Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 200. Sitzung Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Inhalt: Tagesordnungspunkt 36: Dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften Drucksachen 18/8034, 18/8333, 18/8461 Nr. 1.5, 18/10280, 18/10056 19995 B Maria Michalk (CDU/CSU) 19995 D Birgit Wöllert (DIE LINKE) 19997 A Martina Stamm-Fibich (SPD) 19998 A Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 19999 A Dr. Karl Lauterbach (SPD) 20000 A Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20000 B Erich Irlstorfer (CDU/CSU) 20000 C Dr. Edgar Franke (SPD) 20001 C Stephan Albani (CDU/CSU) 20002 D Namentliche Abstimmung 20003 C Ergebnis 20006 C Tagesordnungspunkt 37: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Nationaler Bildungsbericht – Bildung in Deutschland 2016 und Stellungnahme der Bundesregierung Drucksache 18/10100 20004 A b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht zum Anerkennungsgesetz 2016 Drucksache 18/8825 20004 A c) Antrag der Abgeordneten Özcan Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nationaler Bildungsbericht – Bildungsinstitutionen zukunftsfest machen – Für eine gerechte und soziale Gesellschaft Drucksache 18/10248 20004 B Xaver Jung (CDU/CSU) 20004 B Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) 20009 A Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) 20011 A Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20012 C Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin BMBF 20013 B Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20015 B Hubertus Heil (Peine) (SPD) 20016 D Cemile Giousouf (CDU/CSU) 20018 D Dr. Karamba Diaby (SPD) 20020 B Dr. Wolfgang Stefinger (CDU/CSU) 20021 A Tagesordnungspunkt 38: Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Petra Pau, Martina Renner, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Umsetzung der Empfehlungen des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode zur Verbrechensserie des Nationalsozialistischen Untergrundes Drucksachen 18/6465, 18/9331 20022 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes – Aufenthaltsrecht für Opfer rechter Gewalt Drucksachen 18/2492, 18/10288 20022 B Petra Pau (DIE LINKE) 20022 B Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) 20023 B Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20024 D Uli Grötsch (SPD) 20025 D Thorsten Hoffmann (Dortmund) (CDU/CSU) 20027 B Frank Tempel (DIE LINKE) 20029 A Susann Rüthrich (SPD) 20030 A Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20031 C Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) 20032 B Frank Tempel (DIE LINKE) 20033 A Tagesordnungspunkt 39: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch Drucksache 18/10211 20034 A Anette Kramme, Parl. Staatssekretärin BMAS 20034 B Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) 20035 A Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) 20036 B Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 20037 C Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD) 20038 C Stephan Stracke (CDU/CSU) 20039 B Markus Paschke (SPD) 20040 C Nächste Sitzung 20041 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 20043 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Kerstin Griese und Dr. Eva Högl (beide SPD) zu der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 36) 20043 D Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Michaela Noll und Sabine Weiss (Wesel I) (beide CDU/CSU) zu der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 36) 20044 B Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zu der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 36) 20044 D Heike Baehrens (SPD) 20044 D Alexander Funk (CDU/CSU) 20045 A Hubert Hüppe (CDU/CSU) 20045 C Bernhard Kaster (CDU/CSU) 20046 A Matern von Marschall (CDU/CSU) 20046 B Markus Paschke (SPD) 20046 D Mechthild Rawert (SPD) 20047 A Kathrin Vogler (DIE LINKE) 20048 B Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) 20048 D Katrin Werner (DIE LINKE) 20049 A Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) 20049 B Anlage 5 Amtliche Mitteilungen 20049 C 200. Sitzung Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Beginn: 9.02 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie herzlich zu unserer 200. Sitzung. Ich hoffe, dass der Jubiläumscharakter dieser Plenarsitzung mindestens die Stimmung fördert, vielleicht auch die Tonlage besonders freundlich stimmt. Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt, während der Haushaltsberatungen, die wir in unserer nächsten Sitzungswoche abschließend durchführen, wie in den Haushaltswochen üblich, keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage von Montag, den 21. November 2016, bis Freitag, den 25. November 2016, festgelegt worden. Ich vermute, dass Sie alle damit einverstanden sind. – Ich stelle das hiermit fest. Damit ist auch der Ablauf der Haushaltswoche gesichert. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf: Dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften Drucksachen 18/8034, 18/8333, 18/8461 Nr. 1.5, 18/10280 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) Drucksache 18/10056 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung werden wir nachher namentlich abstimmen. Die in der zweiten Beratung am vergangenen Mittwoch beschlossenen Änderungen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung können Sie der Zusammenstellung in der Drucksache 18/10280 entnehmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch, also können wir so verfahren. Auf diesem Wege mache ich zumindest akustisch den größeren Teil der Kolleginnen und Kollegen, der noch nicht im Plenum ist, über die Lautsprecher in den Büros vorsichtshalber darauf aufmerksam, dass wir etwa gegen 9.40 Uhr die namentliche Abstimmung durchführen werden. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Maria Michalk (CDU/CSU): Schönen guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mir eine besondere Ehre, in dieser 200. Sitzung die erste Rede halten zu dürfen. Ich erinnere daran, dass wir Christen heute, am 11.11., den Martinstag begehen. Da sind Teilen und Nächstenliebe in unserem Kopf und in unseren Ohren, und mit diesem Duktus möchte ich gern jetzt meine Rede halten. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Und in unseren Herzen!) – In den Herzen sowieso, lieber Kollege Tino Sorge. – Ich glaube, es ist wichtig, mit diesem Duktus die dritte Lesung zu einem Gesetz zu beginnen, nämlich, kurz gesagt, der vierten AMG-Novelle, die viele Dinge beinhaltet, die uns in der zweiten Lesung sehr stark beschäftigt haben, aber auch Einzelregelungen für den Arzneimittelmarkt und die Gesundheitspolitik insgesamt, auf die ich dann kurz eingehen möchte. Es ist wichtig, festzustellen, dass wir uns gerade für dieses Gesetz, das die Umsetzung einer EU-Verordnung darstellt, sehr viel Zeit genommen haben, uns intensivste Beratungen – inhaltlich, auch zeitlich – genehmigt haben; das war wichtig und richtig. Deshalb liegt uns heute eine Beschlussempfehlung vor, über die wir namentlich abstimmen werden. Als Christin werde ich ihr guten Gewissens zustimmen; das sage ich gleich am Anfang. Uns ist wichtig, zu sagen, dass es ein nicht alltäglich vorkommendes Verfahren ist; denn in der Regel haben wir die zweite und dritte Lesung in einem Block. Insofern finde ich es unfair, wenn immer noch laut gesagt wird, dieses Gesetz sei nicht ordentlich beraten worden. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sagt das denn?) Ich stelle fest: Das kann von denjenigen im Parlament, die bei diesem Prozess dabei waren, niemand behaupten. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Regeln in diesem Gesetz umfassen unter anderem Vorgaben aus der EU-Verordnung, deren Umsetzung notwendig ist; denn wenn wir sie nicht geregelt hätten, griffe sofort die EU-Verordnung durch, und das würde unseren Standards, vor allen Dingen unseren ethischen Standards, nicht entsprechen. Wir sind eines der wenigen Länder der Europäischen Union, die dieses Recht wahrnehmen. Ich möchte Ihnen aber trotzdem in Erinnerung rufen, dass in diesem Gesetz ganz wichtige Dinge enthalten sind, zum Beispiel die Regelung des Status des Apothekers; das stellen wir klar. Die Änderung der Bundes-Apothekerordnung, also im Grunde genommen der Berufsordnung, die klare Vorgaben vorsieht, ist Bestandteil dieses Gesetzes. Das ist gerade in dieser Zeit ganz wichtig. Ich möchte auch darauf hinweisen: Wir haben mit Änderungen an mehreren anderen Gesetzen die Telemedizin, die Nutzung von elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten, erlaubt und geregelt. Aber – das ist uns mit Blick auf die Zukunft wichtig – in diesem Gesetz legen wir unter anderem auch fest, dass die Verschreibung und die Abgabe von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln nur möglich sind, wenn zuvor wenigstens ein erster Arzt-Patienten-Kontakt stattgefunden hat. Es ist uns wichtig, diese Vertrauensbasis zwischen Patienten und Arzt in den Mittelpunkt zu stellen. Ansonsten können die Möglichkeiten der modernen Kommunikation genutzt werden. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass Teleshopping und auch das Werben für Teleshopping in Deutschland nicht gewünscht, nicht erlaubt sind. Wir haben im parlamentarischen Verfahren besonders geregelt, welche Maßnahmen im Falle von gefälschten Arzneimitteln ergriffen werden müssen – wir denken immer, das käme nicht vor, aber es kommt leider doch immer wieder vor –, und sehen ein klares Rückgriffsrecht und Verfolgungsrecht vor. Auch das ist Bestandteil des Gesetzes. In dem Gesetz wird noch einmal klargestellt, wie das Verhältnis der Arbeit der Ethikkommissionen ist. Wir haben die Bundesbehörden, und wir haben die Landesethikkommissionen, die in einem Stufenverfahren miteinander in Abstimmung stehen. Wir regeln auch, dass von den drei Ärzten, die in diesen Ethikkommissionen sein müssen, mindestens einer ist, der sich mit toxikologischen Dingen auskennt, und mindestens einer ist, der Erfahrung in klinischer Forschung hat. Das ist deshalb wichtig, weil der Kern dieses Gesetzes ja darauf abzielt: Unter welchen Voraussetzungen sind klinische Forschungen an nicht einwilligungsfähigen Personen, die keinen eigenen Nutzen davon haben, möglich? Einerseits wollen wir und schaffen wir jetzt ganz strenge Verfahren und Mechanismen, unter welchen Voraussetzungen das in Deutschland ermöglicht wird. Ich füge hinzu: Uns als Union ist es wichtig, dass auch in Deutschland für Krankheiten, die wir heute kennen, aber auch für Krankheiten, die heute in unseren Köpfen noch nicht so präsent sind, für Stadien, die sich später entwickeln – es ist nicht nur die Demenzerkrankung, die im späten Stadium in unterschiedlichen Formen auftritt; es sind auch andere Krankheiten –, Medikamente gefunden werden, die für die betroffenen Menschen eine Heilung oder eine Leidlinderung ermöglichen. Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn Menschen sagen: Ich habe Angehörige zu Hause oder Freunde, die ganz schwer erkrankt sind und die in diesen Situationen der Demenz auch das Umfeld beeinflussen; sie leben ja in ihrer eigenen Welt. Viele sagen: Ich möchte, dass dafür geforscht wird, damit die Krankheit abgewendet werden kann, die Menschen geheilt werden oder zumindest die Symptome behandelt werden können, damit die Krankheit einen menschlicheren Verlauf hat. Das ist uns wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich sage auch: Es ist freiwillig. Niemand muss es machen. Selbst wenn jemand eingewilligt hat, kann er jederzeit seine Einwilligung zurückziehen. Das kann er auch, wenn er nicht mehr im vollen Bewusstsein seines Geistes ist, wenn er in dieser nebulösen Welt lebt. Durch körperliche Bewegung, durch Abwehrhaltung kann man genau erkennen, was dem Menschen guttut und was er nicht will. Wir regeln, dass die betroffenen Angehörigen bzw. – Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin Michalk. Maria Michalk (CDU/CSU): – sofort – (Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN) auch die Betreuer genau diesen Wunsch des erkrankten Menschen zu respektieren haben. Deshalb ist es ein gutes Gesetz. Wir senken nicht die Standards. Ich bitte herzlich um Ihre Zustimmung. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich bitte um Verständnis, dass ich trotz der Jubiläumssitzung nicht jedem Redner eine deutlich erweiterte Redezeit zubilligen kann. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Aber Frau Michalk schon!) Die Kollegin Wöllert ist die Erste, die dieser Hinweis trifft. Das gilt aber auch für alle nachfolgenden Redner. Bitte schön. (Beifall bei der LINKEN) Birgit Wöllert (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident, ich gebe mir große Mühe, diesen Hinweis zu beachten. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Zuschauertribünen! „Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften nach Europarecht“ ist ja ein ziemlich sperriger Titel, und kaum einer kann sich vorstellen, worüber wir denn bei diesem Tagesordnungspunkt eigentlich reden. Aber es ist etwas, was uns alle angeht. Es geht nämlich darum: Wie wird medizinischer Fortschritt auch künftig gesichert, und wie ist er mit dem Schutz von Menschen in Einklang zu bringen, die an Studien teilnehmen, um diesen Fortschritt zu ermöglichen? Um nicht mehr und nicht weniger geht es heute. Wir haben am Mittwoch 90 Minuten zu einem Ausschnitt aus diesem Gesetz diskutiert. Es war eine der Sternstunden der Diskussion – so stand in einer Zeitung –, weil freigegeben würde, wie sich die einzelnen Abgeordneten verhalten. Deshalb werde ich heute auf diesen Punkt nicht mehr eingehen. In den fünf Minuten, die mir zur Verfügung stehen, möchte ich über die vielen anderen wichtigen Aspekte im Gesetz sprechen, die auch heute zur Abstimmung stehen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Klinische Prüfungen sind immer ethisch sensibel. Das öffentliche Interesse am medizinischen Fortschritt muss gegen die Risiken für die Menschen, die an Versuchen oder an Forschungsreihen teilnehmen und sich freiwillig zur Studienteilnahme bereit erklärt haben, abgewogen werden. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Dafür macht man ja dieses Gesetz!) Umso wichtiger ist das Vertrauen in der Bevölkerung, dass die Gesundheit der sogenannten Probandinnen und Probanden – so nennt man diese Teilnehmer – nicht unnötig aufs Spiel gesetzt wird. Ein durchweg hohes Schutzniveau für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu gewährleisten, bedeutet, dass in jedem einzelnen Fall eine unabhängige ethische Abwägung getroffen werden muss. Das bedeutet auch, Menschen zu gewinnen, die freiwillig und gut informiert ihre Zustimmung zur Teilnahme an einer Studie geben. Jede Studie, die sich mit einer anderen doppelt, ist ethisch hochproblematisch; denn Risiken für die Studienteilnehmer und -teilnehmerinnen wären vermeidbar. Auch aus diesem Grund ist die Forderung nach einem umfassenden Studienregister in diesem Gesetz so wichtig. (Beifall bei der LINKEN) Aber leider haben Pharmaunternehmen nach wie vor die Möglichkeit, unliebsame Studienergebnisse der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Das ist eine verpasste Chance. Das ist das Gegenteil von Transparenz, die für Vertrauen unabdingbar ist. (Beifall bei der LINKEN) Auch der marketingorientierte Missbrauch von Beobachtungsstudien bleibt weiter möglich und kann die klinische Forschung daher eher diskreditieren oder in Verruf bringen, wie man so schön sagt. Das bringt für den gesamten Forschungsbereich mehr Schaden als medizinischen Fortschritt. (Beifall bei der LINKEN) Durch das Gesetzgebungsverfahren hatten wir die Chance, bekannte Missstände abzubauen und damit das Vertrauen in die Forschung zu erhöhen. Die Änderungen bei den Meldevorgaben begrüßen wir, doch leider lösen sie das eigentliche Problem nicht. Der Probandenschutz ist in Deutschland grundsätzlich gut ausgeprägt. Sicher trägt das auch dazu bei, dass Deutschland zu den Spitzenreitern bei der Durchführung von klinischen Studien gehört. Umso mehr müssen alle Regelungen sehr kritisch hinterfragt werden, die das Vertrauen in die ethische Beurteilung beschädigen könnten. Ohne Not werden in diesem Gesetz Schritte unternommen, ein gut funktionierendes System in eine problematische Richtung zu verändern. Die zustimmende Empfehlung der Ethikkommission hätte deshalb verbindlicher Teil des Genehmigungsprozesses bleiben müssen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Warum es eine Verordnungsermächtigung für die Einrichtung einer Bundesethikkommission geben soll, erschließt sich nun gar nicht. In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt, eine solche Kommission würde nur gebraucht, wenn nicht genug Landesethikkommissionen registriert sind. Warum, zum Teufel, trauen Sie auf einmal den bisher hervorragend arbeitenden Landesethikkommissionen nicht mehr? (Beifall bei der LINKEN) Sowohl die schwächere Bindung an das Votum einer Ethikkommission als auch die Drohkulisse der Einrichtung einer Bundesethikkommission wird die Länderethikkommissionen spürbar unter Druck setzen. Die Regelungen, die nichtklinische Forschungen betreffen, sind aus unserer Sicht in Ordnung. Wir begrüßen etwa das Verbot der Abgabe von Arzneimitteln über Teleshopping und die Neudefinition des Apothekerberufs. Es lagen uns 17 Änderungsanträge der Koalition vor. In einem Großteil davon wird die Kritik des Bundesrates ernst genommen. Positiv hervorzuheben sind die vorgeschriebene Zusammensetzung der Ethikkommissionen, – Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Birgit Wöllert (DIE LINKE): – Vorgaben für die Meldung von Beobachtungsstudien und die Möglichkeit, dass der Ethikkommission Auflagen gemacht werden. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Birgit Wöllert (DIE LINKE): Ich komme wirklich zum Schluss. Präsident Dr. Norbert Lammert: Aha. (Heiterkeit) Birgit Wöllert (DIE LINKE): Bei der Einbringung des Gesetzentwurfes sagte meine Kollegin Kathrin Vogler: Es gibt hier noch viel Änderungsbedarf. – Einiges davon wurde im Gesetzgebungsverfahren umgesetzt, vieles hätten wir uns noch gewünscht. Das Glas ist nicht halb voll und nicht halb leer. Deshalb empfehlen wir: Enthaltung. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Stamm-Fibich das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Martina Stamm-Fibich (SPD): Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Besucher auf der Tribüne! Diese Woche steht voll und ganz im Zeichen des Themas „Arzneimittel und Gesundheit“. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns schon einmal in einer Woche so oft im Plenum zusammengefunden haben. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Zum Thema Gesundheit! Sonst schon!) Wir sind fleißig: Am Mittwoch haben wir über die gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen debattiert. Ich denke – da gebe ich der Kollegin Wöllert recht –, das war eine ordentliche und anständige Debatte. Über die vorliegenden Änderungsanträge wurde abgestimmt. Auch ich hätte mir ein anderes Ergebnis gewünscht; aber so ist das in der Demokratie, und die Debatte stand diesem Haus gut an. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das gilt auch in Amerika, dass das Demokratie ist!) Gestern folgte die erste Lesung des Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetzes. Heute kommen wir zu Teil drei, zur dritten Lesung des Entwurfs des Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, kurz: AMG-Novelle. Auch ich finde diesen Begriff recht sperrig. Vieles in diesem Gesetzentwurf ist unstrittig und wird erhebliche Verbesserungen in unserer Versorgungslandschaft mit sich bringen. Aus meiner Sicht ist die Debatte über die gruppennützige Forschung ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dass Fragestellungen nicht nur politisch angegangen werden, sondern auch möglichst frühzeitig gesellschaftlich debattiert werden. Ich möchte zwei Punkte aus diesem Gesetzentwurf herausgreifen, über die es sich nachzudenken lohnt. Laut einer aktuellen Umfrage können 94 Prozent der Apotheker mehrmals pro Woche Medikamente nicht auftreiben. Dann heißt es auf den Zetteln an den leeren Regalfächern und in den Medikamentenlagern: Hersteller defekt. Besonders davon betroffen sind die Impfstoffe. Acht sind es laut einer aktuellen Liste des Paul-Ehrlich-Instituts mit Humanimpfstoffen, bei denen es Lieferengpässe gibt. Diese Liste beruht bislang auf einer freiwilligen Meldung der Arzneimittelhersteller. Doch Lieferengpässe können Leben gefährden; denn Krankheiten richten sich nicht nach der Verfügbarkeit von Arzneimitteln auf dem Markt. Mit dieser AMG-Novelle schaffen wir nun die Rechtsgrundlage für mehr Transparenz