen Auftrag wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf umsetzen. Beim Stalking stehen vielen Strafanzeigen auffällig wenige Verurteilungen gegenüber. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist alles andere als ein Aushängeschild für unseren Rechtsstaat. Daher war und ist es ein großes Anliegen der Union, die strafrechtlichen Hürden für eine Verurteilung zu senken. (Beifall bei der CDU/CSU) Die vorgesehene Änderung der Rechtslage ist im Interesse der Opfer notwendig. Künftig soll nicht mehr das Opfer seine Lebensumstände ändern müssen, sondern der Täter. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Bestrafung muss möglich sein, ohne dass das Opfer sich selbst helfen muss, beispielsweise durch einen Umzug. Die gegenwärtige Regelung benachteiligt vor allen Dingen Opfer, die sich etwa einen Umzug aus finanziellen Gründen nicht leisten können. Häufig betrifft dies alleinerziehende Mütter. Für die Strafbarkeit muss es daher ausreichen, dass aus einem verfolgenden und belästigenden Nachstellen eine Gefahr für das Opfer resultiert; denn nur dann besteht noch die Möglichkeit, Schlimmeres zu verhindern. Meine Damen und Herren, ich begrüße auch ausdrücklich die weitere in diesem Gesetzentwurf vorgesehene Änderung, mit der der Straftatbestand der Nachstellung aus dem Katalog der Privatklagen gestrichen wird. Wir reduzieren damit die Belastung der Opfer, die bisher selbst ein Verfahren anstrengen mussten, wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt und auf den Privatklageweg verwiesen hat. Dies war im Einzelfall mit erheblichen finanziellen Aufwendungen verbunden – ein aus Sicht der Opfer unhaltbarer Zustand. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Gesetzentwurf ist ein großer Schritt in Richtung Opferschutz. Und ich füge hinzu: Im Interesse der Opfer müssen wir schnell handeln. – Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin Ripsam. Ich gratuliere Ihnen auch – da können die Kolleginnen und Kollegen gleich noch einmal losklatschen – herzlich zu Ihrer ersten Rede, und das tue ich im Namen des ganzen Hauses. (Beifall) Ich wünsche Ihnen noch viele streitbare und gute Reden in diesem Haus. Und grüßen Sie den Kollegen Strobl! Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/9946 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 k sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: 33   a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einbeziehung der Bundespolizei in den Anwendungsbereich des Bundesgebührengesetzes Drucksache 18/9759 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. Juni 1997 zur Neufassung des internationalen Übereinkommens vom 13. Dezember 1960 über Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt „EUROCONTROL“ Drucksache 18/9877 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 8. Oktober 2002 über den Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zum Internationalen Übereinkommen vom 13. Dezember 1960 über Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt „EUROCONTROL“ entsprechend den verschiedenen vorgenommenen Änderungen in der Neufassung des Protokolls vom 27. Juni 1997 Drucksache 18/9878 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/55/EU über die elektronische Rechnungsstellung im öffentlichen Auftragswesen Drucksache 18/9945 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss Digitale Agenda e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften zur Bevorratung von Erdöl, zur Erhebung von Mineralöldaten und zur Umstellung auf hochkalorisches Erdgas Drucksache 18/9950 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes Drucksache 18/9951 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zollverwaltungsgesetzes Drucksache 18/9987 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 7. April 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über den grenzüberschreitenden Einsatz von Luftfahrzeugen zur Ergänzung des Abkommens vom 9. Oktober 1997 über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden in den Grenzgebieten Drucksache 18/9988 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 19. Mai 2016 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt Montenegros Drucksache 18/9989 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission vom 7. März 2016 für Beschlüsse des Rates zur Festlegung von Standpunkten der Union in den Stabilitäts- und Assoziierungsräten EU – Republik Albanien sowie EU – Republik Serbien im Hinblick auf die Beteiligung der Republik Albanien sowie der Republik Serbien als Beobachter an den Arbeiten der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte und die entsprechenden Modalitäten im Rahmen der Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates Drucksache 18/9990 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Werner, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Das Teilhaberecht menschenrechtskonform gestalten Drucksache 18/10014 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 33) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Maria Klein-Schmeink, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern Drucksache 18/9856 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Gastel, Tabea Rößner, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fahrverbot für laute Güterwagen Drucksache 18/10033 Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisungen: Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 k sowie Zusatzpunkt 2 a. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Niemand zeigt mir körpersprachlich etwas anderes an. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Zusatzpunkt 2 b, Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10033. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung, und zwar zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur und zur Mitberatung an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Wir stimmen jetzt nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Dann gibt es keine Enthaltungen. Damit ist die Überweisung so beschlossen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 18/10033 nicht in der Sache ab. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 f sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Das heißt, ich werde Ihnen jetzt länger etwas vorlesen. Tagesordnungspunkt 34 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai 2005 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten und über die Finanzierung des Terrorismus Drucksache 18/9235 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/9800 Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9800, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9235 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD, dagegengestimmt hat die Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Dann gibt es niemanden mehr, der sich enthalten könnte. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, die SPD und die Grünen, und dagegen war die Linke. Tagesordnungspunkt 34 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Strafrechtsübereinkommen des Europarats vom 27. Januar 1999 über Korruption und dem Zusatzprotokoll vom 15. Mai 2003 zum Strafrechtsübereinkommen des Europarats über Korruption Drucksache 18/9234 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/9850 Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9850, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9234 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen. Das passiert auch nicht so oft. Vielen herzlichen Dank. Tagesordnungspunkt 34 c: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2016/2017 (BBVAnpG 2016/2017) Drucksache 18/9533 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) Drucksache 18/9865 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/9866 Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9865, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9533 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und Linke, dagegen war niemand, und enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 34 d bis 34 f und damit zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 34 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 364 zu Petitionen Drucksache 18/9828 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 364 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 34 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2 Ausschuss) Sammelübersicht 365 zu Petitionen Drucksache 18/9829 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Niemand. Die Sammelübersicht 365 ist angenommen. Zustimmt haben CDU/CSU, SPD und Linke, dagegengestimmt haben die Grünen. Tagesordnungspunkt 34 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 366 zu Petitionen Drucksache 18/9830 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 366 ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Damit gibt es keine Enthaltungen. Zusatzpunkt 3: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Tabea Rößner, Katharina Dröge, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mindestqualitätsvorgaben für Internetzugänge einführen Drucksachen 18/8573, 18/10062 Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10062, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8573 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD und DIE LINKE Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates der Bundesstiftung Baukultur gemäß § 7 des Gesetzes zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ Drucksache 18/10021 Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und die Linke auf Drucksache 18/10021? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. So, jetzt sind Sie wieder dran. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Umsetzung der Auflagen des Bundesverfassungsgerichts zu CETA durch die Bundesregierung Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Klaus Ernst für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Klaus Ernst (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, um über die Umsetzung der Auflagen des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der vorläufigen Anwendung von CETA zu beraten. Ich sage es Ihnen gleich an dieser Stelle: Es ist aus meiner Sicht wirklich unverantwortlich, wie Sie einen Vertrag ohne Wenn und Aber vorläufig anwenden wollten, (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU) für dessen Anwendung Sie jetzt vom Bundesverfassungsgericht hohe Auflagen erteilt bekommen haben. Da haben wir Sie geschützt. Dafür können Sie uns dankbar sein. (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Dirk Wiese [SPD]: Ach, Quatsch! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Klaus, das glaubst du doch selber nicht! – Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Da habt ihr doch verloren!) Das Bundeswirtschaftsministerium behauptet in einer Pressemitteilung: ... die Vorgaben aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13.10.2016 konnten ... im Rat einvernehmlich durchgesetzt werden. Ist das wirklich so? Ich habe den Eindruck, dass die Trickserei bei diesem Abkommen mit Geheimhaltung – das galt ja sogar für das Mandat –, fehlender parlamentarischer Mitsprache, vom Minister ausgemalte Katastrophenszenarien, wenn CETA nicht zustande käme, jetzt beim Umgang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts seine Fortsetzung findet. Schauen wir uns im Detail an, was geregelt wurde. (Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Das ist eine Richterschelte!) – Im Gegenteil. – Das Bundesverfassungsgericht hat erstens entschieden: Die Bundesregierung muss entscheidende Bereiche von der vorläufigen Anwendung ausnehmen – ich zitiere wörtlich aus dem Beschluss –: … insbesondere Regelungen zum Investitionsschutz, einschließlich des Gerichtssystems ..., zu Portfolioinvestitionen ..., zum internationalen Seeverkehr ..., zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen ... sowie zum Arbeitsschutz ... nicht von der vorläufigen Anwendung erfasst werden. (Barbara Lanzinger [CDU/CSU]: Das ist nichts Neues!) Ausgenommen werden sollen auch alle Bereiche, welche nach Auffassung der Bundesregierung – ich zitiere wieder – „in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verblieben sind“. Dies sind, wie aus der Stellungnahme der Bundesregierung in dem Gutachterverfahren von 2015 zur Kompetenzverteilung im Freihandelsabkommen mit Singapur hervorgeht, zusätzlich zu den oben genannten Bereichen die Bereiche „nachhaltige Entwicklung“, „Arbeit und Umwelt“, „Streitbeilegung“, „Herstellungspraxis für pharmazeutische Produkte“ und „Geistiges Eigentum“ gemäß Kapitel 20 CETA-Vertrag. So weit die Vorgaben des Verfassungsgerichts. Wie sieht die Umsetzung aus? Im Ratsdokument, das uns seit gestern Abend mit den im Handelsministerrat abgegebenen Protokollerklärungen zu CETA vorliegt, wird zu einigen dieser Bereiche erklärt, dass mit deren vorläufiger Anwendung keine Kompetenzübertragung auf die EU stattfindet. Das hat das Bundesverfassungsgericht gar nicht gesagt. Das Bundesverfassungsgericht hat gefordert: Diese Bereiche sollen ausgenommen werden. – Aber ausgenommen werden diese Bereiche gerade nicht. Das, was Sie machen, ist etwas ganz anderes als die Ausnahme der vorläufigen Anwendung. (Matthias Ilgen [SPD]: Unfug!) Sie haben das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage nicht ernst genommen, meine Damen und Herren. In keiner Weise! Zum Bereich Streitbeilegung nach Kapitel 29 CETA-Vertrag und Herstellungspraxis für pharmazeutische Produkte nach Annex 7 CETA-Vertrag haben Sie überhaupt nichts gesagt. Das beinhaltet aber der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Dazu haben Sie gar nichts erklärt. (Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Das steht so im Gesetz bei uns!) Auch die zweite Auflage wird nicht umgesetzt. Regelungen zum Gemischten CETA-Ausschuss, also eines Gremiums, das CETA verbindlich interpretieren und manche Bereiche ändern könnte, dürfen nur dann vorläufig angewendet werden, wenn rechtsverbindlich eine hinreichende demokratische Rückbindung vereinbart wird, so das Bundesverfassungsgericht. (Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Einstimmigkeit erforderlich!) Die Kommission erklärt nur, dass in diesem Zeitraum bis zum Hauptverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht keine Erweiterung oder bindende Interpretationen zu CETA zu erwarten sind. Das ist etwas ganz anderes als das, was das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist das! – Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Weil das so im Gesetz steht!) Der Rat und die Mitgliedstaaten sagen im Übrigen, dass Entscheidungen des Ausschusses, die mitgliedstaatliche Kompetenzen betreffen, einstimmig angenommen werden sollen. Im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts geht es aber um alle Beschlüsse, nicht nur um diejenigen, die als gemischt zu betrachten sind. Also auch hier gibt es keine Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils. Auch die Umsetzung der dritten Auflage, nach der eine einseitige Beendigung der vorläufigen Anwendung durch Deutschland möglich sein muss, ist uneindeutig. Hier wird auf EU-Verfahren abgestellt. Wie diese aussehen, wird nicht aufgeführt. Die Bundesregierung legt den entsprechenden Artikel in CETA – anders als vom höchsten Gericht gefordert – einfach so aus, dass man einseitig aussteigen kann. Ob die anderen Länder und die EU-Kommission das genauso sehen, ist vollkommen offen. Es heißt nur, man erkläre, dass man als Vertragspartei seine Rechte nach diesem Artikel wahrnehmen könne. Wenn der Artikel aber anders ausgelegt wird, haben Sie auch hier die Vorgaben des Verfassungsgerichts nicht erfüllt. Wir sehen: Wieder einmal haben die vollmundigen Erklärungen des Bundeswirtschaftsministers wenig mit der Realität zu tun. Sollte es bei dieser Erklärung bleiben, behalten wir uns neuerliche rechtliche Schritte vor, meine Damen und Herren, um das in aller Klarheit zu sagen. (Beifall bei der LINKEN – Matthias Ilgen [SPD]: Ihr seid doch gescheitert!) Wären Sie doch ähnlich standhaft wie Paul Magnette, der Ministerpräsident der Wallonischen Region. (Zurufe von der CDU/CSU) Er lässt sich nicht einschüchtern und kämpft für einen demokratischen Prozess, für ein gutes Abkommen statt für ein Abkommen, das nur weniger schlecht ist als andere. Respekt vor diesem Mann! Ich danke fürs Zuhören. (Beifall bei der LINKEN – Matthias Ilgen [SPD]: Ogottogott!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Klaus Ernst. – Nächster Redner: Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Frau Präsidentin, schön, dass Sie da sind. (Heiterkeit) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke schön. Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende gut, alles gut? Ja, vielleicht. Vielleicht klappt es doch, dass am 27. Oktober auf dem EUKanada-Gipfel das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada unterschrieben wird und endlich ein Schlusspunkt gesetzt wird, also dieses unwürdige Gerangel um dieses Freihandelsabkommen ein gutes Ende findet. Was neben den ganzen juristischen Finessen wirklich auf dem Spiel steht, hat der kanadische Premierminister mit klaren Worten benannt. Er hat gesagt – ich zitiere –: Wenn sich zeigt, dass Europa unfähig ist, einen fortschrittlichen Handelspakt mit einem Land wie Kanada abzuschließen, mit wem glaubt Europa dann eigentlich noch in den kommenden Jahren Geschäfte machen zu können? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, diesem Satz ist nichts hinzuzufügen. Um es noch klarer zu machen: Nicht die Mehrheit der Mitgliedstaaten in Europa, sondern Deutschland, das Land mit der größten Volkswirtschaft in Europa, Exportweltmeister seit vielen Jahren und die wirtschaftliche Lokomotive in Europa, kämpft gegen den Freihandel. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Europäische Union! Das ist nur ein Teil von Europa!) Da muss man sich doch die Frage stellen, ob wir hier in einer verkehrten Welt leben. Meine Damen und Herren, die Gefahr, die von einem Scheitern von CETA für die Reputation unseres Landes und natürlich für Europa ausgeht, hat das Bundesverfassungsgericht in seinen Folgeabwägungen ganz klar erkannt. Denn der Senat schreibt darin unter anderem: Ein – auch nur vorläufiges – Scheitern von CETA dürfte über eine Beeinträchtigung der Außenhandelsbeziehungen … hinaus weit reichende Auswirkungen auf die Verhandlungen und den Abschluss künftiger Außenhandelsabkommen haben. Also auch hier gilt: Das Bundesverfassungsgericht hat genau den Kern der Sache erkannt. Herr Ernst, Sie haben ja bis heute nicht verstanden, um was es eigentlich geht. Das, was Sie heute hier wieder vorgetragen haben, kann ich gar nicht nachvollziehen; denn all das ist Bestandteil des CETA-Abkommens und ist Bestandteil der europäischen Gesetzgebung. Nach Ihrer Niederlage versuchen Sie jetzt natürlich, nach jedem Strohhalm zu greifen, den Sie der Öffentlichkeit überhaupt noch hinhalten können. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Von welcher Niederlage reden Sie eigentlich? Bei dem Bundesverfassungsgericht ist das natürlich ein Riesenerfolg!) – Herr Dehm, beruhigen Sie sich! (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Die Auflagen erfüllen Sie mal!) – Natürlich. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Selbstverständlich ist es ein Erfolg!) – Vielleicht in Ihren Augen. Wenn das ein Erfolg ist, Herr Dehm, dann sind Ihre Erfolgsmaßstäbe, die Sie sich selber noch setzen, wirklich sehr niedrig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Seit 2009 wird über CETA verhandelt, und die letzten sieben Jahre der Verhandlungen haben sich für beide Seiten ausgezahlt. CETA ist das modernste Freihandelsabkommen, das zurzeit überhaupt existiert. CETA setzt die Maßstäbe für die Gestaltung des Handels in der Zukunft. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Thema verfehlt! Setzen!) Genau an dieser Stelle, meine Damen und Herren, werden ja auch die Unterschiede in diesem Hohen Haus sehr deutlich. Während die Linken und auch die Grünen weiterhin versuchen, das Handelsabkommen zu torpedieren und zu blockieren sowie mit halbwahren Elementen den Menschen in der Öffentlichkeit Angst zu machen, haben die Koalitionsfraktionen immer zu den Verhandlungen über CETA gestanden und sie zu einem guten Abschluss gebracht. Gerade die Verhandlungen in den letzten Wochen haben doch gezeigt, dass beide Seiten, Kanada und die Europäische Union, auf einem guten Weg sind. Dass Freihandel nicht wirklich die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit hat, wie Linke und Grüne immer wieder darzustellen versuchen, zeigt Folgendes: Wir haben ein Abkommen mit Südkorea geschlossen. Wir haben ein Abkommen mit Singapur geschlossen. Wir haben ein Abkommen mit Vietnam ausgehandelt, das sich gerade in der Rechtsprüfung befindet. Ich habe von beiden Oppositionsfraktionen nie einen Antrag in diesem Hohen Haus gelesen, in dem sie sich mit diesen Abkommen befassen. Und die Europäische Union verhandelt mit Japan, mit Tunesien, mit den Mercosur-Staaten und mit Mexiko weitere Abkommen. Wir brauchen diese Freihandelsabkommen, weil der Doha-Prozess innerhalb der Welthandelsorganisation nicht mehr vorangekommen ist. Ich sage es noch einmal: Deutschland als Exportweltmeister ist auf freien Handel angewiesen. Wir als CDU/CSU-Fraktion stehen hinter CETA und hoffen, dass am 27. Oktober die Unterschrift unter das Abkommen gesetzt wird. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, verehrter Andreas Lämmel. – Nächste Rednerin: Katharina Dröge für Bündnis 90/Die Grünen. Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD! Wieder einmal wurde Ihnen bescheinigt, dass Sie in Sachen CETA nicht einhalten können, was Sie versprechen. (Matthias Ilgen [SPD]: Unsinn! – Bernd Westphal [SPD]: Sie haben das Urteil nicht gelesen!) Diesmal haben Ihnen die Richter in Karlsruhe eine Reihe zusätzlicher Maßnahmen und Nachbesserungen mit auf den Weg gegeben, die Sie in hektischer Weise bis zur Ratssitzung am vergangenen Dienstag zu erfüllen versucht haben. (Bernd Westphal [SPD]: Das ist eine Leistung! – Zuruf von der CDU/CSU: Welche denn?) Ich kann sie noch einmal nennen: Zusätzliche Ausnahmen von der vorläufigen Anwendung von CETA mussten Sie bis gestern nachverhandeln genauso wie die Herstellung einer Einstimmigkeit im Rat, bevor die CETA-Ausschüsse Entscheidungen treffen können, weil deren demokratische Rückbindung alles andere als klar ist. Weiterhin wurde nachverhandelt, dass die Bundesrepublik die vorläufige Anwendung einseitig beenden kann. All das hat Ihnen Karlsruhe mit auf den Weg gegeben, weil nicht alles so eindeutig, so klar und so verfassungsmäßig war, wie Sie es dargestellt haben. Das Einziehen all dieser Sicherheitslinien hat Ihnen Karlsruhe mit auf den Weg gegeben; und diese mussten Sie sehr hektisch nachverhandeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias Ilgen [SPD]: Aber wir haben es geschafft!) Man hätte meinen können: Nach dieser Klatsche in Karlsruhe (Lachen bei der CDU/CSU und der SPD) hätten Sie wenigstens etwas im Umgang mit Gesetzen gelernt. (Matthias Ilgen [SPD]: Sie leben auf einem anderen Stern!) Aber das Ganze setzt sich im Wirtschaftsausschuss fort. (Zurufe von der CDU/CSU: Antrag abgewiesen! Alle Anträge abgewiesen!) Beispielsweise gibt es ein Beteiligungsrecht des Deutschen Bundestages, demzufolge er Dokumente zugeleitet bekommen muss, die Sie im Europäischen Rat einbringen. Dies gilt auch für Entwürfe, die Sie vorhaben einzubringen, sowie vor allen Dingen für die Dokumente, die Sie von der Europäischen Union bekommen. Nichts davon ist passiert. Alle Dokumente über die Vereinbarungen, die am vergangenen Dienstag getroffen worden sind, hat der Wirtschaftsausschuss erst gestern bekommen – gestern Abend. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es! Schlag ins Gesicht des Parlaments!) Wir haben Staatssekretär Machnig im Wirtschaftsausschuss gefragt, wieso er die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestags ignoriere. Darauf hörten wir nur: Wissen Sie, Frau Dröge, in der Praxis sieht das alles anders aus. Das war so hektisch nach dem Gerichtsurteil. Wir mussten das jetzt irgendwie machen. Das müssen Sie verstehen. Das können wir irgendwie auch nicht anders machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Das war wortwörtlich so. Ihre Kollegen waren auch dabei und können das bestätigen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Diese Arroganz der Macht, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD) die Sie gestern im Wirtschaftsausschuss gezeigt haben, ist Teil Ihres Problems beim Umgang mit CETA. Sie zeigt sich darin, dass Sie berechtigte Kritik nicht ernst nehmen, dass Sie Beteiligungsrechte und Verfahren nicht ernst nehmen, dass Sie die Kontrollmöglichkeiten des Deutschen Bundestags nicht ernst nehmen (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Richtig!) und dass Sie das Urteil der Öffentlichkeit nicht ernst nehmen. Denn was wir in den letzten drei Jahren mit CETA erlebt haben, war eine beispiellose Illusionsshow. Drei Jahre lang erzählen Sie uns, dass Sie genau hinschauen, dass Sie zusehen würden, dass im Vertrag noch etwas nachgebessert werde, dass ein SPD-Konvent im Jahr 2014 rote Linien eingezogen habe. Dann gab es im Jahr 2015 noch das Versprechen: Wir werfen die Schiedsgerichte aus CETA heraus. Im Jahr 2016 gab es einen weiteren Beschluss des SPD-Konvents, der besagt, dass das Abkommen noch einmal nachverhandelt werden soll. Sogar in Ihrer Stellungnahme gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes haben Sie eine Nachbesserung versprochen. Das Blöde all dieser Versprechen ist, dass sie überprüft werden können. Aber Ihre Erklärungen – auch diejenige, die Sie gestern Abend dem Bundestag zugeleitet haben – halten einer Überprüfung nicht stand. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nichts von dem, was Sie versprochen haben, haben Sie durchsetzen können. Mithilfe einer sechsseitigen Tabelle in kleiner Schrift habe ich die Beschlüsse des SPD-Konvents, das Freeland-Papier und Ihre Artikel-23-Stellungnahme mit dem verglichen, was Sie erreicht haben. Ich habe festgestellt: Nichts! Das ist eine beschämende Bilanz dessen, was Sie in den letzten Wochen gemacht haben. Aus der Wissenschaft hagelt es zu Recht Kritik. Hundert Juraprofessoren haben Ihnen einen Brief geschrieben und gesagt, dass die im Rahmen von CETA vereinbarten Schiedsgerichte weiterhin eine große Gefahr darstellen. Selbst Gutachter, die die Bundesregierung beauftragt hat, teilen Ihnen mit, wie schlecht die Verbesserungen sind, die Sie in nachträglichen Protokollerklärungen erreichen wollen. Ich zitiere: Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Gemeinsame Auslegungserklärung die bisherige Kritik am CETA-Kapitel zum Investitionsschutz nicht relativiert, da für keinen der umstrittenen und kritischen Punkte rechtssichere Verbesserungen oder Lösungen angeboten werden. Das ist das vernichtende Urteil, das ein Gutachter, den Sie selbst beauftragt haben, über die Protokollerklärungen, die Sie von SPD und Union in Teilen so hochhalten, fällt. Nun müssen Sie den Menschen erklären, was Sie von dem, was Sie versprochen haben, tatsächlich halten. Es ist gerade ein, zwei Wochen her, dass wir im Bundestag über Nachbesserungen und Protokollerklärungen gesprochen haben. Sie haben als Bundesregierung noch eine kleine Bedenkzeit. Durch das Nein der wallonischen Regionalregierung haben Sie noch einmal Zeit, nachzudenken, ob Sie nicht wenigstens das, was Sie selbst im Bundestag sagen, ernst nehmen und die Nachbesserungen, die Sie hier im Bundestag versprochen haben, noch durchsetzen sollten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Herr Gabriel, da Sie mittlerweile auch anwesend sind: Sie haben noch eine große Chance, den Menschen in diesem Land zu erklären, was Sie noch herausholen werden oder warum Sie das nicht halten, was Sie gesagt haben. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Katharina Dröge. – Nächster Redner: Bernd Westphal für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bernd Westphal (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin froh, dass wir heute im Bundestag noch einmal Gelegenheit haben, über CETA, das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada, zu diskutieren. Über Freihandelsabkommen ist in den letzten drei Jahren im Hohen Haus, in den Ausschüssen und den Fraktionen intensiv diskutiert worden. Ich sehe das keineswegs als Problem, sondern als Zeichen einer lebendigen, diskussionsfreudigen Demokratie. Wir kommen damit übrigens der Integrationsverpflichtung gegenüber dem Parlament nach. Diese müssen wir auch in dieser Frage erfüllen. Es ist nun einmal Fakt, dass in der Öffentlichkeit über Freihandelsabkommen aufmerksamer und kritischer diskutiert wird. Aber warum ist das so? Weil es nicht nur um den Abbau von Zöllen geht, sondern weil wir mit Freihandelsabkommen auch ein Instrument haben, mit dem wir im sozialen Bereich, beim Verbraucherschutz, beim Umweltschutz und auch beim Investitionsschutz andere Standards etablieren können. Wir wollen dieses Instrument nutzen, um den globalen Handel zu gestalten. Die gesellschaftlichen Initiativen und Gruppen stellen berechtigte Fragen. Sie sollten bei ihren Entscheidungsprozessen ernst genommen werden. Wenn ich die verschiedenen Parteien und Fraktionen miteinander vergleiche, um herauszufinden, wer sich mit den entsprechenden Inhalten und kritischen Fragen am intensivsten auseinandergesetzt hat, dann stelle ich fest, dass das die SPD ist. Sie hat als Partei und Fraktion darüber interfraktionell, aber auch mit verschiedenen Akteuren sehr ausführlich gesprochen. Einen so intensiven Dialog hat keine andere Partei geführt. (Beifall bei der SPD – Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben aber nichts erreicht!) Der Deutsche Bundestag hat im letzten Monat eine Stellungnahme zum CETA-Abkommen abgegeben. Damit ist eine konstruktive Mitarbeit an diesem Abkommen von der Koalition geleistet worden. Das kann sich sehen lassen. (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ist wirkungslos geblieben!) Seit Montag liegt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vor. Die Anrufung des höchsten deutschen Gerichts vor einer Ratsbefassung zur vorläufigen Anwendung eines Handelsabkommens ist ungewöhnlich, aber legitim. Wenn Bürger Ängste und Sorgen haben, dann ist es möglich, dass Bürgerinitiativen eine Verfassungsbeschwerde erheben. So hat es auch die Linkspartei gemacht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich letzte Woche sehr ausführlich sowohl mit den verschiedenen Aspekten der demokratischen Rückbindung der CETA-Ausschüsse als auch mit der vorläufigen Anwendung, aber auch mit der Aufkündigung des Abkommens beschäftigt. Klar ist auch, dass alle Anträge – das muss man einmal, glaube ich, wahrnehmen; auch Kollege Ernst war dabei – vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt worden sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Das ist etwas, was man doch nicht einfach so wegwischen kann. Sie haben vor dem Bundesverfassungsgericht eben kein Recht bekommen. (Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Ich will hier ausdrücklich unseren Bundeswirtschaftsminister loben, der es nicht nur national, in der Bundesregierung, sondern auch mit den anderen Mitgliedstaaten in Europa und mit der Europäischen Kommission hinbekommen hat, diese Auflagen für den Vertrag rechtskonform zu erfüllen und durchzusetzen. Das ist eine Leistung in dieser kurzen Zeit, die beachtlich ist. Herzlichen Dank dafür. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Es ist doch gar nichts passiert!) Die Verfahren mögen in den letzten Tagen und Wochen manchmal mühsam gewesen sein, aber am Ende hat es sich doch gelohnt. Die Bürger Deutschlands und Europas haben durch diese zusätzlichen Erklärungen und Beschlüsse auf jeden Fall mehr Transparenz und die Möglichkeit, die Auswirkungen dieser Bedingungen zu erfahren. Damit hat die Bundesregierung, die in Europa treibende Kraft war, diese Dinge mit nach vorne gebracht. Ich kann Ihnen ganz ehrlich sagen, dass wir mit diesen Vorbereitungen den Weg frei gemacht haben, damit unser Minister im Ministerrat diese Zustimmung hätte geben können. Nun ist ein kleiner Bereich in Europa anderer Meinung. Ich denke, dass wir morgen im Rat sicherlich die Chance haben, dieses wichtige Abkommen noch zu entscheiden. Was hätte es für handelsrechtliche und politische Folgen, wenn Deutschland es nicht schaffen würde, einen Beitrag dazu zu leisten, dass die europäischen Mitgliedstaaten dieses Abkommen ratifizieren? Das würde, was die Glaubwürdigkeit, die Handelspartnerschaft und was zukünftige Abkommen angeht, sicherlich einen politischen Schaden hinterlassen. Die Frage ist doch: Mit welchen Ländern wollen wir denn noch Abkommen schließen, wenn wir es mit Kanada nicht hinbekommen? Deshalb ist es wichtig, dass dieses Abkommen nächste Woche auf dem Europa-Kanada-Gipfel zur Unterzeichnung vorliegt. Bis zur Unterzeichnung in der nächsten Woche sollten nun noch abschließende Gespräche geführt und weitere Begleittexte erarbeitet werden. Ich bin hoffnungsvoll, dass es in der nächsten Woche gelingen wird, entsprechende Rahmenbedingungen für die Unterzeichnung zu schaffen. Wir als Sozialdemokraten haben den politischen Anspruch, den globalen Handel nicht nur frei, sondern auch fair zu gestalten. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Bernd Westphal. – Nächster in der Debatte: Dr. Matthias Heider für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie könnten jetzt eigentlich ganz entspannt mit dem Thema umgehen, da Ihre Anträge vollumfänglich vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen worden sind. Aber wir sprechen wieder einmal über das Thema heute. Sicherlich ist es angezeigt, dass man immer wieder auf die Sorgen der Menschen eingeht. Aber ich sehe, dass der Umgang bei Ihnen mit dem Thema nicht so entspannt ist; denn an Ihrem Fraktionssitzungssaal prangt ein Schild: „Ceta und mordio!“. Da mache ich mir doch schon ein bisschen Sorgen. „Zeter und Mordio“ ist ein Ausspruch gewesen, mit dem im Mittelalter der Ankläger das Gerichtsverfahren wegen Mord, Totschlag, Raub und anderer Dinge eingeläutet hat. Wie unpassend, dass Sie sich diesen Satz ausgesucht haben, um für Ihre Kampagne Werbung zu machen. (Zuruf von der CDU/CSU: Unanständig!) „Ceta und mordio!“ passt an dieser Stelle überhaupt nicht. Das muss ich Ihnen sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich bin froh, dass die Bundesregierung nun dem CETA-Abkommen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zustimmen darf und diese Zustimmung auch gestern im Kabinett beschlossen hat. Wissen Sie eigentlich, warum das Bundesverfassungsgericht so entschieden hat? Das Gericht musste eine Abwägung treffen, ob es für Deutschland Nachteile hat, wenn die Bundesregierung nicht zustimmt. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass es für Deutschland schlechter wäre, wenn die Bundesregierung dem Abkommen nicht zustimmt. Für mich hat das wenig Überraschendes. Seit drei Jahren teilen wir Ihnen nämlich diese jetzt vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Meinung mit: Für Deutschland ist es besser, wenn wir da mitmachen. Es ist besser, sich für Freihandel statt für Protektionismus einzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich zitiere aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Ein – auch nur vorläufiges – Scheitern von CETA dürfte über eine Beeinträchtigung der Außenhandelsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und Kanada hinaus weitreichende Auswirkungen auf die Verhandlungen und den Abschluss künftiger Außenhandelsabkommen haben. Insofern erscheint naheliegend, dass sich der Erlass einer einstweiligen Anordnung negativ auf die europäische Außenhandelspolitik und die internationale Stellung der Europäischen Union insgesamt auswirken würde. Wollen Sie das? Wollen Sie, dass Deutschland und Europa bei den internationalen Handelsbeziehungen ins Hintertreffen geraten? Wollen Sie, dass andere Staaten auf der Welt die Standards setzen? Wollen Sie mehr Protektionismus? Ich will das nicht. (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Die Linke will das!) Protektionismus bietet keine Perspektive im internationalen Bereich. Auch für die Verbraucher und die Unternehmen bedeutet das Nachteile. Für die Arbeitnehmer in Deutschland würde ein Verzicht auf Freihandel den Verlust von Arbeitsplätzen bedeuten; denn jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland hängt, meine Damen und Herren, vom Export ab. Und viele Unternehmen gäbe es erst gar nicht, wenn Deutschland und die EU nicht im Rahmen einer Vielzahl von Freihandelsabkommen tätig geworden wären. Ich komme zurück zum Urteil des Gerichts. Es gibt einige Vorgaben. Auch die sind schon zum großen Teil berücksichtigt. Laut Bundesverfassungsgericht darf die Bundesregierung einem Ratsbeschluss zustimmen, wenn diese Maßgaben angewendet werden. Das ist auch in Ordnung. Sie haben sich über das Konstrukt der vorläufigen Anwendbarkeit insgesamt aufgeregt. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein! Das Gericht hat sich aufgeregt!) Sie wissen aber wohl nicht, dass das Instrument der vorläufigen Anwendbarkeit sogar im Arbeitsvertrag der Europäischen Union verankert ist und es gängiger europäischer und internationaler Rechtsprechung entspricht. Auch beim Wiener Vertragsrechtsübereinkommen – da sind wir seit 1987 Mitglied, Herr Dehm – gibt es eine Regelung zur vorläufigen Anwendung von internationalen Verträgen. Dagegen haben Sie an dieser Stelle noch nie gesprochen. Das wundert uns schon ein bisschen. Die vorläufige Anwendbarkeit gibt es auch im GATT-Abkommen. Das ist 47 Jahre lang provisorisch so gehandhabt worden. Darüber hat sich auch noch nie jemand beschwert. Sie tun das jetzt. Meine Damen und Herren, es würde ein etwas schlechtes Licht auf die Rechtsprechung werfen, wenn sie so wäre, wie Sie es dargestellt haben. Aber sie besteht so nicht. Das würden Sie feststellen, wenn Sie es genau beleuchten würden. Ich meine, wir sollten an der Stelle jetzt einen Gang zurückschalten. Wir haben einen Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts. Es ist überhaupt keine Richterschelte geboten. Und ein Hineindeklinieren von politischen Meinungen, die Sie gerne hätten, ist an dieser Stelle nicht mehr erforderlich. Ich sehe gute Chancen dafür, meine Damen und Herren, dass das Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache genauso entscheiden wird wie bei der vorläufigen Entscheidung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Heider. – Nächster Redner ist Dr. Diether Dehm. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Lämmel und Herr Westphal, hören Sie auf mit der Panikmache, (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Max Straubinger [CDU/CSU]: Wer macht hier Panik?) dass, wenn es zu CETA nicht käme, die Welt und die Wirtschaft zusammenbrächen. Seit 2005 – führen Sie sich das einmal zu Gemüte – sind die Importe – Quelle ist die EU-Kommission – um 64 Prozent und die Exporte nach Kanada um 50 Prozent gestiegen. Sie sind ohne CETA seit 2005 bis heute kontinuierlich gestiegen. Sie meinen vielleicht, mit CETA hätten wir 100 Prozent. Was träumen Sie nachts? Der Brexit hat die Krise der EU weiter verschärft. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz sieht den Euro gescheitert. Auch unter den Deutschen hat die EU kein sonderlich großes Vertrauen. (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Panikmache!) Und so ziemlich die Einzigen, die sich – neben der Deutschen Bank und RWE – bei Ihnen für dieses Geschäftsmodell EU bedanken können, sind AfD und Le Pen. Die Linke hat stets vor den Mängeln an Demokratie, an sozialstaatlicher Bodenhaftung im EU-Recht und vor Konzernradikalismus und Verarmung gewarnt. Sie aber sind selbstgefällig wie die Großjunker darüber hinweggetrampelt. Wir lehnen diese EU ab, weil wir um die Friedensidee Europa ringen, damit Erwerbstätige wie Erwerbslose, Handwerker und Landwirte Europa als Heimat ihrer sozialen Sicherheit erfahren. (Beifall bei der LINKEN) Darum hat unsere Fraktion damals auch den Lissabon-Vertrag in Karlsruhe überprüfen lassen. Beim Bundesverfassungsgericht müssen Sie immer auf 100 Prozent klagen; denn Sie wissen, dass man am Ende nur 60 oder 70 Prozent erreicht. Da sitzen ja auch Leute, die nicht ganz unabhängig von Parteien da reingekommen sind. Immerhin haben wir damals bei der Klage um den Lissabon-Vertrag erreicht, dass die Mitwirkungsrechte des Parlaments ausgeweitet wurden und dass – ich zitiere jetzt einmal aus § 1 EUZBBG – die Bundesregierung den Bundestag „umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten“ hat. Die Rechte des Bundestags sind hier vom Bundesverfassungsgericht klar definiert worden. „Umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt!“ Bundesregierung und Presse haben weithin versäumt, auf die strikten Auflagen, die Sie auch wieder beiseitewischen, Herr Westphal, des Verfassungsgerichts vom 13. Oktober aufmerksam zu machen – Klaus Ernst hat das alles schon erwähnt –: dass sich erstens Regelungen nur auf EU-Kompetenzen beziehen dürfen, dass zweitens die gemischten Ausschüsse nicht selbstständig Änderungen vornehmen dürfen und dass drittens die vorläufige Anwendbarkeit sofort beendet werden muss, wenn es zu Zweideutigkeiten kommt. Aber was tut die Bundesregierung? Sie übermittelt für den Rat der Handelsminister am 18. Oktober 2016 dem Bundestag lediglich einen undatierten Vorbericht. Dann folgt ein neuer Vermerk, wieder undatiert, nicht gezeichnet, juristisch hoch verschlüsselt und in englischer Sprache. Am gestrigen Abend gab es schließlich einen längeren Text, wieder nur in englischer Sprache und wieder, ohne direkt auf die Einwände des Gerichtsurteils einzugehen. Das Handelsblatt wusste hingegen schon vor dem Bundestag, dass der Rat „diesen Ergänzungen zugestimmt hatte“, und degradierte das Ganze zu einem – ich zitiere wieder – Absegnenlassen. Diese Ergänzungen waren dem Bundestag also nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt bekannt. In der liederlichen Form und der Zeitknappheit eine Zumutung für das deutsche Parlament, Herr Gabriel! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Kauder ließ zwar alle europäischen Demokraten zusammenzucken, als er triumphierte, in Europa würde endlich wieder deutsch gesprochen. Aber gegenüber der deutschen Öffentlichkeit sprechen Sie englisch und in Rätseln. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ob in diesem Konvolut auch nur irgendetwas den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts gerecht wird, kann seriös so gar nicht geprüft werden, zumal völlig unklar ist, welche rechtliche Bedeutung diese Zettelsammlung für den CETA-Vertrag wirklich hat, besonders für Arbeitnehmerrechte und beim Investitionsschutz für Konzerne. Angesichts dieser Situation – Klaus Ernst hat das schon gesagt – wird es kaum einen anderen Weg geben, als beim Bundesverfassungsgericht erneut eine einstweilige Anordnung zu beantragen. (Beifall bei der LINKEN – Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Das gibt es doch gar nicht!) Was Glyphosat für die Gesundheit ist, sind CETA und TTIP für die europäische Idee: Reines Gift! Darum danke ich den Wallonen. Bleibt stark und standhaft! (Beifall bei der LINKEN) Darum danke ich vor allen Dingen den vielen Hunderttausend Demonstranten gegen TTIP und CETA: Wir schaffen das! (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der CDU/CSU – Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Wovon träumen Sie nachts? Von der Weltherrschaft?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Diether Dehm. – Nächster Redner ist der Bundesminister Sigmar Gabriel. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und Energie: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, was der Kollege Dehm eben als „Zettelsammlung“ bezeichnet hat, sind die Beschlüsse des Europäischen Rates. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ja, ja! Absichtlich!) Diese Beschlüsse haben wir herbeigeführt. Dort finden Sie die drei Auflagen des Bundesverfassungsgerichtes wieder. Erstens die Klärung, wie die vorläufige Anwendung zu Ende gebracht wird, wenn ein Mitgliedstaat sich gegen CETA entscheidet. Zweitens die Abgrenzung, was europäisches Recht und was nationales Recht ist. Und drittens die Feststellung, dass die gemischten Ausschüsse selbstverständlich kein Recht haben, etwas zu beschließen, sondern dass sie beratend tätig sind und ansonsten der Ministerrat diese Beschlüsse erst fassen muss. Das kann man auf Deutsch lesen. Das kann man auf Englisch lesen. Vor allen Dingen aber ist es erst vor zwei Tagen verabschiedet worden. Deshalb ist es auch noch nicht bei Ihnen gelandet. Ich weiß, Sie sind schnell. Gelegentlich ist es aber auch gut, wenn man etwas langsam liest. Dann versteht man es besser. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich habe zum Beispiel Jürgen Trittins Rede hier zu CETA in guter Erinnerung, weil ich mir die damals angehört habe. Ich habe immer versucht, die Dinge, die hier im Parlament als Frage oder als Kritik genannt worden sind – Jürgen Trittins Rede war ganz wesentlich auf das Thema Vorsorgeprinzip ausgerichtet –, ernst zu nehmen und dann auch zu klären. Deswegen gibt es jetzt eine Erklärung, die gemäß Artikel 31 des Wiener Vertragsstaatenübereinkommens rechtsverbindlich ist, zum Beispiel zum Thema Vorsorge. Dort steht unter anderem: CETA wird unsere jeweiligen Standards und Vorschriften im Zusammenhang mit Lebensmittelsicherheit, Produktsicherheit, Verbraucherschutz, Gesundheitsschutz, Umweltschutz und Arbeitsschutz nicht absenken. Eingeführte Waren, Dienstleistungserbringer und Investoren müssen weiterhin den innerstaatlichen Anforderungen einschließlich der Vorschriften und Regelungen genügen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Kanada bekräftigen ihre Verpflichtung im Hinblick auf die Vorsorge. Das ist rechtsverbindlich nach Artikel 31 des Wiener Vertragsstaatenübereinkommens. Ich frage mich: Warum sind Sie nicht einmal zufrieden, wenn die Dinge, die Sie hier öffentlich vortragen, von uns umgesetzt werden? (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) – Sie finden im Internet zu jeder Frage einen Gutachter. Das ist die Voraussetzung dafür, um Anwälte zu beauftragen. Das ist ein in Deutschland übliches und erlaubtes Geschäftsmodell. Aber im Parlament muss man doch froh sein, wenn die Sorgen der Bevölkerung durch rechtsverbindliche Klarstellung, was in CETA nicht passiert und was in CETA passiert, berücksichtigt werden. Wenn Sie aber von „selbstgefällig wie die Großjunker“ sprechen, dann frage ich mich: Haben Sie eigentlich ein einziges Mal mit der Regierung Griechenlands gesprochen, die CETA unbedingt will? Haben Sie das einmal getan? (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das haben wir!) – Ich weiß nicht, ob Sie sich hier dazu äußern wollen. Das können Sie gerne machen. Eines muss jeden, der kritisch auf CETA blickt, trotzdem einen Moment nachdenklich machen – das gilt auch für die Grünen –, nämlich dass im Handelsministerrat von 28 Mitgliedstaaten 28 erklären, sie wollen das Abkommen. Zwei Staaten, nämlich Rumänien und Bulgarien, haben noch nicht zugestimmt, weil sie noch eine Visafrage geklärt haben wollen. Belgien kann noch nicht zustimmen, weil Wallonien – ein Land wie bei uns die Bundesländer – seine Zustimmung bislang verweigert. Derzeit ist die Abstimmung über CETA angehalten, weil ein Regionalparlament sagt: Wir wollen es nicht. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie gegen Regionalparlamente?) – Ich habe überhaupt nichts gegen Regionalparlamente. Ich schildere einen Sachverhalt. Ich finde, hier muss man sich wenigstens eine Sache fragen: Könnte es sein, dass der hohe Ton der Kritik und die Selbstgefälligkeit bei einem selber stattfinden und dass nicht alle anderen blöd sind? (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Alle anderen sollen blöd sein? Ich fand die Debatten deshalb hilfreich, weil sie dazu geführt haben, Dinge zu klären. Aber es muss doch auch irgendwie nachdenklich machen, wenn unter den 28 Staaten, die das wollen, Staaten sind, in denen die Linke die Regierung stellt. Sie kämpfen immer für Griechenland. Davor habe ich großen Respekt. Warum sind Sie eigentlich da der Meinung, dass das, was die Griechen wollen, und dass deren Erwartungen an CETA Junkertum sei? In Schweden sind die Grünen in der Regierung, in einigen anderen Ländern auch. Die wollen von mir, dass ich TTIP realisiere. Natürlich sind sie sowieso für CETA. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Mir geht es gar nicht darum, dass ich Ihre Kritik vom Tisch wischen will. Aber ich finde, der Ton der Debatte erinnert sehr daran, dass am eigenen Wesen Europa genesen soll. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist jetzt ein bisschen heftig!) – Nein, das ist überhaupt nicht heftig, weil der Rest der europäischen Mitgliedstaaten das genau so versteht. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dann würde ich es nicht sagen!) – Ich weiß schon, was ich gesagt habe. Bei solchen Zitaten kenne ich mich ganz gut aus. Aber, wenn man schon über Selbstgefälligkeit im Junker- oder Großjunkertum spricht, dann muss man beachten, dass der berühmte Satz „Wenn man mit dem Finger auf andere zeigt, dann zeigen mindestens drei Finger auf einen zurück“ sehr wahrscheinlich zutrifft. Deswegen bitte ich darum, dass wir trotz aller unterschiedlichen Beurteilungen abwarten, was dort drinsteht oder nicht drinsteht. Ich sehe einer weiteren Klage vor dem Bundesverfassungsgericht als Eilantrag gelassen entgegen. Wie das Verfassungsgericht in der Hauptsache urteilen wird, wissen wir alle noch nicht. Ich bin relativ sicher, dass das Abkommen in der Hauptsache auch akzeptiert wird, und zwar gerade wegen der Klarstellungen nach Artikel 31 des Wiener Vertragsstaatenübereinkommens, aber übrigens auch, weil nicht Sie über die Frage entscheiden, ob die Auflagen des Verfassungsgerichts eingehalten worden sind – ich übrigens auch nicht –, sondern das Verfassungsgericht selbst. Ja, hier bin ich ganz gelassen, weil wir diese Auflagen am letzten Dienstag hineinverhandelt haben. Die Bundesregierung hat dort gesagt: Wir können dem nicht zustimmen, wenn die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts heute in der Sitzung des Rates nicht als Ratsstandpunkt angenommen werden. – Wir haben uns nicht damit zufriedengegeben, dort nur eine rechtsverbindliche Erklärung der Bundesregierung abzugeben – nur das war übrigens die Auflage des Verfassungsgerichts; es hat gar nicht von uns verlangt, dass wir einen Ratsstandpunkt herbeiführen –, sondern haben diesen Ratsstandpunkt herbeigeführt. (Zuruf des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE]) Die anderen 27 Mitgliedstaaten haben zugestimmt. Ich finde, Sie sollten, ehrlich gesagt, froh darüber sein, dass die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union jetzt seit geraumer Zeit ertragen und sogar mitmachen, wenn die Bundesrepublik Deutschland plus Österreich und wenige andere dort Nachforderungen stellen. Es sollte ein bisschen zur Nachdenklichkeit beitragen, dass da ganz viele Länder sitzen, die folgenden Eindruck haben: Na ja, den Deutschen geht es gut, deren Handel wächst, deswegen können die sich leisten, uns Vorschriften zu machen, sodass wir im Handel nicht weiterkommen. – Das ist die Interpretation, zu der inzwischen viele kommen. (Beifall des Abg. Ingbert Liebing [CDU/CSU]) Ich teile sie nicht; ich finde, dass man über all die Kritikpunkte reden muss. Aber es kann nicht sein, dass Sie einerseits immer davon reden, wie wichtig es ist, dass wir in Europa zusammenhalten, und dass Sie – gelegentlich tue ich das ja auch – Teile der Politik, auch der Bundesregierung, dafür kritisieren, dass sie in Europa zu forsch führen, aber andererseits nicht einmal darüber nachdenken, wie diese Art der Debatte – „Großjunkertum“ und anderes – auf andere Mitgliedstaaten wirkt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich finde, wir haben ungeheuer viel erreicht. Sie erinnern sich vielleicht daran, dass die Grünen immer gesagt haben – sie haben oft versucht, mich da festzunageln, und ich habe versucht, dem aus dem Weg zu gehen –: Du musst den Investitionsschutz da herausbekommen. – (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haste nicht!) Dann habe ich gesagt: Hm, das ist schwierig; das Abkommen ist ausverhandelt. – Jetzt haben wir in Kanada eine Regierung, die mit den privaten Schiedsgerichten Schluss macht. Das war der Kern der Debatte hier: Private Schiedsgerichte soll es nicht mehr geben. (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts verstanden!) – Doch! Lesen Sie es doch einfach in Ihren eigenen Reden nach! – (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es nicht geschafft!) Ich habe immer gesagt, ich bin sehr skeptisch, ob das gelingt; aber die Kanadier haben die Verhandlungen über das Abkommen erneut eröffnet. Ich habe dann übrigens hier auch mal gesagt, dass ich eine Zeit lang die Vorstellung hatte – so ist damals die Bundesregierung von CDU, CSU und FDP noch angetreten –, dass man bei solchen Abkommen eigentlich gar keinen Investitionsschutz braucht, weil wir in Rechtsstaaten leben. Aber die Erfahrungen im Umgang mit einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union als deutscher Wirtschaftsminister haben mich eines Besseren belehrt, nämlich, dass es ganz gut ist, wenn man ein paar Absicherungen hat, und das sogar innerhalb Europas. – Das haben wir geschafft. Dann haben wir all die Fragen aufgenommen. Jetzt hat Kanada gegenüber der EU eine rechtsverbindliche Erklärung abgegeben, die zum Beispiel die Geltung des Vorsorgeprinzips und den Schutz der Arbeitnehmerrechte umfasst, aber auch die Festlegung, dass es keine Einführung von Gentechnik gegen europäisches Recht geben kann. Das steht da jetzt alles drin. Jetzt schaffen wir es auch noch, die rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Fragen zu klären. Es ist natürlich eine berechtigte Frage: Wie sind eigentlich Entscheidungen im Rahmen von CETA an die nationalen Parlamente rückgebunden? Jetzt schaffen wir das auch noch. Und jetzt kommen Sie mit dieser Debatte. Ich persönlich kann das nicht verstehen. Ich habe eine große Sorge – das will ich Ihnen zum Abschluss mal sagen; es ist Ihnen vielleicht egal, mir aber nicht –: Dass es überhaupt ein solches Abkommen mit Sozialstandards, ILO-Kernarbeitsnormen und vielem anderen mehr gibt – – (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist auch nicht drin!) – Doch, das steht da drin. Die Kanadier werden die acht Kernarbeitsnormen akzeptieren. Kein anderer hat das bisher gemacht. Sie haben hier nie ein Abkommen dafür kritisiert, dass es das nicht gab. (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: So ist es!) Ausgerechnet bei einem Abkommen mit dem Land, das uns am nächsten steht – Kanada –, tun Sie es. Es ist doch albern, was da passiert. Entschuldigung, das ist albern! (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Jetzt sage ich Ihnen mal etwas voraus. Vizepräsidentin Claudia Roth: Aber bitte kurz, Herr Minister. Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und Energie: Entschuldigung, ja. Vizepräsidentin Claudia Roth: Sie haben das Recht, zu reden, aber wenn Sie als Abgeordneter sprächen, hätte ich Sie schon lange unterbrochen. Also letzter Gedanke, allerletzter Gedanke! Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und Energie: Ich will nur einen Satz hinzufügen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Ja, einen Satz. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Dann soll die Frau Höhn verzichten, weil da kommt eh nichts bei rum! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gegenruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein schöner Beitrag! Den greife ich gleich mal auf!) Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und Energie: Vor zehn Jahren haben die Umweltverbände, die Gewerkschaften und die Zivilgesellschaftsorganisationen die Europäische Union aufgefordert, keine reinen Freihandelsabkommen mehr abzuschließen, sondern Abkommen, in denen all das drinsteht, was hier jetzt drinsteht. Nach dem, was die Europäische Union jetzt dabei erlebt, besteht die große Gefahr, dass alle kommenden Abkommen wieder nur ganz normale Freihandelsabkommen sind, ohne jede Regelung für die Globalisierung. Ich finde, diejenigen, die das, was hier drinsteht, so heftig kritisieren, sollten eine Sekunde überlegen, ob das nicht eine viel größere Gefahr ist. CETA ist ein exzellentes Abkommen. Und deswegen habe ich aus großer Überzeugung zugestimmt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Sigmar Gabriel. – Nächste Rednerin: Bärbel Höhn, Bündnis 90/Die Grünen. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke schön. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich greife gerne die Argumente des Ministers Gabriel auf. Zunächst aber zum Zwischenruf von Herrn Pfeiffer, der gesagt hat: Reden Sie ruhig weiter, Herr Gabriel, auf Frau Höhn können wir verzichten. – Das ist genau die Argumentation, die Herr Gabriel eigentlich angegriffen hat. Er hat gesagt: Lasst uns sachlich miteinander diskutieren, ohne Panikmache, ohne Angstmache – das haben Sie uns immer vorgeworfen –, und das sollte auch für die CDU gelten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Seit Jahren machen Sie Panik! – Peter Beyer [CDU/CSU]: Überraschen Sie uns mal!) Ich will auf die Beiträge der Redner der CDU, von Herrn Lämmel und Herrn Heider, eingehen. Was sagte Herr Lämmel? Er hat von einem „unwürdigen Gerangel um dieses Freihandelsabkommen“ gesprochen. Ich sage: Daran wird deutlich, wie wichtig die Vorsorge ist. Sie sind nämlich verantwortlich für den Vertrag, der zwischen 2009 und 2013 verhandelt worden ist. Damals war eine schwarz-gelbe Koalition an der Regierung. Sie haben das Mandat an die EU-Kommission gegeben nach dem Motto: Verhandelt den Freihandelsvertrag, verhandelt neoliberal, und kümmert euch nicht um Umwelt- und Verbraucherschutz und soziale Aspekte. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dadurch ist das Problem entstanden, das wir mittlerweile mit diesen Verträgen haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Was hat das mit seriöser Argumentation zu tun?) – Das war überhaupt nicht seriös von Ihnen. Sie sollten sich an diesem Punkt einmal überlegen, ob es nicht sehr viel sinnvoller gewesen wäre, zu sagen: Bei Freihandelsabkommen gibt es auch Verlierer, übrigens auch Verlierer in Ihren Reihen. Das sind zum Beispiel die Bauern, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie waren Verlierer, als Sie regiert haben!) und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks. Kanada hat das sehr deutlich gemacht; die sind sehr viel klüger als Sie. Sie haben bei TPP gesagt: Wir sorgen für einen Ausgleich für die Bauern, weil sie die Opfer sein werden. Auch die Handelskommissarin Freeland sagt: Ja, natürlich, bei CETA werden die Bauern die Verlierer sein. Deshalb sorgen wir für einen Ausgleich. – Sie selber reden nicht über die Verlierer dieses Freihandelsabkommens, und das ist ein schwerer Fehler, den Sie da machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Minister Gabriel hat eben gesagt, er habe alles durchgesetzt, was es an Auflagen gab. Schauen wir uns das doch einmal an. Kann ein Mann wie Minister Gabriel eigentlich ein guter Sachverwalter zum Beispiel der Auflagen des SPD-Konvents sein? Als Parteivorsitzender muss er die Auflagen umsetzen, aber gleichzeitig ist er Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler in einer Koalition, die dieses Freihandelsabkommen unbedingt will. Deswegen muss man sagen: Er ist nicht wirklich vertrauenswürdig, um das umzusetzen. (Beifall des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] – Widerspruch bei der SPD – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Was ist das denn? Ich fasse es nicht! – Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Er kriegt es trotzdem hin!) Gucken wir uns die einzelnen Punkte an. Was ist auf dem SPD-Konvent beschlossen worden? Es wurde eindeutig beschlossen, dass es im Europäischen Parlament einen sehr weitgehenden Diskussionsprozess über diese Verträge geben soll, auch inhaltlich. Was ist passiert? Kurze Zeit nach dem SPD-Konvent beschließt der Handelsausschuss des Europäischen Parlaments den restriktiven Zeitplan für die Verabschiedung von CETA, und das so eng, dass eine intensive Befassung nicht möglich ist. Welche Abgeordneten haben das beschlossen? Liberale, konservative und Sozialdemokraten. Das ist das Gegenteil von dem, was der Konvent beschlossen hat, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Schauen wir uns das EU-Vorsorgeprinzip an; Minister Gabriel hat es eben noch einmal sehr deutlich dargelegt. Wo steht das? Das steht in der gemeinsamen Auslegungserklärung. Und wie steht es darin? Die Formulierung lautet: Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten und Kanada bekräftigen ihre Verpflichtungen im Hinblick auf die Vorsorge, die sie im Rahmen internationaler Übereinkommen eingegangen sind. Das ist das Gegenteil davon, die Vorsorge zu verteidigen. Das sind genau die Formulierungen, die wir im CETA-Vertrag immer wieder kritisieren; denn die internationalen Abkommen, auf die hingewiesen wird, haben eben nicht das Vorsorgeprinzip der EU zum Gegenstand, sondern dahinter steckt ein wissenschaftsbasiertes Risikoprinzip, das uns genau die Probleme macht, die dazu führen, dass Gentechnikprodukte zunehmend unkontrolliert importiert werden müssen. Das wird hier sogar noch bestätigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht! Darüber entscheiden die Mitgliedstaaten!) Es hat eine Verschlechterung der Vereinbarungen gegeben durch das, was Herr Gabriel versucht hat zu verhandeln. (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Postfaktisch argumentieren Sie! Kontrafaktisch!) Von daher sage ich sehr klar und deutlich: Wir reden über eine vorläufige Anwendung. Aber, wie Herr Heider so schön gesagt hat: Ja, in anderen Fällen wird eben 47 Jahre lang vorläufig angewendet. – Das heißt doch: Sie haben offensichtlich jetzt schon den Plan, das nicht im Bundestag verabschieden zu lassen. (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Das ist doch wilde Spekulation, was Sie hier vortragen! Ihnen schwimmt gerade der letzte Strohhalm weg!) So können Sie das Abkommen mit Kanada 47 Jahre lang vorläufig anwenden, und der Bundestag würde darüber nicht entscheiden. – Das geht nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was Sie hier machen, bedeutet eine vorläufige Anwendung, ein Living Agreement am Bundestag vorbei. Deshalb lehnen wir diese vorläufige Anwendung ab, ebenso wie den CETA-Vertrag. Wenn Sie wirklich Veränderungen am Vertrag erreicht hätten, wenn Sie wirklich all diese Punkte in den Vertrag hineingeschrieben hätten, dann wäre das ein verbessertes Abkommen; (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wir sind aber zufrieden! Wir wollen es so!) aber so ist es weiterhin ein schlechtes Abkommen, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Das einzig Schlechte war Ihre Rede!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Bärbel Höhn. – Nächste Rednerin: Barbara Lanzinger für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger! Wir bereden CETA momentan in nahezu jeder Sitzungswoche im Bundestag. Heute reden wir über die Umsetzung der Auflagen des Bundesverfassungsgerichts, über Verfahrensfragen, über Detailfragen. Den Menschen CETA zu erklären – das habe ich beim letzten Mal schon gesagt –, halte ich grundsätzlich für richtig und wichtig. Ich stelle aber infrage, dass Sie das wirklich wollen. In der Diskussion mit Ihnen drehen wir uns ständig im Kreis. Sie sind dagegen, um dagegen zu sein – fernab von der Realität, fernab von dem, was ausverhandelt worden ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich habe bei Twitter gelesen, dass die Linken-Chefin, Katja Kipping, davon spricht, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil zum „Handlanger“ von Großkonzernen mache. Dazu muss ich sagen: Das zeugt von einem sehr gefährlichen Verständnis von der Bedeutung unseres Rechtsstaates. Sie spricht von „Klassenjustiz“. Dazu sage ich: Das ist Parteikaderschulungssprache pur. – Das geht so nicht! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dass Sie mit Ihrer Fundamentalopposition Schaden anrichten, hat das Bundesverfassungsgericht eigentlich bestätigt. Die Ablehnung der Eilanträge begründet das Bundesverfassungsgericht folgendermaßen: Ein Scheitern von CETA hätte weitreichende negative Auswirkungen auf die Verhandlungen und den Abschluss künftiger Außenhandelsabkommen und insgesamt auf die Stellung der EU und somit auf die Stellung Deutschlands in der Welt. – Kurz gesagt: Wenn CETA scheitert, lacht die ganze Welt über uns. Wenn wir nicht einmal in der Lage sind, mit Kanada ein Freihandelsabkommen abzuschließen – das wurde heute schon ausgeführt –, isolieren wir uns politisch und wirtschaftlich. Das Vertrauen in Deutschland und Europa als Handels-, als Vertrags- und als politischer Partner wäre erschüttert, und das, obwohl CETA eines der ausgewogensten und modernsten Handelsabkommen ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Langsam sollte die Linke wissen, wie gefährlich eine derartige Fundamentalopposition ist. Es geht doch nicht darum, dass Sie Kritik üben. Es geht auch nicht darum, dass Sie das Ganze vor dem Bundesverfassungsgericht vorbringen – das ist demokratisch und legitim. Es geht um die Art und Weise, wie Sie Kritik üben und aufwiegeln. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das sprechen wir aber nicht mit Ihnen ab!) Das schadet – das habe ich beim letzten Mal ganz deutlich gesagt – unserer Demokratie und dem Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie sind dagegen, um dagegen zu sein – fernab von Fakten. Das schürt Misstrauen. Dieses Misstrauen ist unbegründet. Unser Ziel war es nie, ein Freihandelsabkommen auf Biegen und Brechen umzusetzen. Frau Höhn, Sie haben vorhin die Einführung der Gentechnik angesprochen. Das ist gesetzlich geregelt, und es steht ganz klar drin, dass alles, was gesetzlich geregelt ist, nicht angetastet wird. Sie können das hier nicht einfach so sagen. Das kann man nicht so stehen lassen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie doch einfach mal den Vertrag! – Gegenruf des Abg. Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Lesen Sie doch mal die Gesetze!) Bereits seit 2009 laufen im Auftrag der EU-Mitgliedstaaten die Verhandlungen zwischen der Kommission und Kanada. Das sind intensive Auseinandersetzungen. Ich denke, es liegt – ich sage es noch einmal – eines der modernsten und zukunftsfähigsten Freihandelsabkommen vor. CETA ist mehr als ein Wirtschaftsabkommen zum Abbau von Zöllen; Kollege Westphal hat es gesagt. Durch CETA haben wir die Chance, die Globalisierung in unserem Sinn ausgewogen zu gestalten, unsere Standards zu setzen. CETA ist die Grundlage für einen Welthandel mit nachhaltigen, fairen Regeln und hohen Sozial- und Umweltstandards. Das positive Urteil des Bundesverfassungsgerichts stärkt das Vertrauen der Bevölkerung in unseren deutschen Rechtsstaat, in seine demokratisch gewählten Repräsentanten, in den Bundestag sowie in die Europäische Union. Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht eigentlich das bestätigt, was schon Fakt ist: Die demokratische Beteiligung von Bundesregierung und Bundestag, auch an der Arbeit der CETA-Ausschüsse, ist jetzt schon nach dem EUZBBG gegeben, wir hätten eine entsprechende Regelung also überhaupt nicht mehr gebraucht. Weltweit wird momentan eine Vielzahl solcher Abkommen verhandelt. Zum Schluss: Die Welt wartet nicht auf uns. Wir müssen der Taktgeber sein. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Der Welt? Toll!) Wir müssen der Taktgeber in der Globalisierung sein und einen gesunden, lebbaren Rahmen vorgeben. Wir können nicht abwarten, dass andere über uns entscheiden, sondern wir sollten selbst entscheiden und gestalten. Ich entscheide gerne selbst und lasse ungern über mich entscheiden. In diesem Sinne hoffe ich, dass am 27. Oktober dieses Abkommen zur Unterschrift kommt und in Kraft gesetzt wird. Danke schön fürs Zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Barbara Lanzinger. – Nächste Rednerin: Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Nina Scheer (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst eine Feststellung treffen: Ich registriere, dass die Opposition versucht, eine Geschichte der Blamage zu schreiben, allerdings leider auch, dass unser Koalitionspartner eine Geschichte der Gleichgültigkeit schreibt, einer Gleichgültigkeit gegenüber dem, was wir in der Gesellschaft und im Parlament verändern können und müssen. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Abwegig!) Ich möchte Frau Lanzinger gern hiervon ausnehmen. Wir haben in vielerlei Hinsicht gut zusammengearbeitet, aber das, was ich ansonsten bisher parlamentarisch von unserem Koalitionspartner an Änderungswünschen erfahren habe, das finde ich besorgniserregend; (Heiterkeit bei der CDU/CSU) denn damit werden viele Chancen in der Demokratie vertan. Die SPD hingegen schreibt seit nunmehr über zwei Jahren im Fall von TTIP und CETA – auch vorher gab es schon kritische Auseinandersetzungen – ganz konkret eine Geschichte der System- und Prozessverantwortung. (Beifall bei der SPD – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Worauf will sie hinaus?) Meine Partei hat schon mit dem Konventbeschluss 2014 rote Linien aufgezeigt. (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht eingehalten!) Danach kam im letzten Dezember der Bundesparteitagsbeschluss, und jetzt wurde erneut mit einem Konventbeschluss ganz klar aufgezeigt, wie der Prozess bei Freihandelsabkommen zu gestalten ist. (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieder nicht eingehalten!) Dadurch ist ganz klar erkennbar geworden, dass man – auch in Reaktion auf die öffentliche Diskussion – wahrgenommen hat, dass die Zeit des Liberalismus in der Handelspolitik vorbei ist und man sich vom reinen Freihandel zu einem verantwortungsbewussten Handel, einem Fairhandel bewegt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Genau das hat auch der SPD-Konventbeschluss anhand von Kriterien klar formuliert, und siehe da: Auch die Stellungnahme des Deutschen Bundestages hat das in wichtigen Punkten mit aufgenommen, und ich bin erstaunt, dass so etwas dann teilweise hier von unserem Koalitionspartner unterschlagen wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie halten ihn nicht ein! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was landet denn im Vertrag?) – Was landet nun im Vertrag? Frau Höhn, Sie haben es ganz richtig angesprochen. Insofern muss man auch hier sagen: Prozessverantwortung heißt, dass man tatsächlich wahrnimmt und aufnimmt, was in der Diskussion ist, und in der kurzen Zeit, die zwischen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und den angesetzten Entscheidungen verbleibt, das Beste daraus macht. Aber auch darüber hinaus kann man noch etwas tun. Wenn man auf die Auslegungserklärung blickt, so muss man zum Beispiel konstatieren, dass darin ein Satz steht, dass CETA nicht dazu führen werde, dass ausländische gegenüber einheimischen Investoren begünstigt werden. Das ist zum Beispiel eine Sache, die vom Bundesverfassungsgericht in der jetzigen Entscheidung nicht vorgegeben worden ist. Es ging dabei ja um eine einstweilige Anordnung und nicht um eine Entscheidung in der Hauptsache. (Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das ist ganz klar ein Zeichen dessen, dass wir uns hier fortbewegen und uns kritisch mit den betreffenden Fragen auseinandersetzen, die wir auch schon vielfach diskutiert haben, und dass sie Stück für Stück, sukzessive Einzug in das Vertragswerk halten. Diese Auslegungserklärung ist Bestandteil des Vertrages. Sie ist gemäß der Wiener Vertragsrechtkonvention gleichwertig bindend wie der Vertragstext. Auch wenn der Vertragstext selber hierdurch nicht geändert wird, ist die Verbindlichkeit gleichwertig. Insofern, finde ich, ist das hier nicht zu unterschätzen. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich sagen – und das gehört zur Prozessverantwortung, die die SPD mit ihrem Konventbeschluss ganz deutlich unterstrichen hat; dieser ragt auch über den heutigen Zeitpunkt hinaus –: Wir sehen eben jetzt die Stunde der Parlamente. Das haben wir so formuliert. Ich zitiere aus dem Konventbeschluss: Jetzt muss die Stunde der Parlamente kommen. Sie müssen ausführlich beraten und umfassend prüfen, inwieweit CETA die Ansprüche an eine fortschrittliche Handelspolitik erfüllt. Wenn wir jetzt aber einfach behaupten, das alles sei nicht hinreichend, dann geben wir auch ein Stück weit Deutungshoheit ab. Aber warum? (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum stimmen Sie denn im Europäischen Parlament dem Zeitplan zu? Das ist das Gegenteil des Konventbeschlusses!) Wir müssen die Forderungen, die wir im Gepäck haben, den Auftrag der Gesellschaft an uns Parlamentarier ernst nehmen und in die nächsten Prozesse einbringen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) das heißt für mich auch in die Ratifikationsprozesse. Teilweise wird unterstellt, dass das nicht ginge, dass es ausverhandelt sei. Das Europaparlament könne nur noch mit dem Daumen nach oben oder nach unten zeigen. Es gibt völkerrechtliche Ausführungen zu diesem Thema – diese finde ich sehr glaubhaft –, zum Beispiel von Herrn Professor Stoll, der ausdrücklich darauf verweist, dass im Zusammenhang mit NAFTA im Rahmen von Zusatzprotokollen und Zusatzerklärungen – das ist damals unter Clinton passiert – auch im Nachhinein Vereinbarungen getroffen wurden. Solche Vereinbarungen müssen dann natürlich durch die Vertragspartner abgesegnet werden. Somit können sehr wohl auch nach den ersten formalen Schritten im Ratifikationsprozess noch Änderungen vorgenommen werden. Insofern sollten wir uns an dieser Stelle nicht unsere Möglichkeiten nehmen, indem wir ständig behaupten, das sei jetzt alles abgeschlossen, sondern wir sollten die nächsten Schritte, die bevorstehen, tatsächlich nutzen, um das veränderte Verständnis in der Bevölkerung über das, was in Handelsverträgen stehen muss, aufzunehmen und in CETA zu übertragen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Dr. Nina Scheer (SPD): Ich bin beim letzten Satz. – Wir werden danach sehen, zu was das geführt hat. Ich hoffe und bin fest davon überzeugt, dass die Parlamente da gute Arbeit leisten werden und verantwortlich mit den Fragen der Zeit umgehen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Nina Scheer. – Nächster Redner: Peter Beyer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Peter Beyer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab: CETA ist technisch bereits vor zwei Jahren zu Ende verhandelt worden. Das kann man einmal sacken lassen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Exakt! Darum sind Sie auch dafür verantwortlich in Ihrer Koalition!) Es ist gut, dass jetzt Zusatzvereinbarungen, Zusatzerklärungen bezüglich der Bereiche Investitionsschutz, Arbeitnehmerrechte, öffentliche Dienstleistungen usw. den Vertragstext begleitend hinzugekommen sind, die klarstellende Funktion haben und gleichwohl rechtsverbindlich sind. Das ist gut so. Gut ist aber auch, dass das Bundesverfassungsgericht ganz klar gesprochen hat. Sämtliche Eilanträge in Sachen CETA sind am 13. Oktober erfolglos geblieben. Das ist eine krachende Niederlage vor dem Bundesverfassungsgericht, unter anderem auch für die Linksfraktion, die in Prozessstandschaft dort agiert hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Bundesverfassungsgericht hat damit auch ganz klar der Chance den Weg bereitet, die Globalisierung endlich mit Regeln zu bedenken bzw. entsprechende Regeln zu setzen. Die Bedingungen, die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts sind folgende: Erstens. Es ist sicherzustellen, dass ein Ratsbeschluss über die vorläufige Anwendung nur Bereiche umfassen wird, die in die Zuständigkeit der EU fallen. Zweitens. Bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache sollen die EU-Mitgliedstaaten ausreichenden Einfluss auf die Beschlüsse des CETA-Ausschusses bekommen. Drittens. Die Bundesregierung erklärt, dass sie die vorläufige Anwendung beenden kann, wenn die Ratifizierung hier bei uns in Deutschland – das mögen Gott und wir alle verhindern – scheitern sollte. Diese Vorgaben, insbesondere die ersten beiden, sind wenig überraschend und ohnehin bereits vereinbart oder auch in Gesetzeswerken geregelt. Hinsichtlich der dritten Auflage des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Möglichkeit einer einseitigen Beendigung der vorläufigen Anwendbarkeit ist zu sagen, dass diese ohnehin erst nach Zustimmung des Europäischen Parlaments zu CETA eintreten wird. Es entspricht doch gängiger Praxis, die Zustimmung des Europäischen Parlaments erst abzuwarten, bevor politisch bedeutsame Freihandelsabkommen wie CETA vorläufig angewendet werden. Dies verschafft den Abkommen die erforderliche demokratische Legitimation auf EU-Ebene. Mit Blick auf die Linksfraktion muss man sich wirklich die Frage stellen, wie sie sich zu dem europäischen Projekt, zu Europa insgesamt stellt. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das habe ich aber deutlich gesagt!) Sprechen Sie den Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament allen Ernstes die demokratische Legitimation und auch die demokratische Kompetenz und Fähigkeit ab, Entscheidungen zu treffen? Ich hoffe, dass das nicht so ist, meine Damen und Herren. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann sprechen wir doch dem Europäischen Parlament ein Initiativrecht zu! Sie schaffen es doch nicht, dem Europäischen Parlament ein Initiativrecht zu geben!) Die vorläufige Anwendung könnte somit – das ist meine Hoffnung und auch meine Zuversicht – in der ersten Hälfte des Jahres 2017 wirksam werden. Ich bin zuversichtlich, dass das bis Ende dieses Monats, bis zum EU-Kanada-Gipfel am 27./28. Oktober, stattfinden wird und es dann eine Unterschriftsleistung geben kann. Was die Obstruktionshaltung im Regionalparlament der Wallonie in Belgien anbelangt, glaube ich schon, dass gute Argumente auch die Kolleginnen und Kollegen dort von CETA überzeugen werden, sodass man die Haltung, die man im Moment noch hat, aufgibt und diesem Abkommen dann nicht mehr im Wege stehen wird. In den Erwägungsgründen des Bundesverfassungsgerichts heißt es, es sei naheliegend – naheliegend! –, dass sich ein Verbot der Unterzeichnung von CETA durch die Bundesregierung negativ auf die europäische Außenhandelspolitik und die internationale Stellung der Europäischen Union insgesamt auswirken würde. Das Bundesverfassungsgericht führt dann weiter aus, die zu erwartende Einbuße an Verlässlichkeit sowohl der Bundesrepublik Deutschland als auch der EU insgesamt könne sich dauerhaft negativ auf den Handlungs- und Entscheidungsspielraum aller europäischen Akteure bei der Gestaltung der globalen Handelsbeziehungen auswirken. Meine Damen und Herren, wir sollten uns klarmachen, dass es längst nicht mehr um einen Streit über völkerrechtliche Abkommen zwischen zwei Staatengebilden geht, sondern es geht um die Glaubwürdigkeit der EU insgesamt. Kommt zu der Euro-Krise und zu der Migrationskrise auch noch eine veritable Handelskrise hinzu, die letztlich den Wohlstand, den wir hier in Deutschland und in anderen Teilen Europas genießen können, leichtfertig und völlig unnötig aufs Spiel setzt? Das kann nicht im Interesse der europäischen Bürgerinnen und Bürger sein, meine Damen und Herren. Ich schließe mit einer Bemerkung der EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström, die zu Recht gesagt hat: Wenn es uns nicht gelingt, mit dem proeuropäischsten Land der Welt, mit dem wir auch in anderen Bereichen wie beim Klimaschutz oder bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise sehr eng zusammenarbeiten, ein Freihandelsabkommen abzuschließen, werden sich die anderen Staaten auf der Welt fragen, ob die EU überhaupt noch ein verlässlicher Partner für uns ist. – In so einer Welt, in so einem Europa und auch in so einem Deutschland möchte ich nicht leben und dort Abgeordneter sein. Deswegen halte ich es für unsere Aufgabe als verantwortungsbewusste Politiker, den Weg freizumachen und die Freihandelsabkommen zu unterstützen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Peter Beyer. – Nächster Redner: Dirk Wiese für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dirk Wiese (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach drei Jahren Debatte – wir haben hier im Plenum des Deutschen Bundestages und in den Ausschüssen sehr oft über dieses Thema diskutiert – muss man feststellen: Die SPD hat in diesem Prozess gestaltet, mitgewirkt und viel erreicht. Darauf können wir bis zum heutigen Tage stolz sein. (Beifall bei der SPD) Meine Kollegin Nina Scheer hat gerade deutlich gemacht: Es geht weder heute noch morgen um den Abschluss dieses Abkommens, sondern wir befinden uns in einem Prozess. Dieser Prozess dauert noch an. Wir als Deutscher Bundestag – auch daran will ich erinnern, weil ich mir nicht ganz sicher bin, dass der Kollege Pfeiffer das gelesen hat – haben eine gemeinsame Stellungnahme auf den Weg gebracht. In dieser Stellungnahme heißt es: Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über seine Zustimmung zu CETA entscheiden. Das passiert hier und heute noch nicht; darauf will ich hinweisen. Ich will auch deutlich machen, dass eine Unterzeichnung am 27. Oktober dieses Jahres nicht dazu führt, dass das Abkommen vorläufig in Kraft tritt, sondern dafür bedarf es der Zustimmung des Europäischen Parlaments. Das heißt, der Prozess ist noch in vollem Gange. Daran werden wir als SPD nach wie vor aktiv mitwirken und uns einbringen. Zum zweiten wichtigen Punkt, den ich anmerken möchte; da bin ich Frau Lanzinger dankbar, dass sie ihn angesprochen hat. Lieber Kollege Klaus Ernst, wir sind in dieser Angelegenheit ja durchaus unterschiedlicher Auffassung, und wir diskutieren auch des Öfteren darüber. Natürlich sind am Ende immer alle Gewinner; das ist in Debatten nun einmal so, und das kennt man ja. Aber man kann sich nicht hier hinstellen und das Bundesverfassungsgericht loben, wenn man eine Parteichefin hat, die am Tag der Urteilsverkündung davon gesprochen hat, hier handele es sich um „Klassenjustiz“. Das geht nicht. Das ist eine Missachtung des Bundesverfassungsgerichts, die man nicht hinnehmen kann. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich muss auch sagen – das gilt jetzt nicht für die Fraktion der Linkspartei, sondern für den Kollegen Diether Dehm –: Wenn man in einem Nebensatz die richterliche Unabhängigkeit der Richter des Bundesverfassungsgerichts hier infrage stellt, dann zeigt das, welch merkwürdiges Verständnis man hat. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das habe ich so nicht gemacht! Ich habe nur Tatsachen erwähnt!) Ich muss Ihnen auch deutlich sagen: Zu Teilen Ihrer Rede, die Sie hier heute gehalten haben, hätte Ihnen die FPÖ im österreichischen Parlament applaudiert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Mark Hauptmann [CDU/CSU]: So ist es! Ganz eng beieinander!) Ich komme zu dem nächsten Punkt, der angesprochen worden ist. Wir hören momentan viele Stimmen, die sagen, der Ratifizierungsprozess, den wir jetzt im Rahmen eines gemischten Abkommens haben, wäre nicht richtig. Möglicherweise werde die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union infrage gestellt. – Ich will deutlich sagen – denn wir werden auch zukünftig an vielen Stellen über Freihandelsabkommen sprechen; Handlungsmandate sind in anderen Bereichen schon auf den Weg gebracht worden –: Wenn juristisch ein gemischtes Abkommen vorliegt – und das ist bei CETA der Fall; der Kollege Pfeiffer hat das lange abgelehnt und wollte nicht, dass sich der Deutsche Bundestag damit beschäftigt –, dann haben wir als nationales Parlament das Recht und die Pflicht, uns mit diesem Abkommen auseinanderzusetzen und letztendlich darüber zu entscheiden, ob es in Kraft tritt. Frau Künast, Sie haben vorhin den Zwischenruf gemacht, wenn ich es richtig gehört habe, dass Herr Minister Gabriel die Bedeutung eines Regionalparlaments infrage stellen würde. So habe ich Sie vernommen. Jetzt zitiere ich mal den grünen Europaabgeordneten Sven Giegold, der getwittert hat: […] unerfreuliche Hürde für Europas Handlungsfähigkeit. Regionalparlamente dürfen den Rat nicht blockieren! Wenn es zukünftig die Position der Grünen im Europaparlament ist, (Zuruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dass der Ratifizierungsprozess im Rahmen eines gemischten Abkommens infrage gestellt wird, dann kann ich nur sagen, dass der Kollege Giegold hier falschliegt. Das ist nämlich schädlich für die Demokratie, wenn man das an diesem Punkt missachtet. (Beifall bei der SPD) Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Die Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil gegeben hat und die uns jetzt vorliegen, sind durch die Maßnahmen, die die Bundesregierung an diesen Punkten ergriffen hat, eingehalten. Lieber Kollege Klaus Ernst, ich räume ja gerne an einigen Punkten ein: zwei Juristen, drei Meinungen. Das sind manchmal Punkte, die man nicht lösen kann. Ich räume auch gerne ein: Man holt immer das Gutachten ein, in dem letztendlich seine Meinung vertreten wird. Aber man muss ganz deutlich sagen: Das, was das Bundesverfassungsgericht auf den Weg gebracht hat, ist durch das, was die Bundesregierung und Sigmar Gabriel jetzt vorangebracht haben, abgesichert. Da kann ich nur sagen: Die Hausaufgaben sind erledigt worden. Frau Höhn hat das Vorsorgeprinzip angesprochen. Dazu gibt es auch zwei Juristen, drei Meinungen und eine Vielzahl von Gutachten. Aber Sie können nicht verhehlen, dass es eine Vielzahl von Stimmen gibt, die eindeutig sagen, dass das Vorsorgeprinzip in CETA abgesichert ist, dass es nicht infrage gestellt wird. (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: So ist es!) Es ist zwar nicht Ihre Meinung, aber Sie müssen respektieren, dass es Stimmen gibt, die eindeutig sagen, dass es abgesichert ist. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es immer!) Wenn Sie hier sagen, die Grünen werden diesem Abkommen nicht zustimmen, dann bin ich gespannt, was Winfried Kretschmann macht. Aus sozialdemokratischer Sicht ist Handelspolitik insbesondere mit Blick auf die Arbeitsplätze in einer exportorientierten Wirtschaft wichtig. Dass den Grünen Arbeitsplätze nicht so wichtig sind, das hat man ja an den Ausführungen von Frau Dröge zu Kaiser’s Tengelmann gesehen. (Beifall bei der SPD) Uns Sozialdemokraten sind Arbeitsplätze wichtig. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Wiese. – Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist Mark Hauptmann für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Mark Hauptmann (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mir obliegt jetzt die Aufgabe, das zusammenzufassen, was zwölf Kollegen vor mir in diese Debatte eingeworfen haben. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Nein!) Man ist ja mittlerweile schon daran gewöhnt, dass wir CETA in diesem Hohen Hause diskutieren, im Regelfall alle zwei Wochen. Man vermisst es geradezu, wenn es mal nicht auf der Tagesordnung steht. Aber wir dürfen doch jetzt festhalten, dass wir nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Situation haben, dass sich auf EU-Ebene die Handelsminister einig sind, dass CETA in Zukunft den Handel zwischen Europa und Kanada regeln soll. Auf Bundesebene hat Sigmar Gabriel die Vorbehalte auch der SPD entkräften können. Die Union hat hier nie gezweifelt. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das stimmt, dass die Union nie zweifelt!) Jetzt haben wir die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, sodass auch die Bundesregierung bei CETA zustimmen darf. Herr Dehm, Sie haben ja gesagt, Sie hätten sich dieses Urteil angeschaut. Die zwei entscheidenden Worte dieses Urteils haben Sie aber nicht verstanden, nämlich: „Antrag abgewiesen“. Wir können hier jetzt festhalten, dass die Judikative, die Exekutive und große Teile der Legislative an diesem Abkommen nicht nur festhalten, sondern damit auch die Globalisierung gestalten wollen. Ich möchte hier explizit noch einmal auf die Argumente unserer Kollegen der Grünen und der Linken eingehen: Zum Ersten. Das Duo Infernale der deutschen Empörungsindustrie, die Kollegen Ernst und Dehm, sprechen von Klassenjustiz und davon, dass sie die Klagen so lange weiter fortführen werden, bis sie ein ihnen genehmes Urteil erreicht haben. Das zeigt mir erstens, dass sie keine Achtung vor den deutschen Gerichten haben – noch nicht einmal vor dem höchsten deutschen Gericht –, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wie Sie mit diesen Dokumenten umgehen, zeigt, dass Sie keine Achtung haben – auch nicht vor dem Parlament!) und zweitens, dass sie den wirtschaftspolitischen Sachverstand einer Schnecke in einem Formel-1-Rennen haben; denn Sie; Herr Dehm, haben hier gesagt, dass die Exporte und das Handelsvolumen doch anwachsen. Sie haben sich aber immer wieder in Ihr Schneckenhäuschen zurückgezogen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sehr komisch!) Was Sie nicht verstehen, ist, dass sich die Dinge in einer globalisierten Welt ändern, dass asiatische Länder untereinander Freihandelsabkommen schließen, dass die Amerikaner mit Asien Freihandelsabkommen geschlossen haben, dass wir aktuell in einer Situation sind, in der wir die zukünftigen Regeln des Freihandels auf dieser Welt gestalten und die Standards für diese Regelungen setzen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Hauptmann für alles!) Sie verschließen sich diesen Tatsachen hier einfach und träumen letztendlich vor sich hin. Zum Zweiten, zu meinen Kolleginnen Höhn und Dröge. Frau Dröge, Sie haben zunächst gesagt, die Beteiligungsrechte würden hier nicht gewahrt. – Wir waren gestern im Ausschuss, und der Staatssekretär hat das Verfahren erläutert. Was bedeutet es, wenn wir aktuell verhandeln und gleichzeitig die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts umsetzen, das Parlament informieren, darüber debattieren und im Ausschuss Auskünfte geben? (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie mal das Gesetz! – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt!) Hier sind wir also doch gut informiert. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Konsensbeschluss!) Das zweite Argument von Ihnen war, dass wir eine Arroganz der Macht hätten, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) es werde supernational verhandelt. Wir verhandeln gar nicht. Die Bundesregierung verhandelt gar nicht. Kommissarin Malmström und die EU-Kommission verhandeln. (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um den Umgang mit uns!) Diese Prozesse und die Tatsache, wer dafür zuständig ist und wer nicht, müssen Sie hier doch einfach einmal akzeptieren. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen doch die Vorgaben! Bei den CO2-Emissionen war das anders! Da hat Merkel sich eingemischt!) Der dritte Punkt, den Sie angesprochen haben, war, wir hätten in dieser Debatte nichts erreicht. Machen Sie hier doch nicht den Fehler der Linken! Kriechen Sie doch nicht auch noch in Ihr Schneckenhäuschen hinein, und verzwergen Sie sich nicht selbst! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie haben in dieser Debatte doch einiges erreicht. Es wurde doch erreicht, dass das Verfahren, das seit über zwei Jahren formell technisch abgeschlossen ist – der Kollege Beyer hat es erwähnt –, in den letzten Wochen noch einmal angepasst wurde, sodass wir das, was uns Karlsruhe mit auf den Weg gegeben hat, auch umsetzen. Das haben wir doch erreicht! Von daher glaube ich – auch aufgrund des grünen Lichts aus Karlsruhe –, dass wir jetzt einen guten Weg gefunden haben, um dieses Freihandelsabkommen abzuschließen. In der Begründung dafür, warum Ihre Anträge abgelehnt wurden, heißt es, es „drohten der Allgemeinheit mit hoher Wahrscheinlich schwere Nachteile“. Man könnte das auch anders ausdrücken: Wer sich gegen freien und fairen Handel verwehrt, wie Sie es hier in diesem Haus tun, der schadet auch der Allgemeinheit. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist jetzt Gauland!) Für uns in der Unionsfraktion ist es nichts Neues, dass Sie auch der Allgemeinheit schaden, aber das ist hiermit von höchster juristischer Stelle letztendlich auch noch einmal bestätigt worden. Ich glaube, wir sollten uns darauf konzentrieren, was CETA durch neue Maßstäbe in dieser Globalisierung bewirken wird: Erstens. Wir werden neue Märkte öffnen und bestehende Märkte vertiefen. Zweitens. Wir werden die Handelsbarrieren abbauen. Ab dem Tag, an dem CETA in Kraft tritt, werden 500 Millionen Euro an Exportkosten für die europäischen Exporteure wegfallen. Drittens. Das ist ein Konjunkturpaket für unseren Mittelstand und für Deutschland als Exportnation insgesamt, wo jeder vierte Arbeitsplatz vom Export abhängt. Das wird uns in diesem Zusammenhang sehr nützen. Wir halten die internationalen Standards – die Sozialstandards, das Vorsorgeprinzip – ein und sorgen für eine Reform der Schiedsgerichtbarkeit. Von daher bin ich der Meinung: Karlsruhe hat recht. Wir haben hier grünes Licht und können mit Stolz darauf blicken, dass wir mit CETA die Globalisierung frei und fair gestalten werden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Matthias Ilgen [SPD]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Mark Hauptmann. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich meinem Schriftführer Thomas Hitschler einen Gefallen tun. Wir achten ja darauf, dass wir hier eine gute Stimmung haben. Deswegen begrüße ich in seinem Namen recht herzlich eine Besuchergruppe aus der – das hat er mir extra aufgeschrieben – schönen Südpfalz. Herzlich willkommen. (Beifall) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften Drucksache 18/9986 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Dr. Michael Meister für die Bundesregierung. Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für die Worterteilung. – Wir wollen heute die Weiterentwicklung der Verlustnutzung für Unternehmen diskutieren. Was ist an dieser Stelle unser Problem? Wir leben in einer globalisierten Welt. Wir leben in einer digitalen Welt mit einer ungeheuren Innovationsgeschwindigkeit. Wir müssen dafür sorgen, dass Unternehmen am Standort Deutschland in der Lage sind, international wettbewerbsfähig zu bleiben, aber auch Innovationen zu entwickeln, diese zur Marktreife zu bringen und dafür die notwendige Finanzierung zu haben. Man kann dafür – das ist in Deutschland möglich – eine Fremdfinanzierung nutzen. Aber wir benötigen für diese Unternehmen natürlich nicht nur Fremdfinanzierungen, sondern auch Eigenkapitalfinanzierungen. An dieser Stelle haben wir in unserem heutigen Rechtssystem eine Konfliktlage. Wer seine Eigenkapitalfinanzierung stärken will, der hat nach dem bestehenden § 8c Körperschaftsteuergesetz ein Problem: Wenn die Stärkung des Eigenkapitals, etwa durch eine Kapitalaufstockung, zu einem Anteilseignerwechsel oder zu Anteilsveränderungen führt, dann fallen die Verlustvorträge bei über 25 Prozent Anteilseignerwechsel anteilig und bei über 50 Prozent Anteilseignerwechsel vollständig weg. Das macht die Beteiligung für Investoren schwierig. Genau an dieser Stelle wollen wir ansetzen, um sinnvolle Investitionen in die Zukunft des Standorts und unserer Unternehmen möglich zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deshalb sagen wir, dass wir den § 8c KStG so bestehen lassen, wie er heute ist. Er bietet auch heute schon eine gewisse Flexibilität, etwa innerhalb von Konzernen, in denen das, was ich eben gesagt habe, bei Kapitalgabe in einen einzelnen Unternehmensteil nicht gilt, etwa im Bereich der stillen Reserven. Also, bis zur Höhe der stillen Reserven kann man heute schon Verluste weiter nutzen. Aber gerade bei jungen und neugegründeten Unternehmen ist es so, dass die stillen Reserven in diesem Umfang nicht vorhanden sind, stattdessen aber möglicherweise Verlustvorträge. Deshalb besteht an dieser Stelle die Notwendigkeit, zu einer Erweiterung zu kommen. Wir wollen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen § 8d im Körperschaftsteuerrecht anbieten. Dieser Paragraf legt den Schwerpunkt nicht mehr auf die Zusammensetzung der Anteilseigner, sondern darauf, dass der Geschäftsbetrieb weitergeführt wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, er ist eine sinnvolle Weiterentwicklung. Wir werden auf der einen Seite dafür sorgen, Innovation und Investition am Standort Deutschland zu ermöglichen, damit es auch in neuen Technologiebereichen zu Wachstumsentwicklungen kommt, auf der anderen Seite aber den Missbrauch, den wir vor zehn Jahren mit der Schaffung des § 8c KStG bekämpfen wollten, nicht erneut zulassen, also keinen Handel mit Verlustvorträgen. Das wollen wir eindeutig nicht. Deshalb gibt es für ein einzelnes Unternehmen die Möglichkeit, sich auf Antrag auf § 8d KStG zu berufen. Dann muss man in dem Geschäft, das man bisher betrieben hat, bleiben. Das ist im Unterschied zu § 8c KStG kein quantitatives Kriterium, sondern ein qualitatives Kriterium. Das heißt, wir schauen genau hin: Wird das Geschäft weiterbetrieben? Es kann gerne wachsen. Es kann gerne ausgedehnt werden. Aber der Geschäftszweck kann nicht verändert werden. Wir glauben, dass man damit die beiden Anforderungen zusammenbekommt, nämlich weiter Wachstum in Deutschland zu ermöglichen, aber Handel mit Verlustvorträgen weiterhin zu unterbinden. Wir wollen kein Steuergestaltungsmodell, sondern wir wollen eine vernünftige Entwicklung unserer Wirtschaft in Deutschland. Das ist unser Ziel. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich glaube, dass wir einen Vorschlag vorgelegt haben, der diese beiden Zielsetzungen gut miteinander in Einklang bringt. Ich glaube, dass die damit verbundenen Steuerausfälle gut investiertes Geld sind, weil wir natürlich die Hoffnung haben dürfen, dass vorhandene Unternehmen stärker wachsen und dass es zu Neugründungen kommt statt zum Ausverkauf guter Ideen über die Grenzen hinweg. Wenn die Ideen am Standort Deutschland realisiert werden, dann wird das auch zu zusätzlicher wirtschaftlicher Aktivität und zu neuen Steuereinnahmen führen. Deshalb ist, glaube ich, dieses Geld eine gut getätigte Investition in den Standort Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU) Da wir ein Angebot für alle Körperschaften unterbreiten, glauben wir, dass wir auch kein Problem mit dem europäischen Recht haben. In der Vergangenheit haben wir an dieser Stelle immer wieder Ideen vorgetragen, die auf spezielle Ausschnitte unserer Wirtschaft ausgerichtet waren. Diesmal wählen wir einen breiten allgemeinen Ansatz für all diejenigen, die die genannten Voraussetzungen erfüllen. Deshalb glaube ich, dass das ein guter Vorschlag ist, und ich würde mich freuen, wenn er in der Beratung breite Unterstützung bekommt. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen herzlichen Dank, Dr. Meister. – Nächste Rednerin: Susanna Karawanskij für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Finanzminister Schäuble hat in den Haushaltsberatungen angekündigt, bis 2020 die schwarze Null zu halten. Obwohl an dieser Staatsdoktrin krampfhaft festgehalten wird, werden auf einmal für 2017 Steuersenkungen versprochen. Der Finanzminister hatte zwar recht, als er sagte, dass wir in widersprüchlichen Zeiten leben, aber wir als Linke würden es gut finden, wenn das Gesagte belastbar wäre und sich nicht fünf Wochen später neue Widersprüche auftun. (Beifall bei der LINKEN) Denn nun sind Steuersenkungen geplant, und zwar nicht etwa für Privatleute – für den kleinen Mann oder die Alleinerziehende –, sondern für Unternehmen, genauer gesagt für private Investoren in sogenannte Start-ups. Das klingt erst einmal positiv und innovativ – das haben wir auch gerade von Herrn Dr. Meister gehört –, und man denkt dabei an Unternehmensgründungen: von einer Idee zur Umsetzung, wo Geldgeber entsprechend einsteigen können. Das ist auch in einigen Fällen so. Aber schauen wir uns das einmal genauer an: Start-ups machen gerade in den ersten Jahren große Verluste, und der Großteil der Start-ups überlebt die ersten Jahre gar nicht. Ein beträchtlicher Teil dieser Start-ups soll nämlich möglichst schnell hohe Profite erwirtschaften und dann, wenn die Profitaussichten gut sind – was erst einmal Spekulation ist –, an große Unternehmen weiterverkauft werden. Damit sind Start-ups eben keine gute Adresse für nachhaltiges Wirtschaften, sondern sie sind vor allen Dingen für Investoren und Wagniskapitalgeber interessant. „Venture Capital“ und „Business Angels“ sind entsprechende Stichworte in diesem Zusammenhang. Die Investoren und Wagniskapitalgeber sollen vor allen Dingen dadurch angelockt werden – neben den Profitaussichten –, dass sie ihre Verluste mit späteren Gewinnen verrechnen können. Damit müssen sie weniger Gewinne versteuern, und damit fällt auch die Körperschaftsteuer geringer aus. Nach derzeitigem Rechtsstand können noch nicht steuerlich genutzte Verluste rasch verfallen. Das wurde gerade schon gesagt. Bei einer Übertragung von 25 Prozent der Anteile geht der Verlust anteilig unter. Bei über 50 Prozent der Anteile kommt es dann zum vollständigen Untergang der vorhandenen Verluste. Diese können dem Finanzamt gegenüber nicht mehr geltend gemacht werden, wenn sich die Anteilseignerstruktur verändert. Das geschieht häufiger, weil man frisches Kapital für ein Start-up anlocken und anwerben möchte. Diese Regelung macht Sinn. Es sollen nämlich genau solche Spekulationen mit Unternehmen, die aufgrund ihrer Verluste für Investoren attraktiv werden, verhindert werden. Bei den Start-ups ist es so, dass Verluste aus den Vorjahren nicht berücksichtigt werden können, wenn ein Wagniskapitalgeber in einem bestimmten Umfang einsteigt und sich damit die Anteilseignerstruktur bedeutsam ändert. Damit sind die Start-ups uninteressanter für solche Kapitalgeber. Zukünftig sollen unabhängig von dieser Anteilseignerstruktur Verluste fortgeschrieben werden können, wenn ein – das ist die Einschränkung – seit mindestens drei Jahren bestehender Geschäftsbetrieb erhalten bleibt und eine anderweitige Nutzung ausgeschlossen ist. Der Wermutstropfen dabei ist nämlich, dass die Klauseln „bestehender Geschäftsbetrieb“ und „Ausschluss der anderweitigen Nutzung“ kaum werden verhindern können, dass Betriebe allein wegen ihrer steuerlichen Verlustverrechnung ausgeschlachtet werden. Aus meiner Sicht gestaltet sich genau diese Abgrenzung, was ein bestehender Geschäftsbetrieb ist, sehr schwierig. Aus linker Sicht muss hierbei gründlich nachgebessert werden. (Beifall bei der LINKEN) Wir haben es nicht mit einer zielgenauen Förderung von Start-ups zu tun. Denn diese neuen Regelungen gelten auch für Investitionen in bereits etablierte Unternehmen, die jetzt von der Verlustverrechnung und dem Steuersparmodell profitieren. Das hat das Finanzministerium unumwunden in der Antwort auf eine Frage zugegeben, die ich vor einer Woche erhalten habe. Es gibt eine gegen Missbrauch gerichtete Beschränkung der Verlustverrechnung bei Unternehmenserwerben gegen sogenannte Mantelverkäufe. Diese untergraben Sie mit diesem Gesetzesvorhaben selbst. Das ist im Prinzip ein Care-Paket für Geldhaie und Zocker. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Ich will ganz klar sagen: Es sind Steuermindereinnahmen oder -verluste in Höhe von 600 Millionen Euro jährlich. Allein der kommunalen Familie werden damit 235 Millionen Euro aus dem Säckel gezogen. Das machen wir von der Linken nicht mit. (Beifall bei der LINKEN – Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Eine Unverschämtheit!) Meine Damen und Herren, Sie wollen mit diesem Gesetzentwurf die Start-up- und Wagniskapitalszene fördern. Aber ebenso fördern Sie damit größere Unternehmen. Das ist tatsächlich mal wieder ein Kniefall vor der Lobby. Das Tragische ist, dass Sie eigentlich jahrelang bei den wichtigsten Start-ups in der Bundesrepublik versagen, nämlich bei den Kindern. Gerade einmal schlappe 2 Euro mehr Kindergeld soll es geben. Wagniskapitalgeber werden gleichzeitig mit Millionenbeträgen gepampert. (Zuruf von der CDU/CSU: Ei, ei, ei!) Das ist die falsche Prioritätensetzung. Wir Linke haben einen umfassenden Aktionsplan gegen Kinderarmut eingebracht, um Steuereinnahmen sozial gerechter zu verteilen. Das wäre der richtige Ansatzpunkt, anstatt weiterhin Lobbyismuspolitik zu betreiben. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Susanna Karawanskij. – Nächster Redner ist Lothar Binding für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Schönen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Stichwort „Kinder“ ist mir eingefallen, dass es heute irgendwie auch um Kinder geht. Denn die Bedeutung neuer erfindungsreicher Unternehmen, Start-Ups und Gründungen sind eigentlich die Kinder der Unternehmen, die unsere Wirtschaft und unser Land zukunftsfähig machen. Sie haben eine ganz wichtige Bedeutung. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sigmar Gabriel wird nicht müde, allen zu erklären, welche Bedeutung diese Unternehmen haben. Trotzdem haben wir ein Problem: Wie wollen wir diese von uns allen gewünschten Firmen fördern, ohne in wettbewerbsrechtliche Probleme in Europa zu geraten? Fördere ich ein innovatives Unternehmen, sagt jedes andere: Ich bin auch innovativ. – Schon handele ich wettbewerbsverletzend und europarechtswidrig. Deshalb war der Gesetzentwurf relativ kompliziert zu machen. An einigen Stellen müssen sicherlich Nachsteuerungen vorgenommen werden. Nun steht da: Wir wollen die steuerliche Verlustverrechnungsbeschränkung bei Körperschaften neu regeln. Ich frage mich, ob irgendein Bürger weiß, was „Verlustverrechnungsbeschränkung bei Körperschaften“ bedeutet. (Heiterkeit bei der SPD) Ich erkläre das an einem einfachen Bespiel. Ein Unternehmen, das 10 Millionen Euro Gewinn macht, müsste 3 Millionen Euro bezahlen. Davon fließen 1,5 Millionen Euro an die Gemeinde und 1,5 Millionen Euro an den Bund. Aber bei diesem Unternehmen gab es möglicherweise schon längst vergessene Verluste. Wenn es diese Verluste in Höhe von vielleicht 5 Millionen Euro entsprechend geltend macht, sagt das Unternehmen: Ich habe 10 Millionen Euro Gewinn, kann aber 5 Millionen Euro Verlust geltend machen. Dann habe ich nur 5 Millionen Euro Gewinn, auf den ich nur 1,5 Millionen Euro Steuern bezahlen muss. – So sieht man: Alte Verluste sparen Steuern in der Zukunft. Das wollen wir nicht. Deshalb brauchen wir ein Gesetz, das diesen Effekt verhindert. Wir reden jetzt über § 8d im Körperschaftsteuergesetz, was bedeutet, dass es auch einen § 8c gibt. Die gute Sache bei diesem Gesetzentwurf ist, dass § 8c erhalten bleibt. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja super!) – Ganz super ist er nicht. Der Zwischenruf war nur bedingt richtig. (Heiterkeit bei der SPD) Denn wir haben einen guten § 8c im Jahr 2008 gemacht. Jedoch gibt es dabei einen Wermutstropfen: Schwarz-Gelb hat diesen guten § 8c aus dem Jahr 2008 dummerweise abgemildert, abgeschwächt und verwässert. Da wurde ein Schlupfloch aufgemacht, indem der Verlustvortrag in Höhe der stillen Reserven erhalten bleiben konnte. Das war schlecht. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist gut. Man muss sagen: Wir haben lange danach gesucht, eine Förderung einzurichten, die europarechtstauglich und trotzdem einigermaßen zielgenau ist. Wie funktioniert das nun eigentlich? Eigentlich soll nicht der Staat, sondern es sollen Business Angels die Unternehmen fördern. Was macht ein Business Angel? Er gibt Geld und seinen guten Namen und trägt das Risiko. Das alles macht er total selbstlos. Aber ein Business Angel will auch Business machen; das ist klar. Er schätzt also das Risiko ab. Bei Verkauf von Beteiligungen oder Aufnahme neuer Gesellschafter sind bisher alle Verluste quotal bzw. total untergegangen. Es ist klar, dass das eine Investitionsbremse für jeden ist, der darüber nachdenkt, einem Unternehmen Geld zu geben, obwohl er nicht genau weiß, ob die Innovation, über die das Unternehmen verfügt, funktioniert, ob das ein tolles Unternehmen wird oder ob das Unternehmen in Konkurs geht, weil die Geschäftsidee nicht funktioniert. Deshalb ist es gut, im Körperschaftsteuergesetz den neuen § 8d hinzuzufügen. Er erlaubt teilweise, Verluste mit zukünftigen Gewinnen zu verrechnen, um Business Angels und ihr Geld anzulocken. Aber im Gegensatz zu § 8c wird nicht jedem diese Möglichkeit eröffnet. Eine ganz wichtige Voraussetzung ist, dass der Betrieb fortgeführt wird. Nun gibt es noch ein paar andere harte Bedingungen, die nicht jedes Unternehmen so einfach erfüllt. Der betreffende Betrieb muss schon drei Jahre vor dem Antrag existiert haben. Er darf keine weiteren Geschäftsbetriebe aufnehmen. Er darf keine Beteiligungen an Mitunternehmerschaften haben. Er darf kein Organträger sein. Organschaften haben in der Vergangenheit immer zur Verrechnung von Verlusten mit Gewinnen gedient. Zudem darf der Betrieb keine Wirtschaftsgüter unter dem Marktwert aufnehmen. Das sind vier oder fünf relativ klare Bedingungen, unter denen überhaupt ein Antrag, wie Herr Dr. Meister ausgeführt hat, gestellt werden kann, wenn der Betrieb unter § 8d fallen soll. Wie man sieht, bleibt § 8c erhalten. Mit § 8d sind wir auf einem guten Weg, unser Ziel zu erreichen. Es stimmt, dass es auch einen Wermutstropfen gibt. Schließlich können alle Unternehmen, nicht nur die innovativen, einen entsprechenden Antrag stellen. Das schwächt die Zielgenauigkeit; das ist ein Nachteil. Ich hoffe, dass die Start-ups, die diese Neuerung gefordert haben, wissen, dass von 100 Euro Förderung möglicherweise nur 10 bis 15 Euro bei ihnen ankommen. Aber das lässt sich aus europarechtlichen Gründen nicht anders machen. Es gibt allerdings einen Fall, auf den wir achtgeben müssen. Ich nenne als Beispiel einen Betrieb, der bis vor fünf Jahren Röhren produziert hat. Der Unternehmer hat mit seinem Röhrenunternehmen einige Millionen Euro Verluste gemacht. Wenn dieses Unternehmen unter Bezugnahme auf § 8d drei Jahre lang – so lange dauert gewissermaßen die Wohlverhaltensphase – Schraubenzieher produziert – wie wir alle wissen, werden Schraubenzieher überall gebraucht –, kann dieses Unternehmen seine Altschulden in beliebiger Höhe mit zukünftigen Gewinnen verrechnen. Das ist der alte Mantelkauf, den wir mit dem § 8c verhindern wollten. Die Brücke in die Welt vor dem alten § 8c müssen wir zerstören. Wir werden sicherlich einen entsprechenden Antrag stellen müssen, um nicht eine ganz gefährliche Verlustverrechnungskarawane im Land auszulösen, die in fiskalischer Hinsicht gravierende Folgen hat. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Schönen Dank für die Aufmerksamkeit und Gratulation zu diesem Gesetz. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kollege Binding, auch vielen Dank von uns für die erklärenden Beispiele. Manchmal ist es gar nicht so einfach, Ihren klugen Ausführungen zu lauschen und sie nachzuvollziehen. Das liegt aber am Metier. (Zuruf von der SPD: Auch am Redner! Aber das freut uns!) Nächster Redner: Dr. Thomas Gambke für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin, ich hoffe, dass auch ich ein paar anschauliche Beispiele nennen kann. Die Messlatte wurde ja hoch gelegt. Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zielsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs steht bei uns im Wahlprogramm. Wir haben das oft gefordert. Es ist absolut richtig, darüber nachzudenken, wie wir gerade innovativen, jungen Unternehmen über eine längere Strecke, und zwar auch über die Strecke, auf der sie Verluste machen, weiterhelfen können. Frau Karawanskij, die Verluste treten nicht deshalb auf, weil der Investor, der dahinter steht, hohe Gewinne machen will. Vielmehr treten viele Verluste bei Unternehmen auf, die sich mit nachhaltiger Technologie befassen. Da spreche ich fast pro domo; denn ich habe selbst ein Unternehmen, das in dem Bereich tätig ist. Solche Firmen müssen über einen langen Zeitraum entwickeln und produzieren, ohne dass sie Gewinne machen können. Sie fahren vielmehr Verluste ein. Es ist natürlich richtig, sich darüber Gedanken zu machen, wie diese Verluste geltend gemacht werden können. Diese langen Zeiträume betreffen gerade Hochtechnologieunternehmen zum Beispiel im Bereich der Biochemie oder etwa der Elektronik. Wir haben leider einen Rückgang von Unternehmensneugründungen. Der ist wirklich erheblich. Ich habe nachgeschaut: Von 2001 bis 2016 ging die Zahl der Unternehmensneugründungen von 1,5 Millionen auf 0,76 Millionen – das ist die Hälfte – zurück. Das heißt, wir reden hier vor dem Hintergrund, dass die Innovationsfreudigkeit von Unternehmen, wenn man den Zahlen glauben kann, eher abnimmt. Aber wir müssen prüfen, welche Möglichkeiten – die Konzernklausel und die Stille-Reserven-Klausel sind angesprochen worden – bestehen. Wir müssen uns aber auch fragen – da ist die Kritik berechtigt –: Wie breit darf der Spielraum sein? Kollege Binding hat darauf hingewiesen. Wir dürfen nicht zu dem sehr schlechten Verhältnis, das Sie genannt haben, kommen, nämlich dass von 100 Euro Förderung nur 10 Euro im Sinne der Zielsetzung, die wir haben, wirksam werden. Dann kommt man sehr schnell darauf, dass neben den innovativen Unternehmen auch andere davon profitieren – da müssen wir genau hinschauen, ob wir uns diese Breite erlauben wollen – und dann das Instrument auch noch nicht einmal sinnvoll greift. Denn es entsteht dabei so etwas wie ein Lock-in-Effekt, wenn wir sagen, dass die Geschäftstätigkeit weiter fortgesetzt werden müsse. Gerade bei alteingesessenen Unternehmen, die Probleme bekommen – wir haben das übrigens im Rahmen der Erbschaftsteuer im Zusammenhang mit der Lohnsummenregelung diskutiert –, erleben wir oft die Notwendigkeit einer Neuausrichtung hinsichtlich der Kunden, des Produktportfolios; möglicherweise ist sogar die Aufspaltung des Unternehmens sinnvoll. Wenn wir das mit dem Hinweis blockieren, dass nur dann Verluste weiter fortgeschrieben werden könnten, wenn diese Maßnahmen nicht umgesetzt werden können, dann machen wir eigentlich genau das Falsche. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Insofern glaube ich, dass wir uns die Zieldefinition noch einmal genauer anschauen und scharf prüfen müssen, in welchem Umfang wir den jetzt vorgeschlagenen Regierungsentwurf unterstützen können. Ich bin da ein bisschen skeptisch. Wir müssen genau darüber nachdenken, wie wir junge und innovative Unternehmen wirklich stützen wollen. Wir haben über die steuerliche Forschungsförderung diskutiert. Das würde bedeuten, einen aktiven Beitrag zu leisten. Das wäre ein Vorschlag. Die zweite Möglichkeit: Wir haben immer wieder gesagt, dass wir bessere Rahmenbedingungen schaffen müssen, ob das im Bereich der erneuerbaren Energien oder im Bereich der Digitalisierung ist. Das heißt, wir müssen aktiv einen Rahmen setzen, in dem innovative Unternehmen tätig sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Etwas hat mich an dem Prozedere gewundert. Wenn ich es richtig gehört habe, dann sind bisher die Länder und auch Europa gerade nicht eingebunden worden. Herr Kollege Binding hat darauf hingewiesen. Das Thema hat uns schon zwei, drei Jahre beschäftigt. Immer wenn ich die Regierung gefragt habe, was sie diesbezüglich mache, wurde mir geantwortet: Wir arbeiten daran. – Die Regierung hat es aber nie verstanden, unserer Fraktion oder den Ländern ein Feedback darüber zu geben, woran sie denkt. Jetzt kommt die Bundesregierung mit dem § 8d, der, soviel ich weiß, zumindest bei den Ländern, und zwar wegen der Zielungenauigkeit, durchaus Bedenken auslöst. Insofern hoffe ich, dass wir das Thema sehr konstruktiv angehen und wir uns noch einmal anschauen, welche anderen Möglichkeiten es gibt, um die Zielsetzung, die wir haben, zu erfüllen. Die Zielsetzung ist, junge und innovative Unternehmen zu fördern. Wir sollten Unternehmen, die ein Risiko eingehen, belohnen oder zumindest nicht dadurch bestrafen, dass mit dem Risiko verbundene Verluste das Unternehmen beeinträchtigen. Wenn wir in dem Sinne das ganze Thema verhandeln können, dann kommen wir zu einem gemeinsam getragenen Ergebnis, wenn nicht, müssen wir uns andere Möglichkeiten genauer anschauen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Thomas Gambke. – Der nächste Redner: Dr. Philipp Murmann für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Geschichte dieses Gesetzes ist lang. Schon 2007 haben Kollegen, die jetzt auch noch hier sitzen, darauf hingearbeitet, Wachstumsfinanzierung möglich zu machen. Damals waren Klaus-Peter Flosbach und Heinz Riesenhuber mit dabei. Es ging dabei um das sogenannte MoRaKG, das Gesetz zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen. Das ging sogar durch Bundestag und Bundesrat, wurde dann aber von der EU gekippt – mit der wesentlichen Begründung, es sei zu schmal, es werde damit Beihilfe geleistet, die Wettbewerbsverzerrung durch die Beihilfe würde die positiven Aspekte dieses Gesetzes überlagern, insofern sei es nicht EU-konform. Das war das große Problem. Seitdem haben viele Gehirne daran gearbeitet, um eine Lösung zu finden. Nun haben wir diese Lösung. Alle Bedenkenträger, die unterwegs sind bzw. waren, sind, denke ich, mit eingebunden worden. Insofern ist aus meiner Sicht mit diesem Gesetz jetzt schon ein Durchbruch geschafft worden. Insofern würde ich mich auch freuen, wenn wir das möglichst breit tragen würden. Für unseren Standort ist das – um das gleich einmal vorneweg zu sagen – wirklich ein super Gesetz. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Wir sollten auch denen Dank sagen, die daran mitgewirkt haben: Staatssekretär Meister für das BMF, Frau Zypries, denke ich, für das BMWi. Sie haben mit Helge Braun aus dem Bundeskanzleramt zusammengesessen, um das sozusagen von allen Seiten zu beleuchten. Natürlich gab es auch sanften Druck des Parlaments, aber nicht nur der Opposition. Auch die Regierungsfraktionen haben immer wieder gefragt: Wie weit seid ihr denn? Jetzt muss doch mal etwas kommen. Jetzt aber haben wir etwas. Darüber diskutieren wir in der ersten Lesung. Wir haben den § 8c – er wurde schon beschrieben; insofern will ich nicht zu sehr darauf eingehen – mit zwei Ausnahmen, die nur für bestimmte Unternehmen gelten; nur dann können Verluste weiter vorgetragen werden. Jetzt gibt es den neuen § 8d. Ich finde die Idee großartig. Zum § 8c hat man gesagt, es werde immer nur auf den Anteilseigner geschaut. Bei einem neuen Anteilseigner sind die nicht genutzten Verluste jeweils weg; der Geschäftsbetrieb ist völlig außen vor. Jetzt sagt man: Ihr müsst euch mit Antrag entscheiden, ob ihr nicht in ein anderes Regime wechseln wollt, und dann wird auf den Geschäftsbetrieb und nicht mehr darauf geguckt, ob es einen Anteilseignerwechsel gibt oder nicht. Das interessiert dann im Grunde nicht, sondern solange der Geschäftsbetrieb fortgeführt wird, bleiben die nicht genutzten Verluste erhalten. Jetzt komme ich – das klang auch schon in einigen Reden an – zu der Frage, über die wir noch diskutieren werden: Was ist ein Geschäftsbetrieb? Da hat das Ministerium erst einmal in den Gesetzentwurf hineingeschrieben – ich möchte das kurz zitieren –: Ein Geschäftsbetrieb umfasst die von einer einheitlichen Gewinnerzielungsabsicht getragenen, nachhaltigen, sich gegenseitig ergänzenden und fördernden Betätigungen der Körperschaft und bestimmt sich nach qualitativen Merkmalen einer Gesamtbetrachtung. Ich denke, das wird nachher das Thema sein, um das es gehen wird. Qualitative Merkmale sind insbesondere die angebotenen Dienstleistungen oder Produkte, der Kunden- und Lieferantenkreis, die bedienten Märkte und die Qualifikation der Arbeitnehmer. Das ist – ich sage das einmal so – eine Definition, die den Rahmen sicherlich schon ganz gut absteckt. Es gibt aber, wie gesagt, einige Eingrenzungen, was so ein Geschäftsbetrieb nicht machen darf. Ich denke, da sind wir auch in vielen Fragen einig. Er darf nicht einfach ruhend gestellt werden. Die Körperschaft darf sich nicht an einer Mitunternehmerschaft beteiligen und nicht Organträger werden. Es dürfen nicht unter gemeinem Wert angesetzte Wirtschaftsgüter übertragen werden. Ich denke, diese Themen sind wahrscheinlich konsensfähig, oder es besteht bei ihnen sowieso Konsens. Dann gibt es noch zwei Themen, über die wir sicherlich noch diskutieren müssen. Einmal geht es um den Fall, dass ein Geschäftsbetrieb einer andersartigen Zweckbestimmung zugeführt wird. Dabei geht es so ein bisschen um das Beispiel, das Lothar Binding angeführt hat: von Röhren auf Schraubenzieher umgestellt. Die Frage ist aber natürlich auch, wie weit das geht. Zum anderen gibt es den Fall, dass ein zusätzlicher Geschäftsbetrieb aufgenommen wird. Das ist natürlich gerade bei Start-up-Unternehmen häufig das Problem. Sie fangen meinetwegen an, mit einem Wirkstoff zu arbeiten, weil sie Schnupfen bekämpfen wollen. Im Laufe der Zeit stellt sich dann aber heraus, dass der Wirkstoff nicht bei Schnupfen wirkt, dafür aber beispielsweise für die Haut gut ist. Damit ändert sich natürlich etwas. Das kann natürlich auch der Auslöser dafür sein, dass ein neuer Anteilseigner sagt: Jetzt ist das für mich interessant. Ich gehe da hinein und gebe auch Kapital dazu. Wenn wir das zu eng fassen, sind bestimmte Veränderungen, die bei wachsenden Unternehmen natürlich immer vorhanden sind, gar nicht mehr möglich. Dann kommen wir wieder auf das alte Verlustthema zurück. Also, an der Stelle müssen wir, denke ich, schon noch ein bisschen darüber diskutieren, wie wir das so ausgestalten, dass wir nachher auch wirklich die Wirkung haben, die wir haben wollen. Es ist ja schon klar geworden: Es gilt grundsätzlich für alle Unternehmen. Denn sonst kriegen wir das mit der EU auch gar nicht übereinander. Insofern ist der Ansatz aus meiner Sicht auch ganz genau richtig. Ich würde zum Schluss gern noch drei Punkte ansprechen. Der erste Punkt – es wurde schon angesprochen – ist der Name. Der Name „Gesetz zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften“ ist natürlich etwas für Technikfreaks. Wir sollten noch einmal darüber nachdenken, ob wir nicht einen etwas schöneren Namen finden, der das Ziel besser beschreibt und trotzdem EU-konform ist, ich sage jetzt mal: „Gesetz zur Verbesserung der Wachstumsfinanzierung von Körperschaften“ oder „... von Geschäftsbetrieben“, wenn man das nun unbedingt noch haben will, oder so ähnlich. Das wäre, glaube ich, schon der Mühe wert, um auch nach außen zu zeigen, dass es ein gutes Gesetz ist. Der zweite Punkt. Es gibt eine Rückwirkung zum 1. Januar 2016. Das heißt: Auch Anteilsübertragungen, die in diesem Jahr erfolgt sind, wären noch durch das Gesetz abgedeckt. Das ist natürlich positiv. Der dritte Punkt, der auch schon angesprochen wurde, sind die finanziellen Auswirkungen. Ich denke, wir sollten noch einmal genau hinterfragen, wo eigentlich diese 600 Millionen Euro Steuermindereinnahmen herkommen. Das kann ja nur ein Drittel sein, weil es um die steuerlichen Wirkungen geht. Das heißt, es müssten 1,8 Milliarden Euro Verluste innerhalb von einem Jahr plötzlich durch dieses Gesetz Wirkung entfalten und diese 600 Millionen Euro auslösen. Das scheint aus meiner Sicht doch sehr hoch gegriffen zu sein. Natürlich müssen sich Bund, Länder und Gemeinden, die über die Gewerbesteuer in der Tat am meisten betroffen sind, wenn man so sagen will, daran auch beteiligen. Aber ich denke, für jede Kommune ist es natürlich auch eine Investition in den Standort, wenn man ein Unternehmen hat, das mit neuem Anteilseigner wachsen kann, Arbeitsplätze schaffen kann und dann vor Ort weiterhin bleibt und eben nicht in die USA oder in andere Länder abwandert, wo die Verluste sowieso verrechnet werden können. Insofern ist das ein sehr guter Ansatz. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen und danke noch einmal für diesen guten Entwurf. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die SPD spricht jetzt der Kollege Dr. Jens Zimmermann. (Beifall bei der SPD) Dr. Jens Zimmermann (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Bundesregierung die Rahmenbedingungen für die Kapitalausstattung von Unternehmen verbessern, auch wenn das aus dem Titel des Gesetzes zunächst einmal nicht unbedingt hervorgeht. Doch wir haben uns seit vielen Jahren in der Koalition Gedanken darüber gemacht: Wie können wir die Rahmenbedingungen, gerade für junge Unternehmen, die berühmten Start-ups, die in aller Munde sind, verbessern? Dazu gehört eben auch das Thema Kapitalausstattung. Wir haben im Koalitionsvertrag damals verabredet, ein Wagniskapitalgesetz zu machen. Das haben wir jetzt nicht. Aber die Bausteine dazu schaffen wir jetzt an vielen anderen Stellen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion begrüßen das ausdrücklich. Sowohl als Digitalpolitiker als auch als Finanzpolitiker habe ich mich selbst intensiv mit diesen Problemen beschäftigt. Wir sind viel unterwegs gewesen, und wir machen uns ja immer wieder Gedanken: Was sind denn die Standortfaktoren, die die Gründung von Unternehmen beeinflussen? Wir haben festgestellt, dass das aktuell in Deutschland eigentlich nicht das zentrale Problem ist. Es wird so viel gegründet wie seit vielen Jahren nicht mehr. Aber dann geht es ja weiter. Das Problem, das wir sehen und über das uns häufig berichtet wird, ist, dass dann in der Wachstumsphase in Deutschland kein ausreichender Zugang zu Kapital vorhanden ist. Es gibt die unterschiedlichsten Strategien, die die Unternehmen dann wählen. Es ist eben schon angesprochen worden: Häufig ist die Strategie dann der Weggang ins Ausland. Das kann nicht in unserem Interesse sein, und das kann auch nicht im Interesse der deutschen Wirtschaft sein, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir brauchen in unseren Start-up-Städten in Deutschland – Berlin ist da wirklich europa- und weltweit in aller Munde; aber es betrifft auch andere Städte, ich denke da nur an Frankfurt als eines der neuen Center für das ganze Thema FinTech –, um erfolgreich zu sein, eben nicht nur gute Ideen und kluge Köpfe, sondern auf der langen Strecke auch eine ausreichende Kapitalausstattung. Ich will an dieser Stelle einmal den Bogen spannen. Wir haben ja über diesen Gesetzentwurf, den wir heute diskutieren, hinaus schon einige andere Maßnahmen ergriffen. Das Ganze läuft unter dem Titel „Die Neue Gründerzeit“. Wenn ich da zum Beispiel an die steuerliche Freistellung des INVEST-Zuschusses denke, wenn ich an das Kleinanlegerschutzgesetz und die Diskussion über das Thema Crowd-Investment denke, wenn wir uns anschauen, dass das Wirtschaftsministerium in Zusammenarbeit mit der KfW 400 Millionen Euro für die entsprechenden Fonds zur Verfügung gestellt hat, dann muss man sagen: Da ist viel getan worden. Dieses Gesetz, das wir heute in erster Lesung beraten, ist ein weiterer Baustein dieser Strategie. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist von den Vorrednern schon angesprochen worden: Wir haben eine nicht unerhebliche Aufgabe angenommen. Wir wissen genau, was wir fördern wollen. Jeder kann sich unter „Start-up“ etwas vorstellen. Wir wissen ziemlich genau, wen wir fördern wollen. Aber bei diesem Gesetz müssen wir sehr allgemein formulieren, damit wir am Ende nicht in europäische Wettbewerbsprobleme kommen. Deswegen haben wir als Deutscher Bundestag und hat auch der Finanzausschuss die Aufgabe, sehr genau hinzuschauen und mit Expertinnen und Experten darüber zu diskutieren: Wie zielgenau funktioniert dieses Gesetz, und wie hoch sind am Ende die Streuverluste? Denn die gilt es zu minimieren. Ich bin gespannt, welche Rückmeldungen wir aus der Praxis bekommen werden. Bei der Kritik, die ich teilweise vonseiten der kommunalen Ebene gehört habe, muss man auch ein wenig aufpassen. Wir haben gerade eine Einigung über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen erzielt. Wenn ich es richtig sehe, werden wir als Bund in den kommenden Jahren sehr hohe Milliardenbeträge in die Hand nehmen. Deswegen müssen wir an dieser Stelle ein bisschen Maß und Mitte walten lassen; denn am Ende des Tages ist das Gesetz, das wir hier beraten, im Interesse der Kommunen genauso wie im Interesse des ganzen Landes. Wenn wir es schaffen wollen, die Themen, die uns die Digitalisierung momentan stellt, richtig zu bearbeiten und daraus erfolgreich hervorzugehen, dann müssen wir jetzt die richtigen Weichen stellen. Es wäre Augenwischerei, zu glauben, man könne jetzt den einen oder anderen Euro Gewerbesteuer sichern, ohne gleichzeitig in neue Technologien, in neue Unternehmen zu investieren. Deswegen bin ich mir auch sicher, dass wir diese Diskussion am Ende zu aller Zufriedenheit lösen können. In diesem Sinne herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Dr. Hans Michelbach für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine Binsenweisheit: Die Erhaltung unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist kein Selbstläufer. Dieser Gesetzentwurf sichert, dass Deutschland als Wirtschafts- und Investitionsstandort weiterhin hochattraktiv bleibt und attraktiver wird. In Zukunft erhalten unsere Unternehmen neue Impulse, um in Wachstumsmärkte zu investieren. Das dient den Investoren, das dient aber auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU) Zur Chancengerechtigkeit gehört, dass risikobedingte Verluste auch eine Verlustverrechnung erhalten. Wenn wir darüber diskutieren, dass Apple durch Steuervermeidung eine Steuerlast in Höhe von nur noch 1 Prozent hat, dann müssen wir doch gerade für die kleinen, mittleren und jungen Unternehmen ein Gerechtigkeitsangebot machen, indem wir ihnen Chancen vermitteln und ihnen Chancen geben. Für mich ist dieses Gesetz ein Unternehmensmodernisierungsgesetz, ein Unternehmensfördergesetz. Wir werden Wachstum und Investitionen nur schaffen, wenn wir den Zugang zu privatem Beteiligungskapital vereinfachen und vor allem auch breit ermöglichen. Neue Arbeitsplätze benötigen neues Kapital. Es geht nicht anders. Der Wettbewerbsdruck in der globalisierten Welt verlangt geradezu neue Investitionen, um die Zukunft zu gewinnen. Mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf wird die steuerliche Verlustverrechnung bei Körperschaften und Unternehmen neu ausgerichtet. Dadurch werden steuerliche Hemmnisse bei der Kapitalausstattung von Unternehmen vermieden. Steuerlich nicht genutzte Verluste gehen dann auch bei einem Anteilseignerwechsel nicht verloren. Sie gehen bisher nur dann nicht verloren, wenn die Körperschaft die Stille-Reserven-Klausel oder die Konzernklausel erfüllt. So regelt es bisher § 8c Körperschaftsteuergesetz. Die Praxis hat aber gezeigt, dass diese Ausnahmen sehr eng gefasst sind – natürlich, weil man Missbrauch vermeiden wollte. Aber wir können die kleinen und mittleren jungen Unternehmen nicht dadurch bestrafen, dass über § 8c Missbrauch eingeschränkt werden muss. (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Jetzt geben wir den kleinen und mittleren jungen Unternehmen mit dem neuen § 8d eine neue Chance, eine neue Unterstützung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich glaube, dass wir eine gute Kapitalausstattung benötigen, um Liquiditätsengpässe, Finanzierungsengpässe und finanzielle Schwierigkeiten bei Unternehmen zu verringern – durch bessere Möglichkeiten, in den Wettbewerb einzusteigen und die Wettbewerbsfähigkeit für die Zukunft zu sichern. Oftmals sind Investitionen zum Überleben notwendig, und Voraussetzung ist häufig, dass der Einstieg eines Gesellschafters möglich ist, dass es einen Anreiz für den Einstieg gibt. Rückwirkend zum 1. Januar 2016 können nun nicht genutzte Verluste trotz eines Anteilseignerwechsels weiterhin genutzt werden. Das, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, stärkt unseren Wirtschaftsstandort, gerade die kleinen und mittleren Unternehmen, die nach wie vor über 70 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland beschäftigen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die großen Konzerne brauchen es nicht; gerade die kleinen und mittleren jungen Unternehmen sind es, die die Beschäftigung fördern. Deshalb benötigen wir sie dringend. Es ist richtig, dass es für den Erhalt des Verlustvortrags nach einem Anteilseignerwechsel keine Rolle spielen darf, ob und in welchem Umfang Betriebsvermögen zugeführt wird. Das zeigt auch, dass der Gesetzentwurf nicht nur ausgewogen und wirtschaftlich sinnvoll ist, sondern auch den bürokratischen Aufwand begrenzt. Entscheidend ist, dass wir die Rahmenbedingungen für die Kapitalausstattung insgesamt erheblich verbessern. Denn viele Unternehmen sind auf eine Finanzierung und die Neuaufnahme von Anteilseignern angewiesen. Wir stärken deshalb die Eigenkapitalbasis der deutschen Betriebe, der kleinen und mittleren jungen Unternehmen. Das ist ein besonderer Vorteil. Das ist gut; denn Deutschland braucht Modernisierung, braucht Wettbewerbsfähigkeit, braucht eine neue Gründerzeit. Wir können nur alle jungen Leute bitten, dass sie die Chance ergreifen, ein Unternehmen zu gründen. Wir geben hier eine klare Unterstützung. Eine Abgrenzung, die dafür sorgt, dass die Regelung nur für Start-ups gilt, halte ich für falsch. Das würde zu Ausweichmanövern führen. Wir müssen alle gleich behandeln; es darf keine Diskriminierung von Unternehmen geben. Wir brauchen natürlich vor allem junge Unternehmen; wir brauchen aber immer auch innovative Unternehmen, die sich aus den normalen Betrieben heraus entwickeln, damit Deutschland seine ökonomischen Chancen im Zuge des internationalen Wettbewerbs und vor allem auch der Digitalisierung nutzen kann. Dabei ist es essenziell, den Wagniskapitalmarkt und die Gründerszene zu stärken. Das tun wir heute. Das ist ein guter Anfang. Ich glaube, dass wir damit einen richtig guten Weg für die Zukunft unseres Wirtschaftsstandorts beginnen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/9986 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 7: Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE BAföG an die Lebenswirklichkeit anpassen – Keine weiteren Nullrunden für die Studierenden Drucksache 18/10012 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Widerspruch höre ich keinen. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zu Beginn dieser Aussprache das Wort der Kollegin Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Nicole Gohlke (DIE LINKE): Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute zwei gute Gründe, über das BAföG und vor allem über seine Weiterentwicklung zu diskutieren. Zum einen feiert das BAföG in diesem Jahr seinen 45. Geburtstag – 1971 wurde es von der Regierung Brandt auf den Weg gebracht –, und das sollte für uns alle Anlass sein, um über dieses sehr gute Instrument für Bildungsgerechtigkeit und sozialen Ausgleich nachzudenken. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Genau, da kann man klatschen; Sie von der CDU/CSU eigentlich auch. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Aber der Antrag ist kein Grund zum Klatschen!) Der zweite Grund, warum die Linke heute diesen Antrag in den Bundestag einbringt, ist, dass wir leider ganz und gar nicht zufrieden sein können mit dem aktuellen Zustand des BAföG (Beifall bei der LINKEN) und schon gar nicht damit, wie die Große Koalition das Thema BAföG abhandelt; sie meint, es jetzt für den Rest der Wahlperiode außen vor lassen zu können. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Zu früh geklatscht!) Das wird weder den Studierenden heute noch dem ursprünglichen Anspruch des BAföG gerecht. Das muss dringend korrigiert werden. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Linke fordert, das BAföG endlich an die Lebensrealität anzupassen. Wir möchten eine substanzielle BAföG-Erhöhung, eine Erhöhung der Bedarfssätze und Freibeträge um 10 Prozent anstelle der 7 Prozent, um so mehr junge Menschen zu erreichen, (Martin Rabanus [SPD]: Irgendwas ist mir entgangen!) um mehr Menschen aus finanziell schwachen Familien an die Hochschule zu bringen und um das BAföG vor allem so auszugestalten, dass man davon wirklich leben und studieren kann. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wie viel wollen Sie den haben? – Gegenruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat sie doch gerade gesagt!) Stattdessen erleben wir aber seit einigen Jahren – das muss man tatsächlich so dramatisch ausdrücken – das langsame Verkümmernlassen des BAföG; (Martin Rabanus [SPD]: Ach du liebe Güte!) denn zum Ersten erreicht das BAföG heute zu wenige – legt man den Monatsdurchschnitt zugrunde, dann stellt man fest, dass im letzten Jahr gerade noch 15 Prozent der Studierenden überhaupt durch das BAföG gefördert wurden –, und zum Zweiten ist das BAföG heute weit davon entfernt, bedarfsdeckend zu sein. Wenn man alle Leistungen zusammenrechnet, liegt es deutlich unter den aktuellen Hartz-IV-Bezügen. Angesichts solcher Zahlen ist es ziemlich unangebracht, wenn die Union die letzte BAföG-Reform als – ich glaube, ich zitiere den Kollegen Rupprecht – „größte BAföG-Reform aller Zeiten“ bezeichnet. Das ist nicht nur eine ziemliche sprachliche Verirrung, wenn ich Sie darauf hinweisen darf, sondern zeigt auch eine gehörige Portion Realitätsverweigerung. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das, wofür Sie sich hier selbst loben, das, was Sie als großen Wurf bezeichnen, basiert auf dem jahrelangen Unterlassen von Reformen. Es basiert darauf, dass das BAföG seit Jahren entsetzlich unterdimensioniert ist, und dafür sind Sie verantwortlich. Über Jahre hinweg haben die BAföG-Erhöhungen noch nicht einmal die inflationsbedingte Preisentwicklung ausgeglichen. Über Jahre hinweg sind über die nicht erfolgte Anpassung der Freibeträge Zehntausende aus der Förderung herausgefallen. Angesichts dieser Situation bleibt von Ihrem Eigenlob nicht sehr viel mehr übrig als Augenwischerei. (Beifall bei der LINKEN) Fakt ist auch: Die Große Koalition hat viele der strukturellen Fragen im BAföG wieder nicht angefasst: Wieder ist Ihnen nicht eingefallen, endlich das Verschuldungsrisiko für junge Menschen, also den Darlehensteil, abzuschaffen, obwohl Sie selber ganz genau wissen, dass sehr viele der Hochschulabsolventinnen und -absolventen mit Schulden aus der Studienfinanzierung ins Berufsleben starten müssen. Wieder haben Sie es versäumt, die Altersgrenzen im BAföG aufzuheben und es endlich an die Realität der Bildungsbiografien von heute anzupassen. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau! Für Oma und Opa! BAföG für Rentner!) – Ja, heutzutage ist es eben so, dass ein Masterstudium auch mit über 35 Jahren begonnen wird. Wieder haben Sie es unterlassen, das BAföG mit einer automatischen Anpassung an die Entwicklung der Lebenshaltungs- und Ausbildungskosten zu versehen, um den Studierenden endlich die jahrelangen Hängepartien um BAföG-Erhöhungen zu ersparen, und das beim BAföG fairerweise so zu gestalten wie bei den Diäten von uns Bundestagsabgeordneten. Die steigen nämlich schon automatisch. Immer noch müssen Menschen mit einer Aufenthaltserlaubnis und geduldete Geflüchtete über ein Jahr, nämlich ganze 15 Monate, warten, bis sie überhaupt BAföG beziehen können. Wieder haben Sie die Wohnkostenpauschale nicht so gestaltet, dass man als Student oder Studentin davon tatsächlich ein WG-Zimmer bezahlen kann. Erst Ende September wurden die neuen Zahlen veröffentlicht. Mittlerweile kostet ein WG-Zimmer im Schnitt 349 Euro. Das sind 100 Euro mehr als die Wohnkostenpauschale, die das BAföG vorsieht, und zwar nach der letzten Erhöhung; da rede ich noch gar nicht von der Miete in Städten wie in meiner Heimatstadt München. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Kommen Sie mal in den Osten! Da ist es günstiger! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hilft auch die Mietpreisbremse nicht!) Ich muss auch kein Rechenkünstler sein, um zu sehen, dass diese Regierung hier zu wenig tut. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das, was Sie mit Ihrer Reform wirklich machen – Erhöhung der Sätze um 7 Prozent –, das verzögern Sie auch noch um zwei Jahre. Mit dem verzögerten Inkrafttreten nehmen Sie in Kauf, dass Zehntausende junge Menschen erst einmal aus der Förderung herausfallen, und Sie nehmen in Kauf, dass die Erhöhung mit den gestiegenen Lebenshaltungskosten wieder nicht Schritt hält. Deswegen sagen wir als Linke: Das hier ist nicht die größte Reform aller Zeiten; das hier ist vor allem eine ziemlich große Verschleppung. Tun Sie den Studierenden und der Idee des BAföG etwas Gutes, erhöhen Sie jetzt die Bedarfssätze und Freibeträge um 10 Prozent, und passen Sie die Wohnkostenpauschale an die tatsächlichen Mietpreise an. Das ist dann zwar noch nicht die Strukturreform, die wir brauchen, aber das wäre ein erster Schritt und ein Zeichen, dass Sie das BAföG wirklich wieder zu einem Instrument der Bildungsgerechtigkeit machen wollen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Stefan Kaufmann. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag sagt die Linke – wir haben es gehört –, dass das BAföG an die Lebenswirklichkeit angepasst werden muss. Wenn ich mir Ihren Antrag durchlese, Frau Kollegin Gohlke, dann fällt mir als Reaktion eigentlich nur eines ein: Wir müssen verstärkt den Versuch unternehmen, die Linken an die Lebenswirklichkeit heranzuführen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Das ist hoffnungslos! Hoffnungslos!) Das hat Ihre Rede heute wieder gezeigt. Auch wenn das erfahrungsgemäß eine Sisyphusarbeit ist, stelle ich mich dieser Aufgabe heute einmal mehr. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Arroganz der Macht!) Auch die zweite Forderung in Ihrem Antrag – auch das ist Teil der Überschrift –, „Keine weiteren Nullrunden für die Studierenden“, legt den Verdacht nahe, dass Sie, die Kolleginnen und Kollegen von den Linken, die letzten Jahre schlicht verschlafen haben; das haben Sie gerade gezeigt. (Zuruf der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]) Die größte BAföG-Reform aller Zeiten – die lassen wir uns nicht schlechtreden –, die diese Koalition zusammen mit Ministerin Wanka gestemmt hat, ist an Ihnen offenbar komplett vorbeigegangen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Inhaltlich kann man zu Ihrem Antrag eigentlich gar nicht viel sagen, Frau Kollegin. Sie versuchen erneut, alten Wein in vermeintlich neue Schläuche zu bringen. Sie haben Ihre altbekannten Ladenhüter mit ein paar neuen Daten und Informationen versehen. Ansonsten verfahren Sie wie immer: Copy and paste. Meine Damen und Herren, Sie ermüden damit nicht nur die Bildungspolitiker in diesem Hohen Hause, sondern langsam, aber sicher auch die Bürgerinnen und Bürger draußen im ganzen Land. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie ja selber nicht!) Angesichts der jüngsten BAföG-Reform, dritte Stufe – plus 7 Prozent bei den Bedarfssätzen und plus 7 Prozent bei den Einkommensfreibeträgen –, die in diesen Tagen gestartet ist – wir geben jährlich zusätzlich 825 Millionen Euro aus –, müssen Sie sich schon den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie offensichtlich nicht genug bekommen können. Bei einigen Ländern scheint ein ähnliches Anspruchsdenken zu herrschen – so mein Eindruck –, Stichwort „BAföG-Entlastung“. Zwar haben die Länder die freigewordenen Mittel fast ausnahmslos im Schul- und Hochschulbereich verwendet, allerdings – das ärgert mich wirklich maßlos – haben sie diese Mittel teilweise nicht zusätzlich in diesem Bereich investiert, sondern zur Kofinanzierung des Hochschulpaktes verwendet, wie ein Bericht in der Tageszeitung in dieser Woche gezeigt hat, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht Ihr Finanzministerium aber anders!) und damit – ich sage es ganz deutlich – zweckentfremdet. In Nordrhein-Westfalen sprechen wir immerhin von einer Summe von 200 Millionen Euro, lieber Kai Gehring. Das ist eine Unverschämtheit, um das hier einmal ganz deutlich zu sagen. (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Vorwurf ist eine Unverschämtheit! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Getroffene Hunde bellen!) Wenn wir so weitermachen – der Bund investiert immer mehr und mehr in Bildung und Forschung und entlastet damit die Länder bei ihren ureigenen Aufgaben, und die Länder machen sich dann unter anderem auf Kosten der Studierenden einen schlanken Fuß –, dann kriegen wir das mit der Bildungsrepublik nicht hin. Das sind nicht nur politische Spielchen, meine Damen und Herren. Sie verspielen damit ein Stück weit auch die Zukunft unseres Landes. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn Sie, meine Damen und Herren von den Linken und den Grünen, sich jetzt empören, dann zeige ich Ihnen gerne auf, wie sich Ihre Leistungen im Bereich der Hochschulpolitik darstellen. Schauen wir uns einmal das aktuelle Hochschul-Barometer des Stifterverbandes an. Da gibt es eine wunderbare Grafik zu den Einschätzungen der Rahmenbedingungen für Hochschulen. (Der Redner hält ein Schaubild hoch) Sie sehen eine Deutschlandkarte, auf der das farblich dargestellt ist. Es gibt Länder, die sich verbessert haben – das sind die dunklen Stellen –, es gibt Länder, bei denen es gleich geblieben ist, und es gibt Länder, die sich verschlechtert haben; das sind die rot markierten. Welche Länder sind das? Brandenburg, Thüringen, Berlin und Nordrhein-Westfalen. Das ist das Resultat linker und grüner Hochschulpolitik. (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ob das Berlin-Beispiel passt? Herr Henkel?) Deshalb – das möchte ich hier auch ganz deutlich sagen – bin ich nicht glücklich über den jüngsten Beschluss von Bund und Ländern zur Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems aus der letzten Woche. Mit Blick auf Bildung und Forschung sendet dieser Beschluss aus meiner, aus unserer Sicht falsche Signale. Insbesondere die Einführung der Bundesergänzungszuweisung für Forschungsförderung halte ich für einen Fehler, um das hier ganz offen und deutlich zu sagen; denn diese „entschädigt“ nur diejenigen Länder mit Almosen, die im wettbewerblichen Verfahren weniger Erfolg hatten als andere. Sie widerspricht damit klar dem Wettbewerbsgedanken unseres Föderalismus, und gerade dieser kluge Wettbewerb in Forschung und Innovation hat Deutschland in den letzten elf Jahren seit 2005 starkgemacht. Am meisten werden übrigens die SPD-regierten Länder Niedersachsen und Rheinland-Pfalz von der Ergänzungszuweisung profitieren. Damit wird – das sage ich ganz deutlich – die rote Laterne der Erfolglosen zum goldenen Label der Lahmen. Das kann nicht sein, meine Damen und Herren. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Können wir mal wieder zum BAföG reden?) Eines ist mir noch wichtig zum Beschluss vom vergangenen Freitag – Kollegin Albsteiger wird noch etwas dazu sagen –: Die Bund-Länder-Vereinbarung ist keine Abschaffung und auch keine Aushebelung des Kooperationsverbotes. Auch wenn viele das fälschlicherweise hoffen oder jetzt noch herbeireden wollen: Der Beschluss ist eindeutig. Es geht hier nur um finanzschwache Kommunen und nur um deren Bildungsinfrastruktur. Übrigens hat auch Baden-Württemberg in seiner Protokollerklärung richtigerweise darauf hingewiesen, dass das Kooperationsverbot nicht zur Debatte steht. Die Sanierung der maroden Schulgebäude ist und bleibt damit auch weiterhin ganz überwiegend Aufgabe der Länder und Kommunen. Deshalb rate ich allen, auch hier im Hause, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Ball flach zu halten. Wir werden nämlich sehr genau darauf achten, dass die Anpassung des Grundgesetzes genau dem Beschluss von Bund und Ländern folgt. Mir ist in diesem Zusammenhang als Forschungspolitiker besonders wichtig, dass wir unsere Bemühungen in den Bereichen Wissenschaft, Forschung, Entwicklung und Innovation in gleichem Maße fortsetzen werden; denn das sind die Zukunftsbereiche, die uns Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum bringen. Das dürfen wir jetzt nicht aus den Augen verlieren; wir werden hier auch in Zukunft starke Signale setzen. Wir dürfen bei Forschung und Innovation in unseren Anstrengungen nicht nachlassen, um unseren Wohlstand zu erwirtschaften. Dies zeigt erfreulicherweise auch der Bundeshaushalt 2017 sehr eindrucksvoll. Ich darf an dieser Stelle Frau Ministerin Johanna Wanka für ihre Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft ausdrücklich loben. Das Beherrschen digitaler Techniken ist das Zukunftsthema und die Stellschraube für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: BAföG!) Deshalb ist es richtig, dass hier Prioritäten gesetzt werden. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Es geht ums BAföG! Ich glaube, Sie haben den Antrag gar nicht gelesen!) Wir dürfen die digitale Zukunft nicht verschlafen und müssen die jungen Menschen fit machen für die künftigen Herausforderungen. Diese Offensive leistet dazu einen wichtigen Beitrag und gibt einen wichtigen Impuls. Frau Kollegin Gohlke, Ihr Antrag ist wirklich mühsam und wie alter Wein in neuen Schläuchen; darüber brauchen wir gar nicht zu reden. Meine Kollegin wird etwas dazu sagen. Ich wende mich den wirklich wichtigen Themen zu. (Beifall bei der CDU/CSU) Die digitale Bildung ist ein zentrales Thema dieser Koalition und prominent im Koalitionsvertrag verankert. Wir flankieren dies mit unserem Koalitionsantrag zur digitalen Bildung und haben auch einen Entschließungsantrag zum Thema eingebracht. Die wichtigen Initiativen der Bundesregierung wie die Berufsbildung 4.0 oder die digitale Ausstattung der überbetrieblichen Bildungsstätten zeigen, dass es der Bundesregierung mit diesem Thema wirklich ernst ist. Ein zentrales Vorhaben der Bildungsoffensive ist der Digitalpakt für die Schulen. Mit ihm wird ein wichtiger Startschuss für die Verhandlungen gegeben, wie ein Zukunftspaket für die digitale Ausstattung der Schulen und die Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern verbindlich und nachprüfbar ausgestaltet werden kann. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht ums BAföG! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Schule würde der Lehrer sagen: Setzen! Sechs! Thema verfehlt!) Das ist wiederum eine Nagelprobe für die Länder, die nun gefordert sind, Konzepte für die Lehrerbildung vorzulegen, um die erforderliche Infrastruktur mit zu finanzieren. Lassen Sie mich sagen: Die Kritik einzelner Lehrerverbände, der Digitalpakt sei eine Einmischung in Bildungsinhalte, ist nun wirklich lächerlich. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht ums BAföG! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie den falschen Redezettel, oder was?) Die Verbände sollten sich vielmehr Gedanken darüber machen, wie sie die Lehrerinnen und Lehrer auf das Leben 4.0 und die digitale Welt vorbereiten. Dazu reicht es nicht aus, wenn ein Lehrer weiß, wie ein Whiteboard funktioniert. Das sollte man in Richtung der Verbände deutlich sagen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt zum Thema, bitte!) Wie die Ministerin schon öffentlich sagte, ist die Bildungsoffensive ein Vorhaben für die nächste Legislaturperiode. So sehen wir das auch. Wir müssen erst einmal beobachten, was die KMK zu diesem Thema beschließt. Wir werden die Bund-Länder-Gespräche im weiteren Verlauf aufmerksam begleiten und dann entscheiden, wenn aus unserer Sicht der richtige Zeitpunkt erreicht ist. Das bedeutet im Übrigen auch, dass wir nicht über Einzelmaßnahmen entscheiden, sondern über ein Gesamtpaket. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Gesamtpaket muss stimmen. Bundesgeld gibt es nicht geschenkt; es muss einen Mehrwert schaffen. Deshalb muss es klare, nachprüfbare Kriterien, transparente Verfahren sowie Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten geben. (Beifall bei der CDU/CSU) Ganz zum Schluss möchte ich noch etwas in Richtung Herrn Heil sagen – er weilt heute leider nicht unter uns –, (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja, was auch ein anderes Thema ist! Ich will nur noch einmal darauf hinweisen! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ministerin und Staatssekretäre fehlen auch!) der einen neuen Bildungsgipfel einberufen möchte, um eine neue Bildungsallianz zu schmieden. Wir brauchen keinen hektisch aufgesetzten neuen Bildungsgipfel. Wir brauchen auch keine neue Gesamtstrategie für die Bildung. Den Investitionsstau in den Schulen haben die Länder zu verantworten. Sie sind finanziell im Übrigen auch in der Lage, ihrer Verantwortung nachzukommen. Wir haben vonseiten des Bundes wirklich ausreichend Unterstützung dafür geleistet. Wenn ihnen die 1,2 Milliarden Euro jährlich aus der BAföG-Entlastung oder die Übernahme der Aufwüchse aus dem Pakt für Forschung und Innovation oder die insgesamt 20,2 Milliarden Euro aus dem Hochschulpakt nicht ausreichend Entlastung gebracht haben, um die Schulgebäude zu sanieren, dann haben sie einfach, um es salopp zu sagen, Mist gebaut. Dafür werden sie den Bund nicht weiter in Haftung nehmen können. Deshalb ist dieser Bildungsgipfel nicht notwendig. Wir können und werden – das ist mein letzter Satz – die Länder auch in diesem Punkt nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die eigene Ministerin auch nicht! Sie glänzt wieder mit Abwesenheit! – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Merkwürdige Rede!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächster Redner ist der Kollege Kai Gehring für Bündnis 90/Die Grünen. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es geht hier um das BAföG, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) um eines der größten Sozialgesetze dieser Republik. Mein Vorredner, Herr Kaufmann, hat sich in der Debatte offensichtlich zum Teil verlaufen bzw. vergaloppiert. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Schade!) Ich möchte Sie als Koalition daran erinnern, dass durch Ihre BAföG-Novelle der Bund seit zwei Jahren für die Berufsausbildungsförderung allein zuständig ist. Das heißt, man braucht hier auch keine Bund-Länder-Debatte oder Bildungsfinanzierungsdebatte zu führen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vielmehr geht es um die Zukunft des BAföG in dieser Republik. Das BAföG ist das Bildungsgerechtigkeitsgesetz Nummer eins, und es ist das Finanzierungsinstrument für Bildungsaufstieg und Zugangschancen. Es ist ein Rechtsanspruch, kein Almosen. Es geht nicht um Bund-Länder-Debatten, sondern um die Frage, wie die Zukunft der jungen Generation gestaltet wird. Wir wollen das BAföG beherzt ausbauen, damit es nichts an Attraktivität einbüßt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Dem BAföG durch sechs Nullrunden eine Schrumpfkur zu verpassen, war eine eklatante Fehlentscheidung von Union und SPD. Diese wollen wir Grüne gemeinsam mit der Linksfraktion korrigieren. Unsere Alternative ist klar: Auch 2017 muss es mehr BAföG für Schüler, Schülerinnen und Studierende geben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Die sechs Jahre ohne BAföG-Erhöhung haben die Bildungsfinanzierung geschwächt. Ganze zwei Studierendengenerationen mussten zuschauen, wie ihre finanzielle Situation von Semester zu Semester immer schlechter geworden ist. Ungefähr 130 000 Schüler und Studierende sind seit 2011 aus dem Kreis der Berechtigten herausgerutscht. Das ist die traurige Bilanz unionsgeführter BAföG-Politik. Das ist nicht gut für unser Land der Dichter und Denker. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]) Zwar bekommen Studierende und Schüler ab diesem Semester mehr Geld; aber die Anpassung hielt mit der Preis- und Einkommensentwicklung nicht Schritt. Trotz Anpassung ist das BAföG 2016 weniger wert als das 2010. Das ist schlechte Politik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Diese schlechte Politik hat konkrete Folgen. Nehmen wir eine Familie mit Vater, Mutter und zwei Kindern. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ganz konservativ gedacht! Gefällt mir gut!) Gerade gab es glücklicherweise eine Lohnerhöhung. Auf die Freude folgt schnell der Kater: höhere Steuern. Dann fällt wegen der Freibetragsgrenzen auch noch das BAföG für die Kids weg. Aber gerade mit der Aussicht auf eine verlässliche Studienfinanzierung steht oder fällt die Entscheidung für oder gegen ein Studium. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Es sind immer mehr junge Leute, die studieren! Das ist doch völliger Quatsch, was Sie hier sagen!) Wir sagen: Gerecht geht es in Deutschland erst dann zu, wenn Zugangs- und Bildungschancen nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Auch hier im Bundestag gibt es viele Arbeiterkinder; ich gehöre dazu. Es ist für unsereins nicht völlig selbstverständlich, sich für ein Studium zu entscheiden. Die soziale Öffnung der Hochschulen für Kinder von Nichtakademikern muss endlich bundesweit selbstverständlich werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Ist es doch!) Deshalb ist es so wichtig, zum Studium zu motivieren und für eine Studienfinanzierung zu sorgen, die zum Leben ausreicht. Das BAföG muss substanziell verbessert werden. Deshalb fordern wir unter anderem: Erstens. Die Fördersätze und die Freibeträge vom Einkommen der Eltern müssen um jeweils 10 Prozent steigen. (Beifall der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]) Damit würden endlich mehr Schüler und mehr Studierende BAföG-berechtigt. Zweitens. Wir wollen, dass Wohnkosten angemessen erstattet werden. Wir wollen die Mietkostenpauschale staffeln und sie an regionale Durchschnitte anpassen; denn Wohnen ist in München, Köln und Chemnitz unterschiedlich teuer. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Drittens. Statt jahrelanger Hängepartien und Regierungswillkür in Serie (Lachen des Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]) wollen wir im BAföG-Gesetz Indizes für eine dynamische, regelmäßige und automatische Erhöhung von Fördersätzen und Freibeträgen einführen. Das ist doch nicht so schwer. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das geht beim Arbeitslosengeld, bei der Rente und auch bei den Abgeordnetendiäten. Warum also nicht bei den Studierenden? Die automatische Anpassung bringt Berechenbarkeit ins BAföG. Das ist uns wichtig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Der Bund finanziert das BAföG nun zu 100 Prozent. Darum hat der Bundestag die Freiheit, jede künftige BAföG-Reform alleine auf den Weg zu bringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, diese Wahlperiode ist weiß Gott noch nicht zu Ende – man muss fast sagen: leider –; Sie haben noch ein Jahr Zeit. Dieses Jahr sollten Sie für ein weiteres BAföG-Plus nutzen. Wir wollen mehr derjenigen zum Studium ermuntern, deren Eltern wenig verdienen, deren Eltern nicht studiert haben oder die eingewandert sind. All das könnten wir zügig beschließen. Union und SPD müssten sich nur einen Ruck geben. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächster Redner ist der Kollege Oliver Kaczmarek, SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Oliver Kaczmarek (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin für den Antrag fast dankbar, weil er mir die Möglichkeit gibt, über das zu sprechen, was wir tatsächlich erreicht haben, also nicht über Hoffnungen und Versprechungen, sondern über das, was in diesen Tagen, in denen das Wintersemester beginnt, bei den Studierenden seine volle Wirkung entfaltet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich sage selbstbewusst: Diese 25. BAföG-Novelle ist ein großer Schritt nach vorne. Wir als SPD haben uns dabei zwei Ziele vorgenommen, die wir gemeinsam in der Koalition miteinander vereinbart haben. Erstes Ziel. Wir wollten das BAföG substanziell erhöhen. Auch wenn das hier gerade anders dargestellt worden ist, bin ich der Meinung, dass eine Erhöhung der Bedarfssätze und Freibeträge um 7 Prozent eine substanzielle Erhöhung ist. Sie wirkt bis tief in die Gesellschaft hinein und bringt 110 000 Menschen zusätzlich einen Anspruch auf BAföG. Das ist tatsächlich etwas Substanzielles. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich will es kurz aufzählen: Wir haben die Wohnpauschale auf 250 Euro erhöht. Wir haben die Hinzuverdienstgrenze erhöht. Man darf ein Auto bis zu einem Wert von 7 500 Euro besitzen. Wir haben den Kinderzuschlag vereinheitlicht und ihn auf 130 Euro pro Kind erhöht. All das sind Maßnahmen, die das BAföG einen großen Schritt nach vorne gebracht haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zweites Ziel. Wir wollten, dass das BAföG strukturell modernisiert wird. Sie haben den Anspruch, es an die Lebenswirklichkeit der Studierenden anzupassen. Wir sind froh, dass wir es mit diesem Schritt schon einmal an die Lebenswirklichkeit der Studierenden angenähert haben. Die Förderlücke zwischen Bachelor und Master ist geschlossen. Zum Teil ist diese Regelung sogar schon vorzeitig in Kraft getreten. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Wir erleichtern die Ausbildung im Ausland und im Übrigen auch den Zugang ausländischer Studierender zum BAföG. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist, Herr Gehring und Herr Kaufmann, das Gegenteil von dem, was gerade in Baden-Württemberg geschieht. (Beifall bei der SPD) Durch die Ankündigung von Studiengebühren für ausländische Studierende werden dieser Gruppe dort zusätzliche Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ich finde, das ist ein interessantes Beispiel. Es gibt Bundesländer, die ihre Haushalte unter Nichteinbeziehung der Bildungsressorts konsolidieren. Baden-Württemberg geht einen anderen Weg. Deswegen bin ich für dieses Beispiel dankbar; denn es macht ziemlich gut den Unterschied zwischen Zukunftsinvestitionen und Bildungsbremse und zwischen Rot-Grün und Schwarz-Grün deutlich. (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, diese BAföG-Novelle ist eine große Zukunftsinvestition. Durch den Bundesanteil, der den Ländern jetzt erstattet wird, haben wir es ermöglicht, sinnvolle Investitionen insbesondere in Schulen und Hochschulen zu ermöglichen. Die Bundesregierung hat in ihrer Unterrichtung am 22. Juni dieses Jahres dankenswerterweise bestätigt, dass die Mittel von den Ländern vereinbarungsgemäß verwendet werden. Herzlichen Dank dafür! Vielleicht können wir sie ja auch noch etwas breiter verteilen. Wir nehmen für diese Novelle 800 Millionen Euro zusätzlich in die Hand. Das heißt, in diesem Haushaltsjahr und im nächsten Haushaltsjahr – dann mit der vollen Wirkung – werden jedes Jahr 2 Milliarden Euro mehr fürs BAföG bereitgestellt. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Wenn Sie, liebe Frau Gohlke, in Anbetracht dessen von Verkümmern und Verschleppen sprechen, muss ich ehrlich sagen: Es fehlt mir doch ein bisschen der Bezug zur politischen Realität, wenn wir jedes Jahr 2 Milliarden Euro in die Hand nehmen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ja, die 25. BAföG-Novelle ist ein großer Schritt nach vorne; aber damit sind wir noch nicht am Ende. Natürlich gibt es Dinge, die wir uns noch vornehmen müssen, die wir vielleicht auch noch ausführlicher diskutieren müssen. Ich möchte drei Punkte nennen: Erstens. Die Diskussion über den Anpassungsmechanismus bzw. über regelmäßige Anpassungen ist ja richtig; denn der Zeitraum von 2010 bis 2016 ohne Erhöhung beim BAföG ist zu lang. Ich will es mir aber nicht so einfach machen und sagen: Die SPD war vier Jahre nicht in der Regierung; deswegen hat das nicht geklappt. – Wir haben in dieser Zeit den Versuch erlebt, einen Paradigmenwechsel einzuleiten. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat den Versuch unternommen, eine öffentlich-privat finanzierte Stipendienkultur aufzubauen und so zu dimensionieren, dass sie das BAföG schrittweise ersetzt. Frau Schavan hat uns das 2005 ebenfalls angeboten. Darauf ist die SPD nicht eingegangen. Ich will darauf hinweisen, dass wir in dieser Wahlperiode gemeinsam als Große Koalition diesen Fehler korrigiert haben. Wir haben das Deutschlandstipendium auf ein realistisches Ausmaß begrenzt, die Begabtenförderung gestärkt und das BAföG massiv erhöht. Das ist der richtige Mix und die richtige Gewichtung für eine Studienfinanzierung der Zukunft, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD) Ja, wir brauchen zukünftig eine Verpflichtung, in regelmäßigen Abständen auf die Entwicklung des BAföG zu schauen und es realistisch anzupassen. Ich bin aber nicht der Meinung, dass dies automatisch und jährlich geschehen soll. Durch die Bundeszuständigkeit haben wir die Möglichkeit, das BAföG zu repolitisieren. Ich möchte uns nicht ersparen, im Bundestag regelmäßig darüber zu diskutieren, welche Erhöhung angemessen ist. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir doch gerade!) Zweitens. Wir haben es in dieser Wahlperiode noch nicht geschafft, dass das ehrenamtliche Engagement besonders berücksichtigt und wertgeschätzt wird. Diese Diskussion haben wir im Laufe der Wahlperiode geführt. Es wäre eine Anerkennung, wenn der BAföG-Bezug für Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, verlängert würde, so wie es heute schon für diejenigen möglich ist, die sich in den Hochschulgremien engagieren. Dabei sind mir nicht nur die Hochschulgremien oder die Parteijugenden wichtig, sondern insbesondere auch die Feuerwehren, die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände, die Umweltorganisationen und was es da sonst alles so gibt. Ich würde mich freuen, wenn wir mit dem Bundesjugendring und den Jugendverbänden über die Frage diskutieren würden, wie man realistisch, pragmatisch umsetzbar und vertretbar das ehrenamtliche Engagement im BAföG fördern kann. Ich glaube, eine Gesellschaft, die so sehr auf das Ehrenamt angewiesen ist, sollte sich vornehmen, für ein bisschen Anerkennung im Rahmen des BAföG zu sorgen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Letzter Punkt. Die elektronische Antragstellung ist vereinbart worden und im Prinzip auch möglich, aber nicht in der Weise, wie wir uns das wünschen, nämlich medienbruchfrei. Teilweise muss zu den elektronischen Anträgen noch Papier hinterhergeschickt werden. Wir müssen an diesem Thema weiter arbeiten und mit den Ländern im Gespräch bleiben, um einen medienbruchfreien BAföG-Antrag hinzubekommen. Der elektronische BAföG-Antrag muss so etwas wie ein Prunkstück der digitalen Verwaltung werden. Ich bin immer ganz verzweifelt, wenn ich feststelle, dass die elektronischen Verfahren im Wissenschaftsbereich überhaupt nicht funktionieren. Deswegen brauchen wir eine Fortentwicklung beim elektronischen Antragsverfahren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Debatte ist einmal mehr deutlich geworden: Das BAföG war Teil einer Erfolgsgeschichte von mehr Chancengleichheit und mehr Aufstieg durch Bildung. Sie soll fortgeschrieben werden. Mit dieser Novelle sind die Weichen so gestellt, dass das erfolgen kann. In dieser Debatte ist auch deutlich geworden, wo große Hoffnungen, überbordende Versprechungen gemacht werden und wo Verlässlichkeit hergestellt wird durch eine Politik, auf die sich die Menschen verlassen können. Das BAföG ist erhöht. Ich finde, das ist ein guter Erfolg, den wir erreicht haben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Katrin Albsteiger. (Beifall bei der CDU/CSU) Katrin Albsteiger (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ob Sie es glauben oder nicht: Es gibt Oppositionsanträge, die für das Parlament eine echte Bereicherung sind, Anträge, die sinnvolle Denkanstöße geben und uns als Regierungsfraktionen die Möglichkeit eröffnen, sich zu dem einen oder anderen Thema ganz neu, frisch, offen und transparent zu positionieren. Das sind Anträge, von denen wir alle etwas haben, die wir gerne miteinander debattieren. Dann gibt es Oppositionsanträge, die alle Jubeljahre kommen, die aus der Mottenkiste geholt werden nach dem Motto: Darüber hätten wir schon lange mal wieder reden müssen. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja, wenn die Regierung nichts macht!) Das sind meistens alte Hüte, die mit aktueller und moderner Politik schon lange nichts mehr zu tun haben. Dann wiederum gibt es Anträge von der Opposition, die im Wechsel, mal von den Linken, mal von den Grünen, immer wieder innerhalb einer Legislaturperiode gestellt werden. Wir debattieren zigmal darüber – ob hier im Plenum oder im Ausschuss – und tauschen die Argumente aus. Alle Argumente sind wirklich in Gänze auf den Tisch gelegt; es ist immer und immer wieder das gleiche Spiel. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr lernt ja nie! Das ist ja das Problem!) Der Erkenntnisgewinn ist begrenzt. – Um genau so einen Antrag handelt es sich heute hier. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren von den Linken, diesen Antrag mit dem Titel – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – „BAföG an die Lebenswirklichkeit anpassen – Keine weiteren Nullrunden für die Studierenden“ – (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tolle Überschrift!) gut drei Monate nach der größten BAföG-Reform aller Zeiten vorzulegen, ist schon eine ganz besondere Kategorie. Dass Sie uns das hier auch noch auf nur zwei Seiten präsentieren, erweckt bei mir den Eindruck von Lieblosigkeit und Leidenschaftslosigkeit. Sie haben sich offensichtlich nicht so viel Mühe gemacht, und ich finde ihn, ehrlich gesagt, auch relativ unverschämt. Aus meiner Sicht hat das schlichtweg nichts mit konstruktiver, reflektierter und auch anerkennender Oppositionspolitik zu tun. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb würdigen Sie ja jetzt den Oppositionsantrag!) Sie fordern keine weiteren Nullrunden und verdrehen damit an dieser Stelle die Tatsachen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein einziges Fachargument bisher!) Das wird der Sache nicht gerecht. Es gibt einen kleinen, aber feinen Unterschied zwischen Politik auf der einen Seite und Polemik auf der anderen Seite: (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist gerade eine polemische Rede par excellence!) Während wir Bildungspolitik machen, beschränkt sich die Linke auf Bildungspolemik. (Beifall bei der CDU/CSU) Gerade wenn in diesen Tagen in diesem Hause rot-rot-grüne Gespräche geführt werden, sollten sich die Beteiligten ganz genau überlegen, ob sie in diesem Stil mit den anderen überhaupt Bildungspolitik machen wollen. Sehen wir es aber einmal positiv: Das gibt uns zumindest die Gelegenheit, über das zu sprechen, was wir alles gemacht haben. Um es noch einmal deutlich zu machen: Zu den wesentlichen Veränderungen durch die letzte BAföG-Reform, die erst kürzlich in Kraft getreten ist, passt der Vorwurf von Nullrunden überhaupt nicht. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Union scheint zu viel Redezeit zu haben, dass man sie mit solchen Plattitüden füllt! – Gegenruf des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]: Das Leben ist manchmal hart!) Lassen Sie sich das einmal auf der Zunge zergehen: Erstens. Zum Wintersemester 2016 steigen die BAföG-Sätze um 7 Prozent. Zweitens. Studierende mit einer eigenen Wohnung erhalten bis zu 735 Euro monatlich. Das ist nicht nichts; damit kann man durchaus leben, wenn man sparsam ist. Drittens. Auch die Freibeträge bei den Elterneinkommen steigen, sodass insgesamt circa 110 000 Studenten und Schüler mehr in den Genuss des BAföG kommen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die vorher herausgefallen sind!) Das alles hat seinen Preis. Die Leistungsverbesserungen haben insgesamt ein Volumen von jährlich 825 Millionen Euro. (Beifall des Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]) Ich möchte noch etwas zum Antrag selber sagen: Erstens. Es wird gefordert, dass die Bedarfssätze und die Freibeträge künftig dynamisch anzupassen sind. Hier haben wir ein unterschiedliches Verständnis von Politik. Wir haben es im letzten Jahr geschafft, den Weg aus der unproduktiven Mischfinanzierung zu finden. Seit dem 1. Januar 2015 hat der Bund die vollständige Finanzierungshoheit. Die Länder werden jährlich um 1,2 Milliarden Euro entlastet. Das ist ein ganz schöner Batzen Geld, und das muss im Bundeshaushalt erst einmal finanziert werden. Man kann nicht immer, nachdem man Geld investiert hat, schon über die nächste Erhöhung sprechen. Man muss die Dinge auch einmal wirken lassen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Wie lange?) Damit haben wir die Zeit der Schwarze-Peter-Spiele beendet. Sie sind jetzt Geschichte. Der Bund hat die Verantwortung und wird sie auch wahrnehmen. Wir haben das Heft des Handelns in der Hand, und das wollen wir auch behalten. Die Forderung nach einer dynamischen Anpassung des BAföG ist daher nicht mehr notwendig. Wir müssen uns nicht mehr die ganze Zeit mit den Ländern zu Verhandlungen darüber an den Tisch setzen. Sie waren natürlich müßig und haben auch dazu beigetragen, dass nicht arg viel passiert ist. Das ist jetzt Gott sei Dank erledigt. Den Gestaltungsspielraum wollen wir uns jedenfalls nicht nehmen lassen. Verantwortung heißt, dass man Veränderungen, die es in der Realpolitik nun einmal gibt, auch berücksichtigt. Eine Dynamik passt einfach nicht dazu. Wir wollen analysieren, reflektieren, alles im Lichte der Zeit bemessen und im Gesamtkontext sehen und die entsprechenden Schritte gehen, wenn wir sie für geboten und richtig erachten. Die junge Generation hat auf lange Sicht nichts davon, wenn wir das nicht auch haushalterisch in den Griff bekommen und die Sache finanziell nicht austariert ist. So ist es nun einmal in der Politik: Es ist immer auch ein Kampf ums Geld. Den führen wir gerne, wir führen auch gerne die Debatten. Genau deshalb aber sage ich: Wir brauchen die dynamische Anpassung nicht. Zweitens. Sie schreiben in Ihrem Antrag, die Beiträge sollten statt um 7 Prozent, um die wir sie erhöht haben, noch schnell um mindestens 10 Prozent steigen. So funktioniert Politik halt nicht. Die aktuelle BAföG-Reform ist seriös durchgerechnet. Hinzu kommt, dass wir ein ausführliches parlamentarisches Verfahren hatten, in dem wir uns mit diesem Thema beschäftigt und Argumente ausgetauscht haben. Jetzt noch einmal 3 Prozentpunkte mehr zu fordern, ist so ein bisschen Fundamentalopposition, immer nach dem Motto: Das, was die Regierung macht, ist immer zu wenig; wir wollen mehr, mehr, mehr – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wie auch immer das Ganze am Schluss finanziert werden soll, ob durch die Aufnahme neuer Schulden oder durch Steuererhöhungen oder dadurch, dass man Geld aus anderen wichtigen Bildungsprojekten zieht. Das wäre das Prinzip „linke Tasche, rechte Tasche“. Das ist eine Milchmädchenrechnung; aber offensichtlich kennen Sie sich damit aus. Mit uns jedenfalls ist das nicht zu machen; denn generationengerecht ist das nicht. Drittens. Sie fordern, den nächsten BAföG-Bericht noch in diesem Jahr vorzulegen. Zugegeben: Berichte sind für uns wichtig. Sie sind aber kein Selbstzweck. Sie müssen dann vorgelegt werden, wenn es etwas zu berichten gibt. Die Reform ist gerade erst in Kraft getreten. Nun muss es die Möglichkeit geben, sie eine Weile wirken zu lassen. Wir freuen uns alle gemeinsam auf den BAföG-Bericht im Jahr 2017, in dem die Auswirkungen der aktuellen Reform beschrieben sein werden. In dem Bericht kann auch berücksichtigt werden, welche aktuellen Entwicklungen noch einbezogen werden müssen. Auch das Thema „elektronische Beantragung“ und die Frage, ob dies reibungslos funktioniert, kann darin aufgearbeitet werden. Das ist für uns wichtig. Danach werden wir selbstverständlich das BAföG weiterentwickeln. Wir haben das BAföG in dieser Legislaturperiode zukunftsfähig gemacht. Wir haben mit der Übernahme der gesamten BAföG-Finanzierung von 1,2 Milliarden Euro in dieser Legislatur durchaus einen schönen Batzen gestemmt. Wir stehen zum BAföG und werden es mithilfe der BAföG-Berichte weiterentwickeln, und irgendwann fließt natürlich auch wieder mehr Geld. Herr Präsident, ich muss zum Schluss noch einen Punkt nennen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt haben Sie schon eine so lange Redezeit und kommen noch nicht einmal hin!) Der Kollege Kaczmarek hat vorhin gesagt, wir hätten das Deutschlandstipendium einführen wollen, um das BAföG Schritt für Schritt zu ersetzen. Das ist komplett falsch. Das Deutschlandstipendium und alle anderen Stipendiensysteme sind enorm wichtige Finanzierungsinstrumente. Sie sind aber nicht eingeführt worden, um das BAföG ganz oder teilweise zu ersetzen, sondern als Ergänzung. Das ist auch gut so. Es ist natürlich völlig klar: Wir lehnen Ihren Antrag ab. Ich hoffe, dass Sie bis zum nächsten Recycling Ihres Antrags ein bisschen Zeit vergehen lassen, es also noch ein wenig dauern wird, bis er wieder auf die Tagesordnung kommt. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die Kollegin Dr. Daniela De Ridder für die SPD. (Beifall bei der SPD) Dr. Daniela De Ridder (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor allem: Liebe Studierende! Der Antrag zum BAföG, den wir heute behandeln, ist ein Oppositionsantrag. Liebe Studierende, Opposition kennt ihr nicht? Das macht nichts. Ich erkläre es euch. Opposition bezeichnet eine Partei oder Gruppe, die der herrschenden Politik Widerstand und Ablehnung entgegenbringt. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das jetzt Politik für Dummies, oder was?) Opposition ist aber schlecht beraten, wenn sie durch Auslassung und Schlechtreden geschlossene Weltbilder produziert. Das, liebe Studierende, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, ist hier am Beispiel der BAföG-Debatte leider der Fall. Ziel des BAföG – das wissen hoffentlich alle – ist es, allen jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, unabhängig von ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation eine Ausbildung zu machen, die ihren Fähigkeiten und Interessen entspricht. Liebe Frau Gohlke, ich finde es ganz interessant, dass Sie den Regierungsparteien Realitätsverweigerung vorwerfen. Ich frage mich, warum Sie in Ihrem Antrag nicht erwähnt haben, dass man 735 Euro als Höchstsatz beziehen kann. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau De Ridder, wie viele kriegen den denn?) Diese Zahl fehlt völlig. Dann haben Sie darauf verwiesen, dass die Preissteigerungen in den Blick genommen werden müssen. Wenn es um die Lebensrealität geht, kann man sich zum Beispiel den Verbraucherindex ansehen. Ich stelle fest, dass der von einem Jahr zum anderen um nicht einmal 1 Prozent gestiegen ist. Das ist interessant. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) In einem Punkt will ich Ihnen recht geben, liebe Frau Gohlke, und zwar bei den Mietpreisen. Wir können in der Tat konstatieren, dass die Mietpreise im Schnitt um mehr als 1 Prozent – aber auch nicht 2 Prozent – gestiegen sind. Aber hier konkurrieren doch Studierende mit vielen anderen auf dem Wohnungsmarkt, liebe Frau Gohlke. Es würde mich freuen, an dieser Stelle Ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, wenn es beispielsweise darum geht, mit anderen Instrumenten den Wohnungsmarkt aufzubrechen, beispielsweise mit der Mietpreisbremse oder dem sozialen Wohnungsbau. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen wir doch schon, dass die Mietpreisbremse nicht funktioniert! Sie bremst nicht!) Schauen wir uns doch an, wie sich das entwickelt. Dann können wir vielleicht zu einem konstruktiven Gespräch kommen und uns mit den Nutzergruppen befassen. Was auch zu den Ausblendungen gehört – lassen Sie mich das sagen –, ist das Thema Meister-BAföG. Auf welche Gruppe kaprizieren Sie sich denn, wenn Sie über das BAföG reden? Und warum ignorieren Sie, dass wir die Zuschüsse für das Meister-BAföG deutlich erhöht haben, nämlich auf 50 Prozent, und beispielsweise auf Maßnahmen rekurrieren, die diejenigen in Anspruch nehmen können, die Meister werden wollen? 40 Prozent des Restdarlehens muss man nicht zurückzahlen. Für Lehrgangs- und Prüfungskosten kann man 15 000 Euro beantragen, und man kann sein Meisterstück zu 40 Prozent finanziert bekommen. All dies haben Sie völlig ausgeblendet. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Frau Kollegin De Ridder, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Hein? Dr. Daniela De Ridder (SPD): Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen. Wir werden das sicher im Ausschuss noch vertiefen können. Da bin ich sicher. Ich treffe die Kollegin ohnehin am Wochenende. (Zurufe von der SPD: Oh! – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Was haben Sie da vor? Da sind wir neugierig!) – Ich mache das gerne, mit der Kollegin zu sprechen. Lassen Sie mich noch einen Tipp loswerden, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken. Warum schauen Sie nicht nach Baden-Württemberg? Wenn Frau Theresia Bauer meint, sie könne dort Studiengebühren für Ausländer und Ausländerinnen einführen, dann besteht doch das Risiko, dass sich die Situation für Studierende erheblich verteuert. Wir sollten gemeinsam Sorge tragen, dass das nicht passiert und Schule macht und zum Einstieg in eine deutliche Verschlechterung für Studierende, egal welcher Herkunft, wird. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Die Kollegin Dr. Hein hat jetzt die Gelegenheit zu einer Kurzintervention. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh nein!) Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Vielen Dank. – Es tut mir leid, ich mache das wirklich nicht oft. Aber wenn ich das am Sonntag mit Frau De Ridder ausmache, dann hilft das nicht viel. (Zuruf von der CDU/CSU: Was machen Sie da zusammen?) – Wir sitzen auf einem Podium, aber das geht Sie nichts an. (Heiterkeit bei der SPD) Weil die Koalition so stolz auf das Meister-BAföG ist, würde ich Frau De Ridder gerne fragen, ob sie erklären kann, warum zum Beispiel ein Kind einer Meisterschülerin mehr wert ist als das Kind einer Studierenden. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das sind doch zwei völlig unterschiedliche Systeme!) Hier gibt es nämlich sehr unterschiedliche Bedarfssätze. Das ist nur ein sehr gravierendes Beispiel für die Unterschiede zwischen den Fördersystemen, und ich glaube, dass es mehr als einer Reform bedarf, um das zu verändern. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Frau Kollegin De Ridder, wollen Sie darauf antworten? (Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Wir wollen wissen, was das für ein Podium ist! Geheimpodien!) Dr. Daniela De Ridder (SPD): Ich antworte gerne darauf. Bevor hier der Eindruck entsteht, wir würden Geheimveranstaltungen abhalten, kläre ich gerne das Plenum auf. Es geht um eine öffentliche Veranstaltung, bei der wir das sicher noch einmal vertiefen können. Ich lade gerne in meinen Wahlkreis ein. Dann haben alle Gelegenheit, daran teilzunehmen. Wie aber Frau Hein zu dem Schluss kommt, es gebe ganz unterschiedliche Messlatten, wird sie erklären müssen. Dafür ist der Ausschuss der richtige Ort. Wir müssen uns in der Tat damit befassen, wie wir mit dem Thema soziale Gerechtigkeit in der Bildungspolitik umgehen und welche Effekte die Politik, die wir erzeugen, erzielt. Deshalb bin ich eine Vertreterin von Evaluation. Wir haben dies auch schon bei anderen Themen diskutiert. Wir müssen uns in der Tat damit beschäftigen – die Kollegin Albsteiger hat es erwähnt –, wie die Effekte beim BAföG sind und wie sie beim Meister-BAföG sein werden. Das muss man sich genau anschauen. Aber das braucht Zeit. Man braucht ein entsprechendes Zeitfenster, um sich all das anzusehen, liebe Frau Kollegin. Ich denke, das müssen Sie uns schon zugestehen, damit das Wirkung entfaltet. Sonst haben wir überhaupt keinen Orientierungsrahmen. Dann werden wir sehen, an welcher Stelle wir noch einmal nachlegen. Ich bin sicher: Wir beide werden das noch einmal ausfechten, diskutieren und auch gemeinsam zu guten Ergebnissen kommen. Ich bin da optimistisch. Denn das gehört – bevor auch das missverstanden wird – ebenfalls zur politischen Debatte dieses Hauses. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Mit dieser Antwort auf die Kurzintervention haben wir zugleich das Ende der Rednerliste erreicht. Deshalb schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/10012 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich nehme an, Sie alle sind damit einverstanden. – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist diese Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung und Ergänzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verhütung und Unterbindung terroristischer Handlungen durch die Terrororganisation IS auf Grundlage von Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen in Verbindung mit Artikel 42 Absatz 7 des Vertrages über die Europäische Union und den Resolutionen 2170 (2014), 2199 (2015), 2249 (2015) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sowie des Beschlusses der Staats- und Regierungschefs vom NATO-Gipfel am 8./9. Juli 2016 Drucksache 18/9960 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner Herrn Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier das Wort. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen: Danke. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder und Nachrichten aus Aleppo sind an Grausamkeit nicht zu übertreffen: eine Trümmerwüste, wo früher das Leben blühte, traumatisierte Menschen, Kinder, die ihr Zuhause und ihre Familien verloren haben. Ich sage – so haben wir es auch gestern in einem wahrhaft nicht einfachen Gespräch Präsident Putin gegenüber deutlich gemacht –: Dieser Wahnsinn kann und darf nicht weitergehen. Er muss ein Ende haben, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unsere Priorität muss jetzt sein, die Frauen, Männer und Kinder in Aleppo jedenfalls mit dem Nötigsten zu versorgen. Die Menschen hungern, sie verdursten. Wir brauchen jetzt geschützte Zugangsmöglichkeiten, um diesen Menschen zu helfen. Daran arbeiten wir zurzeit intensiv mit den Vereinten Nationen, mit dem Internationalen Roten Kreuz und den Partnerorganisationen – auch heute schon wieder den ganzen Tag. Heute Abend werde ich noch Kontakt zum saudischen und zum katarischen Außenminister haben, um dafür zu sorgen, dass auch die Oppositionsgruppierungen Sicherheitsgarantien für die Hilfsorganisationen abgeben. Meine Damen und Herren, Moskaus Ankündigung einer kurzen Einstellung der Kampfhandlung kann nur ein Anfang sein. Acht Stunden – oder wie jetzt erneuert: elf Stunden –, das drei- oder viermal, ist ein Anfang. Aber das reicht bei Weitem nicht, um die belagerten Menschen in der Stadt mit Hilfsgütern zu versorgen. Aber das reicht erst recht nicht – darum sage ich es –, um eine Entflechtung der Opposition von den radikalen und terroristischen Gruppierungen durchzusetzen. Es mag sein, dass terroristische Gruppierungen wie alNusra Menschen in Ost-Aleppo als Schutzschild missbrauchen, um sich gezielt in Hospitälern und Schulen zu verbergen. Aber auch 1 000 oder möglicherweise 1 500 alNusra-Kämpfer sind keine Rechtfertigung, um Aleppo in Schutt und Asche zu verwandeln. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb setzen wir uns mit aller Kraft für einen Waffenstillstand ein. Es stimmt: Bisher war unsere Arbeit für eine politische Lösung in der Tat nicht von Erfolg gekrönt. Aber das darf kein Grund sein, aufzugeben. Ich bleibe dabei: Es wird in diesem Konflikt keine militärische Lösung geben. Die, die jetzt noch daran glauben, werden erleben: So wird es nicht eintreten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen: Aleppo ist nur ein Ausschnitt eines wesentlich größeren Krisenbogens – geprägt von aufbrechenden autoritären Strukturen, konfessionellen Gräben, sozialen Verwerfungen und staatlicher Fragilität. Von dieser Gemengelage hat in den letzten Jahren vor allem die Terrormiliz IS profitiert. Der Kampf um Mosul führt uns dies gerade deutlich vor Augen. Aber die barbarische Herrschaft, die der IS errichtet hat, greift weit über die Region hinaus. Der IS bedroht auch unsere Sicherheit hier im Herzen Europas. Dafür stehen die Anschläge von Paris, Brüssel, Nizza, Rouen und anderswo. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns diesem Terror geschlossen und entschlossen entgegenstellen, natürlich nicht nur mit militärischen Mitteln, aber es geht auch nicht ohne sie. Mittlerweile haben sich 67 Länder und drei internationale Organisationen in der internationalen Anti-IS-Koalition zusammengeschlossen. Wir haben uns daran beteiligt mit Maßnahmen zur Luftaufklärung, mit Luftbetankung sowie mit Begleitschutz für einen französischen Flugzeugträger. Das wollen wir fortsetzen, ergänzt durch Aufklärungselemente von AWACS, die wir gemeinsam mit anderen in die Anti-IS-Koalition einbringen werden. Zur Vermeidung von Missverständnissen: Das geschieht ausschließlich vom türkischen und vom internationalen Luftraum aus und ohne dass damit die NATO formelles Mitglied der Anti-IS-Koalition wird. Darauf haben wir bei dem Einsatz von AWACS in den Beratungen im Vorfeld großen Wert gelegt. Ich denke, das entspricht auch der Interessenlage in diesem Haus. Daneben wissen wir, dass die Auseinandersetzung am Boden von regionalen und lokalen Kräften zu leisten ist. Auch deshalb ist unsere Ausbildungs- und Ausrüstungsunterstützung für die Peschmerga im Irak von so zentraler Bedeutung. Wir haben damals – ich erinnere mich noch gut daran – hier im Hause über die Risiken einer solchen Unterstützung offen und fair diskutiert. Ich glaube dennoch gerade heute: Die damalige Entscheidung war richtig. Der damals scheinbar unaufhaltsame Vormarsch des IS im Nordirak konnte jedenfalls gestoppt werden. Dennoch besteht kein Anlass zur Euphorie. Die Lage im Mittleren Osten, die Erosion staatlicher Ordnung, die ethnisch oder religiös motivierten Machtauseinandersetzungen dort, das alles wird uns noch sehr lange beschäftigen. Auch wenn es uns lange beschäftigen wird, sollten wir die Veränderungen, die es im letzten Jahr gegeben hat, durchaus registrieren. Die Lage im Kampf gegen den IS hat sich verändert. Das zeigt auch der Blick auf Syrien, wo der IS ein Fünftel seines Gebietes an die Opposition und die Kurden verloren hat, darunter so strategisch wichtige Städte wie Manbij, Dscharabulus und Dabiq. Das zeigt aber erst recht der Blick in den Irak, wo der IS seit dem Sommer 2014 mehr als die Hälfte seines Gebietes verloren hat. Nicht zuletzt zeigt das der nun beginnende Kampf um Mosul, wo die irakische Armee und Peschmerga jetzt mit Unterstützung der Anti-IS-Koalition auf die letzte IS-Hochburg im Lande vorrücken. Wenn Mosul fällt, dann hat der IS im Irak kein nennenswert zusammenhängendes Gebiet mehr. Niemand macht sich hoffentlich Illusionen. Der Kampf, der dort geführt wird, wird nicht leicht sein. Niemand kann im Augenblick sagen, wie lange es dauern wird. Aber eines können wir mit Gewissheit sagen: dass wir uns auf den Tag danach tunlichst jetzt vorbereiten sollten. Deshalb beschränkt sich unser Engagement im Irak und in der Region nicht auf unsere Unterstützung der Anti-IS-Koalition, zu der wir heute um Ihre Zustimmung bitten. Weil wir für die Menschen langfristig eine bessere Perspektive schaffen wollen, betten wir diesen Einsatz ein in einen umfassenden Ansatz, von der humanitären Hilfe über unsere politischen Bemühungen bis hin zu dem immer zentraler werdenden Thema der Stabilisierung. Mit Blick auf Mosul heißt das, dass es uns jetzt darum gehen muss, die Not zu lindern und jenen Menschen zu helfen, die aus der umkämpften Stadt in die in der Gegend vorbereiteten Auffanglager fliehen. Deutschland ist bereits einer der größten humanitären Geber im Irak. Speziell für Mosul haben wir noch einmal 35 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Wir müssen uns bereits jetzt damit beschäftigen, wie es in Mosul weitergehen soll, wenn die Stadt vom IS befreit sein wird. Wir treffen uns dazu bereits heute in einer größeren Gruppe von Staaten in Paris – im November dann wieder in Berlin –, um uns und die Stadt Mosul auf „the day after“ vorzubereiten. Das macht Sinn, weil wir schon vor der Befreiung von Mosul, die hoffentlich stattfinden wird, Erfahrungen haben sammeln können, zum Beispiel nach der Befreiung von Tikrit. Dort haben wir sehr schnell gemeinsam mit den Vereinten Nationen und mit Mitteln aus Deutschland Strom- und Wasserleitungen wiederhergestellt und dafür gesorgt, dass eine Gesundheitsversorgung wenigstens auf einem Mindeststandard wieder stattfindet. Immerhin hat das dazu geführt, dass 90 Prozent der vertriebenen Bevölkerung in die Stadt zurückgekehrt sind. Deshalb, glaube ich, ist das der richtige Weg. Wasser, Schulen, Krankenhäuser – alles das benötigen die Menschen für ihre Rückkehr, aber eben auch Sicherheit spielt eine entscheidende Rolle. Deshalb reden wir auch mit unseren Partnern in der irakischen Regierung und sagen, dass es nach der Befreiung von Mosul auch darum gehen muss, einen Rückfall in die alten ethnisch oder religiös begründeten Konflikte zu verhindern. (Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) – Das tun wir auch. – Wenn nach der Befreiung der Stadt die Geißel des IS nur durch einen Machtkampf zwischen Kurden, Sunniten und Schiiten abgelöst wird, dann ist jedenfalls für die Menschen in Mosul nichts gewonnen. Deshalb haben wir der irakischen Regierung einen sogenannten Mosul-Stabilisierungsrat vorgeschlagen, in dem sich die wichtigen lokalen Kräfte zusammensetzen, um den Wiederaufbau schon jetzt gemeinsam zu planen und zu gestalten. Ein erstes Treffen zu dem Thema humanitäre Hilfe hat jetzt stattgefunden. Das ist ein erstes Treffen, ein erster Schritt, aber immerhin waren der Auftakt und das Gespräch der Beteiligten untereinander aus meiner Sicht ganz ermutigend. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss: Aleppo, Mosul, Falludscha, Tikrit, Ramadi, wir brauchen – das zeigt uns all das – einen umfassenden Ansatz, um unserer Verantwortung in dieser wirklich geschundenen Region gerecht zu werden. Die Beteiligung an der Anti-IS-Koalition ist ein Teil davon. Deshalb bitte ich Sie um die Unterstützung für das vorliegende Mandat. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Außenminister Steinmeier, auch wir als Linke fordern einen sofortigen Waffenstillstand für Aleppo. Was wir allerdings vermissen, ist, dass die Bundesregierung gerade auf die Verbündeten Druck macht, die die islamistischen Terrorbanden in der Region unterstützen. Ich muss Ihnen eines sagen: Heute Morgen hat die türkische Luftwaffe die syrischen Kurden angegriffen. Der Premiumpartner der Bundesregierung, das verbrecherische Erdogan-Regime, hat fast 200 Kurdinnen und Kurden in Syrien einfach so massakriert. Ich finde, das ist ein Kriegsverbrechen Ihres engen Partners gerade gegen diejenigen – die Frauenbataillone und die Männerbataillone –, die sich dem barbarischen „Islamischen Staat“ am tapfersten entgegenstellen. (Beifall bei der LINKEN) Ich finde, es ist ein schwarzer Tag für die deutsche Außenpolitik, dass Sie nicht ein kritisches Wort hier zu diesem türkischen Luftkrieg gegen die Kurdinnen und Kurden im Norden Syriens verlieren. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kriegsverbrechen werden nicht von Ihnen verurteilt. Durch Ihre Unterstützung Erdogans machen Sie, meine Damen und Herren, sich auch noch mitschuldig an diesem Verbrechen gegenüber den Kurdinnen und Kurden. Das finde ich unerträglich. (Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie ein Ende des Bombardements in Aleppo fordern, die türkischen Angriffe für Sie aber offenbar okay sind, weil es bis jetzt keine offizielle Verurteilung dieses Kriegsverbrechens gibt, dann nenne ich das nichts weiter als heuchlerisch. Ihre Politik der doppelten Standards stinkt wirklich bis zum Himmel. (Beifall bei der LINKEN) Es soll hier ein Antrag von Ihnen beraten werden, die Bundeswehr in die Türkei zu entsenden. Ich frage Sie: Wollen Sie angesichts der Kriegsverbrechen Ihres Partners Erdogan wirklich eine weitere Unterstützung dieses Mannes und seiner mörderischen Syrien-Politik auf den Weg bringen? Das ist unserer Meinung nach in hohem Maße verantwortungslos. Sie argumentieren hier, dass mit den Bundeswehreinsätzen von der Türkei aus der Terror des „Islamischen Staats“ bekämpft werden soll. Man weiß angesichts dieser Legenden, die gebildet werden, gar nicht mehr wirklich, ob man lachen oder weinen soll. Sie können doch nicht einmal ausschließen, dass die Tornadoaufklärungsdaten für die verbrecherischen Angriffe Erdogans auf die Kurden verwandt werden. Dies finde ich wirklich ungeheuerlich. Sind die Kurden heute auch mit Ihrer Hilfe ermordet worden, meine Damen und Herren? Bis jetzt sind Sie nicht imstande, uns auf diese Frage ein klares Nein zu sagen. Das, was hier passiert, ist einfach nur noch skandalös. (Beifall bei der LINKEN) Im Sommer hatte die Bundesregierung die Türkei als die zentrale Aktionsplattform für islamistischen Terrorismus im ganzen Nahen und Mittleren Osten bezeichnet. Und jetzt machen Sie mit Ihrer Bundeswehrmission gemeinsame Sache mit dieser Aktionsplattform für islamistischen Terror in der Region. Sie nutzen Ihre Militärstützpunkte, und Sie tauschen Ihre Zieldaten in einem gemeinsamen Kommando aus. Weiterhin sehen Sie dabei zu, wie die Türkei eben genau diejenigen bekämpft und ermordet, die sich dem IS tapfer und entschieden entgegenstellen. Sie sehen dabei zu, wie die Türkei islamistische Terrorbanden wie die Ahrar alScham bewaffnet, für die ja auch der mutmaßliche Terrorist Albakr, der in einem sächsischen Gefängnis erhängt aufgefunden worden ist, tätig geworden sein soll. Es ist deshalb nichts als ein furchtbarer, menschenverachtender Zynismus, zu behaupten, dass diese Bundeswehreinsätze an der Seite der Türkei der Bekämpfung des Terrorismus dienen würden, meine Damen und Herren. Hören Sie auf, den Menschen Sand in die Augen zu streuen! Das stimmt einfach nicht. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt sagen Sie auch noch, dass Sie die AWACS-Flugzeuge brauchen, um der Türkei unter die Arme zu greifen. Der Luftraum in Syrien und im Irak soll von der Türkei aus überwacht werden, um den IS zu bekämpfen. Man fragt sich wirklich: Für wie dumm halten Sie eigentlich die Leute? Der „Islamische Staat“ hat keine Luftwaffe. Also bleibt doch als einziger Schluss, wem und wogegen dieser Einsatz dienen soll, dass dieser Einsatz gegen die russische Luftwaffe gerichtet ist. Ich finde das brandgefährlich. (Zuruf von der SPD) – Ja, die haben die Luftwaffe dort. Sie zündeln hier. Deshalb möchte ich sagen, dass dieser Einsatz und das, was Sie da treiben, mit dem, was im Grundgesetz für die Bundeswehr als Verteidigungsauftrag beschrieben worden ist, wirklich nichts mehr zu tun hat. Im Grundgesetz steht, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. Ich erwarte, dass Sie Ihren Ankündigungen Taten folgen lassen. Wenn Erdogan und seine Regierung der AKP einem einzigen Bundestagsabgeordneten, der die Bundeswehrsoldaten dort besuchen will, die Einreise in den Stützpunkt Incirlik verweigert, dann dürfen Sie diese Bundeswehrangehörigen nicht mehr in der Türkei lassen. Es darf keine Parlamentsarmee ohne parlamentarische Kontrolle geben. (Beifall bei der LINKEN) Meine Kollegen haben jetzt einen Antrag auf Einreise vor der abschließenden Beratung gestellt. Wir werden sehen, wie Sie sich verhalten werden. Spätestens dann, wenn die Einreise verweigert wird, muss die Bundeswehr dort abgezogen werden. Unsere Forderung hierzu ist klar: Sagen Sie Nein zu den Bundeswehreinsätzen! Sie bekämpfen damit nämlich keinen Terror, sondern unterstützen lediglich diejenigen, die den Terror in der Region fördern. Sie deeskalieren nicht, – Vizepräsident Johannes Singhammer: Frau Kollegin, Sie denken an die vereinbarte Redezeit? Sevim Dağdelen (DIE LINKE): – ja – sondern beschwören neue Bedrohungen für den Weltfrieden. Vielen Dank. – Herzlichen Dank, Herr Präsident. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten einen Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung und Ergänzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“. Wes Geistes Kind diejenigen sind, gegen die wir uns hier stellen, konnten und mussten wir vor nicht allzu langer Zeit sehen – auch im Internet –, als ein abgestürzter jordanischer Pilot von den IS-Terroristen auf barbarische Weise ermordet wurde. 22 Minuten dauerte sein Todeskampf in einem brennenden Käfig. Es ist schwer vorstellbar, dass Menschen sich überhaupt so etwas ausdenken können. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der Gegner, um den es hier geht – ein Gegner, der mit dem gleichen barbarischen Ansatz unter anderem auch die kurdische Bevölkerung in der Region bekämpft, von der Sie eben gesagt haben, dass es Ihnen um ihren Schutz geht. Der IS bekämpft die Kurden. Der IS ist eine barbarische Organisation. Der Vorwurf des menschenverachtenden Zynismus fällt auf Sie selbst zurück. Zum wiederholten Mal und in einer selten erlebten Deutlichkeit fällt dieser Vorwurf auf Sie zurück, Kolleginnen und Kollegen von den Linken. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Heuchler!) Um auch das deutlich zu sagen: Es gibt keinen Zieldatenaustausch, der geeignet ist, gegen die kurdische Bevölkerung vorzugehen. Wir sind in einer Allianz, in der Allianz Inherent Resolve, gegen den islamistischen Terrorismus. Dort helfen wir mit. Dieses Engagement wollen wir fortsetzen. Dieses Engagement wollen wir ausbauen. Es dient einzig und allein der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus und damit auch der Bekämpfung derer, die die kurdische Bevölkerung im irakischen Norden wie auch in Syrien drangsalieren. Dagegen gilt es vorzugehen. Sie sind diejenigen, die die Kurden im Stich lassen. Wir sind diejenigen, die sich an ihre Seite stellen als den Unterdrückten in der Region, als den Opfern des islamistischen Terrorismus. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Widerspruch bei der LINKEN) Die schrecklichen Bilder vom 13. November des letzten Jahres in Paris, von den Attentaten in Tunis, Istanbul, Brüssel, Orlando, Nizza und anderswo haben uns gezeigt, dass die terroristischen Gräueltaten des IS sich nicht nur gegen die Menschen in Syrien und im Irak richten, sondern dass sie auch uns alle bedrohen. Dort, wo der IS seine vermeintliche Stärke noch besitzt – in Syrien und im Irak –, müssen wir gemeinsam mit der großen Zahl der Nationen der Anti-IS-Koalition entschlossen, verantwortungsvoll und gemeinsam handeln und so der Bedrohung weiter entgegentreten und sie bekämpfen. Es ist gut, dass es erkennbare Erfolge in diesem Kampf gegen den barbarischen Terrorismus in der Region gibt. Das ermutigt uns, diesen Weg weiterzugehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Seit Beginn des Einsatzes leisten wir Schutz, gewinnen wir Informationen zur Lage vor Ort durch Aufklärung und unterstützen wir mit Fähigkeiten zur Betankung in der Luft sowie mit Personal in den Stäben. Die durch uns bereitgestellten Informationen haben niemandem außer den IS-Terroristen in der Vergangenheit Schaden zugefügt. Sie dienen dazu, den IS empfindlich zu treffen und damit den Einflussbereich dieser Terrororganisation deutlich zu beschränken. Das ist das erklärte Ziel, und das ist in den vergangenen Monaten zum Glück auch gelungen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zukünftig wird die Fähigkeit der Luftraumüberwachung, wie auf dem NATO-Gipfel im Juli dieses Jahres in Warschau beschlossen, durch den Einsatz von AWACS-Flugzeugen erweitert werden. Damit wird schon in Kürze eine weitere wichtige Komponente dem Kampf gegen den IS zur Seite gestellt. Um Schulter an Schulter mit unseren NATO-Partnern die erforderlichen AWACS-Einsätze bereits ab November leisten zu können, befassen wir uns mit diesem Mandat, bevor das gegenwärtige Mandatsende am 31. Dezember 2016 erreicht ist. Das Nordatlantische Bündnis wird einen Beitrag leisten, der auf die deutschen Besatzungsangehörigen in den AWACS-Maschinen angewiesen ist. Die Einsatzflüge werden im türkischen und internationalen Luftraum erfolgen und dienen auch der Sicherheit unserer Tornados in ihrer Aufklärungsrolle sowie der Flugzeuge unserer Freunde und Partner in der Anti-IS-Koalition. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Hilfe und Unterstützung für die Menschen in Syrien und im Irak sowie für die Nationen, die sich dem Terror des IS entgegenstellen, wollen, werden und müssen wir fortsetzen. Der Appell des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen – nicht irgendeiner Organisation, sondern der Vereinten Nationen! –, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen und die Anstrengungen zu verstärken, um terroristische Handlungen des IS in Syrien und im Irak zu unterbinden, hat immer noch Bestand, und er richtet sich weiterhin auch an uns. Das ist auch unsere Verantwortung, diesem Appell nachzukommen. Um die Gefahr durch den IS nachhaltig zu begrenzen, wollen wir unsere Beiträge zu den militärischen Maßnahmen weiterhin aufrechterhalten. Hierzu sollen unverändert bis zu 1 200 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr eingesetzt werden können. Der Einsatz von Streitkräften ist ein Teil der erforderlichen Schritte, die wir ergreifen müssen. Aber klar ist auch: Der langfristige Erfolg unserer Beiträge zum militärischen Vorgehen gegen den IS hängt maßgeblich auch von unserem zivilen Engagement in der Region ab, das ein großartiges Engagement ist. Aber, Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen uns dabei auch nicht selbst täuschen. Ob wir das wollen oder nicht, unser ziviles Engagement und die Erfolge unserer politischen Verhandlungen werden ihre Wirkung erst vollumfänglich entfalten können, wenn wir den IS mit den zurzeit notwendigen militärischen Mitteln weiter nachhaltig schwächen und zurückdrängen können. Es geht hier nicht darum, mit Stuhlkreisen oder zynischen Reden vorzugehen. Hier geht es nur darum, dass wir auch die notwendigen militärischen Maßnahmen ergreifen, den notwendigen militärischen Druck entwickeln, um den IS zurückzudrängen. Mit schönen Worten wird er sich nicht zurückdrängen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Terrorpaten!) Barbaren müssen auch mit militärischen Mitteln bekämpft werden. Diese Auseinandersetzung ist unvermeidlich und muss fortgesetzt werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie etwas zur Aktionsplattform!) Deshalb bedeutete eben ein Nein zu einem deutschen militärischen Beitrag im Kampf gegen den IS ein Nein zu den angestrebten Entwicklungen, die Gegenstand unserer bisherigen politischen Bemühungen um eine sichere, stabile und friedliche Zukunft Syriens und des Iraks sind und waren. Darum geht es auch in den anstehenden Beratungen. Darum geht es auch in Zukunft. Für diesen Weg bittet die Bundesregierung weiterhin um Ihre Unterstützung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das war eine barbarische Rede! Eine barbarische Rede ist das!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen. Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erinnern uns alle an die schrecklichen Anschläge vor fast einem Jahr in Paris. Damals hat die deutsche Bundesregierung auch als Antwort darauf dieses Mandat zur Bekämpfung des selbsternannten „Islamischen Staates“ durch den Bundestag gejagt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grüne haben uns vor einem Jahr diese Entscheidung nicht einfach gemacht. Wir haben sehr ernsthaft und sehr sorgfältig abgewogen. Wir blicken natürlich alle nach Mosul. Wir wünschen uns alle eine Stadt, die endlich befreit ist vom Terrorregime des sogenannten „Islamischen Staates“. Aber wir schauen auch mit sehr viel Sorge darauf, was danach kommt. Die Entscheidung aus Solidarität und Betroffenheit gegenüber den Menschen, die unter Terror leiden, reicht als Grundlage für einen militärischen Einsatz noch nicht aus. Eines muss uns auch klar sein: Im allerbesten Fall können militärische und polizeiliche Mittel dazu beitragen, Terror einzudämmen. Besiegen kann man Terrorismus aber am Ende des Tages nur politisch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hier sind wir bei der Frage, was an diesem Einsatz die Grundproblematik ist. Es fehlt dieser Allianz ein politischer Fahrplan, der von allen getragen wird, eine umfassende Strategie, die mehr ist als nur militärisches Vorgehen und Luftschläge. Es ist doch nach wie vor ein zentrales und ungelöstes Riesenproblem, dass nicht nur die Staaten in der Region, sondern auch die Staaten in dieser Allianz so unterschiedliche, teilweise hochwidersprüchliche Eigeninteressen verfolgen, auch auf Kosten der Menschen in Syrien und im Irak. Das muss endlich aufhören. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Kampf gegen die Kurden seitens der Türkei ist schon angesprochen worden. Da fragt man sich schon: Wo ist die deutsche Rolle? Wo ist das Engagement, um diese gefährliche Planlosigkeit und diese Gewalt zu beenden und zu thematisieren? (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ja, ein Plan! Kein Plan!) Diese Fragen stellen sich auch praktisch im Rahmen dieses Einsatzes. Die Bundesregierung weiß nicht – Herr Brauksiepe, das haben wir aus Ihrem Haus schwarz auf weiß –, wofür die deutschen Aufklärungsdaten im Anschluss im Einzelnen verwendet werden. Meine Damen und Herren, wer Aufklärungsdaten liefert, muss doch den Anspruch haben, mitzureden und zu wissen, was im Anschluss damit passiert. Aber auch die rechtliche Konstruktion dieses Einsatzes ist hochproblematisch; denn sie steht im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Die Bundeswehr darf im Ausland militärische Gewalt nur im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit ausüben. Da geht es um die Europäische Union, um die NATO oder – daran denken wir Grüne immer als Erstes – um die Vereinten Nationen. Die Bundesregierung versucht bei diesem Mandat in einer abenteuerlichen Argumentation über zwei Seiten zu behaupten, dass das hier der Fall sei. Das ist es aber nicht. Fakt ist: Die Bundeswehr wird im Rahmen einer Koalition der Willigen eingesetzt. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Richtig!) Meine Damen und Herren, Sie hatten jetzt ein Jahr Zeit, diesen fundamentalen Fehler zu heilen. Es ist nichts passiert. Warum nicht? Weil die Bundesregierung das nämlich gar nicht will. Nachzulesen ist das im neuen Weißbuch: Diese Konstruktion soll es nicht nur in diesem Einzelfall geben, in dem sie aus der Not geboren wurde, sondern es ist Ihr erklärter Wille, das Modell der Koalition der Willigen in Zukunft bei Bundeswehreinsätzen anzuwenden. Das halten wir für grundfalsch, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nicht nur, weil Sie damit gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes verstoßen, sondern auch, weil Sie damit effektiv dazu beitragen, dass internationale Organisationen, vor allem die Vereinten Nationen, geschwächt werden. Das, meine Damen und Herren, ist doch genau das Gegenteil von dem, was wir gerade nicht nur angesichts der schrecklichen Lage in Syrien und im Irak, sondern auch an vielen anderen Orten der Welt brauchen, nämlich handlungsfähige und starke internationale Organisationen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will mich gar nicht hierhinstellen und von der Bundesregierung die Patentlösung, den Masterplan fordern, wie endlich die schreckliche Gewalt in Syrien und im Irak aufhören kann. Aber ich frage Sie auf der Regierungsbank, auch Sie, Herr Außenminister Steinmeier: Sind wir nicht verpflichtet, alles zu tun, was wir können, um das unermessliche Leid der Menschen in Syrien und im Irak wenigstens ein bisschen zu lindern? Ja, man kann noch mehr tun, als derzeit getan wird. Es gibt Gebiete in Syrien, die seit ewiger Zeit eingekesselt sind. Es gibt über Land keinen Zugang mehr für humanitäre Güter. Die Vereinten Nationen haben in der Vergangenheit in solchen Fällen punktuell eine Versorgung aus der Luft durchgeführt. Sie flehen seit Monaten ihre Mitgliedstaaten an, sie dabei dringend zu unterstützen. Da geht es um die Frage des diplomatischen Drucks gegen die Staaten, die im syrischen Luftraum sind, genauso wie um die Frage der technischen Kapazitäten. Wir Grüne bringen heute Abend hierzu einen Antrag in den Bundestag ein, und ich bin sehr gespannt, wie Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, dazu verhalten werden. Das, meine Damen und Herren, verstehe ich wirklich nicht: Warum braucht die Bundesregierung nicht einmal einen Monat, um militärische Flugzeuge auf den Weg zu bringen, während sie seit Monaten nach Ausflüchten sucht, wenn wir sie immer wieder nach der Luftbrücke fragen? Ich finde, wir müssen alles tun, was wir tun können, um das unermessliche Leid wenigstens ein bisschen zu lindern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir können heute hier nicht über dieses Thema diskutieren, ohne wenigstens einen oder zwei Sätze darüber zu verlieren, was gestern Abend hier in Berlin passiert ist. Ich beziehe mich auf den Teil der Gespräche, der sich auf Syrien bezog. Ich finde, es war eine tolle und auch sehr erfolgreiche Initiative der Bundeskanzlerin und des Bundesaußenministers, die Gelegenheit des N-4-Formats zu nutzen, um anschließend gemeinsam mit dem russischen Präsidenten und dem französischen Präsidenten die Lage in Syrien zu diskutieren. Die Dauer und die Intensität der Gespräche zeigen, dass es Sinn macht, miteinander zu reden, selbst wenn man unversöhnliche und unvereinbare Positionen hat. Es wäre eine große Chance für den russischen Präsidenten Putin gewesen, im Vorfeld des EU-Gipfels, der auch das Thema Russland behandeln wird, ein Zeichen des guten Willens zu zeigen und die Unterbindung von Luftschlägen gegen Aleppo für einen längeren Zeitraum zu veranlassen und damit humanitäre Hilfe möglich zu machen. Denn das sind die beiden zentralen und ganz oben stehenden Forderungen, die wir im Augenblick haben: keine Luftschläge gegen Aleppo und Ermöglichung des Zugangs für Hilfskonvois. Das könnte Putin offensichtlich durch ein Telefonat mit Damaskus in die Wege leiten. Es ist schade, dass er diese Gelegenheit nicht ergriffen hat. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass er möglicherweise doch aus dem Gespräch hier in Berlin mitnimmt, dass dies nicht nur eine Forderung der deutschen Bundeskanzlerin und des französischen Staatspräsidenten, sondern eines weit überwiegenden Teils der Weltbevölkerung ist und es dafür eine breite Unterstützung bei den Vereinten Nationen gibt. Zu dem heute zur Verhandlung stehenden Mandat: Wir sind beim Kampf gegen den IS ein sehr gutes Stück vorangekommen, sowohl, was die Unterstützung der Peschmerga im Norden Iraks angeht – das betrifft unser laufendes Irak-Mandat –, als auch, was in Syrien selbst passiert. Es gibt jetzt Befürchtungen und Sorgen bei den Menschen in Europa und in Deutschland, dass der IS, wenn zum Beispiel Mosul fällt oder der IS in Syrien weiter zurückgedrängt wird, Ausweichbewegungen machen und Aggressionen gegen Deutschland und Europa starten könnte. Ich glaube das in dieser Form nicht. Ich glaube, dass es in erster Linie ganz wichtig ist, dass die vermeintliche Faszination, die für irregeleitete junge Menschen vom IS ausgegangen ist, rapide abnimmt, dass der IS als das enttarnt wird, was er wirklich ist, nämlich eine verbrecherische Organisation, die an Brutalität mit nichts anderem in der heutigen Zeit zu messen ist, und dass deswegen die Gefahr, dass junge Menschen in Deutschland und Europa Anschläge verüben, die gegen unsere Freiheit gerichtet sind, trotz Kampf gegen den IS, eher abnimmt, als dass sie zunimmt. Ich würde mir wünschen, dass wir unsere Möglichkeiten an unseren Grenzen, aber eben auch die Möglichkeiten unserer Dienste nutzen, um sicherzustellen, dass diejenigen, die aus den Kampfgebieten nach Europa kommen oder nach Europa zurückkehren, identifiziert und zur Rechenschaft gezogen werden, und dass auf diese Weise sichergestellt wird, dass die Bedrohung in Europa tatsächlich nicht zunimmt, sondern abnimmt. Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege Hardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich? Jürgen Hardt (CDU/CSU): Ja. Stefan Liebich (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Hardt, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Nachdem der Herr Außenminister Steinmeier nichts dazu gesagt hat, frage ich Sie als Vertreter der Koalition: Wie bewerten Sie das Agieren der türkischen Streitkräfte, die im Norden Aleppos nach eigenen Angaben 160 bis 200 Kämpferinnen und Kämpfer der Kurden getötet haben, die sich im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ befinden? Jürgen Hardt (CDU/CSU): Wir weisen in den Gesprächen mit der Türkei stets darauf hin, dass die Türkei das Recht hat, Terrorismus zu bekämpfen und ihre staatliche Ordnung zu verteidigen, dass sie dabei aber die Regeln der Verhältnismäßigkeit und die Regeln des Völkerrechtes beachten muss. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Hat sie es jetzt, oder hat sie es nicht?) In der Form – wie von Frau Dağdelen vorgetragen –, wie ein überschäumender geradezu Hass gegenüber der türkischen Regierung und eine Undifferenziertheit in der Betrachtung vorhanden sind, sehen wir auch in der türkischen Regierung eine übermäßige Fixierung auf terroristische Elemente unter den Kurden und zu wenig Berücksichtigung und Beachtung derer, die eine friedliche Veränderung im Namen der Kurden wollen. Wir stehen für Maß und Mitte in diesem Punkt und nicht dafür, die Türkei in Bausch und Bogen zu verurteilen oder gar die Kurden, so wie die Türkei es tut. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sind sie Terroristen für Sie? Sagen Sie was dazu!) Was die konkreten Ereignisse angeht, die wir uns jetzt zu vergegenwärtigen haben: Ich bin fest davon überzeugt, dass die türkische Regierung gute Gründe haben wird, die terroristischen Kräfte im Norden Syriens zu bekämpfen. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sind die YPG Terroristen?) Dort gibt es Terrorismus, der auch von Kurden mitgetragen wird, und der ist genauso verantwortlich für die Situation in Syrien wie für die anderen schrecklichen Dinge, die dort passieren. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist ja interessant! Interessante Einstufung! Das hat die Bundesregierung bisher nicht gemacht!) Ich möchte kurz auf den Einsatz selbst eingehen. Ich finde, dass Deutschland mit dem, was wir bisher bereits getan haben – Luftbetankungsunterstützung, Fotografieren und Aufklärung am Boden, aber eben auch der Einsatz der Fregatte „Augsburg“ an der Seite des Flugzeugträgers der Franzosen –, einen erheblichen Beitrag zum Erfolg der Koalition leisten, die den IS in Syrien bekämpft. Ich finde, es ist selbstverständlich, dass wir weitere geeignete Mittel nutzen, um das zu tun. Ich meine ganz konkret, dass wir AWACS-Flugzeuge als Instrument einsetzen sollten, um den Luftraum zu überwachen. Ich bin der Auffassung, dass das Mandat unsere Unterstützung finden kann. Wir werden in den Ausschüssen ausgiebig darüber beraten. Deutsche Soldaten sollten in den AWACS-Flugzeugen selbstverständlich Dienst tun dürfen. Ich würde mir darüber hinaus wünschen, dass die Koalition bei ihrem Kampf gegen den IS nicht nur im Irak, sondern auch auf syrischem Boden weiterhin großen Erfolg hat und dass wir unsererseits die Soldatinnen und Soldaten, die in verschiedenen Funktionen im Einsatz sind, gesund und wohlbehalten wieder nach Hause bringen. Wir wünschen ihnen für diesen Einsatz alles Soldatenglück. Herzlichen Dank. Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege Hardt, gestatten Sie noch, auch wenn Sie fast schon am Schluss Ihrer Rede sind, eine Zwischenfrage der Kollegin Keul? Jürgen Hardt (CDU/CSU): Ja. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank. – Herr Kollege Hardt, Sie haben zum Schluss dankenswerterweise über das konkrete Mandat gesprochen. Wir Parlamentarier würden gerne bewerten, welche Auswirkungen unsere Beteiligung im Rahmen dieser Allianz auch am Boden tatsächlich hat, aber – die Kollegin Brugger hat es vorhin schon angesprochen – auf unsere Fragen, was denn am Boden tatsächlich passiert, auf welche Ziele eingewirkt wird, bekommen wir von der Bundesregierung nur die Antwort: Darüber haben wir keine Kenntnisse, wir geben unsere Daten, aber was unsere Bündnispartner damit machen, das entzieht sich unserer Kenntnis. Das erstaunt mich doch sehr; denn wenn ich als Parlamentarierin diesen Einsatz bewerten soll und sagen soll, ob ich ihn unterstütze, dann muss ich doch wissen, was am Ende mit diesen Daten passiert und wo sie eingesetzt werden. Ich finde auch, dass der Grundsatz der Verantwortung an dieser Stelle nicht eingehalten wird, wenn die Bundesregierung Daten weggibt und uns erzählt – ich muss ja erst einmal davon ausgehen, dass das, was die Bundesregierung uns sagt, stimmt –, dass sie gar nicht weiß, was am Ende damit an Wirkung erzielt wird. (Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Sie haben jetzt gesagt, es hätte Fortschritte gegeben, unsere Handlungen hätten eine Wirkung. Ich bitte Sie, uns zu erläutern, was konkret am Boden bei diesem Luftkrieg herausgekommen ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Ich interpretiere die Information der Bundesregierung komplett anders als Sie. Wir werten diese Daten aus, wir geben diese Daten insofern weiter, als dass sie zur Bekämpfung des IS in Syrien genutzt werden können, und es liegen keinerlei Erkenntnisse vor, dass irgendeiner, der am Kampf gegen den IS in Syrien beteiligt ist, diese Daten in einer Art und Weise verwendet, die wir als Deutscher Bundestag oder als deutsche Bundesregierung nicht akzeptieren können. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie denn?) Vizepräsident Johannes Singhammer: Vielen Dank. – Damit wären Sie auch am Ende Ihrer Redezeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich darf jetzt dem Kollegen Gehrcke die Möglichkeit zu einer Kurzintervention geben. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt ja immer Anlass, selbstkritisch mit sich umzugehen. (Niels Annen [SPD]: Ach was? Das ist ja ganz was Neues!) – Ja, es gibt immer Anlass. Ich schätze den Kollegen Hardt aus dem Auswärtigen Ausschuss. Ich habe Ihnen sehr interessiert zugehört. Wir Linke sagen: Der Krieg in der Luft und am Boden muss eingestellt werden. Das betrifft die russischen Bombenabwürfe, die Sie immer wortreich kritisieren, das betrifft aber auch die türkischen Bombenangriffe. Das ist eine Doppelbödigkeit, eine Rückkehr zu einer Politik, in der man sagt: Der Feind meines Feindes muss mein Freund sein. Warum bringen Sie nicht die Courage und den Mut auf, zu sagen – der Außenminister hat das nicht gesagt, von Herrn Brauksiepe habe ich das sowieso nicht erwartet, von Ihnen aber hätte ich das erwartet –: „Wir kritisieren diese türkischen Bombenabwürfe; wir sind damit nicht einverstanden; wir verlangen als Bundesregierung und als CDU/CSU-Fraktion, dass sie in dieser Art und Weise eingestellt werden“? Diese Doppelbödigkeit entlarvt Sie und ist eigentlich furchtbar peinlich. (Beifall bei der LINKEN – Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Ich habe dazu alles gesagt!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Kollege Hardt verzichtet auf eine Erwiderung. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ist auch besser so!) Dann erteile ich das Wort dem Kollegen Florian Hahn für die CDU/CSU als abschließendem Redner in dieser Aussprache. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Florian Hahn (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt schon ein paar Dinge, die wir zu den Einwendungen, die hier vorgebracht worden sind, sagen müssen. Lieber Herr Gehrcke und vor allem Frau Dağdelen, ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es ist doch überhaupt gar keine Frage, dass wir von unseren türkischen Partnern erwarten, dass sie Maß halten und die Verhältnismäßigkeit wahren. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Tun sie aber nicht!) – Warten Sie. – Und es ist auch überhaupt keine Frage, dass wir, wenn sich herausstellt, dass es sich hier um 200 oder mehr Zivilisten handelt, das nicht einfach so unangesprochen hinnehmen können. Das ist doch gar keine Frage. Aber es muss den Türken auch erlaubt sein, den Terror zu bekämpfen. Sie werfen uns „Doppelbödigkeit“ vor, sagen, wir würden mit zweierlei Maß messen. Frau Dağdelen, ich hätte mir gewünscht, dass Sie mit Blick darauf, dass Assad mithilfe Putins Aleppo in Schutt und Asche legt und Tausende von Zivilisten sterben, in Ihrer Rede nur halbwegs dieselbe Empörung für das Vorgehen der Russen aufgebracht hätten wie für das Vorgehen der Türken. (Beifall bei der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Haben Sie das denn gemacht?) Sie, Frau Keul, und Sie, Frau Dağdelen, haben den Eindruck erweckt, Deutschland bzw. die Bundeswehr könnte möglicherweise Daten zur Verfügung stellen, die beispielsweise den Türken dazu dienen, die Kurden zu bekämpfen. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Die Bundesregierung schließt es nicht aus!) – Frau Dağdelen, vielleicht unterhalten Sie sich einmal mit Ihrem Kollegen Herrn Neu, und Sie, Frau Keul, mit Ihrer Kollegin Frau Brugger. Wir haben doch gesehen – nicht nur einmal, sondern schon mehrfach –, welche Daten dort erhoben werden und wie sie kontrolliert werden. Sie werden fünffach kontrolliert, sodass eines definitiv ausgeschlossen ist: dass falsche Daten tatsächlich beispielsweise an die Türken geliefert werden. Wir fliegen in dieser Region gar nicht und erheben diese Daten gar nicht. Insofern: Malen Sie nicht Dinge an die Wand, die so einfach nicht stimmen! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sind die syrischen Kurden für Sie Terroristen, ja oder nein?) Ein dritter Punkt ist die Frage der Stationierung deutscher Soldaten in der Türkei. Wir hatten die Diskussion, und ich war einer derjenigen, die gesagt haben: Wenn es dem Parlament nicht möglich ist, diesen Standort zu besuchen, dann müssen wir uns darüber Gedanken machen, ob eine Stationierung dort weiterhin möglich ist. Wir haben diesen Standort jetzt besuchen können. Alle Fraktionen waren beteiligt. Ich weiß nicht, ob das gesamte Reisekarussell Bundestag, jeder einzelne Abgeordnete noch hinfahren soll. Auch hier bitte Maß und Mitte. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Jeder einzelne muss abstimmen!) Natürlich muss es auch weiterhin möglich sein, dass unsere Kolleginnen und Kollegen dorthin fahren. Wir haben, als wir zusammen mit dem Delegationsleiter Karl Lamers in der Türkei waren, ganz klar und deutlich gesagt: Wir erwarten, dass das jetzt die Regel ist und keine Ausnahme. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wir werden sehen!) Ich kann nur sagen: Wir haben den Eindruck mitgenommen, dass es die türkische Seite genauso sieht. Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal den Blick auf die Mission Inherent Resolve lenken. Die Luftschläge der Anti-IS-Koalition haben deutlich dazu beigetragen, den IS massiv zurückzudrängen. Hierfür danke ich den deutschen Soldatinnen und Soldaten, die in Incirlik auf der Fregatte „Augsburg“ und in den Stäben der Mission ihren Beitrag dazu leisten. Wir dürfen der Terrormiliz nicht tatenlos gegenüberstehen, davon bin ich, nicht zuletzt mit Blick auf ein UN-Papier dieses Jahres, überzeugt. Darin benennen die Vereinten Nationen die zahllosen brutalen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, die der sogenannte „Islamische Staat“ beispielsweise gegen die Jesiden verübte. Der Bericht verurteilt die Taten für das, was sie sind: ein immer noch andauernder Genozid mit dem Ziel, die Identität einer Minderheit auszulöschen. Daneben sind auch die Anschläge in Paris, Brüssel, Nizza oder Ansbach traurige Beispiele dieser menschenverachtenden Ideologie. Allein durch seine Existenz entwickelt das Kalifat eine gefährliche Strahlkraft, die ausländische Kämpfer, Dschihadistentourismus und Einzeltäter anzieht und die Terrorgefahr in Europa erhöht. Der physischen Zerschlagung des Schreckensstaates kommt daher eine immense Bedeutung zu. „Sie kamen, um zu zerstören“, so lautet der Titel des UN-Berichts. Noch ist das Morden des IS nicht vorbei, daher müssen wir die Terrormiliz auch weiterhin militärisch bekämpfen. Deswegen bitte ich, diesen Einsatz entsprechend zu verlängern. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/9960 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Widerspruch erhebt sich nicht, dann gehe ich davon aus, dass Sie alle einverstanden sind und die Überweisung so beschlossen ist. Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 9 a und 9 b sowie dem Zusatzpunkt 6: 9.   a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Ebner, Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gentechnikfreiheit Deutschlands sichern Drucksache 18/10028 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes Drucksache 18/6664 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Ebner, Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu den Entwürfen für eine Durchführungsverordnung und zwei Durchführungsbeschlüsse der Europäischen Kommission über das Inverkehrbringen von Saatgut zum Anbau der gentechnisch veränderten Maislinien MON 810, 1507 und Bt11 (Dokumente SANTE/10702/2016 CIS Rev. 3, SANTE/10704/2016 CIS Rev. 3, SANTE/10703/2016 CIS Rev. 3) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Keine Zulassung der gentechnisch veränderten Maislinien MON 810, 1507 und Bt11 für den Anbau in der EU Drucksache 18/10029 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache ebenfalls 38 Minuten vorgesehen. – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Harald Ebner für Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Schmidt, „ja was denn nun?“, haben Sie uns Grüne kürzlich mal wieder nach Tipps gefragt, was Sie denn jetzt endlich mal mit Ihrem Amt anfangen sollen. Nett, dass Sie fragen! Ich hätte da etwas: die Änderung des Gentechnikgesetzes. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schließlich versprechen Sie das schon seit Jahren und kommen damit kein Stück voran, genau wie auf den anderen Baustellen. Schon in zwei Wochen stimmen die EU-Staaten wieder einmal über die Zulassungen für den Anbau von Genmais ab, genau wie vor fast drei Jahren, als das ganze Genmaisdebakel begann. Sie haben auf meine Nachfrage jetzt doch tatsächlich geantwortet, Sie wissen noch gar nicht, wie Sie dieses Mal abstimmen werden. Ganz einfach: Wenn Sie den Genmais auf unseren Äckern wirklich verhindern wollen, machen Sie es wie das Europäische Parlament, und stimmen Sie in Brüssel endlich mit Nein. Nur das hilft wirklich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das fordern wir auch in unserem Antrag, dem Sie zustimmen können müssten. Denn wir wollen in Europa keinen Flickenteppich aus Ländern mit und Ländern ohne Gentechnikanbau. Wir alle wissen: Pollen und Bienen, aber auch Saat- und Erntegut machen nicht an Staatsgrenzen halt. Wenn Sie nicht mit Nein stimmen, hängt unsere Gentechnikfreiheit allein von der Gnade der Konzerne ab, die ganz generös auf den Anbau in Deutschland verzichten können, falls ihnen danach zumute ist und wenn wir sie darum bitten. Wer die Zulassung nicht ablehnt, der ermöglicht sie und spielt mit beim Plan der Agrarkonzerne, die so mit ein paar gönnerhaften Anbauausnahmen ihre lange gewünschten Zulassungen für Gentechnikpflanzen erreichen wollen. Vor zwei Jahren haben Sie hier hoch und heilig versprochen, dass es mit der Großen Koalition künftig keine Anbauzulassungen mehr geben würde. Heute trauen Sie sich noch nicht einmal, darüber abzustimmen. Haben Sie Angst, dass man merkt, dass Sie nicht Wort halten? Damals haben Sie die Aussage, dass wir den Verzicht auf Gentechnikanbau nur von Gnaden der Konzerne bekommen würden, weit von sich gewiesen. Wer bei Anbauverboten Koch ist und wer Kellner – Herr Minister Schmidt, das haben Sie gesagt –, sei völlig klar. Dann sind Sie aber doch zum Kellner geworden. Sie haben vor einem Jahr Bittbriefe an die Konzerne geschrieben, Herr Minister, Deutschland von ihren Zulassungsanträgen auszunehmen. Das ist doch kein souveränes Staatshandeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Unsere Gentechnikfreiheit kann doch nicht von Versprechungen privater Unternehmen abhängen, die ihre Geschäftsstrategie schon morgen ändern können, je nachdem, von wem sie gerade gekauft werden. Deshalb brauchen wir jetzt dringend ein Gesetz, lieber Herr Minister Schmidt, werte Kolleginnen und Kollegen, und zwar ein funktionsfähiges, ein taugliches und rechtssicheres Gesetz. Weil Sie kein praktikables Gesetz hinbekommen haben, haben die Bundesländer über den Bundesrat einen eigenen vernünftigen und tauglichen Gesetzentwurf eingebracht. Den hätte die Beauftragte des Bundesrates, Ulrike Höfken, gerne vorgestellt. Sie ist aber terminlich leider verhindert. Sie haben sich allerdings hartnäckig geweigert, diesen Beschluss des Bundesrates voranzubringen. Stattdessen haben Sie die Länder ein weiteres Jahr mit Verhandlungen hingehalten, angeblich zur Kompromissfindung. Aber der Gegenentwurf, den Sie jetzt vorgelegt haben, zeigt: Sie wollen gar keine Lösung mit den Ländern. (Beifall der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]) Sie haben gar kein Interesse daran, die Position des Bundesrates auch nur im Ansatz ernst zu nehmen. Sie wollen den Ausstieg aus dem Gentechnikanbau partout vorsätzlich unterlaufen und aufweichen. Die Minimalanforderungen an ein funktionierendes Gesetz liegen doch auf der Hand. Es braucht zwingend ein bundesweit einheitliches Verfahren. Dazu muss klar sein: Die Bundesregierung soll handeln, und zwar die gesamte Bundesregierung. Es darf nicht vom Veto einzelner Ministerien abhängen. Das sehen Sie aber in Ihrem Gesetz so vor. Das EU-Recht fordert für die Phase 1 der Verbote keine Begründung ein. Wieso wollen Sie dann diese zusätzliche Bürokratiehürde einführen? Das verstehe ich beim besten Willen nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Bundesweite Anbauverbote müssen auch halten. Es kann doch nicht sein, dass ein einziges Bundesland ausreicht, um das gesamte Verbot einfach mir nichts, dir nichts wieder zu kippen. In Ihrem Entwurf ist damit eine Unwirksamkeitsklausel eingebaut. Sie wollen keine nationalen, bundeseinheitlichen Anbauverbote. Damit schaffen Sie den Flickenteppich, den wir immer befürchtet haben. Das darf nicht sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Den Weg zum sicheren Ausstieg aus der Gentechnik im Anbau hat der vom Bundesrat verabschiedete Gesetzentwurf geliefert. Diesen bringen wir heute ein; denn er ist gut und solide gemacht. Und wir müssen das auch zukunftsfest machen. Sorgen Sie dafür, dass nicht durch die Hintertür Ausnahmen geschaffen werden für neue Gentechnikverfahren wie CRISPR/Cas und wir es nicht plötzlich mit unkontrollierter Gentechnik auf unseren Äckern und Tellern zu tun bekommen. Denn auch die neue Gentechnik ist Gentechnik. Das besagen auch die vorliegenden Rechtsgutachten. Das müssen wir in Deutschland und auf EU-Ebene klarstellen; sonst geht es uns wie im letzten Jahr, als eine deutsche Behörde gegen geltendes Recht ohne jede Risikoprüfung Ausnahmegenehmigungen für genau solch einen neuen Gentechnikraps erteilt hat. Da geht es nicht darum, zu entscheiden, ob und wo man diese Technologie anwendet, sondern es geht grundlegend um die Handhabung mit Risikoprüfung, Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit, wie sie bei Gentechnik immer notwendig ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie tatsächlich keine Gentechnik auf dem Acker wollen, dann sorgen Sie für eine klare Regelung zum Ausstieg aus der Gentechnik, indem Sie die anstehenden Genmaiszulassungen in Brüssel klar ablehnen, den Gentechnik-Gesetzentwurf des Bundesrates in Kraft setzen, Ihren eigenen in den Schredder werfen und keine Ausnahmen für die neue Gentechnik zulassen. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Kees de Vries. (Beifall bei der CDU/CSU) Kees de Vries (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Landwirtschaft betrifft jeden Menschen auf dieser Welt. Und deshalb betrifft die Diskussion über die Grüne Gentechnik nicht nur die deutsche Landwirtschaft, uns Parlamentarier oder unsere mit qualitativ hochwertigen und preiswerten Lebensmitteln versorgte – um nicht zu sagen: verwöhnte – Bevölkerung, nein, sie betrifft auch die Hungernden oder falsch Ernährten auf unserer Erde. Als Mitglieder des Deutschen Bundestages ist es unsere Pflicht, die Sorgen und Wünsche des deutschen Volkes ernst zu nehmen. Aber es ist auch unsere Pflicht, in Übereinstimmung mit unserer Überzeugung, resultierend aus unserem Wissen und Gewissen, darauf zu reagieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich persönlich – und ich bin wirklich nicht der Einzige in diesem Bundestag – bin nach wie vor der Meinung, dass es nicht im Sinne eines so innovativen Landes wie dem unseren und seiner Bevölkerung ist, uns so radikal von weltweiten Entwicklungen abzukoppeln. Ich fühle mich in dieser Haltung auch bestärkt durch einen Aufruf von 107 – ich wiederhole: 107 – Nobelpreisträgern, (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh, jetzt kommt diese Geschichte!) die verlangt haben, dass die Kampagne gegen GVOs aufgrund der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgegeben werden sollte. (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, dann gucken Sie mal hin, was das für welche sind! Die forschen alle in der Gentechnik!) Trotzdem kann auch ich mit der Opt-out-Regelung leben. Um diese EU-Regelung in nationales Recht umzusetzen, liegt uns jetzt, nach der Ressortabstimmung, der Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes vor. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit eingebauter Nichtigkeitsklausel!) – Er liegt vor, Herr Ebner. – Das Ziel dieses Gesetzentwurfes hat Landwirtschaftsminister Christian Schmidt klar und deutlich beschrieben, nämlich das flächendeckende Anbauverbot von Grüner Gentechnik in ganz Deutschland. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das können Sie damit nicht erreichen!) Seit 2015 kann der Anbau von GVOs außer aus gesundheitlichen und ökologischen Gründen – für die meistens handfeste wissenschaftliche Beweise nicht zu liefern sind –, auch aus agrarpolitischen oder sozioökonomischen Gründen unterbunden werden. Es geht hier also nicht um die Frage: Genpflanze, ja oder nein? Es geht hier um die Verbotspraxis und um die Frage der Zuständigkeit. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Anträge und Gesetzentwürfe, die Sie als grüne Opposition hier vorlegen, helfen in keiner Weise, tragfähige Lösungen für die Gestaltung eines Anbauverbots für gentechnisch veränderte Organismen zu formulieren. (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Gesetzentwurf des Bundesrates! Der ist handwerklich top gemacht!) Sie kommen nicht nur mit einem veralteten – er ist über ein Jahr alt –, einfach wieder aufgewärmten Gesetzentwurf, sondern auch mit zum Teil schon überholten Anträgen, die außer Schwarzmalerei und meisterhafter Vereinfachung nichts zu bieten haben. Ich frage mich: Geht es hier um die Sache oder um parteipolitisches Kalkül? (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Bundesrat hat den Gesetzentwurf gemacht! Die Länderkammer, Kollege!) Fest steht für mich: Diese Anträge sind einfach abzulehnen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, meines Erachtens haben die Bundesressorts mit dem vorgelegten Gesetzentwurf, der die Brüsseler Opt-out-Regelung in nationales Recht umsetzt, einen vernünftigen Kompromiss zwischen Bund und Ländern zustande gebracht. So werden Unternehmen, die eine Anbauzulassung für gentechnisch veränderte Pflanzen stellen, vom Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung dazu aufgefordert, das deutsche Bundesgebiet vom Anbau auszuschließen. Ja, dazu braucht die Regierung das Einvernehmen von sechs Ministerien, nämlich Forschung, Wirtschaft, Arbeit, Soziales, Gesundheit und Umwelt, und auch eine Mehrheit im Bundesrat. Aber solange sich die öffentliche Meinung und die korrespondierende Position der Bundesregierung und der Landesregierungen zum Thema GVO nicht ändert, kann das doch kein Problem sein. Selbst wenn sich ein Unternehmen darüber hinwegsetzt, das Bundesgebiet vom Anbau auszunehmen, verfügt die Bundesregierung gemäß dem neuen Gesetzentwurf immer noch über ausreichend Mittel, einen Ausbau in Deutschland zu verhindern. In diesem Falle sollte die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates eine Rechtsverordnung zum bundesweiten Anbauverbot erlassen, die sich auf zwingende Gründe stützt, darunter solche, die bereits seit 2015 die Anwendung der Grünen Gentechnik erfolgreich unterbinden. Neben den agrarpolitischen und sozioökonomischen Argumenten können sich zwingende Gründe aus umweltpolitischen Zielen oder der Gefahr von Verunreinigungen ergeben. Dabei soll sich die Begründung an den jeweiligen regionalen Bedingungen orientieren. Zusätzlich wird es den Ländern per Verordnung möglich sein, den GVO-Anbau in ihrem Hoheitsgebiet eigenständig zu verbieten. Hierdurch und durch die bestehende Haftungsregelung wird nicht nur die Rechtssicherheit der zukünftigen Verbote gestärkt, sondern dem Gentechnikgesetz auch ein föderaler Charakter zugestanden. Im Hinblick auf die Diversität der landwirtschaftlichen Ökosysteme und Arbeitsbedingungen in Deutschland ist dies von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat unser vielgescholtener Minister Christian Schmidt einen Gesetzentwurf vorgelegt, den nicht einmal unsere Kollegen der Grünenfraktion guten Gewissens ablehnen können. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann spricht jetzt für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Für uns Linke ist die Agrogentechnik eine Risikotechnologie, weil sie eben doch eine Gefahr für Mensch und Natur ist. Die Selbsttötung verarmter indischer Baumwollbauern oder auch Superunkräuter, die die Ernte vernichten, weil eben kein Pflanzenschutzmittel mehr wirkt, bezeugen das. Das sind nur zwei Beispiele und ist auch nur ein Teil des Problems. Als Linke sehe ich die Gefahr vor allem in dem System, das dahintersteckt und mit dem Konzerne sehr viel Geld verdienen, und zwar auf unser aller Kosten; denn die von ihnen verursachten Schäden zahlen wir als Gesellschaft. Ich finde das inakzeptabel. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb brauchen wir den Widerstand gegen die Übermacht transnationaler Saatgut- und Pflanzenschutzkonzerne. Bayer/Monsanto und anderen geht es vor allen Dingen um Maximierung ihres Profits. Die Gefahr für unsere natürlichen Lebensbedingungen sind für sie nur Kollateralschäden. Außerdem gefährden sie universelle Menschenrechte wie das Recht auf Nahrung oder auf Wasser. Das wird Gott sei Dank das gerade laufende Internationale Monsanto-Tribunal in Den Haag nachweisen. Davon bin ich jedenfalls überzeugt. Deswegen darf sich Politik gerade an dieser Stelle nicht erpressbar machen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Als Linke will ich verhindern, dass Saatgutmultis und Chemieriesen bestimmen, was auf unseren Tellern, im Trog oder im Tank landet. Landwirtschaft muss unabhängig von solchen Konzernen bleiben. Ich bin froh, dass der Widerstand weltweit wächst und auch in unserem Land unterdessen breit verankert ist. Viele sehr engagierte, unerschrockene Aufklärerinnen und Aufklärer haben dazu beigetragen. Ihnen gilt heute mein großer Dank. (Beifall bei der LINKEN) Aus Sicht der Linken gibt es längst genügend Erfahrungen zu Risiken und Nebenwirkungen der Agrogentechnik, um diese Risikotechnologie zu ächten, und zwar weltweit. Leider ist das aktuell nicht durchsetzbar. Aber dann sollte uns doch wenigstens das EU-Zulassungsverfahren vor gefährlichen Pflanzen auf unseren Äckern schützen. Schließlich gilt ja in der EU das Vorsorgeprinzip. Aber leider wird auch das untergraben. Denn die Prüfung erfolgt weder wirklich unabhängig noch transparent. Und wichtige Risiken werden erst gar nicht geprüft, wie zum Beispiel Langzeitwirkungen, wie zum Beispiel ethische oder soziale Bedenken. Wir wie auch andere fordern schon seit langem Korrekturen. Ich finde, hier muss endlich gehandelt werden! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber auch mit einer qualifizierten Mehrheit der Mitgliedstaaten in den EU-Entscheidungsgremien könnte eine Zulassung verhindert werden. Sie kommt aber regelmäßig nicht zustande, auch weil die Bundesregierung sich in diesen Gremien bestenfalls der Stimme enthält. Damit macht sie aber quasi den Weg für die Zulassung frei; denn die EU-Kommission kann den Anbau dann ersatzweise tatsächlich zulassen, und sie tut das auch regelmäßig. Zum Glück haben wir aber auch noch die Mitte-Links-Mehrheit gegen die Agrogentechnik im Bundestag. Die könnte die Bundesregierung natürlich auffordern, der Zulassung in den Gremien nicht zuzustimmen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber auch hier kommt es nicht zu diesem klaren Signal, weil sich die SPD in dieser Koalition eben in Geiselhaft mit der Union befindet. Also kann ich nur sagen: Augen auf bei der nächsten Wahl! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der öffentliche Widerstand hat aber immerhin eine neue, zusätzliche Reißleine erzwungen. Die Mitgliedstaaten können jetzt nämlich auch nach der EU-weiten Zulassung von Gentechnikpflanzen den Anbau in ihrem Land legal verhindern. Dieses sogenannte Opt-out hört sich gut an, in Wirklichkeit ist es aber ein unmoralisches Angebot; denn eigentlich eröffnet diese Regel vor allen Dingen den Konzernen die Tür zu agrogentechnikfreundlichen Ländern, und es gibt auch hohe Hürden, die für ein solches Anbauverbot zu erfüllen sind. Aber immerhin: Man kann das tun. Natürlich macht solch ein Verbot nur bundesweit Sinn. Ein Flickenteppich angesichts der länderübergreifenden Verarbeitungs- und Handelswege ist absurd; auch die Bienen halten sich nicht an Ländergrenzen usw. Warum sollte ein Risiko in dem einen Bundesland existieren und im Nachbarland nicht? Also sind auch Rechtssicherheit und Rechtsfrieden mit einem solchen Flickenteppich nicht herstellbar. Der Bundesrat hatte, wie ich finde, einen sehr guten Vorschlag zu bundeseinheitlichen Regeln vorgelegt. Man war sich angeblich auch mit dem Bund einig. Trotzdem macht die Bundesregierung mit dem aktuellen Gesetzentwurf genau das Gegenteil: Die Hürden für ein bundeseinheitliches Verbot sind so hoch, dass de facto doch jedes einzelne Bundesland entscheiden muss. Wer das so vorschlägt, will keine bundeseinheitliche Regeln. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Bundesländer sollen „zwingende Gründe“ für ein Anbauverbot vorlegen, obwohl das in der EU-Richtlinie überhaupt nicht vorgesehen ist. Wer das vorschlägt, will kein Anbauverbot. Dieses Gesetz ist auch aus meiner Sicht in Wahrheit ganz klar ein Opt-out-Verhinderungsgesetz, (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) und das können wir Ihnen nicht durchgehen lassen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dass viele in der Union das genau so wollen, kann ich ja noch verstehen, aber die SPD darf das nicht mitmachen. Sonst hat sie jede Glaubwürdigkeit bei der Agrogentechnik verspielt. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Ich zitiere: Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung ... Das steht in Artikel 20a unseres Grundgesetzes. Den kennen Sie natürlich alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ich habe ihn an dieser Stelle trotzdem noch einmal zitiert; denn genau darum geht es beim Thema „Gentechnik auf dem Acker“. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten lehnen Gentechnik auf dem Acker ab, (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müsst ihr aber auch handeln!) und zwar deswegen, weil wir die natürlichen Lebensgrundlagen auch für zukünftige Generationen schützen wollen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müsst ihr jetzt wirklich etwas tun!) Die Vorteile Grüner Gentechnik für die Verbraucherinnen und Verbraucher sind praktisch gleich null. Aber die langfristigen Risiken für die Ökosysteme, die Umwelt und die Lebensmittelkreisläufe sind kaum erforscht und ungewiss. Deshalb wollen wir (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wer ist „wir“?) – darin sind wir uns völlig einig, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen –, dass Deutschland den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen im gesamten Bundesgebiet untersagt – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Forschungsvorhaben ausgenommen. Das erlaubt uns das EU-Recht seit nunmehr zwei Jahren auch. Ja, seitdem ringen wir darum, (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ziemlich erfolglos!) wie genau wir das Anbauverbot auf deutschen Äckern umsetzen können. Deshalb bin ich froh, dass wir jetzt einen Gesetzentwurf haben, Herr Kollege Ebner. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der die Länder vor den Kopf stößt!) In diesem Gesetzentwurf heißt es ganz klar: Die Bundesregierung soll (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, „das Bundesministerium soll“! Nicht die Bundesregierung!) – vielleicht hört es der Herr Bundesminister auch – ein Anbauverbot erlassen, wenn der Hersteller nicht freiwillig darauf verzichtet. – Sie soll! Das ist ein klarer Auftrag, der hier festgeschrieben wird, und das ist entscheidend. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, „das Bundesministerium soll“, und zwar im Einvernehmen mit dem BMBF!) Meiner Ansicht nach wäre es sinnvoll gewesen, sich stärker an dem zu orientieren – das ist auch schon mehrfach genannt worden –, was der Bundesrat im letzten Jahr vorgelegt hat – aber gut. Der Gesetzentwurf, über den wir jetzt reden – er ist übrigens noch nicht einmal im Kabinett beraten worden –, ist trotzdem eine gute Grundlage, unser gemeinsames Ziel zu erreichen. Wir werden ihn genau prüfen. Der besagte klare Auftrag darf nämlich nicht durch missverständliche Formulierungen oder fehleranfällige Verfahren verkompliziert werden. Da, wo wir es für nötig halten, werden wir auf Änderungen drängen. Insgesamt bin ich, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, sehr geehrter Herr Bundesminister Schmidt, allerdings etwas erstaunt, dass Sie sich selbst auferlegen, mit fünf anderen Ministerien ein Einvernehmen herstellen zu müssen, (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) bevor Sie tätig werden können. Mich erstaunt doch, dass Sie den ganzen Prozess freiwillig so enorm verkomplizieren. Ich nehme Sie trotzdem beim Wort: (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit angezogener Handbremse, ja?) Vor wenigen Tagen, laut Reuters am 16. Oktober, haben Sie gesagt – ich zitiere –: Mein Ziel ist ein flächendeckendes Anbauverbot von grüner Gentechnik in ganz Deutschland. (Beifall bei der SPD – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann kann man auch ein entsprechendes Gesetz vorlegen! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Da klatscht die Union gar nicht!) Es wäre schön, wenn diesen Worten Taten folgten. Wir debattieren nämlich auch einen Antrag der Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in dem es um die Zulassung von gentechnisch veränderten Pflanzen auf EU-Ebene geht; Kollege Ebner hat es ja schon angesprochen. Die sozialdemokratisch geführten Häuser der Bundesregierung stimmen regelmäßig gegen eine solche Zulassung, die unionsgeführten hingegen dafür. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir erwarten aber von der Regierung ein stringentes Handeln!) Das führt dann meist dazu, dass sich Deutschland insgesamt im EU-Rat enthält. So, sehr geehrter Herr Schmidt, sieht eine konsequente Haltung für eine gentechnikfreie Landwirtschaft eigentlich nicht aus. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich würde mir wünschen, dass auch unser Koalitionspartner endlich geschlossen den Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach gentechnikfreien Feldern in diesem Land respektiert. Ich kann für meine Fraktion noch einmal sagen: Wir wollen ein bundesweites Anbauverbot und keinen Flickenteppich. (Beifall bei der SPD) Deshalb ist es so wichtig, dass die Anbauverbote rechtssicher ausgesprochen werden können und dass die Umsetzung gleichzeitig für alle Betroffenen handhabbar ist. Wir werden im parlamentarischen Prozess – davon bin ich überzeugt – noch über einige Punkte diskutieren und auch diskutieren müssen. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr müsstet nur den Bundesratsgesetzentwurf annehmen! Der sagt alles!) Aber das gemeinsame Ziel ist klar: keine Gentechnik auf Feldern, Wiesen, Gärten. Und damit, finde ich, lässt sich arbeiten. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmt heute auch entsprechend ab!) Vielen Dank. (Beifall bei der SPD – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Elvira, das war aber jetzt hohe Diplomatie! – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmt heute auch unserem Antrag zu!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Rita Stockhofe erhält nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Rita Stockhofe (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Titel „Gentechnikfreiheit Deutschlands sichern“ zeigt schon – das kann man daran gut ablesen –, wie die Politik der Grünen funktioniert. Sie haben ein Schwarz-Weiß-Denken, was sie durch alle Themen tragen. Aber die wenigsten Themen haben nur eine Sichtweise. (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geht das auch mit Inhalt?) – Ja, der kommt jetzt: Ihr Antrag zu den Maissorten ist im Prinzip hinfällig, weil gerade diese Maissorten in Deutschland sowieso nicht angebaut werden dürfen. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und dann stimmen Sie in Brüssel zu! Macht das nichts aus?) Gentechnisch veränderte Pflanzen sind auch nur ein ganz kleiner Bestandteil der Biotechnologie. Die Biotechnologie umfasst ein sehr großes Gebiet mit sehr viel Potenzial, das in Deutschland ausgeschöpft werden sollte und nicht von den Grünen verhindert werden darf. Die Forschung in diesem Bereich muss auf jeden Fall möglich sein und bleiben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen also die Gentechnik!) Gerne erläutere ich Ihnen auch, weswegen. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Nein, muss nicht sein!) In der Biotechnologie gibt es mindestens fünf verschiedene Bereiche. Zwei davon möchte ich Ihnen gerne nennen. Bei der sogenannten Grauen Gentechnik – (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Darum geht es aber gerade nicht!) das ist die Umweltbiotechnologie – geht es um die Aufbereitung von Trinkwasser, die Reinigung von Abwasser, die Behandlung von Abfällen, (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Um was geht es denn heute? Thema verfehlt!) die Sanierung kontaminierter Böden und die Abluft- bzw. Abgasreinigung, also um wichtige Themen, die die Zukunft unserer sensibelsten Bereiche betreffen. (Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir hier Möglichkeiten der Verbesserung finden, sollten wir diese Chancen nutzen. Bei der Roten Gentechnik ist schon vor Jahren der Fehler gemacht worden, die Entscheidung zu treffen, in Deutschland kein gentechnisch verändertes Insulin herzustellen. Wir kaufen das Insulin jetzt in hoher Qualität gentechnisch verändert in Frankreich ein. Wenn das kein Erfolg ist! Ich hätte die Forschung, Herstellung und Vermarktung dieses Produktes lieber im eigenen Land gesehen. Die Grünen interessiert es nicht, dass bis heute keine einzige Studie ergeben hat, dass Gentechnik gefährlich ist. (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Unsinn! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Alle, die Sie gelesen haben! – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es immer noch nicht verstanden!) Warum auch? Wenn wieder einmal ein Versuchsfeld mit Genpflanzen zerstört wird, sieht das kaum einer als kriminellen Akt, sondern als heroische Tat des Widerstandes. In der letzten Sitzungswoche ist auch deutlich geworden, dass selbst Einbrüche durch Nichtregierungsorganisationen als Heldentaten gewertet werden. NGOs als Superlobbyisten genießen bei den Grünen anscheinend grenzenloses Vertrauen. Sie schützen uns vor bösen Machenschaften, vor Genmais, sie retten die Umwelt, die Tiere, schützen uns vor gefährlichen Handelsabkommen der Kapitalisten (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aber leider nicht vor schlechten Rednern!) und machen das Ganze aus reinem Gutmenschentum. Oder gibt es auch hier Interessen, die einmal hinterfragt werden müssen? Weltverbesserer-NGOs haben ständig Kontakt zu Ministerien und grünen Abgeordneten. Bei Unternehmerverbänden gilt das regelmäßig als Skandal. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie es nicht unterscheiden können, dann tun Sie mir wirklich leid! Blamieren Sie sich ruhig weiter!) Wird hier mit zweierlei Maß gemessen? Die Grünen lassen sich vor den Karren spannen und sind zu einer Lobbyistenpartei geworden. (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Offenbarungseid!) Oder wie beurteilen Sie die Aussage des nordrhein-westfälischen Landwirtschaftsministers Remmel, der sein Landesnaturschutzgesetz – hören Sie jetzt genau zu! – als Geburtstagsgeschenk an den NABU bezeichnet hat. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was hat das jetzt mit Gentechnik zu tun? Können Sie uns das mal erläutern?) Wenn das nicht schlimm ist, dann weiß ich es nicht. Wer sind dann noch die Lobbyisten, und wer ist dann hier noch die Lobbyistenpartei? (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie eigentlich TTIP gelesen? – Zurufe der Abg. Karin Binder [DIE LINKE]) Obwohl wir immer älter werden und die Luft, die Wälder und die Gewässer immer sauberer werden – auch durch Gentechnik –, wird von der Opposition regelmäßig der Weltuntergang gepredigt. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie eigentlich die Anträge gelesen? Wissen Sie, um was es heute geht?) Um noch einmal zur Gentechnik an sich zurückzukommen: Hanno Schäfer, Professor für Biodiversität der Pflanzen, schreibt treffend in der Zeit, dass die gentechnische Veränderung von Nutzpflanzen die Biodiversität positiv beeinflussen kann, (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hat er nicht verstanden, was Biodiversität ist!) und zwar, indem sie die Erträge steigert, sodass auf weniger Fläche mehr produziert werden kann. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, nur dass das nicht stimmt!) Somit muss weniger Fläche beackert werden, und naturnahe Lebensräume können erhalten bleiben. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie wollen doch nur spielen!) Lebensräume können erhalten bleiben – ich dachte immer, das sei Ihnen wichtig. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu gibt es keine einzige Studie, die das belegt! Keine einzige Studie belegt das!) Wir brauchen die landwirtschaftliche Nutzung von Fläche, um die Menschheit zu ernähren. Aber jede Nutzung von Fläche, egal ob konventionell, bio oder mit gentechnisch veränderten Pflanzen, aber auch durch Bebauung, bedeutet einen Verlust der Vielfalt. Wenn im Vorfeld von Ergebnissen – in diesem Fall von Forschungsergebnissen – bereits Ängste geschürt werden, ohne Potenziale zu erkennen oder zuzulassen, verbauen wir uns die Zukunft Deutschlands. Wir als CDU glauben aber an die Zukunft Deutschlands, (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also sind Sie für Gentechnik! Schön!) und deshalb sind wir die Zukunft Deutschlands. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CDU und die Gentechnik! Ihr Minister sagt, er will keine, und Sie sagen alle, Sie wollen sie! Ja, lustig!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Carsten Träger ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Carsten Träger (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich würde gerne wieder über Grüne Gentechnik sprechen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Um es noch einmal klipp und klar zu sagen: Wir als Sozialdemokraten wollen keine Grüne Gentechnik. (Beifall bei der SPD – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr könnt es nachher beweisen!) Wir wollen kein gentechnisch verändertes Essen. Wir wollen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher beim Einkauf nicht das Kleingedruckte lesen müssen, dass sie keine App brauchen, um entscheiden zu können: Ist da Gentechnik drin oder nicht? Wir wollen, dass sie sich schlicht und einfach darauf verlassen können, dass ihr Essen gesund ist und frei von Gentechnik hergestellt wurde. (Beifall bei der SPD – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nachher beweisen in der Abstimmung!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Grüne Gentechnik ist riskant. Der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen ist nicht nachhaltig. Monokulturen führen zu einem Verlust der Artenvielfalt. Außerdem sind sie anfälliger für Schädlingsbefall und Krankheiten. Die Folge ist wiederum steigender Einsatz von Pestiziden. Dadurch mehren sich weltweit die Resistenzen gegen Pflanzenschutzmittel. Insektenresistente Pflanzen erhöhen wiederum die Giftkonzentration auf dem Acker und schädigen Nutzinsekten. Ein Teufelskreis! Dabei hängt doch gerade die Landwirtschaft von einem stabilen ökologischen Gefüge ab. Daher sagen wir: Wir wollen keine Grüne Gentechnik. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nachher dann auch entsprechend abstimmen, bitte!) Die Langzeitrisiken von gentechnischen veränderten Pflanzen für Mensch und Umwelt sind nicht geklärt. Der Erfolg neuer Züchtungen ist umstritten. Grüne Gentechnik steht auch für eine Entwicklung der Landwirtschaft in eine Richtung, die wir nicht wollen. Sie steht für Rationalisierung auf dem Acker. Sie steht für Anbau einiger weniger Pflanzenarten auf immer größer werdenden Flächen. Damit steht sie für den Verlust von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft. Nichts von alledem wollen wir. Und die Menschen in Deutschland wollen das auch nicht. Das hat zuletzt im April eine vom Umweltministerium und vom Bundesamt für Naturschutz veröffentlichte Umfrage zum Naturbewusstsein ergeben. Nur 7 Prozent der Befragten sagen, dass sie überhaupt kein Problem mit gentechnisch veränderter Nahrung hätten. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da gehört die Frau Stockhofe dazu!) Auch die Fütterung von Nutztieren mit gentechnisch veränderten Futtermitteln lehnen 79 Prozent der Befragten ab. Und noch ein ethisches Argument: Drei Viertel der Befragten finden zudem, dass der Mensch kein Recht habe, Pflanzen und Tiere gentechnisch zu verändern. (Zuruf von der CDU/CSU: Au, au, au!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen keine Gentechnik in unserem Essen. Niemand will das. Deshalb sollten wir als politische Vertretung der Bürgerinnen und Bürger auch alles tun, um diesen Willen umzusetzen. Sehr geehrter Herr Bundesminister, auch Sie haben erklärt, dass Sie gentechnikfreie Äcker in Deutschland wollen. Dann sind wir uns einig. Lassen Sie uns das gemeinsam umsetzen: konsequent, klar und vor allem rechtssicher. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Da sind wir einmal gespannt!) Rechtssicher heißt für mich: bundeseinheitlich mit einer klaren Verantwortlichkeit für ganz Deutschland, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) kein kompliziertes Verfahren, keine unnötige Bürokratie. Da lag schon mal ein guter Lösungsvorschlag auf dem Tisch. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der jetzige ist das aber nicht!) Lassen Sie uns daran anknüpfen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass es in Deutschland keinen Flickenteppich mit unterschiedlichen Regelungen und unnötiger Bürokratie gibt. Wir alle haben das gleiche Ziel. Wir alle wollen gentechnikfreies Essen. Wir schaffen das. Danke schön. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Mindestens das schaffen wir tatsächlich. – Nun hat der Kollege Artur Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Artur Auernhammer (CDU/CSU): Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ob wir das schaffen, werden wir sehen. Ich merke allerdings nur an: In dieser Debatte haben wir bereits eine rot-rot-grüne Koalition in diesem Haus. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der SPD: Oh!) Vor zwei Tagen waren einige von Ihnen dabei, als abends in Berlin die Nacht der Landwirtschaft gefeiert und der CERES AWARD verliehen wurde. Wir haben unsere Landwirtschaft gelobt. Wir haben ihr die Anerkennung zukommen lassen, die sie braucht. Wir haben die Landwirtschaft dafür gelobt, dass sie innovativ ist, dass sie produktiv ist, dass sie leistungsfähig ist. Das war ein guter Abend. Ich denke, diese Landwirtschaft sollten wir auch weiterhin unterstützen. (Beifall bei der CDU/CSU) Diese Landwirtschaft nimmt die große Herausforderung an, unsere Welt mit gesunden Nahrungsmitteln zu versorgen. Jetzt streiten wir sehr intensiv um die Gentechnik – heute nicht zum ersten Mal. Wir alle wissen, dass ein Großteil unserer Bevölkerung enorme Vorbehalte hat. Diese Vorbehalte gründen allerdings weniger auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern mehr auf Emotionen. (Rita Stockhofe [CDU/CSU]: Genau!) Wir haben ja heute gemerkt, welche Lobbyistenpartei diese Emotionen am meisten schürt. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn die Bevölkerung den Anbau gentechnisch veränderter Organismen ablehnt, ist für mich als Landwirt völlig selbstverständlich, nicht etwas zu produzieren, was der Verbraucher nicht will. Also nehme ich Abstand vom Anbau von GVO. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Da brauche ich keine Lobbyistenpartei und keine komplizierte Gesetzgebung, sondern da reicht der ganz normale Menschenverstand eines Landwirts. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wer sind eigentlich die Agrarchemielobbyisten hier in diesem Bundestag? Mann, Mann!) Entscheidungen in der Politik sollten auf wissenschaftlichen Grundlagen und nicht auf Basis von Emotionen gefällt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gerade das ist die Herangehensweise des Bundeslandwirtschaftsministeriums bei seiner Gesetzesvorlage. Mit der Opt-out-Richtlinie sind wir auf einem guten Weg. Sie reden immer von einem Flickenteppich in Deutschland. Wenn Sie mit kleinen Flicken die acht Bundesländer meinen, in denen Minister der Grünen zuständig sind, dann können wir darüber diskutieren. Mir wäre es recht, wenn wir diese Flicken bereinigen würden. Aber das wird sicherlich noch eine Zeit lang dauern. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Guter Demokrat!) Wir brauchen eine gewisse Rechtssicherheit bei der infrage stehenden Verordnung. Wir sollten lieber die eine oder andere Woche länger überlegen und das eine oder andere Zulassungsverfahren mehr einführen, um Rechtssicherheit und Planungssicherheit für unsere Bäuerinnen und Bauern zu erreichen. Wir diskutieren über GVO-Anbau. Ich rede darüber mit meinen Vermarktern. Meine Molkerei sagt mir: Wenn du GVO-freie Milch lieferst, dann bekommst du beim Milchpreis 1 Cent mehr. – 1 Cent und mehr nicht! Die Entscheidung über GVO trifft man nicht nach Umfragen oder nach Internetbefragungen. Vielmehr trifft sie der Verbraucher an der Supermarktkasse; das ist das Entscheidende. (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, risikoorientiert, ethisch orientiert und nicht an der Ladenkasse!) Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben es in der Hand, GVO-freie Lebensmittel zu kaufen; diese sind ihren Preis wert. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja unverantwortlich! Das ist peinlich!) Wir sollten das Ziel gemeinsam erreichen durch vernünftige, sachorientierte Debatten und wissenschaftlich fundierte Entscheidungen. Dazu lade ich Sie alle ein. Vielleicht hat die rot-rot-grüne Mehrheit noch einmal den Mut, die entsprechende Diskussion zu führen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind, die Vorlagen auf Drucksachen 18/10028 und 18/6664 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Es herrscht allgemeine Zustimmung. Dann machen wir das so. Wir kommen zum Zusatzpunkt 6, also zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10029. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragt die Abstimmung über ihren Antrag in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung. Hierzu ist das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht. – Bitte schön. Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Namens der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantrage ich die Sofortabstimmung über unseren Antrag, der sich mit der Zulassung dreier gentechnisch veränderter Maissorten in Brüssel in den nächsten Wochen befasst. Es ist angekündigt, dass aller Voraussicht nach am 11. November die Vertreter der EU-Mitgliedstaaten in Brüssel über die Zulassung von drei Genmaissorten abstimmen werden. Wir wollen, dass der Deutsche Bundestag vorher dazu Position bezieht; denn auch die Vertreter des deutschen Landwirtschaftsministeriums werden voraussichtlich am 11. November in Brüssel im Ständigen Ausschuss, der nichtöffentlich tagen wird, abstimmen müssen. Wir sind der Meinung, dass der Deutsche Bundestag vorher der Regierung deutlich machen sollte, welches Votum wir dort erwarten. Meine Fraktion beantragt, in Brüssel die Zulassung dieser drei Maissorten abzulehnen. Ihre Argumentation, dass es ausreicht, dies in der nächsten Sitzungswoche zu tun und deshalb heute unseren Antrag zu überweisen, können wir überhaupt nicht nachvollziehen; denn das hieße, dass sich der Deutsche Bundestag erst einen Tag vorher positionieren würde. Normalerweise argumentieren Sie, zu einem solchen Zeitpunkt sei die Meinungsbildung bereits abgeschlossen und man brauche vor allem Zeit, um Bündnispartner für eine Entscheidung zu finden. Wir glauben, dass dahinter letztendlich, wie Sie das in dieser Debatte heute transparent gemacht haben, steht, dass Sie der Bevölkerung in Deutschland gerne suggerieren, dass Sie die Grüne Gentechnik ablehnen; aber wie die Kollegen heute in der Debatte deutlich gemacht haben, sehen Sie doch Zukunft in der Grünen Gentechnik: Wenn die Verbraucher für gentechnikfreie Produkte nicht mehr Geld zahlen wollten, dann müssten halt diese Produkte zugelassen werden. (Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt!) Damit soll letztendlich kaschiert werden, dass Sie für die Zulassung dieser Produkte und dieser Sorten sind, aber Sie wollen den Schwarzen Peter nach Brüssel schieben. Dort soll die Zulassung erfolgen, und Sie können dann weiter suggerieren, dass Sie sich für die Verbraucherinteressen und für eine gentechnikfreie Landwirtschaft einsetzen wollen. Das verkündet vor allem Ministerpräsident Seehofer besonders gern und besonders intensiv für Bayern. Wir glauben, dass Oppositionsrechte verletzt werden, wenn diese Abstimmung nicht transparent und öffentlich durchgeführt werden kann, bevor in Brüssel entschieden wird. Wir möchten nicht, dass der Antrag, der keine Zulassung der gentechnisch veränderten Maislinien fordert und den wir heute eingebracht haben, an den Landwirtschaftsausschuss überwiesen wird und dort für erledigt erklärt werden muss, weil die Abstimmung in Brüssel bereits gelaufen ist. Deshalb appellieren wir vor allem an die Kollegen der SPD, die sehr glaubwürdig eine transparente Entscheidung heute eingeklagt haben, die Sofortabstimmung über unseren Antrag heute hier im Bundestag vor der Brüsseler Entscheidung zu unterstützen und für die Sofortabstimmung zu plädieren. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir stimmen nun nach ständiger Übung zuerst über den Antrag – – (Dagmar Ziegler [SPD]: Ich möchte erwidern!) – Na gut. Das führt aber zum gleichen Ergebnis. (Heiterkeit) Dagmar Ziegler (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Lemke, die Positionen sind in der Debatte sehr deutlich geworden, und es ist auch deutlich geworden, dass wir in der Koalition sehr differenzierte Meinungen haben. Um es der Union einmal zu sagen: Im Moment haben wir eine rot-rot-grüne Mehrheit mit Herrn Schmidt in unseren Reihen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die Konstellation ist also noch etwas komplizierter, als Sie sie dargestellt haben. Es ist ganz klar geworden: Unsere Fraktion lehnt den Anbau dieser Produkte ab. Teile der CDU/CSU lehnen ihn ab, die Linke und die Grünen auch. Frau Lemke, was überhaupt nicht zieht, ist das Argument, wir würden sonst immer alle Beratungen in den Ausschüssen vermeiden und irgendetwas durchpeitschen. Jetzt sagen Sie, wir müssten heute entscheiden, obwohl der Ausschuss noch vor dem 11. November tagt. Ich glaube, er tagt am 9. November; da liegen also zwei Tage dazwischen. Deshalb schiebe ich das Argument in Ihre Richtung zurück. Es ist noch eine Debatte möglich. Ich sage auch in Richtung Union: Denken Sie noch einmal darüber nach. Ganz Deutschland möchte diesen Anbau nicht. Warum will es dann ausgerechnet die Union? Das Argument mit dem 1 Cent war wirklich daneben. Die Konsumenten und Verbraucher vorzuführen und zu sagen, weil sie nicht bereit seien, 1 Cent mehr zu bezahlen, sollten gentechnisch veränderte Produkte angebaut werden, das zieht gar nicht. Ich bitte ganz herzlich im Namen meiner Fraktion darum, das noch einmal im Ausschuss zu debattieren und ernsthaft durchzugehen. Namens der Koalition beantrage ich deshalb die Überweisung in den Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Über genau diesen Antrag auf Überweisung stimmen wir nun ab. (Bundesminister Christian Schmidt begibt sich zur Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) – Herr Minister, das ist außerordentlich eindrucksvoll. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an Bundesminister Christian Schmidt gewandt: Warum haben Sie nicht geredet?) Herr Minister! (Bundesminister Christian Schmidt begibt sich zur Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]) – Herr Minister, würden Sie sich freundlicherweise in Ihr Basislager zurückziehen? (Heiterkeit und Beifall – Christian Schmidt, Bundesminister: Das dient der Sachaufklärung!) – Ja. Das können Sie davor und danach machen, aber nicht während einer Abstimmung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 18/10029 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft und zur Mitberatung an den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit und den Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union. Wer stimmt diesem Überweisungsantrag zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Das Erstere war zweifellos die Mehrheit. Damit ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Entlastung insbesondere der mittelständischen Wirtschaft von Bürokratie (Zweites Bürokratieentlastungsgesetz) Drucksache 18/9949 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt 38 Minuten vorgesehen. – Dazu gibt es keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst für die Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin Brigitte Zypries. Brigitte Zypries, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie: Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit unserem Ersten Bürokratieentlastungsgesetz haben wir eine der bisher ehrgeizigsten Initiativen der Bundesregierung beim Bürokratieabbau auf den Weg gebracht. Die Unternehmen werden durch dieses Gesetz um rund 700 Millionen Euro im Jahr entlastet. Heute knüpfen wir an diesen Erfolg an; denn der Bürokratieabbau ist und bleibt ein zentrales Anliegen der Bundesregierung. Das Zweite Bürokratieentlastungsgesetz wurde im August im Kabinett beschlossen. Jetzt liegt es Ihnen zur Beratung vor. Addiert man die Entlastungen durch das erste und das zweite Gesetz, kommt man zu dem Ergebnis, dass wir die Wirtschaft in dieser Legislaturperiode um gut 1 Milliarde Euro an Bürokratiekosten entlasten. Die „One-in- und One-out“-Regelung funktioniert. Der Normenkontrollrat hat es uns bestätigt. Das „out“ – das heißt die Entlastung – fällt bereits jetzt höher aus als das „in“. Mit diesem Zweiten Bürokratieentlastungsgesetz wollen wir vor allen Dingen den kleinen Betrieben den Alltag erleichtern. Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen. In Bezug auf die Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge fordert die Wirtschaft seit vielen Jahren Erleichterungen. Jetzt wird es möglich sein, dass die Unternehmen, wenn der tatsächliche Wert der Beiträge für den laufenden Monat nicht bekannt ist, künftig auf den tatsächlichen Wert des Vormonats abstellen können. Es entfällt also eine aufwendige Schätzung. Wir ändern die Handwerksordnung und erlauben zukünftig die elektronische Kommunikation. Auch erleichtern wir die Abrechnung von Pflegedienstleistungen. Elektronische Dokumente ersetzen die Belege in Papierform. Dadurch bleibt mehr Zeit für die Pflege. Durch die sichere Übersendung der elektronischen Dokumente werden allein 12,4 Millionen Euro gespart. Wir entlasten die Wirtschaft auch im Bereich des Steuerrechts, indem wir den umsatzsteuerlichen Schwellenwert für Kleinstbetragsrechnungen anheben. Bei Lieferscheinen entfällt die Aufbewahrungspflicht, wenn der Inhalt des Lieferscheins auf der Rechnung dokumentiert ist. Schließlich wird die Grenze für die vierteljährliche Abgabe der Lohnsteueranmeldungen von 4 000 Euro auf 5 000 Euro angehoben. Das klingt technisch, aber tatsächlich entlasten allein diese letzten drei steuerlichen Maßnahmen die Wirtschaft um gut 270 Millionen Euro im Jahr – Geld, das für die Kernaufgaben zur Verfügung steht. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Leider haben wir nicht alle Wünsche der Wirtschaft erfüllen können. Ich habe aus zahlreichen Gesprächen mit Unternehmern mitgenommen, dass es ihnen ein Anliegen ist, dass die Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter besser geregelt wird. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Kann man ja noch aufnehmen!) – Ja, das wollte ich jetzt gerade vorschlagen. – Die Unternehmer schlagen vor, dass man den Schwellenwert von den jetzigen 410 Euro auf 1 000 Euro anhebt. Das scheint mir ein vernünftiges Verfahren zu sein. Es gilt wie immer das Struck’sche Gesetz: Kein Gesetz kommt so heraus, wie es in den Bundestag hineingekommen ist. Insofern wünsche ich Ihnen gute Beratung und rege an, dass Sie sich diesen Interessen der Wirtschaft noch besonders widmen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Thomas Lutze hat das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Thomas Lutze (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie wollen, wie gerade dargestellt, die Bürokratie vereinfachen. Aber der große Wurf ist Ihnen dabei nicht gelungen. Sie bleiben deutlich hinter Ihren eigenen Zielen zurück. Ich verweise da nur einmal ganz vorsichtig auf ein Papier der Bundesregierung aus dem Jahr 2014. Das nennt sich „Eckpunkte zur weiteren Entlastung der mittelständischen Wirtschaft von Bürokratie“. Okay, kurz vor der Bundestagswahl war von dieser Bundesregierung allerdings auch nicht zu erwarten, dass wir hier eine große Gesetzesinitiative bekommen. Und das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, schlecht für unser Land. (Beifall bei der LINKEN) Einige der Entlastungen, zum Beispiel die Erhöhung des Schwellenwertes für Kleinbetragsrechnungen von 150 auf 200 Euro, stellen höchstens einen Inflationsausgleich dar. Sie werden in kürzester Zeit, also nach wenigen Jahren, wieder aufgefressen sein. Das Gleiche gilt für die Erhöhung der Grenze für die quartalsweise Abgabe der Lohnsteueranmeldung von 4 000 auf 5 000 Euro. Bei der Abrechnung der Sozialversicherungsbeiträge verringern Sie nicht die Belastungen für die Betriebe. Ganz im Gegenteil: Sie muten ihnen nun ein neues Berechnungsverfahren zu. Der Zentralverband des Deutschen Dachdeckerhandwerks jedenfalls sieht hierin keine Entlastung für die Unternehmen, sondern im Gegenteil eine Belastung. Bei vielen Ihrer weiteren Vorschläge kann man sich nur die Augen reiben. So ist es verwunderlich, dass Sie erst jetzt darauf kommen, dass alle Informationen zu Leistungen der Verwaltungen des Bundes künftig in standardisierter Form erfasst und bereitgestellt werden sollen. Das hätte eine Selbstverständlichkeit seit der Einführung des E-Government-Gesetzes sein müssen. Und wenn Sie schon das E-Government-Gesetz anfassen, dann hätten wir uns auch gleich eine Festlegung auf passende Open-Source-Lösungen gewünscht. Auch das ist nicht erfolgt. Das Gleiche gilt für die Neuaufnahme von Informationen wie E-Mail-Adresse oder Internetadresse in die Handwerksrollen. Das war überfällig und hat wenig bis überhaupt nichts damit zu tun, dass es heute um Bürokratieabbau geht. Ich könnte jetzt noch weitere Punkte ansprechen, möchte aber auch eine etwas grundsätzlichere Kritik am Gesetzentwurf an Sie richten. Sicherlich erreichen Sie mit dem vorliegenden Entwurf kleinere Verbesserungen. Allerdings sieht die Linksfraktion noch viel größere Einsparpotenziale an ganz anderen Stellen, zum Beispiel beim Arbeitslosengeld II. Mit den Nachweis-, Dokumentations- und Sanktionspflichten betreiben Sie auf der einen Seite ein wahres Bürokratiemonster und gängeln auf der anderen Seite die Leistungsempfänger. Wenn Sie Bürokratie abbauen wollen, dann hier. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Aus diesem Einsparpotenzial könnten Sie die Erhöhung des Regelsatzes auf ein menschenwürdiges Niveau zumindest mitfinanzieren. Oder beim Elterngeld, beim Kindergeld, beim BAföG: Überall würden sich die Menschen über weniger Papierkrieg freuen. (Beifall bei der LINKEN) Oder gehen Sie einmal eine große Steuerreform an, die mehr Steuergerechtigkeit herstellt, aber auch die jährliche Papierschlacht bei der Einkommensteuererklärung für die einfachen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer spürbar eindämmt. (Margaret Horb [CDU/CSU]: Haben wir schon gemacht!) Wo liegt bei diesen Beispielen der Unterschied zu den Entlastungen, die Sie vorschlagen? Die Einsparungen, die Sie im vorliegenden Entwurf mit dreistelligen Millionenbeträgen beziffern, gehen nicht zwingend in neue Investitionen. Nein, sie führen im Zweifelsfall erst einmal zu höheren Gewinnen bei den Unternehmen. Aber jeden Euro, den ein Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen oder ein Empfänger von Sozialleistungen mehr zur Verfügung hat, wird er unmittelbar in den Konsum investieren, und das hat einen positiven Effekt auf die Binnennachfrage. Das gilt es zu unterstützen. (Beifall bei der LINKEN) Letztes Stichwort: Existenzgründer. Ich möchte bezweifeln, dass das größte Hindernis für junge Existenzgründer die Angst vor der ausufernden Bürokratie ist. Es ist vielmehr die Angst vor dem Existenzverlust bei einem möglichen Scheitern der Existenzgründung. Hier leistet ein starker Sozialstaat aus Sicht der Linken einen ebenso wichtigen Beitrag für ein gutes Klima für Existenzgründer wie eine effektive und straffe Bürokratie. (Beifall bei der LINKEN) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns auf die Beratungen in den Ausschüssen. Aber wir freuen uns viel mehr darauf, dass wir mit hoher Wahrscheinlichkeit in der nächsten Wahlperiode über ein Bürokratieentlastungsgesetz III diskutieren, in dem dann auch die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Empfänger von Sozialhilfeleistungen stärker berücksichtigt werden. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Helmut Nowak ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Helmut Nowak (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ehemalige Mitglied des Hohen Hauses Ralf Dahrendorf bemerkte einmal zum Thema Bürokratie – ich zitiere –: Wir brauchen Bürokratie, um unsere Problem zu lösen. Aber wenn wir sie erst haben, hindert sie uns, das zu tun, wofür wir sie brauchen. Ich denke, er hat völlig recht damit. Dies vorausgeschickt diskutieren wir heute bereits das Zweite Bürokratieentlastungsgesetz. Ich denke, das ist gut so. Ich halte den vorliegenden Gesetzentwurf grundsätzlich für einen Schritt in die richtige Richtung. Er enthält viele gute Ansätze, insbesondere in der Schwerpunktsetzung bei der mittelständischen Wirtschaft. Ich will einige Dinge herausgreifen und komme zunächst zur Erleichterung bei den Aufbewahrungsfristen. Zukünftig müssen Unternehmen Lieferscheine, die keine Buchungsbelege sind, nicht mehr zwingend aufbewahren. Ich hätte mir bei diesem Punkt aber auch noch gewünscht, die Aufbewahrungsfristen generell zu durchleuchten und vielleicht etwas zusammenzufassen. Weil wir für unterschiedliche Dokumente so unterschiedliche Aufbewahrungsfristen haben, führt dies dazu, dass viele Betriebe alles aufheben, um keinen Fehler zu machen, sodass unsere gut gemeinte Verkürzung damit möglicherweise ins Leere laufen könnte. Die Anhebung der Grenze für die Fälligkeit von Lohnsteuer von 4 000 auf 5 000 Euro wird insbesondere kleinere Unternehmen spürbar von Meldepflichten befreien. Ich würde mir allerdings auch da wünschen, dass wir 500 Euro mehr draufsatteln, weil schon bei zwei Vollbeschäftigten, die nur den Mindestlohn bekommen und 52 Wochen jeweils 40 Stunden arbeiten, diese Grenze überschritten wird. Bei 5 500 Euro wäre das nicht der Fall. Was die Anhebung der Grenze für Kleinbetragsrechnungen von 150 Euro auf 200 Euro angeht, sollten wir einmal der EU folgen, die uns die Möglichkeit gibt, bis 400 Euro aufzustocken. Das würde die Sache erleichtern, und wir würden wahrscheinlich in der nächsten Zeit einmal weniger über dieses Thema sprechen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Übrigens hat man das in Österreich schon im März 2014 eingeführt. Zu begrüßen ist auch die Vereinheitlichung der Fälligkeit von Sozialversicherungsbeiträgen, was die Staatssekretärin schon angedeutet hat, bei der eine bisherige Ausnahmeregelung nunmehr als vereinfachtes Verfahren zur dauerhaften Regelung wird. Hier hätte ich mir persönlich gewünscht, die Rückkehr zur alten Regelung von vor 2006 zu beschließen. Aber das ist wohl eine Illusion. Die Änderung wurde damals deshalb herbeigeführt, weil die Haushaltssituation der sozialen Sicherungssysteme recht schlecht war und wir damit Liquidität gerettet haben. Das war auch richtig so. Aber leider bewahrheitet sich hier ein bisschen das nicht ganz unbegründete Vorurteil, dass der Staat behält, was er einmal hat. Ich muss dabei immer unwillkürlich an die Sektsteuer denken, die zur Finanzierung der kaiserlichen Flotte eingeführt wurde. Die haben wir immer noch, allerdings nicht die Flotte. In Zeiten wie den unseren, in denen radikale Kräfte von links und rechts mit Vereinfachungen und Polemik unserem etablierten Parteien- und Politiksystem zusetzen, müssen wir noch stärker Wert auf Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit legen. So müssen etwa einmal als sinnvoll erachtete und daher zugestandene Freibeträge und Schwellenwerte einer regelmäßigen Anpassung unterzogen werden, um ihren ursprünglichen Sinn nicht zu verlieren. Hierzu gehört die Anhebung der Schwellenwerte für die Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die GWG-Grenze ist seit 1964 nicht mehr angehoben worden und liegt unverändert bei umgerechnet 410 Euro, was heute inflationsbereinigt circa 1 570 Euro entspricht. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: seit 1964. Die letzte Anpassung ist somit 52 Jahre her. Abgesehen von der Tatsache, dass man damals wahrscheinlich noch größere Teile eines Büros für 800 D-Mark einrichten konnte, so reichen heute 410 Euro nicht einmal dafür, ein ordentliches Smartphone zu kaufen, das man fünf Jahre abschreiben muss und das nach drei Jahren technisch veraltet ist, wenn es nicht vorher in Flammen aufgegangen ist. Die Anhebung der Schwellenwerte auf 1 000 Euro, die nicht einmal einen völligen Inflationsausgleich darstellt, ist daher kein Geschenk, sondern nur die Wiederherstellung eines bereits in der Vergangenheit dagewesenen Zustandes. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich werbe noch einmal dringend dafür. Ich freue mich natürlich über die Unterstützung durch die Staatssekretärin und den Koalitionspartner. An dieser Stelle will ich Frau Wicklein danken, die hervorragend und immer offen mit uns zusammengearbeitet hat, um diese Dinge auf den Weg zu bringen. Ich freue mich, dass wir alle miteinander offensichtlich in die Zielgerade einlaufen. Positiv daran, den Schwellenwert auf 1 000 Euro anzuheben, ist auch, dass wir bei dieser Gelegenheit die Poolabschreibung eliminieren, die dann ja auch überhaupt keinen Sinn mehr macht. Dies würde eine erhebliche Vereinfachung für alle Unternehmen in Deutschland bedeuten. Insbesondere für die kleinen Betriebe wäre dieser Schritt ein effektiver und vor allem deutlich sichtbarer Beitrag zum Bürokratieabbau. Vieles von dem, was wir machen, ist für diejenigen sichtbar, die sich im Steuerrecht und bei all diesen Dingen auskennen, aber für die normalen Unternehmer im Regelfall eher nicht. Insofern bitte ich noch mal alle Kolleginnen und Kollegen, der längst überfälligen Anhebung des Schwellenwerts zuzustimmen und ins parlamentarische Verfahren jetzt einzubinden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Matthias Ilgen [SPD]) Wir wissen auch, dass es dadurch nicht zu einer Steuerverkürzung kommt, sondern lediglich zu einer Liquiditätsverschiebung. Zudem wird ein Investitionsschub – so sagt es zumindest die Wirtschaft – von circa 400 Millionen Euro erwartet. Addiert man die Beträge, die durch den Gesetzentwurf zustande kommen – Reduzierung der Bürokratiekosten für die Wirtschaft um 360 Millionen Euro plus ein Investitionsschub im Umfang von 400 Millionen Euro –, dann kommt man auf 760 Millionen Euro, die zusätzlich in die Wirtschaft fließen. Nun weiß ich auch: In der Wirtschaft kann man nicht mit dem Dreisatz rechnen. Aber immerhin wird der Betrag in der Tendenz so hoch sein. Deshalb ist das nur zu unterstützen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir müssen zusehen, dass wir auch in der Zukunft noch die Erfolge der deutschen Wirtschaft feiern können. Nur eine erfolgreiche Wirtschaft sichert unseren sozialen Wohlstand. Wir sollten daher als Politik dringend handeln und schauen, wie wir denjenigen, die in Deutschland im besten Sinne des Wortes etwas unternehmen, die Steine aus dem Weg räumen. Die Rahmenbedingungen, die die Politik setzen will und muss, dürfen nicht zu mehr Bürokratie führen, sondern maximal zu so viel Bürokratie, wie unbedingt erforderlich ist. Lassen Sie mich noch ganz kurz zu einem weiteren Thema sprechen. Das deutsche Gesetz zur Umsetzung der EU-Wohnimmobilienkreditrichtlinie ist für mich ein Beispiel für Überregulierung. Es diskriminiert unzulässig ganze Verbrauchergruppen, zum Beispiel ältere Bürgerinnen und Bürger, die ihre Wohnung oder ihr Haus altersgerecht umbauen möchten, aber keinen Kredit mehr dafür bekommen, weil sie zu alt sind, um die Tilgung sicherzustellen, und weil zum Beispiel ihre Immobilie keine dem Wert entsprechende Berücksichtigung findet. Das ist eine unmögliche und diskriminierende Verfahrensweise. Es ist zudem ein bürokratisches Monster. Die Volksbanken, die Sparkassen und die Banken ganz allgemein sehen sehr deutlich, dass die Kreditvergabe immer schwieriger wird. Gerade sie sind es ja, die ihre Kunden persönlich kennen und ihre Lage einzuschätzen wissen. Das Gesetz zur Umsetzung der Verordnung muss unbedingt entbürokratisiert werden. Mitte der 90er-Jahre war ein Darlehensvertrag vier bis fünf Seiten stark, heute kann man diese Zahl mühelos mit fünf multiplizieren. Außerdem ist der Wert der vorhandenen Substanz bei einem Kreditantrag unbedingt zu berücksichtigen. Im Übrigen ist mittlerweile nicht nur die Privatwirtschaft durch die überbordende Bürokratie völlig überlastet; auch die staatliche Verwaltung selbst gerät aufgrund immer komplizierterer Verfahrensabläufe zunehmend ins Schlingern. Beispiel dafür ist die Tatsache, dass Mittel aus staatlichen Fördertöpfen wie die Investitionshilfen des Bundes auch aufgrund zu komplexer und komplizierter Verfahren von den unteren Ebenen, also den Städten und Gemeinden, teilweise gar nicht mehr abgerufen werden können. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es gilt, dem endlich Einhalt zu gebieten. Wir müssen in der Zukunft noch besser darauf achten, dass Gesetze für Bürger, Wirtschaft und Verwaltung verständlicher sind und dass auf unnötige Bürokratie verzichtet wird. Mir fällt bei dieser Gelegenheit der Bierdeckel ein, wobei Herr Merz nie gesagt hat, wie groß er sein soll. Um noch einmal auf Ralf Dahrendorf zurückzukommen: Wir brauchen die Bürokratie, um unsere Probleme zu lösen – aber eben nicht mehr davon. Daher lassen Sie uns das Zweite Bürokratieentlastungsgesetz mit seinen guten Ansätzen im parlamentarischen Verfahren zu einem noch besseren Gesetz machen. Ich danke Ihnen sehr herzlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Thomas Gambke das Wort. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Besucherrängen und draußen vor den Bildschirmen! Bürokratieentlastung, das klingt erst einmal gut, aber wenn man ins Detail geht, dann interessiert es keinen mehr, obwohl es viele von uns quält. Ich werde gleich noch ein paar kritische Worte sagen, aber lassen Sie mich zunächst darauf hinweisen, dass es absolut stimmt: Bürokratieentlastung ist oft nicht der ganz große Wurf; vielmehr sind viele kleine Schritte nötig, um Bürokratie wirklich abzubauen. Ich bin dem Normenkontrollrat sehr dankbar – er hat gerade sein zehnjähriges Bestehen gefeiert –, der in vielen Punkten immer wieder Antrieb ist. Er muss auch Antrieb sein; denn Verwaltungen reagieren nicht ohne Weiteres darauf, wenn man sagt: Die Bürokratie muss abgebaut werden. Gestern im Finanzausschuss wurden wir darüber informiert, dass es sein kann, dass durch das elektronische Sicherungsverfahren, mit dem man Daten übertragen und damit Steuerbetrug verhindern kann, ein Tag Betriebsprüfung pro Betrieb wegfällt. Und der Staatssekretär hat gesagt: Das interessiert mich nicht. (Margaret Horb [CDU/CSU]: Das hat er gar nicht gesagt!) – Ja, das hat er gesagt. (Margaret Horb [CDU/CSU]: Nein! Nein!) Das hat mich wirklich schockiert; denn es geht bei all dem, was wir machen, ob das der Vorgang der Steuererhebung ist oder andere Verwaltungsvorgänge, immer auch um die Frage des Aufwandes, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und den müssen wir zurückführen. Ich freue mich, dass das Thema GWG, geringwertige Wirtschaftsgüter, heute vom Kollegen Nowak aufgegriffen wurde. Auch hier erinnere ich mich an viel Widerstand, gerade vonseiten der Union. Der Steuerberater hat normalerweise kein Problem mit der Poolabschreibung. (Margaret Horb [CDU/CSU]: Er macht es gar nicht! Er macht gar keine Poolabschreibung!) – Nein, er macht keine Poolabschreibung, führt aber den dafür notwendigen Verwaltungsvorgang aus. (Margaret Horb [CDU/CSU]: Aber nicht die Poolabschreibung!) – Es ist doch so, Frau Horb, dass das sehr kleine Betriebe betrifft. Ich war vorgestern im Mittelstandsausschuss des Wirtschaftsministers, übrigens als einziger geladener Gast und Politiker. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ja, wenn Sie nur beratendes Mitglied sind!) Ich habe dort unisono von allen Versammelten gehört, wie wichtig es wäre, die Abschreibungen für geringwertige Wirtschaftsgüter in der Summe endlich hochzusetzen. Wir fordern das seit Jahren. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sehr guter Vorschlag!) Ich freue mich darüber, dass wir dieses dicke Brett gebohrt haben und dass wir jetzt auf der Zielgeraden sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang das Thema Abführung der Sozialversicherungsbeiträge ansprechen. Da kommt dann immer die Bemerkung: Das kostet 30 Milliarden Euro. – Es kostet eben nicht 30 Milliarden Euro, es ist eine Verschiebung von 30 Milliarden Euro in das nächste Haushaltsjahr, aber die Beträge werden genauso abgeführt. Das ist also nur, wie man technisch sagt, ein Liquiditätseffekt, den wir uns übrigens gerade jetzt in Zeiten niedriger Zinsen gut leisten könnten. Aber hier sind wir nicht weitergekommen. Der Normenkontrollrat hat zur Abführung der Sozialversicherungsbeiträge einen Vorschlag unterbreitet, bei dem er mit einer erheblichen Bürokratieentlastung rechnet. Das kann aber nur ein erster Schritt sein. Aus der Wirtschaft höre ich unisono – ich sage das an die gerichtet, die am Dienstag nicht da waren; vielleicht können Sie die Protokolle lesen –, dass gerade die kleinen und mittleren Unternehmen mit schwankenden Geschäftsergebnissen einen erheblichen zusätzlichen Aufwand haben, wenn sie erst einmal aufgrund einer Prognose, auch wenn sie auf dem letzten Geschäftsjahr basiert, zahlen, dann aber wieder eine Korrektur vornehmen müssen. Nur einmal zu zahlen, nur einmal das Papier in die Hand nehmen zu müssen, das würde eine erhebliche Entlastung bedeuten. Ich hoffe, dass wir uns dieses Thema bald noch einmal vornehmen und eine entsprechende Entscheidung herbeiführen können. Das wäre für die Wirtschaft wirklich gut. Wie gesagt: Den Staat kostet es nichts, die Sozialversicherungen kostet es nichts, aber es würde eine Bürokratievereinfachung bedeuten. Ich hoffe, dass wir das hinbekommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Helmut Nowak [CDU/CSU] – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Auch das ist richtig!) Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf Folgendes hinweisen – das ist die Kritik, die ich habe –: Der Normenkontrollrat und viele andere haben darauf hingewiesen, dass wir durch die Digitalisierung die Möglichkeit haben, bis zu einem Drittel an Bürokratie abzubauen. Ich sehe, dass wir da weder strukturell noch vom Management her richtig vorgehen. (Margaret Horb [CDU/CSU]: Haben wir doch!) Die zuständigen Regierungsmitglieder müssen sich endlich zusammensetzen und das Ganze organisieren, damit das behoben werden kann und ich nicht mehr von Unternehmern hören muss: Ich gehe mit meinem Betrieb lieber nach Lettland, weil ich dort Verwaltungsvorgänge elektronisch und schnell abwickeln kann; abgesehen davon, dass man dort auch eine gute Breitbandversorgung hat. – Das ist eine sehr niederschmetternde Äußerung. Da müssen wir mehr tun. Der Normenkontrollrat hat das Problem im Rahmen der Veranstaltung zu seinem zehnjährigen Bestehen sehr deutlich benannt. Sie kennen vielleicht die Unterlagen dazu; wenn nicht, sollten Sie sie lesen. Ich glaube, dass wir da noch ein weites Feld vor uns haben. Gerade die Chancen, die uns die Digitalisierung zum Bürokratieabbau bietet, müssen wir wahrnehmen. Ich hoffe, dass die Regierung das endlich angeht. Ich sage es aber noch einmal: Sie muss das auch vom Management her und strukturell richtig begleiten. Sonst wird das irgendwo in den Ressorts versacken und nicht funktionieren. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Matthias Ilgen ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Matthias Ilgen (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf der Zielgeraden der Großen Koalition – das Gesetz soll ja circa zu Ostern 2017 in Kraft treten – hinterlassen wir, wie ich finde, ein schönes Ostergeschenk für die Betriebe in Deutschland; denn gerade die kleinen Unternehmen mit ein bis drei Mitarbeitern sind überproportional mit Bürokratie belastet. Deswegen ist es wichtig, dieses Zweite Bürokratieentlastungsgesetz auf den Weg zu bringen. Der geschätzte Gegenwert dieser Entlastung wird circa 360 Millionen Euro im Jahr betragen oder, umgerechnet in Arbeitsstunden, 10 Millionen Arbeitsstunden in den Betrieben. Das mag hier im Hohen Hause nicht immer so sein, aber in der Wirtschaft ist Zeit nach wie vor Geld. Diese Zeit kann besser genutzt werden als für die Bürokratie, nämlich für die Geschäftsabwicklung, für das Zurverfügungstellen von Ausbildern und alles Mögliche. Deswegen ist dieses Gesetz ein Schritt in die richtige Richtung. Zusätzlich zu der Entlastung um 700 Millionen Euro durch das erste Bürokratieentlastungsgesetz – wir haben es vom Kollegen Nowak gehört – sind wir damit schon bei mehr als 1 Milliarde Euro in einer Legislatur. Das hat, glaube ich, keine Bundesregierung in der Vergangenheit in vier Jahren auf den Weg gebracht. Ich finde, die Koalition kann auch einmal ihren Stolz darüber zum Ausdruck bringen, dass wir das machen. Wir modernisieren die Handwerksordnung; die Frau Staatssekretärin hat das angesprochen. Bei den Sozialversicherungsbeiträgen machen wir einen Schritt in die richtige Richtung, wie ich finde. Auch wir in der SPD-Fraktion wünschen uns, glaube ich, mehrheitlich, dass wir zu der Rechtslage von 2006 zurückkehren; denn der damalige, auch von einer Großen Koalition beschlossene Griff in die Sozialkassen war zwar begründbar – er entstand aus einer Finanznot heraus –, wurde aber mit einer Zusage verbunden: Wenn es im System mal wieder besser läuft, wollen wir den Unternehmen das Geld zurückgeben. – Da wir wissen, was das an Entlastung in den Personalabteilungen bringen würde, sage ich in Richtung CDU: Lassen Sie uns noch einmal überlegen, ob man nicht eine Möglichkeit findet, die im Haushalt darstellbar ist. Wir jedenfalls würden es begrüßen, wenn wir darüber noch einmal reden. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ich bin ja völlig begeistert!) Die Anpassung im Steuerrecht haben wir besprochen: 150 Euro auf 200 Euro. Hinsichtlich der Grenze für die Lohnsteueranmeldung – Anpassung von 4 000 auf 5 000 Euro – können wir uns vorstellen, dass man noch einmal genau schaut, wie viele davon eigentlich betroffen sind und wie viele davon betroffen wären, wenn man 500 Euro mehr nähme. Vielleicht können wir mit einem kleinen Schritt bei dem Wert eine große Entlastung bewirken. Ich finde es auch richtig, dass man die Lieferscheine nicht mehr aufbewahren muss, wenn man den Wertgegenstand sowieso auf der Rechnung stehen hat, weil das ja auch für die Steuer der entscheidende Beleg ist. Von daher ist das eine sinnvolle Maßnahme. Bezüglich der Grenze für die geringwertigen Wirtschaftsgüter schaue ich den Staatssekretär Meister an; er sitzt ja heute hier. Ich sage es einmal so: Wenn wir uns in der Koalition einig sind – die Zeichen deuten darauf hin; denn die AG Finanzen der SPD-Bundestagsfraktion hat uns signalisiert: „Das kann man machen“, und ähnliche Signale höre ich auch aus der CDU –, dann schaffen wir das, dann machen wir das. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jan Metzler [CDU/CSU]) Dann kann die Regierung andere Vorschläge machen; aber wir sind das Parlament und nehmen uns auch das Recht heraus, das entsprechend zu machen. Stichwort: Struck’sches Gesetz. (Marcus Held [SPD]: Wir sind das Volk!) – „Wir sind das Volk!“, das war schon immer ein wichtiger Aspekt. Wir repräsentieren es an dieser Stelle. Sicherlich gibt es noch viele andere Punkte, bei denen man in Sachen Bürokratieabbau in der nächsten Legislaturperiode weiter vorankommen kann. Ich will noch einmal Werbung in eigener Sache machen: Ich habe mit dem gerade aus dem Bundestag ausgeschiedenen Kollegen Peer Steinbrück zu Beginn dieser Wahlperiode ein umfangreiches Papier auf den Weg gebracht. Das ist auch Diskussionsgegenstand bei uns in der Fraktion gewesen. Es wird sicherlich auf dem Weg zum SPD-Wahlprogramm diskutiert werden. Es sind 29 Vorschläge zum Abbau von Steuerbürokratie. Man muss ja nicht jeden nehmen, aber ich denke, es gibt darin genug Futter zur Diskussion für eine kommende Wahlperiode. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Horb hat nun für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Margaret Horb (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Stellen Sie sich vor, Sie bauen sich daheim eine Garage. Das machen ja viele Leute, und die meisten stellen auch das Auto hinein. Das funktioniert in der Regel am Anfang ganz gut. Nur irgendwann steht dort nicht mehr allein das Auto, sondern auch noch die Werkbank, die Winterreifen, Fahrräder, Kinderwagen, der kaputte Rasenmäher und Omas alte Schrankwand. (Marcus Held [SPD]: Und das Auto steht auf der Straße!) In der Garage stehen dann nützliche Dinge, aber auch Gegenstände, die man nicht mehr braucht, oder solche, die man vielleicht noch brauchen könnte. Und wenn man Pech hat, stellt man irgendwann fest: Das Auto passt nicht mehr hinein. Mit Gesetzen ist es so ähnlich. Wenn ein Gesetz verabschiedet wird, ist es am Anfang vergleichsweise schlank und einfach. Mit der Zeit kommen dann immer mehr Sonderregelungen und Ausnahmen dazu. Die Garage wird sozusagen immer voller. Ein gutes Beispiel dafür ist unser Steuerrecht. Dessen wichtigste Gesetze, das Einkommensteuergesetz und die Abgabenordnung, sind schon sehr alt, und wir passen sie im Grunde immer wieder an, ja, wir müssen sie anpassen. Bundesverfassungsgerichts- und BFH-Urteile müssen umgesetzt, EU-Richtlinien müssen in nationales Recht gegossen werden. Manchmal sollen mit Steueranreizen bestimmte Lenkungsziele erreicht werden. Manchmal geht es darum, Steuerschlupflöcher zu stopfen, und manchmal führen wir Berichts- und Aufbewahrungspflichten ein, um gegen Finanz- und Steuerkriminalität vorzugehen. Das Ergebnis ist ein immer detaillierteres, komplizierteres Rechtssystem, das immer höhere Anforderungen an die Steuerpflichtigen stellt. Genauso, wie man ab und zu mal die Garage aufräumt, sollten wir das auch mit unseren Gesetzen tun und sie von bürokratischem Gerümpel befreien. Genau das tun wir auch, und genau deshalb haben wir im Koalitionsvertrag deutlich festgeschrieben: „Steuervereinfachung ist eine Daueraufgabe“, und diesem Auftrag kommen wir nach. In dieser Legislaturperiode haben wir hierzu bereits das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens mit vielen Erleichterungen für die Unternehmen, die Bürger und die steuerberatenden Berufe beschlossen. In diesem Gesetz haben wir auch den Grundstein für die Erhöhung der Summe bei der Kleinbetragsrechnung gelegt. Bei Rechnungen bis zu 150 Euro müssen bisher angegeben werden: Name des Rechnungsausstellers, Datum, Art und Menge der gelieferten Ware, der Preis und der Steuersatz. Dieser Betrag soll laut zuständigem Wirtschaftsministerium von 150 Euro auf 200 Euro angehoben werden. Wir als CDU/CSU-Fraktion plädieren weiterhin dafür, den Betrag auf 400 Euro anzuheben. Diese Erhöhung scheiterte bisher leider am politischen Willen unserer lieben SPD-Kollegen. (Marcus Held [SPD]: Oh! – Matthias Ilgen [SPD]: Was?) Ihr Argument „politischer Wille“ wird im Bürokratieentlastungsgesetz II jetzt hoffentlich ad acta gelegt, damit die Leistungsträger und Unternehmen unseres Landes stärker entlastet werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dass bei einer Erhöhung auf 400 Euro die Welt nicht zusammenbricht, beweist ein Blick in die Steuergesetzgebung unseres Nachbarlandes Österreich. Österreich hat nämlich erfolgreich den Betrag für die Kleinbetragsrechnung auf 400 Euro angehoben, und diese Maßnahme würde auch der Steuerharmonisierung in Europa dienen; denn sie ist durch die EU-Mehrwertsteuerrichtlinie gesetzlich gedeckt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir insbesondere die kleinen Handwerksbetriebe und Unternehmen von unnötigem Papierkram befreien. Durch die Gesetzesvorlage werden nach derzeitigem Stand Bürokratiekosten in Höhe von mehr als 360 Millionen Euro eingespart – Geld, das den Unternehmen für Innovationen, notwendige Investitionen sowie für die Aus- und Fortbildung ihrer Mitarbeiter zur Verfügung steht. Wenn wir die Bürokratiegarage unseres Landes richtig aufräumen wollen, dann müssen wir gewissenhaft und sauber sortieren. Wir sollten gemeinsam prüfen und sagen, was zum Sperrmüll kommt und was nicht. Was wir brauchen, wird genutzt, und was wir nicht nutzen: Weg damit! Bei unseren Aufräumaktionen werden wir uns, bildlich gesprochen, nicht nur auf die Garage beschränken. Das bedeutet, dass alle Ministerien in der Pflicht sind, ihre Häuser zu durchforsten und vielleicht mehrmals zu durchforsten. Ich möchte damit nicht auf die nächste Legislaturperiode warten, sondern das können wir jetzt machen. (Marcus Held [SPD]: Jawohl!) Ein weiterer Punkt, der mir als CDU/CSU-Steuerpolitikerin besonders wichtig ist, ist der Vollverzinsungssatz, also der Zinssatz, den das Finanzamt nach einer Karenzzeit von 15 Monaten nach Ablauf des Veranlagungsjahres für Steuererstattungen und Steuernachforderungen bis zur Steuerfestsetzung erhebt, vor allem nach Änderungen und nach Betriebsprüfungen. Dieser Zinssatz beträgt bisher 0,5 Prozent pro Monat. Das entspricht einer Zinshöhe von 6 Prozent im Jahr. Das ist in Zeiten einer Nullzinspolitik unangemessen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Verständlicherweise wird gar die Verfassungsmäßigkeit bei Aufrechterhaltung dieser Zinshöhe infrage gestellt. Wir sollten deshalb diesen Zinssatz halbieren und nach fünf Jahren überprüfen, ob er noch zeitgemäß ist. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sehr guter Vorschlag!) Diese Forderung ins Gesetz aufzunehmen, würde zeigen, dass wir als Gesetzgeber zeitgemäß und verantwortungsbewusst handeln. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Beim Entrümpeln werden wir schneller vorankommen, wenn mehr Hände zupacken, wenn alle, Bund und Länder, zusammenarbeiten. Deswegen möchte ich Sie alle auffordern, nicht mit den Händen in den Hosentaschen danebenzustehen, wenn wir Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitiker aufräumen. Helfen Sie alle mit. Packen Sie mit an. Jeder profitiert davon, wenn alles sauber und aufgeräumt ist und alle, Wirtschaft, Verwaltung und Bürger, effizient arbeiten. Unser Einsatz in der Regierungskoalition zum Bürokratieabbau zeigt Wirkung, gerade im Steuerrecht. Das liegt daran, dass wir darauf achten, dass bei der Erarbeitung neuer Gesetze bürokratische Zusatzbelastungen von Anfang an vermieden werden und dass wir die Digitalisierung insgesamt vorantreiben. Herr Gambke, zu Ihrem Einwurf vorhin: Auch wir haben gestern sehr wohl gehört, was in den Bund-Länder-Finanzbeziehungen gemacht wird. Wir haben jetzt im Bund mehr Kompetenz. Das müssen wir ausnutzen. Da hoffe ich und fordere auch Sie als Grüne auf, dass Sie uns hierbei in den Ländern unterstützen. Denn die Länder sind jetzt gefordert, hier voranzutreiben. Wenn wir den Bereich der Digitalisierung gemeinsam angehen, werden wir es schaffen, die Verwaltungsvorgänge in Deutschland unbürokratischer, schneller, geordneter und vor allem serviceorientierter zu machen. Mit diesem Maßnahmenpaket werden wir mehr als 1 Milliarde Euro einsparen. Das ist eine Menge Papier. Aber es spart vor allem Zeit und Nerven. Wir sind da auf dem richtigen Weg. Aber wenn wir in der Garage, auf dem Dachboden und im Keller sind, müssen wir aufpassen, dass nicht gleichzeitig ein Lkw vorfährt und neue Gesetzeskisten, Verordnungen und Anweisungen vor unserer Haustür ablädt. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Matthias Ilgen [SPD]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Marcus Held für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Marcus Held (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin, liebe Vorrednerin, ich habe eben gelernt, dass die CDU/CSU-Fraktion anscheinend ziemlich viel Gerümpel in der Garage hat. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn Sie Hilfe beim Aufräumen brauchen, sind wir gerne zur Stelle, (Heiterkeit und Beifall des Abg. Matthias Ilgen [SPD]) unter anderem natürlich heute hier mit diesem Bürokratieentlastungsgesetz, das in der Reihe zahlreicher Maßnahmen steht, die aus dem Bundeswirtschaftsministerium kommen, um unsere Wirtschaft und unsere Bürgerinnen und Bürger zu entlasten. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle bei unserem Minister Sigmar Gabriel, bei der Staatssekretärin und beim Haus ganz herzlich dafür bedanken, dass diese Entlastung hier tatsächlich in dieser Form auf den Weg gebracht werden konnte. Das Ziel muss nicht nur sein, neue Regelungen zu schaffen, sondern Ziel muss auch sein, gleichzeitig überbordende Regelungen abzuschaffen. Wir wollen die Wirtschaft entlasten. Dabei geht es aber nicht darum, den Konzernen zusätzliche Gewinne zu verschaffen, sondern es geht um die Erhaltung und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Da hat zu viel Bürokratie häufig eine Bremswirkung, vor allem für kleine und mittlere Unternehmen, die bereit sind, zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen bzw. zu erhalten, und zwar hier in Europa, konkret bei uns in Deutschland. Solche Investitionen sollen durch weniger Bürokratie in Zukunft leichter möglich werden. Wir schaffen damit Erleichterungen für Unternehmen, die keine eigenen Fachabteilungen haben, um alle Gesetze zu überprüfen und alle Fragen im Detail zu klären. Dabei geht es zum Beispiel um das Baurecht – auch das Steuerrecht ist heute angesprochen worden – oder die Arbeitsstättenverordnung. Auch das Sozialversicherungsrecht ist ein großes Thema. Von Bedeutung ist auch das Vergaberecht, meine Damen und Herren, das wir gerade im April dieses Jahres verändert haben, um für mehr Flexibilität zu sorgen, damit die Kommunen entscheiden können, ob sie beispielsweise mehr soziale oder Umweltkriterien mit einbeziehen. Das Ganze sorgt für viel Flexibilität und weniger Bürokratie. Da sind wir schon auf dem richtigen Weg. Für das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg gab es viele Gründe. Neben dem Fleiß der Deutschen gehörte dazu auch die Möglichkeit, einfach einmal unternehmerisch starten zu können. So sind aus Einmannbetrieben, die beispielsweise in einer Garage gegründet wurden – diese Garage war im Vergleich zu Ihrem Beispiel aufgeräumt –, große Unternehmen entstanden, die bis heute teilweise Weltruhm erlangt haben und von denen wir gar nicht mehr wissen, dass sie einmal in einer Garage gegründet wurden. Im Vergleich dazu dürfen viele Existenzgründer mit guten Ideen ihren Laden heute gar nicht eröffnen, nur weil sie vielleicht keine separate Personal- oder Kundentoilette haben. Wir haben neben diesem Gesetz in Zukunft noch viele große Aufgaben zu bewältigen. Wir müssen wichtige Standards beibehalten, gleichzeitig aber wieder mehr Chancen eröffnen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir in Deutschland flächendeckend Verwaltungen haben, die sich als Servicestellen für die Bürgerinnen und Bürger und für die Unternehmer sehen und die nicht sagen, warum etwas nicht geht, sondern, wie konkret man zum Ziel kommt. Es gibt also viele Ziele, und ich hoffe, dass wir ihnen durch weitere Bürokratieentlastungsgesetze immer ein Stückchen näherkommen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksache 18/9949 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere Vorschläge sehe ich nicht. Also können wir die Überweisung so beschließen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Ulla Jelpke, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Medizinische Versorgung für Geflüchtete und Asylsuchende diskriminierungsfrei sichern – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Luise Amtsberg, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen verbessern Drucksachen 18/7413, 18/6067, 18/9933 Die vorgesehene Debattenzeit beträgt 25 Minuten. Gibt es dazu Einvernehmen? – Es sieht so aus. Also verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Reiner Meier für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Reiner Meier (CDU/CSU): Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Debatte über Leistungen für Flüchtlinge polarisiert. Angesichts der unterschiedlichen Auffassungen zwischen den Fraktionen überrascht mich das nicht. Es darf aber auf keinen Fall den Blick auf die Fakten verstellen. Wenn heute suggeriert wird, alles unterhalb des vollen Leistungsumfangs der GKV sei menschenunwürdig, dann muss ich in aller Deutlichkeit sagen: Reden Sie doch die gesetzliche Krankenversicherung nicht schlecht! Unsere GKV ist im internationalen Vergleich eine der besten Krankenversicherungen überhaupt. Sie gewährt den Versicherten einen verlässlichen Schutz und einen breiten Zugang zur Spitzenmedizin. Mit dem Präventionsgesetz haben wir im vergangenen Jahr in der GKV die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Versicherten vorbeugend möglichst lange fit und gesund zu halten. Das Gleiche gilt für die Pflege, für die Krankenhäuser, für die Digitalisierung, wo die Koalition in den letzten Jahren wichtige Verbesserungen auf den Weg gebracht hat. Wenn all das für Sie das menschenwürdige Minimum ist, dann frage ich mich schon, in welcher Welt Sie leben. Die gesetzliche Krankenversicherung ist schon begrifflich etwas völlig anderes als die Gesundheitsversorgung aus humanitären Gründen. Die GKV – das wissen Sie selbst – funktioniert nach dem Umlageprinzip. Versicherte zahlen Beiträge ein, aus denen unmittelbar die Leistungen finanziert werden. Die Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge ist dagegen beitragsfrei und wird aus Steuermitteln finanziert. Das ist auch richtig so und unterstreicht die Verantwortung, die Deutschland seit Beginn der Flüchtlingskrise übernommen und immer wieder unter Beweis gestellt hat. Der Bund wird alleine in den Jahren 2016 bis 2018 über 60 Milliarden Euro für Flüchtlinge und die Bekämpfung von Fluchtursachen bereitstellen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Im Bereich der Gesundheitsvorsorge für Flüchtlinge kann es dennoch nicht der Anspruch sein, unterschiedliche Sachverhalte sachwidrig gleichzumachen. Der Anspruch sollte stattdessen sein, alle notwendigen Leistungen zur Existenzsicherung zu erbringen. Genau das tut bereits unser geltendes Recht. Wer in Deutschland Schutz sucht, erhält nach dem Asylbewerberleistungsgesetz alle notwendigen Behandlungen, nicht mehr und auch nicht weniger. (Maria Michalk [CDU/CSU]: So ist es! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Wir streiten darüber, was notwendig ist!) Ich teile an dieser Stelle übrigens auch nicht Ihre Forderung, alle Asylbewerber zwingend mit elektronischen Gesundheitskarten auszustatten. Zum einen ist das Asylbewerberleistungsgesetz nur für die Zeit bis zur Entscheidung über den Asylantrag einschlägig. Zum anderen gibt es schon heute die Möglichkeit, elektronische Gesundheitskarten für Asylbewerber auszugeben. (Mechthild Rawert [SPD]: Haben wir als Bund beschlossen!) Wir haben uns in diesem Haus schon oft über die Frage gestritten, ob eine elektronische Gesundheitskarte einen Anreiz zur Migration gibt. Das Gleiche gilt für die Frage, ob wir dadurch Kosten einsparen oder nicht. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur die CSU hat da so große Bedenken!) Ich will das alles heute nicht noch einmal aufwärmen. Unsere Haltung hierzu ist Ihnen hinlänglich bekannt. Wir können aber nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass die Kommunen, also diejenigen, die am dichtesten am Geschehen dran sind, die elektronische Gesundheitskarte über alle Parteigrenzen hinweg offenbar gar nicht wollen. Diese bewusste Entscheidung der Kommunen sollte uns zu denken geben. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Willkommen in Bremen! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Kollegen in Münster sehen das anders! – Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Wir sollten sie aber auch respektieren, meine Damen und Herren. Es ist keine große Kunst, politische Überbietungswettbewerbe zu betreiben und immer und immer wieder ein bisschen mehr zu versprechen als die anderen. Am Ende der Debatte werden wir alle aber daran gemessen, ob es uns gelingt, eine stimmige, gerechte Gesundheitsversorgung in unserem Land zu gewährleisten. Ihre Anträge, meine Damen und Herren, werden dieser Verantwortung nicht gerecht, sodass wir sie heute ablehnen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Kathrin Vogler erhält das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge – der Kollege Meier hat es gesagt – hat uns im Bundestag schon öfter beschäftigt, doch leider gibt es aus unserer Perspektive viel zu wenig Fortschritte. Bei der Anhörung zu den beiden Anträgen der Linken und der Grünen, die wir heute beraten, waren sich alle Sachverständigen einig, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung dringend verbessert werden muss, (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) selbst die von der Union benannten, Herr Meier. Auch ist dieser Zugang eine gesellschaftliche Aufgabe. Darum kann das nicht den gesetzlich Versicherten aufgebürdet werden. Da waren wir uns einig. Aber was macht diese Große Koalition? Sie will jetzt 1,5 Milliarden Euro aus dem Gesundheitsfonds, also aus den Beitragsgeldern, nehmen, um damit angeblich die Versorgung der Geflüchteten zu finanzieren und nebenbei auch noch das Daten-GAU-Projekt „Elektronische Gesundheitskarte“ zu sanieren. Dieses Geld ist aber von Versicherten bezahlt worden, also vom Verkäufer und von der Schreinerin. Das ist kein Steuergeld, über das Herr Schäuble nach eigenem Gutdünken verfügen könnte. Sie bedienen sich auch gleich zweimal aus den Beiträgen der Versicherten. Die Beiträge, die der Bund für Hartz-IV-Bezieher an die Krankenkassen abführt, decken nämlich die Kosten nicht. Hier subventioniert wiederum die Schreinerin Schäubles schwarze Null. Ihnen geht es doch eigentlich nur darum, kurzfristig Defizite bei den Krankenkassen zu verhindern, damit im nächsten Wahljahr die Zusatzbeiträge nicht explodieren. Selbst die Krankenkassen haben gesagt: Schön, dass wir mehr Geld bekommen, aber für die Versorgung der Geflüchteten brauchen wir nur einen Bruchteil davon. Die nach wie vor unzureichende Gesundheitsversorgung wollen Sie auch gar nicht beheben; das hat der Kollege gerade klargemacht. (Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Nein! Nicht unzureichend!) Nach wie vor haben Flüchtlinge in den ersten 15 Monaten nur bei akut lebensbedrohlichen Erkrankungen und Schmerzen sowie bei Schwangerschaft Anspruch auf eine Behandlung. Wir sagen ganz klar: Es verstößt gegen Menschenrechte, wenn chronische Erkrankungen nicht behandelt werden oder wenn die Behandlung vom Ermessen eines Sozialamtsmitarbeiters abhängt, der keine medizinische Ausbildung hat. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Außerdem: Unbehandelte Erkrankungen können zu schweren Folgekrankheiten führen. Das wird dann doch noch teurer. Sie müssen sich jetzt einmal entscheiden: Möchten Sie es gerne teuer und schlecht oder preiswert und gut? Nur noch wenige Bundesländer lehnen eine Gesundheitskarte und den leichteren Zugang zur Gesundheitsversorgung aus ideologischen Gründen ab. In vielen Bundesländern, die eigentlich mehr tun wollen, hakt es doch, weil es keine einheitliche Regelung gibt und weil die Kommunen Angst vor Mehrkosten haben. (Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Wer hat sie denn?) An dieser Stelle möchte ich einmal die thüringische Landesregierung loben; denn sie hat es erstmals in einem Flächenland geschafft, alle Kommunen von der Versorgung der Geflüchteten mit der Gesundheitskarte zu überzeugen und eine Rahmenvereinbarung mit den Krankenkassen abzuschließen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dass sich das Ganze immer wieder verzögert und alle Beteiligten Nerven lassen, liegt vor allem an der schlechten Gesetzeslage hier bei uns im Bund, und die wollen wir ändern. Die Linke fordert: Die Beiträge für die Krankenversicherung von Asylsuchenden soll der Bund tragen. – Herr Meier, ich wette mit Ihnen: Dann werden wir ganz schnell die Gesundheitskarte für alle Flüchtlinge flächendeckend haben – auch in Bayern und in Sachsen. (Beifall bei der LINKEN – Reiner Meier [CDU/CSU]: Das glaube ich nicht!) Die Beschränkung des Leistungsumfangs beschneidet übrigens auch die Therapiefreiheit der Ärztinnen und Ärzte. Auch wenn sie eine behandlungspflichtige Erkrankung diagnostizieren, kann das Sozialamt die Kostenübernahme verweigern. Das Medinetz, eine Organisation für medizinische Flüchtlingshilfe, berichtet zum Beispiel über einen fünfjährigen Jungen, bei dem neun Zähne gezogen oder behandelt werden mussten. Das Sozialamt verweigerte dem Kind eine Narkose dafür. Die zynische Begründung dafür lautete, dafür gebe es keinen Anspruch und das müsse das Kind schon aushalten. Für solche Grausamkeiten gegenüber Kindern gibt es einfach keine Rechtfertigung. (Beifall bei der LINKEN und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Schauermärchen hoch drei, die Sie hier verbreiten! – Mechthild Rawert [SPD]: Welcher Arzt würde denn die Zähne ohne Narkose ziehen?) Die Linke sagt: Auch diejenigen, die vor Krieg und Verfolgung zu uns geflüchtet sind, müssen alle notwendigen und sinnvollen Behandlungen erhalten, und diese stehen nun einmal im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen. Weniger bedeutet eine gesundheitliche Unterversorgung, und das nehmen wir nicht länger hin. (Beifall bei der LINKEN – Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Astrid Lindgren der Linken, kann ich nur sagen!) Deshalb: Unterstützen Sie uns doch in den Bemühungen, eine gesundheitliche Versorgung für alle Menschen hier in Deutschland sicherzustellen! Stimmen Sie für eine diskriminierungsfreie medizinische Versorgung für Geflüchtete und Asylsuchende und auch für den guten Antrag der Grünen zur Verbesserung der psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgung von Asylsuchenden! Ich bedanke mich. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Heike Baehrens erhält nun das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Heike Baehrens (SPD): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir zwölf Monate zurückblicken und die damalige Situation mit heute vergleichen, (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genauso alt ist der Antrag!) dann dürfen wir mit Fug und Recht behaupten: Wir haben bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen bereits viel erreicht. Die Bearbeitung der Anträge wurde beschleunigt, Psychotherapeuten ohne Kassenzulassung dürfen jetzt traumatisierte Asylbewerber behandeln, und es wurden die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, um die Gesundheitskarte in den Ländern einführen zu können. (Beifall bei der SPD) Aber klar ist auch – da stimmen wir mit der Intention des grünen Antrags überein –: Die psychosoziale und psychotherapeutische Versorgung von Flüchtlingen muss weiter verbessert werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch mal was!) Die Behandlung von traumatisierten Geflüchteten ist noch unzureichend. Vorhandene Dienste und Angebote sind überlaufen. Es gibt zu wenige Dolmetscher. Auch die Frage der Finanzierung dieser Leistungen ist nicht ausreichend geklärt. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Psychosoziale Zentren und Traumazentren, die sich dieser Aufgabe fachlich qualifiziert, gut vernetzt und oft mit Unterstützung von Ehrenamtlichen widmen, müssen Jahr für Jahr um ihre Finanzierung bangen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau jetzt wieder!) Das ist absolut unbefriedigend. (Beifall bei der SPD) Ich habe in dem Jahresbericht von Refugio Stuttgart, den ich gerade erst erhalten habe, gelesen: Dieser gemeinnützige Verein hat einen Pool aus Dolmetschern für 17 Sprachen aufgebaut und sie für den Einsatz in der Psychotherapie geschult. Solche vorhandenen Strukturen und Kompetenzen müssen politisch und finanziell gefördert werden; denn sie sind das Fundament, auf dem die psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen weiter verbessert werden kann. Unsere Familienministerin Manuela Schwesig hat deswegen dieses Jahr psychosoziale Zentren mit rund 3 Millionen Euro gefördert. Darum ist es umso unverständlicher, dass der Finanzminister trotz sprudelnder Steuereinnahmen diese Förderungen jetzt wieder kürzen will. Wir als SPD werden bei den abschließenden Haushaltsverhandlungen dafür kämpfen, dass die wichtige Arbeit dieser Zentren fortgeführt werden kann. (Beifall bei der SPD) Darüber hinaus diskutieren wir auch die Möglichkeit, für diese Aufgabe zusätzliche Projektmittel im Haushalt des Gesundheitsministeriums bereitzustellen. Heute Morgen hat Herr Finanzminister Schäuble genau an dieser Stelle gleich zu Anfang seiner Rede gesagt: „Am Geld wird die Integration nicht scheitern.“ (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tut sie aber derzeit!) Da nehmen wir ihn beim Wort. (Beifall bei der SPD – Mechthild Rawert [SPD]: Dafür kämpfen wir!) Wir wollen eine bessere psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen. Aber ganz so einfach wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, es in Ihrem Antrag formuliert haben, ist es dann doch nicht. Sie wollen die Dolmetscherleistungen von den Krankenkassen zahlen lassen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Erstattung durch den Steuerzahler!) Das sehen wir kritisch; denn die Bereitstellung von Dolmetschern ist nicht per se eine Gesundheitsleistung. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ja, eine Integrationsleistung, die von der öffentlichen Hand und damit aus Steuermitteln geleistet werden muss. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen die Begründung lesen! Da steht es drin!) Es wäre nicht richtig, dies allein den Beitragszahlern der gesetzlichen Krankenversicherung aufzuladen. Mit Steuermitteln können wir nicht nur Dolmetscher finanzieren, sondern auch bereits bestehende psychosoziale Netzwerke wie Refugio zielgenau stärken, fördern und auch ausbauen. Dass es in Koalitionen, Frau Klein-Schmeink, nicht immer leicht ist, solche Ziele ganz schnell zu erreichen, das erfahren Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, gerade selbst ganz unmittelbar in Baden-Württemberg, wo Sie mit Ihrem Koalitionspartner um die Einführung der Gesundheitskarte für Flüchtlinge ringen müssen, die Sie hier in Ihrem Antrag fordern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei mir zu Hause in Münster gibt es die! Ganz einfach: Schwarz-Grün!) Auf jeden Fall werden wir uns bei den laufenden Haushaltsverhandlungen für weitere Verbesserungen bei der psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen einsetzen. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Maria Klein-Schmeink ist ja ein gutes Beispiel für Schwarz-Grün!) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Klein-Schmeink hat nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist jetzt genau ein Jahr her, da wurde unser Antrag zur Verbesserung der psychosozialen Unterstützung von Flüchtlingen hier in den Bundestag eingebracht; auch der Antrag der Linken stand zur Diskussion. Wir haben Ihnen also ein Jahr Zeit gegeben, um die Situation zu verbessern und an der Versorgungslage insgesamt etwas zu ändern. (Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Wir haben es genutzt!) Ich muss sagen: Heute erleben wir, dass das Resultat, zwar freundlich vorgetragen, umso enttäuschender ist. Beide Anträge werden Sie ablehnen und damit jegliche Verbesserung in diesem Bereich verhindern. Das halten wir für einen großen Fehler. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Reiner Meier [CDU/CSU]: Das ist keine Verbesserung! Im Gegenteil!) Es ist nicht einfach nur ein Fehler; es ist auch eine richtig große Enttäuschung. Denn zum einen hat die Anhörung glasklar den Handlungsbedarf aufgezeigt. Sie hat Ihnen gezeigt, dass es klug ist, in die Gesundheitskarte für Flüchtlinge zu investieren und den Flüchtlingen den Zugang zur Regelversorgung zu ermöglichen; denn dann ist die Behandlung insgesamt gesehen humaner, besser und günstiger, weil man Chronifizierung verhindert. Das wäre schon ein wichtiger Grund gewesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Der zweite wichtige Grund: Es ist deutlich geworden, dass es insbesondere bei der Behandlung von Traumatisierten große Versorgungslücken gibt, zum Beispiel in dem Bereich, wo die Flüchtlinge noch nicht anerkannt sind, in der Zuständigkeit von Ländern und Kommunen, weil entweder der Zugang zu Dolmetscherleistungen oder bei einer chronischen Erkrankung überhaupt der Zugang zu einer Behandlung fehlt, weil sie nicht unter die Akut- und Notfallversorgung fällt – es sei denn, wir haben die Situation schon so zuspitzen lassen, dass die Menschen in die stationäre Notfallversorgung müssen. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das wird richtig teuer!) Das ist die teuerste Versorgung und das unmenschlichste Verfahren. Der dritte Punkt: Wir haben insgesamt eine ganz prekäre Situation der Folteropferzentren. Sie wissen alle – dazu haben Sie viele Zuschriften erhalten, und es ist auch in der Anhörung deutlich geworden –: Diese 32 Zentren tragen den Löwenanteil der Erstversorgung in diesem Bereich. Sie werden größtenteils durch Spenden und ein bisschen durch Landesmittel, ein bisschen durch ESF-Mittel und ein bisschen durch Mittel der Ministerin Schwesig finanziert, und das, obwohl sie den Löwenanteil der Erstversorgung tragen. Das, meine Damen und Herren, ist kein Zustand; das muss beendet werden. Jetzt sind wir in der kläglichen Situation, dass sogar der Minizuschuss, der im letzten Jahr bereitgestellt worden ist, wieder infrage steht. Das kann doch nicht wahr sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: So wenig sind 3 Millionen Euro auch nicht!) Ein weiterer Punkt: Sie haben für zusätzliche Ermächtigungen gesorgt: für insgesamt 68 zusätzlich zugelassene Psychotherapeuten bundesweit. Das deckt nicht einmal den Ansatz dessen, was wir brauchen. Auch das ist keine Lösung des Problems. Es ist ein ganz kleiner Ausschnitt. Ziehen Sie deshalb endlich Konsequenzen aus dem, was an Versorgungsnotwendigkeiten besteht! Es kann doch nicht sein, dass Integration tatsächlich daran scheitert, dass wir die notwendigsten Hilfen und die notwendige Versorgung nicht bereitstellen. Was Sie da machen, ist ein so unkluges und unmenschliches Vorgehen. Dafür fehlt mir jegliches Verständnis. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Ute Bertram [CDU/CSU]: Uns Unmenschlichkeit vorzuwerfen, ist ja wohl das Letzte!) Gleichzeitig muss ich sagen: Wie kann man sich so von den Argumenten der AfD und der Angst vor ihr treiben lassen, dass man nicht in der Lage ist, endlich in der Regelversorgung passende Angebote zu schaffen? (Hilde Mattheis [SPD]: Das sollten Sie uns nicht unterstellen! Das ist nicht richtig!) Das ist ein Fehler, und den sollten Sie dringend korrigieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ute Bertram erhält nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Ute Bertram (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung der Flüchtlinge und Asylsuchenden gehört zu den besonderen Herausforderungen, die wir zu bewältigen haben. Viele Flüchtlinge – das wissen wir alle – kommen traumatisiert zu uns. Sie haben schlimme und oft allerschlimmste Erfahrungen hinter sich: Gewalt, Folter, Gefangenschaft, Vergewaltigung und sexueller Missbrauch über alle Bevölkerungskreise hinweg, Alt und Jung und immer wieder Frauen und Kinder. Dieses Thema steht heute nicht zum ersten Mal auf unserer Tagesordnung. Im September letzten Jahres – die Situation war damals nicht gerade von Übersichtlichkeit geprägt – war uns nur klar: Unser ganzes Staatswesen auf allen Ebenen war gefordert. Wir benötigen immer noch die Hilfe aus allen Ecken der Gesellschaft. Immerhin können wir heute sagen: Wir kennen recht genau die Dimension, die wir als Gemeinwesen zu bewältigen haben, und wir sagen allen Dank, die sich so engagiert in diesen Dienst gestellt haben: den professionellen Unterstützern ebenso wie den spontanen Initiativen bis hin zu den vielen anonymen helfenden Händen in unseren Dörfern und Städten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Aber was unter einer notwendigen psychotherapeutischen und psychosozialen Betreuung von Flüchtlingen zu verstehen ist, darüber werden wir wohl auch in der Zukunft noch eine Menge unterschiedlicher Auffassungen haben. Konkret geht es um die Frage, wie hoch die Zahl der Flüchtlinge ist, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung so sehr leiden, dass sie einer akuten Behandlung bedürfen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sieben Monate Warteliste!) Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – kurz: BAfF – verweist auf eine aktuelle Review-Studienlage der letzten 25 Jahre in Deutschland, (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie einfach mal vor Ort! Es geht nicht um theoretische Zahlen!) wonach bei Flüchtlingen eine Gesamthäufigkeit für die posttraumatische Belastungsstörung zwischen 16 und 55 Prozent liegt. Diese Streubreite zeigt aber auch an, dass wir es mit Schätzungen zu tun haben, die immer auch ein Griff ins Dunkle sind. Vor gut einem Jahr haben wir festgestellt, dass es in den bundesweit 23 psychosozialen Zentren etwa 130 Psychotherapeuten gibt, die 4 000 Flüchtlinge betreuen. Heute wissen wir, dass die Situation in den Aufnahmelagern erheblich entspannter ist und dass viele Flüchtlinge bei uns mittlerweile in Integrationskursen lernen. Damit sind sie irgendwie im Alltag angekommen. Das verlangt den Flüchtlingen viel ab; das weiß ich. Aber das hat auch einen therapeutischen Wert für die Bewältigung einer schwer erträglichen Vergangenheit. Damit will ich nicht sagen, dass wir das Problem der psychotherapeutischen Versorgung der Flüchtlinge erledigt hätten, aber die Koalition war nicht untätig. Der Bund hat in diesem Jahr aus dem Haushalt des BMFSFJ die BAfF mit rund 3 Millionen Euro gefördert und bemüht sich zurzeit, eine Förderung für 2017 sicherzustellen. Ich appelliere auch an die Haushälter, dies zu unterstützen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Der Bund führt in Gestalt des BMG Gespräche mit der BAfF, um die Möglichkeiten zusätzlicher Ermächtigungen für psychosoziale Zentren und ambulante Psychotherapeuten zu eröffnen, damit Flüchtlingen angemessen weitergeholfen werden kann, wenn sie nach den Grundsätzen der GKV zu versorgen sind. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie ist es dann mit den Dolmetscherkosten?) So wollen wir auch dazu beitragen, dass über die Akutbehandlung hinaus schwerere Fälle einer posttraumatischen Belastungsstörung durch eine Anschlussbehandlung therapiert werden könnten. Generell müssen wir darauf achten, dass wir nicht überreagieren. Eine vollumfängliche Akutversorgung musste 2015 aufgrund der hochschnellenden Flüchtlingszahlen eine Illusion bleiben. Wichtig ist jetzt, dass wir die Nachversorgung sichern. Auch diese Aufgabe bleibt gerade vor dem Hintergrund der sprachlichen und kulturellen Barrieren weiterhin eine besondere Herausforderung. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie lösen Sie die? Das ist doch die Frage!) Ich komme zu meinem Fazit. Wir folgen dem Grundsatz: Wir fahren auf Sicht. – Mit diesem Grundsatz ist eine frühere Koalition schon einmal sehr erfolgreich gewesen. Die Opposition folgt dem Grundsatz: Man kann gar nicht genug machen. – Da bleibt nur noch die Ablehnung der Anträge. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Güte! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Auf Sicht fahren ist im Herbstnebel nicht die beste Strategie!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat die Kollegin Mechthild Rawert das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mechthild holt jetzt die Kohlen aus dem Feuer!) Mechthild Rawert (SPD): Wir haben hier eine Situation, die so aussieht, als ob jede und jeder in den eigenen Spiegel schaut. Die Opposition sagt, es sei zu wenig passiert. Die Koalition, zu der wir auch gehören, sagt: Wir haben viel erreicht. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist jetzt wahr?) So ist das Leben natürlich nicht. Fangen wir mit der Aussage an, bei der ich mich gerade sehr geärgert habe. Wir haben hier beschlossen, dass es die elektronische Gesundheitskarte gibt. Wir haben damit die Länder ermächtigt, sie auch einzusetzen. Die wiederum stehen nun in der Verantwortung, sie flächendeckend umzusetzen. (Ute Bertram [CDU/CSU]: So ist das!) Ja, es stimmt. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur jeder fünfte Flüchtling hat Zugang!) – Sie sind noch nicht in jeder Kommune angekommen. Das ist richtig. (Ute Bertram [CDU/CSU]: Weil sie nicht wollen!) Aber im Bundestag noch etwas Negatives zur elektronischen Gesundheitskarte zu sagen, entspricht nicht der Beschlusslage dieser Großen Koalition. (Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Nu sucht ihr aba scho no nach am andern, gell?) – Das war Bayerisch, das habe ich leider nicht verstanden. (Heiterkeit) Aber richtig ist ja, dass der Zugang zur medizinischen Versorgung ein Menschenrecht ist. Wir alle wollen dafür sorgen, dass dies durchgesetzt wird. Wir haben vieles getan, um den Flüchtlingen nach 15 Monaten einen regulierten Zugang zum Regelsystem im Gesundheitswesen zu ermöglichen. Wer sich in einer Flüchtlingseinrichtung befindet, hat gerade zu Schulbeginn mitbekommen, dass der Impfschutz gilt. Es gab noch nie so viele Impfwillige und Impffreudige wie in der Flüchtlingseinrichtung, die ich im Herbst gesehen habe. Das alles ist also geregelt. Zum Thema Traumata. Die erwähnten Notwendigkeiten gelten für alle. Wir brauchen für die gesamte Bevölkerung – eine Sortierung nach Status ist nicht notwendig – mehr Psychotherapeutinnen und -therapeuten; darüber reden wir auch in anderen Zusammenhängen. Wir brauchen hier einen grundsätzlichen Ausbau. (Beifall bei der SPD) Selbstverständlich sollte jede und jeder in adäquater Zeit Zugang zu einem Psychotherapeuten bekommen. (Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Gerne. – Herr Präsident, ich habe schon zugestimmt. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das kann ich mir schon vorstellen. Aber mit Blick auf die weitere Tagesordnung empfehle ich uns, es heute dabei bewenden zu lassen, erst recht bei denjenigen, die schon zu Wort gekommen sind. Mechthild Rawert (SPD): Gilt das jetzt, oder gilt das nicht? Präsident Dr. Norbert Lammert: Nein. Mechthild Rawert (SPD): Nein. – In diesem Fall hat er das Sagen. Präsident Dr. Norbert Lammert: So ist es. (Heiterkeit) Mechthild Rawert (SPD): Wir haben dafür gesorgt, dass das medizinische Personal aus den Herkunftsländern in die Erstversorgung verstärkt einbezogen wird. Über die Gesundheitskarte habe ich mich schon geäußert. Nur so viel noch: Wir alle wissen – auch diejenigen, die in den Ländern Verantwortung tragen –, wie schwierig das ist. Mir bleibt es als Berlinerin vorbehalten, Herrn Czaja von der CDU zu loben. Er wurde im Wahlprogramm seiner Partei ausdrücklich für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte belobigt. Damit ermuntere ich unseren Koalitionspartner, das überall zu tun. Ein letzter Satz. Die Kosten dürfen nicht auf die gesetzliche Krankenversicherung abgewälzt werden; meine Kollegin Heike Baehrens hat das bereits gesagt. Es handelt sich um eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler stehen hier in der Verantwortung. Maria Klein-Schmeink, du hast mich vorhin angesprochen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Nein, das sollte der letzte Satz sein. Mechthild Rawert (SPD): Ich habe noch keinen Punkt gemacht. Präsident Dr. Norbert Lammert: Doch. (Heiterkeit) Mechthild Rawert (SPD): Wer mit der AfD droht, muss eines wissen: Die AfD nutzt tatsächlich alles. Deswegen bin ich den Krankenkassen sehr dankbar, dass sie sofort klargemacht haben, dass es nicht die Geflüchteten sind, die dazu beitragen, dass wir nun über Zusatzkosten bzw. überhöhte Kosten reden. Dieses Thema betrifft uns alle. Es dürfen keine leichtfertigen Behauptungen aufgestellt werden. Danke schön. (Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habt ihr selber ins Gesetz geschrieben! Das müsst ihr euch anschauen, Frau Rawert!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Heinrich von Kleist wäre erblasst vor dieser Fähigkeit, in mehreren aufeinanderfolgenden Sätzen vermeintlich nur einen zum Ausdruck zu bringen. (Heiterkeit) Wir schließen damit die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 18/9933. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/7413 mit dem Titel „Medizinische Versorgung für Geflüchtete und Asylsuchende diskriminierungsfrei sichern“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit – allerdings mit keiner besonders starken, wenn ich mir diese Anmerkung erlauben darf – angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6067 mit dem Titel „Psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen verbessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit gerade noch angenommen. Wir kommen damit zu den Tagesordnungspunkten 10 a und 10 b: a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Mehr Bildungschancen für benachteiligte Kinder und Jugendliche schaffen – Bundesprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ nach 2017 weiterentwickeln und fortsetzen Drucksache 18/10016 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bundesprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ weiterentwickeln und seine Fortführung jetzt vorbereiten Drucksachen 18/8181, 18/10063 Hierzu soll es eine Aussprache von 38 Minuten geben. – Zu dieser verabredeten Redezeit höre und sehe ich keinen Widerspruch. Also können wir das so machen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Claudia Lücking-Michel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU): „Kultur macht stark.“ Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen besseren Titel muss man doch erst einmal finden. Hier ist der Name in der Tat Programm. Warum? Kultur macht stark; denn sie ermöglicht, sich selbst und die Welt sensibler wahrzunehmen, sich kreativ auszudrücken, Neues selbst zu gestalten – alles Grundlagen für jeden weiteren Bildungsprozess. Kunst, Musik, Theater, das ist nicht zweitrangig. Das Spielen eines Musikinstruments, Tanz, Akrobatik, Museumsbesuche, das sind nicht einfach nur Freizeitbeschäftigungen. Kultur ist existenziell für die menschliche Entwicklung und sollte – das ist uns wichtig – zentraler Bestandteil jeder Bildungsbiografie sein. Denn schließlich bedeutet Kultur vor allem eines: Freiheit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“, so lautet der vollständige Titel des Programms, das seit 2013 Projekte für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche fördert – offensichtlich ein echtes Erfolgsprojekt. Alle Fraktionen wollen das Programm fortsetzen und weiterentwickeln. Das BMBF hat bereits angekündigt, „Kultur macht stark“ ab 2017 nahtlos in einer zweiten Phase weiter zu fördern. Herzlichen Dank an alle, die dieses Anliegen vorantragen. Alle Fraktionen wollen das Programm fortführen. Warum liegen in dieser Debatte trotzdem zwei Anträge vor? Wo gibt es denn noch Unterschiede? Ich will die Zeit nutzen, um einige Aspekte unseres Antrags hervorzuheben. Wichtig ist uns vor allen Dingen Folgendes: Die geförderten Projekte finden ausschließlich außerhalb des Schulunterrichts statt, auch wenn Schulen an vielen Stellen Partner sind. Es muss außerhalb des Unterrichts sein. Das ermöglicht nämlich Dreierlei: Die Teilnahme an „Kultur macht stark“ ist unbedingt freiwillig, und das sollte auch so bleiben. Dabei ist das Außerschulische gerade von Mehrwert für die Kinder und Jugendlichen aus bildungsfernem Umfeld, die wir doch besonders erreichen wollen; denn gerade für sie ist es wichtig, Zugang zu Lebensbereichen zu bekommen, die nicht zu dem strengen Korsett von Schule gehören. Interesse an einer Sache kann man nicht verordnen; man muss es wecken. Zweitens. „Kultur macht stark“ ist außerschulisch und niedrigschwellig. Das brauche ich gar nicht weiter zu erklären. Drittens. Das Programm ist partizipativ angelegt. Es ermöglicht Teilhabe. Hier kann man erfahren, dass es sich lohnt, sich einzubringen, sich in einem Team zu beteiligen, eine Aufgabe auch unter Schwierigkeiten zu Ende zu führen, ein Werk zu erschaffen und dabei Freude zu haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Echte Teilhabe kann man nicht erzwingen, wir können sie nur ermöglichen. Ein weiteres Markenzeichen unseres Programms ist die Einbindung der Zivilgesellschaft. Da haben wir die Verbände, die ihr fachliches Wissen einbringen, und die vielen lokalen Bündnispartner vor Ort, die sich oft in ungewöhnlichen Kombinationen zusammentun und Angebote vor Ort ermöglichen. Auch an all die Menschen, die sich hier engagieren, ein herzliches Dankeschön. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Viele Vorgaben, die das Programm bisher hatte, sind offensichtlich sehr zielführend. Das betonen die beteiligten Akteure, auch die vorliegenden Evaluationen. Ein Beispiel will ich nennen: Kern des Anliegens ist es, benachteiligte Kinder und Jugendliche zu erreichen; aber es ist unbedingt nötig und ganz wichtig, dass das Programm für alle Interessierten offen ist. Denn wenn die Gruppen heterogen sind, sind ein Voneinanderlernen und eine Teilhabe ohne Stigmatisierung möglich. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Schließlich ist es wichtig, neuerdings noch einmal in verstärktem Maße, den Blick auf geflüchtete Kinder und Jugendliche zu richten. Viele lernen, sich hier auszudrücken, bevor sie die passenden Worte dafür gefunden haben. Trotzdem gibt es natürlich Verbesserungswünsche. Es ist unbedingt wichtig, die Verwaltung zu vereinfachen. Für Stellschrauben gibt es gute Vorschläge. Eine Verwaltungspauschale könnte vor allen Dingen die Ehrenamtlichen von Verwaltungsaufgaben entlasten. Standards für Anträge und Servicestellen für lokale Partner, all das würde die Arbeit vereinfachen. Wir nehmen es deshalb ins nächste Programm auf. Jedes Kind, jeder junge Mensch in Deutschland hat bestmögliche Bildungschancen verdient. Mit „Kultur macht stark“ kommen wir diesem Ziel ein gutes Stück näher, gerade für die benachteiligten Kinder und Jugendlichen. Ich freue mich deshalb ganz besonders über die breite Unterstützung des Antrags hier im Plenum. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Dr. Rosemarie Hein für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Es gibt selten Grund, die Bundesregierung zu loben. Mit dem Programm „Kultur macht stark“ fließen jährlich immerhin 50 Millionen Euro – sogar etwas mehr – in die kulturelle Bildung. Das gab es tatsächlich noch nie. (Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU und der SPD) Wenn ich heute in meinem Wahlkreis nach diesem Programm frage, höre ich, dass es den meisten Vereinen bekannt ist. Fast überall laufen ein oder zwei Projekte, die dadurch gefördert werden. Auch dass mein Bundesland Sachsen-Anhalt eine Servicestelle für die Begleitung eingerichtet hat, hilft dabei sehr. Ja, das Programm ist ein voller Erfolg. Das ist es aber vor allen Dingen deshalb, weil die Vereine und Verbände viel Initiative und viel Kreativität an den Tag gelegt haben, was dazu führte, dass einige Kinderkrankheiten, die es am Anfang hatte, überwunden wurden. Es ist gut, dass trotz der Orientierung vor allem auf benachteiligte Kinder und Jugendliche ein im besten Sinne des Wortes inklusiver Ansatz gefunden worden ist. Auch Sie, Frau Lücking-Michel, stellten eben fest: Das Programm ist für alle offen. Niemand wird ausgeschlossen. Alle können teilnehmen. Die Teilnehmenden werden damit auch nicht als arm oder benachteiligt stigmatisiert. (Beifall bei der LINKEN) Auch das allerdings ist vor allem den Programmpartnern vor Ort zu danken. Kulturelle Bildung – da sind wir uns in diesem Hause alle einig – fördert die Persönlichkeit junger Menschen in ganz besonderer Weise. Und zu allem Überfluss macht das auch noch Spaß. Man erreicht unkompliziert ganz viele Kinder und Jugendliche. Darum haben die Verbände schon lange angeregt, dass die Fortführung über das Jahr 2017 hinaus gesichert werden soll. Das Programm sollte dann nämlich eigentlich auslaufen. Die Bundesregierung hat sich zunächst geziert, eine solche Zusage zu machen. Darum haben wir einen Antrag gestellt und im Ausschuss ein öffentliches Fachgespräch erwirkt, das auch stattgefunden hat – gemeinsam mit dem Kulturausschuss. Das hat offensichtlich geholfen. Die Verbände haben mit allen Fraktionen gesprochen. (Beifall bei der LINKEN) Die Bundesregierung hat inzwischen eine Fortführung des Programms in Aussicht gestellt, und die Koalitionsfraktionen haben heute ebendiesen Antrag vorgelegt. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ein sehr guter Antrag!) Auch wenn der Antrag der Koalition nicht so weit geht wie unser Antrag, kann man sagen: Sie haben dazugelernt. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]) So finden wir in Ihrem Antrag die Absicht, das Programm langfristig zu verstetigen. Immerhin hätten wir damit so etwas Ähnliches wie auf der MINT-Seite auch einmal bei der Kultur. Das wäre sehr schön und auch gut. Sie wollen die Verwaltungskostenpauschale prüfen. Ich habe gehört, dass Sie sie erhöhen wollen. Auch das finden wir richtig und gut. Wir finden es auch richtig, dass die Zahl der Servicestellen in den Ländern erhöht werden soll, obwohl wir das nicht verordnen können; das müssen die Länder selbst entscheiden. Dies und einiges mehr begrüßen wir. Es gibt aber auch ein paar Bedenklichkeiten. So will die Koalition Kitas zwar in die Projekte einbeziehen, Schulen aber nicht. Der Kitabesuch sei ja freiwillig und nicht verpflichtend, heißt es. Ich finde, diese Art Abgrenzung ist realitätsfern, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der LINKEN) Auch Sie fordern doch, dass sich Schulen in die Gesellschaft öffnen. Auch Sie wollen doch, dass Schulen mit Vereinen und Verbänden Angebote zum Beispiel für eine Nachmittagsbetreuung machen. Natürlich dürfen sie nicht in den Unterricht. Natürlich dürfen die Programme nicht Unterricht ersetzen. Aber außerunterrichtliche Angebote sind ebenfalls freiwillig, nicht nur außerschulische. Sie sollten darüber vielleicht noch einmal nachdenken und Ihre Scheuklappen abnehmen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Kritisch betrachten wir auch den allzu häufigen Verweis auf das Ehrenamt in Ihrem Antrag. So wichtig ehrenamtliches Engagement für das Gelingen dieses Programmes ist: Es darf nicht dazu führen, dass man sich nur auf das Ehrenamt verlässt und nur das Ehrenamt entlastet. Auch die Vereine und die Programmpartner haben sehr deutlich gesagt, dass sie mit dem Maß an Verwaltungsarbeit, an Begleitung und Orientierung, die sie vor allen Dingen gegenüber den kleinen Trägern vor Ort erbringen müssen, zeitweise und teilweise überlastet sind. Manche haben sogar überlegt, ob sie das Ganze aufgeben. Das sollten wir versuchen zu verhindern. Über den Vorschlag, nun auch die Teilnahme zertifizieren zu lassen, müssen wir uns noch einmal unterhalten. Das kann gut sein; das kann aber auch zu mehr Bürokratie führen. Aber vor allem muss auch das bezahlt werden. (Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, es gibt erfreulicherweise viele Übereinstimmungen zwischen unserem Antrag und Ihrem. Die Unterschiede bestehen nicht im Grundsatz. Darum ist es für mich, ehrlich gesagt, ein Ausdruck politischer Kleingeisterei, dass Sie gestern unseren Antrag im Ausschuss abgelehnt haben und das wahrscheinlich heute hier wieder tun werden. Ich verspreche Ihnen: Wir werden nicht so kleingeistig handeln. (Beifall bei der LINKEN) Allerdings fragen wir uns schon, warum Sie gerade jetzt diesen Antrag stellen und die Bundesregierung auffordern, die Laufzeit des Programms zu verlängern. Trauen Sie Ihrer Regierung nicht? Befürchten Sie, dass die zahlreichen Anregungen und Verbesserungen von ihr nicht berücksichtigt werden, oder befürchten Sie sogar ein abgespecktes Programm? Das würde sicherlich begründen, warum Sie mit Ihrem Antrag hier heute Pflöcke einschlagen wollen. Wenn das nötig ist, wollen wir Sie gerne unterstützen und stimmen diesem Antrag zu. (Beifall bei der LINKEN und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist eine gute Entscheidung!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Martin Rabanus für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Martin Rabanus (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Es ist zwar schon dunkel draußen, aber es scheint ja tatsächlich noch eine Sternstunde zu werden, wenn wir auch die Zustimmung der Linken zu unseren Antrag sicher haben. Das finde ich ausgesprochen erfreulich. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wunder geschehen! – Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist aber ein dickes Kompliment!) Ich finde es auch ausgesprochen erfreulich, dass wir einen so breiten Konsens hier im Haus haben. Erfreulich finde ich aber auch, dass die kulturelle Bildung in der öffentlichen Wahrnehmung eine so breite Unterstützung hat, wie wir das, glaube ich, in früheren Jahren nicht hatten. Da hat sich einiges bewegt, wahrscheinlich auch durch das Programm „Kultur macht stark“, durch die Laufzeit, aber auch schon vorher durch viele Weichenstellungen und pädagogische Diskussionen und durch das, was die Länder gemacht haben. Die haben 2013 ihre Empfehlungen für die kulturelle Bildung in der KMK auf den neuesten Stand gebracht und dem eine stärkere Bedeutung beigemessen, als das vorher der Fall gewesen ist. Denn klar ist ja: Kulturelle Bildung ist ein wichtiger Beitrag zur Persönlichkeitsbildung – das ist genannt worden –, aber auch ein wichtiger Beitrag zur Orientierung in der Gesellschaft, gerade vielleicht auch in den heutigen gesellschaftspolitischen Zeiten, denen wir uns gegenübersehen, in einer Gesellschaft, die ausdifferenziert ist in unterschiedlichste Milieus, in unterschiedliche kulturelle, religiöse Hintergründe. Das meine ich tatsächlich jetzt nicht nur vor dem Hintergrund einer Migrationsbewegung, die wir nicht nur in den letzten Monaten, sondern auch in den letzten zwei Jahren erlebt haben. Es ist schon darauf eingegangen worden: Das Programm hat sich auch darauf ein Stück weit eingestellt und für junge Geflüchtete geöffnet. Das ist gut und richtig so. Wichtig ist es aber auch vor dem Hintergrund sozioökonomischer Unterschiede in der Gesellschaft. Über dieses größte Programm, das wir in dieser Art je hatten, ermöglichen wir vielen den Zugang zu kulturellen Angeboten – und das im Rahmen eines breiten und weit gefächerten Kulturbegriffs; Frau Kollegin Lücking-Michel hat darauf schon Bezug genommen. Interkulturelle, interreligiöse Bildung, Theater, Tanz, Visuelles, bildende Kunst, Film, Musik, Literatur, Architektur, all das sind Aspekte, die dieses Programm beinhaltet, und das ist auch gut so. Dabei überhebt sich das Programm aber auch nicht, weil es fokussiert ist. Auch das ist gesagt worden. Es ist fokussiert auf die benachteiligten Kinder und Jugendlichen, ohne andere auszuschließen. Auch das ist eine Stärke dieses Programms. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich will gar nicht verhehlen, dass Anfang 2012, als die Bundesregierung damals mit dem Programm um die Ecke kam, (Michaela Noll [CDU/CSU]: Um die Ecke?) auch an der einen oder anderen Stelle Skepsis bestand: wegen der Zeit, wegen des Programmdesigns, aber nicht, weil man gegen kulturelle Bildung war; jedenfalls würde ich das für meine Fraktion so reklamieren. Wir jedenfalls haben uns sehr intensiv mit der Frage des Programmdesigns und mit diesem Programm auseinandergesetzt. Der Antrag, den wir vorgelegt haben, ist natürlich nicht vom Himmel gefallen, sondern wir haben schon im letzten Jahr auch die Verbände und die beteiligten Programmpartner sehr intensiv in die Gespräche einbezogen. Wir haben uns Anfang des Jahres in der Koalition intensiver damit auseinandergesetzt. Dann kam auch das Signal der Bundesregierung. Also, es gibt an dieser Stelle noch nicht einmal zwischen dem sozialdemokratischen Teil und dem christdemokratisch geführten BMBF irgendwelche Misstrauensgründe, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Eine Harmonie am Abend!) sondern größte Harmonie an der Stelle. Über die Ausschussbefassung im Mai sind wir jetzt zu der Beratung im Plenum gekommen. Das ist auch gut so. Ich will kurz zusammenfassen, was dieses Programm erreicht hat: 12 700 lokale Bündnisse mit 430 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Das ist eine Größenordnung, die wir so noch nicht hatten. Das hat im Bereich der kulturellen Bildung zu einer Kooperation, einer Dynamik und einer Strukturbildung vor Ort geführt, die wir so auch noch nicht hatten. Das ist einer der wesentlichen Gründe, warum wir sagen: Wir wollen dieses Programm über 2017 hinaus fortsetzen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich sage auch „fortsetzen“ und nicht „ein neues Programm machen“; denn es haben sich verschiedene Strukturelemente bewährt. Das ist genannt worden; das alles muss ich nicht wiederholen. Aber das Gute wollen wir natürlich noch ein bisschen besser machen. Sicherlich gilt das für die Budgets. Wir stellen uns 50 Millionen Euro plus X im Jahr vor. Ich glaube, das ist auch fraktionsübergreifend der Fall. So muss es weitergehen. Wir wollen auch den Administrationsaufwand reduzieren. Das ist gesagt worden. In diesem Zusammenhang wollen wir die Frage der Verwaltungspauschale aufgreifen. Das ist auch einer der Gründe, warum wir dem Antrag der Linken nicht zustimmen werden. Er legt sich fest, ohne evaluiert zu haben, was bedarfsorientiert wäre, um das an diesem einen Beispiel festzumachen. (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das waren die Wünsche der Verbände!) Ich konstatiere, dass in anderen Zeiten der Antragsentwurf der Linken möglicherweise auch eine Basis gewesen wäre, auf den man sich hätte konsentieren können. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das geht aber nicht!) Aber da die Zeiten im Deutschen Bundestag nicht anders sind und wir in einer erfolgreichen Koalition arbeiten – jenseits der Frage, was in anderen Räumen des Bundestagskomplexes passiert –, ist die Sachlage so, dass wir diesen hervorragenden Antrag der Koalition natürlich heute abstimmen und ihm zustimmen werden. Dem Antrag der Linken, der eine Basis wäre, aber auch der Verbesserung bedürfte, können wir so nicht zustimmen. Zurück zu dem, was wir noch besser machen wollen. Wir wollen den administrativen Aufwand reduzieren. Wir wollen den Aspekt der Inklusion noch einmal verstärken. Das ist uns als Koalition sehr wichtig. Dass man die erworbenen Kompetenzen bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern anders dokumentiert, anders sichert – Stichwort „Bildungspässe“, Stichwort „Bildungsnachweise“ –, ist nur sinnvoll und nur vernünftig. Zusammenfassend, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das Programm „Kultur macht stark“ ist ein hervorragendes Programm, das sich bewährt hat und das wir noch ein bisschen besser machen wollen. Es ist zwar schon ein wenig dunkel draußen; dennoch können wir heute Abend eine Sternstunde für die kulturelle Bildung in Deutschland, für benachteiligte Kinder und Jugendliche, für Inklusion und für Chancengleichheit in unserem Land erleben. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Özcan Mutlu für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Gerade hat mir eine Kollegin gesimst: Rock it! – Ich glaube, heute rocken wir es zusammen. Denn das Bundesprogramm „Kultur macht stark“ hat sich trotz anfänglicher Schwierigkeiten bewährt und ist gut angenommen worden. Das ist insbesondere auf das Engagement der vielen Bündnispartner zurückzuführen, denen ich hier heute ausdrücklich danken möchte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Die vielen Helferinnen und Helfer haben es möglich gemacht, dass kulturelle Bildung bei den Kindern und Jugendlichen ankommt und von ihnen auch angenommen wird. Deshalb ist es besonders wichtig, die Ehrenamtlichen nicht mit unnötigem Verwaltungsaufwand zu belasten oder zu behindern. Daher muss es zum Beispiel auch darum gehen, den Ausbau der Servicestellen zügig voranzutreiben. Beim Fachgespräch im Bildungsausschuss wurde auch deutlich, dass sich Expertinnen und Experten mehr kulturelle Bildung in den Schulen wünschen; Kollegin Hein hat es gesagt. Hier ist anzumerken, dass der Bund die Vermittlung von kultureller Bildung für Kinder und Jugendliche in Risikolagen zurzeit leider nicht in direkter Kooperation mit den Ländern und Kommunen umsetzen kann, und das ist ein Problem. (Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Nichtsdestotrotz begrüßen wir, dass die Koalitionsfraktionen das Programm fortführen und mithilfe der Expertise der Bündnispartner auch verbessern wollen. Lobenswert ist, dass das Programm jetzt auch für Geflüchtete bis 26 Jahre geöffnet wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Noch besser wäre es aber, wenn die Anhebung der Altersgrenze für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer gelten würde. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Zugang zu kultureller Bildung hat gerade in der Lebensphase ab 18 Jahre eine nachhaltige und persönlichkeitsstiftende Wirkung. Deshalb ist die Begrenzung an dieser Stelle falsch. Wichtig ist auch, dass der inklusive Ansatz verstärkt wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Martin Rabanus [SPD]) Das war längst überfällig. Nur so können mehr Jugendliche mit Behinderung, die beim Programm bisher sehr ungenügend berücksichtigt worden sind, integriert werden. Dass aber Schulen in der zweiten Förderphase von „Kultur macht stark“ nun wieder nicht teilnehmen dürfen, ist meines Erachtens falsch und kurzsichtig. Gerade in den ländlichen Gegenden sind Schulen die zentralen Orte. Hier wird das Programm jedoch seltener umgesetzt, da die kulturelle Infrastruktur weniger ausgeprägt ist. Deshalb ist es umso wichtiger, dass man weiterhin nach Wegen und Möglichkeiten der Kooperation mit Schulen, mit Ganztagsschulen sucht. Genau hier erreicht man besonders die Familien, die weniger in das alltägliche Gesellschaftsleben involviert sind; denn die Schule als Institution für alle ist auch der Ort für und von Begegnungen. Auf unserer Bildungstagung Anfang der Woche auf dem Rütli-Campus – die Rütli-Schule ist Ihnen sicherlich noch ein Begriff – haben zahlreiche Expertinnen und Experten bestätigt, dass Ganztagsschulen als Stadtteilzentren und Begegnungsstätten wirken und so alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden können. Alle Kinder abzuholen, ist das Gebot der Stunde, damit mehr Bildungsgerechtigkeit Wirklichkeit werden kann. Deshalb sagen wir an dieser Stelle: Vielleicht sollten Sie sich überlegen, ob man nicht ein neues Ganztagsschulprogramm braucht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kinder, Ehrenamtliche, Eltern und Bündnispartner würden profitieren, wenn die Angebote im Raum Schule stattfinden könnten. Da ist die Ganztagsschule tatsächlich ein richtiger Ort. Leider verweigert sich die Koalition einer solchen sinnvollen Öffnung weiterhin, und ich sage: Sie tut es weiterhin wider besseres Wissen. Gute Bildung als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben ist, wie Sie selbst in Ihrem Antrag sagen, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir Grüne verstehen darunter das Mitwirken und Kooperieren aller Akteure. Es bedeutet für uns konkret, dass Bund, Länder und Kommunen noch stärker kooperieren, sich gemeinsam um gute Bildung kümmern und gemeinsam Investitionen in gute Bildung vornehmen können. Denn dann wäre es gar nicht nötig, irgendwelche zeitlich begrenzten Leuchtturmprojekte ins Leben zu rufen. Es gibt also viele Fragen, aber wir sind dennoch auf einem guten Weg. Deshalb werden wir Ihrem Antrag, wie ich anfangs schon angedeutet habe, zustimmen. Es geht darum, mehr Bildungschancen für benachteiligte Kinder und Jugendliche zu schaffen. Aber, liebe Koalition, ich sage auch: Das geht noch ein bisschen besser; da geht ein bisschen mehr. Sie müssen es nur wollen. Wenn Sie es tun, haben Sie uns an Ihrer Seite. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Parlamentarische Staatssekretär Stefan Müller für die Bundesregierung das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Stefan Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht immer besteht in unseren Debatten so viel Einigkeit wie heute, aber diese Einigkeit gibt es zu Recht; denn hier handelt es sich um ein erfolgreiches Programm. Es ist angesprochen worden: Das Programm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ist das größte Förderprogramm für Maßnahmen der kulturellen Bildung, das es je in Deutschland gegeben hat. Manchmal sagen Zahlen mehr als Worte: Insgesamt werden bis zu 230 Millionen Euro bis zum Ende des Jahres 2017 zur Verfügung gestellt, etwa 450 000 Kinder und Jugendliche haben an fast 14 000 Maßnahmen im Rahmen dieses Programms teilgenommen, die von 5 500 Bündnissen für Bildung umgesetzt werden. Ich finde, diese Zahlen sind für sich genommen schon beeindruckend, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Aber noch beeindruckender, finde ich, ist es, zu sehen, mit welchem Einsatz, mit welchem Engagement und mit welcher Freude die Kinder und Jugendlichen ein Musikstück oder ein Theaterstück einstudieren und dann am Tag der Aufführung stolz präsentieren. Sie erleben, dass sich Anstrengung und Konzentration auf ein Ziel hin lohnen. Sie lernen dabei, dass man im Team weiter kommt als ein Einzelkämpfer. Es werden Talente und Freude am eigenen Handeln geweckt, es wird Anerkennung durch andere vermittelt. Diese Fähigkeiten und Kompetenzen sind für alle Kinder und Jugendlichen wichtig – das ist ohne Zweifel so –, aber sie sind besonders wichtig für diejenigen, die in ihrem Elternhaus nur wenig Förderung erhalten und deren Start im Leben ohnehin schon schwer genug ist. Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, war es eine richtige Entscheidung, ein solches Programm aufs Gleis zu setzen, die kulturelle Bildung in den Mittelpunkt eines Förderprogramms zu stellen; denn die aktive Beschäftigung mit Kultur stärkt die Persönlichkeitsbildung ebenso wie das Selbstvertrauen junger Menschen in ihre Fähigkeiten. Wir haben eine Evaluation durchgeführt, die begleitend zu den Maßnahmen stattgefunden hat. Es hat sich gezeigt – das war das Ergebnis dieser Evaluation –, dass in über 90 Prozent der Maßnahmen Kinder und Jugendliche teilnehmen, die in finanziell oder in sozial schwierigen Verhältnissen aufwachsen oder deren Eltern der Bildung möglicherweise keine hohe Bedeutung beimessen. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch klar – das Ergebnis dieser Evaluation belegt dies –, dass die Bundesregierung, dass der Bund mit dem Programm „Kultur macht stark“ einen wichtigen Beitrag für mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland leistet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Aber ohne Zweifel ist es so, dass Bildungsgerechtigkeit nur dann gelingt, wenn alle gesellschaftlichen Kräfte mitwirken. Insofern ist auch von mir noch einmal deutlich hervorzuheben – mir ist das wichtig –, dass „Kultur macht stark“ sich auf ein breites bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement stützt. Rund 90 Prozent der in den Bündnissen Tätigen sind ehrenamtlich aktiv. Deswegen möchte auch ich mich heute bei allen Mitwirkenden in den Vereinen, in den Verbänden und in den Organisationen herzlich bedanken, die dazu beigetragen haben, dass dieses Programm so erfolgreich sein konnte und dass wir vor allem so viele Kinder und Jugendliche mit einer Vielzahl von erfolgreichen Projekten und Maßnahmen haben erreichen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Nun war es in der Tat so, dass zu Beginn – das ist heute auch schon deutlich geworden – nicht alle von diesem Förderprogramm vollständig überzeugt waren. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, dass diese anfängliche Skepsis – das zeigt diese Debatte – einer breiten Zustimmung gewichen ist. Diese Zustimmung, liebe Kolleginnen und Kollegen, und die guten Ergebnisse der Evaluation haben uns darin bestärkt, das Programm in einer zweiten Förderphase von 2018 bis 2022 entsprechend fortzusetzen. Das heißt, auch in Zukunft sollen bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche von 3 bis 18 Jahren durch Maßnahmen der kulturellen Bildung und in lokalen Bündnissen für Bildung mit mindestens drei Akteuren gefördert werden. Wir wollen an den Strukturen festhalten; denn diese Strukturen haben sich in der Tat bewährt. Die regionalen Bündnisse für Bildung sollen beibehalten werden, weil hier die geschaffenen Strukturen offensichtlich erfolgreich waren. Ich will eines deutlich sagen: Selbstverständlich hat das Ministerium, hat die Bundesregierung die Hinweise, die es gegeben hat, ernst genommen, als es darum gegangen ist, über eine Verwaltungsvereinfachung nachzudenken, zu überlegen: Was kann an diesem Programm noch besser gemacht werden? Wichtig ist, dass wir auch in Zukunft den verstärkten Austausch mit den Ländern und den Kommunen aufrechterhalten, um einen besseren Informationsfluss zu gewährleisten und die Vernetzung mit den lokalen Strukturen erreichen zu können. Die Kritik am Verwaltungsaufwand haben wir ernst genommen. Wir werden darauf entsprechend reagieren. Wir wollen, dass das Programm gerade für ehrenamtlich Aktive attraktiver wird. Wir haben übrigens auch im Rahmen des laufenden Programmes eine ganze Reihe von Vereinfachungen durchgesetzt. Wir werden aber sehr sicher auch bei der neuen Förderrichtlinie, die nun vorbereitet wird, diesen Hinweisen folgen. Ich kann Ihnen versichern: Wir werden auch im Rahmen des Zuwendungsrechts alles Mögliche tun, um den Verwaltungsaufwand so gering wie möglich zu halten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, kultureller Bildung kommt auch bei der Integration von Flüchtlingen eine besondere Bedeutung zu; das hat in der Debatte bereits eine Rolle gespielt. Selbstverständlich kann Integration nur dann gelingen, wenn Flüchtlinge die deutsche Sprache erlernen. Das allein ist aber nicht alles. Wenn man an unserem kulturellen Leben teilhaben möchte, dann gehört dazu, dass man Kenntnisse über die rechtlichen und kulturellen Regeln besitzt. Übrigens waren schon in dem bestehenden Programm eine ganze Reihe von Maßnahmen auf junge Flüchtlinge, auf geflüchtete Kinder und Jugendliche ausgerichtet. Bei einer Auswertung der Maßnahmen, die wir vorgenommen haben, hat sich herausgestellt, dass seit Beginn des Programms fast 20 000 geflüchtete Kinder und Jugendliche daran teilgenommen haben. Wir haben demzufolge dieses Programm „Kultur macht stark“ ergänzt um eine Förderung für Flüchtlinge im jungen Erwachsenenalter, also gerade für die Gruppe von jungen Leuten, die nicht mehr der Schulpflicht unterliegen, aber noch eine längere Zeit, beispielsweise bis zum Übergang in eine Ausbildung oder eine Tätigkeit, überbrücken müssen. Ich bin mir sicher, dass diese Öffnung für junge Erwachsene dazu beitragen wird, dass auch diese jungen Menschen die Möglichkeit haben, nicht nur die deutsche Sprache zu lernen, sondern gleichzeitig auch die Kultur in Deutschland kennenzulernen. Deswegen – das ist angesprochen worden – werden wir die Altersgrenze erhöhen, und wir werden dafür insgesamt 5 Millionen Euro pro Jahr bereitstellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können heute mit Recht sagen: Wir haben mit „Kultur macht stark“ ein gutes, ein wichtiges, ein sinnvolles Programm aufgelegt, das die Erwartungen und die Hoffnungen in vollem Umfang erfüllt hat. Ich bedanke mich bei Ihnen für die große Zustimmung, die dieses Programm auch hier im Deutschen Bundestag hat. Wir werden dieses Programm deshalb auch fortsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Karamba Diaby für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Karamba Diaby (SPD): Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Kultur macht stark“ ist ein Programm, das den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärkt. Ein Wohngebiet in meinem Wahlkreis wurde in den letzten Monaten häufig in der Presse als sogenannter sozialer Brennpunkt bezeichnet. Es steht außer Frage, dass in diesem Gebiet einiges verbessert werden muss. Neben den vielen Bemühungen der Kommunen sind Programme des Bundes wie „Kultur macht stark“ in solchen Fällen eine Chance, um Lösungen herbeizuführen. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Diese Lösungen haben viele Vorteile. Ich nenne einige: Sie erreichen Kinder und Jugendliche, die sonst nicht so viele Möglichkeiten haben; (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr gut!) sie stärken die persönliche Entwicklung; sie fördern das soziale Miteinander; sie fördern die Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diese Projekte bauen Brücken zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung, und das ist gut. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]) Ich nenne zwei Beispiele aus meinem Wahlkreis – es sind Projekte, die über das Programm „Kultur macht stark“ unterstützt werden –: Als erstes Beispiel nenne ich die Kulturwerkstatt in Halle-Neustadt. Der Verein Aktionstheater Halle engagiert sich seit Jahren gemeinsam mit vielen Partnern für die kulturelle Jugendarbeit. Sie bieten innovative Projekte im Stadtteil an, zum Beispiel Theater, Hip-Hop-Tanz, Filmprojekte, Rap-und-Beat-Projekte. Das ist ein gutes Projekt. Zweites Beispiel: der Leseklub des Deutschen Kinderschutzbundes. Gemeinsam mit der Freiwilligen-Agentur und dem Zentrum für Lehrerbildung wird die Freude am Lesen gefördert. Die Aktionen stärken die Lese- und Sprachkompetenz. Sie fördern die Kommunikation zwischen den Kindern, egal ob sie Alexander, Wahidi oder Aischa heißen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Michaela Noll [CDU/CSU] – Zuruf von der CDU/CSU: Oder Karamba!) Die Inhalte dieser Projekte sind interkulturell angelegt. Sie bauen Brücken, und die Kinder und Jugendlichen können voneinander lernen. Allein diese zwei Beispiele aus der Händel-Stadt Halle zeigen, dass solche Projekte notwendig sind und gebraucht werden. Deshalb wollen wir das Programm verstetigen. (Beifall bei der SPD) Damit sorgen wir für Planungssicherheit für die Beteiligten. Wir fördern das Ehrenamt nachhaltig. Wir erreichen mit den Projekten benachteiligte Kinder, und schließlich fördern wir die Integration geflüchteter Kinder. Liebe Kolleginnen und Kollegen, stimmen Sie für den Antrag von CDU/CSU und SPD; denn mit der Förderung des Programms sorgen wir für Nachhaltigkeit, sichern die Teilhabe und stärken den Zusammenhalt in Deutschland. Ich danke. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE] und Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Thomas Feist für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie können ja erstmal sagen, Sie sind dagegen!) Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Hein, natürlich komme ich gleich zu Ihnen. Der Antrag, den Sie heute vorgelegt haben, (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sehr guter Antrag!) ist wesentlich besser als die Anträge, die sonst von Ihnen kommen. Das ist schon mal eine tolle Sache. (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Wie kommen wir denn jetzt dazu? Da müssen wir mal in uns gehen!) Allerdings ist in diesem Antrag auch einiges enthalten, das völlig unnötig ist. (Özcan Mutlu [BÜNDNS 90/DIE GRÜNEN]: Mach es doch nicht kaputt!) Zum Beispiel fordern Sie, dass die Kommunen mit in die Programme einsteigen können. Das ist schon jetzt möglich. Beispielsweise beteiligen sich Musik- und Volkshochschulen an diesem Programm, und das sind städtische Einrichtungen. Ich gehe einmal ein kleines Stück zurück. Als wir in der letzten Legislaturperiode – gemeinsam mit dem Kollegen Marcus Weinberg – gesagt haben, dass wir in diesem Bereich etwas tun müssen, war es ja nicht so, dass der Bund noch nie etwas für kulturelle Bildung getan hat. Er tut dies auch weiterhin, zum Beispiel im Kinder- und Jugendplan des Bundes; dort ist kulturelle Bildung aber Mittel zum Zweck. Die Einsicht, dass kulturelle Bildung auch Bildung ist, musste man erst einmal im Bildungsausschuss herstellen. Ich bin sehr froh, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung von Anfang an eine große Offenheit gezeigt hat, dieses Programm zu unterstützen. Natürlich gab es auch viel Kritik daran und die Frage, was Theaterspiel und Musik mit Bildung zu tun haben. Nicht alle Kolleginnen und Kollegen waren überzeugt, dass dies eine gute Sache ist. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allem bei euch! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Können Sie mal Namen nennen?) Sie waren damals schon deshalb dagegen, weil wir – damals übrigens mit der FDP – diesen Antrag eingebracht haben. Wenn man sich die Protokolle einmal anschaut, sieht man, dass es inhaltlich überhaupt keine Gründe dafür gab. Aber dass es Skepsis gab, will ich schon einmal erwähnen. Umso schöner ist es, dass Sie nach einem Lernprozess gesagt haben: Das ist ein gutes Programm; daran sollten wir festhalten. Das Besondere an diesem Programm ist, dass wir Stärken stärken. Das ist etwas, was in einer Bildungsbiografie in der Schule normalerweise nicht unbedingt vorkommt. Dort lernen die jungen Leute nämlich vor allem, was sie nicht können. Deshalb ist die kulturelle Bildung als Ergänzung im außerschulischen Bereich besonders wertvoll. Wenn wir mit der kulturellen Bildung flächendeckend junge Menschen erreichen, dann ist das eine tolle Sache. Ich finde es super, dass wir mit diesem Antrag das Ministerium ermutigt haben, das Programm fortzuführen. Zum Verwaltungsaufwand gibt es sicher einiges zu sagen. Frau Hein, Sie haben gesagt, der Verwaltungsaufwand sei so hoch. Ich habe, bevor ich in den Deutschen Bundestag gekommen bin, 15 Jahre lang kulturelle Jugendbildung gemacht. Natürlich ist das aufwendig, aber es lohnt sich. In solch einem Antrag muss man beispielsweise genau schreiben, was man erreichen will. Man muss seine pädagogischen Ziele formulieren. Das sollte in einer Qualität sein, die auch denjenigen, die kultureller Bildung etwas skeptischer gegenüberstehen, zeigt, dass wir es mit dieser Sache ernst meinen. Das Besondere an „Kultur macht stark“ war von Anfang an, dass die Leute sich nicht jährlich um die Mittel bewerben mussten. Beim Kinder- und Jugendplan des Bundes muss man die Mittel von Jahr zu Jahr neu beantragen. Bei „Kultur macht stark“ ist das eben nicht so. Die Zahlen sind genannt worden: Durch die Bündnisse haben wir knapp eine halbe Million junger Menschen erreicht. Ich denke, das spricht für dieses Programm. Es spricht auch dafür, dass wir uns weiter darum kümmern sollten. Im Übrigen haben wir mit „Kultur macht stark“ auch anderen Ländern ein gutes Beispiel gegeben. Wir behandeln dieses Thema beispielsweise im Kulturausschuss des Europarates und sind uns auch dort oft fraktionsübergreifend einig. Denn bei kultureller Bildung geht es nicht nur um Bildungserfolge – natürlich geht es auch darum, vor allen Dingen um Bildungserfolge für diejenigen, die in der Schule nicht so sehr mit Bildungserfolgen verwöhnt worden sind –, sondern auch um eine aktive Teilhabe in der Gesellschaft, um Engagement und Partizipation, ja letzten Endes um das, was wir den Humus für Demokratie nennen; das geschieht genau dort. (Beifall des Abg. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]) – Lieber Stefan Kaufmann, ich finde es gut, dass du als Berichterstatter für den Bereich EU das besonders unterstützt. Es ist deshalb gut, wenn wir heute fraktionsübergreifend ein starkes Signal senden. Das gelingt nicht immer; aber die Kinder und Jugendlichen, die mit kultureller Bildung nicht nur selbst bereichert werden, sondern auch unsere Gesellschaft bereichern, sind es allemal wert. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Damit schließe ich die Debatte, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/10016 mit dem Titel „Mehr Bildungschancen für benachteiligte Kinder und Jugendliche schaffen – Bundesprogramm ‚Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung‘ nach 2017 weiterentwickeln und fortsetzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieser Antrag einstimmig angenommen. (Beifall im ganzen Hause) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Bundesprogramm ‚Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung‘ weiterentwickeln und seine Fortführung jetzt vorbereiten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10063, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/8181 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimme der Fraktion Die Linke angenommen worden.1 (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bei den Grünen haben aber einige für uns gestimmt!) – Genau. Einige Mitglieder waren auch gegen die Beschlussempfehlung. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Franziska Brantner, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbrechen nach dem Völkerstrafrecht nicht ungesühnt lassen Drucksache 18/10031 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour, Dr. Franziska Brantner, Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Syrien – Luftbrücke einrichten, humanitäre Not lindern Drucksachen 18/9687, 18/9939 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich könnte die Aussprache eröffnen, warte aber erst einmal, bis sich alle gesetzt haben. – Dann beginnen wir die Aussprache. Als erster Redner in der Aussprache hat Omid Nouripour von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute zwei Anträge der Grünen, die beide Syrien betreffen. Alle Parteien in Syrien begehen Kriegsverbrechen. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Assad und den anderen. Der Unterschied ist: Qua Amt hat er die Schutzverantwortung für sein Land und sein Volk. Diese missachtet er auf unglaublich zynische Art und Weise. Assad ist der Mann, der mit Russlands Hilfe Fass-, Brand- und bunkerbrechende Bomben auf Zivilisten regnen lässt. Assad ist der Mann, der zugesagt hat, seine Chemiewaffen zu zerstören, und sie danach noch 136-mal verwendet hat. Assad ist der Mann, der humanitäre Hilfsleistungen blockiert. Der erste Antrag, den wir vorgelegt haben, betrifft das Thema Straffreiheit. Es ist offenkundig eine Lehre, die man aus dem Irakkrieg ziehen muss: Straffreiheit für solch katastrophale Verbrechen darf es nicht geben. Straffreiheit führt dazu, dass es keine Aussöhnung geben kann. Ohne Aussöhnung wird es keinen Frieden geben. – Das ist das, was wir in diesem Antrag fordern. Kollege Mützenich hat gestern gesagt, das sei auch im Sinne der Sozialdemokratie. Ich hoffe, dass ich nachher auf Ihre Zustimmung zu diesem Antrag zählen kann. (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Zum Thema!) Der zweite Antrag, den wir vorgelegt haben, betrifft eines der Kriegsverbrechen, die zurzeit in Syrien begangen werden. Anfang 2014 hat der Schriftsteller Daniil Granin von diesem Platz aus eine Rede gehalten, in der er uns an die Gräuel der Nazis bei der Belagerung Leningrads erinnert hat. Es geht nicht um historische Vergleiche. Es geht nur darum, sich ein Thema zu vergegenwärtigen, über das wir auch heute reden müssen: Hunger als Waffe. Das ist ein massives, grausames Kriegsverbrechen. Diese Waffe, das Aushungern, wird auch in Syrien – wiederum von allen – eingesetzt. Aber auch hier gilt: Es gibt eine Seite, die die Lufthoheit hat, nämlich die von Assad, und es gibt einen Mann, der die Schutzverantwortung für sein Volk hat, die er auch an dieser Stelle zynisch missachtet und sogar massiv verletzt: Assad. Wir alle kennen die grausamen Bilder aus Aleppo. Aber es gibt auch Bilder aus Homs, aus Daraja, aus al-Waer. In all diesen Städten haben die Menschen nach sehr langer Zeit – im Falle von Homs dauerte die Belagerung 1 671 Tage – aufgegeben. Teilweise gab es in diesen Städten auch ethnische Säuberungen. Die Vereinten Nationen sagen, dass sie Anfragen bezüglich Hilfslieferungen an das syrische Regime stellen und 75 Prozent dieser Anfragen komplett ignoriert werden. In den 25 Prozent der Fälle, die bearbeitet werden, kommen die Hilfsgüter zwar ins Land, aber 90 Prozent – mittlerweile „nur noch“ 90 Prozent – dieser Hilfsgüter bleiben in Assad-Regionen. Allein außerhalb von Aleppo reden wir über mehr als 400 000 Menschen, die umzingelt sind und keine Möglichkeit haben, an Nahrung oder medizinische Versorgung zu kommen. Das Zynische daran ist: Es gibt ja Konvois, die bereitstehen und sofort nach Ost-Aleppo oder in viele andere Städte fahren könnten. Sie werden aber einfach nicht hineingelassen. Was können wir tun? Ja, wir müssen weiter nach Aleppo schauen; das ist zweifelsfrei richtig. Aber es gibt auch noch andere Orte in Syrien, die massiv bluten. Es gibt 13 Millionen Menschen außerhalb Aleppos, die reguläre humanitäre Hilfe brauchen. Es gibt 6 Millionen Menschen außerhalb Aleppos, die innerhalb des Landes auf der Flucht sind. Es gibt 10 Millionen Menschen außerhalb Aleppos, die auf Nahrungslieferungen angewiesen sind. Vor diesem Hintergrund hat der Herr Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, völlig zu Recht gesagt: Wir sollten „auch die Möglichkeit von Hilfe aus der Luft prüfen“. Wann hört die Prüfung auf? Er sagte das am 13. August dieses Jahres. Es ist nicht einfach, den syrischen Menschen in Deutschland zu erklären, warum unsere Flieger dort unterwegs sind und warum westliche Flieger Bomben, aber keine Hilfspakete abwerfen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Vereinten Nationen haben die Weltgemeinschaft mehrfach angefleht: Gebt uns Unterstützung, Mittel und Rückendeckung! – Es ist nicht viel passiert. Dass Luftbrücken technisch möglich sind, sieht man in Deir al-Sor und in Kamischli. 2016 sind 247 Lieferungen aus der Luft erfolgt. (Tobias Zech [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!) Von den 13 Millionen Menschen, die Hilfe brauchen, haben 285 000 Menschen Hilfe bekommen. (Tobias Zech [CDU/CSU]: Das ist falsch! Schlecht recherchiert!) Das ist einfach nicht genug. Was jetzt helfen kann, ist die Einrichtung einer umfassenden Luftbrücke, die wir hiermit beantragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir kennen die Gegenargumente: Die Gebiete sind verschieden. In den Gebieten, in denen eine Luftbrücke funktioniert, ist die Lage anders. Was für Flugzeuge sollen denn dafür eingesetzt werden? Was soll das kosten? Ist das genug? Wäre ein Bodentransport nicht besser? Natürlich wäre ein Bodentransport besser. Wir kennen alle diese Argumente; wir wissen das. Aber die Antwort ist: Die funktionieren gerade nicht. – Und die Frage, was die Russen machen werden, wird erst dann beantwortet, wenn wir ihnen das Thema vor die Nase halten und sie sich positionieren müssen. Ich will sehen, wie Herr Putin auf die Anfrage der Kanzlerin reagiert, wenn es heißt: Wir werden eine Luftbrücke einrichten. Warum bist du eigentlich dagegen? Im Sinne dessen, was Deutschland bereits im Rahmen der International Syrian Support Group zugesagt hat und was wir in unseren Antrag aufgenommen haben, möchte ich um Zustimmung zu unserem Kernsatz bitten – ich zitiere –: „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Vereinten Nationen und das WFP unterstützen, eine Luftbrücke für alle notleidenden Menschen in Syrien einzurichten“. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Erika Steinbach hat als nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Erika Steinbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Grausame Bilder und Berichte erreichen uns fast tagtäglich über die Bildschirme aus der umkämpften Stadt Aleppo, aber auch aus anderen Regionen. Sie schockieren jeden, der ein Herz im Leibe hat. Trotzdem fühlt man sich hilflos; das muss man hinzufügen. Vor den Augen der Welt wurde und wird wieder und wieder durch Bombardierungen der Zivilbevölkerung das Völkerstrafrecht mit Füßen getreten. An die 250 000 Menschen harren jetzt im Ostteil der Stadt Aleppo unter widrigsten Lebensbedingungen in Trümmern aus. Wir sehen die Bilder: Es sind zerstörte Häuser. Kurzzeitig gab es die Hoffnung, den bereits lange eingeschlossenen Menschen dringend benötigte humanitäre Hilfe leisten zu können. In einer mühsam ausgehandelten Waffenruhe Mitte September sollte ein Hilfskonvoi dorthin geführt werden, um den ausgehungerten und durstenden Menschen, die von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten waren, Hilfe zu geben. Das wäre nur eine notdürftige Versorgung gewesen. Aber der mutmaßlich russisch-syrische Luftangriff auf diesen gut gekennzeichneten Konvoi machte diese Hilfe zunichte. Das war und ist ein kaum zu fassendes Verbrechen. Wir sehen zunehmend in verschiedenen Regionen der Welt, dass internationale Menschenrechts- und Völkerrechtsstandards permanent gebrochen werden. Es gibt Vereinbarungen, um die Zivilbevölkerung zu schützen; aber immer wieder halten sich Regierungen und Interessengruppen nicht daran. Wir sehen mit Entsetzen, dass die Leidtragende immer und immer wieder allein die Zivilbevölkerung ist, nahezu schutzlos ausgeliefert. Wenn die vergangenen sechs Jahre des Sterbens in Syrien eines gezeigt haben, dann das, dass dieser Krieg nicht militärisch entschieden werden kann, solange er unablässig von außen befeuert wird und solange Russland dort seine Finger im Spiel hat und Waffen liefert und mit Flugzeugen engagiert ist. Wir wissen, wie die Gemengelage ist: Es ist ein fast unauflösbarer Knäuel an Problemen. Die Leidtragenden sind die Syrer, die syrische Zivilbevölkerung. Das Assad-Regime ist willens, den Konflikt im Windschatten der Schlacht um Mosul und im politischen Vakuum vor den US-Präsidentschaftswahlen militärisch zu entscheiden. Wir müssen ja sehen: Die Vereinigten Staaten sind durch den Wahlkampf in gewisser Weise gelähmt, sodass militärische Optionen aus dieser Perspektive nicht in Betracht kommen. Die Einrichtung einer Luftbrücke hat der Außenminister ja schon einmal angesprochen. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, Herr Nouripour, welche süffisanten Bemerkungen ihm aus Ihrer Fraktion entgegengehalten worden sind. Vor dem Hintergrund habe ich mich über den Antrag der Grünen schon sehr gewundert. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war jetzt aber sehr kryptisch!) Die Einrichtung einer Luftbrücke zur Versorgung der eingeschlossenen syrischen Bevölkerung bleibt eine der wenigen Möglichkeiten auch seitens der Bundesregierung, um wenigstens die dringend benötigte humanitäre Hilfe leisten zu können. Sie muss aber realisierbar und kalkulierbar sein. Ich habe als Kind in Berlin gelebt, als es während der Blockade eine Luftbrücke gab. Das ist aber nicht vergleichbar; denn da schoss niemand auf die Flugzeuge. Man darf die Realität nicht aus den Augen verlieren. Da die Bundesregierung schon seit geraumer Zeit sich nicht nur intensiv Gedanken macht, sondern mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten tut, was machbar ist – Deutschland braucht sich wirklich nicht zu verstecken –, ist der Antrag der Grünen überflüssig. Danke schön. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Ute Finckh-Krämer [SPD]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche erst einmal direkt die Kollegen der Grünen an: Ich werde eurem Antrag zustimmen. Die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen, und nach der Rede des Kollegen Nouripour fällt mir das eigentlich noch schwerer. Ich werde aber zustimmen, weil wir eine Sache in den Vordergrund stellen wollen: Es muss alles getan werden, um das Morden und Töten zu stoppen und den Menschen das Überleben zu ermöglichen. Das ist es, was uns bewegt. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn man sich auf diese Position begibt, wird man derzeit vieles aus den Auseinandersetzungen herausnehmen müssen. Natürlich muss man über die Zukunft Syriens nachdenken, wenn dieser verfluchte Krieg irgendwann einmal zu Ende ist. Natürlich muss man mit den Menschen aus Syrien über diese Zukunft nachdenken. Natürlich muss man ein bisschen hinhören, über was sie selbst diskutieren. Ich habe von vielen Syrern, die in Menschenrechtsorganisationen arbeiten, gehört, dass sie die Forderung, sich jetzt an den Internationalen Strafgerichtshof zu wenden, als kontraproduktiv bewerten. Sie schlagen vor, eine Wahrheitskommission einzurichten und Versöhnungsrunden – wie immer man das nennen möchte – durchzuführen, ähnlich dem, was in Südafrika erfolgt ist. Ich finde das vernünftig. Ich will nichts in die Debatte einbringen, was den Prozess, das Überleben sicherzustellen, gefährdet oder schwieriger macht. Ich bin froh, dass Putin in Berlin zugesagt hat, die Feuerpause zu verlängern. Man kann sagen, das sei viel zu wenig etc.; aber es rettet Menschen das Leben, und ich bin froh, dass das passiert ist. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte, dass dieser Prozess weitergeführt und verstärkt wird. Warum soll man denn eine Tür, wenn sie einen Spalt weit offen ist, wieder zuschmeißen und sagen: „Putin, der Kriegsverbrecher“? Wenn eine Tür ein wenig offen ist, dann muss man durchgehen und darf man nicht erneut Sanktionen fordern, auch wenn das jetzt über die EU-Ebene in Gang gesetzt werden soll. (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist ja sehr nativ, Herr Gehrcke!) Wer das macht, nimmt es nicht ernst damit, den Menschen das Überleben zu sichern. Ich habe den Eindruck – entschuldigen Sie, wenn ich das so zugespitzt sage –, dass für einen Teil dieses Haus antirussische Propaganda wichtiger ist als die Sicherung des Überlebens. Das ist bei mir nicht der Fall. (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Unverschämtheit! – Erika Steinbach [CDU/CSU]: Unglaublich!) – Ja, regen Sie sich ruhig auf. Das ist so. Wir stimmen dem Antrag der Grünen, in dem es um humanitäre Hilfe geht, zu. Man kann unsere Syrien-Politik insgesamt kritisieren – das ist mir relativ egal; ich finde es auch in Ordnung, da wir uns ja darüber streiten –; aber wir unternehmen den Versuch, mit Russland, aber auch anderen zu der Einsicht zu kommen, dass Bomben keinen Frieden bringen können. (Michael Brand [CDU/CSU]: Wer wirft denn die Bomben?) Ich habe Sie schon auf die Heuchelei aufmerksam gemacht, dass Sie nicht in der Lage sind, die türkischen Luftangriffe auf die Kurdinnen und Kurden hier öffentlich zu kritisieren, (Beifall bei der LINKEN) während Sie sich über das, was in Aleppo passiert, das Maul zerreißen. Dieses Mit-zweierlei-Maß-Messen hilft überhaupt nicht weiter. Entweder man hält eine Linie durch – Bomben bringen keinen Frieden; das gilt aber überall –, oder man sagt: Unsere Freunde und Verbündeten dürfen bomben, andere aber nicht. – Es macht Sie in der Öffentlichkeit sehr unglaubwürdig, dass Sie das nicht reparieren können. (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Herr Gehrcke, Ihnen ist Putin doch wichtiger als die Menschen in Syrien!) Ich bin häufiger in Syrien. In den Flüchtlingslagern diskutiere ich mit Syrern darüber, ob sie in den Flüchtlingslagern nicht Zeitungen herausgeben wollen. Es gibt viele linke Syrer, die über die Zukunft ihres Landes nachdenken. Das möchte ich gerne mit ihnen machen. Ich fände es auch nicht schlecht, wenn wir uns in dieser Art und Weise – Stichwort „Refugees Welcome“ – auch darum bemühen würden, sie in die politischen Prozesse einzubinden und nicht auszugrenzen. (Michael Brand [CDU/CSU]: Wir sorgen dafür, dass die Leute nicht flüchten müssen!) Das ist die Linie unserer Fraktion, und darauf bin ich auch ein Stück weit stolz. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat Dr. Ute Finckh-Krämer für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Ich glaube, wir sollten festhalten, an welchen Punkten wir uns wirklich einig sind. Wir sind uns einig, dass in Syrien Völkerrechtsverbrechen geschehen. Wir sind uns einig, dass, wenn ein Waffenstillstands- und Friedensprozess in Syrien beginnt, der Zeitpunkt gekommen ist, darüber zu reden, wie man mit diesen Kriegsverbrechen nach dem Völkerstrafrecht oder nach einem in Syrien entwickelten Modell umgehen muss. Wir sind uns einig, dass es im Augenblick sinnvoll ist, zu dokumentieren, was wir von hier aus dokumentieren können. Darum geht es in dem einen Antrag, der uns vorliegt. Darüber werden wir im Menschenrechtsausschuss, wenn er dorthin überwiesen wird, mit Sicherheit sachlich diskutieren können. Es gibt einen anderen Antrag, über den heute abgestimmt wird. Ich bin ein klein bisschen irritiert, Wolfgang Gehrcke, weil die Linke diesen Antrag im Menschenrechtsausschuss abgelehnt hat. In diesem Antrag steht einerseits sehr viel Richtiges dazu, wie notwendig humanitäre Hilfe ist. Andererseits wird eine Einzellösung in den Vordergrund gestellt, nämlich die Einrichtung einer Luftbrücke. Ich finde es richtig, dass Frank-Walter Steinmeier im August gesagt hat: Wir prüfen, ob Luftbrücken eine Möglichkeit sind, um mehr Menschen humanitär versorgen zu können, als das zum jetzigen Zeitpunkt möglich ist. – Aber eine Prüfung kann auch ergeben, dass es nicht funktioniert. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss er sagen!) Ich war mit mehreren Kolleginnen und Kollegen von der AG Menschenrechte der SPD am 19. September in Genf. Wir haben dort mit Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gesprochen, die sehr skeptisch waren, was mögliche Luftbrücken angeht. Es gibt zwar Einzelfälle, in denen das funktioniert hat. Aber das waren Gebiete, in denen relative Sicherheit herrschte und man davon ausgehen konnte, dass die Flugzeuge nicht abgeschossen werden. Wir haben auch mit Vertretern der Vereinten Nationen aus dem Bereich „humanitäre Hilfe“ gesprochen; sie waren ebenso skeptisch. Sie hatten ganz andere Sorgen. Ihre Sorge war: Reicht das Geld, das das World Food Programme, die Vereinten Nationen und die internationalen Hilfsorganisationen bekommen, die noch Zugänge nach Syrien haben, zum Teil über den syrischen Roten Halbmond, deren Mitarbeiter in den Flüchtlingslagern in der Türkei und im Libanon arbeiten? Bekommen sie auch genügend diplomatische Unterstützung für die Zugänge, die sie gerne haben wollen? Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Frau Finckh-Krämer, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Franziska Brantner zu? Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Ja. Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie weisen auf ein anderes, ebenfalls richtiges Problem hin, nämlich dass die Mittel für das World Food Programme und andere Organisationen nicht ausreichen. Wie stehen Sie dazu, dass der Haushaltsansatz der Bundesregierung für 2017 unter dem liegt, was 2016 schon nicht gereicht hat, und daher Millionenbeträge fehlen? Das müsste man angehen. Da sind wir gar nicht gegen Sie. Das schließt einander nicht aus. Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Ich habe erst gestern das letzte Mal gesagt, dass wir als SPD dafür kämpfen, dass der Haushaltsansatz für 2017 mindestens so hoch ist wie im Jahr 2016. Diese Bitte haben wir übrigens auch aus Genf mitgebracht. Wir haben diesen Wunsch an die Kolleginnen und Kollegen der CDU und an unsere Haushälterinnen und Haushälter weitergegeben. Vielleicht ist eine Folge dieser Diskussion, dass dem Wunsch von unseren Haushälterinnen und Haushältern entsprochen wird. Da bin ich für jede Unterstützung dankbar. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verschenken Monate an Planungssicherheit für die Hilfsorganisationen! Damit wird alles teurer! Die Flugzeuge, die Nahrungsmittel, alles wird teurer!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Ich möchte darauf hinweisen: Sie können Zwischenfragen stellen statt dazwischenzurufen. Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Wenn wir mit dem Bundeshaushalt für 2017 den gleichen Betrag verabschieden, wie wir ihn für 2016 hatten, verschenken wir nichts in der Planungssicherheit. Das entsprechende Referat im Auswärtigen Amt kann und darf nämlich erst dann planen, wenn der Bundeshaushalt verabschiedet ist, und nicht schon dann, wenn er eingebracht ist oder wenn irgendwelche Beschlüsse im Auswärtigen Ausschuss gefasst wurden, diesen Etat zu erhöhen. Erst mit Verabschiedung des Bundeshaushaltes können Gelder zugewiesen werden. Vorher können Gelder aus Verpflichtungsermächtigungen zugewiesen werden, die im jetzigen Haushalt eingestellt sind. Insofern verschenken wir nichts, wenn es im November beschlossen wird, und dafür werben wir ja mit allen Möglichkeiten. Dafür habe ich gestern geworben, und dafür werbe ich heute. Ich hoffe, dass die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU uns dabei unterstützen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Ich habe gesehen, unser Ausschussvorsitzender und auch der Fachberichterstatter haben geklatscht. Wir haben also eine gewisse Chance. Luftbrücken sind immer die teuerste und die riskanteste Möglichkeit. Weil wir tatsächlich die Möglichkeit haben, mit Putin, mit Russland über humanitäre Zugänge nach Ost-Aleppo zu verhandeln, dann ist es auf jeden Fall besser, über Zugänge mit Hilfskonvois zu verhandeln als über eine Luftbrücke. Insofern bin ich auch froh und dankbar, dass gestern Abend und heute Nacht in Berlin nicht nur über die Ukraine gesprochen wurde, sondern auch über die Situation in Syrien. Manche Dinge, über die gesprochen wird, bleiben zu Recht vertraulich. Ich weiß also nicht, wie viel von dem, was an Ergebnissen zu Syrien erzielt wurde, die Bundesregierung an die Öffentlichkeit gibt. Aber es ist verhandelt worden. Insofern hoffe ich, dass es auf dieser Ebene möglichst viele Verhandlungen geben wird. Vielleicht sind es auch manchmal vertrauliche Verhandlungen, vertrauliche Verhandlungen zu humanitären Zugängen, zum Beenden von Luftangriffen, zum Einhalten von Waffenstillständen und zum Einhalten von Versprechen, nicht zu bombardieren, deren Ergebnisse nicht gleich am Pult des Deutschen Bundestages verkündet werden können. Es ist klar: Das wird auf allen Ebenen verhandelt. Da sind im Auswärtigen Amt viele Leute dran, und damit ist auch Frank-Walter Steinmeier tags und manchmal auch nachts beschäftigt. Aber es ist nicht so, dass jetzt ein Einzelpunkt wie eine Luftbrücke herausgegriffen und als Lösung des Problems aufgefasst werden kann. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es könnte eine Lösung sein!) – Es gab ja zwei Luftbrücken, da wo es sicherheitstechnisch möglich war und wo diejenigen, die belagert haben, in Verhandlungen nicht zugänglich waren. Insofern halte ich das durchaus für sinnvoll und fachlich angemessen, was unsere Bundesregierung und insbesondere das Auswärtige Amt dort macht. (Beifall bei der SPD) Insofern hoffe ich, dass wir durch die heutige Diskussion noch einmal mehr Unterstützung für eine Aufstockung des Etats für humanitäre Hilfe im Bundeshaushalt 2017 bekommen. Ich hoffe auch, dass wir im Menschenrechtsausschuss zu einer konstruktiven Diskussion über die Frage kommen, was wir von Deutschland aus tun können, um einen Beitrag zu einer juristischen Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in Syrien und im Irak zu leisten. Danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als letzter Redner in dieser Aussprache hat Tobias Zech für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Tobias Zech (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir erleben zurzeit in Syrien die größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich habe gestern mit Christian Springer telefoniert. Er ist der Vorsitzende einer NGO, die nicht nur für die Länder um Syrien, sondern auch immer noch in Syrien aktiv ist und sich um die Menschen vor Ort kümmert. Er hat mir live geschildert, was passiert: Es gibt keine Nahrung, keine Medikamente und keine medizinische Versorgung mehr. Menschen, die in Aleppo versuchen, zum Arzt zu kommen, werden von Snipern, von Scharfschützen, anvisiert und angegriffen, wenn sie den Stadtteil verlassen. Bis Dienstag gab es ein Dauerbombardement nicht nur von Fassbomben, sondern mittlerweile auch von bunkerbrechender Munition, die jegliches Leben auch in Kellern, wo man sich mit seiner Familie versteckt, zerstört: ein unheimliches Leid, und das direkt vor unserer Haustür. Somit ist es ganz klar, dass es unser gemeinsames Ziel in diesem Haus sein muss, dieses Leid, diese Katastrophe, diesen Wahnsinn in Syrien zu beenden, und zwar nachhaltig zu beenden. Jetzt liegt uns ein Antrag vor. Es gibt unterschiedliche Auffassungen, wie man sich mit so etwas beschäftigen kann. Herr Nouripour, Sie erlauben mir jetzt schon – – (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich erlaube Ihnen alles! – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) – Sie erlauben mir alles. – Ich habe diesen Antrag gelesen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist schon mal gut!) Das sind ja auch nur zwei Seiten. (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist ein Schaufensterantrag. Ich kann es nicht anders sagen. Allein zum Beispiel Deir al-Sor, das Sie im Zusammenhang mit der Luftbrücke nennen, muss ich sagen: In Deir al-Sor gibt es keine Luftbrücke, sondern dort werden Airdrops verwendet. Es sind High Altitude Airdrops, Ladungen mit Medikamenten und Nahrung. Wissen Sie, Herr Nouripour, das können Sie im Feld machen. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Im urbanen Gelände geht das nicht. Es funktioniert nicht. Sie fordern eine Luftbrücke. Sie funktioniert dort nicht. Airdrops können Sie in Aleppo nicht verwenden. Das Zweite. Sie sprechen in Ihrem Antrag wiederum Deir al-Sor und die Sicherung des Luftraums durch das syrische Regime an. Das ist genau der Fall. Sie haben einfach die Beispiele verwechselt. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein, nein!) Es gibt eine diametral andere Situation. Sie erwecken Hoffnungen für die Menschen, die Sie niemals erfüllen können. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie denn nicht zu?) Das ist Schaufensterpolitik und hat mit der Situation vor Ort nichts zu tun, vor allem nicht mit der Ernsthaftigkeit der Lage. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie haben die Hoffnung aufgegeben!) Dritter Punkt. Sie fordern in Ihrem Antrag – ich zitiere, Frau Präsidentin –: Die Staaten der ISSG müssen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Vereinten Nationen und das WFP unterstützen, eine Luftbrücke … einzurichten. Lieber Wolfgang Gehrcke, ihr unterstützt diesen Antrag. (Zustimmung des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) Ich finde es gut, wenn ihr euch hier produktiv beteiligt. Aber ich habe die Linke in den letzten drei Jahren im Parlament immer gegen Militäreinsätze erlebt. Wenn im Antrag „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“ steht, so ist das kein Ausschluss von Militär. Das ist der Bundeswehreinsatz in Syrien, der hier unter der Hand gefordert wird. Dafür sind wir nicht zu haben. Es wundert mich sehr, dass ihr dem zustimmt. (Beifall bei der CDU/CSU – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Satz: „Lesen bildet“, hilft manchmal doch nicht!) – Ich habe ihn gelesen. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie jetzt der Herr Gehrcke?) – Ich bin noch gar nicht fertig mit Ihrem Antrag. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Wie gesagt: Es steht nicht viel drin. Aber alles, was drinsteht, ist falsch. Herr Nouripour, das World Food Programme soll diese Luftbrücke machen. Ich habe mich mit dem Chef vom World Food Programme zufällig am Dienstag unterhalten. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben das nicht zufällig gemacht! Wir haben es geplant!) Wissen Sie, was der zu mir sagt? Er sagt: Wir halten überhaupt nichts von der Idee. Wir können das gar nicht. Wir möchten das in Aleppo so gar nicht machen, weil wir keine Sicherung haben und weil wir die Airdrops, die wir anwenden, gar nicht durchführen könnten. Ich kann Ihnen nur empfehlen, dass Sie sich, bevor Sie solche Anträge stellen, mit denen unterhalten, die das durchführen müssen, und auf sie hören. Denn Sprechen hilft auch, Lösungen zu generieren. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie eigentlich gelesen?) Nächster Punkt: Sprechen hilft, Lösungen zu generieren – das haben wir gestern erlebt. Gestern gab es eine Konferenz in Berlin mit François Hollande, Angela Merkel und Wladimir Putin, die sich nach der Normandie-Runde auch darüber unterhalten haben. Sie haben auch darüber gesprochen – da können wir der Bundeskanzlerin dankbar sein –, wie wir in Syrien diplomatisch vorgehen. Darum geht es. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Herr Kollege Zech, die Kollegin Brantner hat eine Zwischenfrage. (Zuruf von der SPD: Ach, Franziska!) Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir machen es kurz. – Herr Zech, Sie haben darauf hingewiesen, dass das World Food Programme sagt: Wir brauchen Sicherheit. – Das ist alles gut. Uns geht es darum, Assad und Russland damit zu konfrontieren und zu sagen: Wir sind bereit, Hilfe zu liefern. Dann müssen wir schauen, wie die Reaktion ist. Uns geht es nur darum, wenigstens diesen Schritt zu machen und zu sagen, dass wir bereit sind, das zu tun. Dann werden wir sehen, wie die Reaktion ist. Tobias Zech (CDU/CSU): Frau Brantner, vielen Dank für die Frage. Ich sage Ihnen nur – darf ich zweimal zitieren, Frau Präsidentin? – als Antwort – ich zitiere aus Ihrem Antrag –: II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, … Die Staaten der ISSG müssen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Vereinten Nationen und das WFP unterstützen, eine Luftbrücke für alle notleidenden Menschen in Syrien einzurichten. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aus Ihrem eigenen Beschluss! Da hat Ihre eigene Bundesregierung zugestimmt! – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre eigene Regierung hat zugestimmt!) E-Mail des World Food Programme heute an mich – ich zitiere –: Zu Ihrer Anfrage habe ich nochmals Rücksprache mit unserem Landesbüro in Syrien gehalten, was darauf hingewiesen hat, dass eine Luftbrücke oder Airdrops für Aleppo keine Option darstellen. Das, Frau Brantner, ist die Antwort auf Ihre Frage. Machen Sie Ihre Hausaufgaben richtig, (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie richtig Anträge, und nicht irgendwas, was Sie sich ausgedacht haben!) machen Sie hier vernünftig Politik, (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Zitat Ihrer Regierung!) unterhalten Sie sich mit den Menschen, die das umsetzen müssen, (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie zitieren aus den Beschlüssen der Bundesregierung!) und kommen Sie sonst nicht daher und stellen Anträge! Ich darf fortführen: Wir haben seit dieser Woche wieder ein bisschen Hoffnung. Vielen Dank noch einmal an die Bundeskanzlerin für das Format gestern. Seit Dienstag gibt es kein Bombardement mehr. Wir haben bis Samstag – wenn auch nur kurz, aber immerhin jeden Tag – elf Stunden Waffenruhe in Aleppo. Ab morgen werden die ersten Menschen über acht Flucht- bzw. Rettungswege evakuiert. Das ist angesichts der Tragik der Situation ein Lichtblick. Lassen Sie uns doch gemeinsam dafür kämpfen, dass aus der Waffenruhe ein Waffenstillstand und aus dem Waffenstillstand irgendwann Frieden wird. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Der Kollege Gehrcke erhält das Wort für eine Kurzintervention. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Es tut mir leid, aber ich kann natürlich nicht stehen lassen, was der Kollege Zech eben vorgetragen hat, nämlich dass ich möglicherweise für irgendwelche Militäreinsätze oder sogar für einen Bundeswehreinsatz in Syrien bin. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist nicht drin! – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht auch nicht drin!) Das hat sonst auch keiner vermutet, nehme ich an. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist richtig!) Wenn das Ihr Problem ist, dann sollten Sie lieber mit Ihrem Kollegen Roderich Kiesewetter reden, der genau dies fordert. Ich bin jedenfalls der völlig falsche Adressat. Ich gehe natürlich davon aus, dass man, wenn man alle Möglichkeiten der Hilfe nutzen und etwas aus der Luft nach Syrien liefern will, mit der syrischen Regierung – mit wem denn sonst? – verhandeln muss. (Tobias Zech [CDU/CSU]: Das steht da aber nicht drin!) – Ich sage Ihnen das doch. (Tobias Zech [CDU/CSU]: Du stimmst doch zu!) Die syrische Regierung muss zustimmen, weil es sich um ihr Land und ihren Luftraum handelt. Sonst kann man es nicht absichern. Sollten die Grünen zu der Position gekommen sein – das würde mich erfreuen –, dass man auch mit der syrischen Regierung – das ist noch immer Herr Assad – verhandeln muss, (Michael Brand [CDU/CSU]: Wenn es das Gewissen erleichtert, dann gerne, Herr Gehrcke!) dann macht es mir das leichter; denn ich möchte, dass den Menschen geholfen wird. Das kann man sicherlich sehr unterschiedlich sehen. Aber nur durch Verhandlungen sind entsprechende Absicherungen zu erreichen, nicht durch Militäreinsätze und auch nicht durch Drohungen. Das wollte ich hier nur einmal deutlich machen. Ich glaube, dass ein Großteil meiner Fraktion das anders sieht. Aber ich sehe das so und vertrete es auch. Ich bin für Verhandlungen, auch für Verhandlungen mit Assad. Ich bin dafür, dass Hilfslieferungen abgesichert werden, aber nicht militärisch, sondern durch Absprachen und Verträge; diese gilt es zu schließen. Danke sehr. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Herr Kollege Zech, Sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung. Tobias Zech (CDU/CSU): Lieber Wolfgang Gehrcke, vielen Dank für die Klarstellung. Aber dann liegt es garantiert an mir und daran, dass ich den einen Satz im Antrag der Grünen, den ihr unterstützt, nicht richtig verstanden habe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Immer erst klatschen, wenn ich fertig bin! – Dort steht: „Die Staaten der ISSG müssen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln …“ „Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“ schließt – das ist, glaube ich, allgemein bekannt und entspricht auch meinem Wissensstand; vielleicht kann ich noch aufgeklärt werden, wenn ich hier falsche liege – Militär explizit nicht aus. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Bundesregierung hat zugestimmt!) Das ist die Wahrheit. Die Linke stimmt heute somit auch militärischen Maßnahmen zu. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Satz aus eurem Regierungsdokument, den wir zitiert haben!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache. Tagesordnungspunkt 13 a. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/10031 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Dort kann die Debatte fortgesetzt werden. Die Federführung soll beim Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe liegen. Sind Sie damit einverstanden, dass wir diesen Antrag an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe überweisen? – Das ist der Fall. Tagesordnungspunkt 13 b. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Syrien – Luftbrücke einrichten, humanitäre Not lindern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9939, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/9687 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition und den Stimmen der Mehrheit der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und die Stimme von Herrn Gehrcke angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Schutz vor Biowaffen ausbauen – Das Biowaffenübereinkommen stärken Drucksache 18/10017 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Aussprache hat Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Thema, das wir soeben im Plenum behandelt haben und bei dem ich zum Ende oft dachte, dass die Ernsthaftigkeit beim Thema Syrien nicht mehr gewährleistet ist, sind wir beim nächsten ernsthaften Thema, nämlich dem Einsatz von biologischen Massenvernichtungswaffen, deren Anwendung heute durch staatliche und nichtstaatliche Akteure nicht sehr wahrscheinlich ist. Daher könnten wir es uns jetzt einfach machen und uns nicht weiter mit dem Thema beschäftigen, nach dem Motto: Die Gefahr ist weitgehend gebannt. Wir Abrüster kümmern uns um etwas anderes. Die Vision des Grauens eines Biowaffenanschlags ist eher Stoff fürs Kino. – Doch gerade diese Einschätzung wäre töricht, müssen wir doch heute dankbar sein, dass bereits 1925 – damals im Angesicht des Ersten Weltkriegs und dessen Opfer – durch das Genfer Protokoll und 50 Jahre später, 1975, durch die Unterzeichnung des BWÜ Weichen für eine zivilisiertere Welt ohne Biowaffen gestellt wurden. Doch geringere Wahrscheinlichkeit heißt nicht keine Wahrscheinlichkeit. Sie bedeutet Verantwortung für uns alle in der Politik. Die letzten Jahre und gerade Syrien lehren uns: Wir wissen nicht, wo, wann und wie sich in 5, 10 oder 50 Jahren staatliche Strukturen auflösen. Wir wissen nur eins – das ist bedauerlich –: Wir wissen, dass es passiert. Und wir wissen, dass terroristische Gruppierungen die Macht übernehmen können, Regierungen in Versuchung geraten können, weil es einfach ist, auf diese menschenverachtenden Waffen zurückzugreifen. Mit Syrien hat ausgerechnet ein Staat die Kontrolle über sein Staatsgebiet verloren, der zwar Unterzeichner dieses Abkommens ist, trotzdem jedoch weiter an biologischen Waffen gearbeitet hat. Noch schlimmer: Ausgerechnet dieser Staat ist es, auf dessen Gebiet nicht zuletzt Daesh, der sogenannte „Islamische Staat“, versucht, Strukturen aufzubauen, die als Voraussetzung für die hochkomplexe Arbeit an potenziellen biologischen Waffen gelten. Wir sehen also: Die Gefahr ist, wie ich sagte, keineswegs gebannt, und die Gefahr kleinzureden, wäre töricht, gerade wenn wir bedenken, dass bereits ein kleiner biologischer Angriff, beispielsweise durch Terrororganisationen, großen Schaden anrichten kann. Wir erinnern uns noch, wie vor einigen Jahren selbst die Rentnerin zu Hause beim Öffnen eines Kuverts Angst und Schrecken vor einem möglichen Milzbrandanschlag hatte, weil Anthrax und Ähnliches in den Medien nicht nur zu hören war, sondern tatsächlich aufgefunden worden war. Vorstellungen, an die ich nicht denken möchte, sind die körperlichen Schäden, aber auch die tiefe Erschütterung des Sicherheitsgefühls der Menschen, die sich einem potenziellen Angriff ständig ausgesetzt sehen. Deshalb ist das BWÜ so wichtig. Es leistet weiterhin einen essenziellen Beitrag zur internationalen Sicherheit und zu unserer. Daher ist es notwendig, seine nationale Implementierung weltweit zu verbessern, fehlende Staaten zu integrieren, Vertragstreue herbeizuführen und unserer Bevölkerung zu signalisieren, dass wir für Sicherheit sorgen, im Inland und international. In Deutschland beschäftigt uns dabei im Besonderen die Gefahr, die aus Forschungsergebnissen, die zur Herstellung von Waffen eingesetzt werden könnten, resultiert. Wir appellieren hier an das vorhandene hohe Verantwortungsgefühl unserer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die wir im ständigen Dialog – Stichwort: Dual-Use-Problematik – unterstützen müssen und wollen. Forscherinnen und Forscher, die uns sowohl durch ihre biowissenschaftlichen Kenntnisse vor gefährlichen Erregern schützen können als auch durch ihre Beiträge, unter anderem die Beiträge der Friedensforschung, in der Lage sind, uns Unterstützung zu geben, brauchen auch Unterstützung von uns. Dieser Zweiklang aus internationaler Vertragstreue zum Biowaffenübereinkommen einerseits und einer national hochverantwortlichen Forschung und Wissenschaft andererseits kann uns auch weiterhin zuverlässig vor Biowaffen schützen, in Deutschland, in Europa und in der Welt. Deshalb bitten wir für die Koalitionsfraktionen um Zustimmung zu unserem Antrag. Danke schön. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Kathrin Vogler hat als nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Biologische Waffen sind ja ein eher weniger beachtetes Problem bei der Rüstungskontrolle. Das mag wohl daran liegen, dass sie weniger mit Bildern verknüpft werden als beispielsweise Atom- oder Chemiewaffen. Wenn wir darüber sprechen, haben wir vor unserem inneren Auge sofort die fürchterlichen Bilder aus Hiroshima und Nagasaki, aus Vietnam oder aus der kurdischen Stadt Halabdscha. Aber zum Beispiel die 350 000 Menschen, die 1942 in China durch einen Angriff der japanischen Streitkräfte mit Pesterregern umkamen, sind nicht in unserem kollektiven Gedächtnis angekommen. Als politisch Verantwortliche sollten wir aber nicht nur zurückschauen, sondern alles dafür tun, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen. Die Gefahr durch Biowaffen ist durch die Fortschritte in der Gentechnik rasant gestiegen. Heute ist es technisch überhaupt kein Problem, Mikroorganismen durch Gentechnik so zu verändern, dass auch Antibiotika oder Impfungen nicht mehr helfen. Und es wird zunehmend schwerer, abzugrenzen, welche Forschung dem Schutz vor Infektionen dient und welche der Entwicklung von Kampfstoffen. Mit dem Biowaffenübereinkommen von 1971 haben die Vereinten Nationen ein wichtiges Vertragsdokument geschaffen. Was diesem aber fehlt, sind verbindliche Kontrollinstrumente. 2001 war man fast so weit, ein solches Kontrollsystem auf den Weg zu bringen. Doch die USA ließen die Verhandlungen kurz vor dem Abschluss platzen. Dies war das Jahr – wir erinnern uns –, in dem in den USA Milzbranderreger auftauchten, die aus dem Biowaffenforschungslabor der US-Militärs in Fort Detrick stammten. Auch in Russland wurde wohl trotz des Biowaffenabkommens noch jahrelang weiter geforscht, zum Beispiel auch mit dem Ebolavirus. All das zeigt: Ohne ein wirksames Kontrollsystem bleibt die Biowaffenkonvention unvollständig. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nur wenige Länder beteiligen sich bisher an den freiwilligen Kontrollen. Deutschland ist dabei Vorreiter und deshalb auch ein glaubwürdiger Fürsprecher für bessere und verbindlichere Kontrollen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen weist daher in eine richtige Richtung. Vielen Punkten, die Sie auflisten, können wir problemlos zustimmen. Sie stecken aber auch in dem Dilemma, dass Sie unter den Regierungen noch viel zu wenig Verbündete haben. Wenn es nicht gelingt, auch die USA, Russland und all die anderen Länder für eine verbindliche Offenlegung ihrer Biowaffenforschung zu gewinnen, kommen wir auf diesem Feld nur sehr langsam voran. Da wünsche ich mir von dieser Bundesregierung doch mehr Biss, vor allem auch in Richtung der US-Regierung. (Beifall bei der LINKEN) Sie vernachlässigen wichtige Faktoren, die wir selbst beeinflussen können, wenn wir es denn wollen. Dazu nenne ich einmal drei Punkte, die in Ihrem Antrag fehlen. Erstens. Es ist richtig und gut, dass Sie die Forscherinnen und Forscher für die Biowaffenproblematik sensibilisieren und der Ethik in den Naturwissenschaften mehr Raum verschaffen wollen. Wir als Linke würden da weitergehen. Wir wollen, dass sich das Militär aus der Wissenschaft heraushält, und unterstützen deshalb die Bewegung für Zivilklauseln an Hochschulen und Forschungseinrichtungen. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Biowaffen haben auch eine verheerende psychologische Wirkung auf die Bevölkerung. Der beste und wirksamste Schutz davor sind gute öffentliche Gesundheitssysteme in jedem Land. Das bedeutet hier in Deutschland, die Privatisierung und Profitorientierung im Gesundheitswesen zurückzudrängen und Gesundheit als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge zu gestalten. Weiter bedeutet es, entwicklungspolitisch andere Länder viel stärker beim Aufbau solcher Gesundheitssysteme zu unterstützen, anstatt sie primär als Märkte für den Export von deutschen teuren Medizinprodukten zu begreifen. Drittens. Wo Staaten nicht bereit sind, sich in die Bioforschungskarten gucken zu lassen, da können Nichtregierungsorganisationen einen Teil der Rüstungskontrolle übernehmen. Dazu brauchen sie unsere finanzielle und politische Unterstützung. Des Weiteren benötigen wir ein Gesetz, das bedrohten Whistleblowern in Deutschland Zuflucht und Schutz gewährt. (Beifall bei der LINKEN) Die Rolle und Bedeutung der Zivilgesellschaft in der Friedenspolitik muss dieser Regierung leider immer noch erklärt werden – aber wir als Linke machen das gerne. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Robert Hochbaum hat als nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Robert Hochbaum (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer auf der Tribüne und vielleicht noch zu Hause an den Bildschirmen! Vom 7. bis zum 25. November findet in Genf – das werden manche wissen – die 8. Überprüfungskonferenz zum Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen – die Biowaffenkonvention – statt. Natürlich lassen sich weder Verlauf noch Ausgang dieser Konferenz absehen. Dennoch ist es wichtig und notwendig, dass wir ihre hohe Bedeutung für die globale Sicherheit auch hier in diesem Haus darstellen. Damit ist natürlich auch die ausdrückliche Unterstützung der Bundesregierung verbunden, die sich – da bin ich mir ganz sicher – für einen erfolgreichen Abschluss der Konferenz einsetzen wird. Dafür schon jetzt meinen herzlichen Dank! Fünf Jahre sind seit der letzten BWÜ-Überprüfungskonferenz vergangen. In der Zwischenzeit fanden natürlich weitere Treffen von Experten und Vertragsstaaten statt. Sie alle hatten ein Ziel: praktische Maßnahmen, insbesondere die heute schon genannte institutionelle Absicherung des Übereinkommens, weiter zu verfolgen und, wenn möglich, umzusetzen. Denn das zentrale Problem des Übereinkommens über das Verbot biologischer Waffen besteht natürlich gerade darin, dass es kein konkretes Verifikationsregime zur Kontrolle der Einhaltung des Vertrages beinhaltet. Die derzeit einzige Möglichkeit, einen Kontrollprozess einzuleiten, ist die Meldung an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, welche sich aber für eine effektive und permanente Überwachung der Einhaltung letztlich nur bedingt eignet. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja! Der hat auch nur drei Leute dafür!) – Nur bedingt eignet. – Versuche, dieses Problem durch ein Zusatzprotokoll zu lösen, das unter anderem Offenlegungspflichten und Kontrollinspektionen beinhalten würde, sind bisher gescheitert. Die – das wird bekannt sein – auf der Konferenz im Jahr 2006 beschlossene Implementation Support Unit, ISU, angesiedelt in der Abrüstungsabteilung der Vereinten Nationen, wurde zwar auf der Konferenz im Jahr 2011 um weitere fünf Jahre verlängert, was mit Sicherheit ein Schritt in die richtige Richtung war. Man kann jedoch aufgrund dieser Abhängigkeit von den ständigen Mandatsverlängerungen von keiner gesicherten Institution sprechen. Ein effektives Verifikationsinstrument und die nationale Implementierung aber würden dabei helfen, sicherzustellen, dass sich alle Staaten an das B-Waffen-Verbot halten und auch zumindest versuchen, entsprechende nichtstaatliche Aktivitäten in ihrem Land zu unterbinden. Darum muss es Ziel sein und bleiben, diese ISU perspektivisch auf- und auszubauen und zu einem Sekretariat einer Organisation für das Verbot biologischer Waffen aufzuwerten. Durch das bereits vorhandene, allen bekannte Technische Sekretariat der Organisation für das Verbot chemischer Waffen steht ja ein Beispiel zur Verfügung, das man jederzeit heranziehen kann. Doch nicht nur dieser Aufgabe müssen wir uns jetzt stellen, wenn es um den weltweiten Schutz vor biologischen Waffen geht. Es steht natürlich auch in diesem Bereich das Problem des Dual Use und einer damit verbundenen missbräuchlichen Verwendung oder des Diebstahls von Produkten im Raum. Es muss darum sichergestellt sein, dass weltweit Labore vor dem Zugriff terroristischer Organisationen oder anderer böswilliger Akteure geschützt sind. Denn eines wird uns sicherlich allen klar sein – die Beispiele aus Syrien der letzten Zeit haben es deutlich gezeigt –: Es muss alles getan werden, dass derartige Stoffe nicht in die Hände solch menschenverachtender Täter fallen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Dies kann aber nur funktionieren, wenn möglichst viele Vertragsstaaten – wir haben ja schon gehört, dass nicht alle Mitglieder sind – an den vertrauensbildenden Maßnahmen teilnehmen, die eine Offenlegung aller Forschungseinrichtungen und -programme beinhalten. Deutschland geht hier wieder mit sehr gutem Beispiel voran und sollte diese Vorbildfunktion nutzen, um auch die anderen Staaten näher an diese Maßnahmen heranzubringen. Die im nächsten Monat anstehende Konferenz ist damit eine gute Gelegenheit, einen Weg zu beschreiten, an dessen Ende die Umsetzung dieser Ziele stehen sollte. Lassen Sie mich an dieser Stelle also bitte die Hoffnung auf gute und erfolgreiche Verhandlungen zum Ausdruck bringen. Ich bitte um die Zustimmung des ganzen Hauses. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Agnieszka Brugger hat als Nächste das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Milzbrandattacken in den USA im Jahr 2001 haben leider gezeigt, dass auch Bedrohungen durch biologische Kampfstoffe nach wie vor ein ernstzunehmendes Szenario darstellen. Es ist eine große Errungenschaft der internationalen Abrüstungspolitik und ein wichtiger Beitrag für mehr Sicherheit, dass es gelungen ist, dass so viele Staaten diese gefährlichen Massenvernichtungswaffen international geächtet und ihre eigenen Bestände vernichtet haben. Es ist an dieser Stelle gar nicht so selbstverständlich, dass es einen solchen Verbotsvertrag gibt. Wir erleben es heute bei vielen Technologien, die im Dual-Use-Bereich liegen. So bei den Themen Drohnen oder Cyber, wo dann oft schon schulterzuckend bei der Debatte darüber, ob es nicht gewisse Regeln braucht, gesagt wird, man kann es so oder so nutzen. Trotzdem haben Technologien immer ihre spezifischen Risiken. Die werden dabei dann gefährlich ausgeblendet. Es ist eine Herausforderung, mit der Dual-Use-Problematik umzugehen. Die gibt es natürlich auch bei biologischen und chemischen Kampfstoffen. An deren Verbotsvertrag kann man sich orientieren; denn die Güter können zum Gewinn, aber auch zum Verderben der Menschheit genutzt werden. Dort wird nämlich der Zweck unter Strafe gestellt. Das macht diese Abkommen und Übereinkommen einzigartig. Meine Damen und Herren, trotzdem hat auch das Biowaffenübereinkommen seine Schwächen und kann seine Wirkungen nicht vollumfänglich entfalten; denn es fehlen Möglichkeiten zur Aufklärung von Verdachtsmomenten, aber auch Sanktionsmöglichkeiten bei Strafverletzungen. Das Stichwort „Russland“ ist schon gefallen. Auch über Syrien muss man an dieser Stelle sprechen. Wir haben in den vorherigen Debatten viel über Chemiewaffen und die grausamen Attacken, die es gegeben hat, debattiert. Aber Syrien hat auch als Signatarstaat des Biowaffenübereinkommens über Jahre hinweg trotzdem ein Forschungsprogramm in diesem Bereich unterhalten. Um das Biowaffenübereinkommen effektiv umzusetzen und die Verdachtsfälle schnell zu untersuchen, aber auch um gemeinsame Interpretationen über die einzelnen Regelungen zwischen den Staaten herzustellen oder schnell auf neue technologische Entwicklungen reagieren zu können, braucht dieses Abkommen feste Strukturen, mehr Personal und eine verlässliche Finanzierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Das haben wir Grüne in den letzten Jahren immer wieder an vielen Stellen gefordert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, mit Ihrem heutigen Antrag gehen Sie mit vielen Forderungen durchaus auch in die gleiche Richtung, in eine richtige Richtung. Aber Sie sind auch nicht ganz up to date. Wir Grüne haben erst vor kurzem einen Antrag vorgelegt: „Biosicherheit bei Hochrisikoforschung in den Lebenswissenschaften stärken“. Hier wird zum Beispiel deutlich – ähnlich hat es auch der Deutsche Ethikrat festgestellt –, dass Selbstverpflichtungen nicht ausreichen, dass es auch in diesem Bereich Lücken gibt, die man durch eine gesetzliche Regelung schließen müsste. Das sind sicherlich Punkte, wo man von Ihrem guten Antrag aus weitergehen kann und weitergehen sollte. Es steht nicht viel Falsches in dem Antrag. Daher werden wir an der Stelle auch zustimmen. Meine Damen und Herren, zum Abschluss kann ich mir aber eine kritische Bemerkung nicht verkneifen. Es ist super, dass Sie diesen Antrag vorgelegt haben, das BWÜ zu stärken, aber der abrüstungspolitische Elefant, der gerade jetzt in unserer Zeit im Raum steht, ist ein völlig anderer. Chemiewaffen und Biowaffen sind wenigstens schon verboten. Was fehlt, ist ein Verbotsvertrag zur Ächtung von Nuklearwaffen. Den gibt es nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Darüber wird gerade mit einer ganz neuen Dynamik bei den Vereinten Nationen diskutiert. Die deutsche Bundesregierung versteckt sich hier hinter den Nuklearwaffenstaaten im Lager der Bremser und Blockierer und hat gegen diese ganzen Vorschläge bei den Vereinten Nationen gestimmt, einen Prozess für ein Atomwaffenverbot auf den Weg zu bringen. Das ist mutlos, unglaubwürdig und enttäuschend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Es ist doch höchste Zeit, dass die Menschen vor diesem gefährlichen Irrsinn geschützt werden und dass alle Massenvernichtungswaffen verboten werden. Daher, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, vielen Dank für diese durchaus gute Initiative. Aber mich würde schon interessieren, was Sie dazu sagen, dass die Bundesregierung ein Atomwaffenverbot blockiert; denn wer das Biowaffenübereinkommen stärken will, der kann doch nicht ernsthaft argumentieren, dass Atomwaffen nicht auch verboten gehören. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat René Röspel für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) René Röspel (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Brugger, manchmal ist die Mücke näher als der Elefant; dann geht es eben darum, das Näherliegende zu bekämpfen. Die Konferenz zur Überprüfung der Biowaffenkonvention steht vor der Tür; deswegen bezieht sich der vorliegende Antrag zunächst einmal darauf, unabhängig davon, dass wir natürlich davon überzeugt sind, dass Nuklearwaffen von diesem Kontinent und aus der Welt verschwinden müssen; gar keine Frage. (Beifall bei der SPD) Die Älteren von uns erinnern sich vielleicht, dass vor 30 Jahren ein amerikanischer Präsident irgendwo im Weltall Hochenergielaser stationieren lassen wollte, um anfliegende sowjetische Raketen zu zerstören. Es hatte ein paar Milliarden US-Dollar und einige Jahre gebraucht, bis das sogenannte SDI-Projekt wieder verschwunden war. Die Frage, ob diese Laser ihre Aufgabe erfüllt hätten, konnte man gar nicht richtig beantworten, jedenfalls nicht auf Anhieb. Von der hohen Dimension der Physik in ganz kleine Dimensionen: Es gibt Überlegungen, Planungen, Denkansätze, Mikroorganismen, die Plastik, Mineralöl oder Gummi fressen, als sogenannte nichttödliche Waffen einzusetzen, um den Gegner und seine Gerätschaften lahmzulegen, ohne die Menschen zu treffen. Ist das eigentlich realistisch? Wir wissen, dass es nicht nur nichttödliche Waffen gibt, sondern auch hochpathogene Waffen; daran wird gearbeitet. Anthrax ist ein Beispiel dafür gewesen. Die Angst vor Milzbrand ist 2001 durch die ganze Welt gegangen. Wenn irgendwo ein Päckchen mit weißem Pulver ankam, war die Verunsicherung groß: Kann man damit großflächig töten, oder braucht es dazu nicht auch Verteilungsmechanismen, technische Mittel, um so etwas in großem Umfang zu einer Gefahr zu machen? Wir wissen seit zwei, drei Jahren, dass es gelungen ist, das Vogelgrippevirus H5N1 so zu verändern, dass es erstmals in der Lage ist, Säugetiere zu befallen. Was für eine tödliche Waffe, was für eine Biowaffe kann daraus möglicherweise entstehen? All das sind Fragen, die wir von der Politik vielleicht relativ schnell beantworten können, indem wir sagen: So etwas wollen wir nicht; aber es macht eben auch sehr viel Sinn, geeignete naturwissenschaftliche Expertise zur Verfügung zu haben. – Ich bin froh, dass ich hier als Forschungspolitiker reden darf. Ich hoffe, Antworten auf diese Fragen von denen zu bekommen, die vielleicht nicht auf der Lohnliste des militärisch-industriellen Komplexes sind und solche Waffen herstellen. Ich hoffe, von anderer Seite Antworten auf Fragen zu hören wie: Ist es realistisch, dass Anthrax verbreitet werden kann? Welche Gefahren lauern wirklich, wenn ein Vogelgrippevirus verändert wird? Wir als Bundesrepublik Deutschland sind da in den letzten Jahren glücklicherweise sehr gut aufgestellt gewesen, weil es in vielen kleinen Arbeitsgruppen in Dortmund, Darmstadt, Jülich, Karlsruhe Naturwissenschaftler gab, die sich im Forschungsverbund Naturwissenschaften, Abrüstung und internationale Sicherheit zusammengeschlossen haben, die an diesen Themen gearbeitet haben, die in der Lage waren, der Politik wissenschaftliche Expertise zur Verfügung zu stellen. Ich komme zu dem Punkt in dem Antrag, den ich noch einmal betonen will: Es ist wichtig für uns, diese Expertise in Deutschland nicht verloren gehen zu lassen. Wir brauchen die Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler genauso wie die Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler, die uns diese Fragen beantworten oder uns zumindest dabei helfen können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deswegen lautet mein dringender Appell – er findet sich im Antrag wieder –, dass wir diese Expertise nicht verloren gehen lassen und dass wir diese Forschungsmöglichkeiten stärken. Insofern danke ich der Koalition, diesen Antrag auf den Weg gebracht zu haben. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Julia Obermeier hat als letzte Rednerin in dieser Aussprache das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Julia Obermeier (CDU/CSU): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Biologische Waffen sind kein neues Phänomen. Sie sind wohl so alt wie die Geschichte des Krieges selbst. Bereits vor 2 000 Jahren bewarfen die alten Römer ihre Feinde mit Kot, um Krankheiten auszulösen. (Markus Grübel, Parl. Staatssekretär: Guten Appetit!) Auch nutzten sie Tierkadaver oder Leichen, um das Trinkwasser in Brunnen zu vergiften. Heute können biologische Waffen um ein Vielfaches tödlicher sein. Sie zählen deshalb zu den Massenvernichtungswaffen. Die bekanntesten sind wohl Anthrax und Pocken. Biologische Waffen sind gerade in den Händen von Terroristen besonders gefährlich. Ein Angriff wäre unsichtbar und lautlos. Erst Tage nach dem Freisetzen der tödlichen Viren oder Bakterien würden die ersten Menschen erkranken. Bioterrorismus ist ein Spiel mit dieser Angst; denn die Anzahl der möglichen Opfer ist sehr hoch. Im vergangenen Jahr warnte Frankreichs Premierminister nicht nur vor der Gefahr von Terroranschlägen mit chemischen, sondern auch vor der mit biologischen Waffen. Nur wenige Tage nach dem blutigen Terror in Paris sagte er: „Wir dürfen heute nichts ausschließen.“ Er verwies zwar nicht auf konkrete Pläne für Anschläge mit biologischen Waffen, doch machte seine Aussage deutlich, dass diese Bedrohung greifbar ist. Bedauerlicherweise wird dieser Gefahr nicht wie bei chemischen Waffen mit einer starken internationalen Konvention begegnet. Es gibt zwar ein Übereinkommen, das die Entwicklung, die Herstellung, den Besitz, die Weitergabe und den Einsatz biologischer Waffen verbietet, doch ist dieses, anders als die Chemiewaffenkonvention, noch ein zahnloser Tiger. Dies birgt ernstzunehmende Risiken, wie das Beispiel Syrien zeigt. Das Potenzial syrischer Chemiewaffen ist sachkundig aufgearbeitet und steht sowohl im Fokus der internationalen Gemeinschaft als auch im Fokus der breiten Öffentlichkeit. Die Gefahren von biologischen Waffen, die sich möglicherweise in den Händen des syrischen Regimes befinden, liegen jedoch im Dunkeln. So wird seit längerem spekuliert, dass Assad an einsatzfähigen Erregern wie Milzbrand, Pest, Botulinum, Cholera, Ricin, Kamelpocken und Aflatoxin arbeitet oder diese bereits besitzt. Im chaotischen Bürgerkriegsgebiet Syriens wäre das besonders problematisch. Biologische Waffen könnten, auch wenn dies laut vieler Experten eher unwahrscheinlich ist, gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden. Sie könnten auch in die Hände von Terroristen gelangen, und das, meine Damen und Herren, gilt es unbedingt zu verhindern. Es liegt daher im deutschen Interesse, das Biowaffenübereinkommen zu stärken. Dies würde die Verbreitung von biologischen Waffen zurückdrängen. Und: Es wäre ein wichtiger Schritt, um zu verhindern, dass terroristische Gruppen und andere böswillige Akteure an Biowaffen gelangen. Wir brauchen also dringend Fortschritte beim Biowaffenübereinkommen. Im November dieses Jahres findet die achte Überprüfungskonferenz des Übereinkommens statt, und diese Chance gilt es zu nutzen. Daher fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung auf, in den Verhandlungen klare Positionen zu beziehen und unter anderem folgende Punkte zu unterstützen: Mehr Staaten sollen das Übereinkommen unterzeichnen, mit dem Ziel einer weltweiten Umsetzung. Dazu braucht es vertrauensbildende Maßnahmen, um Vertragstreue zu stärken. Auch soll der UN-Generalsekretär künftig Verdachtsfälle besser untersuchen können. Und wir wollen die wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen, Herr Kollege Röspel, im Bereich der Biowaffen besser im Blick haben, um auf Entwicklungen reagieren zu können. (René Röspel [SPD]: Das ist sehr gut!) Langfristig soll das Biowaffenübereinkommen dem Chemiewaffenübereinkommen in nichts nachstehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die im Antrag vorgeschlagenen Maßnahmen tragen dazu bei, die Gefahren von Biowaffen einzudämmen. Es wäre ein starkes Signal, wenn wir dieses hohe Ziel heute mit dem Votum aller Fraktionen unterstützen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/10017 mit dem Titel „Schutz vor Biowaffen ausbauen – Das Biowaffenübereinkommen stärken“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Stimmt jemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Dann ist dieser Antrag einstimmig angenommen worden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland Claus, Stefan Liebich, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz Drucksache 18/8130 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen, und ich möchte die Kolleginnen und Kollegen bitten, ihre Plätze einzunehmen, damit wir mit der Aussprache beginnen können. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat Susanna Karawanskij für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn eine Sache ihren Sinn erfüllt hat, muss man es dabei belassen. Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören. – Das trifft aus meiner Sicht und aus Sicht meiner Fraktion auch auf das Berlin/Bonn-Gesetz zu. Es ist schlicht und ergreifend nicht zu erklären, dass wir 25 Jahre nach der deutschen Einheit immer noch eine geteilte Bundesregierung haben. (Beifall bei der LINKEN) 6 von 14 Ministerien haben ihren Sitz noch komplett in Bonn. Über 35 Prozent der Mitarbeiter in Ministerien sind in Bonn beschäftigt. 2015 gab es fast 21 000 teilungsbedingte Dienstreisen zwischen Bonn und Berlin. (Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Was das an CO2 kostet!) Mehr als 1 000 Beschäftigte reisten in demselben Jahr mehr als 20-mal hin und her. Es ist natürlich ein leichter Abwanderungstrend in Richtung Berlin zu vermerken; aber allein die schlichte Existenz von zwei Regierungssitzen bringt mindestens drei Nachteile mit sich: Es ist ineffektiv, umweltschädlich und zu teuer. (Beifall bei der LINKEN) Ineffektiv ist die bestehende Regelung, weil die Bundesregierung durch die permanente Teilung der Regierung in zwei Regierungssitze mit Ministerialbeamten aller Bundesministerien an beiden Standorten einfach nicht schlagkräftig sein kann. Es wird ein enormer Mehraufwand für die Koordination und Abstimmung aufgebracht und in Kauf genommen. Dadurch entstehen zu viele Reibungsverluste. Und die persönliche Kommunikation – das kennen wir alle – ist auch durch aufwendige technische Unterstützung kaum zu ersetzen. Das verlangsamt die Entscheidungsfindung, und auch der persönliche und fachliche Austausch zwischen den Ressorts und ressortintern bleibt auf der Strecke. Umweltschädlich ist der Zustand, weil zum Beispiel die Flugbereitschaft zwischen den beiden Städten regelmäßig Leerflüge einfährt. Generell hübschen die zahlreichen Flüge die Ökobilanz nicht gerade auf. Ganz nebenbei hat das auch Auswirkungen auf die Arbeitszeiten der Beschäftigten; denn das Arbeiten am Telefon bzw. auf dem Laptop ist im Flieger schlicht und ergreifend schwierig. Teuer ist es obendrein. Jährlich entstehen Kosten von über 7 Millionen Euro. Diese Zeche wird von Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern bezahlt. (Sybille Benning [CDU/CSU]: Wer bezahlt den Umzug?) Wir Linke wollen dieser Verschwendung von Steuergeldern ein Ende setzen, (Beifall bei der LINKEN) insbesondere vor dem Hintergrund, dass die schwarze Null Staatsdogma geworden ist und die komplette Angleichung der Ostrenten weiterhin auf sich warten lässt. Man muss dabei betrachten, dass Bonn und die Region Bonn danach keine Einöde sein werden. Die Region ist wirtschaftlich gut aufgestellt, UN-Behörden sind dort verortet. Mit diesem Plan wollen wir Bonn also nicht devastieren. Die Bundesbauministerin, Frau Hendricks, als Berlin/Bonn-Beauftragte laviert ziemlich herum, ist unentschlossen, kann sich zu keiner Handlungsempfehlung durchringen. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass die Frau Ministerin vom Niederrhein stammt. Vor nicht allzu langer Zeit war aus dem Regierungslager zu vernehmen, dass man sich klar für einen Regierungssitz – Berlin – ausgesprochen hat. Das ist schade und enttäuscht auch ein bisschen. Ich dachte, da wären wir schon ein bisschen weiter. Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang, dass sich Frau Hendricks nicht dafür starkgemacht hat, wie ursprünglich angedacht, dass sich vor allen Dingen mehr Außenstellen der Ministerien und der Behörden in Ostdeutschland ansiedeln. Das Biomasseforschungszentrum in Leipzig und das Umweltbundesamt in Dessau bleiben da die Ausnahme. 83 Prozent der Bevölkerung sprachen sich gemäß einer repräsentativen Umfrage für einen Komplettumzug der Ministerien nach Berlin aus. Wir Linke sprechen uns ebenfalls ganz klar für einen Komplettumzug nach Berlin aus. (Beifall bei der LINKEN) Er ist gut, er ist begründet, er ist längst überfällig. Wir brauchen ein Beendigungsgesetz mit einem konkreten Umzugsplan für alle Ministerien, natürlich unter Wahrung der Mitbestimmungsrechte der Belegschaften. Ganz ehrlich: Es wächst eine Generation heran, jünger als ich, die die Bonner Republik und die deutsche Zweiteilung nur noch aus den Geschichtsbüchern kennt. (Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Die DDR auch! Das ist gut so!) Es ist peinlich und auch nicht mehr vermittelbar, dass das Gesetz, das 1994 in Kraft getreten ist, weiter fortgeführt wird. Es wird Zeit, die Bonner Republik in den Ruhestand, in die wohlverdiente Rente zu schicken. Stimmen Sie einfach unserem Antrag zu. Damit hätten wir die deutsche Zweiteilung auch in dieser Hinsicht überwunden. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Als nächster Redner hat Christian Haase für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Christian Haase (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Und täglich grüßt das Murmeltier – so könnte man Ihre ständigen Anträge zur Beendigung des Berlin/Bonn-Gesetzes zusammenfassen: (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Bei Ihnen auch!) immer der gleiche Antrag, immer der gleiche Inhalt, immer die gleiche Begründung. Ihr Problem ist nur – anders als im Film –: Der Erkenntnisprozess setzt bei Ihnen nicht ein. Also will ich es heute noch einmal versuchen. Am 20. Juni 1991 fasste der Deutsche Bundestag den Hauptstadtbeschluss zur Vollendung der deutschen Einheit. Geschäftsgrundlage für den Beschluss war der inhaltlich doppelte Charakter der Antwort auf die Hauptstadtfrage – eben kein Komplettumzug von Bonn nach Berlin. Viele Abgeordnete konnten nur so dem Beschluss zustimmen, er hätte sonst damals überhaupt keine Mehrheit gefunden. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Damals!) Ich wiederhole das, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil natürlich nicht mehr alle dabei sind, die damals diese Beschlüsse mitgefasst haben. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die Wenigsten!) So sagte auch Johann Wolfgang von Goethe einmal weise: Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird, ... (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Deshalb stellen wir immer wieder diesen Antrag!) Deshalb bekennen wir uns auch im Koalitionsvertrag zur Existenz zweier bundespolitischer Zentren und lassen keinen Raum für Interpretation. Darin heißt es unmissverständlich: Wir stehen zum Bonn-Berlin-Gesetz. Bonn bleibt das zweite bundespolitische Zentrum. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) – Ja, Sie dürfen ruhig klatschen. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Im Protokoll steht: Einsamer Beifall!) Sie führen in Ihrem Antrag an, dass sich Bonn als UN-Stadt doch bereits wunderbar etabliert habe. Ja, natürlich, und ich glaube, zum Glück ist das auch so. Aber warum entwickelt sich das eigentlich so? Warum siedeln sich immer mehr internationale Institutionen in Bonn an? Weil in Bonn noch relevantes Regierungsgeschehen stattfindet und weil wir die Nähe zu Brüssel haben. Fangen wir jetzt an, dort unsere Zelte abzubrechen – was glauben Sie, wie schnell sich dieser Bedeutungsverlust weiter herumspricht, die anderen Institutionen den gleichen Weg Richtung Berlin nehmen werden und dann in Bonn nichts mehr bleibt? Deshalb gibt es ein Positionspapier aus der Region Bonn, „Bundesstadt Bonn – Kompetenzzentrum für Deutschland“, das wir bei der weiteren Diskussion durchaus beachten sollten. Meine Damen und Herren, unser ehemaliger Bundespräsident Johannes Rau sprach in seiner Amtszeit von den zwei Säulen, den zwei politischen Zentren in Deutschland, und auch heute ist die Arbeitsteilung zwischen Bonn und Berlin ein klares Bekenntnis zur lebendigen, föderalen Tradition unseres Landes. Wir verzichten bewusst auf die Konzentration in einer einzigen Machtmetropole. Das ist unsere Positionierung in der Staatsformfrage. Das ist Ihnen von den Linken sicherlich ein wenig fremd. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir sind auch nicht von gestern!) Gern möchte ich noch einen Blick auf die Fakten werfen. Ja, der Ausgleich für die Region Bonn ist bislang gelungen; das können wir feststellen. Die Regierungsaufgaben werden in Bonn und Berlin erfolgreich und verantwortlich wahrgenommen, und nie waren die teilungsbedingten Kosten so niedrig wie beim letzten Teilungsbericht 2015. Knapp 7,5 Millionen Euro werden als neuester Tiefstand angegeben, und selbst wenn das natürlich viel Geld ist: Es ist im Gegensatz zu den Gesamtkosten eines Umzuges wahrlich ein Schnäppchen. Diese werden mit 2 bis 5 Milliarden Euro angegeben, und – Sie können sicher genauso gut rechnen wie ich – (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Besser!) rein betriebswirtschaftlich ist das eine Amortisationszeit von 250 bis 625 Jahren. Deshalb ist es gut, dass auch der Sachstandsbericht zur Umsetzung des Berlin/Bonn-Gesetzes feststellt, dass die Arbeit effektiv ist, auch wenn es natürlich noch Effizienzpotenziale gibt, und dort sollten wir draufschauen. Meine Damen und Herren, Verabredungen, die gelten, müssen auch Bestand haben, und ich bin schon enttäuscht, wie leichtfertig Sie von den Linken mit den Schicksalen und den Arbeitsplätzen Tausender von Menschen in der Region Bonn umgehen. Noch vor ungefähr zehn Stunden wurde hier von Mietpreisbremsen und Wohnungsbau gesprochen, und Sie wollen jetzt, wenn Sie immer sagen, in Berlin sei der Wohnungsmarkt so knapp und die Mieten so teuer, die Menschen aus Bonn alle hierher auf den Wohnungsmarkt schicken, der jetzt schon überfüllt ist. Ich glaube, das war wieder einmal ein Schnellschuss und kein verantwortliches Handeln. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Zu verantwortlichem politischem Handeln gehört meiner Meinung nach, zunächst einmal zu analysieren – der Bericht ist ja noch warm vom Kopieren – und dann in Ruhe seine Schlüsse zu ziehen. Alles andere klingt für mich eher populistisch, aber das hören wir von den Extremparteien in Deutschland ja öfter. Wir sprechen hier nicht über die Einzelinteressen einer Stadt, so wie Sie es eben gemacht haben, sondern von der nationalen Bedeutung einer gesamten Region. Deshalb haben alle Fraktionen im Düsseldorfer Landtag einstimmig einen Antrag zu diesem Thema eingebracht. Auch hier im Hohen Hause sollten wir ein Zeichen für die Glaubwürdigkeit politischen Handelns setzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Für uns gilt: Erstens. Wir halten uns an Verträge. Zweitens. Wir sind gegen politisch motivierten Zentralismus. Drittens. Wir denken an die Menschen und die Kosten. Schönen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Anja Hajduk hat als nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Haase, der Föderalismus in Deutschland erschöpft sich nicht in der Berlin/Bonn-Frage und -Polarität. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Er ist ein bisschen größer. (Christian Haase [CDU/CSU]: Er gehört dazu!) Ich sage das nicht nur als Hamburgerin. Da kann man auch auf andere Regionen schauen. Ich finde, das hat es nicht getroffen. Ich sage schon: Das Berlin/Bonn-Gesetz war zu seiner Zeit richtig und notwendig. Man kann feststellen, dass Bonn in der Folge davon profitiert hat. Aber auch Berlin hat natürlich davon profitiert und ebenso unser Land. Denn es war eine Voraussetzung dafür, dass wir Berlin als Hauptstadt bekommen haben. Das ist, glaube ich, sehr richtig. Man kann aber auch ganz nüchtern feststellen: Bonn hatte 2013 das höchste Bruttoinlandsprodukt pro Erwerbstätigem in NRW. Bonn hat sich wirtschaftlich extrem gut entwickelt. Die Zahl der Erwerbstätigen ist um 8,4 Prozentpunkte gestiegen. Man kann also sagen: Die Maßnahmen, die für Bonn verabredet wurden, sind sehr wirksam gewesen. Das ist schlicht Faktum. Der Bund ist immer noch ein großer Arbeitgeber mit 37 000 Arbeitsplätzen in Einrichtungen des Bundes, und das, obwohl die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Bundesministerien weniger geworden sind; die Tendenz ist fallend. Wenn wir nüchtern darauf schauen – dem kann man sich auch als Politiker aus Nordrhein-Westfalen nicht verschließen –, dann sehen wir, dass solch ein Doppelsystem von Dienstsitzen auch seinen Preis hat. Der Realitätscheck, den man wirklich regelmäßig machen muss, ist mit dem Bericht der Ministerin Hendricks, der in der vergangenen Woche vorgestellt wurde, erfolgt. Dieser Bericht zeigt ganz deutlich, dass die Zusammenarbeit sowohl innerhalb als auch zwischen den Ressorts effektiv ist und die Arbeit auch erfüllt wird, aber dass die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung in diesen Fällen nur unter Inkaufnahme erheblichen Mehraufwandes aufrechterhalten wird. Das ist schlicht die Wahrheit. Dazu müssen wir uns auch bekennen. Der Bericht führt folgende Fakten auf: Mittlerweile sind 64 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Berlin. 72 Prozent der Neueinstellungen finden in Berlin statt und nur 27,2 Prozent in Bonn. Mehr als 50 Prozent der Beamten in Bonn machen Dienstreisen und nur 17,6 Prozent der Beamten in Berlin. Drei Viertel aller Bonner Beamtinnen und Beamten gehen in den nächsten 20 Jahren in Pension. Das sind Fakten, auf die man demnächst reagieren muss. Deswegen ist es, glaube ich, ganz wichtig, dass wir wissen: Es gibt Trends zugunsten von Berlin. Diese wird man nicht krampfhaft stoppen können, indem man sich immer nur an das Bonn/Berlin-Gesetz erinnert, sondern man muss mit diesen Trends klug umgehen. Klug umgehen heißt, dass man mit der Stadt Bonn, mit Nordrhein-Westfalen einmal darüber redet: Was ist eigentlich eine realistische, sinnvolle und auch vertretbare Langfristperspektive? Sie stellt sich heute, im Jahr 2016, mit Blick auf die nächsten 30 Jahre anders dar als 1994. Davon bin ich zutiefst überzeugt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]) Das heißt aber auch – das möchte ich schon in Richtung der Linken sagen –, dass wir, glaube ich, mit einem Hauruckverfahren, mit einer Frontstellung „Berlin gegen Bonn“ jetzt nicht angemessen reagieren würden. Man muss da wirklich einen Prozess in Gang setzen, der eine andere dauerhafte Perspektive in den Blick nimmt und dabei auch die erfolgreichen Cluster erhält, die es in Bonn als internationaler Stadt und als Bildungshochburg gibt. Schließen möchte ich mit folgendem Hinweis: Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes haben ein Recht darauf, dass wir auch mit den ineffizienten Doppelstrukturen perspektivisch richtig umgehen. Wenn über 80 Prozent der Deutschen für einen Umzug der Ministerien aus Bonn nach Berlin sind, ist das ein Hinweis. Politik, die in ihrem Ansehen sehr in der Kritik steht, muss sich auch solchen Prozessen widmen. Deswegen kann ich nur sagen: Es ist auch im Interesse der Politik, mit der Bonn/Berlin-Frage flexibler umzugehen, als es sich vielleicht manche aus Nordrhein-Westfalen 1994 vorgestellt haben. Das muss kein Hauruckabbruch sein. Das muss auch nicht zulasten von Bonn gehen. In diesem Sinne werden wir Grünen für einen vernünftigen Prozess streiten, der auch eine Veränderung der Ministerien in Richtung Berlin nicht ausschließt; denn er hat sowieso schon begonnen. Dieser Trend kann nicht krampfhaft aufgehalten werden. Schönen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Matthias Schmidt hat als nächster Redner das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Zusammenhang mit dem Berlin/Bonn-Gesetz wird oftmals vom Rutschbahneffekt gesprochen. Zur Erinnerung, was eine Rutschbahn ist – diejenigen, die kleine Kinder haben, wissen es –: Kinder krabbeln auf der einen Seite hoch, und je nachdem, wie viel Mut sie haben, rutschen sie auf der anderen Seite schnell oder langsam nach unten. Wenn die Kinder unten angekommen sind und mit den Füßen wieder im Sand stehen, dann strahlen sie auf jeden Fall und freuen sich. Um im Bild zu bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken: Sie wollen den Rutschbahneffekt nicht beschleunigen; Sie wollen gleich die ganze Rutschbahn umwerfen. (Roland Claus [DIE LINKE]: Weil wir mutig sind! – Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Nach 25 Jahren?) Das hat den Effekt, dass die Kinder im Sand liegen, und zwar schlagartig. Aber ich gebe Ihnen Brief und Siegel: Kein Kind wird lachen, sondern, im Gegenteil, sie werden alle weinen und höchst unglücklich sein. (Sebastian Hartmann [SPD]: Das will doch keiner!) – Genau. Kommen wir zu Ihrem Antrag. Sie fordern ein Beendigungsgesetz. Okay, das kann man fordern; das ist richtig. Zugleich wollen Sie aber bis zum Jahr 2020 alle Bundesministerien nach Berlin holen. (Zuruf von der LINKEN: Bis wann?) – In Ihrem Antrag steht: bis 2020. – Gerade einmal eine Legislaturperiode wollen Sie sich dafür Zeit nehmen. Das ist faktisch sehr, sehr schwierig mit Blick auf die Häuser und Liegenschaften sowohl in Berlin als auch in Bonn. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Bonn ist das aber auch ein persönliches Desaster, wenn Sie das so übers Knie brechen wollen. Bitte bedenken Sie erstens die Altersstruktur der Mitarbeiter in Bonn, zweitens aber auch, dass viele Bonner aus sozialen Gründen damals in Bonn geblieben sind. So schnell geht das allenfalls freiwillig, und das wird ja auch oft genug gemacht. Gleichwohl, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir müssen reden. Wir müssen reden über Dienstreisen, über Kontakte, die nur per E-Mail stattfinden, über Videokonferenzen, über Kollegialität, die manchmal auf der Strecke bleibt, und über Nachwuchsgewinnung. Das Berlin/Bonn-Gesetz ist 22 Jahre alt. Es ist ein gutes Gesetz. (Beifall des Abg. Sebastian Hartmann [SPD]) Aber ist es wirklich noch zeitgemäß? Was bedeutet es für den Steuerzahler, was für die Beschäftigten und was für die Aufgaben und die Arbeitsteilung? Genau diese Fragen hatte Bundesministerin Barbara Hendricks bereits vor fast einem Jahr zu Recht gestellt. Das geschah aus der klaren Erkenntnis, dass die Arbeitsteilung, die das Berlin/Bonn-Gesetz 1994 vorsah, also vor 22 Jahren, längst nicht mehr zeitgemäß ist. So sah das Gesetz zum Beispiel vor, dass mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze der Regierung in Bonn verbleibt. Das ist aber schon seit 2008 nicht mehr der Fall. Knapp zwei Drittel der ministeriellen Arbeitsplätze befinden sich heute in Berlin, und gar drei Viertel der Neueinstellungen erfolgen hier in Berlin. Das ist das, was man den Rutschbahneffekt nennt. Hier werden somit über die Personalentwicklung faktische Verlagerungen zugunsten Berlins vorgenommen; und diese schreiten fort. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen und behutsam die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Dafür bedarf es parteiübergreifender Diskussionen. Hier geht es, wie wir ja merken, nicht um die Grenzen zwischen Parteien, sondern eher um die Regionen. Es bedarf insbesondere einer intensiven Debatte in der betroffenen Region, in Nordrhein-Westfalen und auch in Rheinland-Pfalz. Barbara Hendricks hat zur genaueren Untersuchung dieser Fragen eine Studie in Auftrag gegeben. Sie liegt uns heute als Bericht vor. Dieser Bericht liefert eine gute Grundlage, um jetzt den Prozess eines weitgehenden Komplettumzugs von Bonn nach Berlin einzuleiten. Diese Bemerkung muss ein überzeugter Berliner hier ruhig machen dürfen. Ich bin mir bewusst, dass solch eine Forderung in der Region Bonn ganz andere Emotionen hervorruft als in Berlin. Wir können uns aber der faktischen Entwicklung nicht verschließen und sollten dieses Thema nach vorne gerichtet angehen. Lassen Sie uns etwas Gutes machen: für Bonn, für Berlin und für Deutschland. Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, lieber Matthias Schmidt. – Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Nächste: Kai Wegner, Berlin, für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Kai Wegner (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Dienstag vergangener Woche hat Frau Ministerin Hendricks den Statusbericht zur Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn vorgelegt. Die Ministerin hat zu ein und demselben Thema zwei Pressekonferenzen an zwei Orten gegeben, erst am Rhein, dann an der Spree. Aufgrund der Witterung – der Flughafen Köln/Bonn lag im Nebel – hing Frau Ministerin Hendricks in Berlin ihrem Terminplan eine Stunde hinterher. Doppelte Arbeit, Verspätungen, unnötige Kosten, Reisestress: In den Umständen der Präsentation des Statusberichts verdichten sich symptomatisch die Widrigkeiten, die die Teilung der Regierungsfunktion auf zwei Standorte mit sich bringt. Und der Statusbericht selbst bestätigt diese Einschätzung. Denn dort können wir schwarz auf weiß nachlesen: „Die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung“ wird nur „durch einen erheblichen Mehraufwand und damit auf Kosten der Effizienz aufrechterhalten.“ In der Tat, meine Damen und Herren, sprechen die Fakten für sich. Ich erwähne Zehntausende Dienstreisen, ich erwähne die teuren Doppelstrukturen, ich erwähne die Reibungsverluste, die damit zwangsläufig einhergehen. Frau Ministerin, Sie sind die Umzugsbeauftragte der Bundesregierung. Ich hätte mir von Ihnen schon erwartet, dass Sie nicht nur Fakten auflisten, sondern gestützt auf diese Fakten auch eine Haltung entwickeln und vor allem die richtigen Schlüsse ziehen. Bonn hat sich unbestritten, liebe Kolleginnen und Kollegen, große Verdienste erworben: um die Freiheit, um die Demokratie, ja, um den Rechtsstaat in Deutschland. Dass es nach 1945 gelungen ist, in Deutschland eine stabile Demokratie zu errichten, bleibt für immer mit Bonn verbunden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Matthias Schmidt [Berlin] [SPD]) Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Berlin heute die anerkannte Hauptstadt Deutschlands ist. Und ich meine, zu einer Hauptstadt, die das gesamte Land repräsentiert, gehört auch die ungeteilte Regierungsfunktion. Auch deshalb ergibt es aus meiner Überzeugung keinen Sinn, weiter auf einer teuren Arbeitsteilung zu beharren und die unnatürliche Teilung der Regierung künstlich zu verlängern. Ja, der Rutschbahneffekt in Richtung Berlin ist längst eine Realität. Und gerade für die Bonner ist es doch allemal besser, einen Wandel aktiv zu gestalten, statt von der Macht des Faktischen überrollt zu werden. (Zuruf von der CDU/CSU: Absolut richtig!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bonn steht heute besser da als vor dem Hauptstadtbeschluss. Die UNO, die Telekom, zahlreiche Bundesbehörden, Institutionen und Unternehmen haben sich am Rhein neu angesiedelt. Ich bin entschieden dafür, Bonn als UN-Standort weiter zu stärken und auch weitere Bundesbehörden dort anzusiedeln. Bonns Verdienste haben historischen Rang, und Bonn verdient auch in Zukunft Verlässlichkeit, aber eben auch Ehrlichkeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, die Frage nach dem Standort der Regierung ist von nationaler Bedeutung. Ich finde, sie eignet sich nicht für parteipolitische Instrumentalisierung hier im Deutschen Bundestag zu später Stunde. (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Dann können Sie zustimmen!) Wenn Sie diese Debatte ernsthaft hätten führen wollen, dann hätten Sie das viel früher mit anderen Fraktionen vorbereiten sollen. (Roland Claus [DIE LINKE]: Aber hallo! Zehn Jahre! – Weitere Zurufe von der LINKEN) Wenn wir uns zu einer anderen Gelegenheit an der berühmten Berlin/Bonn-Debatte von 1991 orientieren, dann sehe ich in dieser Debatte in der Tat das Potenzial für eine erneute Sternstunde hier im Parlament. Meine Damen und Herren, die wiedervereinigte Hauptstadt Berlin ist das Symbol dafür, dass Deutschland seine Spaltung überwunden hat. Die geordnete Konzentration der Regierungsfunktion an der Spree wäre deshalb auch eine Entscheidung für die geordnete Vollendung der deutschen Einheit. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kai Wegner. – Der letzte Redner in der Debatte: Sebastian Hartmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sebastian Hartmann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast müsste man den Linken danken, dass sie diesen Antrag gestellt haben, wenn man ihn nicht hätte lesen müssen. Man kann natürlich eine Debatte über den Status einer Region Bonn führen, man kann auch über das Berlin/Bonn-Gesetz reden, aber was man nicht tun darf, ist, das Berlin/Bonn-Gesetz, das nach einer Debatte 1991 mit knappster Mehrheit beschlossen worden ist, so in Einzelteile zu zerlegen und falsch zu zitieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wenn man nämlich nur einzelne Abschnitte aus diesem Gesetz zitiert und aufgrund dessen behauptet, dass das Gesetz darauf abziele, Stück für Stück alles nach Berlin zu verlegen, dann lässt man außer Acht, dass es um eine faire Arbeitsteilung zwischen der Region Bonn und der neuen Hauptstadt Berlin gehen sollte. Diese Arbeitsteilung ist doch erfolgreich. Ja, wir haben es geschafft, die Vollendung der deutschen Einheit – so sah es der Antrag auch vor – durch einen Teilumzug der entsprechenden Ministerien und eine Verlagerung der Verfassungsorgane nach Berlin zu vollziehen. Wir haben das aber eben im beiderseitigen Interesse gemacht, sodass Bonn und Berlin profitieren konnten, und nun darf man doch der Region Bonn nicht zum Vorwurf machen, dass das, was man damals weise verabredet hat und womit man sich nach einer so schwierigen Entscheidung gemeinsam auf den Weg gemacht hat, gut gelungen ist. Und das gibt doch Anlass, zu hinterfragen: Was ist gut gelungen, und was ist weniger gut gelungen? Es gehört zur Kritik auch dazu, festzustellen, dass während des ersten Kabinetts von Angela Merkel, ab dem Jahre 2008, der Effekt eingetreten ist, dass die Mehrzahl der ministeriellen Arbeitsplätze entgegen dem Wortlaut des Gesetzes, entgegen der Vereinbarung, die damals getroffen worden ist, plötzlich von Bonn nach Berlin verlagert worden sind. Der Rutschbahneffekt hat sich also verstärkt – unabhängig davon, ob die Rutschbahn nun umgeworfen wurde oder sich das Rutschen beschleunigt hat –, und mit diesem Prozess muss man sich eben auseinandersetzen. Ich bin der Bundesbauministerin und Umzugsbeauftragten, Frau Hendricks, sehr dankbar – das sage ich ausdrücklich –, dass sie einen Statusbericht vorgelegt hat, mit dem man eben nicht dazu verleitet wird, nur über teilungsbedingte Kosten zu sprechen; denn dann könnte man sehr leicht dem Fehler der Linken erliegen, Reisekosten mit anderen Kosten zu verwechseln. Wenn man den Teilungskostenbericht genau gelesen hätte, dann wüsste man, dass es in Wirklichkeit weniger sind als die erwähnten 7 Millionen Euro pro Jahr. Die Reisekosten könnte man auch noch in Bezug setzen zu den Milliarden Euro an Investitionen für neue Betonbauten, die man in Berlin hätte errichten müssen, um dort irgendwelche Arbeitsplätze unterzubringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach 25 Jahren können wir natürlich ganz anders auf die geteilte Regierungsfunktion schauen; denn heute hat man durch die Chancen, die die Digitalisierung bietet, noch viel mehr Möglichkeiten. Dass man sagen kann, dass die Region Bonn profitiert hat und internationaler Standort ist, hängt eng damit zusammen, dass man entsprechende Regierungsfunktionen, vor allen Dingen auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit, gezielt in Bonn angesiedelt hat. Die UN ist hier ein gutes Beispiel. Sie ist als eine internationale Organisation dank der Reisemöglichkeiten und der technischen Möglichkeiten der Digitalisierung, die heute noch viel stärker als in der Vergangenheit gegeben sind, gekommen. Dazu hat auch beigetragen, dass sich zum Beispiel der Bonner Bundestagsabgeordnete Ulrich Kelber in der Vergangenheit immer wieder gemeinsam mit allen anderen in der Region dafür eingesetzt hat, dass dieser Pfad des Erfolges weiter beschritten wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns all das nicht einfach zur parteipolitischen Profilierung nutzen. Lassen Sie uns nicht wie die Linken, die gesagt haben: „2020 wird der Regierungsumzug vollzogen sein“, die Beschäftigten verunsichern. Wenn man einem solchen Antrag folgen würde, dann hieße das, dass morgen die Umzugswagen vorfahren müssten. Dadurch würden wir das umwerfen, was wir in der Region Bonn für die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam erreicht haben. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Sebastian Hartmann. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/8130 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit liegen soll. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich bitte, die Plätze zu tauschen und gleich wieder einzunehmen, damit ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen kann. Es handelt sich um den Tagesordnungspunkt 14 sowie den Zusatzpunkt 7: 14. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten (CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz) Drucksache 18/9982 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Künast, Katja Keul, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zukunftsfähige Unternehmensverantwortung – Nachhaltigkeitsberichte wirksam und aussagekräftig ausgestalten – Umsetzung der CSR-Richtlinie Drucksache 18/10030 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe Ulrich Kelber, dem Parlamentarischen Staatssekretär aus Bonn, das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ulrich Kelber, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine Anmerkung an dieser Stelle: Mein Dienstsitz als Abgeordneter ist in Berlin. – Stichwort „Transparenz“: Transparenz vor allem dort, wo es darauf ankommt, ist das zentrale Anliegen der Bundesregierung und des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Mit dem eingebrachten Gesetzentwurf wird die sogenannte CSR-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt. CSR steht für Corporate Social Responsibility, also für die Verantwortung von Unternehmen für die Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit auf die Gesellschaft. Wir bringen mit dem Gesetzentwurf verbindliche Regelungen für mehr Transparenz im Bereich der unternehmerischen Verantwortung auf den Weg. Der vom Bundesminister Heiko Maas vorgelegte Gesetzentwurf verpflichtet große, am Kapitalmarkt tätige Unternehmen, Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen mit mehr als 500 Arbeitnehmern dazu, in ihren Lage- bzw. Konzernlageberichten künftig verstärkt auch sogenannte nichtfinanzielle Themen darzustellen. Erforderlich werden da vor allem Angaben über wesentliche Risiken und Konzepte der Unternehmen zu Umwelt-, Arbeitnehmer- und Sozialbelangen, die Achtung der Menschenrechte und Korruptionsbekämpfung. Dort, wo es relevant und verhältnismäßig ist, müssen auch Angaben zu den globalen Lieferketten erfolgen. Darüber hinaus regeln wir, dass bestimmte börsennotierte Unternehmen ihre Erklärung zur Unternehmensführung durch präzise Angaben zu den Diversitätskonzepten für ihre Leitungsorgane ergänzen müssen. Schließlich erweitern wir im Handelsbilanzrecht heute schon bestehende Straf- und Bußgeldvorschriften und heben auch den bisherigen maximalen Bußgeldrahmen deutlich an. Wir wollen einen Anreiz schaffen, CSR-Themen und die damit verbundenen Risiken, Konzepte und Prozesse noch stärker in die Unternehmensführung einbinden zu lassen. Der Gesetzentwurf leistet damit einen wichtigen Beitrag für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung durch Unternehmen. Wir stärken zugleich auch das Vertrauen von Investoren sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern in die Unternehmen. Viele Unternehmen haben schon heute erkannt, dass Chancen für sie damit verbunden sind, ihre Aktivitäten für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Wir haben zahlreiche Beispiel von deutschen Unternehmen, die bereits heute gezielt Nachhaltigkeitsberichte vorlegen, auch um sich im Wettbewerb um Kunden und Investoren zu positionieren. Wir gehen mit dem Gesetzentwurf einen Schritt weiter und schaffen eine verbindliche, aber ausgewogene Berichtspflicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Neuregelungen sollen bereits für im Jahr 2017 beginnende Geschäftsjahre wirksam werden. Wir haben uns vor diesem Hintergrund auf die durch die Richtlinie veranlassten Änderungen konzentriert und gemeinsam entschieden, andere Anliegen nach Möglichkeit außerhalb des engen Zeitplanes der Umsetzung der europäischen Richtlinie zu prüfen. Meine Bitte ist: Lassen Sie uns den Gesetzentwurf zügig beraten, die Richtlinie rechtzeitig umsetzen und damit die neuen Transparenzvorgaben rechtzeitig für das Geschäftsjahr 2017 in Kraft setzen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Ulrich Kelber. – Nächste Rednerin: Karin Binder für die Linken. (Beifall bei der LINKEN) Karin Binder (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Große Unternehmen sollen ab 2017 in ihren Geschäftsberichten nicht mehr nur über ihre Finanzsituation informieren. Sie sollen künftig auch öffentlich machen, wie sie die Einhaltung von Menschenrechten, Umweltschutz und Arbeitnehmerrechten gewährleisten und wie sie ihre Geschäfte und das Unternehmen gegen Korruption schützen. Mit der Berichterstattung zur Corporate Social Responsibility, also unternehmerischen Sozialverantwortung, kurz CSR, sollen Konzerne über die Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen und sozialen Verantwortung Auskunft geben. Insbesondere deutsche Unternehmen haben hier aufgrund ihrer weltweiten Handelsbeziehungen, aufgrund multinationaler Liefer- und Produktionsketten eine besondere Verpflichtung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wer mit Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung Profite macht, hat kein legales Geschäftsmodell und muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden. (Beifall bei der LINKEN) 2015 wurde in einer internationalen Studie der Universität Maastricht festgestellt, dass 87 deutsche Unternehmen direkt oder indirekt im Ausland Menschenrechtsverletzungen begangen oder zugelassen haben. Das dürfen wir nicht hinnehmen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Eines möchte ich ganz klar sagen: Für die Linke ist die Einhaltung von Menschenrechten nicht verhandelbar. Es wird dabei offensichtlich, dass wir uns auf freiwillige Maßnahmen und Selbstverpflichtungserklärungen der Unternehmen nicht verlassen können. Das zeigt leider auch das Textilbündnis von Entwicklungsminister Müller. Der Nationale Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“, durch den unwürdige Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsbranche aufgezeigt und verbessert werden sollten, wurde durch das CDU-geführte Finanzministerium ganz im Sinne der Wirtschaft weichgespült. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die Interessen der Wirtschaft über die gesellschaftlichen und umweltpolitischen Interessen der Menschen und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Er fällt hinter zentrale Forderungen der Europäischen Richtlinie zurück. Das ist für die Linke nicht akzeptabel (Beifall bei der LINKEN) und sollte auch von diesem Parlament nicht hingenommen werden. Von 11 200 großen Unternehmen in Deutschland werden nach diesem Gesetz nur etwa 300 Unternehmen verpflichtet sein, ihre Geschäftstätigkeit nach den genannten Kriterien offenzulegen und über die gesellschaftlichen Folgen ihrer Aktivitäten zu berichten. Nur börsennotierte Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten werden von diesem Gesetz erfasst. (Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Das steht zufällig auch in der Richtlinie, Kollegin!) Durch diesen sehr eingeschränkten Anwendungsbereich fallen zum Beispiel große Lebensmittelkonzerne wie Lidl, Edeka, Aldi oder auch der dm-Drogeriemarkt durch den Rost. Sie lassen zwar weltweit produzieren, sind aber nicht zur Offenlegung verpflichtet. Aber genau diese Unternehmen werden regelmäßig für die schlechten Produktionsbedingungen ihrer Eigenmarken in fernen Erzeugerländern kritisiert. Die Linke fordert deshalb, dass alle deutschen Unternehmen, die im globalen Handel tätig sind, gesetzlich verpflichtet werden müssen und menschenrechtliche Sorgfalt in den Handelsbeziehungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette garantieren müssen. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke fordert auch, dass der Geltungsbereich des Gesetzes auf Unternehmen ab 250 Beschäftigten erweitert werden sollte, unabhängig davon, ob sie an der Börse notiert sind oder nicht. Nicht zuletzt sollte das CSR-Gesetz auch einer besseren Verbraucherinformation dienen. Daher müssen die Berichte in verständlichen Worten verfasst werden. Und aus verbraucherpolitischer Sicht brauchen wir eine Berichtsform, die Vergleiche verschiedener Unternehmen ermöglicht. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie gerade meinen Antrag vor?) Der vorliegende Gesetzentwurf weist eine leider noch lange Liste von Mängeln auf, die ich jetzt nicht mehr aufzählen kann. Die Linke fordert aber die Koalition auf, im Sinne weltweiter Einhaltung von Menschenrechten, des Schutzes der Umwelt und der Arbeitnehmerrechte deutliche Korrekturen an diesem Gesetzentwurf vorzunehmen. Deutschland ist eine der mächtigsten Marktwirtschaften der Welt. Wir könnten viel bewegen, wenn wir denn wollten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Karin Binder. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Heribert Hirte für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Corporate Social Responsibility – wir haben es gerade schon vom Staatssekretär gehört – beschreibt die Tatsache, dass Unternehmen nicht nur ihren Eigentümern gehören, sondern in vielfältiger Weise auch zu anderen Bezugsgruppen in intensiver Beziehung stehen. Zu nennen sind erst einmal die Arbeitnehmer; aber die Unternehmen haben auch – positiven oder negativen – Einfluss auf die Umwelt, und sie können durch ihre Zulieferketten Einfluss auf die Arbeitsbedingungen auch in anderen Ländern haben. All das sind wichtige Faktoren, die den Wert eines Unternehmens nicht zwingend für die Eigentümer, wohl aber für uns, für die Gesellschaft, ausmachen. Hierüber mehr zu wissen, ist deshalb ein berechtigtes Anliegen eben dieser unserer Gesellschaft, das man verfassungsrechtlich als Teil der Sozialpflichtigkeit des Eigentums ansehen kann. Die bislang fehlende Offenlegung ist aber sicher auch der Tatsache geschuldet, dass es hier um Faktoren geht, die man bilanziell – ich sage das bewusst – als „weiche“ Faktoren bezeichnet. Die Europäische Union unternimmt deshalb mit der Richtlinie, die durch das Gesetz umgesetzt werden soll, zu Recht den Versuch, die Art und Weise der Berichterstattung über diese Informationen europaweit anzuordnen und zu harmonisieren. Sie tut das, indem sie die Offenlegung der maßgeblichen Informationen als Teil des Jahresabschlusses verlangt, was insoweit durchaus richtig ist, als aus den genannten Sachverhalten Risiken aber eben auch Chancen für die Unternehmen resultieren können, die auch heute schon Gegenstand des Lageberichts im Jahresabschluss sind. Deshalb sieht der Regierungsentwurf vor – Herr Kelber hat das eben schon gesagt –, dass kapitalmarktorientierte Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern bestimmte, sogenannte nichtfinanzielle Angaben in die Bilanz aufnehmen müssen. Es gibt die Möglichkeit, in bestimmten Fällen auf diese Angaben zu verzichten, wenn entweder diese zu erheblichen Nachteilen führen könnten oder man das konzernweit zusammenfasst. Bei alledem sollte aber nicht übersehen werden, dass wir in Deutschland mit der unternehmerischen Mitbestimmung schon heute Stakeholder-Interessen in einem Maße einbeziehen, das im internationalen Vergleich keineswegs selbstverständlich ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Zu erinnern ist zudem daran, dass der Aufsichtsrat nach § 171 Aktiengesetz den Jahresabschluss einschließlich der jetzt neu einzuführenden Angaben zu prüfen hat und dass auch auf diesem Wege Stakeholder – bei mitbestimmten Unternehmen vor allen Dingen die Arbeitnehmer – ihre Sicht der Dinge transparent in die erweiterte Berichterstattung des Jahresabschlusses einfließen lassen können und müssen. Bei allem Verständnis für das Interesse an zusätzlichen Informationen darf nicht übersehen werden, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Interesse?) dass deren Beschaffung und Zurverfügungstellung für die Unternehmen einen beträchtlichen Verwaltungsaufwand darstellt. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach was!) – Frau Künast, auf Ihren Antrag komme ich gleich noch zu sprechen. – Deshalb ist es richtig, dass kleine und mittlere Unternehmen nicht von der Berichtspflicht umfasst werden, dass keine weiteren Themen – jedenfalls im Augenblick; Herr Kelber hat das angesprochen – in den Gesetzentwurf aufgenommen werden, insbesondere nicht die Frage des Verbraucherschutzes, und dass die Angaben zur Corporate Social Responsibility nicht von einem externen Prüfer auf inhaltliche Richtigkeit überprüft werden müssen. Dieser zutreffende Ansatz hinsichtlich der Einschränkungen muss aber noch ein bisschen nachgezeichnet werden. Denn zunächst fehlt die entsprechende Konkretisierung bzw. Einschränkung im sogenannten Enforcement-Verfahren. Zudem wird diese Beschränkung derzeit noch dadurch konterkariert, dass bei einer freiwilligen externen Überprüfung des Berichts das Ergebnis dennoch offenzulegen ist. Auch darüber müssen wir nachdenken. Schließlich ist es möglich, dass über eine Anfechtungsklage eine Prüfung erzwungen wird. Damit wird der Ansatz im Ergebnis konterkariert. Wir müssen auch darüber nachdenken, ob das wirklich so gewollt ist. Was die teilweise geforderten Angaben zum Verbraucherschutz anbelangt, kann man nur sagen, dass ihre Verortung im Jahresabschluss systemfremd wäre. Denn von einem Unternehmen kann nicht gleichzeitig die Gewinnerzielung verlangt werden – denn das ist es, wofür Gesellschaften da sind – und auf der anderen Seite die Berücksichtigung der Interessen der Marktgegenseite. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Was ist das denn für ein Unsinn? Du kannst doch nicht die Kunden vergiften!) Ein richtiger Ansatz ist hier vielmehr, dass diese Aufgabe wie bisher durch unabhängige dritte Institutionen wie die Stiftung Warentest oder durch Gütesiegelgemeinschaften wahrgenommen wird. Auch darüber haben wir schon einiges gehört. Dass die Kosten im Übrigen zu gering angesetzt sind, hat der BDI zu Recht angeführt. Jetzt, Frau Künast, zu Ihrem Antrag: Mit den in ihm enthaltenen Forderungen – Sie werden diese sicher gleich vortragen – nach einer deutlichen Ausweitung des Anwendungsbereichs des Gesetzes und vor allem einer erheblichen Zahl weiterer Vorgaben für den Inhalt der Berichtspflicht einschließlich der Notwendigkeit einer externen Prüfung zeigen Sie völliges Unverständnis für die Belange der kleinen und mittleren Unternehmen. Ich würde mich fragen, ob Ihre Kollegen in Hessen und Baden-Württemberg das genauso sehen. Wir werden diesen Antrag jedenfalls ablehnen, und ich freue mich auf die weiteren Beratungen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Hirte. – In der Tat, die nächste Rednerin: Renate Künast für Bündnis 90/Die Grünen. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ach ja, ich fange doch einmal mit etwas Positivem an. Es ist gut und richtig, dass Unternehmen zukünftig nicht nur über betriebswirtschaftliche, sondern auch über ökologische und soziale Aspekte ihrer Tätigkeit berichten müssen. Transparenz ist ja der erste Schritt zur Verhaltensänderung. Meine Damen und Herren, das gilt nicht nur für Unternehmen, sondern logischerweise auch für die Kunden, die kaufen. Wir wollten doch Verhaltensänderung, oder? Der Punkt ist doch: Wir haben mit den Sustainable Development Goals, also den Zielen für nachhaltige Entwicklung im Rahmen der UN, und mit den Klimazielen von Paris einen ganz klaren Auftrag für Nachhaltigkeit. Diese müssen wir herstellen. Nachhaltigkeit fällt nicht vom Himmel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das muss sich in einem Gesetzesvorhaben widerspiegeln. In dieser Hinsicht ist der vorliegende Gesetzentwurf extrem dürftig. Wenn es etwas nachzubessern gilt, dann muss es in die andere Richtung gehen, Herr Hirte. Hier setzt meine Kritik an. Sie haben die Chance verpasst, Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit zusammenzubringen. Damit verpassen Sie auch die Chance, den deutschen Unternehmen die Möglichkeit zu geben, vorne zu sein und zu sagen: Wir haben uns schon die entsprechenden Produkte, Produktionsstufen und Transportwege ausgedacht. Wir produzieren so, dass die Sustainable Development Goals und die Klimaziele berücksichtigt werden. – Vielleicht würde das sogar zum Kauf von so hergestellten Produkten animieren. Insofern verstehe ich gar nicht, warum Sie so zögerlich sind. Sie sagen immer, dass Sie europäisches Recht eins zu eins umsetzen wollen. Das tun Sie hier aber gar nicht. Vielmehr beschränken Sie es noch. Ein Beispiel: Sie haben nicht vorgeschrieben, dass generell über alle wesentlichen Risiken für Mensch und Umwelt zu berichten ist. Stattdessen gilt die Berichtspflicht nur dann, wenn einem Unternehmen Gewinneinbußen drohen. Ich möchte das Unternehmen kennenlernen, das sagt: Wir lassen in Bangladesch, Myanmar und China unter so schlechten Bedingungen produzieren, dass bald eine Umwelt- oder eine Menschenrechtsgruppe darauf kommen und uns öffentlich bloßstellen wird, und deshalb wird es Gewinneinbußen geben. – Noch nicht einmal wir glauben, dass Unternehmen zugeben, dass aus diesem Grund Gewinneinbußen drohen. Das EU-Recht schreibt übrigens Gewinneinbußen als Kriterium nicht vor. Sie gehen sogar noch weiter und sagen, dass sehr wahrscheinlich schwerwiegende negative Auswirkungen vorhanden sein müssen. Die EU-Richtlinie spricht aber nur von wahrscheinlich schwerwiegenden Auswirkungen. Sie setzen das EU-Recht also nicht eins zu eins um, sondern geben den Unternehmen sogar noch Futter, damit sie über noch weniger Bereiche berichten müssen. Es geht hier aber um Menschenrechte und ökologische Ziele, die sich die Unternehmen selber stecken. Ich verstehe daher nicht, warum Sie das derartig beschränken. Sie von der Partei mit dem C im Namen sagen doch immer, dass Sie das alles interessiert. Vor diesem Hintergrund kann ich diese Begrenzung nicht verstehen. Schauen wir uns den Anwendungsbereich an; den haben wir schon in unserem Antrag dargelegt. Der Anwendungsbereich ist unseres Erachtens völlig unzureichend. Nach Ihrem Entwurf müssen nur kapitalmarktorientierte Gesellschaften mit mehr als 500 Mitarbeitern berichten. Das sind circa 300 Unternehmen. Aber was ist mit Aldi, Rewe, dm und Lidl, die weltweit produzieren lassen und einkaufen? Wenn die Mitglieder der Ausschüsse dieses Hauses irgendwohin fahren – nach Myanmar, Bangladesch, China oder Vietnam zum Beispiel –, dann finden sie all diese Unternehmen vor. Warum sollen solche Unternehmen nicht der Berichtspflicht unterliegen und darlegen müssen, ob sie die Arbeitnehmerrechte der International Labour Organisation einhalten? Warum soll es eine entsprechende Berichtspflicht für solche Unternehmen nicht geben? Ich verstehe das nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich habe noch Ferrero vergessen. Aber dieses Unternehmen ist ohnehin mit Ihnen verbunden. Daher verwundert mich das dann doch nicht. Wir sind der Meinung, dass auch diejenigen großen Unternehmen berichtspflichtig sein müssen, die von öffentlichem Interesse sind. Nach unserer Auffassung sollten auch Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern dieser Pflicht unterliegen. Sie haben weder hier für Klarheit gesorgt noch klare ökologisch-soziale und menschenrechtliche Kriterien geschaffen. Sie haben noch nicht einmal ein Rahmenwerk vorgegeben, nach dem zu berichten ist. Jeder kann munter etwas berichten. Aber so ist es nicht vergleichbar. Was sollen denn die Kunden mit den Informationen eigentlich anfangen? Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie müssen vorschreiben, dass nach einem bestimmten Rahmenwerk, beispielsweise nach den Regeln der Global Reporting Initiative, nach dem Deutschen Nachhaltigkeitskodex oder den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen, zu berichten ist. Erst dann kann man Vergleiche ziehen und sich entscheiden. Herr Hirte, Sie haben zudem auf die externen Prüfer verwiesen. Wer sonst sollte prüfen? Vizepräsidentin Claudia Roth: Die Redezeit! Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es muss sich um externe und finanziell unabhängige Prüfer handeln. Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin! Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Letzter Satz. Vizepräsidentin Claudia Roth: Ja, bitte. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Unternehmen dürfen sich nicht zusammentun und ein Überprüfungsinstitut gründen, das dann externe Prüfer zur Verfügung stellt. Mit dem dünnen Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, werden wir nichts für Ökologie und Menschenrechte tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Renate Künast. – Nächster Redner: Metin Hakverdi für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Metin Hakverdi (SPD): Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem vom Kabinett beschlossenen Gesetzentwurf zur Umsetzung der CSR-Richtlinie soll das Vertrauen der Verbraucherinnen und der Verbraucher, aber eben auch der Investoren durch Transparenz gestärkt werden. Der beschlossene Gesetzentwurf will, dass Unternehmen nachhaltig wirtschaften, mehr gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und ihr unternehmerisches Handeln transparent machen. Damit soll für die Investitions- und die Kaufentscheidung eine bessere Grundlage geschaffen werden. Besonders hervorzuheben ist die Berichtspflicht, die eine Berichterstattung über Umwelt-, Arbeitnehmer- und Sozialbelange, also auch über die ILO-Kernarbeitsnormen, die Achtung der Menschenrechte und die Bekämpfung von Korruption und Bestechung konkret verankert. Das bedeutet endlich, dass Unternehmen dann gegebenenfalls über die Zusammensetzung und die Qualität ihrer internationalen Lieferketten in ihrem Lagebericht informieren müssen. Zwei Feststellungen sind für mich im Zusammenhang mit dieser Richtlinie besonders wichtig. Erstens. Wir verabschieden uns mit diesem Gesetz von der alten Vorstellung, dass unternehmerisches Handeln und soziale Verantwortung, dass Ökonomie und Ökologie Gegensatzpaare sind, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, dass man nur eines sein kann: entweder wirtschaftlich erfolgreich oder sozial verantwortlich. Das ist falsch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die CSR-Richtlinie ist die gesetzgeberische Weiterentwicklung der Feststellung, dass Transparenz eine unternehmerische Managementmethode ist, eine Managementmethode, die Verantwortung und Erfolg miteinander verbindet. Zweitens. Es ist die Umsetzung einer europäischen Richtlinie. Bis zum Jahresende werden eben auch alle anderen europäischen Mitgliedstaaten diese Richtlinie umsetzen. Das schafft Wettbewerbsgerechtigkeit und Transparenz für ganz Europa. Das ist eine echte europäische Erfolgsgeschichte, die heute, aber auch in Zukunft fortzuschreiben sich lohnt. Ein Satz zu Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen. Dort sind Forderungen enthalten, die durchaus nachdenkenswert sind. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann unterstützen Sie ihn mal ganz schnell!) Beispielhaft seien hier die Forderungen hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Richtlinie und der Vergleichbarkeit – das fand ich besonders interessant – der Berichte durch Standardisierung genannt. Auch die SPD-Fraktion hat die Absicht, weiteren Ergänzungsbedarf im parlamentarischen Verfahren zu besprechen. Beispielhaft sei hier der Verbraucherschutz im Hinblick auf Datenschutz genannt, aber auch der Beschäftigtendatenschutz. Wir finden außerdem, dass die UN-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte durchaus als verbindlicher Bezugsrahmen wörtlich genannt werden könnten. Wie Sie sehen, gibt es eine Menge im bevorstehenden Verfahren zu prüfen und zu besprechen. Ich freue mich deshalb auf die Beratungen im Ausschuss. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Schönen Abend noch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Hakverdi. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Wirtschaft hat weltweit, will ich sagen, einen guten Ruf. Deutsche Unternehmen stehen für Qualität, ja, sie sind beispielgebend für Zuverlässigkeit und für Leistungsfähigkeit. Wenn sich deutsche Unternehmen weltweit an ihrer Leistungsfähigkeit messen lassen, dann ist es nur gut und richtig, dass sich deutsche Unternehmen auch daran messen lassen, wie sie denn mit nichtfinanziellen Aspekten umgehen. Es ist berechtigt, Unternehmen die Frage zu stellen, wie sie zum Beispiel die Umweltbelange an internationalen Standorten realisieren, unter welchen Bedingungen Arbeitnehmer an internationalen Standorten und in der Lieferkette produzieren und für das Unternehmen arbeiten. Es ist gut, dass dort die sozialen Bedingungen hinterfragt werden und die Frage formuliert wird, ob die Geschlechtergerechtigkeit, Gesundheitsbelange, das Recht der Gewerkschaften oder zum Beispiel der Arbeitsschutz beachtet werden. Diese Fragen sind umso wichtiger, als wir uns vergegenwärtigen müssen, dass wir in einer globalisierten Welt leben und letztendlich fast jedes große Unternehmen international produziert oder internationalen Handel betreibt. Deswegen freue ich mich ganz besonders, dass wir heute in dieser ersten Lesung die Umsetzung der CSR-Richtlinie debattieren. Das Kernstück ist die Pflicht zur Aufnahme nichtfinanzieller Aspekte in den Lagebericht. Es ist also fortan im Lagebericht nicht nur über betriebswirtschaftliche, über finanzielle Aspekte zu berichten, sondern eben auch über die Aspekte, wie ich sie vorhin skizziert habe. Die Idee dabei ist, dass wir damit das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Unternehmen, das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie der Investoren stärken. Wenn dann entsprechende Transparenz hergestellt ist, sollten Verbraucherinnen und Verbraucher auch die Möglichkeit haben, Handlungsweisen zu hinterfragen und auf Unternehmen einzuwirken. Ich will aber an der Stelle auch deutlich machen, dass das nur ein Baustein sein kann. Denn wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass in Zukunft jeder Verbraucher in den Lagebericht gucken wird, sondern es bedarf weiterhin vieler anderer Bausteine, um auch beim Verbraucher die notwendige Sensibilität zu erzeugen. Ich will an der Stelle noch einen zweiten Aspekt ansprechen, weil er einfach gut passt. Dieser stach mir bei der Lektüre des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen direkt ins Auge. Ich finde den Antrag an einer Stelle tatsächlich gelungen. Denn da lassen Sie durchblicken, dass sie durchaus verstanden haben, dass Unternehmen, wenn sie weltweit produzieren bzw. weltweit platziert sind, in der Lage sind, unsere deutschen bzw. europäischen Standards in die Welt hinauszutragen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von den Linken, ist aber die große Chance von Freihandel. Das ist auch die große Chance von TTIP und CETA. Das zu sagen, lasse ich mir an dieser Stelle nicht nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU) Deswegen ist mein Appell an dieser Stelle, dass Sie dann bitte auch die Diskussion um TTIP und CETA in Zukunft angereichert durch diese Erkenntnis führen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege Hoffmann, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung oder -frage? Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Aber mit großem Vergnügen, Frau Präsidentin. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn die Argumente in sich nicht schlüssig sind, habe ich halt ein Problem. – Sie sagen Folgendes: Wenn wir den Handel und die Produktion in alle Welt hinaustragen, würden wir doch gerade die deutschen bzw. europäischen Standards in die Welt bringen. Wie passt das eigentlich damit zusammen, dass die Unternehmen in Deutschland – insbesondere die, die an dieser irgendwie nicht zum Ergebnis kommenden Textilbündnisrunde des CSU-Ministers Müller beteiligt sind – immer sagen: „Nein, wir können aber gar keinen Einfluss nehmen in Bezug auf die Frage, ob in Bangladesch die ILO-Arbeitsnormen eingehalten werden oder das Wasser nach dem Färbeprozess so gereinigt wird, dass keine gesundheitlichen Schäden entstehen“? Das passt doch irgendwie nicht zusammen. Auf der einen Seite sagen die Unternehmen, es dürfe keine bindenden Regeln geben, weil sie das gar nicht selber bestimmen können. Sie dagegen behaupten jetzt auf der anderen Seite, mit Freihandel würde sich das automatisch ergeben. Wer hat denn nun recht? Sie oder Ihr Minister, der sich darauf einlässt, dass das angeblich nicht geht? Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Hoffmann, bitte. Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich muss eines richtigstellen. Offensichtlich haben Sie mir nicht richtig zugehört. Ich habe lediglich davon gesprochen, dass bezüglich dieser Themenstellung Freihandel immer eine Chance ist. Denn wenn deutsche oder europäische Unternehmen international platziert sind bzw. internationale Handelsbeziehungen unterhalten, haben wir die Möglichkeit, auch Standards im Arbeitsschutz zu transportieren. Dann haben wir die Möglichkeit, auch Standards in Umweltbelangen zu platzieren. Sie unterstellen mir gerade, ich hätte irgendetwas behauptet. Wenn Sie zugehört hätten, wäre Ihre Formulierung eine andere gewesen. (Beifall bei der CDU/CSU) Liebe Frau Kollegin Künast, ich komme jetzt auch im Rahmen meiner Rede zu Ihnen. Denn im letzten Drittel meiner Rede möchte ich mich mit Ihren Argumenten auseinandersetzen. – Wenn Sie mir zuhören würden, hätten wir vielleicht die Möglichkeit, noch einmal einen kleinen Dialog zu führen. Sie haben wieder behauptet, dass der vorliegende Gesetzentwurf hinter der Richtlinie zurückbleiben würde. Denn Sie sagen eben, dass der vorliegende Gesetzentwurf nur die Beschreibung der nichtfinanziellen Aspekte erfordert, die zugleich auch Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit und die Lage des Unternehmens haben. Damit ginge es letztendlich doch wieder nur um finanzielle Rahmenbedingungen. Jetzt habe ich mir die Mühe gemacht, die Formulierungen abzugleichen. Ich will sie ganz kurz vortragen. Es steht nämlich im Gesetzentwurf, dass diejenigen nichtfinanziellen Aspekte zu schildern sind, die – jetzt das Zitat – für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses, der Lage der Kapitalgesellschaft sowie der Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf die in Absatz 2 genannten Aspekte erforderlich sind … Und in der Richtlinie steht: Nichtfinanzielle Erklärungen müssen diejenigen Angaben enthalten, die für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses, der Lage des Unternehmens sowie der Auswirkungen seiner Tätigkeit erforderlich sind. Das ist fast wortwörtlich dieselbe Formulierung, und trotzdem behaupten Sie an dieser Stelle etwas anderes. (Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir werden noch viel Diskussionsbedarf haben. Ich bin zuversichtlich, dass wir dieses spannende Thema in den weiteren Beratungen deutlich voranbringen werden, und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Alexander Hoffmann. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/9982 und 18/10030 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika unterstützen – Absetzung der Präsidentin Brasiliens missbilligen Drucksache 18/10013 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Auch da höre und sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Die Plätze bitte einnehmen, weil es schon sehr spät ist. Ich beginne die Aussprache und gebe das Wort Wolfgang Gehrcke für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Danke sehr, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns sehr darum bemüht, die Bundesregierung zu ermuntern, zu dem geplanten EU-Lateinamerika-Gipfel, wenngleich auch nicht auf der Ebene der Regierungschefs, sondern der Außenminister, eine Regierungserklärung abzugeben. Wenn man weiß, welche Bedeutung Lateinamerika in der Zusammenarbeit und bei den Anstrengungen zur Bekämpfung von Hunger und Armut hat, wäre das durchaus angemessen gewesen. Man muss den Ländern Lateinamerikas mehr anbieten können als nur diese unsäglichen Debatten über Freihandelsverträge. (Beifall bei der LINKEN) Das hätten wir gerne gehabt. Die Regierung wollte das nicht. Deswegen haben wir mit einem eigenen Antrag im Vorwege ein paar Vorschläge eingebracht. Ich will das zuspitzen auf drei Länder, die aber exemplarisch stehen. Das erste Land ist Kuba. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Kuba haben sich grundlegend verbessert. Das ist ein großer Vorteil. In Kuba findet ein Prozess von wirtschaftlichen Reformen statt, von denen ich sehr hoffe, dass sie nicht die sozialen Bindungen der Gesellschaft aufsprengen. Es ist ja noch nicht alles ausgemacht. Ich glaube, dass wir auf dem Wege sind, eine kulturell engere Zusammenarbeit zustande zu bringen, und ich hoffe auch, dass das soziale Netz in Kuba immer tragfähiger wird – für alle Teile der Gesellschaft. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Wäre es nicht gut, das Beispiel Kubas, das auch damit verbunden ist, dass dieser sogenannte Gemeinsame Standpunkt der Europäischen Union erledigt worden ist, öffentlich zu diskutieren? Ich würde es gut finden. Ich möchte auch ein klares Wort der Bundesregierung, dass sie sich künftig bei Abstimmungen über die Frage, ob die Blockade der USA gegenüber Kuba vollständig aufgehoben wird, auf die Seite der Gegner einer solchen Blockade schlägt. Das wollen wir hier diskutieren. Ich habe es ungeheuer genossen, dass Obama Kuba besucht hat. (Erika Steinbach [CDU/CSU]: Wir reden über Brasilien!) Bei diesem großen Konzert der Rolling Stones in Havanna wäre ich gerne dabei gewesen und viele andere auch. Lassen Sie uns das gemeinsam ausbauen. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Von Kuba komme ich zum zweiten Land und kann nur appellhaft sagen: Lassen Sie uns alles tun, um den Regierungschef Kolumbiens, den Präsidenten Santos, und die FARC-Rebellen zu ermuntern, bei dem geschlossenen Abkommen, das ja nicht von der Bevölkerung ratifiziert worden ist, zu bleiben. Diese Wunde des Krieges in Lateinamerika muss unbedingt geschlossen werden. (Beifall bei der LINKEN) Da könnten Deutschland und die Europäische Union wirklich Einfluss nehmen und sagen: Wir wollen das, wir unterstützen das. Ich komme zum dritten Land – da appelliere ich insbesondere an die Fraktion der SPD –: Die Absetzung von Dilma Rousseff in Brasilien war kein reguläres Verfahren. Die Putschisten in Lateinamerika kommen heute nicht mehr in Offiziersuniformen und Stiefeln daher, sondern es sind Menschen in Nadelstreifenanzügen. Zu dem neuen Präsidenten – ein illegaler Präsident, wie ich finde – muss sich die Bundesregierung auch einmal erklären. Im Ausschuss ist meine Formulierung „Das war ein Putsch“ von fast allen bis auf die CDU/CSU geteilt worden. Das habe ich auch nicht anders erwartet. Der neue Präsident hat als Erstes angekündigt, die öffentlichen Ausgaben für die kommenden 20 Jahre einzufrieren und dadurch im Bildungs- und Sozialbereich mehr als 100 Milliarden Euro einzusparen. Wissen Sie, was das für ein Land wie Brasilien bedeutet, wo unter Rousseff und Lula die Armut endlich bekämpft worden ist? Wenn man die öffentlichen Ausgaben einspart, schlägt man wieder auf die Armen und Benachteiligten der Gesellschaft ein. Ich finde, ein europäischer Protest wäre mehr als angemessen. Ich hätte gerne von der Bundesregierung gehört, ob sie es macht oder nicht. Hoffen wir einmal, dass sie sich einiges zu Herzen nimmt. Man kann nicht in Kuba die Bedingungen verbessern und dann sagen: Das größte Land der ganzen Region, das prägend ist, interessiert uns nicht. – Ich meine, dass wir gemeinsam in diese Richtung überlegen sollten. Danke sehr. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Wolfgang Gehrcke. – Das Wort hat Dr. Andreas Nick für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Brasilien befindet sich seit Ende 2015 in einer schweren innenpolitischen Krise. Natürlich verfolgen wir die Entwicklung in einem unserer wichtigsten Partnerländer in Lateinamerika sehr genau. Mit Brasilien unterhalten wir seit 2008 – übrigens als erstem Land in Lateinamerika – eine strategische Partnerschaft. Im vergangenen Jahr fanden erstmals in Brasilia hochrangige Regierungskonsultationen unter Beteiligung der Bundeskanzlerin statt. Deutschland und Brasilien haben in den letzten Jahren wichtige gemeinsame Initiativen unternommen, gemeinsam mit Indien und Japan als G 4 für eine Reform der Vereinten Nationen und eine Erweiterung des UN-Sicherheitsrates, in der internationalen Klimaschutz- und Umweltpolitik, bei den G 20, im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen und insbesondere in der Cyberpolitik. So haben beide Länder gemeinsam eine Resolution zum Recht auf Privatsphäre im digitalen Zeitalter in die Generalversammlung der Vereinten Nationen eingebracht, die erfolgreich verabschiedet wurde. Dies alles zeigt: Unsere Regierungen haben auch unter der Präsidentin Dilma Rousseff in den letzten Jahren eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet. Eine Reihe von Kollegen aus diesem Hause sind Frau Rousseff bei einem Besuch in Brasilia mit Außenminister Steinmeier im vergangenen Jahr persönlich begegnet. Allerdings hat die erst 2014 von den Wählern im Amt bestätigte Präsidentin in kurzer Zeit einen dramatischen Vertrauensverlust in der Bevölkerung erlitten. Wesentliche Ursache der Unzufriedenheit der Bevölkerung ist die stärkste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Aber auch die Vielzahl von Korruptionsskandalen untergräbt das Vertrauen der Brasilianer in die Politik insgesamt, allen voran die Ermittlungen gegen den ehemaligen Präsidenten Lula. Auch die bisherigen Oppositionsparteien gehen nicht gestärkt aus der Krise hervor; denn sie sind selbst zahlreichen Korruptionsvorwürfen ausgesetzt. Die Demokratie in Brasilien droht daher, insgesamt Schaden zu nehmen. Die Unzufriedenheit mit der Regierung zeigte sich erneut im August. Die Arbeiterpartei der ehemaligen Präsidentin hatte bei den Kommunalwahlen eine verheerende Niederlage erlitten. Die Präsidentin hat offensichtlich den Rückhalt in Parlament und Bevölkerung weitgehend verloren. Die Zustimmungswerte ihrer Amtsführung sanken von 80 Prozent im Jahr 2013 auf 10 Prozent im Jahr 2016. Ursachen dafür sind vor allem mangelhaftes Krisenmanagement im Rahmen der Petrobras-Affäre, unzureichende Kommunikation politischer Entscheidungen und nicht zuletzt unterlassene Reformen. Die politischen Voraussetzungen für ein Misstrauensvotum waren also durchaus gegeben. Allerdings sieht die brasilianische Verfassung dieses Instrument nur in der Form eines Amtsenthebungsverfahrens vor. Zur Begründung wurden von der Parlamentsmehrheit Ungereimtheiten bei der Aufstellung des Bundeshaushaltes angeführt. Andere Begründungen, vor allem weitere Korruptionsvorwürfe, wurden nicht bis zum Ende weiterverfolgt. Ob die Voraussetzungen für eine Amtsenthebung in einer engeren Auslegung sicher eher im Sinne strafrechtlicher Verfehlungen damit erfüllt waren, ist umstritten. Kriminalisierung des politischen Gegners ist sicher grundsätzlich kein geeignetes Mittel der demokratischen Auseinandersetzung und gefährdet die politische Kultur. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag ist auch nicht der geeignete Ort für ein Fortgeschrittenenseminar zum brasilianischen Verfassungsrecht. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sollten uns auch nicht die Rolle des brasilianischen Verfassungsgerichts anmaßen. Lieber Kollege Gehrcke, Sie sprechen in Ihrem Antrag selbst von einem – ich zitiere – „formal regelgerechten ... Verfahren“. Ich sage: Wie auch immer wir hier in diesem Hause politisch die Personen, Prozesse und Entscheidungen jeweils bewerten, wir sind als Deutscher Bundestag am Ende gut beraten, die mit großer Mehrheit getroffene politische Entscheidung der demokratisch legitimierten brasilianischen Abgeordnetenkammer und des Senats zu respektieren. Auch mit der neuen brasilianischen Regierung muss uns an einer konstruktiven Zusammenarbeit gelegen sein. Es wäre nämlich fatal, wenn sich der politische Stillstand im Land noch bis zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 hinziehen würde. Die Verantwortung des neuen Präsidenten Temer wiegt daher schwer. Er muss das Vertrauen in der Bevölkerung zurückgewinnen, politische Gräben überwinden und Politik wieder konstruktiv gestalten. Die Rahmenbedingungen dafür sind gar nicht einmal schlecht; denn es gibt Signale einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung. Der IWF berichtet, Brasilien habe die Talsohle der Wirtschaftskrise bereits durchschritten. Umso mehr braucht das Land natürlich nun eine handlungsfähige und reformbereite Regierung, die das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnt. Aber, meine Damen und Herren, wenn man Ihren Antrag genauer liest und wenn man sich vergegenwärtigt, wie Sie geredet haben – Kollege Gehrcke hat das ja noch einmal unterstrichen –, wird deutlich: Es geht Ihnen im Kern gar nicht um Brasilien. In Wahrheit wollen Sie die Prozesse der demokratischen Veränderung in ganz Lateinamerika, vor allem in Venezuela und Argentinien, in ihrer Gesamtheit diskreditieren. Lateinamerika befindet sich in einem umfassenden Prozess des Wandels. Viele der linken Regierungen sind gescheitert und werden abgewählt. Die Wahlsiege der Oppositionsparteien in Argentinien und Venezuela sind daher Zeichen der Hoffnung. Dieser Wandel könnte sich positiv auf den gesamten Kontinent auswirken und nicht, wie Sie in Ihrem Antrag behaupten, zu neuen Konflikten führen. Gerade der Reformkurs des neugewählten argentinischen Präsidenten Mauricio Macri lässt auf eine weitere positive Entwicklung und auf politische Stabilisierung im Land hoffen. In wenigen Monaten hat er den Devisen- und Kapitalverkehr freigegeben, Außenhandelsschranken abgebaut und die seit dem Staatsbankrott von 2001 verschleppten Schuldenkonflikte gelöst. Wenn Sie wirklich Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika unterstützen wollen, wie es die Überschrift Ihres Antrags besagt, dann sollten wir uns hier vor allem mit der katastrophalen Lage in Venezuela beschäftigen; denn dort ist der Sozialismus des 21. Jahrhunderts der Herren Chávez und Maduro genauso gescheitert wie der des 20. Jahrhunderts, für den Sie nach wie vor stehen, und hat das Land ins Chaos gestürzt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aus einer Wirtschaftskrise mit einer katastrophalen Versorgungslage bei Lebensmitteln und Medikamenten ist eine veritable Verfassungskrise geworden. Die Bevölkerung leidet unter der akuten Mangelwirtschaft, und die Rechte der demokratischen Opposition, die seit Ende letzten Jahres über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt, werden systematisch eingeschränkt. Das Referendum zur Abwahl des Präsidenten wurde bewusst verzögert, um die Chavisten an der Macht zu halten. Sie befürchten gemäß Ihrem Antrag, dass auch in Venezuela davon auszugehen ist – ich zitiere –, „dass ein Regierungswechsel eine grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik, auch der Außenwirtschaftspolitik, zugunsten neoliberaler Konzepte und der Orientierung auf Freihandel mit sich bringen würde“. Da kann ich nur sagen: Gerade im Sinne der betroffenen Menschen in diesem von den Chavisten heruntergewirtschafteten Land wäre das doch sehr zu hoffen. Wir können unsere Partner in Lateinamerika nur ermutigen, auf Freiheit und Demokratie, auf Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft, aber auch auf verstärkte Zusammenarbeit und regionale Integration zu setzen. Auch der Diskussion um ein Freihandelsabkommen mit der EU könnte dies neue Impulse geben. Umso mehr bleibt zu hoffen, dass Brasilien als größtes Land und wichtigste Volkswirtschaft in Lateinamerika auch künftig als stabile Demokratie mit einem klaren Bekenntnis zu nachhaltigem Wachstum und einer von Zusammenhalt geprägten Gesellschaft seiner Verantwortung in der Region gerecht wird. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Andreas Nick. – Nächster Redner: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt eine Rede gehört, in der erzählt wurde, warum die einen in Brasilien recht haben – ich teile vieles von dem, was gesagt worden ist –, und zuvor haben wir eine Rede gehört, in der erläutert wurde, warum die anderen recht haben. Am 2. Oktober dieses Jahres fand in Brasilien die erste Runde der Kommunalwahlen statt. Man muss wissen: In Brasilien gibt es 145 Millionen Wahlberechtigte, und es gibt eine Wahlpflicht. Wer nicht zur Wahl geht, muss eine Geldstrafe zahlen, kann den Beamtenstatus verlieren oder darf keinen Reisepass beantragen. Es gibt also wirklich harsche Strafen. Das Ergebnis war historisch, und zwar nicht nur, weil die Wahl eine Niederlage für die Arbeiterpartei bedeutete – auch in ehemaligen Hochburgen wie Sao Paulo; das ist eben schon gesagt worden –, sondern auch, weil die Wahlbeteiligung historisch niedrig war. Die Wahlbeteiligung lag unter 80 Prozent, über ein Fünftel der Bevölkerung war also bereit, die von mir genannten Sanktionen auf sich zu nehmen. Da stellt sich doch die Frage: Wo kommt diese unglaublich große Parteienverdrossenheit eigentlich her? Es gibt Wahlkreise – das ist unglaublich –, in denen über die Hälfte derjenigen, die gewählt haben, ihre Stimmen bewusst ungültig gemacht haben. Man sieht wirklich, dass die Parteien keine Attraktivität mehr haben. Die Gründe liegen auf der Hand: Warum grassiert die Korruption weiterhin? Warum ist es in den guten Zeiten versäumt worden, die Wirtschaft des Landes zu diversifizieren? Die Energie- und Rohstoffpreise fallen ja nicht erst seit gestern. Ich glaube, lieber Kollege Gehrcke, dass wir die Versäumnisse der Lula- und der Dilma-Regierung nicht verschweigen dürfen. Das tut Ihr Antrag aber durchaus. Der Antrag hätte besser den Titel „Unkritische Solidarität mit linken Parteien in Lateinamerika“ verdient. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Nein, nein, der Beifall schadet mir, lassen Sie das! (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Andreas Nick [CDU/CSU]: Wo du recht hast, hast du recht, Omid!) Die Regierung Temer kündigte an, was sie ändern will. Das ist ein Problem; denn es hat in den letzten 14 Jahren riesige Fortschritte gegeben, und diese stehen jetzt auf dem Spiel. Es gab riesige Erfolge bei der Armutsbekämpfung. Es gab viele Erfolge bei der Stärkung der Rechte der Minderheiten, gerade der indigenen Minderheiten. Es gab endlich eine Verrechtlichung der Geschlechtergleichstellung. Das steht alles auf dem Spiel. Das alles wird zurzeit von der neuen Regierung infrage gestellt. Es gab ein sehr großes mulitlaterales Engagement Brasiliens im globalen Süden. Gerade in Afrika hat Brasilien sehr viel mehr getan als in der Vergangenheit, um Entwicklung voranzutreiben. Das wird gerade im Sinne einer sogenannten neuen Effizienz infrage gestellt, und das ist doch besorgniserregend. Gerade von einem sozialdemokratischen Außenminister erwarten wir, dass er diese Themen bei unseren brasilianischen Freunden – ja, das sind unsere Freunde – sehr klar anspricht. Ich würde den Begriff „Putsch“ nicht verwenden, aber es war sicherlich eine politisch motivierte Verschwörung. Es gab den Vorwurf, dass die Budgetierungsregelungen nicht eingehalten wurden. Dass dieser Vorwurf ausgerechnet von jenen kam, die die Regeln selber jahrzehntelang nicht eingehalten haben, ist natürlich heuchlerisch. Ich würde trotzdem nicht von einem Putsch sprechen, da die formalen Regelungen eingehalten worden sind. Wir erleben so etwas wie eine Rolle rückwärts der alten Eliten. Das sieht man auch daran, dass im Kabinett ausschließlich alte weiße Männer sind, keine einzige Frau, keine Vertreter von indigenen Gruppen. Die Sozialprogramme sollen gestrichen werden; das ist angesprochen worden. Die Regierung hat angekündigt, Ölbohrungen vor der Küste zu erlauben. Sie wollen das erste Mal in der Geschichte des Landes – und es gab viele Gründe, warum es das bisher nicht gegeben hat – Land an ausländische Investoren verkaufen. Gerade für uns, die zum Beispiel großen Wert auf den Schutz des Amazonas legen, klingt das ausgesprochen besorgniserregend. Deshalb müssen wir sehr genau hinschauen, was da passiert. Ich will wenige Sätze auf das verwenden, was im Antrag steht, jedoch nicht zum Thema Brasilien gehört. Auch da ist einiges sicher richtig. Ja, wir haben uns sehr gefreut über das Friedensabkommen in Kolumbien nach 52 Jahren; unser Kollege Tom Koenigs, der heute leider nicht hier sein kann, hat dort mitverhandelt. Auch der Nobelpreis für Santos hat uns sehr glücklich gemacht. Das Referendum hatte kein so erfreuliches Ergebnis. Am Prozess festzuhalten und nicht am konkreten Ergebnis, das ist sicher richtig. Die Annäherung zwischen den USA und Kuba ist gut und richtig. Im Antrag steht, die EU solle diesen Prozess institutionalisieren. Diese Meinung teilen wir. Ich teile nicht die gesamte Analyse des Kollegen Nick in Bezug auf Venezuela, aber die Chavisten heiligzusprechen, gerade vor dem Hintergrund, dass dort Menschen verhungern, ist ein wenig zynisch. Ich bin dankbar, dass die Linke den Antrag vorgelegt hat. Es ist gut, dass wir hier endlich über Lateinamerika, insbesondere über Brasilien, diskutieren. Es wäre besser gewesen, wenn der Antrag ein bisschen differenzierter gewesen wäre. Das hätte die Debatte, glaube ich, noch besser gemacht. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kollege Nouripour. – Der letzte Redner in dieser Debatte und voraussichtlich auch für den heutigen Abend: Klaus Barthel für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Klaus Barthel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat ist der Anlass des Antrags gar nicht die Wahl in Brasilien, sondern das EU-CELAC-Außenministertreffen, das nächste Woche in der Dominikanischen Republik stattfindet. Es ist gut, dass wir die Gelegenheit nutzen, um über Lateinamerika, die Karibik und ihre Beziehungen zu Europa zu reden. Das ist das Verdienst des vorliegenden Antrags. Dennoch gibt es einige Punkte, die man kritisieren muss; darauf komme ich später noch zu sprechen. Kollege Nouripour hat gerade Kolumbien angesprochen, und dies möchte ich ebenfalls tun, da die Entwicklung dort ein wenig symptomatisch dafür ist, was sich in Lateinamerika tut, wie nahe dort Freud und Leid, Triumph und Scheitern, Chancen und Risiken beieinanderliegen, aber auch, wie sehr man sich in Einschätzungen über die Stimmung im Volk täuschen kann, wie sich die Eliten, die Umfrageinstitute und alle internationalen Beobachter täuschen können. Deshalb wollen wir hier einmal festhalten: Gratulation zu diesem Friedensvertrag vom 26. September an den Präsidenten Santos und die Führung der FARC. Für uns gilt dieser Friedensvertrag weiter. Dank an alle, die im In- und Ausland dazu beigetragen haben: die norwegische Regierung, Kuba, Venezuela, Chile, die USA, die Zivilgesellschaft in Kolumbien selbst und das dortige Parlament. Gratulation auch noch einmal an den Präsidenten Santos zum Friedensnobelpreis. Ich denke, auch das muss hier erwähnt werden und vor allem auch die Ankündigung, diese Friedenspolitik konsequent fortzusetzen und jetzt auch mit der ELN zu einem Friedensschluss zu kommen. (Beifall bei der SPD) Ich denke, Dank und Anerkennung sollten auch an die Bundesregierung gehen, dass sie diesen Prozess im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützt hat und zum Beispiel mit Tom Königs jemanden beauftragt hat, die dortige Entwicklung zu begleiten und zu unterstützen. An diesem Punkt gibt es, glaube ich, Konsens, auch in dem Antrag. In Erinnerung an den einstimmigen Beschluss, den der Deutsche Bundestag dazu gefasst hat, meine ich schon, wir müssen hier noch einmal ganz deutlich sagen: Es kann nicht sein, dass sich am Ende dieses Prozesses jene durchsetzen, die diesen Friedensprozess mit Angstmache und Lügenkampagnen und aus rein kurzfristigen wirtschaftlichen und parteitaktischen Interessen nach all dem Leid, das man jetzt über 50 Jahre dort erlebt hat, torpedieren wollen. Das darf nicht passieren. Zu Brasilien ist bereits viel Richtiges und Wichtiges gesagt worden. Es ist schwer, dies alles ausgewogen darzustellen, aber es muss, denke ich, schon deutlich werden, dass wir diesen Staatsstreich – so kann man es schon nennen – missbilligen. (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) Eine solche Amtsenthebung ist nur bei schwerwiegenden Vergehen und Verbrechen eines Präsidenten bzw. einer Präsidentin möglich. Das war ein politisiertes, interessengeleitetes Verfahren durch die Mehrheit im Abgeordnetenhaus und im Senat, und Dilma Rousseff ist eigentlich die Letzte, die hier anzuprangern wäre. Sie ist jedenfalls wesentlich integerer als die Mehrheit, die sich gegen sie durchgesetzt hat. (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) Kollege Nick, hier müssen wir aufpassen: Wenn wir es billigen, dass eine Regierung eine Präsidentin nur deshalb abwählt, weil sie jetzt Probleme hat, weil sie bei der Öffentlichkeit in Ungnade gefallen ist, da das Land in eine wirtschaftliche Krise geraten ist, dann hätten wir ständig zu tun. Ich glaube, dann müssten wir auch bei uns einmal genauer hinschauen und überlegen, ob wir so etwas eigentlich richtig finden können: dass die schwierige wirtschaftliche Lage und eine Vertrauenskrise dazu benutzt werden können, einen Regierungswechsel auf solch dubiose Weise herbeizuführen. Vor allem müssen wir auch berücksichtigen, dass jene, die das getan haben, selbst wesentlich mehr im Dreck stecken als die Präsidentin. Zum Beispiel ist der Hauptdrahtzieher, der ehemalige Parlamentspräsident Cunha, gestern verhaftet und eingesperrt worden, und man muss damit rechnen, dass er zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wird. Zudem muss man sehen, wie jetzt die Stimmung im Volke ist. Ein unternehmerverbandsnahes Institut hat eine Umfrage veröffentlicht, nach der nur 24 Prozent der Bevölkerung den jetzigen Regierungschef Temer für besser halten, aber 31 Prozent sagen, sie wären jetzt wieder für Rousseff, und 65 Prozent der Menschen in Brasilien sind für sofortige Neuwahlen, weil sie die jetzige Regierung ablehnen. Also man sollte vorsichtig sein, den Stab über die frühere Regierung zu brechen. In der Tat – Kollege Nouripour hat es angesprochen – ist es eine Krise des politischen Systems und der Parteien insgesamt. Es gibt Probleme mit dem Wahlrecht und eine Zersplitterung in 28 Parteien im Parlament, und es gibt über 30. Weitere Probleme sind die Parteienfinanzierung über Spenden sowie die Vermischung von Politik und Justiz. Auch die Medienlandschaft ist problematisch. In diesen Bereichen sieht man jahrelange Versäumnisse und Probleme. Man sieht auch, dass Strukturreformen seit der Militärdiktatur nicht vorangekommen sind, egal ob es das Steuersystem betrifft oder die Themen, die ich angesprochen habe. Aber im Hintergrund – ich glaube, das ist wichtig – muss man die schwere wirtschaftliche Krise sehen. Es geht auch darum, wie wir uns dazu verhalten. Zum Schluss meiner Rede will ich sagen: Wie sich Teile der deutschen Wirtschaft dazu verhalten, können wir hier nicht unterstützen. Ich zitiere einmal den stellvertretenden Vorsitzenden des Lateinamerika-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. (Unruhe) – Ich freue mich zwar, dass so viele Kollegen von der Union anwesend sind, aber die Unruhe finde ich nicht ganz angemessen. Vielleicht könnten Sie mir zuhören. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Guido Kerkhoff sagte allen Ernstes: Temer hat bereits wichtige Baustellen wie die Deregulierung des Arbeitsmarktes identifiziert. – Das heißt, er will die Informalisierung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes offensichtlich noch vorantreiben, obwohl gerade das eines der Probleme in Brasilien ist. Wir lesen dann in den Veröffentlichungen von einer Schnäppchenjagd in Brasilien. Jetzt gebe es jede Menge Übernahmen zu machen und die Privatisierungen zu nutzen, und zwar die Privatisierungen von Kliniken, von Stromnetzen, von Stromerzeugung, von Ölfeldern, von Fluggesellschaften, von Gaspipelines und im Bereich Bergbau. Wenn man das zugrunde legt, ist größte Vorsicht geboten. Denn dann geht es nicht darum, sinnvolle Auslandsinvestitionen voranzubringen, die das Land wirklich braucht, sondern dann geht es einfach nur darum, wieder postkoloniale Strukturen herbeizuführen, den Aderlass, den es über Jahrhunderte von Süd nach Nord gegeben hat, fortzusetzen bzw. neu aufzunehmen und die Privatisierungswelle, die die Regierung jetzt plant, zu nutzen. Also das kann es nicht sein. Vizepräsidentin Claudia Roth: Denken Sie an Ihre Redezeit? Klaus Barthel (SPD): Es gibt für die deutsche Wirtschaft, Frau Präsidentin, viel Sinnvolles zu tun; dabei könnte sie auch Gewinne machen. Aber das, was jetzt geplant ist, geht, glaube ich, so nicht. Zu guter Letzt – Vizepräsidentin Claudia Roth: Ja, aber wirklich zu guter Letzt. Klaus Barthel (SPD): – muss ein Widerspruch noch angesprochen werden. Vizepräsidentin Claudia Roth: Nein, muss er eigentlich nicht. Klaus Barthel (SPD): Die Linke fordert in dem Antrag, dass wir uns in Brasilien massiv einmischen, die jetzige Regierung kritisieren und Druck in Richtung Neuwahlen machen. Zu Venezuela sagen Sie, dass wir uns da überhaupt nicht einmischen dürfen. (Dr. Andreas Nick [CDU/CSU]: So ist es!) Ich glaube, wir müssen uns bei der Lateinamerika-Politik schon darauf einigen, dass wir auf Augenhöhe und mit Respekt mit allen Ländern und Regierungen umgehen, – Vizepräsidentin Claudia Roth: Und ich glaube, Sie sollten sich an die Redezeit halten. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Klaus Barthel (SPD): – dass wir uns darauf verlassen, dass die Bevölkerung dort die richtigen Entscheidungen trifft, und dass nicht wir hier über deren Köpfe hinweg entscheiden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Jetzt schließe ich die Aussprache. Wir freuen uns außerordentlich, dass so viele Abgeordnete der CDU/CSU anwesend sind. Ich weiß nicht, ob Sie heute noch Hammelsprung üben wollen. (Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michaela Noll [CDU/CSU]: Ein starkes Team!) Das machen wir jetzt immer so. Normalerweise sind um die Uhrzeit – Frau Noll weiß das – weniger anwesend. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/10013 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Achtung der Menschenrechte in Burundi einfordern – Friedensdialog fördern Drucksachen 18/8706, 18/9938 Die Reden werden zu Protokoll gegeben.2 Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9938, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/8706 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dann enthält sich niemand mehr. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die heute Abend große CDU/CSU-Fraktion, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die SPD und die Grünen. Gegenstimmen kommen von den Linken. Ich rufe die Zusatzpunkte 8 und 9 auf: ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Schutz von Walen und Delfinen stärken Drucksache 18/10019 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke, Nicole Maisch, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wirksamen Walschutz weltweit durchsetzen Drucksache 18/10032 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind einverstanden.3 Zusatzpunkt 8. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/10019 mit dem Titel „Schutz von Walen und Delfinen stärken“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist angenommen mit der großen Mehrheit von CDU/CSU-Fraktion, SPD und Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Zusatzpunkt 9. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10032 mit dem Titel „Wirksamen Walschutz weltweit durchsetzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Der Antrag ist abgelehnt mit der ziemlich großen Mehrheit der CDU/CSU und der SPD. Für diesen Antrag haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linken gestimmt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften über das Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch (Landwirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammgesetz – LwErzgSchulproG) Drucksachen 18/9519, 18/9760, 18/9879 Nr. 3 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Drucksache 18/10058 Auch diese Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.4 Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10058, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/9519 und 18/9760 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und Grüne. Enthalten hat sich die Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung der CDU/CSU, der SPD, der Grünen und bei Enthaltung der Linken. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/18/EU zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/EG des Rates Drucksache 18/9417 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) Drucksache 18/10057 Die Reden gehen zu Protokoll.5 Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10057, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9417 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und die SPD. Dagegengestimmt haben die Grünen. Enthalten hat sich die Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt haben die Grünen, enthalten haben sich die Linken. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10057 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und die Grünen, dagegen war die Linke. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen Dienstes im Bereich des Bundes Drucksache 18/9441 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Drucksache 18/10045 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10059 Die Reden gehen zu Protokoll.6 Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10045, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9441 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, enthalten haben sich Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, enthalten haben sich die Grünen und die Linken. Wer hat das mit dem Aufstehen eigentlich eingeführt? – Das können wir bitte einmal klären; niemand weiß es. (Zuruf: Das haben wir schon immer so gemacht!) – Das haben wir immer schon so gemacht; gut. – Möglicherweise fragen sich die Gäste, was wir hier eigentlich machen. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Mikrozensus und zur Änderung weiterer Statistikgesetze Drucksache 18/9418 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) Drucksache 18/10067 Die Reden gehen zu Protokoll.7 Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10067, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9418 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt hat niemand, enthalten haben sich die Linken und Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. (Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Wir erheben uns, damit die Präsidentin uns besser sieht!) – Gut, das müssen wir jetzt einmal durch den Wissenschaftlichen Dienst klären lassen; jetzt will ich es wirklich wissen. (Heiterkeit im ganzen Hause) Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes Drucksache 18/9981 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Die Reden gehen auch hier zu Protokoll.8 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/9981 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich gehe nicht davon aus, dass es noch anderweitige Vorschläge gibt. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung Drucksache 18/9958 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und Soziales Die Reden gehen zu Protokoll.9 Interfraktionell wird auch hier Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/9958 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung Drucksache 18/9983 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Finanzausschuss Auch da gehen die Reden zu Protokoll. – Sie sind damit einverstanden.10 Auch hier wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/9983 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch dazu sehe und höre ich keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Coße [SPD]) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. Oktober 2016, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen weiterhin einen fröhlichen Parlamentarischen Abend. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 22.26 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Blienert, Burkhard SPD 20.10.2016 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 20.10.2016 Brehmer, Heike CDU/CSU 20.10.2016 Dörflinger, Thomas CDU/CSU 20.10.2016 Fuchs, Dr. Michael CDU/CSU 20.10.2016 Hendricks, Dr. Barbara SPD 20.10.2016 Henke, Rudolf CDU/CSU 20.10.2016 Hintze, Peter CDU/CSU 20.10.2016 Kermer, Marina SPD 20.10.2016 Launert, Dr. Silke CDU/CSU 20.10.2016 Leidig, Sabine DIE LINKE 20.10.2016 Mast, Katja SPD 20.10.2016 Müller-Gemmeke, Beate BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20.10.2016 Post (Minden), Achim SPD 20.10.2016 Radomski, Kerstin CDU/CSU 20.10.2016 Rix, Sönke SPD 20.10.2016 Rupprecht, Albert CDU/CSU 20.10.2016 Schlecht, Michael DIE LINKE 20.10.2016 Schröder, Dr. Ole CDU/CSU 20.10.2016 Schwartze, Stefan SPD 20.10.2016 Spahn, Jens CDU/CSU 20.10.2016 Steffel, Dr. Frank CDU/CSU 20.10.2016 Strothmann, Lena CDU/CSU 20.10.2016 Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE 20.10.2016 Weinberg, Harald DIE LINKE 20.10.2016 Weisgerber, Dr. Anja CDU/CSU 20.10.2016 Wicklein, Andrea SPD 20.10.2016 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bundesprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ weiterentwickeln und seine Fortführung jetzt vorbereiten (Tagesordnungspunkt 10 b) Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dass unser Votum Ablehnung lautet. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Achtung der Menschenrechte in Burundi einfordern – Friedensdialog fördern (Tagesordnungspunkt 16) Iris Eberl (CDU/CSU): Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte beginnen, auch wenn Sie sie schon kennen sollten. – In einem Land vor nicht allzu langer Zeit verunzieren Schüler ihre Schulbücher, indem sie das Konterfei des Präsidenten bekritzeln. Der Präsident erfährt davon und will, dass die Schüler für diese Herabsetzung seiner Person bestraft werden. – Sofern Sie die Geschichte nicht kennen, vermuten Sie sicher alle den gleichen Mann hinter dieser Aktion. Aber der ist es nicht. In diesem Land ist es gar nicht so leicht, die Missetäter festzustellen, weil sich bis zu 200 Schüler ein Schulbuch teilen müssen, so bitterarm ist dieses Land. Man schaltet also den Geheimdienst ein. Tatsächlich gelingt es, mehr als 300 Kinder dingfest zu machen, und wirft sie ins Gefängnis. Dort sitzen sie jetzt, zusammen mit Schwerverbrechern, unter unmenschlichen Bedingungen. Es wird Sie nicht überraschen, dass ich von Burundi gesprochen habe und dessen Präsidenten Nkurunziza. Der Schuss ging aber nach hinten los: Was mit einer Handvoll Schülern begann, wurde zur nationalen Protestbewegung. Der „Kritzelaufstand“ hat inzwischen das ganze Land erfasst und über die sozialen Netzwerke internationale Beachtung gefunden. Doch eigentlich klingt das alles noch wenig dramatisch. Die Lage ist jedoch dramatisch: Die UN spricht von 564 Exekutionen in Burundi seit dem Beginn der Proteste im April 2015 gegen den Präsidenten Nkurunziza, der sich verfassungswidrig zu einer dritten Amtszeit wählen ließ. Dies ist jedoch nur die Spitze eines Eisbergs. Es liegen Beweise vor, für das unerklärliche Verschwinden von Menschen, für Masseninhaftierungen, Vergewaltigungen, für Folter und Mord. Geschätzt sind es mehrere Tausend Opfer. Satellitenbilder deuten auf Massengräber hin. Die Regierung Burundis bestreitet alles. Unsere Regierung hat innerhalb ihrer Möglichkeiten reagiert. Bereits im Juni 2015 hat das BMZ seine regierungsnahe Entwicklungszusammenarbeit eingestellt. Trotzdem führt es die unmittelbare Hilfe für Menschen fort. Mittlerweile sind 300 000 Menschen in die Nachbarländer von Burundi geflohen, wohl vor allem Tutsi, darunter die Hälfte aller Armeeoffiziere. Ruanda, das sich als Schutzmacht der Tutsi fühlt, trifft nun der Vorwurf des Hutu Nkurunziza, sie für einen Guerillakrieg auszubilden. Mit ihrem Beschluss zum Austritt aus der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zeigt die burundische Regierung, dass ihr Recht und Gesetz gleichgültig sind. Nach dem Völkermord in Ruanda 1994 und dem Bürgerkrieg in Burundi 2005, die mehr als 1 Million Opfer gekostet haben, könnte ein noch schlimmerer ethnischer Konflikt in dieser Region bevorstehen, sollte Präsident Nkurunziza die ethnische Karte spielen. Niemand scheint diese Entwicklung verhindern zu wollen: Die UN konnte sich nicht einmal auf eine mit 3 000 Mann hoffnungslos unterdimensionierte Mission einigen. Die knapp 100 unbewaffneten Beobachter der Afrikanischen Union und der UN sind komplett machtlos. Schlimmer noch: Als Vorsitzender der Afrikanischen Union verkündet Präsident Déby aus dem Tschad nach seinem Besuch bei Bundeskanzlerin Merkel, ausländischer Einfluss sei die Ursache für die Unruhen in Burundi, und verteidigt sophistisch die dritte Amtszeit des burundischen Präsidenten als rechtmäßig. Letzteres zeigt: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Es beweist, dass afrikanische Probleme – entgegen der Ansicht von Monsieur Déby – nur mit internationaler Hilfe gelöst werden können. Diese internationale Hilfe muss bald kommen. Christlich geprägte Demokraten dürfen niemals hinnehmen, dass Menschen grausam hingemetzelt werden. Wir leben in Freiheit und Frieden. Wir müssen versuchen, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Lernen am despotischen Modell erzeugt Despoten. Jeder kann heute in Syrien das zügellose Vernichten von Menschenleben en gros beobachten und die Reaktion der ohnmächtigen Weltgemeinschaft. Für kleine Despoten ist Syrien eine gute Gelegenheit, im Windschatten der großen Auseinandersetzungen schnell einmal die eigenen Probleme mit Waffengewalt zu lösen. Denn der Rest der Welt wird sich zurückhalten. Lassen Sie uns beweisen, dass uns die Menschen von Burundi wichtig sind. Will man langfristig die Entwicklung zum Frieden fördern, muss man bei denen beginnen, die am wenigstens Einfluss in Burundi haben, die im menschenverachtenden Machtkarussel keinen aktiven Part spielen, nämlich bei den Frauen. In den ärmsten Ländern der Welt, dichtbesiedelt und mit den global höchsten Geburtenraten, sind sie der Schlüssel dafür, dass Hilfen, die das Land erhält, effektiv eingesetzt werden. Mit Hilfen für die Frauen in Burundi hat das BMZ bereits begonnen. Sorgen wir dafür, dass der gute Anfang nicht wieder zerstört wird. Stimmen Sie bitte für den vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen. Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU): Einen besonderen Gast möchte ich auch herzlich begrüßen: Jacques Nshimirimana ist aus Burundi für ein paar Tage in Berlin. Vorgestern wurde er für seinen herausragenden Einsatz für Kinder in Not mit dem Child Protection Award von ora Kinderhilfe international e.V. ausgezeichnet. Schon seit 17 Jahren setzt er sich als Anwalt und vierfache Familienvater für die Freiheit, die Sicherheit und die Bildung von Jungen und Mädchen in Burundi ein. Seine Organisation SOJPAE geht gegen Menschenhändler, sexuelle Gewalt gegenüber Mädchen und willkürliche Verhaftungen von Kindern vor. Er sagte mir diese Woche im Bundestag: Als Kinderrechtverteidiger begrüße ich die Freilassung durch die burundische Regierung der circa 500 Kinder, die im Laufe der politischen Krise festgenommen waren worden sowie das Engagement der burundischen Regierung, um die Kinderhändler festzunehmen. – Seit mehreren Jahren und verstärkt seit der Verschlechterung der politischen Lage werden in Burundi Kinder und junge Frauen entführt oder unter falschen Versprechen rekrutiert und dann in andere Ländern wie Saudi-Arabien und Oman verschleppt und verkauft. Die tiefe Krise, in die das ostafrikanische Land gestürzt ist, entstand letztes Jahr durch die umstrittene Wiederwahl zu einer verfassungswidrigen dritten Amtszeit von Präsident Pierre Nkurunziza. Seitdem wird jede Form von Protest unterdrückt. Hier sind die Fakten. Der Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen – Juni 2016 – sowie der Ausschuss gegen Folter der VN – September 2016 – berichteten über: 348 außergerichtliche Hinrichtungen, 9 Massengräber um Bujumbura, die teilweise von den Behörden anerkannt worden sind, Verschwindenlassen von 36 Oppositionspolitikern, 3 477 willkürliche Festnahmen, Angriffe und Einschüchterung von Menschenrechtsverteidigern, wie von Pierre Clavier Mbonimpa, dem Vorsitzenden des burundischen Vereins für den Schutz der Menschenrechte und Mitglied der Plattform „Keine dritte Amtszeit“. Seit einem Mordanschlag gegen ihn ist er in Belgien. Inzwischen wurde sein Schwager auf der Straße ermordet. Einer seiner Söhne wurde von einem Polizisten bei einer Identitätskontrolle erschossen. Beide Mordfälle werden nicht untersucht. Diese Verbrechen gegen die burundische Zivilgesellschaft müssen aufhören. Die burundische Regierung muss dringend ihren internationalen Verpflichtungen nachkommen, zu denen insbesondere die Achtung der Grundfreiheiten und die Freiheit der Meinungsäußerung sowie die Pressefreiheit zählen. Die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht müssen eingehalten und die Sicherheit der burundischen Bevölkerung gewährleistet werden. „Es war niemand mehr in Burundi, um die Menschenrechte der Burundier zu verteidigen“, erklärte mir Jacques Nshimirimana. Mit der autokratischen Tendenz des Regimes ist das Engagement von Menschenrechtsverteidigern im Land mehr als je wichtig – und gefährlich. Die Leben von Menschenrechtsverteidigern und Kinderrechtverteidigern wie Jacques Nshimirimana werden bedroht. Ich rufe die burundische Regierung auf, die Menschenrechtverteidiger und insbesondere die Kinderrechtverteidiger, die sich für die Vulnerabelsten starkmachen, zu schützen. Ich lade Sie ein, im Rahmen des Programms „Parlamentarier schützen Parlamentarier“, PsP, unseres Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ebenfalls einen Beitrag zu leisten. Letzte Woche hat das burundische Parlament beschlossen, die Statuten von Rom aufzukündigen. Burundi ist damit das erste Land, das seine Mitgliedschaft beim Internationalen Strafgerichtshof formell beendet. In der Debatte war es die Frage einer „Verschwörung der internationalen Gemeinschaft“. Die burundische Regierung warf den „großen Mächten“ vor, der Internationalen Strafgerichtshof als Druckmittel gegen die Regierungen von armen Ländern sowie ein Mittel, um sie zu destabilisieren, zu nutzen. Ob wir in Europa als Weltmacht die afrikanischen Länder daran zu hindern, sich selbst zu finden? Zwar können wir von unserem Nachbarkontinent nicht verlangen, dass er in ein paar Jahrzehnten die gleichen sozialen Standards erreicht, für die wir als freie und unabhängige Staaten Jahrhunderte brauchten, aber Menschenrechte lassen sich nicht diskutieren. Jedem Menschen, egal woher er kommt und wo er lebt, hat ein Recht auf Freiheit und Würde. Laut Afrobarometer, einem Netzwerk von unabhängigen Umfrageforschungsinstitutionen, das unter anderem von der Mo Ibrahim Foundation, USAID und Transparency International finanziell unterstützt wird, waren 2012: 62 Prozent der Burundier zugunsten einer Beschränkung der präsidialen Amtszeit auf zwei Mandate. 70 Prozent der Burundier sagen, dass die Nachrichtenmedien frei sein sollten, jede Meinung zu veröffentlichen. 81 Prozent der Burundier wollen, dass die Presse die Fehler der Regierung und Korruption untersucht und darüber berichtet. Trotz der Diskussion über eine „afrikanische Form der Demokratie“, die etwa eine größere Rolle für traditionelle Autoritäten vorsieht, unterstützt die Mehrheit der Bürger afrikanischer Staaten die universalen Menschenrechte und die Verfahren der liberalen Demokratie. Daher ist die derzeitige Unterdrückung der Demonstrationen in Äthiopien keine gute Nachricht. Die Verzögerung der Präsidentschaftswahlen in der Demokratischen Republik Kongo und die Diskussion über eine dritte präsidiale Amtszeit in Ruanda sind ebenfalls besorgniserregend. „Gibt es bald einen Ehrendoktor in Sachen Langzeitherrschaft?“, fragte die Zeitschrift Africa Positive in ihrer letzten Ausgabe. Ich zitiere: „Existiert ein Handbuch mit Kapitelüberschriften wie ,Rücksichtlose Ausmerzung jeglicher Opposition leicht gemacht?‘ ... ,Wie man sich sein eigenes Volk wählt‘, ,Demokratisierte Despotie‘, ,Die Menschenrechte – ein Auslaufmodell‘ oder Ähnliches?“ Es folgt die lange Liste der afrikanischen Anführer, die sich seit vielen Jahren an der Macht halten, sowie ein Zitat vom ugandischen Präsidenten Museveni: „Das Problem Afrikas sind nicht die Leute, sondern die Anführer, die viel zu lange an der Macht bleiben wollen.“ Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut. Kaum jemand ist davor gefeit. Nach einigen Jahren absoluter Macht werden oft selbst integerste Menschen zu Tyrannen. Vor ein paar Wochen beim Gespräch im Bundestag illustrierte ein Vertreter der Afrikanischen Union das Problem derart: „Wie kann man einen Betrunkenen aus dem chinesischen Porzellanladen bringen, ohne alle Teller zu zerbrechen?“ „Das Wohl Afrikas liegt im deutschen Interesse“, wiederholt unsere Kanzlerin seit ihren offiziellen Besuchen auf dem afrikanischen Kontinent letzte Woche. Gern unterstützen wir die Menschen unseres Nachbarkontinents dabei, bessere Lebensstandards zu erreichen. Dafür ist der Dialog aber unabdingbar. Daher können wir nur bedauern, dass die burundische Regierung die drei eingesetzten Experten des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen vor zehn Tagen für Persona non grata erklärte und die Zusammenarbeit mit dem Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen in Bujumbura einstellte. Als Deutscher Bundestagesabgeordneter engagiere ich mich schon seit Jahren für stärkere Beziehungen mit den afrikanischen Ländern. Dabei bedanke ich mich bei den afrikanischen Botschaftern für die gute Zusammenarbeit. Meine Einladung zu runden Tischen zu Wasserthemen sowie nach Chemnitz zu „Business trifft Afrika“ wird gern gefolgt. Für mehr Zusammenarbeit oder einen Austausch stehe ich immer gern zur Verfügung. Denn ich bin der Überzeugung, dass wir viel von Afrika zu lernen haben. Ich schwärme oft von Afrika als unserem großen Bruder oder unserer großen Schwester. Übrigens, wie Lutz van Dijk in seiner unbefangenen Geschichte eines bunten Kontinents es darstellt: „Genetisch gesehen, sind wir Menschen nach wie vor alle Afrikaner, jedenfalls mehr Afrikaner als alles andere.“ Gabi Weber (SPD): Gestern Abend war Russlands Präsident Wladimir Putin erstmal seit Beginn der Krise in der Ukraine offiziell in Berlin. Die Bundeskanzlerin betonte im Anschluss an das Treffen mit ihm, wie wichtig es gewesen sei, den direkten Gesprächskanal auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs wieder zu eröffnen. Warum erwähne ich das zu Beginn meiner Rede zu Burundi? Weil ich ebenfalls der festen Überzeugung bin: Ohne Dialog keine Fortschritte, ohne diese Fortschritte kein Frieden. Heute Vormittag traf ich mich mit der neuen Botschafterin Burundis zu einem ersten Gespräch. Im Verlaufe unserer Unterredung wurde klar, wie wichtig es beiden Seiten trotz grundlegender Meinungsunterschiede ist, im Dialog zu bleiben und nach Wegen zu suchen, die Krise in Burundi beizulegen. Die Lage ist alles andere als stabil, und es geht nicht voran. Wir dürfen uns aber gerade jetzt nicht abwenden und der langen Liste vergessener Konflikte einen weiteren hinzufügen. Zuletzt haben wir uns hier im Plenum am 9. Juni mit Burundi befasst. Hat sich über den Sommer die Lage irgendwie verbessert? Ich muss das leider verneinen. Burundi macht auf den interessierten Beobachter den Eindruck, in einer politischen Sackgasse zu stecken. Der Konflikt wirkt festgefahren, und es herrscht eine angespannte und instabile Lage, die mit dem Bild einer Ruhe unter vorgehaltener Waffe recht gut beschrieben ist. Ich bedauere sehr, dass Burundi in der hiesigen Berichterstattung eher als Randnotiz oder nur in Spezialmedien auftaucht. So entstehen vergessene Konflikte, die dann irgendwann in wesentlich dramatischerer Weise wieder auf dem Radar der internationalen Aufmerksamkeit auftauchen. Das dürfen wir nicht zulassen, und dafür beraten wir heute auch abschließend diesen Antrag, damit die Bundesregierung alles ihr Mögliche unternimmt, um diesen Konflikt wenigstens zu beruhigen, denn von einer Lösung sind wir im Moment weit entfernt. Welche Entwicklung hat es seit Juni gegeben? Die Mehrzahl der Vertreter von Opposition und zivilgesellschaftlichen Organisationen befindet sich im Ausland, im Untergrund oder in Haft. Sowohl Regierung als auch Teile der Opposition setzen gezielt Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen ein. Zudem ist wegen der angespannten wirtschaftlichen Lage das Niveau der allgemeinen Kriminalität deutlich angestiegen. Mit circa 315 USD Pro-Kopf-Einkommen liegt Burundi aktuell weltweit an letzter Stelle. Die Flüchtlingssituation: Die Lebens- und insbesondere die Ernährungssituation der Menschen in Burundi verschlechtert sich zunehmend, die Flüchtlingszahlen steigen: Aktuell sprechen wir von fast 300 000 Menschen in den Nachbarstaaten Tansania, Ruanda, der DR Kongo, Uganda und Sambia sowie rund 100 000 Binnenflüchtlingen. Das BMZ unterstützt das tansanische Flüchtlingslager über das Welternährungsprogramm mit 14 Millionen Euro, das Auswärtige Amt gibt 3,5 Millionen Euro für humanitäre Hilfe an das UNHCR. Dazu kommen weitere NGO-Projekte in Höhe von 650 000 Euro aus Mitteln für humanitäre Hilfe. Nicht allein die politische Situation ist ein Fluchtgrund. Wie aus anderen Zusammenhängen finden wir auch hier den fast schon klassischen Katalog von Fluchtursachen, zum Beispiel mangelnde persönliche und öffentliche Sicherheit sowie wirtschaftliche Perspektivlosigkeit. In den Straßen der Hauptstadt Bujumbura ist es zwar ruhiger geworden, aber bewaffnete Jugendmilizen sind in den Wohnvierteln der Regimegegner aktiv. Die Armee, die Polizei und der Geheimdienst wurden nach politisch-ethnischen Gesichtspunkten umgebaut. Unterstützung der Bevölkerung: Es ist erfreulich und sehr hilfreich, dass wir trotz der Teileinstellung der bilateralen staatlichen Entwicklungskooperation des BMZ im Bereich der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit weiterhin auf das Engagement vieler großer und kleiner Nichtregierungsorganisationen zählen können. Die Arbeit privater Träger und das anhaltende private Engagement sind sehr wichtig. Das anhaltende private Engagement ist ein starkes Zeichen internationaler Solidarität. Die bereits begonnen BMZ-Projekte auf lokaler und kommunaler Ebene laufen ebenfalls weiter. Allerdings müssen wir uns bereits jetzt Gedanken machen, wie es nach deren Auslaufen 2018 weitergehen soll. Ich bitte die Regierung, diesbezüglich ihren Ansatz der direkten Bevölkerungsunterstützung weiterzuverfolgen und entsprechende Anschlussplanungen vorzunehmen. All das zeigt, dass wir die Bevölkerung nicht vergessen und unabhängig von der angespannten politischen Lage ihre dringendsten Bedürfnisse im Blick behalten. Die EU hat ihre gezielten Sanktionen wegen der Krise in Burundi um ein Jahr verlängert. Drei Vertraute des umstrittenen Präsidenten Pierre Nkurunziza sowie ein Putschist bleiben bis Ende Oktober 2017 mit Einreise- und Vermögenssperren belegt. Am 27. September 2016 legte eine Expertenkommission dem UN-Menschenrechtsrat ihrem Abschlussbericht über die Menschrechtslage in Burundi vor. Sie wies darin auf die trügerische „Stabilität“ hin und prangerte insbesondere systematische Verfolgung, schwerste Folter, ungesetzliche Hinrichtungen durch burundische Sicherheitskräfte sowie sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt an. Dieser Bericht führte zum Beschluss der Entsendung einer Untersuchungskommission nach Burundi. Das wurde von der Regierung allerdings mit einer eindeutigen Ablehnung beantwortet, die beteiligten UNO-Menschenrechtsexperten wurden zu unerwünschten Personen erklärt und die Zusammenarbeit mit dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte ausgesetzt. Die Nationalversammlung in Bujumbura stimmte zudem aufgrund des laufenden Verfahrens gegen das ostafrikanische Land wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unlängst mit großer Mehrheit für den Austritt aus dem Internationalen Strafgerichtshof. Burundi wäre damit das erste Land, das die Zusammenarbeit mit dem Gericht in Den Haag aufkündigt. Beobachtern zufolge plant die Regierung zudem, die Amtszeitbeschränkungen der Verfassung und die Quoten zwischen Hutu und Tutsi aus dem Arusha-Abkommen in Kürze abzuschaffen. In einer solchen Situation ist die Äußerung des aktuellen Vorsitzenden der Afrikanischen Union, Idriss Déby, nicht hilfreich, wenn er feststellt, dass die Probleme Burundis allein ausländischer Einmischung zuzuschreiben seien und Präsident Nkurunziza verfassungsgemäß sein drittes Mandat ausübt. Damit konterkariert Déby auch die eigenen Bemühungen der AU um eine Entspannung der Situation. Was können wir also überhaupt tun? Unser Antrag listet eine Reihe von diplomatischen, humanitären und entwicklungspolitischen Maßnahmen auf, die durch die Bundesregierung umgesetzt, fortgeführt und intensiviert werden müssen. Darüber hinaus sind folgende Punkte wichtig: Zulassung von UN- und AU-Beobachtern im Land, um die im September im Bericht des UNO-Menschenrechtsrates zur Menschenrechtssituation in Burundi erhobenen Vorwürfe unabhängig untersuchen zu können. Es ist im Interesse der burundischen Regierung, hier auf größtmögliche Transparenz zu setzen, wenn sie der Meinung ist, dass die Vorwürfe nicht zutreffen. Die burundische Regierung sollte in diesem Zusammenhang ihren Rückzug vom Internationalen Strafgerichtshof ernsthaft überdenken. Die Zustimmung zu der vom UN-Sicherheitsrat am 29. Juli 2016 verabschiedeten Resolution 2303 ist immens wichtig. Sie sieht die Entsendung eines 228-köpfigen Polizeikontingents nach Burundi vor, das zur Verbesserung der Sicherheitslage einen wesentlichen Beitrag leisten könnte. Die 2015 beschlossene Stationierung von Menschenrechts- und Militärbeobachtern der Afrikanischen Union (AU) ist zügig zu ermöglichen, denn deren vollständige Entsendung scheitert bis heute an von der burundischen Regierung vorgeschobenen Formalien. Derzeit sind gerade mal 45 von 200 AU-Beobachtern vor Ort und ihre Arbeitsbedingungen sind schwierig. Die diplomatischen Bemühungen um einen echten innerburundischen Dialog müssen intensiviert werden. Es gibt noch immer enge Beziehungen zwischen Regierungs- und Oppositionskreisen, was aus dem besonderen Verständnis dieser beiden Pole im politischen System Burundis herrührt. Das muss zum Ausgangspunkt des Dialoges werden. Es ist mir noch wichtig, zu unterstreichen, dass wir es in Burundi bisher immer noch mit einer politischen und sozialen Krise zu tun haben, nicht mit einer ethnischen. Alle Versuche von verschiedener Seite, den Konflikt zu ethnisieren und Hutu gegen Tutsi aufzuhetzen, haben bisher nicht verfangen. Die traumatischen Erfahrungen des langen Bürgerkrieges von 1993 bis 2005 entlang ethnischer Linien haben die Bevölkerung Burundis nachhaltig geprägt und wachsam für die Gefahr ethnischer Auseinandersetzungen gemacht. Das macht Hoffnung, dass sich eine Lösung des Konfliktes im Geist des Arusha-Abkommens finden lässt. Ich bin sehr froh, dass es in der Ausschussberatung des vorliegenden Antrages gelungen ist, zumindest die Fraktion der Grünen von einer Zustimmung zu überzeugen. Dafür möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, schließen Sie sich uns an! Es wäre ein gutes und wichtiges Zeichen, dass es dem gesamten Hohen Hause wichtig ist, dass Deutschland sich weiterhin in der Region engagiert und Burundi und seine Menschen nicht vergisst. Inge Höger (DIE LINKE): Oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als hätte sich die Lage in Burundi beruhigt. Es gibt keine großen Straßenschlachten und infolgedessen auch weniger Opfer bewaffneter Auseinandersetzungen. Doch ein zweiter Blick macht klar, dass keineswegs alles gut ist in Burundi. Deshalb ist es auch verfrüht und wäre ein Fehler, wenn nun die ohnehin schwache internationale Aufmerksamkeit bezüglich der menschenrechtlichen Situation in Burundi nachlässt. Nach wie vor halten sich etwa 300 000 burundische Bürgerinnen und Bürger in den Nachbarländern auf. Zusätzlich gibt es ungefähr 100 000 Binnenflüchtlinge. Die Berichte über die Lage der Menschenrechte in Burundi sind besorgniserregend. Es gibt Belege für systematische Folter, für Verschleppung und politische Morde. Ich begrüße deswegen ausdrücklich die Arbeit der UN-Untersuchungskommission und bedaure, dass einzelne UN-Vertreter des Landes verwiesen wurden. Es ist zudem eine gefährliche Entwicklung, dass das burundische Parlament mehrheitlich beschloss, die Zusammenarbeit des Landes mit dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag aufzukündigen. Diese Entscheidung kommt gleichwohl nicht völlig überraschend. Schon seit mehreren Jahren wird besonders in Afrika kritisiert, dass allein Bürger afrikanischer Staaten vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden. Einmal mehr wird deutlich, dass die selektive Anwendung internationaler Rechtsnormen ein massives Glaubwürdigkeitsproblem schafft. Es ist an der Zeit, auch die Kriegsverbrechen westlicher Staaten juristisch aufzuarbeiten. Der einzige Lichtblick in Burundi ist die Tatsache, dass es bis jetzt – trotz staatlicher Hetze – nicht gelungen ist, den Konflikt zu ethnisieren, sondern es im Kern nach wie vor eine politische Auseinandersetzung ist. Wenn wirklich eine dauerhafte politische Lösung gefunden werden soll, dann führt nichts an einem politischen Dialog zwischen Regierung und Opposition vorbei. Ohne kontinuierliche Unterstützung – und Druck – von außen wird dies wohl nicht zu bewerkstelligen sein. Die Linke spricht sich in der Regel nicht für Sanktionen aus, auch und gerade weil diese zumeist die Situation der Bevölkerung verschlechtern. Es gibt jedoch einen Bereich der Kooperation mit der burundischen Regierung, der dringend genauer betrachtet werden muss, und es ist mehr als bedauerlich, dass dazu im vorliegenden Antrag nichts zu finden ist. Die EU gibt jährlich mehr als 200 Millionen Dollar für die internationale Militär-Mission in Somalia (AMISOM) aus, mit der in diesem Bürgerkriegsland Frieden militärisch erzwungen werden soll. Burundi ist mit etwa 5 400 Soldaten einer der größten Truppensteller innerhalb von AMISOM. Dies ist für das arme Land Burundi ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Der Staat Burundi verdient daran jährlich etwa 13 Millionen Dollar, und zusätzlich erhalten die beteiligten burundischen Soldaten zusammen 52 Millionen Dollar als Sold. Diese Einnahmen sind eine Art Lebensader für die burundische Regierung. Ohne diese Zusatzeinnahmen für sogenanntes „Peace-keeping“ hätte die burundische Armee möglicherweise Probleme, die Loyalität ihrer Angehörigen zu behalten. Die Soldaten der AMISOM sind immer wieder in Skandale wie Korruption und sexuellen Missbrauch verwickelt. Ob ihre Präsenz in Somalia wirklich zu einer stabilen Friedenslösung beitragen kann, ist zweifelhaft. Klar ist, dass neben der erwähnten Zahlung von Sold auch die Ausbildung für die AMISOM-Soldaten und deren Ausrüstung mit Waffen und Munition Faktoren im fragilen Machtgefüge in der Region sind. Die Bundeswehr ist seit mehreren Jahren Teil dieser Ausbildungsmission. Es ist schon mehr als fragwürdig, wenn der Versuch, gewaltsam eine politische Lösung in Somalia durchzusetzen, gleichzeitig bedeutet, dass die undemokratische und menschenrechtsfeindliche Politik in einem anderen Land gefördert wird. Es muss endlich Schluss sein mit einer Politik, die hofft, mit eigenen Soldaten und Waffen oder mit der Finanzierung von Soldaten und Waffen anderer Akteure Frieden zu schaffen. Es ist Zeit, diese Unlogik von Krieg, Intervention und Gewalt zu durchbrechen und die freiwerdenden finanziellen und personellen Ressourcen für friedliche Konfliktbearbeitung und Entwicklungsinitiativen zu verwenden. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Koalition hat wertvolle Zeit verschwendet. Die Grünen haben mit ihrem Antrag „Gewalt in Burundi stoppen – Weitere massive Menschenrechtsverletzungen verhindern“, Bundestagsdrucksache 18/6883, schon Ende 2015 die Bundesregierung aufgefordert, sich aktiver für den Schutz der Menschenrechte in Burundi einzusetzen. Der Antrag wurde von der Koalition abgelehnt. Dabei sind die neusten Meldungen aus Burundi der beste Beweis dafür, dass viel früher viel mehr hätte passieren sollen. Inzwischen kündigte Burundi als erster Staat der Welt sogar die Zusammenarbeit mit Internationalem Strafgerichtshof und stellte die Zusammenarbeit mit dem Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen in Bujumbura ein. Das Land schottet sich vor unseren Augen ab und die Zivilbevölkerung lebt in Angst. Das tut sie schon, seitdem sich der burundische Präsident Nkurunziza 2015 trotz der Obergrenze von zwei Mandaten ein drittes Mal aufstellen ließ. Im Land führte dies einerseits zu Protesten und andererseits zu massiven Menschenrechtsverletzungen gegen die Regierungsgegner.  Dennoch lehnte die Koalition unseren Antrag sowie die Erarbeitung einer interfraktionellen Initiative ab und brachte ein halbes Jahr später einen eigenen Antrag ein. Er enthält zwar wichtige Punkte, unsere Forderungen bleiben jedoch nach wie vor aktuell; denn die Weltgemeinschaft und gerade Deutschland müssen die vorhandenen Instrumente der Früherkennung und der Verhinderung von schwersten Menschenrechtsverletzungen im Sinne der Schutzverantwortung weiter schärfen. Hier gibt es noch große Defizite und der Antrag der Koalition geht nur sehr vorsichtig auf dieses Thema ein. Dabei hat sich die Weltgemeinschaft Jahrzehnte in Burundi engagiert. Die Nachbarländer, die Afrikanische Union, die Vereinten Nationen und die EU haben alle nach Jahren von Unruhen und Gewalt Burundi auf dem steinigen Weg zu einem Friedensabkommen im Jahr 2000 begleitet. Auch bei der Umsetzung standen diese Akteure dem Land zur Seite. Nun sind seit April 2015 laut UNHCR fast 300 000 Menschen aus Burundi geflohen und über 100 000 intern vertrieben worden. Wie kann das sein? Wieso hat man den Einfluss im Land nicht nützen können, um diese Entwicklung zu verhindern? Diese Frage muss sich auch die Bundesregierung stellen. Der UN-Bericht vom 20. September dieses Jahres weist darauf hin, dass in Anbetracht der Geschichte Burundis die Gefahr eines Völkermords nicht auszuschließen sei. Manche der begangenen Verbrechen könnten womöglich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit klassifiziert werden. Der Bericht empfiehlt die dringende Aufnahme eines unabhängigen gerichtlichen Verfahrens, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Nach den letzten Entscheidungen Burundis wird so ein Verfahren wohl noch schwieriger sein. Wir, die Weltgemeinschaft, können es einfach nicht erlauben, dass schwerste Menschenrechtsverletzungen ohne Konsequenzen bleiben. Deshalb muss auch die Bundesregierung endlich aktiver werden – nicht nur wegen der Situation in Burundi, sondern auch wegen der Stabilität in der gesamten Region. In der Hoffnung, dass dieser Antrag zumindest eine kleine Verbesserung bewirken kann, stimmen wir ihm zu. Schade, dass die Koalition bei unserem Antrag dazu nicht in der Lage war. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Schutz von Walen und Delfinen stärken – des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke, Nicole Maisch, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wirksamen Walschutz weltweit durchsetzen (Zusatztagesordnungspunkte 8 und 9) Gitta Connemann (CDU/CSU): Wer von uns kennt nicht Moby Dick? Die Geschichte des weißen Wals und seines Jägers Kapitän Ahab hat Generationen von Lesern gefesselt. Auf der einen Seite der Pottwal als Sinnbild der Natur, auf der anderen Seite der Mensch auf seinem Rachefeldzug. Kapitän Ahab jagt den Wal Moby Dick, der ihm ein Bein abgerissen hatte; Mensch gegen Wal – auf Augenhöhe. Diese Augenhöhe gibt es schon lange nicht mehr. Wale, auch die kleinen Zahnwale, die Delfine, werden verfolgt, mit modernster Technik gehetzt und gejagt. Im Mittelpunkt steht das Geschäft. Deshalb haben auch Anträge zur Verbesserung ihres Schutzes in diesem Haus traurige Tradition. Von Legislaturperiode zu Legislaturperiode fordern wir über die Parteigrenzen hinweg, dass der kommerzielle Walfang weltweit beendet wird. Diese Forderung ist unverändert nötig, bitter nötig; denn die für den Schutz der Wale notwendigen Fortschritte konnten bis jetzt nicht erreicht werden – trotz allen öffentlichen Drucks. Zwar verbietet seit 1986 ein Moratorium der Internationalen Walfangkommission, IWC, die kommerzielle Jagd auf Wale. Dabei ist die IWC noch nicht einmal eine Walschutzorganisation. Ursprünglich sollte sie Fangquoten festlegen, die den Bestand der Großwale nicht gefährden und den Walfang damit langfristig sichern. Aber es wurde deutlich, dass ein Walbestand nach dem anderen am Rand der Ausrottung stand. Nur Fakt ist: Länder wie Island, Norwegen oder Japan erkennen das Moratorium entweder gar nicht – mehr – an oder höhlen es aus. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Jedes Jahr aufs Neue wiederholen sich die Szenen vor dem japanischen Walfangort Taiji. Wenn Anfang September die Saison der Treibjagd auf Delfine beginnt, ist das jährliche Schlachten eröffnet. Bis März werden die Tiere gejagt und in einer Bucht zusammengetrieben. Dort werden die besten Tiere aussortiert. Der Rest wird abgeschlachtet, gesprengt oder erstickt. Diese Jagd ist nichts anderes als ein Blutbad, ein Blutbad unter dem Deckmantel der Walforschung. Den Rahmen dafür bildet das Walforschungsprogramm, NEWREP-A. Es erlaubt, über zwölf Jahre hinweg insgesamt knapp 4 000 Wale zu erlegen. 4 000 Wale in zwölf Jahren. Oder umgerechnet: 333 dieser einmaligen Meeressäuger dürfen getötet werden, Jahr um Jahr, im Namen der Forschung. Aber es geht noch schlimmer. In der Fangsaison 2015/2016 waren von diesen 333 Walen sage und schreibe 200 Tiere trächtig. Es ist eine Schande. Dieses Schlupfloch nutzt Japan seit November 2014, um wieder Wale zu fangen. Kommerzieller Walfang wird kurzerhand als Walforschung deklariert. Forschungszwecke werden vorgeschoben. Das ist nichts anderes als eine Ausrede. Die Walforschung braucht keine Massaker. Diese hat im 21. Jahrhundert ganz andere technologische Möglichkeiten. Das Verhalten Japans ist ein schwerer Schlag gegen den Schutz der Wale. Wir in der CDU/CSU-Fraktion sind der Bundesregierung deshalb dankbar. Diese hatte sich im Dezember letzten Jahres einem internationalen diplomatischen Einspruch gegenüber der japanischen Regierung angeschlossen und die Wiederaufnahme des Walfangs deutlich kritisiert. Dieser Druck muss über Japan hinaus aufrechterhalten werden. Denn brutale Treibjagden, das Gemetzel von Delfinen und Walen beschränkt sich nicht allein auf Japan. Auch in Norwegen und Island steht der kommerzielle Walfang auf der Tagesordnung. Das muss endlich ein Ende haben. Die Welt muss handeln. Wir müssen Wale und Delfine noch besser schützen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich beim Treffen der IWC-Mitgliedstaaten in Portoroz zum Anwalt der Meeressäuger zu machen. Die Konferenz der Internationalen Walfangkommission beginnt heute in Slowenien. Dort muss ein starkes Zeichen gegen die Jagd und Tötung von Walen und Delfinen gesetzt werden. Dafür haben wir unseren Antrag vorgelegt. Darin fordern wir: Im Interesse des Walschutzes müssen der Erhalt, die Stärkung und vor allem eine bessere Durchsetzung des Moratoriums erreicht werden – ohne Wenn und Aber. Für die Tötung von Walen gibt es keinen Grund. Anträge, die auf eine Aushöhlung des Walfangmoratoriums abzielen, sind abzulehnen. Wir fordern die Bundesregierung aber auch auf, sich gemeinsam mit anderen Vertragsstaaten auf der IWC-Tagung dafür einzusetzen, dass Norwegen und Island ihre Walfangaktivitäten einstellen. In Europa muss kommerzieller Walfang der Geschichte angehören. Niemand braucht im 21. Jahrhundert Nahrungsergänzungsmittel oder Kosmetik aus Walöl. Das Abschlachten der Tiere ist hiermit nicht zu rechtfertigen – im Gegenteil. Es gibt eine Ausnahme: Für indigene Völker mit Walfangtradition wie Aleuten, Inuit oder Eskimos sind Wale Nahrung. Ihnen muss der Walfang zum Eigenverbrauch weiter erlaubt sein. Es ist unsere Pflicht, Wale und Delfine noch besser zu schützen, damit unsere Kinder und Enkel, wenn sie Moby Dick lesen, nicht fragen: Was ist eigentlich ein Wal? Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU): Zur Ordnung der Wale zählt eine Vielzahl von Arten, die sich auf unterschiedliche Weise an die Bedingungen in den Meeren dieser Welt angepasst haben. Wale werden in Barten- und Zahnwale unterteilt, die sich wiederum in verschiedene Familien untergliedern. So zählt der Südliche Zwergwal zur Familie der Furchenwale, die wiederum zur Unterordnung der Bartenwale gehört. Bereits im Mittelalter wurden in Europa Wale gejagt. Die Fischer hatten es dabei vor allem auf die großen Mengen an Fleisch sowie den als Brennstoff verwendbare Waltran abgesehen. Die Jagd beschränkte sich zu dieser Zeit auf die Küstengebiete. Erst ab 1630 begannen Holländer mit der Waljagd auf offener See. Ein deutliches Wachstum erlebte die Walfangindustrie im 17. und 18. Jahrhundert. Vor allem Pottwale rückten in den Fokus der Parfüm- und Kerzenindustrie. Ein solcher Anstieg der Waljagd wiederholte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Grund waren dieses Mal technische Erfindungen. Mithilfe von neu entwickelten Sprengharpunen konnten nun auch die schnellen Furchenwale, wie Blau- und Finnwale, gejagt werden. Zusätzlich ermöglichte die Dampfschifffahrt eine enorme Ausdehnung der Fanggebiete. Nach der ersten erfolgreichen Ölbohrung im Jahr 1859 wurde Walöl als Lampenbrennstoff von Petroleum abgelöst. Dennoch blieb Waltran ein wichtiger Grundstoff vieler Produkte und wurde für Produktionsprozesse benötigt. Hinzu kam, dass die Wale ab Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend von Fabrikschiffen direkt auf dem Meer verarbeitet wurden. Mit dieser Industrialisierung der Waljagd steigerte sich in den 1930er-Jahren die Zahl der getöteten Wale auf weltweit jährlich über 30 000. Aufgrund dieser Entwicklung wurde vor genau 70 Jahren die Internationale Walfangkommission, IWC, eingerichtet. Sie zielte zu dieser Zeit jedoch nicht auf den Schutz der Meeressäuger ab, sondern vielmehr darauf, die Bestände in einem für das weitere Bestehen der Walfangindustrie notwendigen Umfang zu erhalten. Die Konsequenz dieses fehlgeleiteten Ansatzes offenbarte sich spätestens in der Fangsaison 1961/1962, in der über 66 000 Wale getötet wurden. Dabei handelte es sich allerdings nur um die offiziellen Zahlen, die eine systematische Fälschung der Fangzahlen durch einzelne Nationen nicht berücksichtigten. So stellte sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion heraus, dass die Sowjets bis Ende der 1970er-Jahre fast 180 000 Pottwale illegal gefangen hatten. In den 1980er-Jahren generierten spektakuläre Aktionen der Umweltorganisation Greenpeace eine öffentliche Aufmerksamkeit für die prekäre Situation der Wale. Vor allem jedoch der massive Rückgang der Walpopulationen sorgte schließlich für ein grundlegendes Umdenken. In der Konsequenz trat im Jahr 1986 das durch die IWC vier Jahre zuvor beschlossene Walfangmoratrium in Kraft. Ab diesem Zeitpunkt war der kommerzielle Walfang verboten. Dennoch hat Japan seit dem Inkrafttreten des Moratoriums rund 18 000 Wale getötet. Als Begründung werden wissenschaftliche Untersuchungen angeführt, die gemäß Artikel 8 der IWC-Konvention den Fang von Walen erlauben. Faktisch handelt es sich allerdings um kommerziellen Walfang. So hat ein IWC-Expertengremium dem aktuellen japanischen Programm die wissenschaftliche Rechtfertigung abgesprochen, was von Japan ignoriert wird. Allein in den letzten zehn Jahren fielen den japanischen Explosivharpunen im Namen der Wissenschaft 10 712 Zwergwale zum Opfer. Angesichts der Zahlen müsste es sich bei dieser Walart um das am besten untersuchte Lebewesen der Welt handeln – leider weit gefehlt. Die massenhaften Tötungen mündeten in nur zwei Publikationen in Fachzeitschriften. Was japanische Wissenschaftlicher anhand von über 10 000 Walkadavern auch herausgefunden haben mögen, sie wollen dieses Wissen offensichtlich nicht mit der Menschheit teilen. Es darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass es neben Japan noch zwei weitere Staaten gibt, die kommerziellen Walfang betreiben. Während die Japaner im Zeitraum von 2014 bis 2015  663 Großwale töteten, erlegte Island 345 Wale und Norwegen gar 1 396. Zwar begründen Island und Norwegen ihre Jagd nach Walen nicht mit ominösen wissenschaftlichen Ansätzen, dennoch ist auch hier die Sinnhaftigkeit der Waltötungen äußerst fraglich. So wurden im Jahr 2014 mehr als 113 Tonnen Zwergwal auf norwegischen Pelztierfarmen an Zuchtnerze und -füchse verfüttert. Doch nicht nur der kommerzielle Walfang, mit wissenschaftlichem Deckmantel oder ohne, bedroht die globalen Walpopulationen. Für die Schweinswale in der Nord- und Ostsee stellen darüber hinaus Fischereigeräte und Unterwasserlärm eine erhebliche Gefahr dar. Da sie ihre Nahrung am Meeresgrund suchen, verfangen sich Schweinswale häufig in Stellnetzen und ertrinken. Im Jahr 2014 wurden an der deutschen Ostseeküste 129 Totfunde von Schweinswahlen gezählt. An der Nordseeküste Schleswig-Holsteins waren es im Sommer 2012 sogar 132 tote Tiere. Die exakte Benennung der Beifangquote erweist sich dabei als schwierig. Dennoch haben Untersuchungen der Totfunde an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns ergeben, dass die Beifangquote zwischen 2003 und 2012 bei 7,9 Prozent und der Verdacht auf Beifang bei 3,6 Prozent lagen. Um den Beifang von Schweinswalen zu verhindern, werden von einigen Fischern sogenannte Pinger, akustische Signalgeber, eingesetzt. Diese sind jedoch umstritten, da sie im Verdacht stehen, die Meeressäuger großräumig aus ihren Nahrungsgründen zu vertreiben. Aus diesem Grund werden aktuell sogenannte PAL-Geräte getestet, die Schweinswal-Kommunikationslaute imitieren und so die Tiere vor unsichtbaren Stellnetzen warnen. Allerdings dauert die, vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft unterstützte Forschung der PAL-Geräte noch an. Aufgrund ihrer hohen Geräuschempfindlichkeit werden Schweinswale von Unterwasserlärm stark beeinträchtigt. So kann bei ihnen ab 164 Dezibel eine temporäre Schwerhörigkeit eintreten. Aus diesem Grund hat das Umweltbundesamt, UBA, einen Grenzwert für Unterwasserlärm beim Bau von Offshorewindenergieanlagen eingeführt. Demnach darf außerhalb von 750 Metern um die Rammstelle ein Schallexpositionspegel von 160 Dezibel nicht überschritten werden. Allerdings werden die Fundamente der Windanlagen mittels Impulsrammung in den Meeresboden getrieben, die in der Spitze Lärmwerte von bis zu 200 Dezibel erzeugt. Hinzu kommt, dass sich der Grenzwert des UBA auf einen einzelnen Rammschlag bezieht. Pro Anlage sind jedoch unter Umständen Tausende Schläge notwendig, wodurch kumulative Effekte die schädliche Wirkung auf die Schweinswale noch erhöhen. Die immense Lärmbelästigung führt dazu, dass Schweinswale fliehen, langfristig große Gebiete meiden oder mangels Kommunikationsmöglichkeit die Orientierung verlieren, stranden und verenden. Es existieren bereits Methoden, die den Schalleintrag während der Errichtung von Offshorewindernergieanlagen reduzieren können. Primäre Schallminderungsmaßnahmen: Verminderung der Schlagenergie, Verlängerung der Kontaktzeit zwischen Hammer und Pfahl – „Impulsdauerverlängerung“. Sekundäre Schallminderungsmaßnahmen: Blasenschleier, Hüllrohr, Hydroschalldämpfer, Kofferdamm. All diese Maßnahmen haben gemein, dass derzeit noch ein erheblicher Forschungsbedarf besteht. Hier müssen die Bemühungen intensiviert werden, damit der Einsatz von effektiven Schallminderungsmaßnahmen auch in größeren Wassertiefen realisiert werden kann. Doch nicht nur die Wissenschaft ist gefragt, wenn es um den Erhalt der Wale als Symbol biologischer Vielfalt geht. So können auch Touristen ihren kleinen Beitrag zum Walschutz leisten. Im Rahmen von sogenannten Walbeobachtungstouren, die unter anderem in der Straße von Gibraltar und auf den Makaronesischen Inseln angeboten werden, gilt es, darauf zu achten, ausschließlich auf nachhaltige Anbieter zurückzugreifen. Darüber hinaus sollte darauf verzichtet werden, auf Märkten, wie es sie im norwegischen Bergen gibt, Walprodukte zu erwerben. Der vorliegende Antrag benennt die entscheidenden Maßnahmen, welche die Staatengemeinschaft zukünftig ergreifen muss, um den Schutz der Wale im Rahmen des IWC-Moratoriums und darüber hinaus zu gewährleisten und um damit den Erhalt dieser beeindruckenden Meeressäuger sicherzustellen. Christina Jantz-Herrmann (SPD): Wale nehmen nicht nur eine wichtige Rolle im marinen Ökosystem und Nahrungsnetz ein, sie sind darüber hinaus auch zu einem Symbol biologischer Vielfalt geworden. So ist es wichtig und richtig, dass sich auch der Deutsche Bundestag in dieser Woche mit dem Thema Walschutz befasst. Wenn heute in Slowenien die 66. Internationale Walfangkonferenz beginnt, haben wir als nationales Parlament die Chance, ein Signal zum Tagungsort Portoroz zu senden, ein Signal, welches unmissverständlich deutlich macht, dass die Weltgemeinschaft in ihren Bemühungen für den Schutz von Walen, insbesondere auch von Delfinen, keinesfalls nachlassen darf. Auch stärken wir damit die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 6. Juli 2016 zum Beschluss Japans, in der Fangsaison 2015/2016 den Walfang wiederaufzunehmen. Das EU-Parlament hat diese Entschließung übrigens mit großer Mehrheit beschlossen. Die Bedrohung von Walarten und -beständen durch wirtschaftliche Aktivitäten und andere anthropogene Beeinträchtigungen ist anhaltend hoch. Beifänge in der industriellen Fischerei, der Eintrag von Umweltgiften und Plastikmüll in die Ozeane sowie der ständig zunehmende Unterwasserlärm stellen aktuell eine große Bedrohung für das Überleben der Wale dar. Nicht nur Umweltveränderungen schränken den Lebensraum vieler Wale immer weiter ein. Eine weitere erhebliche Gefährdung bilden die anhaltenden kommerziellen Interessen einzelner Walfangstaaten. So steht es auch in unserem Antrag „Schutz von Walen und Delfinen stärken“. Mit diesem unterstützen wir die deutschen Anstrengungen zum Schutz der Wale nachdrücklich. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, sich auch zukünftig zielstrebig und beständig für den umfassenden Schutz der Walbestände einzusetzen und die Einhaltung und Fortführung des Walfangverbotes von den IWC-Mitgliedstaaten einzufordern. Auch wird die Bundesregierung aufgerufen, darauf hinzuwirken, dass Island, Japan und Norwegen ihre Walfangaktivitäten aufgeben. So appellieren wir an die Bundesregierung, darauf hinzuwirken, dass Japan seinen als wissenschaftlich deklarierten, aber offensichtlich kommerziellen Walfang beendet. Weiterhin wird die Bundesregierung dazu angehalten, die Internationale Walfangkommission aufzufordern, keine Arbeiten zu finanzieren, die der Wiederaufnahme des kommerziellen Walfangs dienen. Stattdessen sollen diese Mittel Walschutzprogrammen zur Verfügung gestellt werden. Im Antrag machen wir zudem deutlich, dass sich auch Deutschland weiterhin dafür einsetzen muss und wird, die heimisch vorkommenden Schweinswale noch besser vor akustischer Beeinträchtigung und Umweltverschmutzung zu schützen sowie Beifänge zu minimieren. Walschutz ist mehr als nur der Kampf gegen Walfang. Wenn wir uns ernsthaft mit dem Thema Walschutz auseinandersetzen möchten, reicht es nicht aus, uns ausschließlich gegen Walfang zu engagieren. Walfang hat ohne Frage eine besondere Qualität, wenn es um Probleme für Wale geht. Doch wir müssen uns auch mit den Schwierigkeiten von Walen bei uns im Meer befassen. Für uns bedeutet dies, dass wir Schweinswale in unseren Gewässern ausreichend schützen müssen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung in unserem Antrag auf, die Forschungsarbeiten zum akustischen Monitoring des gefährdeten Ostseeschweinswals, die mit Unterstützung aller an die Ostsee angrenzender EU-Staaten vom Deutschen Meeresmuseum in Stralsund in Zusammenarbeit mit verschiedenen deutschen und anderen Universitäten begonnen wurden, weiter zu unterstützen. Auch fordern wir die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, dass die zuständigen Naturschutzbehörden der Länder bei Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen im Rahmen der Intensivierung der Nutzung von Nord- und Ostsee von den jeweiligen Industrien Monitoring-Maßnahmen und Beiträge zum Schutz der Meeresfauna einfordern. Dies sind Maßnahmen, die mir persönlich sehr am Herzen liegen. Es ist kein Geheimnis, dass wir als SPD-Bundestagsfraktion bei den Themen Tier- und Artenschutz oft und intensiv mit unserem Koalitionspartner um die Inhalte ringen müssen. Deshalb bin ich froh, dass es uns bei diesem wichtigen Thema gelungen ist, einen Antrag zu formulieren, der wichtige Aspekte der Thematik abbildet: Wir adressieren sowohl die Durchsetzung des kommerziellen Walfangverbots als auch die Bedrohung der Wale durch Umweltbeeinträchtigungen. Auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat einen Antrag zum Thema Walschutz eingebracht. Inhaltlich ist dieser in vielem identisch mit unserem. Lassen Sie uns ein gemeinsames, starkes Signal nach Portoroz senden. Deshalb werbe ich um Zustimmung zum Koalitionsantrag auch durch die Opposition. Birgit Menz (DIE LINKE): Auch 30 Jahre nach Inkrafttreten des Moratoriums für kommerziellen Walfang besteht das Kernproblem darin, dass der Internationalen Walfangkommission keine Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, um Verstöße zu ahnden oder den Missbrauch der Möglichkeit des wissenschaftlichen Walfangs zu verhindern. So ist es in der Saison 2015/16 wieder möglich gewesen, dass japanische Walfänger unter dem angeblichen Vorwand wissenschaftlicher Walfangprogramme 333 Zwergwale töteten. Mehr als die Hälfte davon waren schwangere Weibchen. Das sind die höchsten Fangzahlen in Japan seit der Saison 2010/2011. Norwegische Fischer töteten 2016 bisher 591 Wale, um aus ihnen Tierfutter zu machen oder das Fleisch auf Fuchs- und Nerzfarmen zu verfüttern. Auch Island betreibt weiterhin offenen kommerziellen Walfang. Trotzdem wird dieses Kernproblem auch auf der diesjährigen Konferenz nicht gelöst werden. Mehr noch: Es wird im Rahmen der offiziellen Agenda nicht einmal zur Sprache kommen. 30 Jahre nach Inkrafttreten des Moratoriums für kommerziellen Walfang wird die Walfangkommission zu diesem Thema schweigen, und das nicht zuletzt, weil die EU-Kommission und Dänemark das Einreichen einer notwendigen deutlichen Resolution gegen kommerziellen Walfang verhindern. Umso mehr muss sich die Bundesregierung für die Aufrechterhaltung des kommerziellen Walfangmoratoriums starkmachen. Sie muss sich dafür einsetzen, die Internationale Walfangkommission zu modernisieren und Sanktionen zu ermöglichen, um die Durchsetzung des Moratoriums sicherzustellen, und sie muss sich für eine unabhängige Prüfung von „Wissenschaftsprogrammen“ starkmachen. Die Linke stimmt beiden Anträge zu, weil die gemachten Vorschläge den Schutz von Walen und Delfinen stärken. Dennoch möchte ich, auch mit Blick auf Punkt 13 des Koalitionsantrags, eines betonen: Wale und Delfine wirksam zu schützen, bedeutet mehr, als die Jagd auf sie zu reduzieren. Wale und Delfine zu schützen, bedeutet auch, die Meere zu schützen: vor dem Eintrag von Schadstoffen, vor Verschmutzungen, vor Lärm, vor zunehmenden Belastungen durch Industrie und Schifffahrt und vor Überfischung. Kurz gesagt: Wale und Delfine zu schützen, bedeutet eine konsequente nachhaltige Umweltpolitik, der sich die gesamte Bundesregierung verpflichtet sieht, nicht nur einzelne Ministerien. Vor unserer eigenen Haustür können wir beobachten, wie der Mensch das Leben vieler Meerestiere und deren Lebensumwelt negativ beeinflusst. Wale und Delfine sind andauernden Umweltbeeinträchtigungen wie Unterwasserlärm, der Vermüllung von Meeren durch Plastik oder einer immer intensiver werdenden Bewirtschaftung der Gewässer ausgesetzt. Dies gilt nicht nur für Nord- und Ostsee, sondern für fast alle maritimen Gebiete, in denen sich Wale und Delfine dauerhaft befinden oder zeitweise aufhalten. Durch zunehmenden Schiffsverkehr, intensive maritime Bewirtschaftung und die hohe Anzahl militärischer Manöver ist es unter Wasser so laut geworden wie selten zuvor. Der durch Explosionen, Sonar oder Unterwasserbohrungen verursachte Krach führt bei Walen, Delfinen und anderen Meerestieren zu gravierenden Schädigungen des Hörsystems. Für Meerestiere, die via Schall kommunizieren und sich orientieren, gleicht dies einem Todesurteil. Eine baldige Reduzierung der Lärmverschmutzung ist im Sinne des Artenschutzes unbedingt erforderlich. Langfristig ist es zwingend notwendig, Maßnahmen zu ergreifen, die mit einem Verbot des Einsatzes von Sonar sowohl zu militärischen Zwecken als auch für die Suche von Erdöl im Meeresboden einhergehen. Ein weiteres menschengemachtes Problem, unter dem auch Wale und Delfine leiden, ist die Überfischung der Meere. Mit der weltweiten massenhaften Entnahme von Fisch entziehen großindustrielle Fangflotten nicht nur wichtige Nahrungsquellen, sondern bedrohen auch das Ökosystem und dessen Leistungen als Ganzes. Laut WWF sterben jährlich etwa 300 000 Wale und Delfine als Beifang in den Netzen der Fischerei. Dies macht mehr als deutlich, dass dringend alternative Fangmethoden gefördert werden müssen, die sogenannten Beifang vermeiden und die Meeresumwelt schonen. Konkret heißt das, zukünftig auf die Fischerei mit Grund- und Schleppnetzen gänzlich zu verzichten. Der Schutz von Walen und Delfinen muss deshalb von der Bundesregierung hier in Deutschland genauso konsequent gestärkt werden wie auf dem europäischen und internationalen Parkett. Die Linke fordert neben dem Haltungsverbot von Delfinen in Gefangenschaft auch ein Verbot, wildlebende Delfine zu fangen. Delfine aus kommerziellen oder angeblich therapeutischen Zwecken in Gefangenschaft zu halten, lehnt Die Linke als Tierquälerei ab. Lassen Sie uns mit gutem Beispiel vorangehen, wenn es darum geht, Tiere vor Profitinteressen zu schützen. Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute beginnt in Slowenien die Tagung der Internationalen Walfangkommission. Die Internationale Walfangkommission besteht 2016 seit 70 Jahren. Ihre größte Errungenschaft ist das seit 1986 geltende weltweite Verbot des kommerziellen Walfangs. Eine Errungenschaft, die immer wieder verteidigt werden muss. Jährlich werden Tausende von Walen und Delfinen abgeschlachtet. Vor den Faröer–Inseln, Island und Grönland werden Finnwale, Zwergwale, Grindwale und Delfine gejagt und das Fleisch – trotz Handelsverbot – vor allem nach Japan verkauft. Japan tötet nach wie vor Wale unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Forschung und nutzt damit ein juristisches Schlupfloch. Trotz Urteils des Internationalen Gerichtshofs, das Japan die Illegalität seines angeblich wissenschaftlichen Walfangs beschieden hat, steht aktuell ein Antrag Japans zur Bewilligung des weiteren Walfangs auf der IWC-Tagesordnung. Ich setze darauf, dass dieser Antrag keine Unterstützung finden wird und die IWC Instrumente findet, die Tötung von Walen für angebliche wissenschaftliche Zwecke zu unterbinden. Ich hoffe auch darauf, dass der diesjährigen Tagung der IWC ein Durchbruch für die Einrichtung eines Walschutzgebietes im Südatlantik gelingt – es hätte über das konkrete Schutzgebiet hinaus eine wegweisende Bedeutung für den zukünftigen Umgang mit unseren Ozeanen und der dort lebenden Fauna und Flora. Denn über das Verbot des Walfanges hinaus brauchen wir einen umfassenden Meeresschutz, wenn unter der sich verschärfenden Klimakrise im Meer die wichtigen Ökosystemfunktionen der Ozeane nicht kollabieren sollen. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) kam im Jahr 2013 in seinem Gutachten „Welt im Wandel – Menschheitserbe Meer“ zu dem Ergebnis, dass ein fundamentaler Perspektivenwechsel erforderlich ist, um die Meere zu schützen. Die Notwendigkeit einer Trendwende beim Umgang mit den Meeren ist längst bekannt. Die dringend benötigten Regelungen existieren nicht oder sind in der Praxis durch die Staaten nicht ausreichend umgesetzt. Zu diesen Staaten zählt auch die Bundesrepublik Deutschland. Vor fast 10 Jahren 2007 wurden die von Deutschland gemeldeten Natura2000-Gebiete in der Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) von Nord- und Ostsee durch die Europäische Kommission bereits bestätigt. Die Bundesregierung hatte sechs Jahre Zeit (bis Ende 2013), Maßnahmen im Sinne einer Schutzgebietsverordnung in nationalem Recht zu verankern. Was ist passiert? Nichts! Stattdessen ist ein EU-Vertragsverletzungsverfahren anhängig. Und eine Klage von fünf Umweltverbänden gegen die Bundesregierung vor dem Verwaltungsgericht Köln wegen mangelhaften Meeresschutzes. Die Bundesregierung betont ja gerne, dass ihr der Meeresschutz wichtig ist. Zum G7-Gipfel 2015 in Elmau wurde sogar ein Aktionsplan gegen Meeresvermüllung verabschiedet. Die Ozeane sind aber weltweit in einem gravierenden Ausmaß bedroht: Überfischung, Verschmutzung mit Plastik, Chemikalien, Radioaktivität, Erhitzung, CO2-Eintrag, Versauerung, Raubbau an Bodenschätzen. Das bisherige Handeln der Bundesregierung steht in keinem Verhältnis zur Größe des Problems. Ein Aktionsplan nur gegen Meeresmüll greift zu kurz. Unsere Meere sind in einer historischen Krise und zum Teil wohl schon unumkehrbar verändert. Leergefischt, vermüllt, übernutzt und als größtes Opfer der Klimakrise sind die Meeresökosysteme bis zum Äußersten strapaziert. Vielfältige Hebel müssen in Bewegung gesetzt werden, um das Artensterben zu verhindern, die Vergiftung, Vermüllung und Überdüngung zu stoppen und um dem Meer wieder Raum zum Leben zu geben. Dazu bedarf es gemeinsamer Anstrengungen auf globaler und europäischer Ebene und auch auf nationaler Ebene. „Um den Verlust der Arten zu bekämpfen, müssen national wie international alle Kräfte gebündelt werden.“ Dieser Satz stammt aus dem gemeinsamen Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen „Konsequenten Walschutz fortsetzen und verbessern“ aus der vergangen Wahlperiode. Das war eine gute Initiative und ein guter Antrag, und es ist ein guter parlamentarischer Brauch, gemeinsame Anträge zur Unterstützung der Regierung bei internationalen Verhandlungen zu verfassen, wenn die inhaltlichen Unterschiede überbrückbar sind. Und nun frage ich CDU und CSU, was in sie gefahren ist, dieses gemeinsame Bemühen und Ringen um Fortschritt den Eskapaden eines einzelnen Abgeordneten zu opfern. Ein bereits zwischen den Fraktionen abgestimmter Antrag wird einfach mal so vom Tisch gewischt, ohne irgendeine inhaltliche Begründung, weil der Herr Stier mit dem falschen Fuß aufgestanden ist. Das ist zwar sein gutes Recht, aber eine Bundestagsfraktion sollte etwas mehr Überblick und politisches Verständnis haben. Das Parlament sollte doch dazu in der Lage sein, einen interfraktionellen Antrag zum Schutz der Wale auf den Weg zu bringen – wie es dies schon mehrfach getan hat –, statt sich in den ideologische Graben eines einzelnen Abgeordneten zu schmeißen. Herr Stier, Sie verkennen scheinbar die Bedeutung internationaler Verhandlungen. Erst gestern hat ein Antrag der EU für internationale Schlagzeilen gesorgt: Das Weddellmeer in der Antarktis soll zum größten Meeresschutzgebiet der Welt werden. Ein Antrag, den Deutschland erarbeitet hat. Ein Antrag, über den der CSU-Minister Schmidt sagt, dass es eine historische Aufgabe ist, einzigartige Ökosysteme wie die Antarktis zu schützen. Und weiter, dass die kommerzielle Fischerei eine extreme Gefahr sei für das Gebiet. Zum einen ist das eine großartige Initiative, der ich von ganzem Herzen Erfolg wünsche und bei deren Durchsetzung ich auch Herrn Schmidt Erfolg wünsche und Unterstützung zusichern kann – obwohl, Herr Stier, der Kollege Schmidt kein Grüner ist. Und zum anderen will ich Herrn Schmidt auffordern, auch beim Meeresschutz vor der eigenen Haustür endlich Ernst zu machen und seine Blockade aufzugeben. Sehr geehrte Damen und Herren der Bundesregierung, sehr geehrter Herr Schmidt, nutzen Sie den nationalen Handlungsspielraum wie den internationalen auch und schützen Sie die Meere und die Meeresumwelt in ihrem direkten Zuständigkeitsbereich genauso wie die in der Antarktis. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften über das Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch (Landwirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammgesetz – LwErzgSchulproG) (Tagesordnungspunkt 19) Katharina Landgraf (CDU/CSU): Heute schaffen wir die Voraussetzungen für das neue EU-Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch, welches ab dem Schuljahr 2017/2018 in den Schulen und vor allem bei den Schulkindern ankommen soll. Ich freue mich, dass durch die aktuellen Entwicklungen bei den Schulprogrammen für Schulobst und Schulmilch die Ernährungsbildung nunmehr auch verstärkt in den Schulen verankert wird, und ich möchte im Folgenden die wichtigsten Eckpunkte zusammenfassen. Die erste und wichtigste Botschaft ist, dass der Kofinanzierungsanteil der Länder komplett entfällt. Die zweite wichtige Botschaft ist, dass die Programme Schulobst und Schulmilch zusammengeführt werden. Dies wird zu einer deutlichen Vereinfachung führen. Die dritte gute Botschaft ist eine Erhöhung der Finanzmittel um 20 Millionen Euro auf nunmehr insgesamt 250 Millionen Euro auf europäischer Ebene. Von dieser Summe werden nach dem neu festgelegten Verteilungsschlüssel auf Deutschland 19,7 Millionen Euro für Schulobst und -gemüse sowie 9,4 Millionen Euro für Schulmilch entfallen. Mit all diesen Punkten bietet sich nun endlich die Chance, dass Kinder in allen Bundesländern von beiden Programmen profitieren. In Zukunft soll es kostenloses Obst, Gemüse und Milch für alle Kinder und Jugendlichen in Bildungseinrichtungen geben. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass sich die Mitgliedstaaten und nach der Umsetzung der Vorgaben in Deutschland im Einzelnen die Länder auch zu pädagogischen Begleitmaßnahmen verpflichten. So sollen die Kinder über gesunde Ernährung und einen gesunden Lebensstil aufgeklärt werden, über lokale Nahrungsmittelketten, ökologischen Landbau, nachhaltige Erzeugung und die Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung. Kindern soll auch die Landwirtschaft wieder nähergebracht werden, beispielsweise durch Besuche von Bauernhöfen. Aber die Politik und die Schulen stoßen auch an ihre Grenzen. Die Begeisterung der Kinder für die tägliche Portion Obst und Gemüse muss früh geweckt werden. Dies geschieht am besten und in erster Linie durch Angebote der Eltern. Das tatsächliche Leben mit Obst und Gemüse findet vor allen in den Familien statt. Dass es da läuft, hängt einzig und allein vom Bewusstsein der Familie ab. Der Idealfall wäre, wenn Vater und Mutter selbst mit dem Thema „gesunde Ernährung“ und vor allem mit viel Obst und Gemüse aufgewachsen sind. Ist das nicht gegeben, so braucht man eine entsprechende pädagogische Begleitung. An dieser Stelle greift dann das Obst- und Gemüseprogramm in den Kitas und Schulen. Da wünsche ich mir, dass ein solches Angebot nicht als ein von oben verordnetes Übel angesehen wird, das nur mehr Arbeit macht. Das Programm sollte zum ganz normalen Alltag in den Schulen und Einrichtungen gehören. Eine gute Nachricht zum Schluss: Die Evaluationen des Schulmilch- und des Schulobstprogramms haben eine deutliche Zunahme der Beliebtheit und Akzeptanz von Milch, Obst und Gemüse ergeben. Zudem stieg das Bewusstsein der Kinder um die Wichtigkeit von Milch, Obst und Gemüse als Bestandteil einer gesunden Ernährung. Das zeigt mir, dass wir auf einem guten Weg sind Carola Stauche (CDU/CSU): Wir haben heute den nicht allzu häufigen Fall, dass wir einen Gesetzentwurf verhandeln, dem wohl alle Mitglieder des Hauses bedenkenlos zustimmen können. Das liegt zum einen daran, dass wir hier lediglich EU-Bestimmungen in nationales Recht umsetzen, zum anderen daran, dass es hierbei um die Versorgung mit frischem Obst und Gemüse und auch mit Milch für Schüler geht, die so zu einer gesunden Lebensweise motiviert werden sollen. Wir werden heute das neue Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch umsetzen; künftig können die Länder kostenlos diese landwirtschaftlichen Erzeugnisse in Bildungseinrichtungen abgeben. Die bisherigen Programme für Schulobst und -gemüse einerseits und Schulmilch andererseits werden zusammengefasst; gleichzeitig sind die Mittel deutlich erhöht worden. Allein für Deutschland werden fast 30 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. EU-weit sind es 250 Millionen Euro. Thüringen nimmt bereits seit 2010 am Schulobstprogramm teil. Ich habe mich vor Ort umgehört, um zu erfahren, wie das Programm bisher angenommen wird. Der Eindruck ist an sich positiv, jedoch mit einem nicht zu unterschätzenden Wermutstropfen. Mir wurde mitgeteilt, das Thema „gesunde Ernährung“ sei in den teilnehmenden Schulen Schwerpunktthema im Heimat- und Sachkundeunterricht, ebenso wie Nachhaltigkeit und auch Abfallvermeidung. Obst und Gemüse wird nicht nur konsumiert; die Schülerinnen und Schüler halten Vorträge zur gesunden Ernährung, und das Thema wird auch in die in den Schulen angebotenen Interessengemeinschaften integriert. Im Kunsterziehungsunterricht werden Obst und Gemüse künstlerisch eingebunden, im Englischunterricht werden entsprechende Vokabeln vermittelt. Diese Umsetzung vor Ort finde ich sehr beeindruckend. Mit viel Einsatz und Kreativität wird das Programm nicht nur angenommen, sondern auch in verschiedene Bereiche des schulischen Alltags einbezogen. Über die reine Verteilung von Lebensmitteln hinaus werden gesunde Ernährung und die Wertschätzung von Lebensmitteln vermittelt und als Querschnittsthema in viele Bereiche eingebunden. Doch wie bereits angemerkt, gibt es bei so viel Licht auch Schatten: Der bürokratische Aufwand ist sehr hoch. So musste in einem der vergangenen Jahre die Ausschreibung für die Lieferung von Obst und Gemüse dreimal wiederholt werden, bis sich Lieferanten fanden. Einige Schulen, die am Programm teilnehmen wollten, konnten das nicht, weil schlicht und ergreifend keine Lieferanten zu den vorgegebenen Bedingungen aufzutun waren. Nicht nur die Ausschreibung ist bürokratisch aufwendig, sondern auch das Abrechnungssystem. Vor allem die Mitteilungen der Änderungen der Schülerzahlen sind umständlich, gerade in Klassen, in denen zum Beispiel Flüchtlingskinder nur zeitweise unterrichtet werden. Bis die Änderungsmitteilungen dann bearbeitet und die Auszahlungsbeträge angepasst sind, vergehen ein bis zwei Monate, in denen sich die Teilnehmerzahlen schon wieder verändert haben können. Zusammengefasst lautet das Fazit eines befragten Bildungsträgers: „… dass das EU-Schulobst- und Gemüseprogramm durchaus in den teilnehmenden Schulen vor Ort eine gewisse Wirkung erzielt. Insbesondere die Einbeziehung in den Unterricht stellt neben der eigentlichen Einnahme gesunder Erzeugnisse einen Mehrwert dar. Jedoch wird dies nur durch einen erheblichen Mehraufwand aller am Verfahren beteiligten Akteure erzielt. Der Aufwand für die Verwaltung für Ausschreibung, Vertragsgestaltung, Überwachung der Durchführung bis hin zur Abrechnung mit dem Fördermittelgeber ist enorm. Der Anteil der Arbeitszeit … ist schlichtweg inakzeptabel.“ Was heißt das für uns als Abgeordnete des Deutschen Bundestages? Wir stehen hier wieder einmal vor einem altbekannten Problem: Der Bundestag beschließt etwas, aber die Umsetzung ist etwas anderes. Es ist sehr begrüßenswert, dass es von EU-Seite die Zusammenführung der Programme gegeben hat und die Mittel erhöht werden. Damit sie aber auch da ankommen, wo sie gebraucht und sinnvoll eingesetzt werden können, brauchen wir dringend Verwaltungsvereinfachungen, vor allem in den Ländern, die die Programme bzw. das Programm durchführen. Mein Dank gilt allen, die sich bisher an den Schulprogrammen beteiligt haben und vor Ort mit hohem Einsatz und viel Kreativität die Programme mit Leben gefüllt haben und füllen. Hier wird wieder einmal deutlich: Was immer wir beschließen, ist nicht viel wert, wenn es nicht vor Ort aktiv umgesetzt wird. Engagierte Bürgerinnen und Bürger, in diesem Falle vor allem in den Schulen, zählen zum Wichtigsten und Wertvollsten, was unsere Gesellschaft ausmacht. Das können wir gar nicht stark genug honorieren. Jeannine Pflugradt (SPD): Wir beschließen heute die Zusammenführung der EU-Schulprogramme zur Verteilung von Obst, Gemüse und Milch an Kinder sowie die damit einhergehende Verabschiedung des Landwirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammgesetzes, das die EU-Verordnung in deutsches Recht künftig verankern wird. Ich begrüße die Zusammenlegung der EU-Beihilfen, und freue mich, dass der lange Abstimmungsprozess endlich zu einem guten Ende kommt. Weiterhin würde ich es begrüßen – hier appelliere ich einmal mehr –, wenn alle Bundesländer an dem Programm teilnehmen würden. In erster Linie meine ich an dieser Stelle mein eigenes Heimatbundesland: Mecklenburg-Vorpommern. Da sich am Inhalt des Gesetzes zwischen der ersten und der jetzigen Lesung nichts verändert hat, da stattdessen nur protokolliert wurde, möchte ich die heutige Debatte nutzen, um kurz grundlegend über Ernährung zu sprechen. Seit Jahren kursieren die alarmierenden Zahlen über Übergewicht und Fettleibigkeit in unserer Gesellschaft, und die daraus möglicherweise entstehenden Krankheiten wie zum Beispiel Diabetes II. Wir wissen alle, dass lebensstilbedingte Krankheiten zu hohen Kosten für unser Gesundheitssystem führen. Deshalb debattieren wir, leider viel zu selten und schon gar nicht in den Familien, über ungesunde, unausgewogene Ernährung. Deswegen rücken wir auch zu Recht Kinder und Jugendliche in den Fokus unserer Betrachtungen. Wir sind uns darüber bewusst, dass sich Ernährungsgewohnheiten im frühen Kindesalter festsetzen und im Laufe des Lebens nur schwer zu verändern sind. Ich persönlich halte ausgewogene Essgewohnheiten von klein auf für enorm wichtig und als eine Grundlage für einen gesunden Lebensstil. Obst, Gemüse sowie Milchprodukte, so wie die Produkte des EU-Schulprogrammes es vorsehen, sind dabei unentbehrlich für eine vollwertige, ausgewogene Ernährung. Diese Lebensmittel enthalten neben Vitaminen, Mineralstoffen, Ballaststoffen sowie Kohlenhydraten auch einen hohen Wasseranteil. Kinder und Jugendliche können mit diesem Schulprogramm erfahren, dass vermeintlich verpönte gesunde Lebensmittel auch gut schmecken. Ernährungsstile sind heutzutage zu Lebensstilen geworden. Wir ernähren uns so wie früher, wie wir es von unseren Eltern vermittelt bekamen, oder vegetarisch, vegan, nach einer Diät, schnell oder langsam, zwischendurch, oder nachhaltig. Wir kaufen in Supermärkten, Discountern, Lebensmittelfachgeschäften, auf Märkten oder lassen uns Mahlzeiten fertig liefern. Natürlich umfasst unser Lebensstil mehr als die Ernährung. Er beinhaltet auch andere Faktoren, wie Bewegung, Stresspotential, soziale Kontakte usw. Dennoch ist unsere Ernährung der Spiegel unserer eigenen Wertevorstellungen und kann deshalb auch als Folie für politische Bewegungen gesehen werden. Mit Ernährungsstilen als Lebensstil ist nämlich eine zunehmende Auseinandersetzung mit dem eigenen Ernährungsverhalten verknüpft. Der Konsum spielt eine wichtige Rolle. Die Frage nach dem richtigen Essverhalten ist deshalb nicht nur eine Frage des eigenen Lebensstils, sondern ist zu einer politischen Frage geworden. Vor allem die Moralisierung des Essens führt zur Politisierung der heutigen Ernährung. Sie wird im Falle des Konsums tierischer Produkte, wie Fleisch, sehr offensichtlich. Ich möchte an dieser Stelle deutlich darauf hinweisen, dass es für jedes persönliche Ernährungsverhalten gute Gründe gibt. Warum wir dieses Stück Fleisch lieber verzehren als ein pflanzliches Ersatzprodukt oder warum wir heute eher Appetit auf diesen Schokoriegel als auf den Apfel haben, das muss jeder für sich selbst entscheiden; die Verantwortung für das Wohlempfinden liegt bei jedem selbst. Ich finde es deshalb auch nicht gerecht, wenn wir uns für unsere Entscheidung rechtfertigen müssen. Stigmatisierungen eines Essverhaltens sind meiner Meinung nach kein gerechtes moralisches Mittel. Trotzdem ist vielen Menschen die reine Nahrungsaufnahme als überlebenswichtiger Bestandteil nicht mehr genug. Sie verbinden mit Essen einen komplexen Sachverhalt. Die Sättigung, der Genuss oder Geschmack stehen heute nicht mehr allein. Ihr bewusster Konsum soll dazu beitragen, ihre Gesundheit zu erhalten und die Umwelt nicht zu belasten. Der Verzicht auf ein bestimmtes Lebensmittel ist deshalb ein Teil ihrer moralischen Werte. Menschen, die Nahrungsmittel erzeugen, sollen gerecht entlohnt werden. Sie fordern einen respektvollen Umgang mit Tieren, die wir zu unserer Ernährung unterhalten. Wie wir also gemeinsam sehen können, ist unser Konsum ein komplexes Konstrukt geworden. Ich habe noch nicht einmal damit begonnen, die unterschiedlichen Verbrauchertypen aufzuzählen, die unterschiedliche Informationsmethoden benötigen. Um aus den individuellen Entscheidungen, die wir alltäglich im Supermarkt treffen, die also unseren Lebensstil bestimmen, unser eigenes Ernährungsverhalten anzupassen, müssen wir gebildet und recht gut aufgeklärt sein. Wo können Aufklärung und Bildung besser funktionieren als in allgemeinbildenden Schulen. Genau dort – und spätestens dort – muss sie ansetzen. Die flankierenden pädagogischen Maßnahmen des EU-Schulprogramms sind enorm bedeutend und mindestens gleichwertig mit der Obst- und Gemüseverteilung. Gerade in der heutigen Zeit von Ganztagsschulen ist die Schule auch ein Lernort für gesellschaftliche Aufgaben geworden. Eltern möchten ihre Kinder während der Schulzeit gut behütet wissen. Dazu zählt auch eine gute Essensversorgung. Außerdem werden unsere Wertevorstellungen nicht nur von den Eltern weitergegeben, sondern auch von Lehrern und Mitschülern. Wenn in der Familie nicht regelmäßig Obst und Gemüse auf dem Tisch stehen, können spezielle Schulprogramme während der Schulzeit neue Essgewohnheiten schaffen. Durch die Einführung von Schulprogrammen übernimmt die Bundesregierung demnach auch eine kleine Mitverantwortung für eine ausgewogene Ernährung sowie die dazugehörende Ernährungsbildung von Schulkindern. Aber warum nur für die Kinder? Oft sind Eltern schuld an der ungesunden Ernährung ihrer Kinder. Sie gilt es ebenso, beispielsweise in Elternversammlungen, zu informieren und für dieses so lebenswichtige Thema zu sensibilisieren. Die bereitgestellten EU-Mittel sind sicherlich nicht ausreichend, um das Gesamtproblem von Übergewicht und Fettleibigkeit in den Griff zu bekommen. Programme wie die Verteilung von Obst, Gemüse und Milch an Schulen bieten sicherlich nur einen Anstoß. Wenn sich die Bundesländer sowie die Bundesregierung noch intensiver um das Thema Schulverpflegung bemühen würden, würde ich mich noch mehr freuen. Wir sollten aber nichts unangestrengt lassen, unseren eigenen Kindern einen vernünftigen gesetzlichen Rahmen zu bieten, der es ihnen allen ermöglicht, einen gesunden Lebensstil zu führen. Karin Binder (DIE LINKE): Mit dem Schulprogramm der EU sollen Grundschulkinder kostenfrei in den Genuss von Obst, Gemüse und Milch kommen. Dies war bisher in getrennten Programmen geregelt, die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nun zusammengeführt werden. Es ist zu begrüßen, dass im Rahmen dieses Programms die kostenfreie Abgabe von Obst, Gemüse und Milch an Schulkinder ermöglicht wird. Die Kinder nehmen dieses frische und kostenfreie Angebot gerne an. Wir unterstützen ausdrücklich, dass viele Kinder dadurch eine gesündere Ernährungsweise kennenlernen, und wir fördern damit eine gesunde Entwicklung der Kinder. Entgegen häufigen Behauptungen belegen Untersuchungen, dass die Kinder gerne zugreifen und sich über die Äpfel, Karotten oder Radieschen freuen. Sie fragen nicht danach, wer das jetzt zahlt. Die beitragsfreie Abgabe dieser Lebensmittel an Kinder führt auf keinen Fall zu geringerer Wertschätzung oder gar zu Lebensmittelverschwendung – im Gegenteil lernen sie gerade durch dieses Angebot diese Lebensmittel zu schätzen. Leider jedoch ist dieses Programm viel zu eng angelegt, und grundlegende Fragen werden nur unzureichend geklärt. Erstens: Die EU-Mittel reichen nur für einen Teil der Grundschulkinder aus. Kindergärten oder Sekundarschulen werden gar nicht einbezogen. Und da der Bund nicht bereit ist, die Mittel aufzustocken, wird es viele Schulen geben, die gar nichts abbekommen. Andere am Programm teilnehmende Schulen werden dieses Obst- oder Milchangebot nicht täglich, sondern nur ein- oder zweimal in der Woche machen können. Ein großer Teil der Kinder und die Jugendlichen geht also leer aus. Hier wäre der Bund gefordert, im Hinblick auf die Für- und Vorsorgepflicht des Staates die Mittel aufzustocken, um ein flächendeckendes Angebot an allen Schulen und Kitas zu ermöglichen. Zweitens: Obst, Gemüse und Milch spielen eine wichtige Rolle für eine ausgewogene Ernährung. Es geht dabei um die ursprünglichen Erzeugnisse, die frischen Rohprodukte wie Äpfel, Frischmilch oder Naturjoghurt. Wir dürfen nicht zulassen, dass mit dem EU-Schulprogramm Süßigkeiten verteilt werden. Stark zuckerhaltige Jogurt- oder Milchgetränke, zusätzlich gesüßte Obstzubereitungen verfälschen das Geschmacksempfinden und verführen Kinder zu einem hohen Zuckerkonsum. Wenn 100 Gramm Joghurt 20 Gramm Zucker zugesetzt werden, fördert das weniger die heimische Landwirtschaft als viel mehr Diabetes und andere ernährungsbedingte Krankheiten. Das hat nichts mit gesunder Ernährung zu tun. Und drittens bleibt auch dieses EU-Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch mit einem hohen bürokratischen Aufwand für die Schulen und Länder verbunden. Das wird nach wie vor viele Schulen davon abhalten, sich daran zu beteiligen. Darauf wies auch die Kollegin Katharina Landgraf von der CDU in unserer gestrigen Ausschussberatung hin. Dazu kommt, dass ein Programm, das dem Lehrer verbietet, ebenfalls in den angebotenen Apfel zu beißen, den Bildungsauftrag nicht verstanden hat. Die Vorbildfunktion von Lehrkräften gerade beim Essen in der Schule ist ein wesentlicher Bestandteil des Erziehungsauftrags, der damit verbunden ist. Es reicht also nicht aus, diese EU-Vorlage eins zu eins zu übernehmen. Wenn Bundesernährungsminister Christian Schmidt sich ernsthaft für eine ausgewogene Ernährung von Kindern und Jugendlichen stark machen will, muss er mehr tun: erstens die Mittel aufstocken, damit alle Kinder kostenfrei teilnehmen können, zweitens stark verarbeitete Produkte mit hohem Zuckeranteil vom Programm ausschließen, drittens die Bürokratie vereinfachen. Mit diesen drei Zutaten würden Obst, Gemüse und Milch nicht nur den Kindern, sondern auch den Lehrerinnen und Erziehern, den Eltern und uns Linken schmecken. Deshalb können wir uns beim Beschluss dieser Vorlage nur enthalten. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei allem Streit um Fragen von gesunder Ernährung ist eines unumstritten: Reichlich Obst und Gemüse gehören zu einer ausgewogenen Ernährung in jedem Fall dazu. Wir haben das EU-Schulobstprogramm deshalb immer unterstützt und freuen uns, dass neben den ganzen Milliarden, die europaweit an Agrarsubventionen ausgeschüttet werden, auch Geld für die direkte Förderung gesunder Ernährung der europäischen Kinder ausgegeben wird. Das Programm trägt dazu bei, dass Kinder einen gesunden Lebensstil erlernen können; denn es verbindet sinnvoll die Ausgabe von leckerem Obst und Gemüse mit pädagogischen Begleitmaßnahmen. Bei diesem Programm ist auch klar geregelt, dass den Kindern keine Produkte angeboten werden dürfen, die zugesetzten Zucker enthalten. Das ist sehr sinnvoll, denn die meisten Kinder essen ohnehin mehr Zucker als ihnen guttut. Leider verhält es sich beim EU-Schulmilchprogramm, an dem aktuell 3 Millionen Kinder in Deutschland teilnehmen, anders. Aktuell trinken 90 Prozent der Schulkinder ausschließlich Kakao und Milchmischgetränke und nehmen so mit der Schulmilch unnötigen Zucker zu sich. Einem Becher Schulmilchkakao sind im Schnitt 9 Gramm Zucker zugesetzt. Im Laufe von 40 Schulwochen nimmt ein Kind über das Schulmilchprogramm fast 2 Kilogramm Zucker zu sich. Das muss nicht sein. Absurd wird es nach Meinung von Ernährungsexperten, wenn man dann noch in der Gesetzesbegründung der Bundesregierung zum nationalen Umsetzungsgesetz lesen muss, dass beide Programme als Maßnahmen im Kampf gegen Adipositas und Fehlernährung gesehen werden. Statt eine ausgewogene Ernährung anzuregen und Übergewicht vorzubeugen, werden weiterhin Produkte gefördert, die das Gegenteil bewirken können. Auch nach den Getränkeempfehlungen für Schulkinder der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sind Kakao und Milchmixgetränke in Schulen nicht vorgesehen. Wenn die Bundesländer ab August 2017 die neue EU-Förderung bei der Schulmilch in Höhe von 100 Prozent in Anspruch nehmen wollen, ist der Zusatz von Zucker, Frucht und Kakao verboten. Man kann aber auch die alte Regelung weiterführen mit der geringeren EU-Förderung und einer dann notwendigen Kofinanzierung der Bundesländer. Dann sind Süßungen etc. erlaubt. Man wird beobachten müssen, wofür sich die Bundesländer entscheiden. Den Anreiz, pure Milch und pure Milchprodukte anzubieten, hat die EU gesetzt. In der Vergangenheit gab es immer wieder einmal Berichte darüber, dass das Vorhaben an Schulen, die versucht habe, nur noch die pure Milch anzubieten, gescheitert ist. Die Milch wurde dort nicht mehr abgenommen, und das Vorhaben, gesündere Produkte zu verteilen, wurde wieder eingestellt. Allerdings muss man sich bei diesem Punkt fragen, ob hier wirklich Maßnahmen geprüft und ergriffen wurden, um Schülerinnen und Schüler auch für weniger süße Milchprodukte zu begeistern. Hier hat das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund bereits Untersuchungen durchgeführt, wie gesundheitsfördernde Produkte aussehen und schmecken müssen, damit sie von Kindern und Jugendlichen angenommen werden. Auch das neu zu gründende Institut für Kinderernährung beim MRI sollte solche Fragestellungen berücksichtigen. Mit der oben bezeichneten Neuregelung der EU-Schulprogramme fällt bei der Wahl einer Variante auch die Kofinanzierung der Bundesländer weg. Auf der einen Seite ist zu hoffen, dass die Abschaffung der Kofinanzierung durch die Bundesländer dazu führen wird, dass nun noch mehr Bundesländer das Programm nutzen werden. Diese wird auf der anderen Seite dazu führen, dass eine höhere Beteiligung zu weniger Geld für die einzelnen Mitgliedstaaten führt, weil die EU insgesamt nicht mehr Geld zu Verfügung stellt. Auch die Bundesländer, die bereits in den letzten Jahren an dem Programm teilgenommen haben, werden dann weniger Geld bekommen als in den Jahren zuvor. Das könnte also dazu führen, dass in diesen Bundesländern dann weniger Kinder von den Programmen profitieren oder dass die Anzahl der Ausgabetage von Obst und Milch reduziert wird. Das sollte nicht passieren. Diese möglichen Auswirkungen werden wir in den nächsten Jahren beobachten, und wir werden gegebenenfalls dagegensteuern müssen. Ich werde nicht müde werden, zu betonen, dass das EU-Programm nur ein Baustein von vielen ist im Kampf gegen die Fehlernährung bei Kindern und Jugendlichen und in dem Bemühen, Kinder gesund aufwachsen zu lassen. Ein Apfel und ein Tetrapäckchen Milch reichen da nicht aus. Notwendig ist ein vollwertiges, köstliches Mittagessen. Der Ausbau einer gesunden Gemeinschaftsverpflegung, um Fehlernährung zu stoppen, Esskultur zu lehren und soziale Ungleichheiten aufzufangen, ist eine ganz wesentliche Aufgabe, der wir uns alle in den nächsten Jahren stellen müssen. Kinder und Jugendliche, die den ganzen Tag in der Kita und in der Schule verbringen, brauchen qualitativ hochwertiges und attraktives Schulessen. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/18/EU zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/EG des Rates (Tagesordnungspunkt 20) Karsten Möring (CDU/CSU): Mit der sogenannten Seveso-III-Richtlinie wird das europäische Störfallrecht an ein neues, weltweit harmonisiertes System zur Einstufung von Chemikalien angepasst. Zudem wurde die behördliche Überwachung von Störfallbetrieben verbessert, die Beteiligung der Öffentlichkeit gestärkt und ein Gerichtszugang geschaffen. Die Seveso-III-Richtlinie der EU regelt Sicherheitsanforderungen für Betriebe, in denen gefährliche Stoffe vorhanden sind. Schwerpunkte der Novelle bilden die Umsetzung der Vorgaben der EU-Verordnung zur Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Chemikalien und die Beteiligung der Öffentlichkeit in Verfahren zur Genehmigung von Störfallbetrieben, einschließlich der Möglichkeit zur gerichtlichen Anfechtung. Bestehende Seveso-Anlagen befinden sich ja häufig nicht auf der grünen Wiese oder in reinen Industriegebieten, sondern in gewachsenen Gebieten. In den Vorstellungen des Umweltressorts gab es für die Genehmigung von Betriebserweiterungen in Gemengelagen zunächst keine klaren Kriterien. Unklar blieb, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Genehmigung für Ausbauten und Erweiterungen von Seveso-Betrieben in Gemengelagen erteilt werden kann, wenn der angemessene Abstand zu Schutzobjekten wie Wohn- oder Gewerbegebieten oder Infrastruktureinrichtungen unterschritten wird. Befürchtet wurde ein Erweiterungsstopp, von dem sämtliche Betriebe betroffen gewesen wären, die unter die Seveso-III-Richtlinie fallen und in deren näherer Umgebung sich andere schutzwürdige Nutzungen befinden. Das betraf eine sehr hohe Zahl von Betrieben, die sich in historisch gewachsenen Gemengelagen befinden. In das Zentrum der Aufmerksamkeit rückte die Thematik insbesondere durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts in der Rechtssache „Mücksch“. Dabei geht es um einen Streit um eine Baugenehmigung für ein Gartencenter in der Nachbarschaft zu einem Störfallbetrieb im Jahr 2011/2012. In diesen Entscheidungen wurde ausgeführt, dass dem Abstandsgebot in erster Linie auf der Ebene der Planung Rechnung zu tragen ist. Ist die Planung diesem Gebot jedoch nicht nachgekommen, muss das Abstandsgebot auf der nachgelagerten Ebene der Einzelgenehmigung eines konkreten Bau- oder Industrievorhabens abgearbeitet werden. Zu der Frage, wie das umzusetzen ist, legen die Entscheidungen des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts Maßstäbe fest. Die konkrete Ausgestaltung des Abstandsgebotes entscheidet letztlich darüber, wem bei Flächennutzungskonflikten ein Nutzungsvorrang gebührt. Diese Maßstäbe des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts sollten anlässlich der Seveso-III-Umsetzung aus Klarstellungsgründen in rechtliche Regelungen im Bundes-Immissionsschutzgesetz überführt werden. Das Thema Bürokratieabbau hat uns in diesem Zusammenhang sehr beschäftigt: Die Richtlinie schreibt umfangreiche Beteiligungsrechte der Öffentlichkeit vor, bis hin zu Klagerechten. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, führt der Gesetzentwurf im § 23a ein Anzeigeverfahren ein. Wir wollten aber auf jeden Fall verhindern, dass der konkrete Zuschnitt dieses Verfahrens unnötige bürokratische Zusatzbelastungen mit sich bringt. Wie Ihnen bekannt ist, gab es sowohl in der Wirtschaft als auch bei den Länderwirtschaftsministern deutliche Vorbehalte gegen einige Vorschläge aus dem Umweltministerium. Man befürchtete einen Ausbau- und Erweiterungsstopp für Industriestandorte in Gemengelagen. Um diesen Anliegen Rechnung zu tragen, hatten wir einige Verbesserungsvorschläge. Das heute nach einem konstruktiven Abstimmungsprozess vorgelegte Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen. Lassen Sie mich die entscheidenden Stichworte in diesem Zusammenhang in der gebotenen Kürze ansprechen. Zum Bestandsschutz. Wir haben uns darauf verständigt, und das ist ein schöner Erfolg, dass § 50 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, der das Abstandsgebot für die Planung regelt, unverändert gilt. Der baurechtliche Bereich wird also wie bisher im Bauplanungsrecht geregelt. Die Regelung durch ein neues störfallrechtliches Genehmigungsverfahren hätte vor allem für die Betriebe in Gemengelagen bedeutet, dass eine Erweiterung oder Änderung des Betriebsbereiches unter Umständen nicht mehr möglich gewesen wäre. In unserem Änderungsantrag schreiben wir jetzt fest, dass ein neues störfallrechtliches Genehmigungsverfahren nur dann notwendig ist, wenn der angemessene Sicherheitsabstand erstmalig unterschritten wird, der bereits unterschrittene Sicherheitsabstand räumlich noch weiter unterschritten wird oder eine erhebliche Gefahrenerhöhung ausgelöst wird. Diese Grundlage für die neue Anwendungspraxis ist von großer Bedeutung, um bis zum Erlass der TA Abstand Planungs- und Rechtssicherheit für die Gemengelagen zu schaffen. Mit der gefundenen Regelung ist de facto Bestandsschutz erreicht. Zum Sicherheitsabstand ist festzuhalten, dass der angemessene Abstand mit Rücksicht auf die Besonderheit der einzelnen Sachverhalte in einer eigenen Verwaltungsverordnung geregelt werden soll. Damit soll eine handhabbare Grundlage zur Abwägung des Gefährdungspotenzials und des Risikos aufseiten des Betriebs einerseits und mögliche Schädigungen im Einwirkungsbereich außerhalb des Betriebsgeländes andererseits miteinander abgewogen werden können. Mit dem neuen § 23a, mit dem wir über die EU-Regelungen national hinausgehen, schreiben wir bei bestimmten Veränderungen ein Anzeigeverfahren vor. Es leuchtet ein, dass die Betriebe bei der ihnen obliegenden Gefährdungsbeurteilung zwar die betriebliche Seite genau kennen, aber die Situation außerhalb ihres Betriebsgeländes nicht unbedingt beurteilen können. Um zu verhindern, dass hier eine Art vollständiges Genehmigungsverfahren durch die Hintertür eingeführt wird, fordern wir in unserem Entschließungsantrag die Regierung auf, im Rahmen einer Verwaltungsvorschrift „die Bereitstellung von Informationen und der Bürokratieaufwand für den Vorhabenträger auf das unbedingt erforderliche Maß“ zu begrenzen. Eine optimale Lösung wurde auch für die öffentliche Beteiligung gefunden, gewährleistet sie doch die Sicherheit der Anwohner und die Sicherung des Betriebsstandortes oder seiner Entwicklungsmöglichkeiten. Die Öffentlichkeitsbeteiligung wird durch eine Änderung des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung sichergestellt. Bestehende materielle Genehmigungsanforderungen werden dadurch aber nicht verändert. Ich komme zum Schluss. Die heutige Einigung ist der Abschluss eines schwierigen Prozesses, da es nicht nur um die Öffentlichkeitsbeteiligung und die Umsetzung von Änderungen im Chemikalienrecht auf europäischer Ebene gegangen ist, sondern auch um die Frage, wie mit Abstandsregeln umgegangen werden soll. Es sind historisch entstandene Standorte und deren Entwicklungsmöglichkeiten ebenso zu berücksichtigen gewesen wie das berechtigte Schutzinteresse von Anwohnern. Mit unserem Änderungsantrag und dem Entschließungsantrag werden diese Klarstellungen erreicht. Ich kann also für die CDU/CSU-Fraktion abschließend feststellen, dass sowohl dem wichtigen Schutz der Bevölkerung und der Umwelt vor schweren Unfällen als auch den berechtigten Anliegen der Wirtschaft durch das Gesetz in der nun vorliegenden Fassung gut Rechnung getragen werden. In diesem Sinne danke ich allen Beteiligten, den Mitarbeitern der betroffenen Ressorts sowie meiner geschätzten SPD-Berichterstatterkollegin im Ausschuss, Ulli Nissen, für die konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Ich lade alle Kolleginnen und Kollegen der Grünen und der Linken herzlich dazu ein, sich einen Ruck zu geben und sich dieser guten Lösung ebenfalls durch ihr Votum anzuschließen. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Große Havarien und katastrophale Unfälle wird man trotz aller Achtsamkeit und aller Sicherheitsvorschriften niemals ausschließen können. Die Linke begrüßt daher das Engagement der Europäischen Union, die Vorsorge des Krisenmanagements für Unfälle mit gefährlichen Stoffen unionsweit einheitlich und ambitioniert zu gestalten. In Deutschland besteht ein Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Bevölkerung und der Standorterhaltung bestimmter Industrieparks. Durch die konsequente Umsetzung der Seveso-III-Richtlinie und die Erwägungen, die ihr vorangehen, kommt es zu Interessenkonflikten zwischen dem Schutzbedürfnis der Bevölkerung und dem Investitions- und Profitinteresse der Industrie. An den heutigen Konflikten tragen jedoch neben der Industrie auch Regionalverwaltungen und Länder einen großen Anteil der Mitschuld. Vielerorts ist zu beobachten, dass einstmals außerhalb von Ortschaften errichtete Industrieparks schleichend, über Jahrzehnte erfolgend, heute von Wohnbebauung umgeben sind. Diese Konflikte zwischen Bedürfnissen der Industrie und Schutzbedürfnissen der Anwohner hätte man sich ersparen können, wenn man von vornherein ein ausreichend straffes Regelwerk im Rahmen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes gehabt hätte und nicht erst auf entsprechende Vorgaben der EU gewartet hätte, man also Städtebauplanung mit etwas mehr Nachhaltigkeit und Weitsicht betrieben hätte. Nun wird die Bundesregierung per Verordnung festlegen müssen, inwieweit heutige Abstandskonflikte zu neuen Genehmigungsverfahren führen oder eben auch nicht. Die Linke warnt davor, die Interessen des Investitionsschutzes über das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung zu stellen und sei es nur in Einzelfällen. Im Katastrophenfall wäre eine zu lapidare Interpretation des Gesetzes fatal. Die Seveso-III-Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten vor, dass bei Verstößen gegen die Berichtspflichten durch die Betreiber oder gar bei Betrieb trotz fehlender Genehmigung oder anderweitigen Verstößen gegen das Gesetzeswerk „Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen“. Was fordert die Koalition in diesem Gesetzentwurf? Dass die Behörde die „Stilllegung der Anlage anordnen kann“ und die Beseitigung solcher, damit eigentlich illegal betriebener Anlagen nur anordnen „soll“, wenn „die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft zum Beispiel vor Chlorgas nicht ausreichend geschützt werden kann“. Es geht um Gesundheit und Leben. Hier hätte sich die Linke darum Konkretheit gewünscht, die den Behörden die strikte Anwendung des Gesetzes auch rechtssicher ermöglicht. Durch derartige Soll- und Kannphrasen baut die Koalition Hintertürchen in das Gesetz, die zu Missbrauch führen können. Positiv ist jede Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und vor allem die Zulassung des Verbandsklagerechts im Genehmigungsverfahren, wenn Betriebe ihre Anlagen erweitern oder neue bauen wollen. Leider – das ist symptomatisch für das deutsche Öffentlichkeitsbeteiligungsrecht – werden die Sorgen und Nöte direkt Betroffener erneut nicht rechtsverbindlich in den Genehmigungsverfahren berücksichtigt. Zwar dürfen Betroffene Stellungnahmen an die Behörden übermitteln. Inwieweit die Behörde diese Stellungnahmen aber berücksichtigt, bleibt ihr überlassen. Die Linke fordert deshalb bereits seit Jahren, das Recht der Öffentlichkeitsbeteiligung zu reformieren und der Öffentlichkeit verbindlich mehr Kompetenz zu übertragen. Wohin es führt, wenn man an der Öffentlichkeit vorbei agiert, können wir in Gorleben sehen, wo in einem Salzstock zwar kein Atommüll, dafür aber Milliarden Euro versenkt wurden. Die gesamte Katastrophenvorsorge versagt, wenn das Potenzial einer Katastrophe im Ereignisfall nicht bekannt ist. Die Vorsorge der Seveso-Richtlinien reicht richtigerweise soweit, dass nicht nur Betriebe, die mit gefährlichen Stoffen hantieren, reglementiert werden, sondern auch Betriebe mit Stoffen, die erst im Havariefall gefährlich werden. Damit geht die Richtlinie dem Risikomanagement des europäischen Chemikalienrechts weit voraus, was ich sehr begrüße, und mir für eine Novelle der Chemikalienrichtlinie auch wünsche. Bisher kommt nämlich bei der Risikobewertung nach REACH-Chemikalienverordnung nur die Gefährlichkeit des Stoffes an sich zum Tragen. Die Gefährlichkeit seiner Reaktionsprodukte wird nicht untersucht. Ein Beispiel, wo dies relevant werden kann, ist der Umgang mit dem neuen Kältemittel R1234yf in Pkw-Klimaanlagen. Im Brandfall entwickelt sich daraus unter anderem Carbonyldifluorid, ein dem Kampfgas Carbonyldichlorid, als Phosgen bekannt, ähnlicher Stoff. Die Risikobewertung ist – abgesehen davon, dass sie für das Kältemittel noch gar nicht vorliegt – immer unvollständig. Die Risikobewertung erfolgt nicht auf Basis unabhängiger Forschungsergebnisse. Die Bewertung wird zu großen Teilen ausgerechnet von der Industrie erbracht, die die Stoffe einsetzen will. Die Wirkung der Seveso-III-Richtlinie wird also von einem unzureichenden Chemikalienrecht untergraben. Deshalb, zum Schutz vor den Auswirkungen von Katastrophen mit gefährlichen Chemikalien, fordert die Linke daher eine grundlegende Qualifizierung des europäischen Chemikalienrechts. Trotzdem lässt sich zusammenfassend sagen, dass mit der Seveso-III-Richtlinie von der EU ein richtiger Schritt gemacht wird. Aber dieser ist, auch wegen der Bundesregierung, leider unvollständig. Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vorliegende Gesetzentwurf versucht, dem Spannungsfeld zwischen dem berechtigten Sicherheitsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger und dem Interesse der Industrie hinsichtlich des Bestandsschutzes Rechnung zu tragen. Die immer wiederkehrenden Unfälle in Industrieanlagen, wie zuletzt eine Verpuffung und eine Explosion an den Chemiestandorten Lampertheim und Ludwigshafen, zeigen, wie wichtig der Schutz der dort Arbeitenden und in der unmittelbaren Nachbarschaft zu einer solchen Anlage Wohnenden ist. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der drei tödlich am Standort Ludwigshafen Verunglückten, denen ich mein Beileid ausspreche. Das Chemieunternehmen an diesen Standorten hat dieses Jahr bereits 15 Störfälle mittels Pressemitteilung öffentlich gemacht, 6 davon waren sogar meldepflichtige Ereignisse, Hinzu kommt, dass von den Kommunen etwa Wohngebiete in der Nähe bestehender Chemie- oder anderer Industriestandorte ausgewiesen werden, dass also die Wohnbebauung zum Teil langjährig bestehende Anlagen heranrückt. Infolgedessen kann es dann zu Interessenkonflikten kommen, die Auswirkungen auf den Bestand oder die Entwicklung der Industrieanlagen haben können. Die Notlage mancher Kommunen hinsichtlich des Neubaus von Wohnungen ist immens und macht dieses Vorgehen nachvollziehbar. Diese müssen selbst komplexe Abwägungsentscheidungen zwischen Lösung des Wohnungsproblems und der Auswirkung auf Industriestandorte und den damit verbundenen Arbeitsplätzen treffen, idealerweise im Rahmen einer im Vorfeld initiierten Öffentlichkeitsbeteiligung mit allen Betroffenen. Auch neue Nutzungen in der Nachbarschaft oder Nutzungsänderungen können Folgen für bestehende Industrieanlagen haben, wie etwa ein Fall im südhessischen Darmstadt zeigt. Hier wollte eine Eigentümerin eines Baugrundstückes in einem Gewerbegebiet ein Gartencenter für den Einzelhandelsverkauf von Gartenbedarf errichten, direkt neben der Anlage eines großen Chemieunternehmens. Dies führte zu einer langjährigen juristischen Auseinandersetzung und schlussendlich zum sogenannten Mücksch-Urteil des Europäischen Gerichthofes vom 15. September 2011, mit der Folge, dass über viele Jahre Planungsunsicherheit herrschte. Hier kann das neue Gesetz endlich einen Beitrag zur Rechtsklarheit leisten. Keine Lösung bietet es dagegen bezüglich potenzieller Gefahren infolge von Bohrungen zur Aufsuchung fossiler Energieträger, wie etwa Gas- oder Erdölbohrungen, oder gar durch Fracking. So explodierte 2014 die Bohranlage in Geeste, und 2015 gab es einen unerwarteten Sauergasaustritt an einer Bohrung bei Siedenburg – um nur die Vorfälle in der näheren Vergangenheit zu nennen. Angesichts dieser Gefahren ist es nicht nachvollziehbar, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf bewusst die bestehenden Ausnahmen für Bergbauvorhaben nicht beseitigt werden, wie sie etwa hinsichtlich Immissionsschutz und Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen. Denn das Gesetz nimmt störfallrelevante Anlagen, die nach Berggesetz betriebsplanpflichtig sind, von eben diesen Pflichten aus. Die Bundesregierung hat zuletzt mit der vergangenen Novelle des Wasserhaushaltsgesetzes Fracking in Tight-Gas-Reservoirs ermöglicht und versagt auch hier wieder beim Schutz der Umwelt vor den Gefahren, die von Fracking ausgehen. Diese Ausnahmen sollten aber gerade angesichts der Gefahren des Hydraulic Fracturing – Fracking – ersatzlos entfallen. Im Gegensatz zum Vorschlag der Bundesregierung, Anlagen, die nach den Vorschriften des Bundesberggesetzes betriebsplanpflichtig sind, von den §§ 23a und 23b Bundes-Immissionsschutzgesetzes für störfallrelevante Anlagen auszunehmen, wäre eine Streichung des § 23c des Bundes-Immissionsschutzgesetzes aus unserer Sicht die notwendige und angemessene Lösung gewesen. Stattdessen verheddert sich die Bundesregierung im Bergrecht und führt dort einen neuen § 57d ein. Konkret: Die fossile Fracking-Industrie bekommt mal wieder ihre Extrawurst. Aber im Bergrecht existieren keine spezifischen bergrechtliche Regelungen für die Verhinderung schwerer Unfälle und ihrer Folgen. Auch wäre es an dieser Stelle sinnvoll gewesen, eine Konkretisierung und Klarstellung für die Voraussetzungen einer Genehmigung von betriebsplanpflichtigen Bergbauvorhaben zu betreiben. Die Seveso-III-Richtlinie sollte unserer Auffassung nach also uneingeschränkt auch auf bergbauliche Vorhaben und in Verbindung stehende Anlagen angewendet werden. Dies leistet das heute hier zu beschließende Gesetz leider nicht. Schade! Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: In diesem Jahr jährt sich zum 40. Mal der Chemieunfall von Seveso. In der Nähe der norditalienischen Gemeinde traten seinerzeit aus einer Chemiefabrik giftige Dioxingase aus und verbreiteten sich über ein dichtbesiedeltes Gebiet. Obwohl die Werksleitung schon am ersten Tag nach dem Unfall um das Geschehene wusste, machte sie dies erst acht Tage später offiziell bekannt. Auch die Behörden reagierten nur zögerlich: Ganze zwei Wochen gingen ins Land, bis das Unglücksgebiet abgeriegelt wurde und rund 700 Familien die Region verlassen mussten. Der Unfall verursachte bei etwa 200 Menschen, darunter bei vielen Kindern, schwere, teils langwierige Gesundheitsschäden. Auch Jahre später war in der Region Langzeitstudien zufolge die Zahl von Tumor- und Diabeteserkrankungen überdurchschnittlich hoch. Aus dem Seveso-Unglück sind viele Lehren zum industriellen Umgang mit gefährlichen Stoffen gezogen worden. Diese haben auf europäischer Ebene Eingang in einen Gesetzgebungsprozess gefunden, der eng mit dem Namen des Unglücksortes verbunden ist. 1982 trat die sogenannte Seveso-Richtlinie über die Gefahren schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten in Kraft. Heute bildet die Seveso-III-Richtlinie, genauer: der Gesetzentwurf zu ihrer Umsetzung im Bundesrecht, den Gegenstand der Beratungen des Deutschen Bundestages. Das Ziel der Seveso-Richtlinien hat sich im Laufe der Zeit nicht verändert: Schwere Unfälle in Industriebetrieben sollen weitestmöglich vermieden und in ihren Auswirkungen begrenzt werden. Die Seveso-III-Richtlinie passt dazu ihren Geltungsbereich an neue EU-Vorgaben zur Einstufung sowie Kennzeichnung von Chemikalien an. Sie gibt eine strengere behördliche Überwachung vor und gebietet eine stärkere Beteiligung der Öffentlichkeit insbesondere an Verfahren zur Genehmigung von Störfallbetrieben. Wie der aktuelle Störfall in Ludwigshafen mit dem beklagenswerten Verlust von Menschenleben, den Schwerverletzten und den großen Sachschäden zeigt, muss und wird die Anlagensicherheit auch weiterhin ein Thema von hoher Bedeutung bleiben. Es mag wie eine Binsenweisheit klingen, die aktuellen Geschehnisse machen es uns aber in schmerzlicher Weise erneut bewusst: Auch der hohe Stand der Sicherheitstechnik, den wir inzwischen erreicht haben, kann schwere Unfälle niemals gänzlich ausschließen. Der Ihnen heute vorliegende Gesetzentwurf setzt als Bestandteil eines Gesamtkonzepts die europarechtlichen Vorgaben der Seveso-III-Richtlinie zur Öffentlichkeitsbeteiligung eins zu eins in das deutsche Recht um. Eine Beteiligung der Öffentlichkeit ist danach erforderlich, wenn ein Vorhaben die Gefahr eines schweren Störfalls erheblich erhöht und sich im Umfeld des Vorhabens geschützte Objekte wie etwa Wohngebiete, Kindergärten oder Krankenhäuser befinden, die im Störfall zu Schaden kommen können. Zur Schließung von Umsetzungslücken wird neben der Anpassung schon bestehender immissionsschutzrechtlicher Verfahren ein „kleines störfallrechtliches Anzeige- und Genehmigungsverfahren“ eingeführt. Es gewährleistet die europarechtlich erforderliche Öffentlichkeitsbeteiligung auch bei Vorhaben, die derzeit genehmigungsfrei gestellt sind. An bestehenden materiellen Genehmigungsstandards ändert der Gesetzentwurf nichts. Insbesondere führt er nicht – wie von einigen befürchtet – zu Verschärfungen beim europarechtlichen Abstandsgebot. Das Gebot zur Wahrung angemessener Sicherheitsabstände zwischen Störfallbetrieben und geschützten Objekten wird nicht in eine immissionsschutzrechtliche Betreiberpflicht umgewandelt. Ebenso wenig wird Behörden erlaubt, durch nachträgliche Anordnungen zulasten der Betreiber in historisch gewachsene Gemengelagen einzugreifen. Änderungen bestehender Störfallanlagen bleiben auch in Gemengelagen nach wie vor möglich. Erhöhen sie indes die Gefahr eines Störfalls erheblich, muss dies wie bisher auch durch risikominimierende Maßnahmen kompensiert werden. Der vorliegende Entwurf bringt einen tragfähigen Kompromiss zwischen den Interessen der Betreiber von Störfallanlagen und denen der Nachbarschaft sowie der Allgemeinheit zum Ausdruck. Bei der Kompromissfindung hat es sich die Bundesregierung nicht leicht gemacht: Die ersten Entwürfe zur Umsetzung der Richtlinie waren Gegenstand intensiver Diskussionen: zwischen den Ressorts, mit den Ländern und auch mit den Verbänden. Angesichts des inzwischen eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland wegen Spätumsetzung der Seveso-III-Richtlinie ist nunmehr ein zeitnaher Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens erforderlich. Es ist richtig, dass der Gesetzentwurf nicht alle offenen Fragen beantwortet. Auch angesichts der technischen Komplexität der Materie lässt sich nicht alles in Gesetzestext gießen. Zur weiteren Konkretisierung der auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffe wird die Bundesregierung einen Weg beschreiten, der sich im Immissionsschutzrecht schon vielfach bewährt hat. Sie wird mit einer „Technischen Anleitung Sicherheitsabstand“ ein näheres Regelwerk vorgeben, das die Behörden und Betreiber bei einer rechtssicheren Anwendung der Genehmigungsvorgaben unterstützen kann. Die ersten Vorarbeiten für dieses Regelwerk haben bereits begonnen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen Dienstes im Bereich des Bundes (Tagesordnungspunkt 21) Markus Koob (CDU/CSU): Gerne möchte ich zu Beginn die Fakten und Daten in Erinnerung rufen, deren Kenntnis zur fachlich korrekten Erfassung des Themas notwendig ist: Erstens. Wir haben 16 Millionen Kinder in Deutschland, die Kindergeld in Höhe von insgesamt 39 Milliarden Euro beziehen. Zweitens. Wir haben für Beschäftigte der Privatwirtschaft die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit, die für deren Kindergeldanträge zuständig ist. In diesem Bereich haben wir 14 Familienkassen, die 87 Prozent aller Kindergeldfälle bearbeiten. Mit dem dritten Punkt kommen wir zugleich zum zentralen Regelungsgegenstand dieses Gesetzes: zu den Familienkassen des öffentlichen Dienstes, die die Kindergeldanträge von Staatsbediensteten bearbeiten. Drittens. Wir haben für Staatsbedienstete etwa 8 000 zuständige Familienkassen des öffentlichen Dienstes, die allerdings nur 13 Prozent aller Kindergeldfälle bearbeiten. Die Disproportionalität dieses Umstands wird sofort ersichtlich, wenn Sie alle drei Daten zusammenführen; dann ergibt sich nämlich das folgende Bild: Etwa 0,2 Prozent aller Familienkassen bearbeiten 87 Prozent aller Kindergeldfälle, wohingegen 99,8 Prozent lediglich mit 13 Prozent konfrontiert sind. Das ruft nach Reform und nach Steigerung der Verwaltungseffizienz. Die Beendigung der Sonderzuständigkeiten wird nicht nur seit Jahren vom Bundesrechnungshof gefordert, sondern auch in den betroffenen Fachkreisen, damit hier eine gleichmäßige Rechtsanwendung und zugleich ein ökonomischer Verwaltungsablauf gewährleistet sind. Die Zuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen Dienstes im Bereich des Bundes wird auf die Bundesagentur für Arbeit respektive das Bundesverwaltungsamt übergehen. Ich betone: Eine gesetzlich verpflichtende Zuständigkeitsübertragung erfolgt lediglich im Bereich des Bundes. Was also, wird sich der geneigte und informierte Zuhörer fragen, passiert mit den Familienkassen des öffentlichen Dienstes im Bereich der Länder und Kommunen? Für diese haben wir eine Option der Zuständigkeitsübertragung implementiert. Man könnte auch sagen: Wir haben einen Anreiz gesetzt; denn der Bund wird bei einer freiwilligen Zuständigkeitsübertragung durch die Länder und Kommunen die Sach- und Personalkosten übernehmen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Dieses Gesetz ist also auch für sie eine administrative Entlastung, wenn sich deren Familienkassen einer Zuständigkeitsübertragung auf freiwilliger Basis anschließen. Es gibt im Übrigen auch einen gewichtigen inhaltlichen Grund, von dieser freiwilligen Option Gebrauch zu machen: Die Familienkassen bei der Bundesagentur für Arbeit stehen für eine herausragende Arbeit sowie für qualitativen, bürgerfreundlichen Service. Wir lösen mit dem Gesetz auch ein anderes Problem, das der Bundesrechnungshof seit langem moniert und das in der Bevölkerung zu Recht auf wenig Verständnis stößt: die Doppelzahlungen von Kindergeld. In der Vergangenheit hat sich diese Zersplitterung in der Familienkassenlandschaft als fehleranfällig erwiesen: Es fehlte bislang ein bundesweites, einheitliches Datennetzwerk, in dem Kindergelddaten zentral gespeichert werden. Doppelzahlungen beim Kindergeld konnten daher nicht vermieden werden. Die jetzt zu beschließende Zuständigkeitszusammenführung enthält daher auch Maßnahmen der Datenkonvergenz, die in der Konsequenz die Gefahr der Doppelzahlungen von Kindergeld erheblich reduzieren. Die Rechtsgemeinschaft muss schließlich darauf vertrauen können, dass Personen, die berechtigt sind, Staatsleistungen in Anspruch zu nehmen, lediglich den ihnen zustehenden Anspruch erhalten und nicht etwa das Doppelte. So ist diese Reform im Ergebnis eine Win-win-Situation für alle: Die Bürgerinnen und Bürger gewinnen als Steuerzahler, die Behörden gewinnen durch effizientere Verwaltungsabläufe, die Anspruchsberechtigten profitieren von der qualitativen Beratung und Bearbeitung ihrer Anliegen, und nach eigenem Ermessen können auch die Familienkassen des öffentlichen Dienstes in den Ländern und Kommunen gewinnen. Kein Wunder also, dass ein Gesetz, bei dem alle gewinnen und keiner verliert, auch großen Zuspruch hier im Hause findet. Ich bitte um Ihre Zustimmung. Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Mit dem Gesetz zur Beendigung der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen Dienstes wird eine vom Bundesrechnungshof seit langem angemahnte grundlegende strukturelle Reform der Zuständigkeiten der Familienkassen des öffentlichen Dienstes eingeleitet. Nach den Feststellungen des Bundesrechnungshofes kam es in diesen Bereichen zu zahlreichen Doppelzahlungen und zu Bearbeitungsfehlern, die sich bereits im Jahr 2009 auf über 9 Millionen Euro beliefen. Nun ist vorgesehen, dass die Kindergeldbearbeitung der Familienkassen des öffentlichen Dienstes im Bereich des Bundes auf die Bundesagentur für Arbeit oder alternativ auf das Bundesverwaltungsamt übergeht. Für den Bereich von Ländern und Kommunen erhalten die öffentlichen Arbeitgeber ebenfalls die Möglichkeit, die Zuständigkeit und Fallbearbeitung an die Bundesagentur für Arbeit abzugeben. Sollten diese von der Möglichkeit keinen Gebrauch machen, verbleibt es bei der bestehenden Zuständigkeit der Familienkassen der Länder und Kommunen. Bei den Kassen des Bundes ist ein Zuständigkeitsübergang bis zum Jahr 2021 vorgesehen. Dabei ist von erheblichen Effizienzsteigerungen auszugehen. Der Normenkontrollrat beziffert die möglichen Effizienzgewinne durch die Konzentration auf mindestens 8,5 Millionen Euro jährlich. Allerdings wird der gesamte Umstellungsaufwand auf einmalig rund 25 Millionen Euro geschätzt. Angesichts der möglichen Ersparnisse in den Folgejahren hält sich dieser Aufwand jedoch in einem durchaus vertretbaren Rahmen. Gleichzeitig erfüllen wir mit diesem Gesetz eine Forderung aus unserem Koalitionsvertrag, in dem festgehalten wurde, dass wir die Familienkassen des Bundes bei der Bundesagentur für Arbeit konzentrieren wollen. Angesichts der zu erwartenden Einsparungen, die, wie oben bereits erwähnt, nach konservativen Schätzungen allein bei den Familienkassen des Bundes wenigstens bei rund 8,5 Millionen Euro jährlich liegen werden, ist dieses Gesetz sinnvoll und vernünftig. Den Ländern wird mit dem Gesetz die Möglichkeit eröffnet, sich an dieser Konzentration mit ihren entsprechenden Familienkassen zu beteiligen. Dies erscheint auch deshalb besonders sinnvoll, da noch ein erhebliches Potenzial an Einsparungen durch die Konzentration der anderen Familienkassen der öffentlichen Hand gegeben wäre. Durch die Reform wird zunächst die Anzahl der Familienkassen auf Bundesebene bis zum Jahr 2021 um 100 reduziert. Auf Landes- und Kommunalebene verbleiben dann noch etwa 7 900 Familienkassen. Wenn sich Länder und Kommunen in großem Umfang der Konzentration anschließen, dann ergibt sich ein weiterer Einsparungserfolg, der nach Schätzungen des Bundesrechnungshofes bis zu 170 Millionen Euro betragen könnte. Ziel dieser Strukturreform ist es, die Anzahl der Familienkassen der öffentlichen Hand längerfristig drastisch zu reduzieren und damit das vorhandene Einsparungspotenzial zu heben. Es ist zu hoffen, dass sich die Länder und Kommunen der Reform anschließen werden, zumal ja die Kosten dafür letztlich vom Bund getragen werden. Wichtig in diesem Zusammenhang erscheint mir aber auch, dass vorgesehen ist, eine Evaluierung des Vorhabens durchzuführen, um festzustellen, inwieweit sich die Verwaltungskosten für die Bearbeitung einzelner fallgruppenspezifischer Kindergeldfälle in den verschiedenen Familienkassen des Bundes, der Länder und der Kommunen, aber auch die mittelfristigen Kosteneinsparungen durch die Konzentration der Familienkassen der öffentlichen Hand entwickelt haben. Gleichzeitig beschließen wir heute darüber, dass das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen und das Bundesausgleichsamt ab dem Beginn des kommenden Jahres in den Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums übergehen. Mit dieser Umgliederung und der geplanten Fusionierung dieser Behörden mit dem Bundesverwaltungsamt wird eine weitere Effizienzsteigerung erreicht werden können. Mit dem vorliegenden Gesetz wird eine Vereinfachung der Verwaltung ermöglicht, die erhebliche Einsparungen für die öffentliche Hand vorsieht und dabei hilft, Doppelzahlungen und Bearbeitungsfehler in größerem Umfang zu vermeiden. Ich bitte daher, diesem vernünftigen strukturellen Reformvorhaben zuzustimmen. Frank Junge (SPD): Das Gesetz zur Beendigung der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen Dienstes, das wir heute in abschließender Lesung behandeln, reiht sich nahtlos ein in das Arbeitsprogramm „Bessere Rechtssetzung“, welches das Bundeskabinett im Juni 2014 beschlossen hat. Ziel dieser Maßgaben ist, den Prozess hin zu einer effizienten, wirtschaftlichen und bürgerfreundlichen Verwaltung aktiv in Angriff zu nehmen und offensiv zu gestalten. Das vorliegende Gesetz, an dem Bund und Länder fast fünf Jahre gearbeitet haben, lässt sich unter diesen Gesichtspunkten nahtlos in dieses Programm einordnen und ist vor diesem Hintergrund nach meiner Auffassung ein ausgesprochen gutes Gesetz. Derzeit gibt es in der Bundesrepublik Deutschland 14 Familienkassen der Bundesagentur für Arbeit, die für circa 16 Millionen Kinder das Kindergeld ausbezahlen. Darüber hinaus verwalten circa 8 000 weitere Familienkassen insgesamt 2 Millionen Kindergeldfälle von Angestellten des öffentlichen Dienstes im Bereich des Bundes, der Länder und der Kommunen. Zum Teil bearbeiten einzelne dieser Familienkassen nur 20 bis 40 Kindergeldfälle. Diese Situation halte ich mit Blick darauf, dass es sich beim Kindergeld um eine steuerliche Leistung handelt, bei der es überhaupt keinen Gestaltungsspielraum gibt, grundsätzlich für einen untragbaren Missstand. Neben der Tatsache, dass eine solche aufgeblähte Struktur rein gar nichts mit einer effizienten Verwaltung zu tun hat, erfüllen viele dieser Familienkassen noch nicht einmal Mindeststandards in der Qualität der Arbeitsabläufe, weil es dort schlicht an Erfahrung und Routine in der Fallbearbeitung fehlt. Das hat der Bundesrechnungshof vor Jahren bereits festgestellt. Unterschiedliche IT-Systeme und ein fehlender Datenabgleich der Familienkassen untereinander sind darüber hinaus nicht nur ineffizient, sie führen auch zu einer erhöhten Fehler- und Betrugsanfälligkeit. So weiß die eine Familienkasse nämlich nicht, was die andere macht. Und das führt unter Umständen zu Missbräuchen oder unzulässigen Zahlungen von Kindergeld. Darum werden wir mit dem vorliegenden Gesetz die derzeit circa 100 Familienkassen, welche die Kinderzahlungen für Angestellte des Bundes vornehmen, bis zum Jahr 2022 an zwei Stellen zusammenführen: bei der Bundesagentur für Arbeit und beim Bundesverwaltungsamt. Darüber hinaus geben wir Ländern und Kommunen die Möglichkeit, ihre derzeit circa 7 900 Familienkassen für die öffentlich Bediensteten ebenfalls zentral beim Bund zusammenzufassen. Das bietet in meinen Augen nur Vorteile für die Länder. Zum einen können sich die Landesbediensteten auf andere Aufgaben konzentrieren als auf die Auszahlung von Kindergeld. Andererseits sparen die Länder Geld, da der Bund zukünftig die Verwaltungskosten übernimmt. Hochgerechnet würden sich auf das gesamte Jahr gesehen pro Kindergeldfall in der Bearbeitung bis zu 20 Euro einsparen lassen. Das sind Ressourcen, welche die Länder und Kommunen an anderer Stelle sinnvoller einbringen könnten. Meine Gespräche mit Vertretern der Länder haben zum Ausdruck gebracht, dass man dem vorliegenden Gesetzentwurf dort positiv gegenübersteht und an der Zusammenlegung der Familienkassen teilnehmen möchte. Unabhängig davon will ich dennoch an Sie alle appellieren, in Ihren Bundesländern für eine möglichst umfassende Beteiligung zu werben. Denn je mehr Länder und Kommunen sich für eine Zentralisierung aussprechen und mitmachen, umso höher ist selbstverständlich auch der gesamte Nutzen. Ich habe eingangs bereits zum Ausdruck gebracht, dass ich das heute vorliegende Gesetz für ein ausgesprochen gutes halte. Wir entbürokratisieren damit unsere Verwaltung, gestalten sie bürgerfreundlicher und effizienter. In diesem Zusammenhang freue ich mich sehr darüber, dass auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, das offensichtlich so sehen. Jedenfalls haben Sie das im Rahmen unserer abschließenden Diskussion im Finanzausschuss uns gegenüber so zum Ausdruck gebracht. Konsequenterweise wäre daher eine breite und fraktionsübergreifende Zustimmung zum Gesetzentwurf aus meiner Sicht nur folgerichtig. Genau darum bitte ich Sie. Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Es ist ohne Zweifel höchste Eisenbahn, dass sich die Zahl fehlerhafter Kindergeldfestsetzungen verringert. Der Bundesrechnungshof verwies auf über 1 300 Fälle, in denen das Kindergeld doppelt ausgezahlt wurde. Der Schaden für den Steuerzahler war beträchtlich: 9 Millionen Euro. Die hier angestrebte Struktur- und Verwaltungsreform bei den Familienkassen erscheint auf alle Fälle sinnvoll. Die Verwaltungsstruktur wird transparenter und effektiver durch bessere Vernetzung und Standardisierung, und sie wird hoffentlich weniger betrugsanfällig, wenn fortan ein besserer und schnellerer Datenabgleich möglich ist. Familienkassen der öffentlichen Arbeitgeber in Ländern und Kommunen können zwar ihre Zuständigkeiten behalten, allerdings steht es den kleineren Familienkassen mit geringen Fallzahlen frei, die Zuständigkeit an die Bundesagentur für Arbeit oder das Bundesverwaltungsamt zu übertragen. 100 Familienkassen des öffentlichen Dienstes Bund sind vom Gesetzentwurf primär betroffen und werden allesamt überführt. Das heißt dann aber auch, dass die restlichen 7 900 Familienkassen des öffentlichen Dienstes optieren können. In welche Richtung die Entscheidung gehen wird, ist aber unklar und trägt nicht gerade zur Rechts- und Planungssicherheit bei. Unserer Meinung nach sollten die 8 000 Familienkassen des öffentlichen Dienstes, also die Kassen für Beamte und deren Kinder, überführt werden, und zwar auf absehbare Zeit. Ob der ganze Übergangsprozess tatsächlich fünf Jahre in Anspruch nehmen muss, wie vorgesehen, erscheint mir zweifelhaft. Die Umsetzung der geplanten Strukturreform zieht finanziellen Aufwand, aber auch Einsparungen nach sich. So kommt es bei der Bundesagentur für Arbeit zu einem einmaligen Aufwand von circa 22,25 Millionen Euro. Beim Bundesverwaltungsamt werden die zusätzlichen Kosten 1,95 Millionen Euro betragen. Demgegenüber soll es mittelfristig zu Einsparungen von mindestens 8,5 Millionen Euro jährlich kommen. Rechnet man das gegen, spart der Staat bei jeder Überführung der Kindergeldzuständigkeit 20 Euro. Das klingt erst einmal nicht nach so viel, aber die Masse machtʼs. Dennoch wird man erst hinterher schlauer sein, ob die gesamten Umstrukturierungsmaßnahmen wirklich so rasch zu den avisierten Einsparungen führen werden. Wir haben nun schon einiges zu Kostensenkungen und Bürokratieabbau gehört. Kommen wir also zur Kehrseite der Medaille: Im Gesetzentwurf ist zu lesen, dass „nicht in jedem Fall das für diese Aufgabe eingesetzte Personal zeitgleich auf eine freie, für andere Aufgaben ausgebrachte Planstelle/Stelle geführt werden kann“. Dadurch, dass die – Zitat – „Zahl der zuständigen Stellen reduziert“ werden soll, ist immer mit Arbeitsplatzabbau zu rechnen. Es gibt de facto keine Garantie, dass jeder Mitarbeiter, dessen Stelle wegfällt, wieder auf eine neue Planstelle gesetzt wird. Ob die Aussage des Staatssekretärs Meister aus dem Finanzausschuss, dass sich niemand Sorgen um seinen Job machen müsse, Bestand haben wird, steht leider in den Sternen. Die Linke fordert, dass Verwaltungs- und Strukturreformen nicht mit Arbeitsplatzabbau einhergehen. „Rationalisierungen“ und „Umstrukturierungen“ dürfen kein Vorwand sein, um Jobs und Gehälter wegzurationalisieren. Dies alles bleibt im Gesetzentwurf nebulös geregelt, weswegen wir uns alles in allem auch enthalten werden. Da es ja in diesem Zusammenhang auch um Kindergeld geht, das von Familienkassen ausgezahlt wird, möchte ich noch auf eines hinweisen: Wir als Linke haben einen Aktionsplan gegen Kinderarmut, Bundestagsdrucksache 18/9666, frisch in den Bundestag eingebracht. Lesen Sie sich einfach diesen Aktionsplan durch; es lohnt sich. Wir fordern nicht nur eine eigenständige Kindergrundsicherung, sondern setzen uns für flankierende Maßnahmen ein, die Eltern aus der Armut führen: einen höheren Mindestlohn, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine sanktionsfreie Mindestsicherung und eine deutliche Erhöhung des Kindergeldes. Die geplante Erhöhung von 2 Euro ist doch ein schlechter Witz. Verschließen Sie nicht länger die Augen vor der Kinderarmut in Ost- wie Westdeutschland. Im Osten lebt gut jedes fünfte Kind in einem Hartz-IV-Haushalt. Finden Sie das gut? Es ist bitter nötig, neben den Familienkassen noch weitere „Strukturen“ zu reformieren, allen voran bei der Verteilung des Reichtums in dieser Gesellschaft, damit weder Jung noch Alt in Armut leben müssen. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das heute hier zu beschließende Gesetz über die Familienkassen des öffentlichen Dienstes ist in der Zielrichtung eine nachvollziehbare Angelegenheit. Es löst nur leider das Problem der Vielzahl von Familienkassen nicht. Zudem sollen wir heute noch einen kurzfristig eingegangenen – von uns in der Kürze der Zeit nicht ausreichend prüfbaren – Änderungsantrag zur Verlagerung des Bundesamtes für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen und des Bundesausgleichsamtes weg vom Finanz- hin zum Innenministerium beschlossen werden. Aus diesem Grund werden wir uns enthalten. Bereits vor sieben Jahren machte das Thema Familienkassen Schlagzeilen in der Boulevardpresse. Worum ging es? Um Kindergeldbetrug. Ehepaare hatten sich das Kindergeld doppelt ausbezahlen lassen. Wie war das möglich? Weil für einen der Ehepartner als Beamter oder Beamtin eine Familienkasse des öffentlichen Dienstes zuständig war, für den anderen aber die Bundesagentur für Arbeit. Staatsdiener, die doppelt kassieren, das ist etwas, worüber sich Menschen verständlicherweise und zu Recht aufregen. Der Bundesrechnungshof hatte bereits im Jahr 2009 auf diese Betrugsfälle hingewiesen. Auf die Bürgerinnen und Bürger muss es so wirken, als ob die Regierung Missbrauchsbekämpfung bei den eigenen Beamten nicht besonders wichtig findet. Erst durch ein Gesetz, das Jahre später zum 1. Januar 2016 in Kraft trat, wurde der Missbrauch auf dem Papier beendet. Von 2016 an müssen die Familienkassen einen Abgleich der Steueridentifikationsnummer der Kinder vornehmen, um eine Doppelauszahlung zu vermeiden. Der tatsächliche Abgleich funktioniert aufgrund der ausstehenden IT-Umstellung selbst bis heute immer noch nicht, und dieses Gesetz wurde damals mit dem angeblichen Betrug durch Ausländer begründet. Ich wiederhole: Es wurde begründet mit dem angeblichen Betrug durch „Ausländer“ und gerade nicht mit den bekanntgewordenen Fällen bei den eigenen Beamten. Was ist das Grundproblem, das durch die vorliegende Gesetzesänderung behoben werden soll? Es ist der institutionelle Wildwuchs bei den Familienkassen des öffentlichen Dienstes, das heißt bei den Familienkassen, die vor allem für die Beamten zuständig sind. Während 14 Familienkassen der Bundesagentur für Arbeit den Löwenanteil aller Kindergeldfälle bearbeiten, sind für die Kinder von öffentlich Bediensteten tatsächlich 8 000 einzelne Familienkassen zuständig. Ich wiederhole: 8 000 Kassen. Sie bearbeiten gerade einmal 13 Prozent der Kindergeldberechtigten im Land. Das steht in einem grotesken Missverhältnis. Auch solch eine von Ineffizienz geprägte Aufteilung bei der Auszahlung des Kindergeldes ist den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu erklären. Ich halte das Ziel und die eingeschlagene Richtung des Gesetzentwurfes für richtig und unumgänglich. Die Vielzahl an Kassen ist nicht zu rechtfertigen, da sich die Auszahlung von Kindergeld nicht als besonders komplexe Dienstleistung darstellt. Das Nebeneinander der Familienkassen ist nicht nur bürokratisch und ineffizient, es ist eben auch missbrauchsanfällig. Aber wird das vorliegende Gesetz an diesem Zustand etwas ändern? Ich bin nicht dieser Auffassung. Der Haken an dem vorliegenden Gesetzentwurf ist, dass nur die Zuständigkeiten der Familienkassen im Bereich des Bundes bis 2022 zur Bundesagentur für Arbeit oder zum Bundesverwaltungsamt übergehen sollen. Genau das führt aber lediglich zu einer Reduzierung von 8 000 auf 7 900 Familienkassen des öffentlichen Dienstes. Ganze 100 Familienkassen werden entfallen. Das ist selbstverständlich nicht der dringend benötigte Systemwechsel, der zu strukturellen Verbesserungen, mehr Effizienz und einer sinnvollen Verschlankung der Verwaltung führt. Für die Familienkassen im Bereich der Länder und Kommunen gelten die vorliegenden Neureglungen hingegen nicht. Der Bund macht den Ländern lediglich das Angebot, gegen Kostenübernahme auf die Zuständigkeit freiwillig zu verzichten. Das Vorgehen halte ich für wenig ambitioniert angesichts der verbleibenden 7 900 Familienkassen. Die Koalition ist offensichtlich der Auffassung, dass den Ländern nicht mehr zuzumuten ist. Diese Haltung, allein auf die Einsicht der Länder zu warten, kann ich vor dem Hintergrund des eigentlichen Problems ganz und gar nicht teilen. Vielmehr sollten wir uns darüber Gedanken machen, ob nicht die alternative Lösung – eine Verlagerung der Kindergeldauszahlung auf die Finanzämter – doch die geeignetere ist. Das Kindergeld ist schließlich im Einkommensteuergesetz verankert. Mir fällt kein plausibler Grund ein, warum wir mit den 7 900 Familienkassen wie bisher weitermachen sollten. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Mikrozensus und zur Änderung weiterer Statistikgesetze (Tagesordnungspunkt 22) Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Heute widmen wir uns zum zweiten Mal und damit abschließend dem Mikrozensusgesetz. Ich meine, dass wir im erweiterten Berichterstattergespräch, an dem auch die Grünenfraktion teilgenommen hat, die letzten Einwände und Unklarheiten aus der Welt schaffen konnten und das Gesetz nun inhaltlich unverändert verabschieden können. In meiner letzten Rede hatte ich bereits angesprochen, dass das gegenwärtige Mikrozensusgesetz Ende 2016 ausläuft und dadurch nun der Handlungsbedarf besteht, die Weiterführung des Mikrozensus ab 2017 sicherzustellen. Auch wenn sich das parlamentarische Verfahren nun um rund zwei Wochen verlängert hat, meine ich, dass wir noch gut im Zeitplan liegen, um eine lückenlose Fortführung der Haushaltsstichproben zu ermöglichen. Der Mikrozensus wird damit dann zunächst bis 2020 weitestgehend in der gegenwärtigen Form fortgeführt. Ab 2020 wird dann das neue System gelten. Künftig werden damit die Gemeinschaftsstatistiken über Einkommen und Lebensbedingungen, EU-SILC, sowie zur Informationsgesellschaft, IKT, in den Mikrozensus integriert. Diese wurde bisher zusätzlich zum Mikrozensus erhoben. Wir versprechen uns davon Einsparungen hinsichtlich der aufzuwendenden finanziellen Mittel, des organisatorischen Aufwands und der Gesamtbelastung für die Bürgerinnen und Bürger. Weil einerseits diese Statistikanforderungen seitens der Europäischen Union auf unbestimmte Zeit gelten und andererseits der Mikrozensus nun seit mittlerweile 1957 existiert, werden wir den Mikrozensus mit diesem Gesetz nun entfristen. Es hat sich über die Jahrzehnte gezeigt, dass die Haushaltsstichproben unverzichtbar für Parlamente, Regierungen sowie die Verwaltungen in Bund und Ländern bei der Erfüllung ihrer verschiedenen Aufgaben sind. Der Mikrozensus ist für eine gute Politik nicht mehr wegzudenken. Anstatt nun den Mikrozensus alle paar Jahre wieder aufs Neue für einige Jahre einzusetzen, ist es nun zu Recht an der Zeit, ihn als auf Dauer angelegten Bestandteil unserer Rechtsordnung anzusehen. Die Integration der EU-Erhebungen in den Mikrozensus erfordert auch eine Erweiterung der Auskunftspflicht. Einerseits spart die Auskunftspflicht einen größeren Aufwand bei den Befragungen ein. Bei einer freiwilligen Befragung zeigen der Erfahrung nach maximal 30 Prozent der zu befragenden Personen überhaupt die Bereitschaft einer Teilnahme. Tatsächlich nehmen letztlich im Regelfall höchstens 10 Prozent der Personen auch an der Befragung teil. Um nun eine ausreichend hohe Datenzahl für aussagekräftige Statistiken zu erhalten, muss die Stichprobe um das Vierfache erhöht werden. Diese Kosten entfallen bei einer Pflicht zur Auskunft. Aber auch die Datenqualität verbessert sich; denn alle Bevölkerungsgruppen nehmen nun an der Befragung teil. Typischerweise verweigern bestimmte Bevölkerungsgruppen eine freiwillige Teilnahme, sodass die Statistiken häufig verzerrt sind. Hochqualitative Statistiken sind jedoch sehr wichtig, nicht zuletzt auch, um Förderungen aus EU-Strukturfonds zu erhalten. Die Auskunftspflicht stellt hier die erforderliche Qualität der Daten sicher. Gleichwohl haben die Koalitionsfraktionen einen Änderungsantrag eingebracht. Dieser beschränkt sich jedoch auf Klarstellungen, etwa auf Konkretisierungen von Wortbedeutungen oder inhaltliche Präzisierungen von statistischen Merkmalen. Der Änderungsantrag kann somit aus inhaltlicher Perspektive nicht sehr strittig sein. Im Übrigen möchte ich erwähnen, dass auch die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit im Rahmen der Ressortabstimmung beteiligt worden ist. Ihre Anregungen sind aufgenommen worden. Sie hat daher keine Einwände geltend gemacht. Ich denke, dass wir mit diesem Gesetz die Durchführung des Mikrozensus in Zukunft deutlich verbessern werden. Ich möchte allen Beteiligten für die gute Zusammenarbeit danken. Barbara Woltmann (CDU/CSU): In zweiter und dritter Lesung beschließen wir heute das Gesetz zur Neuregelung des Mikrozensus und zur Änderung weiterer Statistikgesetze. Die Notwendigkeit einer Neuregelung bleibt weiterhin unbestritten: Das geltende Gesetz läuft zum Jahresende aus und muss erneuert werden. Außerdem hat die Europäische Union einige Verordnungen beschlossen, die in das neue Gesetz integriert werden müssen. Jedoch wird dies nicht von jetzt auf gleich geschehen. Somit haben wir genügend Zeit, um die vollständige Neugestaltung der IT mit den notwendigen tiefgreifenden methodischen und organisatorischen Veränderungen aufzustellen. Es ist notwendig, den Mikrozensus um die auf europäischer Ebene geforderten Daten zu erweitern. Das Statistische Bundesamt, das den Mikrozensus durchführt, besitzt mittlerweile nicht nur einen nationalen Auftrag, sondern ist auch dazu verpflichtet, europäisches Recht anzuwenden und der Europäischen Union entsprechende Daten zu liefern. Die Daten der Arbeitskräftestichprobe der Europäischen Union zum Beispiel sind wichtig für gemeinschaftliche EU-Programme zu mehr Beschäftigung, besserer Ausbildung und gegen Arbeitslosigkeit. In der heutigen Zeit wird es immer wichtiger, die rasanten Entwicklungen in Europa zu analysieren und in den oben genannten Bereichen die richtigen politischen Weichenstellungen vorzunehmen. Dafür bedarf es einer guten Datenlage. Die Kohäsionspolitik in der EU profitiert davon. Aber nicht nur die Europäische Union, sondern auch Deutschland entwickelt sich mit hoher Geschwindigkeit. Vor allem im Bereich der Digitalisierung werden die Veränderungen in den kommenden Jahren enorm sein. Ich halte die Statistik zur Informationsgesellschaft, die durch Beschluss des Artikels 2 des vorliegenden Gesetzentwurfes ab dem Jahr 2021 anhand von Merkmalen wie Internetzugang und Internetnutzung erhoben wird, für äußerst wichtig. Der Zustand und die Reichweite des Breitbandausbaus können durch den Mikrozensus festgestellt werden. Dies sind auch für die Kommunen wichtige Informationen. Die Kommunen profitieren ebenso von der Einführung einer Auskunftspflicht von Bürgern, die für den Mikrozensus ausgewählt werden. Die bislang auf Freiwilligkeit angelegte Befragung barg die Gefahr, ein schiefes Bild der deutschen Gesellschaft zu zeichnen. Die statistischen Erhebungen aus dem Mikrozensus sind nämlich maßgebend für die Ausgestaltung und die Vergabe unter anderem von Fördermitteln aus den EU-Strukturfonds und somit von erhöhter Wichtigkeit für unsere Kommunen. Kritisch könnte man allenfalls sehen, dass nur rund 1 Prozent aller Bundesbürger befragt wird. Dies hat beim letzten Mal dazu geführt, dass Kommunen Einwohner „verloren“ haben und damit auch entsprechende Finanzmittel. Dies gilt es im Blick zu behalten, und es gilt, Lösungen dafür zu finden. Die Notwendigkeit des vorgelegten Gesetzentwurfes ergibt sich auch aus der Frage nach den Kosten, welche diese statistischen Erhebungen mit sich bringen. Durch die nun gesetzlich festgelegte Einbeziehung der EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen sowie der Statistik zur Informationsgesellschaft vermeiden wir unnötige Mehrkosten, die bei einer separaten Durchführung der Befragung anfallen würden. Ein weiterer Pluspunkt der Integration der EU-Statistiken in den Mikrozensus ist die Vermeidung von doppelt durchgeführten Erhebungen. Demografische und sozioökonomische Angaben, die bei separaten Befragungen zum festen Fragenstamm gehören, werden mit dem neuen Gesetz nur einmal erhoben. Die Notwendigkeit der Neuregelung des Mikrozensus und zur Änderung weiterer Statistikgesetze ließe sich noch an weiteren Beispielen aufzählen. Festzuhalten ist, dass es aus der Sicht vieler Experten aus dem Bereich der Statistik und Datenerhebung keine inhaltlichen Beanstandungen gibt. Ich bitte um Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf. Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede einen Blick auf Europa werfen. Was das Statistische Bundesamt für Deutschland ist, ist für die EU das Statistische Amt der Europäischen Union, kurz Eurostat, mit Sitz in Luxemburg. Hier laufen seit 1953 alle Daten zusammen, die von den Ländern an die EU geliefert werden. Eurostat selber erhebt keine Daten und ist somit auf die Erhebungen in den Mitgliedstaaten angewiesen. Ein Blick auf die Homepage von Eurostat zeigt eindrucksvoll, wie viele Daten hier zusammenfließen. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann sich hier ausgiebig über gesellschaftliche Daten der EU und ihre Mitgliedsländer informieren. Wie hoch ist die Lebenserwartung in welchem Land, wie die Altersstruktur, die Sozialstruktur? Bis hin zu den Luftemissionswerten in jedem Land kann hier alles nachgelesen werden. Das ist eine exzellente Informationsplattform für Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Die Daten werden von den EU-Mitgliedstaaten geliefert, konsolidiert und harmonisiert, mit dem Ziel, sie vergleichbar zu machen. Und diese Harmonisierung ist in dieser Legislatur auch ein Aspekt verschiedener Gesetzesverfahren in diesem Hohen Hause gewesen, so zum Beispiel des Umweltstatistikgesetzes oder des Bundesstatistikgesetzes. Heute behandeln wir das Mikrozensusgesetz, das eine überaus wichtige Funktion bei der Erhebung statistischer Daten einnimmt. Wie Sie alle wissen, haben wir dieses Gesetz bereits 2014 geändert. Anpassungen an EU-Vorgaben waren ein Anlass. Wir haben Optimierungen bei der Bevölkerungsstatistik vorgenommen und mithilfe einer Experimentierklausel ermöglicht, dass neue Erhebungsverfahren erprobt werden können. Die heute vorliegenden Änderungen gehen noch einen Schritt weiter. Mit der Aufhebung der Befristung als einer Kernänderung des Gesetzes legen wir die Grundlage für eine dauerhafte und zuverlässige Datenerhebung. Die Befristungen wurden in der Vergangenheit immer wieder per Gesetz verlängert, so letztmalig 2012 um vier Jahre. Diese Kettenbefristungen sollen nun ein Ende haben, und das ist auch sinnvoll. Das Mikrozensusgesetz wird unbefristet gelten und damit den Vorgaben der EU folgen, denn auch die Pflicht zur Datenlieferung gilt unbefristet. Nun wurden in der Diskussion Bedenken laut, dass wir mit diesem Schritt der Entfristung unsere Hoheit zur Evaluation und Veränderung des Mikrozensusgesetzes aus den Händen gäben. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist doch so, dass wir als Gesetzgeber immer die Möglichkeit haben, Gesetze zu verändern, und natürlich werden wir auch bei einem entfristeten Mikrozensusgesetz sehr genau hinschauen, wie die Entwicklung verläuft und ob sich hier Änderungsbedarfe ergeben. Im Umkehrschluss hieße so eine Argumentation ja, dass wir alle Gesetze befristen müssten. Das kann doch nicht unser Wunsch sein. Die Entfristung schafft vielmehr Planungssicherheit für das Statistische Bundesamt und verringert den bürokratischen Aufwand. Diese Ziele sollten uns hier einen. Kommen wir nun zu einem weiteren zentralen Punkt des Gesetzes, der die Perspektive der EU in den Blick nimmt, die ich zu Beginn meiner Rede ansprach. Viele Erhebungen finden bislang parallel statt, so der Mikrozensus, die Statistik zur Informationsgesellschaft, kurz IKT, und auch die Erhebung über Arbeitskräfte, Einkommen und Lebensbedingungen für die EU, die sogenannte SILC-Statistik. Diesen Einzelstatistiken liegen unterschiedliche Verfahrensregelungen zugrunde. So ist der Mikrozensus verpflichtend, während die IKT und auch SILC-Verfahren auf freiwilliger Basis erfolgen. Wir wollen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beide Statistiken in den Mikrozensus integrieren. Das schafft Synergien und reduziert den Erhebungsaufwand. Dazu gehört auch, dass die Verfahren vereinheitlicht werden, und das heißt für die integrierten Statistiken, dass auch sie im Kern verpflichtend werden. Auch dagegen gibt es Bedenken. Zudem begleitet Kritik die Statistik schon seit Jahrzehnten. Im Kern geht es darum, ob durch die Auskunftspflicht Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Was stimmt, ist, dass es für die Personen, die in der Stichprobe zu einer Auskunft verpflichtet werden, Aufwand bedeutet. Der Fragebogen ist sehr ausführlich, und die Befragten müssen einen tiefen Blick in ihre persönlichen Lebensverhältnisse zulassen. Das kann auch Unmut erzeugen. Dafür habe ich Verständnis. Nun müssen wir uns als Gesetzgeber fragen, ob der Nutzen dieser Statistiken denn diesen tiefen Blick rechtfertigt. Und hier kommen wir doch nicht umhin, den großen Nutzen zu betonen, den die Auswertung dieser Daten bedeutet. Die Statistiken, die aus dem Mikrozensus entwickelt werden, sind grundlegend für Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Und ohne sie wären wir in der Politik zwischen den Volkszählungen ohne empirischen Kompass. Zu fordern, diese grundlegenden Statistiken auf eine freiwillige Basis zu stellen, folgt sicher den Wünschen einiger Menschen, muss aber hinsichtlich der Folgen genauer betrachtet werden. Bei einer freiwilligen Erhebung muss davon ausgegangen werden, dass sich ein Teil der Menschen in einer Stichprobe der Auskunft verweigert, sei es aus Überzeugung oder aus persönlicher Arbeitsentlastung. Damit muss die Stichprobe selber deutlich vergrößert werden, was einen deutlichen Mehraufwand bedeutet. Mehr Menschen müssen befragt werden, mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Statistischen Bundesamt müssen sich mit der Auswertung der Daten beschäftigen, und mehr Zeitaufwand ist damit ebenso verbunden wie deutlich höhere Kosten. Und diese Folgen müssen wir bei der Frage von Freiwilligkeit oder Pflicht auch beleuchten. In der Abwägung der Positionen und der Folgen kommen wir zu der Überzeugung, dass es verantwortbar und sinnvoll ist, die Verpflichtung auf die integrierten Statistiken auszudehnen. Bei anderen Fragen wurden im parlamentarischen Verfahren durchaus noch einige Änderungen vorgenommen, denen wir zustimmen können. So wurden im Gesetz neben redaktionellen Änderungen noch Präzisierungen vorgenommen, die wir mittragen werden. Es bleibt grundsätzlich unsere Verantwortung, bei jedem Gesetz sehr sorgfältig zu prüfen, welche zusätzliche Belastung und welche Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte für die Bürgerinnen und Bürger damit einhergehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit diesem Gesetzesvorhaben auch in dieser Hinsicht verantwortlich handeln und deutliche Verbesserungen vornehmen, die letztlich allen Menschen zugutekommen. Es ist eine Weichenstellung hin zu mehr Harmonisierung auf europäischer Ebene und hin zu mehr Effizienz bei der Datenerhebung. Ich wünsche mir eine Zustimmung zu diesem wichtigen Vorhaben. Jan Korte (DIE LINKE): Wir reden heute wieder über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Mikrozensusgesetz, der durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen leider nicht wesentlich besser geworden ist; das muss man zunächst einmal feststellen. Es ist schade, dass Sie dabei weder die Kritik aus dem Bundestag noch die des Bundesrats wirklich berücksichtigt haben. Die Linke hat bereits gesagt, dass grundsätzlich nichts gegen bestimmte Datenerhebungen und Statistiken zur Bevölkerung in der Bundesrepublik einzuwenden ist, nicht zuletzt, weil sie auch ein Indikator für die Notwendigkeit politischer Maßnahmen bzw. ein Kontrollinstrument für das Funktionieren oder Misslingen selbiger ist. In der Tat können wichtige Schlüsse aus dem Mikrozensus und anderen Befragungen wie der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe gezogen werden: dass zum Beispiel das Armutsrisiko von Geringqualifizierten gestiegen ist, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht oder dass immer mehr Leute so vermögend sind, dass sie für ihren Lebensunterhalt nicht mehr arbeiten gehen müssen, während gleichzeitig ein Fünftel der Kinder in unserem Land von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Das wissen wir alles dank solcher Erhebungen – so weit, so gut. Aber warum führt man diese Statistiken und sammelt dieses ganze Wissen, wenn keine Konsequenzen daraus erwachsen? Welche konkrete politische Maßnahme ist denn in den letzten Jahren ergriffen worden, um die ungleiche Vermögensverteilung in der Bundesrepublik anzugehen? Welche Konsequenzen hatten die Ergebnisse auf die soziale Mischung in den Städten? Was konkret wird denn getan, um Geringqualifizierte weiterzubilden oder dafür zu sorgen, dass mehr Schülerinnen und Schüler bessere Abschlüsse schaffen, erst recht, wenn sie von Armut betroffen sind? Die Bundesregierung hat es nicht einmal bei der vom Verfassungsgericht angemahnten gerechten Erbschaftsteuer gewagt, Reiche zur Finanzierung des Gemeinwohls heranzuziehen, von einer Vermögensteuer, wie es sie in etlichen anderen Ländern gibt, ganz zu schweigen. Das massive Problem und Misstrauen von denen, die bei der Befragung für den Mikrozensus Privates preisgeben müssen, liegt auch darin, dass der Sinn und die Verhältnismäßigkeit berechtigterweise hinterfragt wird. Damit kommen wir zum zweiten Punkt, nämlich dazu, was den Befragten überhaupt zugemutet wird. Man muss sich einmal in die Lage hineinversetzen, wie es wohl ist, wenn man einer fremden Person und allen, die den Erfassungsbogen danach lesen, Auskunft darüber geben soll, ob man zwei Paar passende Schuhe hat oder nicht, ob man raucht oder meint, sich auf andere Art und Weise eventuell gesundheitsgefährdend zu verhalten, ob man genug Geld hat, um sich „mindestens einmal im Monat mit Freunden oder Freundinnen oder Familienmitgliedern zum Essen oder Trinken zu treffen“, ob man in den letzten Tagen beim Arzt war und welche Ursache es vielleicht dafür gibt, dass man nur einen befristeten Arbeitsvertrag hat. Zum Glück ist es nicht bei allen dieser Fragen verpflichtend, darauf zu antworten. Der grundsätzliche Auskunftszwang bleibt bestehen, auch in Bezug auf die EU-rechtlich vorgegebenen Erhebungsmerkmale, in Bezug auf Einkommen und Lebensbedingungen, die laut EU-Verordnung freiwillig sind. Da Sie in dem Änderungsantrag nicht darauf eingegangen sind, zitiere ich hier noch einmal die Kritik des Bundesrats an Ihrem Gesetzentwurf. Der schreibt in seiner Stellungnahme: „Aufgrund der hohen Sensibilität der EU-rechtlich vorgegebenen Erhebungsmerkmale in Bezug auf Einkommen und Lebensbedingungen ist mit einer Zunahme von Auskunftsverweigerungen und erheblicher Verärgerung seitens auskunftspflichtiger Privatpersonen zu rechnen.“ Im Gegensatz zur schwarz-roten Bundesregierung hat man es im Bundesrat offenbar geschafft, sich in die befragten Personen hineinzuversetzen, und macht sich Sorgen um die Akzeptanz von Erhebungen allgemein: „Im Übrigen stellt eine auskunftspflichtige Erhebung sehr privater, sehr sensibler und vielfach subjektiv geprägter Fragen einen Paradigmenwechsel in der amtlichen Statistik dar, infolgedessen im Ergebnis sogar ein über den in Rede stehenden Bereich hinausgehender Imageschaden zu befürchten ist, der negative Auswirkungen für die Durchführung und den Zielverwirklichungsgrad auch anderer Statistiken haben und entsprechende Erhebungen erschweren könnte.“ Oder kurz gefasst und leichter verständlich: Das kleinliche Bestehen der Bundesregierung auf einer Auskunftspflicht gefährdet unnötigerweise nicht nur die Qualität und Akzeptanz des Mikrozensus, sondern auch die aller anderen Erhebungen. Wir meinen zudem, dass die mit Androhung von Zwangsgeldern und Beugehaft durchgesetzte Auskunftspflicht über privateste Daten gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verstößt. Es gibt also eine Menge Gründe, von einer Auskunftspflicht nach § 13 des Zensustestgesetzes abzusehen und die Erhebung so grundrechtsschonend wie irgend möglich durchzuführen. Es gäbe eine Vielzahl von Möglichkeiten, Bürgerinnen und Bürger für ihre Beteiligung am Mikrozensus zu gewinnen. Die erste wäre, wenn die Erkenntnisse tatsächlich erfahrbare politische Konsequenzen hätten, wie bereits gesagt. Möglich wäre etwa auch die Erfassung von Bedürfnissen, wie sie schon im Bereich Arbeitsmarkt abgefragt werden. Wenn neben der Arbeitsstundenzahl abgefragt wird, ob jemand länger arbeiten will, könnte man ja auch neben der Frage nach der Kinderbetreuung fragen, ob die in der Kommune angebotenen Betreuungszeiträume und -plätze reichen, oder, welche Probleme jemand mitzuteilen hat, der seinen Grad der Behinderung nennt, wo es Probleme mit dem Angebot öffentlicher Verkehrsmittel gibt, welche Erleichterungen sich Alleinerziehende wünschen oder wie Menschen mit Migrationshintergrund ihre gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten bewerten. Eine Erhebung, die positive Konsequenzen und einen Mehrwert für die Bevölkerung hat, funktioniert auch auf freiwilliger Basis. Die Bundesregierung hat nicht nur zu wenig getan, um einen Mikrozensus auf freiwilliger Basis zu realisieren oder um dies wenigstens zu versuchen, sondern sie bleibt auch den Beweis schuldig, dass alle wichtigen Erkenntnisse, die wir aus dem Mikrozensus ziehen, ohne eine strafbewehrte Auskunftspflicht nicht zustande kämen. Selbst die EU geht, wie gesagt, von freiwilligen Erhebungen aus. Deshalb können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen und werden wir uns enthalten. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Thema Datenschutz, das wird heute im Zuge dieser Debatte hoffentlich einmal mehr deutlich, umfasst weitaus mehr als nur die „Reißerthemen“ wie den Umgang von Facebook und anderer Unternehmen mit unseren Daten, die internationale Telekommunikationsüberwachung der Geheimdienste oder die Kreditbewertungen der Schufa. Diese Themen mit hoher Medienaufmerksamkeit mögen auf die politische Wahrnehmung einiger so wirken, als seien andere Themen auch in der Sache weniger wichtig. Das ist aber nicht der Fall. Als Querschnittmaterie, bei der es im Kern um den Umgang mit Informationen zu Bürgerinnen und Bürgern geht, betrifft sie inzwischen alle Lebensbereiche. Und Fragen des Statistikwesens standen von Beginn an sogar im Mittelpunkt der Schaffung der modernen Datenschutzgesetze und der Datenschutzbewegung. Sie führten zu den beiden berühmten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, dem Mikrozensus-Urteil von 1964 und dem Volkszählungsurteil von 1983. Wenn wir heute über die erneute Erweiterung und Entfristung des Mikrozensus sprechen, sollten wir eine Bilanz wagen und fragen, wie wir den Mikrozensus heute einordnen. Das Ergebnis nehme ich gleich vorweg: Er ist wie alle Datenschutzthemen bereichsspezifisch, wie die Datenschützer sagen, einzuordnen und verlangt damit eine eigenständige und dem Kontext angemessene Bewertung. Das ist eine verfassungsrechtliche Vorgabe. Und dabei stellen wir fest, dass der Kernkonflikt zwischen staatlichem Wissensinteresse und den Persönlichkeitsinteressen der Betroffenen weiterhin bestehen bleibt. Der Mikrozensus ist keine Volkszählung in dem Sinne, dass die Bevölkerung, ähnlich etwa der Vorratsdatenspeicherung, in ihrer Gesamtheit erfasst würde. Doch sie betrifft alljährlich eine Million Mitbürgerinnen und Mitbürger. Und die Betroffenen müssen wiederholte Nachfragen über den Zeitraum von vier Jahren, bis zu zweimal pro Jahr, hinnehmen; das nervige Verfahren ist also keinesfalls mit der einmaligen Beantwortung beendet. Es fällt auf, dass das Wissensinteresse zur Erstellung einer Statistik sicherlich nicht die dieselbe Wertigkeit beanspruchen kann wie Informationserhebungen in Verbindung mit dem unmittelbaren Schutz der öffentlichen Sicherheit. Und auf der anderen Seite bleibt es bei einer Maßnahme, die annähernd eine Million Bürgerinnen und Bürger betrifft, Jahr für Jahr. Auf der rechtlichen Ebene fällt zugunsten des Mikrozensus in die Waagschale, dass der Wahrung des Datenschutzes eine große Bedeutung kommt, und die Statistikbehörden umfänglichen Vorkehrungen unterliegen. Andererseits bleibt es für die Betroffenen bei der Umsetzung durch Auskunftszwang ein erheblicher staatlicher Eingriff, der keineswegs alle staatlichen Eingriffsinstrumente betrifft. Niemand bestreitet ernsthaft den Zweck des Statistikwesens. Gerade auch grüne Politik verlässt sich auf solide Informationen über die Entwicklung unserer Gesellschaft, komplexe Sachverhalte werden für die Politik darstellbar und verhandelbar, zum Beispiel die Frage gelingender Integration der zu uns gekommenen ausländischen Bürgerinnen und Bürger. Doch unsere Verantwortung liegt auch darin, in der Umsetzung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Maßstab zu nehmen und die Bürgerinnen und Bürger vor einer übermäßigen und sachlich nicht mehr vertretbaren Inanspruchnahme durch Befragungen zu bewahren. Durch die rein statistisch-wissenschaftliche Brille betrachtet wird es immer gute Gründe geben, warum diese oder jene bestehenden Statistiken inhaltlich erweitert gehören, eine größere Gruppe betreffen sollten und/oder zwangsweise zu erfolgen haben. Wie weit wir dabei gehen sollten, ist unsere gemeinsame politische Entscheidung. Statistiker können durchaus glaubhaft darlegen, dass der Unterschied zwischen erzwungenen und freiwilligen Haushaltsbefragungen deshalb erheblich ist, weil die Rücklaufquoten bei freiwilligen Befragungen oft auf gerade noch ein Viertel der Angeschriebenen fallen können, sodass im Ergebnis ein größerer Betroffenenkreis ausgewählt und angeschrieben werden muss. Doch wir müssen auch festhalten, dass die EU-Vorgaben für valide Daten zu unterschiedlichen Problemfeldern die Befragung per gesetzlichem Zwang gerade nicht vorsehen, auch wenn sich das im vorliegenden Gesetzentwurf anders liest. Hier sollte die Bundesregierung ehrlich offenlegen, wenn es letztlich vorrangig Effizienz- und Rationalisierungsüberlegungen sind, die zum Auskunftszwang führen. Dieser Mikrozensus war von Beginn seiner Entstehung an umstritten, er führte zu einem der ersten und bis heute bedeutsamen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Umfang und Reichweite des Grundrechts auf Privatsphäre – Mikrozensus-Urteil von 1969. Er ist bis heute umstritten, auch wenn nicht alle Betroffenen gleich vor das Verwaltungsgericht ziehen. Darüber könnte uns eine Umfrage unter den Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder sicherlich Auskunft geben. Doch die Akzeptanz in der Bevölkerung bleibt nicht der alleinige Prüfungspunkt, wenn wir uns als legislatives Kontrollorgan Gesetze des Bundesinnenministers mit Berührung zum Datenschutz anschauen. Es liegt vielmehr in unserer Verantwortung, die Gewährleistung wesentlicher Gesichtspunkte der Verfassungsmäßigkeit wie auch der Wahrung der Bürgerrechte insgesamt kritisch zu prüfen. Bislang war der seit Jahrzehnten etablierte Mikrozensus befristet geregelt. Er soll nun in eine unbefristete gesetzliche Regelung überführt werden. Integriert in den aus Sicht der Betroffenen ohnehin für die Betroffenen viel zu lang wirkenden Fragenkatalog werden die nach EU-Recht erforderlichen Statistiken zu Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) sowie zur Informationsgesellschaft (IKT). Das informatorische Sonderopfer, das die vom Mikrozensus Betroffenen zu erbringen haben, ist somit ganz erheblich. Wir begrüßen deshalb, dass die Bundesregierung sich offenbar darum bemüht hat, Belastungen der Betroffenen zum Teil zu vermeiden. Danach soll der Merkmalskatalog des Kernprogramms nur noch die Hälfte des heutigen Katalogs umfassen. Und thematisch abgrenzbare Erhebungsteile sollen auf die Betroffenen derart verteilt werden, dass nicht alle Ausgewählten alle, nunmehr aus anderen Haushaltsstatistiken integrierten Fragenteile zu beantworten haben. Hier erwarten wir für die Zukunft noch viele weitere innovative Ideen, wie die Belastung der Befragten weiter gesenkt werden kann. Gleichwohl bedeutet natürlich die Integration von vormals getrennt ablaufenden und damit andere Bürgerinnen und Bürger betreffenden Fragenkatalogen eine Erhöhung des Gesamtumfangs der Befragung, auch wenn nicht alle Ausgewählten im gleichen Maße davon betroffen sind. Noch gravierender erscheint, dass die nunmehr integrierten Teile EU-SILC und EI-IKT zukünftig ebenfalls unter die Auskunftspflicht fallen. Der Wechsel von Freiwilligkeit auf Zwang erfolgt, wenige Jahre nach der letzten Debatte zum Mikrozensus, doch überraschend. Das bloße Argument der Vermeidung inhaltlicher Unschärfen wirkt angesichts des damit verbundenen Grundrechtseingriffes wenig überzeugend. Im Mittelpunkt unseres gemeinsamen Berichterstattergesprächs, für dessen Realisierung ich mich auch bei den Kolleginnen und Kollegen bedanken möchte, stand die beabsichtigte Entfristung des Mikrozensus, der ja oft auch die kleine Volkszählung genannt wird. Wir stehen dieser Entfristung weiterhin kritisch gegenüber. Wer die Begründung des Gesetzentwurfs liest, kann schon den Eindruck gewinnen, dass hier der Versuch unternommen wird, das Spannungsfeld zwischen den Persönlichkeitsrechten und dem Ziel der möglichst genauen Statistikerfassung zu leugnen. Das Gegenteil ist der Fall: Wie die Bundesregierung selbst einräumt, werden die Fragelisten immer länger, die Themenkomplexe laufend ausgebaut, und sie erfolgen nahezu durchgängig unter Zwang. Parallel ist die große Volkszählung zurück, sie wird inzwischen zehnjährig durchgeführt, 2021 steht die nächste an. Und einige der freiwillig zu beantwortenden Fragen des Mikrozensus beziehen sich auf so persönliche Bereiche, so etwa die Selbsteinschätzung der eigenen gesundheitlichen Risiken, dass sie aus unserer Sicht überhaupt nicht Gegenstand einer Statistikerhebung sein dürften. Denn sie betreffen in der Tat den vom BVerfG schon im Mikrozensus-Urteil angedeuteten höchstpersönlichen Lebensbereich. Ich zitiere: „Eine statistische Befragung zur Person kann deshalb dort als entwürdigend und als Bedrohung des Selbstbestimmungsrechtes empfunden werden, wo sie den Bereich menschlichen Eigenlebens erfaßt, der von Natur aus Geheimnischarakter hat, und damit auch diesen inneren Bezirk zu statistisch erschließbarem und erschließungsbedürftigem Material erklärt. Insoweit gibt es auch für den Staat der modernen Industriegesellschaft Sperren vor der verwaltungstechnischen ‚Entpersönlichung‘.“ (BVerfGE 27, 1, Rdnr. 36) Man muss sich die Idee des Bereichs eines Eigenlebens mit „von Natur aus Geheimnischarakter“ nicht zu eigen machen und gleichwohl im Hinblick auf die im Gesetz vorgesehenen gesundheitlichen Fragen aufmerken. Allein diese Beispiele zeigen, dass es einer laufenden und gehörigen Aufmerksamkeit bedarf, um weiterhin die Anforderungen des Datenschutzes einzuhalten. Auch der Gesetzgeber muss hier wachsam bleiben. Und für uns sind einige, vor allem datenschutzrechtliche Fragen offengeblieben, die wir in unserem erweiterten Berichterstattergespräch aufgrund der fehlenden Teilnahme der BfDI auch nicht abschließend klären konnten. Wir werden deshalb diese Fragen in der nächsten Zeit noch vorlegen und legen dieses Thema keinesfalls ad acta. Nach alledem werden Sie Verständnis haben, dass wir, insbesondere mit Blick auf die geplante vollständige Entfristung, dem Gesetzentwurf in dieser Form nicht zustimmen können und uns, mit Blick auf die hohe Bedeutung einer faktenbasierten Politik, enthalten werden. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 23) Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Die Planung, Organisation und Finanzierung für den öffentlichen Personennahverkehr, ÖPNV, und damit auch für den öffentlichen Schienenpersonennahverkehr, SPNV, wurde im Zuge der Bahnreform 1996 per Gesetz auf die Länder übertragen. Gleichzeitig mit der Regelung der Verantwortung für den ÖPNV wurde 1994 grundgesetzlich in Artikel 106a festgelegt, dass den Ländern unbefristet aus dem Steueraufkommen des Bundes ein Betrag für den öffentlichen Personennahverkehr zusteht. Einzelheiten wurden im „Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs“, dem sogenannten Regionalisierungsgesetz, geregelt, welches am 1. Januar 1996 unter Artikel 4 des Eisenbahnneuordnungsgesetzes in Kraft trat. Danach erhalten die Länder jährlich einen gesetzlich festgelegten Betrag aus dem Aufkommen der Mineralölsteuer; dies sind die Regionalisierungsmittel. Diese Mittel werden den Ländern zweckgebunden für Bestellungen von Nahverkehrsleistungen zur Verfügung gestellt, die sie in erster Linie zur Finanzierung der Verkehrsleistungen des SPNV, aber auch investiv zur Verbesserung des übrigen ÖPNV, sprich: Bussen und Straßenbahnen, einsetzen können. Die Bundesregierung ist nicht an der Bestellung der Leistungen im ÖPNV beteiligt und hat weder Möglichkeiten, die betrieblichen Abläufe der öffentlichen Verkehrsmittel in der Region zu gestalten, noch, in Fragen der Ausschreibung und Vergabe von Verkehrsleistungen einzugreifen. Das Land bzw. die Zweckverbände legen die Verkehrslinien, den Umfang und weitere Kriterien wie Takte und Fahrzeuge selbst fest. Allein von 2008, dem Jahr der letzten Anpassung des Regionalisierungsgesetzes, bis 2012 förderte der Bund den ÖPNV in den Ländern mit insgesamt über 34,5 Milliarden Euro. 2014 stellte der Bund jährlich 7,3 Milliarden Euro zur Verfügung, bevor sich 2015 Bund und Länder nach Verhandlungen im Vermittlungsausschuss auf eine Summe von 8 Milliarden Euro ab 2016 und eine Dynamisierung von 1,8 Prozent jährlich ab 2017 einigen konnten. Dies machte die dritte Änderung des Regionalisierungsgesetzes notwendig. Am 16. Juni 2016 haben sich die Bundesregierung und die Länder auf eine nochmalige Erhöhung der Regionalisierungsmittel geeinigt. Damit wird eine Benachteiligung der ostdeutschen Länder vermieden, da aufgrund eines bereits bestehenden Verteilungsschlüssels diese Länder in den kommenden Jahren sinkende Zuweisungen gehabt hätten. Mit der nun vorliegenden vierten Änderung des Gesetzes werden die 8 Milliarden Euro noch einmal um 200 Millionen Euro aufgestockt. Davon profitieren die ostdeutschen Bundesländer und das Saarland, welches 1 Million Euro aus dem Aufstockungsbetrag zusätzlich erhält. Auch die Aufstockung wird ab 2017 um 1,8 Prozent jährlich dynamisiert. Der Bund ist den Ländern damit weit entgegengekommen. Er entlastet die Länderhaushalte bis ins Jahr 2031 um insgesamt über 153,67 Milliarden Euro. Für die bestimmungsgemäße Verwendung der Mittel sind die Länder selbst verantwortlich. Ich begrüße die für günstige Fahrscheine unserer Bürgerinnen und Bürger im ÖPNV nun zur Verfügung stehenden Mittel ausdrücklich, die maßgeblich für den Schienenpersonennahverkehr eingesetzt werden können. Die von den Ländern benannten Aufgabenträger des Schienenpersonennahverkehrs haben nun Planungssicherheit für die kommenden Jahre und können weiterhin in die Schieneninfrastruktur und in moderne Fahrzeuge investieren. Davon profitieren die Bundesländer, die Kommunen, die Verkehrsunternehmen und nicht zuletzt Millionen von Berufspendlerinnen und -pendler. Die Regionalisierung des SPNV ist seit den 90er-Jahren ein Erfolgsmodell; die Nutzerzahlen bestätigen diese Entwicklung. Der Schienenpersonennahverkehr, aber auch der übrige ÖPNV boomen und spielen in den Jahren seit der Bahnreform gerade in den Ballungsräumen und im Umland eine immer wichtigere Rolle. So stieg die Anzahl der jährlich beförderten Personen im Personennahverkehr der Eisenbahnen laut Statistischem Bundesamt von 2005 bis 2015 von 2,01 Milliarden auf über 2,5 Milliarden. Über 11 Milliarden Fahrgäste nutzten 2015 Busse und Bahnen im Liniennahverkehr, das sind rund 30 Millionen Fahrgäste täglich, die damit eine Autofahrt vermeiden. Der Verband der Aufgabenträger für den SPNV spricht von deutlich verbesserten und ausgeweiteten Bahn- und Busangeboten, vernetzten Taktsystemen, neuen Strecken und Stationen und modernen Fahrzeugen, die seit der Regionalisierung des SPNV zu verzeichnen seien. Mit der Erhöhung und jährlichen Dynamisierung der Regionalisierungsmittel stellen wir sicher, dass die Nutzung des SPNV und des ÖPNV für die Kunden attraktiv bleibt und sich die Züge als sichere und umweltfreundliche Verkehrsträger weiter etablieren können. Denn ein möglichst flächendeckendes Angebot im regionalen Schienenverkehr auf Grundlage eines funktionierenden Wettbewerbs für die Bürgerinnen und Bürger ist aus meiner Sicht ein wichtiger Beweis für eine funktionierende staatliche Daseinsvorsorge. Ich werde als zuständiger Berichterstatter für die CDU/CSU-Fraktion im Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfehlen, den vorliegenden Gesetzentwurf anzunehmen. Sebastian Hartmann (SPD): Der Nahverkehr in Deutschland ist ein Erfolgsmodell. Jedes Jahr steigt die Anzahl der Nutzer von Verkehrsleistungen im öffentlichen Personennahverkehr, aktuell sind es 10 Milliarden Passagiere und 93 Milliarden Personenkilometer jährlich. Mehr als die Hälfte der letzteren, 48 Milliarden Personenkilometer, fallen allein auf der Schiene an. Der Sektor beschäftigt bundesweit fast eine Viertelmillion Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wer sich vor Augen hält, dass die Benutzung von Bussen und Bahnen jeden einzelnen Tag über 20 Millionen Autokilometer einspart, ist sich der wichtigen Rolle für den Klima- und Umweltschutz ohnehin bewusst. Die gesamtstaatliche Aufgabe der Finanzierung des Nahverkehrs, der sich Bund und Länder gemeinsam widmen, wird mit dem jetzt eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes sichergestellt. Mit 8,2 Milliarden Euro steht ein Betrag ab 2016 zur Verfügung, der ab dem nächsten Jahr mit 1,8 Prozent jährlicher Steigerung dynamisiert wird. Er setzt sich zusammen aus 8 Milliarden Euro, die alle Bundesländer nach dem Kieler Schlüssel aufteilen, und weiteren 200 Millionen mit eigenem Verteilschlüssel für die ostdeutschen Bundesländer inklusive Berlin. Der Bund kommt damit seinem grundgesetzlichen Auftrag im Rahmen der Daseinsvorsorge vorbildlich nach. Dieser großartige Erfolg ist ein echtes Glanzstück, auf das die SPD-Bundestagsfraktion sehr stolz ist. Die Mittelsicherheit und ihre zweckgerechte Verwendung sichern die benötigten Investitionen in die Infrastruktur ebenso wie das hohe Niveau von Bestellungen und Leistungen. Wir haben den Betrag, der den Bundesländern für die Durchführung ihrer Nahverkehre zufließt, um 900 Millionen Euro angehoben. Das sind mehr als 12 Prozent Aufwuchs gegenüber der Summe von 2014, dem letzten regulär aus dem Regionalisierungsgesetz von 1993 hergeleiteten Betrag. Die Dynamisierung liegt ab nächstem Jahr mit 1,8 Prozent ebenfalls über den ehedem 1,5 Prozent jährlich, mit denen die Regionalisierungsmittel vorher wuchsen. Die Regionalisierungsmittel des Bundes kompensieren den größten Anteil der Gesamtkosten des öffentlichen Schienenpersonennahverkehrs. 2014 wurden unter dem Vorgängergesetz aus Regionalisierungsmitteln 7,3 Milliarden der insgesamt mehr als 10 Milliarden Euro aufgewandt. Mit der neuen Regelung wird ein wichtiger Schritt zu einer zukunftssicheren Lösung getan. Die Länder haben sich mit dem Kieler Schlüssel eine neue, gegenüber dem alten Verteilschlüssel sachgerechtere Verteilung der Mittel untereinander geschaffen. Sie basiert auf den beiden wesentlichen Parametern „Einwohnerzahlen“ und „Zugkilometern“ und bietet damit ein besseres Abbild der tatsächlichen Bedarfslage. Der Kieler Schlüssel berücksichtigt natürlich, dass der Übergang von der bisherigen Verteilung auf die verabredeten Proportionen schrittweise erfolgen muss. Bis 2030 werden die prozentualen Anteile der Bundesländer langsam an den endgültigen Verteilschlüssel entgegengeführt. Den ostdeutschen Bundesländern steht ein zusätzlicher Betrag deshalb zur Verfügung, weil sie aus der Verteilung nach dem Kieler Schlüssel allein Einbußen hinnehmen müssten, die durch die ebenfalls jährlich um 1,8 Prozent wachsenden 200 Millionen Euro ausgeglichen werden. Die SPD-Bundestagsfraktion ist sehr zufrieden, dass damit jeder Eindruck einer Benachteiligung, den eine starre Anwendung des Kieler Schlüssels vermittelt hätte, ganz und gar unbegründet ist. Der NRW-Verkehrsminister Michael Groschek hat an dieser Stelle in einer früheren Debatte zum Thema gesagt: „Wer das Problem der Regionalisierungsmittel zu einem Ost-West-Gegensatz konstruiert, will mit dieser Konstruktion nicht Probleme lösen, sondern er will sie für andere politische Zwecke instrumentalisieren.“ Weder den Menschen noch den Verkehren in Ost und West wird ein solcher Gegensatz gerecht. Das tatsächliche Problem – die 200 Millionen Euro zusätzlich mildern es ab, reichen aber nicht, um es zu lösen – ist strukturell: Während im Westen vorhandene Schienenwege für den Fernverkehr auch regional den Raum gut genug erschließen, damit der Nahverkehr darauf bewegt werden kann, muss für die Versorgung im Osten diese Erschließung erst erfolgen – mithilfe einer dem eigentlichen Zweck der Regionalisierungsmittel fremden Verwendung. Jetzt herrscht Klarheit für die Bundesländer, für die Verkehrsunternehmen, für die Kommunen und am Ende für die Nutznießer des Nahverkehrs, die vielen Millionen Pendler. Wir schließen damit ein weiteres Kapitel aus dem Koalitionsvertrag erfolgreich ab, der 2013 die Revision der Regionalisierungsmittel gefordert hatte. Damit der jetzt erzielte Erfolg nicht kannibalisiert werden kann, müssen die Trassen- und Stationspreise kontrolliert werden. Immerhin 40 Prozent der Regionalisierungsmittel werden für die Kosten der Nutzung von Schienenwegen und Bahnhöfen verwendet, das ist der größte Einzelfaktor in der Gesamtrechnung. Wir haben im Eisenbahnregulierungsgesetz Vorkehrungen getroffen, um mit einer gedeckelten Teuerungsrate der Trassenpreise kurzfristig wirksam zu verhindern. Nur mit einem wirksamen Regime lässt sich dafür sorgen, dass das Geld aus dem Regionalisierungsgesetz seinem eigentlichen Zweck dienen kann. Das wird auch in den nächsten Jahren stets neu zu justieren sein; denn der Regulierungsdruck ist unverändert hoch. Über allem steht das Ziel: mehr Verkehr, mehr Nahverkehr auf der Schiene. Herbert Behrens (DIE LINKE): Natürlich geht das Gesetz, wie man so schön sagt, in die richtige Richtung. Natürlich können wir von der Bundestagsfraktion Die Linke es – wohl gemeinsam mit allen anderen Fraktionen in diesem Parlament – nur begrüßen, wenn die Mittel für den Schienenpersonennahverkehr, SPNV, endlich erhöht werden. Schließlich – bzw. ein letztes Mal: natürlich – ist es richtig, wenn es diese 200 Millionen Euro als Schippe obendrauf gibt und damit diejenigen Bundesländer, die es bitter nötig haben, so im Westen das Saarland, Berlin und alle östlichen Bundesländer, einen gewissen zusätzlichen Betrag für den SPNV erhalten. Insofern sagen wir Ja zu den neu bestimmten 8,2 Milliarden Euro, die 2016 als Regionalisierungsmittel aus dem Bundeshaushalt den Bundesländern zufließen werden. Jedoch gibt es aus unserer Sicht dreimal ein Aber, und dies mit wachsendem Nachdruck. Das erste Aber betrifft die Dynamisierung um jährlich 1,8 Prozent, und dies von 2017 bis zum Jahr 2031. Nun hatten wir in den vergangenen Monaten ja fast keine Inflation mehr. An dieser kurzen Zeitspanne mögen die 1,8 Prozent jährliche Dynamisierung sich ganz gut anfühlen. Andererseits hatten wir mehr als 35 Jahre lang erheblich hohe und weiter über den 1,8 Prozent liegende Raten der allgemeinen Preissteigerung. Selbst in den vergangenen Wochen gab es europaweit Anzeichen für ein neues Anziehen der Inflation. Eine wesentliche Ursache für die niedrige Inflation ist der absurd niedrige Rohölpreis, der zeitweilig bei weniger als 40 US-Dollar je Fass lag. Aktuell liegt er wieder bei über 50 Dollar. Er lag vor fünf bis sechs Jahren noch deutlich über 100 US-Dollar. Da mutet es schlicht grotesk an, wenn sich man für die nächsten 15 Jahre auf eine fixe Dynamisierungsmarge festlegt. Wesentlich einleuchtender wäre es doch, wenn man sagen würde: Die Regionalisierungsmittel werden entsprechend in dem Maß jährlich erhöht, wie sich erstens die offizielle, vom Bundesamt für Statistik ermittelte jährlichen Preissteigerung erhöht, wobei zweitens der Anstieg der Entgelte für die Nutzung der Trassen, der Bahnhöfe und der Energie zu berücksichtigen ist und im korrekten prozentualen Umfang in die Höhe der Regionalisierungsmittel einfließen muss. Womit ich beim zweiten Aber bin, bei der Entwicklung der Entgelte für die Nutzung von Bahnhöfen, Trassen und Energie. Im Gesetzestext dazu heißt es diesbezüglich: „Die Dynamik des Anstiegs der Infrastrukturentgelte, insbesondere der Stations- und Trassenentgelte im Schienenpersonennahverkehr …, ist nach Maßgabe des Eisenbahnregulierungsrechts zu begrenzen. Diese Formulierung enthält zwei gefährliche Ungenauigkeiten. Was, bitte schön, heißt das „nach Maßgabe des Eisenbahnregulierungsrechts“? Das wird nirgendwo, auch nicht in der Begründung, ausgeführt. Es liegt nahe, dass damit die Formulierung, die „Dynamik des Anstiegs der Infrastrukturentgelte“ sei zu begrenzen, bereits relativiert wird. Sodann: Es heißt ja nur, dass dieser Anstieg „zu begrenzen“ sei. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, wie genau und wie stark begrenzt werden soll. Das ist doch die Öffnung eines Scheunentors: für massive Erhöhungen dieser Entgelte. Ich darf Sie darauf hinweisen, dass sich die Infrastrukturnutzungsentgelte in den letzten eineinhalb Jahrzehnten mehr als doppelt so stark erhöht haben wie die Inflationsrate. Es waren doch diese massiv angestiegenen Trassen- und Bahnhofsnutzungsmautgebühren, die in vielen Ländern die Möglichkeiten zur Bestellung von Schienenpersonennahverkehr einengten und gleichzeitig den Druck auf die weichen Faktoren im SPNV, nicht zuletzt auf die Arbeitseinkommen der Beschäftigten und auf die Sozialstandards im SPNF-Bereich krass erhöhten. Obgleich all dies bekannt ist und obgleich wir in der Praxis erlebt haben, wie negativ sich diese massiv ansteigenden Infrastrukturnutzungsentgelte auf den SPNV auswirkten, wird auch in diesem neuen Gesetz zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes dem kein Riegel vorgeschoben. Ja, man sagt sehenden Auges, dass das bis 2031 so weiterlaufen könne. Wenn man als Gesetzgeber so etwas zulässt, dann wird die Deutsche Bahn AG als die Muttergesellschaft von DB Netz, von DB Station und Service und von der DB Energie GmbH dieses großzügige Angebot weidlich nutzen und erneut die Spirale deutlich gesteigerter Mauten in diesen Bereichen betreiben. Mein drittes Aber bezieht sich auf die pauschale „Seligsprechung“, die man im Begründungsteil des Gesetzentwurfs lesen kann. Dort heißt es: „Das Gesetzesvorhaben trägt zu einer nachhaltigen Entwicklung bei und ist umfassend mit der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung vereinbar.“ Es bewirke, „dass die Schiene insgesamt gestärkt … wird“. Dazu sage ich klipp und klar: Herr Dobrindt, werte Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD: Genau dies wird nicht eintreten. Es gibt, wie dargelegt, die Möglichkeit einer deutlich höher als 1,8 Prozent im Jahr liegenden Inflationsrate. Es gibt sodann, wie ebenfalls dargelegt, dieses von den Antragstellern bewusst in den Gesetzestext hineingebaute Scheunentor, wonach sich insbesondere die Entgelte für die Nutzung der Infrastruktur so schnell und derart stark erhöhen können, dass sie das Wachstum der Regionalisierungsmittel mehr als wegfressen. Schließlich heißt es im Gesetzentwurf ausdrücklich, dass der Anstieg der genannten Entgelte „insbesondere … im Schienenpersonennahverkehr“ begrenzt werden müsse. Das heißt, dass diese Entgelte im besonderen Maß in den Bereichen Schienenpersonenfernverkehr und möglicherweise auch im Segment des Schienengüterverkehrs stärker als im Schienenpersonennahverkehr steigen können und wohl steigen werden. Bedenken wir hier, wie kritisch die Situation gerade in diesen beiden Bereichen ist. Gerade hat die Deutsche Bahn AG gegen die heftigen Proteste von sehr vielen beschlossen, den Nachtreisezugverkehr am 11. Dezember 2016 komplett einzustellen. Dabei spielte bereits eine große Rolle, dass die viel zu hohen Entgelte für die Trassennutzung dieses Schienenverkehrssegment enorm belastete. Der klassische Schienenpersonenfernverkehr befindet sich aufgrund der Erfolge der Fernbusverkehre generell in einer extrem kritischen Lage. Worauf beruht dieser Erfolg der Linienbusverkehre? Doch eben zu einem erheblichen Teil auf der Tatsache, dass diese keinerlei Maut für die Nutzung der Straßen zu entrichten haben. Im Schienengüterverkehr ist die Lage ebenfalls extrem kritisch; die Deutsche Bahn AG hat beschlossen, einen größeren Teil der Güterbahnhöfe nicht mehr anzufahren, was zu einer weiteren Einschränkung des Schienengüterverkehrs führen wird. All das zusammen heißt ganz eindeutig: Die Schiene wird in Gänze durch dieses Gesetz nicht gestärkt. Die Bundesregierung verstreicht mit dem Gesetz etwas weiße Salbe. Insgesamt kann ich nicht erkennen, dass damit eine Politik der Nachhaltigkeit betrieben und damit endlich eine Verkehrswende eingeleitet werden. Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das zähe Ringen um die Finanzierung des Nahverkehrs auf der Schiene findet mit dem vorliegenden Entwurf zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes ein Ende. Endlich, ist man geneigt zu sagen. Vorangegangen ist ein in Teilen unwürdiges Gezerre zwischen Bund und Ländern; man hat gestritten wie die Kesselflicker. Aber immerhin: Der Einsatz für einen besseren Nahverkehr hat sich gelohnt. Es ist vor allem der Hartnäckigkeit der Länder zu verdanken, dass der Nahverkehr auf der Schiene jetzt nicht nur im Status quo gesichert ist, sondern vor allem in den Ländern mit wachsenden Ballungsräumen auch weiter ausgebaut werden kann. Bei Bundesverkehrsminister Dobrindt hatte man lange Zeit den Eindruck, dass ihn das Thema nicht interessiert und er die Bedeutung der Mittel für einen attraktiven Nahverkehr nicht richtig einschätzt. Nur zur Erinnerung: Wir reden über die dem Volumen nach wichtigste Säule der deutschen Nahverkehrsfinanzierung. Ich will in diesem Zusammenhang auch betonen, dass die Regionalisierung des Nahverkehrs auf der Schiene zu einer verkehrspolitischen Erfolgsgeschichte unseres Landes zählt. Wir Grüne wollen, dass diese Geschichte fortgeführt werden kann. Dazu brauchen wir neben einer auskömmlichen Finanzierung in anderen Bereichen noch die richtigen Weichenstellungen. Wir alle wissen: Das System Eisenbahn wird vom Fahrgast als Gesamtsystem wahrgenommen. Nahverkehr und Fernverkehr müssen ein eng verzahntes und abgestimmtes attraktives System bilden. Es interessiert den Fahrgast nicht, welcher Aufgabenträger oder welches Verkehrsunternehmen für einen Zug die Verantwortung trägt. Bahnreisende wollen schnell und bequem von A nach B, und das möglichst zu günstigen Preisen. Im Kontrast zu der Entwicklung des SPNV steht aber leider die Entwicklung des Fernverkehrs abseits der Ballungsgebiete und Fernverkehrsmagistralen. Wir erleben seit Ende der 90er-Jahre einen Rückzug des Fernverkehrs aus der Fläche. Ganze Regionen und zahlreiche Großstädte hat die Deutsche Bahn vollständig abgehängt, oder sie hat das Angebot drastisch reduziert. Die dadurch gerissenen Lücken im Angebot haben die Ländern bzw. Aufgabenträger durch Bestellung von Nahverkehrszügen geschlossen, soweit dies finanziell zu stemmen war. Wir reden hier – vor allem in Ostdeutschland – also von Fernverkehrsersatzleistungen. Im Sinne der Bahnreform von 1993 war die Verwendung von Regionalisierungsmitteln dafür eigentlich nicht vorgesehen. Fernverkehr sollte eigenwirtschaftlich organisiert werden. Mehr als 20 Jahre später lehrt uns die Entwicklung etwas anderes: Wir brauchen einen neuen Rahmen, wie wir ein Zielnetz im Fernverkehr absichern, das die wichtigsten Großstädte und Regionen im Takt anbindet. Die sogenannte Fernverkehrsoffensive der Deutschen Bahn ist ein erster richtiger Schritt; aber bisher ist zweifelhaft, ob diese Planungen am langen Ende wirklich umgesetzt werden. Der Bund nimmt bisher jedenfalls keinen Einfluss auf die Gestaltung des Fernverkehrsnetzes. Das muss sich aus unserer Sicht ändern. Wir müssen über neue Lösungen reden. Die bisher nur in Fachkreisen diskutierte Senkung der Trassenpreise kann Teil einer möglichen Lösung sein. Denn dann würde die Wirtschaftlichkeit zahlreicher eingestellter Verbindungen und heutiger RE-Verkehre in einem anderen Licht erscheinen. Lassen Sie mich auch noch etwas zur Infrastruktur sagen. Gute Angebote auf der Schiene brauchen gut ausgebaute Strecken und Knoten. Der Ausbau der Infrastruktur ist ja derzeit durch die Beratungen zum Bundesverkehrswegeplan 2030 in aller Munde. Was aus unserer Sicht bisher zu kurz kommt, ist die weitere Elektrifizierung des Eisenbahnnetzes. Sicher haben es auch einige Elektrifizierungsvorhaben in den Vordringlichen Bedarf geschafft. Wir müssen aber allein aus klima- und energiepolitischen Gründen den Elektrifizierungsgrad des Schienennetzes, der heute bei 60 Prozent liegt, erhöhen. So hat es die Verkehrsministerkonferenz Anfang des Monats auch gefordert. Natürlich sind bei diesen in Rede stehenden Strecken auch die Länder gefordert, ihren Teil zu den Investitionen beizutragen. Die Regionalisierungsmittel erlauben solche Investitionen in die Infrastruktur. Neben den positiven Umwelteffekten von elektrifizierten Strecken wird infrastrukturseitig so eine Voraussetzung für die Wiederanbindung im Fernverkehr geschaffen. Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Vierten Änderung des Regionalisierungsgesetzes wird nun der noch ausstehende Teil der Einigung zwischen Bund und Ländern vorgelegt. Ich darf an die Situation im Herbst des vergangenen Jahres erinnern: Fast ein Jahr hatten Bund und Länder um eine Einigung beim Thema Regionalisierung gerungen, bevor sich die Vertreter von Bundestag und Bundesrat im Vermittlungsausschuss einigten: Für das Jahr 2015 stiegen die Regionalisierungsmittel um 1,5 Prozent auf dann rund 7,4 Milliarden Euro. Horizontal wurden diese Mittel nach dem bisher gültigen Verteilerschlüssel des alten Regionalisierungsgesetzes verteilt. Ab 2016 stellte der Bund den Ländern dann 8 Milliarden Euro zur Verfügung, die dann ab 2017 und bis einschließlich 2031 um jährlich um 1,8 Prozent dynamisiert werden. Keine Einigung gab es jedoch bezüglich der horizontalen Verteilung der Mittel unter den Ländern ab 2016, da kein gemeinsames Verständnis über den von den Ländern entwickelten „Kieler Schlüssel“ erzielt werden konnte. Um das Vermittlungsverfahren mit seinen übrigen Bausteinen dennoch abschließen zu können, wurde die Einigung über die horizontale Verteilung der Mittel vertagt, wobei der Bund gemeinsam mit den Ländern unverzüglich eine Rechtsverordnung erarbeiten sollte. Die Diskussion unter den Ländern wurde dadurch noch einmal befeuert. Es gelang erst am 16. Juni 2016 in einer Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder, eine Lösung zu finden: Dies geschah, indem der „Kieler Schlüssel“ als Maßstab der Verteilung für die 8,0 Milliarden Euro akzeptiert und gleichzeitig die Mittel ab 2016 noch einmal um 200 Millionen Euro erhöht wurden, um damit die Nachteile der ostdeutschen Bundesländer und des Saarlandes auszugleichen. Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und das Saarland hätten sonst gegenüber der ursprünglichen Verteilung unverhältnismäßig hohe Verluste hinnehmen müssen. Selbstverständlich werden auch die zusätzlichen Regionalisierungsmittel jährlich mit 1,8 Prozent dynamisiert. In Übereinstimmung mit dem Beschluss bei der Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder haben die betroffenen Bundesländer dem BMVI dann den Verteilungsschlüssel für die zusätzliche Summe von 200 Millionen Euro mitgeteilt. Erst dann lagen in unserem Hause alle notwendigen Informationen vor, um einen neuen Gesetzentwurf zu erarbeiten und im Ressortkreis abzustimmen. Mit dem Gesetzentwurf werden nun rückwirkend zum 1. Januar 2016 und bis einschließlich 2031 die Höhe und die horizontale Verteilung der Regionalisierungsmittel geregelt. Im Rahmen der Länder- und Verbändeanhörung zum Referentenentwurf haben uns verschiedene Stellungnahmen der Länder erreicht, die auf eine Überarbeitung und Konkretisierung des Verwendungsnachweises – jetzt Anlage 3 des Gesetzentwurfes – zielten. Auch für mein Haus ist es von Bedeutung, dass der Nachweis über die Verwendung der Mittel transparent, aber gleichzeitig mit so geringem Aufwand wie möglich erfolgen kann. Wir haben daher diese Hinweise aufgenommen und den Verwendungsnachweis redaktionell angepasst. Es wurden mit diesem Gesetzentwurf jedoch keine inhaltlichen Anpassungen des Verwendungsnachweises vorgenommen. Im Gegenteil: Es sind nur die Daten und Informationen zu den Verkehrsverträgen angefordert, auf die sich der Vermittlungsausschuss geeinigt hatte und die bereits in der vorangegangenen Gesetzesnovelle von Bundestag und Bundesrat beschlossen wurden. Zum weiteren Verfahren möchte ich ergänzen: Wir haben diesen Gesetzentwurf als besonders eilbedürftig im Sinne von Artikel 76 Absatz 2 Satz 4 GG deklariert, um die Fristen im Gesetzgebungsverfahren verkürzen zu können. Dies ist entscheidend, damit wir noch in diesem Jahr das neue Regionalisierungsgesetz verkünden können. Erst dann ist die gesetzliche Grundlage vorhanden, um die entsprechenden Auszahlungen an die Länder vornehmen können, was bisher nur unter Vorbehalt geschehen ist. Auch diese Auszahlungen sollten noch im laufenden Jahr 2016 zugunsten der Länder erfolgen. Ich hoffe daher auf Ihre Unterstützung und zähle auch auf die Unterstützung der Länderkollegen, damit wir dieses Vorhaben nun zügig abschließen können. Es ist gutes Gesetz für den Nahverkehr in Deutschland. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung (Tagesordnungspunkt 24) Uwe Feiler (CDU/CSU): Die Schwarzarbeit ist so alt wie die Steuer oder die Sozialversicherung selbst. Schon immer gab es neben den vielen ehrlichen Steuerzahlen vermeintlich Findige, die sich auf Kosten der Gemeinschaft bereichern wollten. Sei es aus finanzieller Not oder reinem Profitstreben – Schwarzarbeit ist keine Bagatelle, sondern schädigt uns alle, oft aber auch diejenigen, die in diesen illegalen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Sie sind nicht renten-, kranken- und unfallversichert und entziehen den öffentlichen Haushalten und Sozialversicherungsträgern wichtige Einnahmen. Weiterhin verzerrt Schwarzarbeit den Wettbewerb, indem durch den Betrug Vorteile gegenüber den rechtschaffenden Unternehmen erschlichen werden. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zollverwaltung des Bundes hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte bei der Bekämpfung der illegalen Beschäftigung erzielt. Dennoch sind weitere gesetzliche Regelungen notwendig, um der kriminellen Energie noch wirksamer entgegentreten zu können, Schnittstellenprobleme zu minimieren und durch eine leistungsfähige IT-Infrastruktur die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden bei ihrer wichtigen Arbeit zu unterstützen. Der vorliegende Gesetzentwurf knüpft dabei an drei Punkten an. Erstens. Durch die Novellierung des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes wollen wir ein neues IT-Verfahren einführen, das erstmals mit einer einheitlichen Datenbank ein zentrales Informationssystem darstellt. Außerdem wollen wir den Landesbehörden eigene Prüfungsbefugnisse einräumen, damit sie ihre Aufgaben nach den handwerks- und gewerberechtlichen Bestimmungen besser wahrnehmen können. Das beinhaltet auch, gemäß § 21 Absatz 1 des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes, Betriebe nicht mehr nur von der Vergabe öffentlicher Bauaufträge auszuschließen, sondern auch von Liefer- und Dienstleistungsaufträgen, da Schwarzarbeit zwar häufig im Baugewerbe anzutreffen ist, aber auch die Dienstleistungsbranche nicht frei davon ist. Zweitens. Wir stärken die Zollverwaltung, indem wir ihr über die Ahndung von Meldeverstößen hinaus auch die Verfolgung von Tatbeständen zuweisen, die bisher von der Einzugsstelle gemäß § 112 Absatz 1 Nummer 4 des SGB IV wahrgenommen wurden. Damit führen wir beim Zoll sowohl das Prüfungs- als auch das Ermittlungsverfahren zusammen. Drittens. Mit einer Änderung des Straßenverkehrsgesetzes erhält auch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit Zugriff auf den automatisierten Zugriff von Fahrzeug- und Halterdaten von Kraftfahrzeugen. Schon jetzt fragt der Zoll zum Abgleich von melde- und sozialversicherungsrechtlichen Angaben beim Kraftfahrt-Bundesamt Informationen ab. Bisher musste jede Anfrage manuell bearbeitet werden, was sich in der Praxis als langsam und fehleranfällig erwies. Der automatische Austausch wird die Arbeit für beide Seiten stark vereinfachen. Offen gezeigt hat sich die Bundesregierung unter anderem auch für Anregungen des Bundesrats, auch das Personenbeförderungsgewerbe mit zu erfassen und die nach Landesrecht zuständigen Behörden in den Kreis der Kooperationsbehörden mit aufzunehmen. Diesen Vorschlag unterstütze ich ausdrücklich. Mit diesem Gesetz stärken wir den Zoll in seinem Bemühen, Schwarzarbeit zu bekämpfen, Steuer- und Sozialversicherungsbetrug zu bekämpfen und den Informationsaustausch zwischen den beteiligten Bundes- und Landesbehörden auszubauen. Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Schwarzarbeit ist unsozial: Dem Staat werden Steuern und Sozialabgaben vorenthalten, und gesetzestreue Unternehmen können im Wettbewerb gegen die illegal handelnden Anbieter, die oft erheblich günstigere Angebote abgeben, nicht bestehen und werden so in ihrer Existenz bedroht. Dies führt zum Verlust von legalen Arbeitsplätzen und verhindert die Schaffung neuer legaler Arbeitsplätze. Zusätzlich schädigen illegale Beschäftigungsverhältnisse rechtstreue Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die mit ihren Sozialversicherungsbeiträgen die entstehenden Ausfälle ausgleichen müssen. Die Bekämpfung der Schwarzarbeit ist daher ein zentrales Anliegen der Bundesregierung, das wir im Koalitionsvertrag festgelegt haben. Das jetzt vorgelegte Gesetz zur Stärkung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung verbessert die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Prüfungs- und Ermittlungstätigkeiten der Finanzkontrolle Schwarzarbeit und der zuständigen Landesbehörden und schafft die Voraussetzungen für die Optimierung der informationstechnologischen Ausstattung der Finanzkontrolle. Es stellt somit einen weiteren Baustein des wichtigen Zieles dar, die Rahmenbedingungen zur Schwarzarbeitsbekämpfung zu verbessern. Eine wesentliche Neuregelung ist die Schaffung eines neuen zentralen Informationssystems, das die bislang verwendete Zentrale Datenbank ersetzen soll. Vorgangsbearbeitung und -verwaltung durch die Zollverwaltung sollen sich dadurch effizienter gestalten, und Informationen sollen sich besser verknüpfen lassen können. Dem Zoll soll es künftig möglich sein, mithilfe der neuen Datenbank vor Ort rascher Abfragen und Analysen durchzuführen. Die neue Datenbank ermöglicht zum Beispiel auch einen Zugriff auf Berichte und Statistiken zu Verstößen gegen das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz. Der Zoll kann so effektiver reagieren. Die bessere Datenstruktur dient dem Ziel, die Erfolgsaussichten der Ermittlungstätigkeiten der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zu erhöhen. Der Gesetzentwurf weitet zudem die Verfolgungszuständigkeit der Zollverwaltungsbehörden aus, und zwar auf die Fälle, in denen die Zollbehörden bei einem Prüfungs- und Ermittlungsverfahrens Ordnungswidrigkeiten festgestellt haben. Verstöße gegen das Schwarzarbeitsgesetz mit Bußgeldern können künftig durch die Behörden der Zollverwaltung im Ordnungswidrigkeitsverfahren selbst verfolgt werden. Das trägt wesentlich zur Verfahrensvereinfachung bei, da auf diese Weise die von den Kontrolleuren der Finanzkontrolle Schwarzarbeit festgestellten Meldeverstöße bei der Zollverwaltung gebündelt und der Verwaltungsaufwand damit reduziert werden kann. Der Bundesrat hat in seiner Stellungahme Ergänzungen vorgeschlagen. Die nach Landesrecht zuständigen Behörden sollen beim Personenbeförderungsgewerbe stärker in die Zusammenarbeit mit den Zollverwaltungen eingebunden werden. Das halte ich für absolut richtig, denn Taxi-, Miet- und Ausflugsverkehrsgewerbe sind besonders von Schwarzarbeit betroffen. Künftig soll es den zuständigen Landesbehörden zudem möglich sein, Ordnungswidrigkeiten, die in ihren Geschäftsbereich fallen, also die Bekämpfung der Handwerks- und der gewerblichen Schwarzarbeit, zu ahnden. Die Bundesregierung stimmte den Anregungen der Länder zu. Ein weiteres Anliegen der Länderkammer, nämlich die Möglichkeit einer automatisierten Abrufmöglichkeit für Daten aus dem Zentralen Fahrzeugregister, wird derzeit noch geprüft. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks, ZDH, der Zentralverband Deutsches Baugewerbe, ZDB, der Deutsche Gewerkschaftsbund, DGB, der Deutsche Beamtenbund, dbb, der Bund der Deutschen Zollbeamten, BDZ, sowie der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag haben die Regelungen des Gesetzesentwurfs überwiegend begrüßt. Auf Wunsch des BMF soll zudem eine Befreiung bei der Kraftfahrzeugsteuer klarstellend in das Gesetz mit aufgenommen werden. Die Befreiung beruht auf einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 1983 – 1983! –, die der Vermeidung der Doppelbesteuerung in mehreren EU-Mitgliedstaaten dient. Diese wurde bei uns bisher nur durch Verwaltungsvorschriften, etwa durch Erlasse, berücksichtigt. Die Befreiung betrifft die vorübergehende Nutzung von Personenfahrzeugen im Inland durch Privatpersonen aus anderen EU-Mitgliedstaaten. Diese sind in bestimmten Fällen steuerbefreit, zum Beispiel bei befristeter beruflicher Nutzung oder durch Studenten und dauerhaft bei Berufspendlern. Die EU-Kommission hat deswegen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland angekündigt. Mit der rein technischen klarstellenden Anpassung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes wird das Vertragsverletzungsverfahren verhindert werden. Insgesamt besteht in nahezu allen Regelungsbereichen des Gesetzentwurfes bereits Konsens zwischen Bund und Ländern. Daher bin ich optimistisch, dass wir die Beratungen des Gesetzentwurfes in den Parlamentsgremien in den nächsten Wochen ohne Verzögerung rasch abschließen können. Richard Pitterle (DIE LINKE): Für das Jahr 2016 gehen Schätzungen davon aus, dass Schwarzarbeit im Wert von 336 Milliarden Euro in Deutschland erbracht wird. Das entspricht ungefähr 70 Milliarden Euro Einnahmeausfällen des Staates bei Steuern und Sozialversicherung. Mit Fug und Recht muss man sagen: Schwarzarbeit ist kein Kavaliersdelikt, sondern Kriminalität, die allen schadet. Nun ist das aber kein neues Phänomen. So beraten wir heute einen Gesetzentwurf mit dem ambitionierten Ziel, die Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung zu stärken. Zweifellos ist das dringend nötig. Vor 14 Jahren betrug das Volumen der Schwarzarbeit 350 Milliarden Euro. Das ist nur scheinbar mehr als heute. Aber Schwarzarbeiter führen keine Bücher, sodass nur der Befund bleibt: Es hat sich nichts geändert. Schlimmer noch: Das derzeitige Vorgehen gegen Schwarzarbeit entpuppt sich als vollkommen ineffektiv. Nach der amtlichen Statistik für das Jahr 2015 der Zollverwaltung, die für die Bekämpfung zuständig ist, wurden 130 000 Ermittlungsverfahren eingeleitet, 43 000 Arbeitgeber geprüft, 360 000 Befragungen durchgeführt und eine Schadenssumme von knapp 1 Milliarden Euro aufgedeckt. Das klingt nach viel, entspricht aber nur einer Aufklärungsquote im unteren einstelligen Prozentbereich. Dieser Befund ist erschütternd. Das von SPD und Grünen 2004 vollmundig auf den Weg gebrachte reformierte Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung kann nur als gescheitert betrachtet werden. Der vorliegende Entwurf wird daran nichts ändern. Natürlich begrüßen wir, dass Sie das Gesetz um in der Praxis irrelevante Ordnungswidrigkeiten und Strafnormen bereinigen. Aber das machen Sie nicht konsequent. Ob Gewerbeordnung, Handwerksordnung oder Mindestlohngesetz, all diese Gesetze enthalten bereits Ordnungswidrigkeiten und Strafnormen, die nicht wiederholt werden müssen. Natürlich beglückwünschen wir Sie auch zu der Erkenntnis eines Jurastudenten im zweiten Semester, dass im Verwaltungsrecht Aufgabennorm nicht gleichbedeutend mit Befugnisnorm ist, wenn Sie mit dem vorliegenden Entwurf nun nach zwölf Jahren endlich den adressierten Ordnungsbehörden auch Rechte zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben einräumen. Natürlich sind wir beeindruckt, dass Sie es nach mehr als einem halben Jahr schon schaffen, eine Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen auch in diesem Gesetz nachzuvollziehen. Den Rechtsanwender freut es; denn nun verweist § 21 des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes bald nicht mehr ins rechtliche Nirvana. Wie so oft in der Regierungszeit der großen Koalition aus SPD und CDU/CSU ist auch hier bereits der Titel nur eine Mogelpackung. Er soll darüber hinwegtäuschen, dass es sich nur um einen Minimalkonsens ohne ernsthaften Regelungsgehalt für einen weiteren Haken im Koalitionsvertrag handelt. Der weitaus größte Teil der Schwarzarbeit wird in Form organisierter Kriminalität und rund um das Baugewerbe geleistet. Vor diesem Hintergrund war schon der Ansatz des Gesetzgebers 2004 vollkommen falsch, mit „Öffentlichkeitsarbeit“ und der Schaffung eines „Unrechtsbewusstseins in der Bevölkerung“ Schwarzarbeit bekämpfen zu wollen. Der organisierten Kriminalität sind Ihre Öffentlichkeitsarbeit und das Unrechtsbewusstsein der allgemeinen Bevölkerung völlig schnuppe, wie nicht zuletzt die Zahlen belegen. Solange Sie aber die hochqualifizierten Beamten des Zolls vergessene Gewerbeanmeldungen und verpennte Reisegewerbekarten prüfen lassen, solange der Häuslebauer mit seinem Handwerker ohne Meisterbrief im Fokus der Ermittlungen steht und als „Schwarzarbeiter“ genauso behandelt und kriminalisiert wird wie Menschenhändler und Sklavenhalter auf Großbaustellen, ist der Kampf gegen Schwarzarbeit verloren. Nur wenn die begrenzten personellen und sachlichen Ressourcen mit Blick auf das organisierte Verbrechen gebündelt werden, wird sich auch ein Erfolg im Kampf gegen die Schwarzarbeit einstellen. Dafür ist aber Ihr Gesetzentwurf völlig ungeeignet. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bekämpfung der Schwarzarbeit ist ein besonders wichtiges Anliegen; denn Schwarzarbeit stellt in unserer Gesellschaft ein großes Problem dar. Sie schadet der Volkswirtschaft und der Allgemeinheit: unter anderem durch Steuerhinterziehung und Beitragsausfälle bei den Sozialversicherungen. Der Gesetzentwurf weist zu Recht auf die Wettbewerbsverzerrungen hin, die durch unredliche Arbeitgeber ausgelöst werden, also durch Arbeitgeber, die keine Steuern und Sozialversicherungen auf den Lohn ihrer Mitarbeiter abführen. Mit den so entstehenden Dumping-Löhnen können ehrliche Arbeitgeber kaum mithalten. Schwarzarbeit vernichtet ehrliche Jobs bzw. lässt sie gar nicht erst entstehen. Das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs unterstützen wir daher uneingeschränkt. Die wichtige Arbeit des Zolls, neben dem, dass er im Übrigen im Jahr 2015 mit fast 133 Milliarden Euro rund die Hälfte der Steuern des Bundes eingenommen hat, wird hoffentlich dadurch weiter verbessert. Bei meinem Besuch bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit in Berlin im vergangenen Jahr konnte ich mir persönlich ein Bild von der Arbeit der Beamten machen. Ich konnte sie direkt vor Ort bei einem Einsatz auf einer Großbaustelle begleiten. Beeindruckt war ich von dem effektiven und organisierten Vorgehen. Was ich aber auch mitgenommen habe, ist, dass ein Abgleich von Daten in Verdachtsfällen derzeit noch Schwierigkeiten bereitet. Das Anliegen des Gesetzentwurfs, die IT-Ausstattung zu verbessern, um einen reibungslosen und vor allem zeitsparenden Einsatz zu ermöglichen, halte ich ebenfalls für notwendig. Nach meinem Kenntnisstand erfolgt derzeit zum Beispiel eine Abfrage beim Kraftfahrt-Bundesamt zu Autohaltern noch per Faxgerät. Zeitnahe Ergebnisse sind so selbstverständlich nicht zu erwarten. Ein automatisiertes Abrufverfahren beim Kraftfahrt-Bundesamt ist richtig. Es kann zu einer Zeitersparnis führen, die die Arbeit der Beamten entscheidend effektiviert. Im Zusammenhang mit dem angekündigten Aufbau eines einheitlichen Datenbanksystems und der Implementierung eines neuen IT-Systems werden wir Grüne selbstverständlich besonderen Wert auf den Datenschutz legen. Auch bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ist es wichtiger, die richtigen Daten zu sammeln und sinnvoll auszuwerten, als möglichst viele Daten zu erheben. Die Arbeit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit würde aber außer von diesem Gesetz auch entscheidend davon profitieren, wenn Bundesfinanzministerium und CDU/CSU endlich ihren Widerstand gegen die technikneutrale Zulassung von manipulationssicheren Registrierkassen aufgeben würden. Das laufende Gesetzesverfahren dazu droht aus unserer Sicht zur Farce zu verkommen. Dabei ist klar: Viel Arbeit bliebe der Finanzkontrolle erspart, viel Unterstützung würden die neuen Belege bei der Verfolgung von Schwarzarbeit bedeuten. Außerdem werden die vorhergesagten positiven Wirkungen des vorliegenden Gesetzentwurfs sicher verpuffen, wenn die Personalausstattung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit nicht angepasst wird. Wie wir wissen, ist zur Überwachung der branchenspezifischen Mindestlöhne ab 2015 die Überprüfung der flächendeckenden gesetzlichen Mindestlöhne dazugekommen – eine gigantische Aufgabe. Aber die Personalbesetzung und -planung passt nicht dazu. Von 6 865 Planstellen sind 545 derzeit nicht besetzt. Zählt man die Mitarbeiter hinzu, die an andere Behörden ausgeliehen waren, so fehlen heute schon über 700 Beamte. Von den 1 600 neuen Stellen zur Überwachung der Mindestlöhne ist nach unserer Kenntnis bis heute keine einzige besetzt. Diese neuen Stellen sollen erst ab 2017 zur Verfügung gestellt werden. Realistisch geschätzt kann mit etwa 160 Neueinstellungen pro Jahr gerechnet werden. Das ist zu wenig, um die Überlastung der FKS abzumildern. Wenn der Gesetzentwurf jetzt noch behauptet, dass etwaiger Mehrbedarf an Personalmitteln innerhalb der vorhandenen Kapazitäten aufgefangen werden kann, dann sage ich Ihnen: Das kann und wird nicht funktionieren. Hier müssen Sie dringend nachbessern, und zwar sowohl bei den Stellen als auch bei den Ausbildungskapazitäten. Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Die Bekämpfung der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung war und ist eine wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung vernichten dauerhaft legale Arbeitsplätze, erhöhen damit die Arbeitslosigkeit und bringen den Staat um Steuern und die Sozialversicherungen um Beiträge. Für die Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung ist in Deutschland im Wesentlichen – aber nicht nur – die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Bundeszollverwaltung zuständig. Grundlage für ihre Tätigkeit ist das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz. Im Koalitionsvertrag für diese Legislaturperiode wurde vereinbart, zur Verbesserung der Bekämpfung des Sozialversicherungsbetrugs, der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung die rechtlichen Rahmenbedingungen im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz und in der Gewerbeordnung sowie die personelle und informationstechnologische Ausstattung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zu verbessern und wirkungsvoller auszugestalten. Als ein erster Baustein zur Umsetzung dieses Auftrages wurden im Jahr 2014 zum Beispiel die Gewerbeämter als Zusammenarbeitsbehörden der Finanzkontrolle Schwarzarbeit in das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz aufgenommen. Zeitgleich wurde in der Gewerbeanzeigeverordnung eine Regelung eingeführt, die eine effektivere Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit ermöglicht. Die Gewerbebehörden sind nun befugt, etwaige Anhaltspunkte auf Scheinselbstständigkeit oder sonstige Erkenntnisse auf Schwarzarbeit an den Zoll zu übermitteln. Seit dem 1. Januar 2015 gilt der allgemeine gesetzliche Mindestlohn. Die Überprüfung der Einhaltung dieser Pflicht ist der Finanzkontrolle Schwarzarbeit übertragen worden. Vor dem Hintergrund dieses Aufgabenzuwachses sind der Zollverwaltung in einem zweiten Baustein im Bundeshaushalt 2015 insgesamt 1 600 zusätzliche Planstellen zuerkannt worden, die in den Haushaltsjahren 2017 bis 2022 zur Verfügung gestellt werden. Die personelle Ausstattung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit wird damit an den Aufgabenzuwachs angepasst. Im Zusammenhang mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns hat die Finanzkontrolle Schwarzarbeit auch die Schwerpunkte ihrer Tätigkeit neu definiert. Im Fokus der Aufgabenwahrnehmung steht neben der Prüfung aller Mindestlohnpflichten die Verfolgung organisierter Formen der Schwarzarbeit. Die oftmals komplexen Prüf- und Ermittlungsverfahren erfordern ebenso wie umfangreiche Mindestlohnprüfungen einen hohen zeitlichen Aufwand. Um diesen Weg jetzt konsequent weiterzuverfolgen, hat der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf – nunmehr als dritter Baustein – mit Änderungen im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz, aber auch im Vierten Buch Sozialgesetzbuch und im Straßenverkehrsgesetz die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung weiter zu verbessern. Im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz müssen vor allem die rechtlichen Grundlagen für eine zukunftsfähige informationstechnologische Ausstattung der Zollverwaltung im Bereich Finanzkontrolle Schwarzarbeit geschaffen werden. Ein modernes IT-Verfahren, das bei der täglichen Aufgabenerfüllung den fachlichen und technischen Ansprüchen und Anforderungen gerecht wird, ist selbstverständlich auch für die Zöllnerinnen und Zöllner der FKS unerlässlich. Daneben ist es wichtig, auch anderen mit der Bekämpfung von Schwarzarbeit beauftragten Stellen wirkungsvollere Instrumente an die Hand zu geben. Ich sagte es eingangs: Nicht nur die Zollverwaltung ist bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit aktiv. Durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit den in die Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung involvierten anderen Bundes- und vor allem Landes- und Kommunalbehörden erhöht die Finanzkontrolle Schwarzarbeit bereits seit Jahren den Verfolgungsdruck. Zudem haben die nach Landesrecht zuständigen Kommunalbehörden eigene Aufgaben nach dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz. Die Bekämpfung der handwerks- und gewerberechtlichen Schwarzarbeit fällt in ihren Zuständigkeitsbereich. Wer Dienst- oder Werkleistungen erbringt und seiner Pflicht zur Anzeige seines Gewerbes nicht nachkommt, verrichtet Schwarzarbeit. Wer ein Handwerk selbstständig betreibt, ohne in die Handwerksrolle eingetragen zu sein, verrichtet Schwarzarbeit. Um auf diesem Gebiet wirkungsvoller agieren zu können, erhalten die nach Landesrecht zuständigen Behörden nunmehr passend zu ihren Aufgaben im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz an dieser Stelle eigene Befugnisse. Zur Überprüfung Gewerbetreibender sind auch sie künftig befugt, Grundstücke zu betreten und dort tätige Personen zu ihrer Tätigkeit zu befragen. Flankierend erfolgt eine Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch. Hier wurde ein Wunsch aus der Ermittlungspraxis der Finanzkontrolle Schwarzarbeit aufgegriffen. So sind die Zöllnerinnen und Zöllner künftig auch für die Ahndung von sozialversicherungspflichtigen Meldeverstößen zuständig, wenn die Verstöße erst in einem bereits laufenden Ermittlungsverfahren aufgedeckt werden. Dies erhöht die Effizienz des Verwaltungshandelns. Bislang mussten diese Verfahren an die Einzugsstellen der Krankenkassen zur weiteren Bearbeitung abgegeben werden. Durch die Änderung des Straßenverkehrsgesetzes erhält die Finanzkontrolle Schwarzarbeit zudem einen automatisierten Zugriff auf das Zentrale Fahrzeugregister des Kraftfahrt-Bundesamtes. Den Bediensteten der Finanzkontrolle Schwarzarbeit stehen wichtige Informationen künftig unmittelbar zur Verfügung. Damit werden Prüfungen und Ermittlungen besonders in für Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung anfälligen Branchen schneller und vor allem zielgerichteter und wirkungsvoller. Sie sehen, wir haben die Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung in Deutschland in den letzten Jahren erfolgreich intensiviert. Ich bin zuversichtlich, dass uns dies mit dem vorliegenden Gesetzentwurf weiter gelingen wird. Ich freue mich daher auf die Beratungen in den Fachausschüssen. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung (Tagesordnungspunkt 25) Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Mit seinem Urteil vom 9. Juni 2016, Aktenzeichen IX ZR 314/14, mag der Bundesgerichtshof ein rechtlich nicht zu beanstandendes Urteil gesprochen haben; ob die Lösung volkswirtschaftlich und politisch richtig war, gilt es in diesem Haus zu entscheiden, und es gilt, diese dann gegebenenfalls zu korrigieren. Ich darf in Erinnerung rufen: Der BGH hat in seinem Urteil die Verwendung bestimmter sogenannter Close-out-Netting-Clauses, also insolvenzrechtlicher Lösungsklauseln mit Saldoausgleich, für unwirksam erklärt. Damit hat der IX. Zivilsenat des BGH deutlich eines der Grundprinzipien des deutschen Insolvenzrechts, nämlich die Entscheidung über die Betriebsfortführung in die Hände des Insolvenzverwalters zu legen, unterstrichen. § 103 der Insolvenzordnung, der dieses Prinzip postuliert, ist auch völlig richtig und wichtig: Es muss in der Hand des Insolvenzverwalters liegen, welche Verträge eines insolventen Unternehmens fortgeführt werden und welche nicht. Würde man diese Entscheidung in die Hände der Gläubiger legen oder grundsätzlich eine automatische Vertragsbeendigung mit Eintritt der Insolvenz zulassen, dann hätte das insolvente Unternehmen weder Kunden noch Lieferanten und müsste mangels möglichen Geschäftsbetriebs in jedem Fall gleich abgewickelt, sprich: zerschlagen, werden. Die von § 1 Insolvenzordnung deutlich intendierte Betriebsfortführung verbunden mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen wäre unmöglich. So richtig diese beiden Prinzipien wirken und auch sind, so wichtig sind an dieser Stelle jedoch die Ausnahme des § 104 Insolvenzordnung und die Möglichkeit, in bestimmten Fällen gegenseitige Forderungen über die Möglichkeit der echten Aufrechnung hinaus, § 94 Insolvenzordnung, zu verrechnen und auch Verträge mit Eintritt der Insolvenz enden zu lassen. Lassen Sie mich mit dem letzten Punkt beginnen: Deutsches, europäisches und internationales Bankenaufsichtsrecht sehen vor, dass bei Verwendung von Verträgen, welche sogenannte Close-out-Netting-Clauses enthalten, nur eine geringere Höhe von Eigenkapital vorgehalten werden muss. Das ist auch richtig: Weil im Falle einer Insolvenz nur ein negativer Saldo und nicht die Summe einzelner Forderungen abfließen kann, hält die Aufsicht solche Verträge für die entsprechenden Banken für weniger risikoreich als solche ohne diese Klauseln. Eine Fortführung der Geschäfte ohne Netting-Klauseln würde entsprechend als risikoreicher bewertet, ohne dass sich durch die Klausel am tatsächlichen Risiko des Geschäfts etwas ändert. Nachdem wir gerade erreicht haben, dass die Kapitalausstattung deutscher Banken wieder ausreichend ist und weitere gesamtwirtschaftliche Krisen aktuell nicht zu erwarten sind, wäre es sicher unangemessen, nur im Hinblick auf eine andere Beurteilung von Vertragsklauseln einen Zwang für Banken zu begründen, ihr Eigenkapital nun zu erhöhen, nur um ihre bisherigen Geschäfte fortführen zu können; man rechnet mit 1 bis 2 Prozentpunkten. Die dadurch unnötig steigenden Finanzierungskosten für Kreditinstitute lassen sich auch mit Blick auf die mittelbaren Folgen für Bankkunden kaum rechtfertigen. Nun könnte man sagen: Dann passen Sie doch das Aufsichtsrecht der Realität der Verträge an. Allerdings: Eine solche deutsche Lösung wäre eine Insellösung und würde hier nicht helfen: Denn nach Artikel 9 der Europäischen Insolvenzverordnung bzw. § 340 Absatz 1 Insolvenzordnung könnten dann Banken über die Nutzung eines ausländischen Marktes ausländisches Recht wählen und somit dem Finanzplatz Deutschland faktisch den Rücken kehren. Dies wäre vor allem zum Nachteil der deutschen Realwirtschaft mit schlechteren Finanzierungsmöglichkeiten, ganz zu schweigen davon, dass dann auch die entsprechenden Verträge nicht mehr in Deutschland gemacht würden. Ob sich jedoch auch Gründe finden, auch außerhalb des regulierten Finanzbereichs insolvenzrechtliche Lösungsklauseln mit Saldoausgleich zuzulassen, wird im Laufe dieses Gesetzgebungsverfahrens noch zu erörtern sein. Völlig nachvollziehbar ist dabei die Forderung der Energie-, aber auch der Realwirtschaft, die infolge des Urteils des BGH vom 15. November 2012, Aktenzeichen IX ZR 169/11, entstandene Unsicherheit zu beheben. Hier stehen nicht aufsichtsrechtliche Fragen im Mittelpunkt, sondern die Frage, inwieweit Handelsgeschäfte in volatilen Märken sinnvoll abgesichert werden können. Hier ist es in Bezug auf ein mögliches Insolvenzverfahren von großer Bedeutung, ob Einzelforderungen oder nur der Saldo aus diesen Forderungen besichert werden muss. Dabei stellt es auch nach meiner Ansicht keinen Eingriff in die Gläubigergleichbehandlung dar, wenn in Falle der Insolvenz als Folge einer Netting-Vereinbarung lediglich die Salden Berücksichtigung finden und damit natürlich auch nur diese im Vorfeld abgesichert werden müssen. Ganz ähnlich geht die Rechtsprechung übrigens – zu Recht – auch jetzt schon im Bereich der Gesellschafterdarlehen vor. Über dieses nachvollziehbare Netting-Interesse hinaus gilt es deshalb zu erörtern, ob mit dem Insolvenzverfahren auch ein Vertrag automatisch enden muss und damit möglicherweise auch für das insolvente Unternehmen vorteilhafte Lieferkonditionen, die für eine Restrukturierung sehr hilfreich wären, jedenfalls deutlich hilfreicher, als zum Beispiel im Falle von Stromlieferverträgen einen Neuvertrag zum teuren Grundtarif abschließen zu müssen. Auch wenn es verständlich ist, wie es ein Vertreter eines Dax-Unternehmens formuliert hat, dass „man“ nur mit solventen Partnern handeln möchte, so bedarf dies doch stets der Betrachtung beider Seiten. Denn das Ziel einer Unternehmenssanierung, das bei uns mehr noch als früher vorrangig ist vor dessen Zerschlagung, lässt sich nicht mehr erreichen, wenn allein mit Eröffnung eines Insolvenzverfahrens sämtliche Vertragsbeziehungen automatisch wegbrechen. Allerdings kann es dann auch geboten sein, die Entscheidung über die Ausübung des Wahlrechts schneller als bislang üblich zu treffen. Dies näher zu erörtern, ist Aufgabe des nun folgenden parlamentarischen Verfahrens. Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Heute debattieren wir eine weitere Reform der Insolvenzordnung. Diese mutet zwar auf den ersten Blick sehr rechtstechnisch an, aber jedenfalls auf den zweiten Blick offenbart sich, dass die hier zu treffenden Neuregelungen massive Auswirkungen auf die deutsche Unternehmenslandschaft haben könnten. Thematisch geht es um das sogenannte Liquidationsnetting, das heißt um die vertragliche Vereinbarung einer Aufrechnung. Nun sieht das BGB auch das Institut der Aufrechnung vor. Eine solche zu vereinbaren, bietet aber durchaus mehr Flexibilität und differenziertere Lösungen. Allerdings darf diese Flexibilität nicht der Zielsetzung und den Grundsätzen des Insolvenzrechts zuwiderlaufen. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, genau abzubilden, wie eine solche Vereinbarung einzuordnen ist, im Bereich des Insolvenzrechts im Allgemeinen, gerade aber im Bereich der Anfechtung im Besonderen. In der Konsequenz ergibt sich deshalb im Insolvenzrecht die Anforderung, dass die Zulässigkeit einer solchen Aufrechnungsvereinbarung ebenso wie Trag- und Reichweite mit der Zielsetzung des § 104 Insolvenzordnung in Einklang stehen. Damit reagieren wir als Gesetzgeber zudem unmittelbar auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 9. Juni 2016. Diese Entscheidung definiert eine Unwirksamkeit von Finanzmarktkontrakten, soweit sie für den Fall der Insolvenz eine von § 104 Insolvenzordnung abweichende Rechtsfolge vorsehen. Grundsätzlich ergeben sich für die Frage der Reichweite des Liquidationsnettings zwei Lösungsansätze: Man könnte zum einen nur den Saldo der Aufrechnung der Anfechtung aussetzen. Alternativ wäre denkbar, jede einzelne aufgerechnete Leistung der Anfechtung zu unterwerfen. Was zunächst noch recht einfach klingt, erweist sich bei genauerer Betrachtung als die Gegenüberstellung zweier Möglichkeiten, die in ihren tatsächlichen Auswirkungen nicht unterschiedlicher sein könnten. Gerade die erste Variante, welche auch der BGH in seinem Urteil zugrunde legt, würde zu einer deutlichen Eigenkapitalanforderung führen – deutlicher als heute zum Beispiel im Bankenbereich üblich und praktikabel ist. Daher ist es notwendig, die insolvenzrechtliche Zielsetzung insoweit zu präzisieren. Hierzu dient der vorliegende Gesetzentwurf. In diesem Sinne freue ich mich auf die weiteren Beratungen. Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Der Regierungsentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung sieht eine Klarstellung des sogenannten Liquidationsnettings bei Finanztermingeschäften vor. Diese Änderung ist notwendig geworden durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes vom 9. Juni 2016, das die bisherigen Liquidationsnettingsklauseln für unwirksam erklärt hat. Es blieb nicht ohne Kritik seitens der deutsche Kreditwirtschaft, da diese befürchtet, dass das Urteil wegen der mit ihm verbundenen aufsichtsrechtlichen Folgen nicht nur auf einzelne Kreditinstitute, sondern auf die gesamte Finanz- und Realwirtschaft dramatische Auswirkungen haben kann. Ziel des Regierungsentwurfs ist es deshalb, die rechtlichen Grundlagen für das vertragliche Liquidationsnetting präziser zu fassen und die durch das Urteil des Bundesgerichtshofes entstandenen Rechtsunsicherheiten zu beseitigen. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass die auf den deutschen, europäischen und internationalen Finanzmärkten üblichen Rahmenverträge weiterhin im Einklang mit den an sie gestellten aufsichtsrechtlichen Anforderungen in insolvenzfester Weise vereinbart werden können, jedoch nicht – das möchte ich ausdrücklich betonen – sollen hier die Grundzüge des Insolvenzverfahrens und der Schutz der Maße beeinträchtigt werden. Ob dies mit dem Regierungsentwurf gelungen ist, wird uns die öffentliche Anhörung sicherlich zeigen. Die vorgeschlagene Änderung des Liquidationsnettings begrüße ich ausdrücklich. Voraussichtlich müssen die Banken nach Abschluss der Beratungen des Basler Ausschusses in den kommenden Jahren ohnehin weitere Anstrengungen bezüglich der Eigenkapitalunterlegung leisten. Diese Rechtsunsicherheit durch das Urteil des Bundesgerichtshofes zum Liquidationsnetting sollte nicht zusätzlich dazu führen, dass allein deutsche Kreditinstitute noch weiter in dieser Hinsicht belastet werden. Von daher kann der Auffassung von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Bundesministerium der Justiz und Bundesfinanzministerium zugestimmt werden, dass diese Rechtsunsicherheit zügig beseitigt werden sollte. Der Vorschlag des Bundesministeriums der Justiz, der Grund, Trag- und Reichweite der Zulässigkeit des vertraglichen Liquidationsnettings im Einklang mit dem Zweck klarstellt, den bereits der Gesetzgeber der Insolvenzordnung bei der Schaffung von § 104 der Insolvenzordnung verfolgt hat, ist hierzu meines Erachtens sehr gut geeignet. Richard Pitterle (DIE LINKE): Den heute zur ersten Beratung vorliegenden Entwurf einer Änderung der Insolvenzordnung wollten Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren der Regierungskoalition, kürzlich noch überhastet über den Rechtsausschuss in einem anderen Gesetzgebungsvorhaben unterbringen. Es hat uns als Opposition viel Kraft gekostet, dieses Omnibusverfahren abzuwehren, aber anscheinend haben Sie inzwischen verstanden, wie der Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens im Grundgesetz geregelt ist. Nur zur Wiederholung für die Zukunft: Ausschüsse des Bundestages sind nach unserer Verfassung nicht berechtigt, Gesetzgebungsvorhaben einzubringen. Zur Sache. Vor wenigen Monaten gab es wieder mal ein kleines Beben in der Finanzwelt. Es braucht nicht viel Fantasie, um den Ursprung des Bebens zu lokalisieren: Termin- und Optionsgeschäfte, komplizierte Verträge, um Chancen sich verändernder Kurse wahrzunehmen oder Risiken sinkender Kurse zu minimieren. Mit anderen Worten: das übliche Finanzkasino, das die Welt schon häufiger an den Abgrund geführt hat. Auch diesmal war das Beben von einiger Stärke. Der Bundesgerichtshof urteilte, dass bestimmte, aber international übliche Vereinbarungen zwischen Spielern im Finanzkasino, die im Falle der Pleite eines Spielers gelten sollen – es geht um das sogenannte Liquidationsnetting –, gegen deutsches Insolvenzrecht verstoßen. Was undramatisch klingt, hatte weitreichende Konsequenzen. Aus Sicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen war mit dem Urteil nicht weniger als gleich die Stabilität der Finanzmärkte und das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte erschüttert, sodass sie per Dekret das Urteil befristet für unbeachtlich erklärte. Der Grund für diese Panik ist, dass die üblichen Verträge zwischen den Spielern im Finanzkasino für beteiligte Banken recht vorteilhaft sind, falls ein Spieler pleite ist. Geringeres Risiko für Banken heißt auch, geringere Vorsorge für den Ausfall. Mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofes war diese heile Welt erneut in Gefahr. Dafür wurde der BGH massiv angegriffen. Fachleute unterstellten dem für Insolvenzrecht zuständigen Senat sogar mangelnde Expertise. Es gehe schließlich um – Zitat – „knallhartes Bankrecht, eine Domäne, die dem 9. Zivilsenat des BGH üblicherweise verschlossen bleibt“. Der BGH habe die Praxis ignoriert und die Entscheidung hätte die Neuberechnung zahlloser Geschäftsvorfälle zur Folge, auch sei der Finanzstandort Deutschland in Gefahr. Diese Angriffe verkennen, dass die Rechtsprechung an geltende Gesetze gebunden ist und nicht an eine gewünschte Praxis. Die Vorschriften des Insolvenzordnung, namentlich §§ 104, 119 Insolvenzordnung, ließen keinen Raum für eine andere Entscheidung. Richtig an der Kritik ist allerdings, dass die europäische Finanzsicherheitenrichtlinie, die der BGH nicht einmal im Urteil erwähnt, geschweige denn geprüft hat, explizit den Schutz von derartigen Vereinbarungen im Insolvenzrecht fordert. Nur hat es der Gesetzgeber 2004 versäumt, das in der Insolvenzordnung richtig umzusetzen. Der vorliegende Entwurf will das nachholen. Den Anspruch, die Rechtslage zu vereinfachen, erfüllt der Gesetzentwurf aber nicht. Leersätze, die „den Grundgedanken einer gesetzlichen Regelung“ zum Maßstab machen, erzeugen genauso Rechtsunsicherheit wie die vielen Regelbeispiele. Systematisch sauberer wären Öffnungsklauseln in § 19 Insolvenzordnung und ein breiterer Ansatz, mit dem die seit Jahren umstrittenen insolvenzbedingten Lösungsklauseln auf eine solide Grundlage gestellt werden können. Auch wenn das Unionsrecht eine solche Regelung fordert, möchte ich abschließend festhalten: Wir halten diese Regelung für eine ungerechtfertigte Privilegierung des Finanzsektors zulasten anderer Gläubiger und für ein abzuschaffendes Relikt aus Hoch-Zeiten der Finanzmarktderegulation. Wir sind erst recht dagegen, derartige Ausnahmen für weitere Branchen zu schaffen. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei den vorgeschlagenen Änderungen des § 104 Insolvenzordnung geht es um die Privilegierung der Finanzindustrie bei der Abrechnung eines durch Insolvenz beendeten Rahmenvertrages durch sogenanntes Liquidationsnetting. Das hört sich kompliziert an, wie immer, wenn es um viel Geld geht. Gerade deshalb lohnt es sich genau hinzusehen. Worum geht es? Bei dem Handel mit Finanzprodukten, die als Termingeschäfte gehandelt werden, werden einzelne Transaktionen in einen Rahmenvertrag eingebunden. Darin liegt eine Vereinfachung und Standardisierung des Vertragsschlusses. Im Insolvenzfall stellt sich die Frage, wie sich viele, gegeneinander bestehende Erfüllungsansprüche zueinander verhalten. Zu diesem Zweck werden Aufrechnungsvereinbarungen geschlossen. Beim Liquidationsnetting werden verschiedene Transaktionen, wie Kauf und Verkauf von Derivaten, zwischen zwei Parteien in einem Rahmenvertrag zusammengefasst. Kommt es zur Insolvenz, werden die Transaktionen beendet, die Nichterfüllungsansprüche ermittelt und die positiven und negativen Werte gegeneinander aufgerechnet. Nur noch dieser Nettobetrag geht dann in die Insolvenzmasse ein. Bislang war es so, dass es für Finanzdienstleister durch diese Liquidationsnettingvereinbarungen möglich war, nur das Kreditrisiko des Nettobetrags der Forderungen mit Eigenkapital zu unterlegen. Dies führt zu erheblichen Einsparungen beim regulatorischen Eigenkapital. In einem Urteil vom Juni 2016 hat der Bundesgerichtshof nun entschieden, dass Vereinbarungen zur Abwicklung von Finanzmarktkontrakten unwirksam sind, soweit sie für den Fall der Insolvenz einer Vertragspartei Rechtsfolgen vorsehen, die von § 104 der Insolvenzordnung abweichen. Konkret ging es in dem Fall um einen Rahmenvertrag nach dem Muster des Bundesverbands deutscher Banken. Nach geltender Rechtslage ist nach § 104 der Insolvenzordnung für Fixgeschäfte und Finanzdienstleistungen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, das Wahlrecht des Insolvenzverwalters eingeschränkt; siehe § 103 der Insolvenzordnung. Er kann nicht Erfüllung verlangen. Dies soll die Insolvenzmasse vor einer Spekulation durch den Insolvenzverwalter schützen und eine schnelle Klärung der Rechtslage herbeiführen. Die Regeln für eine Aufrechnung im Insolvenzfall sind in § 104 Absatz 2 und 3 der Insolvenzordnung festgelegt. In der Praxis wurde von diesen Regeln in Rahmenverträgen regelmäßig abgewichen. Nachdem der Bundesgerichtshof diese Abweichung für rechtswidrig und damit für unwirksam erklärt hat, hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht durch eine bis Ende 2016 geltende Allgemeinverfügung entschieden, diese rechtswidrige Praxis nicht zu sanktionieren. Mit der jetzt vorliegenden Gesetzesänderung will die Bundesregierung die Abweichungen sogar explizit erlauben. Nun soll § 104 Absatz 4 des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz, InsO-E, den Parteien ermöglichen, durch vertragliche Vereinbarungen von den Regelungen des § 104 Absatz 1 und Absatz 2 InsO-E abzuweichen, damit unter anderem Großbanken wie die Deutsche Bank weiterhin in den Genuss geringerer Eigenkapitalanforderungen und geringerer Anrechnungsbeträge auf Großkreditgrenzen kommen. Grundsätzlich stellt sich die Frage, warum Finanzakteure im Insolvenzverfahren gegenüber anderen Gläubigern überhaupt privilegiert werden. Bereits jetzt ist die Finanzindustrie durch die Regelung des § 104 InsO privilegiert. Mit den nun vorgeschlagenen Änderungen soll diese Privilegierung noch ausgeweitet werden. Der Finanzinstrumentenbegriff wird ausgeweitet und zur Wertberechnung werden Risikomodelle zugelassen. Die Privilegierung einzelner Gläubigergruppen wurde mit der Konkursordnung abgeschafft, und das aus gutem Grund. Die Insolvenzmasse sollte nicht mehr durch einzelne, bevorzugte Gläubigergruppen aufgezehrt werden, sondern es sollte ausreichend Masse erhalten bleiben, mit dem Ziel, ein insolventes Unternehmen im besten Falle sanieren zu können. Daher gilt in der Insolvenzordnung als zentrales Prinzip der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung. Soll hier nun also ein weiteres Mal durch die Hintertür der Gläubigergleichbehandlungsgrundsatz ausgehebelt werden? Das erinnert doch alles sehr an die Debatten, die wir auch bei der Reform des Anfechtungsrechts führen, die übrigens immer noch auf Eis liegt. Allerdings haben sich hier scheinbar die Vorzeichen verkehrt. Während beim Anfechtungsrecht die einhellige rechtpolitische Auffassung herrscht, dass der Gläubigergleichbehandlungsgrundsatz auf keinen Fall zugunsten einzelner Gläubiger wie dem Fiskus oder der Sozialversicherung aufgeweicht werden soll, scheint die Koalition bei der Privilegierung der Finanzindustrie weniger Skrupel zu haben. Das Argument, Finanzstabilität sei höher zu bewerten als insolvenzrechtliche Grundsätze, verfängt nur auf den ersten Blick. Denn es ist zu bedenken, dass im Fall von Marktstörungen oder in anderen Fällen, in denen der Markt- oder Börsenpreis nicht bestimmt werden kann, für die Wertermittlung der Geschäfte auch Risikomodelle herangezogen werden können. Das sind hypothetische Modelle und finanzmathematische Gutachten, die die Werte von bestimmten Geschäftstypen dann aus dem Markt- oder Börsenwert anderer Geschäfte ableiten. In der Krise hat sich jedoch gezeigt, dass Risikomodelle fehleranfällig und leicht zu manipulieren sind. Wollen wir uns darauf wirklich verlassen? Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass in den Fällen, in denen die Berechnung durch den Gläubiger erfolgt, ein Interessenkonflikt besteht; denn er wird natürlich möglichst vorteilhaft für sich rechnen. Auch muss man sich fragen, wie groß die Bereitschaft ist, die Solvenz und Kreditwürdigkeit der Gläubiger zu prüfen, wenn nur die geringe Nettoforderung gefährdet ist. Wie ist es um die Finanzmarktstabilität bestellt, wenn der Zweck von Rahmenverträgen letztlich darin liegt, das regulatorische Eigenkapital kleinzurechnen? Das ist weder aus insolvenzrechtlicher Sicht noch mit Blick auf die Finanzstabilität vernünftig. Das Thema ist sicherlich komplex und für die Allgemeinheit schwer verständlich. Umso mehr werden wir darauf zu achten haben, dass sich hier nicht unbemerkt Sonderinteressen zulasten der Allgemeinheit im Gesetzgebungsverfahren durchsetzen. Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll Rechtssicherheit im Hinblick auf die Zulässigkeit und Insolvenzfestigkeit von vertraglichen Liquidationsnettingklauseln wiederhergestellt werden. Hierbei handelt es sich um Klauseln, die im Finanzmarkt üblicherweise in Rahmenverträgen für die Zusammenfassung und Abwicklung von Finanztermingeschäften verwendet werden. Sie sehen vor, dass die in einen Rahmenvertrag einbezogenen Einzelgeschäfte im Insolvenzfall beendet, in Nichterfüllungsforderungen umgewandelt und zu einer einheitlichen Gesamtforderung verrechnet werden. Für die Bestimmung der Nichterfüllungsforderung legen die üblichen Vertragsmuster Verfahren und Methoden fest, die von § 104 Insolvenzordnung abweichen. Die Insolvenzfestigkeit dieser Klauseln ist durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs infrage gestellt worden. Denn dieser hat am 9. Juni 2016 entschieden, dass Liquidationsnettingklauseln für den Fall der Insolvenz einer Vertragspartei unwirksam sind, soweit sie von § 104 Insolvenzordnung abweichen. Die Entscheidung hat erhebliche Rechtsunsicherheit hervorgerufen. Denn die Vertragsklauseln sind auf die bankenaufsichtsrechtlichen Anforderungen zugeschnitten, denen zur Abrechnung von Finanztermingeschäften genügt werden muss, damit die Banken in den Genuss geringerer Eigenkapitalanforderungen kommen. Erfüllen die Klauseln nicht die bankaufsichtsrechtlichen Anforderungen, können sich die Eigenkapitalanforderungen der Banken erhöhen. Dies kann für die Banken erhebliche nachteilige Auswirkungen haben. Zudem bedeutet die Unwirksamkeit der Klauseln, dass der Zugang von Unternehmen zu Finanzdienstleistungen möglicherweise erschwert und verteuert wird, auf welche diese zur Absicherung von finanzwirtschaftlichen Risiken wie Zinsänderungs- oder Wechselkursrisiken angewiesen sind. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung stellt daher klar, unter welchen Voraussetzungen die Vertragsparteien bei ihren Rahmenvereinbarungen von den Vorgaben in § 104 Insolvenzordnung abweichen können. Er bestimmt, dass Abweichungen zulässig sind, solange sie mit dem Grundgedanken der gesetzlichen Regelung vereinbar sind. Dieser Grundgedanke besagt, dass das Interesse des Vertragsgegners des Schuldners an einer unverzüglichen Klärung der Rechtslage schützenswert ist und dass deshalb die zwischen den Parteien bestehenden Geschäfte beendet, bewertet und miteinander verrechnet werden sollen. Mit diesem Grundgedanken sind auch vertragliche Regelungen vereinbar, welche den Beendigungszeitpunkt sowie die Modalitäten der Berechnung der Nichterfüllungsforderung betreffen. Der Entwurf enthält einen Beispielkatalog mit praxisrelevanten Klauselgegenständen, die mit dem Grundgedanken des Gesetzes vereinbar sind. Um künftigen Rechtsunsicherheiten vorzubeugen, klärt der Gesetzentwurf der Bundesregierung darüber hinaus weitere Zweifelsfragen zur Auslegung des § 104 Insolvenzordnung. Diese betreffen die Reichweite des Anwendungsbereichs der Vorschrift und die Anforderungen, die an Rahmenvereinbarungen zur Zusammenfassung einzelner Geschäfte zu stellen sind. Schließlich bezieht der Gesetzentwurf der Bundesregierung bislang nicht erfasste Warentermingeschäfte in den Anwendungsbereich des § 104 Insolvenzordnung ein. Um die Gefahren für die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Institute und Marktteilnehmer und für die Stabilität des deutschen Finanzsystems abzuwehren, sollten die vorgeschlagenen Regelungen möglichst schnell verabschiedet werden. 1)  Anlage 2 2)  Anlage 3 3)  Anlage 4 4)  Anlage 5 5)  Anlage 6 6)  Anlage 7 7)  Anlage 8 8)  Anlage 9 9)  Anlage 10 10)  Anlage 11 --------------- ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 196. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 196. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 20. Oktober 2016 19423 Plenarprotokoll 18/196