über die verfügbaren Arzneimittel. Die Ständige Impfkommission und die medizinischen Fachgesellschaften sollen künftig Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Lieferengpässen geben können. Das ist richtig und wichtig; denn wer nicht weiß, was fehlt, kann auch keine Schritte zur Vermeidung von Lieferengpässen in die Wege leiten. Transparenz und die Veröffentlichung von Informationen sind ein wichtiger Schritt, um Versorgungsengpässe künftig zu vermeiden. Bis zuletzt habe ich mich in der Debatte über diesen Gesetzentwurf für die Abschaffung des Fernverschreibungsverbots eingesetzt. Ich bleibe dabei, dass ohne Notwendigkeit eine berufsrechtliche Regelung zur Fernbehandlung in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass eine Abgabe von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln nicht erfolgen darf, wenn vor der ärztlichen Verschreibung kein direkter Kontakt zwischen dem Arzt und der Person, für die das Arzneimittel verschrieben wird, stattgefunden hat. Hiervon darf in begründeten Fällen jedoch abgewichen werden, insbesondere wenn die Person dem Arzt aus vorangegangenen Kontakten hinreichend bekannt ist und es sich um eine Wiederholung oder Fortsetzung der Behandlung handelt. Dem Wortlaut des Gesetzentwurfs nach muss es zunächst einen nicht definierten begründeten Ausnahmefall geben. Erst dann greift die Wiederholung oder Fortsetzung. Aus meiner Sicht kann das im Fall einer Schmerztherapie durchaus hinderlich sein. Durch diese Koppelung wird bereits eine leichte Dosiserhöhung ausgeschlossen. Die Neuregelung in § 48 Arzneimittelgesetz weitet damit das ärztliche Berufsrecht auf weitere Leistungserbringer aus, nämlich auf die Apotheker. Sie werden so nicht wollend zu einer Kontrollinstanz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, kann der Apotheker an der Nasenspitze erkennen, ob ein Patient vorher beim Arzt war? Nein, das kann er nicht. Aus meiner Sicht ist die Telemedizin ein wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung, Verbesserung und Verkürzung von Versorgungswegen, gerade vor dem Hintergrund des demografischen Handelns. (Beifall bei der SPD) Erst vor knapp einem Jahr haben wir das E-Health-Gesetz verabschiedet und uns ausdrücklich zum Potenzial digitaler Anwendungen für die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der Patientenversorgung bekannt. Dies ist besonders in ländlichen Regionen von Relevanz, in denen Fahrtwege zu Ärzten und Wartezeiten zunehmend zu Zugangshürden werden. Ich kann bis heute nicht verstehen, warum dieses Verbot es ins Gesetz geschafft hat. Ich halte dieses Verbot von Fernverschreibungen für nicht zielführend. Ansonsten, glaube ich, dass wir mit der vierten AMG-Novelle ein gutes Gesetz gemacht haben, das für viele Verbesserungen in diesem Land sorgen wird. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Schulz-Asche für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe, dass Sie heute Morgen beim Frühstück den Kommentar von Jan Heidtmann in der Süddeutschen Zeitung gelesen haben, der sich noch einmal mit dem Thema befasst, über das wir hier am Mittwoch namentlich abgestimmt haben, nämlich mit der Frage, inwieweit die Forschung mit Menschen, mit Erwachsenen, die nicht mehr einwilligungsfähig sind, erleichtert werden soll, wenn sie keinen individuellen Nutzen mehr davon haben. Die Mehrheit dieses Hauses hat am Mittwoch ein Gesetz gebrochen: Wenn man bewährte Gesetze hat, sollte man diese nicht ändern. Das ist hier leider geschehen. Ich fordere Sie weiterhin auf, dafür zu sorgen, dass das derzeitige hohe Schutzniveau, das wir in Deutschland haben, erhalten bleibt. Ich bitte Sie, mit Nein zu stimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Nun werden einige von Ihnen sagen: Wir haben bei uns in den Bundesländern Ethikkommissionen, die sich ohnehin damit befassen. Sie begutachten diese ganzen Arzneimittelstudien. Sie machen eine super Arbeit. Ihre Kompetenzen werden durch das Gesetz noch ausgeweitet. – Aber wenn Sie das Gesetz richtig gelesen haben, dann wissen Sie, dass die Ethikkommissionen, so wie wir sie kennen – sie leisten vorbildliche Arbeit in allen Bundesländern –, durch dieses Gesetz entmachtet werden. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Aha!) – Dann lesen Sie einmal das Gesetz. – Künftig soll das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte mit einer entsprechenden Begründung vom Votum einer Ethikkommission abweichen (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist die absolute Ausnahme! Stimmt doch nicht!) und eine Studie unabhängig von der Stellungnahme und Entscheidung einer Ethikkommission zulassen können. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie heute mit Nein, damit die Genehmigung einer klinischen Studie weiterhin von der positiven bindenden Stellungnahme der zuständigen interdisziplinären und unabhängigen Ethikkommission abhängig bleibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wir brauchen klinische Studien, damit der medizinische Fortschritt bei den Menschen ankommt. Aber wir brauchen auch Vertrauen in Forschung. Das bindende Votum von Ethikkommissionen trägt hierzu bei. Die Ethikkommissionen haben für dieses Vertrauen gesorgt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Mit diesem Gesetz zerstören Sie in mehrfacher Hinsicht das Vertrauen in die Forschungslandschaft in Deutschland. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ha! Ha!) Zum Verbot von Fernbehandlungen und Fernverschreibungen hat Frau Stamm-Fibich alles gesagt. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!) Die Tatsache, dass die SPD an der Stelle geklatscht hat, führt vielleicht dazu, dass Sie das Gesetz ablehnen werden. Ich möchte noch auf ein Thema eingehen, das Sie nicht angehen, und zwar die sogenannten Anwendungsbeobachtungen. Die Bundesregierung versäumt zum wiederholten Male – sie lässt die Chance erneut verstreichen –, die Korruptionsanfälligkeit solcher Studien zu beheben. Solche Studien sind intransparent in Bezug auf die beteiligten Ärztinnen und Ärzte und auf die mögliche Beeinflussung von Verschreibungsverhalten. Zuletzt hat eine gemeinsame Recherche von Correctiv, NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung gezeigt, in welchem Ausmaß Pharmaunternehmen mithilfe von Anwendungsbeobachtungen Einfluss auf Ärztinnen und Ärzte nehmen. Was ist mit der Aufklärungspflicht gegenüber den Patientinnen und Patienten? Die Bundesregierung ist bisher nicht gewillt, diese Lücke zu schließen und Transparenz bei Anwendungsbeobachtungen zu schaffen sowie zur Gewährleistung von Patientensicherheit beizutragen. Herr Lauterbach hat kürzlich ein Interview – es umfasst zwei Seiten – zu den Anwendungsbeobachtungen gegeben. Es trägt die Überschrift: Das ist eine Form der legalen Korruption. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Herzlichen Glückwunsch! Wieder alle unter Generalverdacht gestellt!) Ich frage Sie, wie Sie hier als mitregierende Fraktion heute einen Gesetzentwurf verabschieden wollen, in dem Sie genau dieses Thema nicht aufgreifen, in dem Sie die Korruptionsanfälligkeit dieser Anwendungsbeobachtungen nicht angehen. Das ist meine Frage. Auch deswegen werden wir mit Nein stimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Meine Damen und Herren, der Arzneimittelbereich ist in großer Bewegung. Wir haben es mit vielen Innovationen zu tun und stehen vor großen Herausforderungen. Umso wichtiger ist es, dass wir die Unabhängigkeit von Forschung und die Patientenrechte in den Mittelpunkt stellen. (Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Wir sind uns der hohen Bedeutung klinischer Prüfungen bewusst. Das Gesetz zerstört aber Vertrauen, wo wir Vertrauen brauchen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt Kurzintervention!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Zu einer Kurzintervention erhält Herr Lauterbach das Wort. Machen Sie es aber bitte wirklich kurz, Herr Lauterbach. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Weil ich erwähnt wurde, will ich zum einen darauf hinweisen, dass ich in diesem Interview im Kölner Stadt-Anzeiger, das angesprochen wurde, ganz konkrete Vorschläge dazu unterbreitet habe, wie man dem Problem des Missbrauchs der Anwendungsbeobachtungen begegnen kann. Die Legislaturperiode läuft ja noch. Zum anderen möchte ich sagen: Das Gesetz, das wir heute beschließen, (Maria Michalk [CDU/CSU]: Hat damit gar nichts zu tun!) beschäftigt sich nicht mit dem Problem, das im Interview angesprochen wurde. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Das heißt, wer lesen kann, ist klar im Vorteil!) Darin ging es nicht um dieses Problem. Es kann nicht angehen, dass hier der Eindruck erweckt wird, als ob ich dort das Gesetz, das wir heute auch mit meiner Stimme beschließen werden, aufgrund von Unvollständigkeit kritisiert hätte. Präsident Dr. Norbert Lammert: Okay. – Frau Kollegin Schulz-Asche noch einmal. Bitte schön. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Kollege Lauterbach, Sie haben recht, dass das in dem vorgelegten Gesetzentwurf tatsächlich nicht enthalten ist. Das habe ich gerade ja auch kritisiert. Das Arzneimittelgesetz, das heute geändert wird, enthält allerdings die Regelungen zur Anwendungsbeobachtung, und mein Vorwurf war genau, dass Sie dieses Thema in diesem Gesetzentwurf eben nicht aufgegriffen haben. Deswegen werden wir mit Nein stimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich halte das einmal als vorbildliches Beispiel für eine Kurz-Intervention fest und empfehle das als leuchtendes Beispiel für ähnliche Annäherungen an diese Möglichkeit unserer Geschäftsordnung. (Heiterkeit im ganzen Hause – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Jetzt hat der Kollege Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach gründlichen Beratungen und intensiv geführten Debatten beschließen wir heute das Vierte Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften. Darin setzen wir unter anderem den Grundstein für die Weiterentwicklung hochwertiger klinischer Studien. Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wir nicht nur beiläufig Anpassungen an die beiden EU-Verordnungen über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln vor, sondern bringen wir auch richtungsweisende Entscheidungen auf den Weg. An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten parteiübergreifend noch einmal für den konstruktiven Austausch danken. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit den beschlossenen Regelungen zur gruppennützigen Forschung einen wichtigen Schritt in Richtung Forschungsförderung getan haben, ohne unsere hohen Schutzstandards, verehrte Kollegin Schulz-Asche, in Deutschland zu gefährden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Ich bitte Sie deshalb darum: Schüren Sie weder Angst noch Verunsicherung. Ich glaube, dass ist nicht angebracht. Gerade bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Demenzen entstehen bei den Betroffenen Veränderungen im Verhalten und Erleben, die in späteren Stadien oft Angst, Agitation und Aggression mit sich bringen, also ganz andere Erscheinungen als bei leichten Demenzen. Aus diesem Grund bin ich der Auffassung, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass eine Forschung mit ausschließlich leicht Erkrankten nicht ausreicht, weil die Ergebnisse nicht auf die Behandlung im fortgeschrittenen Stadium anwendbar sind. Wie die Redner, die am Mittwoch für den beschlossenen Änderungsantrag gesprochen haben, bereits klargestellt haben, werden auch in Zukunft nichteinwilligungsfähige Patienten in Deutschland nicht an fremdnützigen Studien teilnehmen dürfen. Bei gruppennützigen Studien wollen wir Patienten aber die Möglichkeit geben, in einem frühen Stadium selbst zu entscheiden, ob sie zum Nutzen anderer Betroffener an ihnen teilnehmen wollen. Und es bleibt dabei, dass nichteinwilligungsfähige Patienten zu jeder Zeit aus gruppennützigen Forschungsstudien aussteigen können, wenn sie ihren Unwillen kundtun. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Die Voraussetzungen, meine sehr geehrten Damen und Herren, für eine solche Entscheidung der Betroffenen sind ganz klar und auch streng geregelt, sodass wir hier aus meiner Sicht weder ein ethisches noch ein praktisches Problem haben. Deshalb vertreten wir diese Lösung. Ein anderer Aspekt, der mir ein wichtiges Anliegen ist und der in den vergangenen Tagen in der politischen Debatte etwas in den Hintergrund rückte, ist der Patientenschutz, der durch dieses Gesetz auch weiterhin gestärkt wird. Mit der Umsetzung der AMG-Novelle setzen wir für die Diagnose und die Indikation bei einem Menschen einen direkten Arzt-Patienten-Kontakt voraus. Das bedeutet natürlich nicht, liebe Kollegen, dass wir uns Innovationen und der Digitalisierung im Gesundheitswesen verschließen wollen. Ganz im Gegenteil: Wir sehen in der Telemedizin die Chance, den Zugang zu innovativen Therapien und neuen Beratungsleistungen für Patienten zu verbessern. Wir haben im E-Health-Gesetz aber einen behutsameren Ansatz gewählt: Es sollen erst einmal die notwendigen IT-Strukturen geschaffen werden, bevor der Markt von Unternehmen aufgerollt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, ich spreche auch in Ihrem Namen, wenn ich sage, dass die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen hinsichtlich Dynamik, aber auch hinsichtlich des Abbaus bürokratischer Hürden noch erhebliche Ausbaupotenziale in sich trägt. Nichtsdestotrotz bin ich der festen Überzeugung, dass ein direkter Arzt-Patienten-Kontakt für die erste Diagnose und medizinische Beratung eines Menschen unabdingbar ist. Es hat seinen Grund, warum der direkte Arzt-Patienten-Kontakt jeher die Grundlage jeglicher Therapieentscheidung war und auch bleiben wird. Wir können auch nicht – ganz zu Recht – bei jeder Gelegenheit die Stärkung der sprechenden Medizin fordern und dann bei so einer grundsätzlichen Frage wie der Verschreibung von Arzneimitteln komplett auf echten zwischenmenschlichen Kontakt und die therapeutischen Effekte der Arzt-Patienten-Begegnung verzichten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit der jetzt gefundenen Regelung stärken wir die Sicherheit der Patienten, indem wir dem Risiko der Fehldiagnosen aus der Ferne begegnen; denn in einer Onlinevideosprechstunde kann der Patient zwar seine Beschwerden äußern, aber der Arzt kann diese bisher weder überprüfen noch immer mögliche Begleiterscheinungen erkennen. Wir würden als Gesetzgeber Risiken für beide Seiten billigend in Kauf nehmen, was aus meiner Sicht äußerst fragwürdig wäre. Meine sehr geehrten Damen und Herren, am Mittwoch haben wir über die strittigen Punkte des Gesetzentwurfes eine Entscheidung herbeigeführt. Die übrigen Abschnitte der AMG-Novelle halte ich für nicht kontrovers. Sie bringen wichtige Klarstellungen der Rechtslage. Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetz. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege Edgar Franke. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Dr. Edgar Franke (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich in Richtung von Frau Schulz-Asche, die die Anwendungsbeobachtungen angesprochen hat, sagen, dass wir in diesem Haus mit dem § 299a im StGB einen eigenen Tatbestand der Bestechlichkeit im Gesundheitswesen geschaffen haben. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht für die Anwendungsbeobachtungen!) Viele Tatbestände sind in diesem Paragrafen geregelt. Das war ein Erfolg für die Lauterkeit im Gesundheitswesen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Das möchte ich ausdrücklich hier betonen, weil es wirklich schwierig war, das auch durchzusetzen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden in erster Linie Anpassungen im Arzneimittelrecht vorgenommen. Es geht um klinische Prüfungen und Humanarzneimittel. Das haben schon mehrere gesagt, auch die Kollegin Stamm-Fibich hat darauf hingewiesen. Ich möchte noch einmal drei Aspekte erwähnen. Der erste Aspekt ist ein ganz wichtiger: Arzneimittelsicherheit. Mit diesem Gesetz wollen und werden wir sicherstellen, dass ein begründeter Fälschungsverdacht ausreicht – auch Maria Michalk hat darauf hingewiesen –, um ein Arzneimittel wieder vom Markt zu nehmen. Es ist momentan wirklich so, dass überall gefälscht wird, dass gefälschte Arzneimittelpackungen in legale Vertriebsketten kommen, nicht in erster Linie in Deutschland, vor allen Dingen aber in Europa. In ganz vielen Fällen haben Kriminelle sich, teilweise sogar aus dem Internet, Druckvorlagen von Pharmafirmen beschafft. Das ist ein Problem, das wir in der Praxis haben. Denn mit bloßem Auge kann man die Fälschungen nicht erkennen. Die WHO schätzt den Anteil der Fälschungen auf 10 Prozent. Gerade in der Onkologie, wo Zytostatika eingesetzt werden, geht es um Leben und Tod; es ist ganz wichtig, dass wir hier handeln. Wir haben eine gute Regelung geschaffen, meine sehr verehrten Damen und Herren, und sie wird auch wirksam sein. Denn der Rückruf ist darin ausdrücklich geregelt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Wir packen ein weiteres Problem an. Wir alle wissen, dass immer wieder darüber geklagt wird, dass nicht ausreichend Medikamente und gerade auch Impfstoffe zur Verfügung stehen. Jetzt ist Herbst, und bald fängt der Winter an. Wir schaffen insofern Transparenz, als die Ständige Impfkommission und auch medizinische Fachgesellschaften künftig Handlungsempfehlungen geben können. Das brauchen die Patienten; denn die Patienten müssen sicher sein, dass sie im Krankheitsfall Medikamente bekommen; die Patienten müssen sicher sein, dass sie mit wirksamen Impfstoffen geimpft werden. Das ist eine wirklich gute Regelung, liebe Kolleginnen und Kollegen, die wir in den Gesetzentwurf aufgenommen haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede noch einmal auf einen strittigen Punkt zurückkommen: die beabsichtigte Zulassung gruppennütziger Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der EU war bewusst, dass gerade wir Deutschen aufgrund unserer Vergangenheit sehr sensibel mit Forschung an Menschen umgehen müssen, die ihren Willen nicht mehr eindeutig mitteilen können. Deshalb hat sie auch den nationalen Parlamenten einen breiten Spielraum eingeräumt. Seit dem Frühsommer haben wir in diesem Hause im Ausschuss, aber auch öffentlich ganz, ganz engagiert das Für und Wider diskutiert. Ich finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Diskussionen nicht nur in den Anhörungen im Gesundheitsausschuss haben gezeigt, dass wir uns ernsthaft und mit Niveau und in der Tiefe mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben. Wir haben vergangenen Mittwoch mehrheitlich entschieden – auch das hat Frau Schulz-Asche angesprochen –, dass nichteinwilligungsfähige Menschen an gruppennützigen Studien teilnehmen können, wenn sie im gesunden Zustand, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ihre Einwilligung zur Teilnahme erklärt haben. Dabei setzen wir enge Grenzen, wann die Teilnahme erlaubt ist und welche Untersuchungen im Rahmen einer solchen Studie möglich sind. Zunächst schreiben wir eine verpflichtende ärztliche Aufklärung über alle Risiken einer Studienteilnahme vor. Dann muss auch noch eine eigenständige schriftliche Einwilligung abgegeben werden. Man kennt zwar den Forschungsinhalt einer künftigen Studie dann noch nicht, aber auch die Betreuer müssen später umfassend aufgeklärt werden, bevor sie für den Betreuten in die konkrete klinische Prüfung einwilligen. Man hat also noch eine Hürde eingebaut. Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist eine gute Regelung. Es ist auch eine ausgewogene Regelung für die Wissenschaft. Für mich bedeutet diese Entscheidung, dass ich jederzeit die Möglichkeit zur Ausübung meines Selbstbestimmungsrechtes habe, das im Grundgesetz verankert ist. Jeder hat ja nach Artikel 2 Grundgesetz das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Dies ist nicht geringzuschätzen: Es ist eines der Grundrechte in unserem Grundgesetz. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Martina Stamm-Fibich [SPD]) Eine Beschneidung dieses Freiheitsrechts, das ganz vorne im Grundgesetz steht, muss immer – das wissen nicht nur die Juristen – sehr gut begründet sein. Abschließend: Meine sehr verehrten Damen und Herren, man sollte niemandem verbieten, seine Bereitschaft zur Teilnahme an Forschungsstudien zu erklären, die das Schicksal künftig Betroffener lindern könnte. Deswegen ist das ein guter und ausgewogener Gesetzentwurf, dem man wirklich zustimmen kann. Ich danke Ihnen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Stephan Albani für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bitte noch einen Augenblick um Aufmerksamkeit, bis wir dann zu den Abstimmungen über den Gesetzentwurf kommen. – Bitte schön, Herr Kollege Albani. Stephan Albani (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Als ich vor einigen Tagen erfuhr, dass ich heute den letzten Redebeitrag zu dieser Debatte leisten darf, war ich voller Sorge. Voller Sorge nicht deswegen, weil es immer hart ist, vor einer namentlichen Abstimmung gegen den allgemeinen Störlärm anzureden. Nein, das war nicht meine Sorge. Meine Sorge war: Über welchen Gesetzentwurf wird hier heute debattiert? Vor Ihnen steht nicht nur ein Wissenschaftspolitiker, der in der heutigen Gesundheitsdebatte sprechen darf, sondern vor Ihnen steht auch – ich bekenne das – ein Wissenschaftler, der in seinem Leben zahllose Ethikanträge gestellt hat. Wir haben Experimente mit Menschen gemacht, glücklicherweise oder einfacherweise für mich in Bereichen, wo die Patienten einwilligungsfähig waren, nämlich im Bereich der Fehlhörigkeit. Aber das Ziel der Wissenschaft ist am Ende, zu heilen. Wir wollen die großen Geißeln der Menschheit überwinden. Insofern habe ich, als ich überlegte, was ich an dieser Stelle sagen kann, mich entschieden: Ich möchte genau auf diese Zielsetzung eingehen. Wir haben eine gute Debatte geführt. Wir haben am Mittwoch ordentliche Argumente ausgetauscht. Aber es kamen zwei Dinge vor, derentwegen ich nun konkreter werden möchte. Das eine war: Es wurde davon gesprochen, dass Alzheimer-Demenz irreversibel ist. Nach heutiger Kenntnis ist das so. Aber vor 50 Jahren war auch Taubheit unüberwindbar. Heute ist nur eine Routineoperation notwendig, um Taube wieder hörend zu machen. Wir können in Kürze Blinde wieder sehend machen. Wir wollen in Zukunft solche Geißeln wie Tuberkulose und Kinderlähmung überwinden. So muss es auch das Ziel sein, Alzheimer-Demenz und andere neurodegenerativen Krankheiten zu heilen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Wenn wir das tun wollen, dann brauchen wir auch die Möglichkeit, Studien mit Patienten durchzuführen, die zum Zeitpunkt der Studiendurchführung nicht mehr einwilligungsfähig sind. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja jetzt erlaubt!) Es hieß dann am Mittwoch – das war das andere, was mir aufgefallen ist –, dass, wenn wir das durch das Gesetz zulassen, Menschen zu medizinischen Versuchsobjekten gemacht werden. Bei dieser Aussage wird im Deutschen der passive Aspekt betont: Wir machen die Menschen zu etwas. – Das ist unwahr. Die Patienten bzw. die Menschen haben zu einem Zeitpunkt, zu dem sie noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob sie an solchen Studien teilnehmen. Im Prinzip gibt es zwei Zielgruppen. Die einen sagen: Okay, ich kenne aus meinem eigenen Umfeld Menschen, die an der gleichen Krankheit wie ich leiden. Ich selbst bin noch in einem leichten Stadium der Erkrankung. Deshalb möchte ich mich zur Teilnahme an einer entsprechenden Studie bereit erklären. – Andere sagen so wie ich: Ich kenne Wissenschaft, ich weiß, wie sie betrieben wird und dass ich von ihr nicht missbraucht werde. Also bin ich dazu bereit. Selbst dann sagen wir: Nein, das reicht nicht. Du bekommst noch eine medizinische Aufklärung darüber, was mit dir geschehen kann. Du kannst Dinge ausschließen, du kannst Dinge für Dich nicht in Anspruch nehmen, du kannst das frei entscheiden. – Wenn danach jemand in Kenntnis all dieser Dinge sagt: „Ich entscheide mich dafür“, dann ist das eine Sache der Selbstbestimmung. Dafür muss eine Probandenerklärung unterschrieben werden, die genau dies beinhaltet. Die Form für diese muss jetzt noch erarbeitet werden, damit sie diesem Anspruch genügt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich bin der Meinung, mit der Frage der Gruppennützigkeit ist auch die Frage des Altruismus verbunden: Mir kommt es nicht darauf an, dass es mir hilft. Für mich ist es völlig in Ordnung, wenn es den nächsten Generationen, meinen Kinder oder anderen, hilft; dafür stelle ich mich zur Verfügung. – Das generell ist ein Bestandteil klinischer Studien; denn man kann im Vorhinein niemals hundertprozentig sagen, dass es einem Probanden nutzt. „Eigennützig“ bedeutet in diesem Fall, dass davon ausgegangen wird, dass es dem Probanden nutzt. Aber Wissenschaft und Forschung beinhalten immer auch die Möglichkeit, dass dies danebengeht. Diese Debatte haben wir – das möchte ich allen Beteiligten sagen – in weiten Teilen stilvoll und auf vernünftige Art und Weise geführt. Es waren auch geschichtliche Repliken dabei. Ich möchte an dieser Stelle sagen: Ja, wir haben in Deutschland vor dem Hintergrund unserer Geschichte eine besondere Verantwortung, mit diesem Thema sensibel umzugehen. Wir haben nicht nur in der Gegenwart, sondern zu allen Zeiten die Verpflichtung, mit den Menschen, die unseres Schutzes bedürfen, verantwortungsvoll umzugehen. Aber wir haben auch die Verantwortung für die Gesundheit zukünftiger Generationen. Die nun vorliegende Regelung hilft uns explizit, diese Verantwortung wahrzunehmen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen damit zur Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – An mehreren Abstimmungsurnen fehlen insbesondere noch Vertreter der Opposition. – Sind die Plätze an den Urnen jetzt besetzt? – Das ist der Fall. Damit eröffne ich die Abstimmung und weise darauf hin, dass mir zahlreiche persönliche Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu dieser Abstimmung vorliegen, die wir, einer guten Übung folgend, dem Protokoll beifügen.1 Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Jawohl. Das sind erschöpfte Haushälter, die unmittelbar nach Beendigung der Bereinigungssitzung soeben noch mit hängender Zunge die Abstimmungsurnen erreichen. – Weitere Bewegungen sehe ich hier im Plenarsaal aber nicht. Ich frage noch einmal: Ist noch jemand da, der wegen gleichzeitiger Staatsgespräche den Zeitpunkt verpasst, an dem die Urnen geschlossen werden? – Dann schließe ich jetzt die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung teilen wir Ihnen später mit.2 Wir kommen jetzt zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/10292. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koalition bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 c auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Nationaler Bildungsbericht – Bildung in Deutschland 2016 und Stellungnahme der Bundesregierung Drucksache 18/10100 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zum Anerkennungsgesetz 2016 Drucksache 18/8825 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss Digitale Agenda c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Özcan Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nationaler Bildungsbericht – Bildungsinstitutionen zukunftsfest machen – Für eine gerechte und soziale Gesellschaft Drucksache 18/10248 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Das findet offenkundig Zustimmung. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Xaver Jung für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Xaver Jung (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gute Bildung ist ein Menschenrecht und darüber hinaus das wichtigste Kapital unseres Landes. Sie ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit. (Beifall des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Ja, da muss man klatschen. – Wir wollen jedem Kind und jedem Erwachsenen in Deutschland die bestmöglichen Bildungschancen eröffnen, unabhängig von seiner Herkunft und seinen materiellen Möglichkeiten. Gute Bildung – das heißt für uns mehr als notwendige Allgemeinbildung. Wir müssen gut auf das spätere Berufsleben vorbereiten. Wir wollen Aufstieg durch Bildung ermöglichen. Wir stehen dabei für eine Vielfalt an Bildungsangeboten, auch beim lebenslangen Lernen. Meine Damen und Herren, zum sechsten Mal wird uns mit dem aktuellen Bildungsbericht eine umfassende empirische Bestandsaufnahme des deutschen Bildungswesens vorgelegt. Wir haben damit eine wertvolle Datenbasis für Bund und Länder, um weiter die Qualität des Bildungsangebotes zu verbessern. Dafür vorweg ein herzliches Dankeschön an die Autorengruppe. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich danke an dieser Stelle auch allen relevanten Bildungsakteuren: Erziehern, Lehrerinnen, Dozenten, Professorinnen und nicht zuletzt den Eltern. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Bericht reicht von der frühkindlichen Erziehung über den Schulbereich, die berufliche Ausbildung und die Hochschule bis zu den verschiedenen Formen der Weiterbildung im Erwachsenenalter. In diesem Jahr lautet das Schwerpunktthema: Bildung und Migration. Wie bereits im OECD-Bericht wird uns wieder ein positives, ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal nicht übertreiben!) Bildungsstand und Bildungsbeteiligung sind über einen längeren Zeitraum kontinuierlich gewachsen und haben sich positiv entwickelt. Das ist das Ergebnis einer Vielzahl positiver Entwicklungen in allen Bildungsbereichen. Das ist doch prima. Darüber können wir uns doch freuen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir Mitglieder im Bildungsausschuss sind ja da meist von ruhiger Sachlichkeit. Aber wenn es solch positive Ergebnisse gibt, können wir uns auch gerne einmal freuen. Die Bildungsausgaben des Bundes lagen 2015 gut 80 Prozent über dem Wert von 2008. Dafür haben wir gesorgt, und darauf sind wir stolz. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, wir wissen: Hochwertige Bildung beginnt in frühen Kindesjahren. Wir fördern seit vielen Jahren die Kitas. So freut uns, dass wir 2015 einen neuen Höchststand an pädagogischen Fachkräften verzeichnen können. Wir müssen noch an den Arbeitsbedingungen der Fachkräfte arbeiten; da sind die Länder dann gefordert. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr richtig! Volle Zustimmung!) Aber nicht nur der quantitative, sondern auch der qualitative Ausbau der Kindertagesbetreuung ist wichtig. Hier müssen wir die Lese- und Sprachförderung weiter ausbauen. Wir freuen uns, dass die Bildungsbeteiligung der unter Dreijährigen um weitere 3,6 Prozentpunkte auf nunmehr 32,9 Prozent gestiegen ist. Das ist ein guter Zwischenschritt. Auch der Ausbau von Betreuungsplätzen für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr muss weiter vorangetrieben werden. Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern müssen bereits im Kindergartenalter besser gefördert werden. Programme wie „Kultur macht stark“ oder „Lesestart“ der Stiftung Lesen sind hierfür ein richtiger Ansatz. Der Bericht bestätigt einen kontinuierlich voranschreitenden Ausbau der Ganztagsangebote in allen Schularten. Das freut uns. Wir sind jetzt schon bei 60 Prozent. Das muss noch mehr werden. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, machen wir!) Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischen Hintergrund haben aufgeholt. Sie konnten ihre Lesekompetenzen bei PISA deutlich verbessern. Immer weniger Jugendliche verlassen die Schule ohne Hauptschulabschluss. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss hat sich von 8 Prozent 2006 auf 5,8 Prozent in 2014 reduziert. Das sind doch alles gute Nachrichten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Situation von Schulabgängerinnen und Schulabgängern bei der Ausbildungsplatzsuche hat sich ebenfalls deutlich und kontinuierlich verbessert. 686 000 junge Menschen nahmen 2015 eine duale oder überbetriebliche Ausbildung auf. Der Rest Europas beneidet uns darum, auch um unsere niedrige Jugendarbeitslosigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Unser wichtiges und einzigartiges duales Ausbildungssystem trägt weiterhin gute Früchte. Besonders viele junge Menschen arbeiten nach ihrer Ausbildung direkt im gelernten Beruf, meist sogar im Ausbildungsbetrieb selbst. In Problemfällen brauchen wir individuelle Unterstützung. Unsere Initiative Bildungsketten bietet da den richtigen Ansatz. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Übernahmequoten nach erfolgreichem Ausbildungsabschluss sind in den ostdeutschen Ländern gestiegen und nähern sich langsam den westdeutschen Zahlen. Das freut nicht nur die Menschen in Ostdeutschland. 2014 erhielten 41 Prozent der Absolventinnen und Absolventen an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen die allgemeine Hochschulreife. 2006 waren es nur 29,6 Prozent. Die Studienanfängerzahlen haben damit erneut über den von uns geplanten Zahlen gelegen; im Grunde keine schlechte Sache. Der Anteil der Personen mit Hochschulzugangsberechtigung oder Studienabschluss ist weiter gestiegen. Im Bereich der Promotionen sind wir sogar spitze in Europa. – Da kann man auch mal klatschen; das muss man sogar. (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Fraktion schläft noch!) Gute Nachrichten gibt es auch im Bereich der Weiterbildung. Die Gesamtteilnahmequote ist auf 51 Prozent im Jahr 2014 angestiegen und liegt damit über dem von der Bundesregierung gesetzten Ziel. Auch in den Bereichen Migration und Integration werden Erfolge bestätigt; dazu werden nachher meine Kollegen noch etwas sagen. Ich könnte noch lange weitere positive Nachrichten aufzählen. Leider lässt das die Redezeit nicht zu. Meine Damen und Herren, nichts ist so gut, dass es nicht noch besser werden könnte. Das gilt selbstverständlich ganz besonders für unser Bildungssystem in Deutschland – ein System, das von vielen als zu kompliziert und unübersichtlich kritisiert wird, andernorts dagegen als ideologisch einseitig wahrgenommen wird, ein System, das einerseits als verstaubt, andererseits aber als zu experimentierfreudig kritisiert wird. Dennoch hält der Bericht die vielfältigen Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen für geeignet, das Bildungsniveau in Deutschland weiter zu verbessern. Den Bundesländern hat der Bericht die Aufgabe aufgetragen, die regionalen Ungleichheiten auszugleichen und die Erreichbarkeit von Bildungseinrichtungen für Bildungsangebote vor allem im ländlichen Raum zu ermöglichen. „Kurze Beine – kurze Wege“ muss hier der Leitsatz sein. Ebenso brauchen Kinder und Jugendliche aus Risikolagen eine besondere Förderung. So ist es trotz erkennbarer Fortschritte leider noch nicht gelungen, den engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg nachhaltig aufzubrechen. Die Stellungnahme des Kabinetts zum Bericht hebt hervor, dass man folgende Handlungsfelder ausgemacht hat: einen weiteren Ausbau und bessere Qualität in der frühen Bildung schaffen, mehr Chancengerechtigkeit durch bessere Bildung erreichen, Berufsausbildung stärken, Übergänge verbessern, Attraktivität und Qualität des Hochschulstudiums sichern sowie Weiterbildung stärken und transparent gestalten. Wir sehen: Die Regierung kennt die Herausforderungen. Selbstverständlich werden wir als CDU/CSU-Fraktion die Regierung auf ihrem weiteren Weg gern aktiv und konstruktiv begleiten. Auch für uns steht weiterhin die Qualität des Bildungsangebots im Vordergrund. Wenn wir es jetzt noch schaffen, die regionalen Bildungsungleichheiten zwischen den einzelnen Bundesländern durch vergleichbare Abschlüsse, durch vergleichbare Lernleistungen auszugleichen und wenn der Abschluss in Deutschland irgendwann in allen Bundesländern von der Qualität her gleichwertig ist, dann wird sich auch in der Bevölkerung Enthusiasmus in Bezug auf unser Bildungssystem zeigen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine leidenschaftliche Rede!) Ich bin sicher, wenn wir all das, was wir geplant haben, umsetzen, dann werden wir uns auch beim nächsten Bericht wieder so wie heute freuen dürfen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort gebe, möchte ich gern das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften bekannt geben: abgegebene Stimmen 542. Mit Ja haben gestimmt 357, mit Nein haben gestimmt 164. 21 Kolleginnen und Kollegen haben sich der Stimme enthalten. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 543; davon ja: 358 nein: 164 enthalten: 21 Ja CDU/CSU Stephan Albani Katrin Albsteiger Artur Auernhammer Norbert Barthle Günter Baumann Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Sybille Benning Dr. André Berghegger Dr. Christoph Bergner Ute Bertram Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Norbert Brackmann Klaus Brähmig Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexandra Dinges-Dierig Alexander Dobrindt Michael Donth Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Dr. Bernd Fabritius Hermann Färber Uwe Feiler Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Thorsten Frei Dr. Astrid Freudenstein Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Cemile Giousouf Josef Göppel Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Dr. Herlind Gundelach Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Rainer Hajek Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Mark Hauptmann Dr. Stefan Heck Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Jörg Hellmuth Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Dr. Heribert Hirte Robert Hochbaum Alexander Hoffmann Thorsten Hoffmann (Dortmund) Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Dr. Hendrik Hoppenstedt Margaret Horb Charles M. Huber Anette Hübinger Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Sylvia Jörrißen Dr. Franz Josef Jung Xaver Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Steffen Kanitz Alois Karl Anja Karliczek Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Ronja Kemmer Roderich Kiesewetter Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Markus Koob Carsten Körber Hartmut Koschyk Michael Kretschmer Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Roy Kühne Günter Lach Uwe Lagosky Dr. Dr. h.c. Karl A. Lamers Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Barbara Lanzinger Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Philipp Lengsfeld Philipp Graf Lerchenfeld Antje Lezius Matthias Lietz Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Wilfried Lorenz Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Karin Maag Yvonne Magwas Thomas Mahlberg Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Reiner Meier Jan Metzler Maria Michalk Dr. h.c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Marlene Mortler Volker Mosblech Elisabeth Motschmann Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Dr. Andreas Nick Michaela Noll Helmut Nowak Dr. Georg Nüßlein Wilfried Oellers Florian Oßner Dr. Tim Ostermann Henning Otte Ingrid Pahlmann Dr. Martin Pätzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Johannes Röring Kathrin Rösel Dr. Norbert Röttgen Erwin Rüddel Albert Rupprecht Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Andreas Scheuer Karl Schiewerling Jana Schimke Norbert Schindler Tankred Schipanski Christian Schmidt (Fürth) Gabriele Schmidt (Ühlingen) Patrick Schnieder Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Klaus-Peter Schulze Armin Schuster (Weil am Rhein) Christina Schwarzer Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Bernd Siebert Thomas Silberhorn Tino Sorge Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Peter Stein Sebastian Steineke Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Rita Stockhofe Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Matthäus Strebl Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Sabine Sütterlin-Waack Antje Tillmann Astrid Timmermann-Fechter Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Oswin Veith Thomas Viesehon Michael Vietz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sven Volmering Christel Voßbeck-Kayser Kees de Vries Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Karl-Heinz Wange Nina Warken Dr. h.c. Albert Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Marian Wendt Waldemar Westermayer Kai Whittaker Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Dagmar G. Wöhrl Tobias Zech Heinrich Zertik Gudrun Zollner SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Ulrike Bahr Bettina Bähr-Losse Heinz-Joachim Barchmann Dr. Katarina Barley Doris Barnett Dr. Matthias Bartke Bärbel Bas Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Burkhard Blienert Dr. Karl-Heinz Brunner Dr. h.c. Edelgard Bulmahn Jürgen Coße Petra Crone Bernhard Daldrup Sabine Dittmar Martin Dörmann Dr. h.c. Gernot Erler Petra Ernstberger Saskia Esken Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Elke Ferner Christian Flisek Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Ulrike Gottschalck Uli Grötsch Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Hubertus Heil (Peine) Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Thomas Hitschler Christina Jantz-Herrmann Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Ulrich Kelber Marina Kermer Cansel Kiziltepe Dr. Bärbel Kofler Anette Kramme Helga Kühn-Mengel Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Gabriele Lösekrug-Möller Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Susanne Mittag Thomas Oppermann Christian Petry Detlev Pilger Sabine Poschmann Joachim Poß Florian Post Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Dr. Simone Raatz Mechthild Rawert Dr. Carola Reimann Sönke Rix Petra Rode-Bosse René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Bernd Rützel Johann Saathoff Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Carsten Schneider (Erfurt) Swen Schulz (Spandau) Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Sonja Steffen Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Claudia Tausend Dr. Karin Thissen Carsten Träger Rüdiger Veit Ute Vogt Dirk Vöpel Bernd Westphal Dagmar Ziegler Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann Manfred Zöllmer Nein CDU/CSU Veronika Bellmann Michael Brand Thomas Dörflinger Iris Eberl Jutta Eckenbach Matthias Hauer Bettina Hornhues Hubert Hüppe Kordula Kovac Dr. Andreas Lenz Matern von Marschall Dr. Michael Meister Julia Obermeier Sylvia Pantel Martin Patzelt Josef Rief Uwe Schummer Dr. Patrick Sensburg Johannes Singhammer Peter Weiß (Emmendingen) Klaus-Peter Willsch SPD Rainer Arnold Heike Baehrens Willi Brase Martin Burkert Dr. Lars Castellucci Dr. Karamba Diaby Siegmund Ehrmann Michaela Engelmeier Dr. Ute Finckh-Krämer Dagmar Freitag Angelika Glöckner Kerstin Griese Gabriele Groneberg Michael Groß Wolfgang Gunkel Metin Hakverdi Ulrich Hampel Sebastian Hartmann Michael Hartmann (Wackernheim) Dirk Heidenblut Gabriela Heinrich Marcus Held Heidtrud Henn Dr. Eva Högl Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Arno Klare Lars Klingbeil Daniela Kolbe Birgit Kömpel Dr. Hans-Ulrich Krüger Burkhard Lischka Hiltrud Lotze Klaus Mindrup Bettina Müller Detlef Müller (Chemnitz) Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Mahmut Özdemir (Duisburg) Markus Paschke Jeannine Pflugradt Achim Post (Minden) Martin Rabanus Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann Sarah Ryglewski Annette Sawade Dr. Hans-Joachim Schabedoth Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Dorothee Schlegel Ulla Schmidt (Aachen) Matthias Schmidt (Berlin) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Elfi Scho-Antwerpes Ursula Schulte Ewald Schurer Norbert Spinrath Svenja Stadler Kerstin Tack Michael Thews Franz Thönnes Gabi Weber Dirk Wiese Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Gülistan Yüksel DIE LINKE Jan van Aken Herbert Behrens Matthias W. Birkwald Eva Bulling-Schröter Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Wolfgang Gehrcke Dr. André Hahn Heike Hänsel Inge Höger Andrej Hunko Sigrid Hupach Kerstin Kassner Jutta Krellmann Sabine Leidig Ralph Lenkert Dr. Gesine Lötzsch Birgit Menz Cornelia Möhring Dr. Alexander S. Neu Dr. Kirsten Tackmann Azize Tank Alexander Ulrich Kathrin Vogler Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich Hubertus Zdebel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Volker Beck (Köln) Agnieszka Brugger Ekin Deligöz Katja Dörner Katharina Dröge Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Matthias Gastel Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Monika Lazar Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Peter Meiwald Irene Mihalic Beate Müller-Gemmeke Özcan Mutlu Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Tabea Rößner Corinna Rüffer Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Kordula Schulz-Asche Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Dr. Julia Verlinden Doris Wagner Beate Walter-Rosenheimer Enthalten CDU/CSU Jens Koeppen Dr. Silke Launert SPD Susann Rüthrich Martina Stamm-Fibich Brigitte Zypries DIE LINKE Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Christine Buchholz Roland Claus Klaus Ernst Dr. Rosemarie Hein Susanna Karawanskij Katrin Kunert Caren Lay Thomas Lutze Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Frank Tempel Birgit Wöllert Sabine Zimmermann (Zwickau) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Dr. Valerie Wilms Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Nächste Rednerin ist die Kollegin Rosemarie Hein für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Herr Jung hat eben ein Loblied auf den Bildungsbericht und die vermeintlichen oder tatsächlichen Bildungsfortschritte gesungen. Ich habe den Bericht anders gelesen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wie immer! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat mit der CDU-Brille gelesen!) Es gibt auch in diesem Jahr sehr viel Grund zu kritischem Nachfragen; der Bericht enthält auch sehr viel Kritisches. Ich kann nur auf einige wenige Befunde eingehen. In ihrem Bericht betont die Bundesregierung, dass sich Investitionen in die Bildung auszahlen. Das stimmt ohne Zweifel. Sie wollten ja eigentlich 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung ausgeben. In dem Bildungsbericht wird nun festgestellt, dass Sie dieses Ziel auch 2014 nicht erreicht haben. Da fehlen allein über 26 Milliarden Euro, die Bund und Länder mehr hätten ausgeben müssen. (Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Das waren die Länder!) Das sind Bund und Länder den Menschen in diesem Lande schuldig geblieben. Selbst das würde nicht ausreichen, um eine auskömmliche Bildungsfinanzierung sicherzustellen. Allein 34 Milliarden Euro fehlen für die Investitionen in Schulgebäude. Das ist keine Zahl, die die Linken irgendwie zusammengerechnet haben, sondern eine Feststellung der KfW-Bankengruppe aus einer Studie vom September dieses Jahres. Nun ist der Schulbau zwar eine kommunale Aufgabe, aber die Kommunen können das offensichtlich nicht stemmen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Sie tragen ohnehin einen deutlich höheren Anteil als der Bund an der gesamten Bildungsfinanzierung, nämlich 29 Milliarden Euro, während der Bund 19 Milliarden Euro trägt. Auch das muss man einmal zur Kenntnis nehmen. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Das hat etwas mit unserer Verfassung zu tun, Frau Kollegin!) – Dann wollen wir sie doch einmal ändern. Auch das ist ein Weg. (Beifall bei der LINKEN) Die Folge ist, dass viele Schulen in unserem Land unsaniert bleiben und – noch schlimmer – dass viele öffentliche Schulen in der Fläche verschwinden. In der Not entstehen dort Privatschulen, damit es vor Ort überhaupt noch ein Schulangebot gibt. Bildung aber ist eine Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge. Dazu gehört eine ordentliche Bildungsinfrastruktur. Wenn Sie jetzt beschließen, sozusagen rückwirkend noch einmal 3,5 Milliarden Euro in den Schulbau zu geben, dann ist das sicherlich eine schöne Sache, und die Kommunen werden sich freuen. Aber es hilft nicht, diesen Investitionsstau aufzulösen. Dazu brauchen wir eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung im Grundgesetz. (Beifall bei der LINKEN) Nicht nur bei Schulen gibt es diesen Bedarf, den wir hier decken müssen. Das größte Problem für das deutsche Bildungssystem ist nach wie vor die große Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft. Das ist kein neuer Befund. Aber man gewinnt den Eindruck, die Bundesregierung gewöhnt sich langsam daran. Aus der Stellungnahme geht hervor: Es wird analysiert, geforscht, verstetigt, aber viel Neues gibt es nicht. Kinder aus einem Akademikerhaushalt haben immer noch um ein Vielfaches bessere Chancen, zum Abitur zu gelangen. Sie beginnen deutlich häufiger ein Hochschulstudium und erreichen öfter den Masterabschluss. Absolventen mit einem Master haben bessere Beschäftigungschancen in ihrem Fachgebiet als Bachelorabsolventen; all das kann man im Bildungsbericht nachlesen. Aber es gibt zu wenige Masterstudiengänge, um überhaupt jedem Bachelorabsolventen den Master zu ermöglichen. Auch hier ist die soziale Disparität, die soziale Ausgrenzung offensichtlich. (Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Das war ja auch nicht die Idee von Bologna!) – Ja, das ist nicht Ihre Idee, unsere aber schon. (Beifall bei der LINKEN) Die soziale Ausgrenzung durchzieht alle Bildungsbereiche. Besonders deutlich wird das bei der Armut von Kindern. Eines von vier Kindern wächst unter Bedingungen mindestens einer von drei Risikolagen auf. Das heißt, die Eltern sind entweder arbeitslos, oder sie haben einen niedrigen Bildungsabschluss, oder sie sind schlicht und ergreifend arm. Vor allem die Zahl armer Familien mit Kindern ist gegenüber dem Vorjahr angewachsen. Fast 19 Prozent der Kinder unter 18 Jahren sind davon betroffen. Meine Damen und Herren, das ist ein Ergebnis Ihrer Niedriglohnpolitik (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) und nicht ein Ergebnis schlechter Bildungspolitik. (Beifall bei der LINKEN – Xaver Jung [CDU/CSU]: Und ich dachte immer, die Löhne machen die Tarifvertragsparteien!) Darunter leiden diese Familien; denn deshalb sind auch die Bildungschancen ihrer Kinder deutlich schlechter. Es geht eben nicht nur um Defizite in der Bildungspolitik, sondern auch um Defizite in der Gesellschaftspolitik. Hier müssen wir genauso etwas ändern wie im Schulsystem. (Beifall bei der LINKEN) Von den Menschen im Alter von 25 bis 35 Jahren haben 1,6 Millionen keinen Berufsabschluss, und die meisten von ihnen werden ihn auch nicht nachholen; auch das geht aus dem Bildungsbericht hervor. Die vorhandenen Förderprogramme des Bundes und der Bundesagentur für Arbeit bieten dafür offensichtlich keine Gewähr. Aber ein grundlegendes Umdenken findet nicht statt. Noch schwieriger ist es für junge Menschen mit Migrationshintergrund, einen Bildungserfolg zu erzielen; auch das ist kein neuer Befund. Sie erreichen häufiger nur niedrige Bildungsabschlüsse, erhalten seltener einen Ausbildungsplatz und absolvieren noch seltener ein Studium. Wenn sie aber einen Studienplatz bekommen haben, dann erbringen sie genauso gute Leistungen und haben genauso große Chancen, das Studium zu schaffen, wie ihre Kommilitonen ohne Migrationshintergrund. Nun frage ich Sie: Warum gelingt es uns eigentlich nicht, den Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind, die gleichen Bildungschancen zu geben, die sie hätten, wenn sie hier geboren und aufgewachsen wären oder deutsche Eltern hätten? Es geht bei weitem nicht nur um sprachliche Defizite, sondern wir müssen endlich auch lernen, kulturelle Vielfalt als eine Bereicherung anzuerkennen und nicht Vorurteile zu kultivieren. (Beifall bei der LINKEN) Zu den Unmöglichkeiten gehört leider auch, dass die Regierung meines Bundeslandes Sachsen-Anhalt einen großen Teil der im vergangenen Jahr eingestellten Sprachlehrkräfte nicht weiter beschäftigen wollte. Bis heute ist noch nicht klar, ob sie bleiben können. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Fragen Sie mal bei Bodo Ramelow in Thüringen nach! Da ist das ganz genauso!) Ich finde das unverantwortlich; denn das Erlernen der deutschen Sprache ist eine längerfristige Aufgabe. Außerdem droht ein gewaltiger Unterrichtsausfall, weil diese Lehrkräfte inzwischen auch schon im allgemeinen Unterricht aushelfen. Im Bildungsbereich wird man letztlich in kaum einem Bundesland ohne Seiteneinsteiger bei den Lehrkräften auskommen. Die Versäumnisse in der Lehramtsausbildung der letzten Jahrzehnte wird man so schnell nicht beheben können. Deshalb muss man Möglichkeiten schaffen, dass diese Lehrkräfte ihren pädagogischen Abschluss nachholen, berufsbegleitend und im Rahmen besonderer Programme. Insgesamt muss deutlich mehr getan werden, um pädagogische Fachkräfte für alle Bildungsbereiche auszubilden. Das gilt nach wie vor insbesondere für Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache und sozialpädagogische Fachkräfte. (Beifall bei der LINKEN) Man muss sie besser bezahlen und fest anstellen. Der Bildungsbericht stellt fest, dass gerade jüngere Fachkräfte im Kitabereich oft befristet angestellt sind; (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Was hat denn das mit dem Bund zu tun?) das ist angesichts des wachsenden Betreuungsbedarfs unglaublich. Wieso eigentlich? Noch schlimmer ist die Arbeitssituation der Lehrkräfte in der Weiterbildung. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Wir sind hier nicht im Landesparlament! Wir sind im Deutschen Bundestag!) Sie sind häufig auf Honorarbasis oder in Teilzeit angestellt. Sehr prekär ist auch ihre Bezahlung. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Wir sind hier nicht im Landtag!) – Sie müssen sich einmal damit befassen. Dann werden Sie merken, dass das auch eine Bundesaufgabe ist. (Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie einen Handwerker brauchen, werden Sie feststellen: Sein Arbeitslohn beträgt um die 60 Euro die Stunde. Lehrkräfte in der Weiterbildung werden aber mit 14 Euro Mindestlohn abgespeist. Das ist der Stundenlohn, der im Schnitt für Weiterbildungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit zu zahlen ist, und das auch nur, wenn die Weiterbildungsträger mehr als 50 Prozent ihrer Maßnahmen im Bereich der beruflichen Bildung anbieten. Das Innenministerium hat nun die Honorare für Lehrkräfte in den Integrationskursen auf immerhin 35 Euro erhöht. Aber auch damit bleibt man hinter den Erfordernissen weit zurück; denn davon müssen sie auch alle Sozialabgaben und Arbeitgeberanteile zahlen. Im Bildungsbericht wird festgestellt: Das monatliche Einkommen von Haupterwerbstätigen in der Weiterbildung liegt weit unter dem Durchschnittseinkommen anderer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wertschätzung von Bildungsarbeit sieht anders aus. (Beifall bei der LINKEN) Es ist an der Zeit, den Flickenteppich in der Weiterbildung zu beenden, endlich einen Branchentarifvertrag für die Weiterbildung auszuarbeiten (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das können Sie ja gerne machen!) und ihn dann – das ist unsere Aufgabe – für allgemeinverbindlich zu erklären, damit alle in der Weiterbildung Tätigen ein gutes Einkommen haben. (Beifall bei der LINKEN) Der Bildungsbericht stellt fest, dass die fünf zentralen Herausforderungen nach wie vor bestehen: Qualitätssicherung in der frühkindlichen Bildung, aber ein Qualitätsgesetz lehnen Sie ab; – Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): – ich bin sofort am Ende meiner Rede – Ganztagsschulen, aber das Kooperationsverbot erlaubt uns nicht die Finanzierung; Übergang von Schule in die berufliche Bildung, aber einen Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz wollen Sie nicht usw. usf. Für all das brauchen wir die gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen. Für ein zukunftsfestes Bildungssystem könnten wir uns überlegen, ob man nicht ein bundesweites Bildungsrahmengesetz schafft, in dem die sozialen und rechtlichen Bedingungen für die Arbeit in der Bildung sowie die Rechtsansprüche festgeschrieben sind, (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Zentralismus! Planwirtschaft!) damit die Bildung in allen Bundesländern besser, vergleichbarer und gerechter wird. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Gehen Sie nach Bayern! Da lernen Sie, wie es funktioniert!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ernst Dieter Rossmann hat nun das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit leichter Ironie sagen: Wenn Frau Hein hier eine tiefschwarze Rede hält und Herr Jung ein Bild eher in Rosafarben zeichnet, dann ist in der Farbenlehre hier irgendetwas schiefgelaufen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Deshalb möchte ich mich lieber an das halten, was uns der Nationale Bildungsbericht in differenzierter Weise vorgibt. (Beifall bei der SPD) Wir wollen vor allen Dingen erkennen, dass Bildungspolitik auf dem gemeinsamen Zusammenwirken von den freien Kräften, von den Kommunen, von den Ländern und vom Bund beruht und dass wir etwas bewirken können: mehr Bildung in den Krippen, bessere Qualität in den Kindertagesstätten, mehr Ganztagsschulangebote, mehr Lesekompetenz, mehr Schulabschlüsse, mehr Möglichkeiten, im Studium anzukommen, mehr Möglichkeiten, das Studium erfolgreich abzuschließen, mehr Weiterbildung. Dieses Mehr ist doch ein gemeinsamer Erfolg. Wenn wir eine weitere Begeisterung im Engagement für Bildungsveränderung wollen, dann dürfen wir die aktuelle Situation nicht rosarot und auch nicht tiefschwarz zeichnen, sondern wir müssen die Dynamik positiv hervorheben. Ich finde, diese Große Koalition hat mit vielen anderen Kräften hier Gutes dazu beigetragen. Das dürfen wir hier gemeinsam feststellen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Darüber hinaus will ich das Augenmerk am Anfang auf zwei Punkte richten, die uns Sozialdemokraten besonders wichtig sind. Herr Jung und Frau Hein, Sie haben den engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, sozialer Lage und Bildungschancen angesprochen, der sich zwar schon aufzulösen beginnt, aber sich noch weiter auflösen muss. Dass es immer noch Risikofaktoren gibt – sie wurden schon genannt: Arbeitslosigkeit, Armut, Bildungsferne, Kopplung an die soziale Schicht –, kann uns nicht zufriedenstellen. In diesem Nationalen Bildungsbericht finden sich Vorschläge und Maßnahmen. Wir setzen in der Großen Koalition an einer Schlüsselstelle an. Wenn zusätzlich 3,5 Milliarden Euro mobilisiert werden sollen, um in finanzschwachen Kommunen Bildungsstätten, Bildungsinfrastruktur zu ertüchtigen, dann ist das keine Kleinigkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die 4 Milliarden Euro für die Ganztagsschulen waren auch keine Kleinigkeit. 3,5 Milliarden Euro mehr für die Ertüchtigung von Schulen in Regionen, in denen Bildungsarmut und andere Bildungsrisikofaktoren besonders stark ausgeprägt sind, sind entsprechend auch ein richtig großer Erfolg. Damit Sie die Kronzeugenschaft für diese Leistung nicht nur immer sozialdemokratisch verorten: Auch Ole von Beust, ehemaliger Bürgermeister von Hamburg, hatte erkannt, wie wichtig es ist, in Problemstadtteilen Schulen zu Leuchttürmen zu machen, indem sie attraktiver gemacht und aufgewertet werden. Sigmar Gabriel hat jetzt noch einmal entsprechende Überlegungen in die Regierung hineingetragen, um dafür zu sorgen, dass es ein Gemeinschaftsprojekt werden kann. Denn Bildungsarmut kann man dadurch ganz praktisch bekämpfen, dass finanzschwache Kommunen mit einem höheren Anteil an Bildungsarmen, an armen Kindern und arbeitslosen Jugendlichen dieses nicht durch den Zustand ihrer Schulen dokumentieren müssen. Das ist doch eine Perspektive. Das ist doch etwas, wofür wir gemeinsam werben. (Beifall der Abg. Elfi Scho-Antwerpes [SPD]) Ich möchte auf einen zweiten Punkt hinweisen, an dem wir noch mehr arbeiten müssen. Das ist das große Thema Bildungsintegration für Migranten, für Schutzsuchende und für Flüchtlinge. Der Nationale Bildungsbericht weist aus, dass wir in diesem Bereich noch viel tun müssen und sehenden Auges auch wissen können, was wir tun müssen. Bitte schauen Sie sich hierzu die Seiten 201 und 202 an. Dort wird die Schlüsselstelle herausgearbeitet, nämlich: Was passiert beim Einstieg in die berufliche Bildung? In Sachen Kindertagesstätten, in Sachen Schule gibt es geregelte Abläufe, und wir werden dort gute Erfolge erzielen können. Der Einstieg in die berufliche Bildung ist die entscheidende Klippe; denn viele junge Menschen stehen aktuell ohne die Chance da, in ein Berufsausbildungsverhältnis einzutreten. Das Konsortium für den Nationalen Bildungsbericht empfiehlt uns, für rund 70 000 dieser jungen Menschen ein- bis zweijährige berufsvorbereitende Maßnahmen zu ermöglichen und auch für 80 000 bis 90 000 zusätzliche Berufsbildungsplätze zu sorgen. Und wir wissen alle: Dies wird im dualen System so schnell nicht geschehen. Diesbezüglich enthält der Nationale Bildungsbericht den Vorschlag, dort stärker außer- und überbetriebliche Kapazitäten zu mobilisieren. Ich glaube auch, dass dies richtig ist. Wir dürfen nicht geschehen lassen, dass diese jungen Menschen keine Chance erhalten. Wir müssen an den Stellen anknüpfen, an denen wir seitens des Bundes mit Ländern und Sozialpartnern zusammen etwas tun können. Ich habe eben Ole von Beust als Vorkämpfer für das bezeichnet, was Sigmar Gabriel jetzt durchgesetzt hat. Ebenso erinnere ich mich daran: Roland Koch – ich muss kein Sympathisant von ihm sein – hat schon früh gesagt hat, dass wir die jungen Leute, wenn es denn im dualen System nicht funktioniert, nicht ins Leere laufen lassen dürfen, sondern ihnen etwas anbieten müssen, was die Verbindlichkeit einer Ausbildung hat. Er hat nämlich außerbetriebliche und überbetriebliche Ausbildung gefordert, als es schon einmal dieses Problem gab. Daran sollten wir uns erinnern. Da sollten wir auch etwas machen. Der Bildungsbericht weist an der Stelle aus, dass es um eine Summe von 1,5 Milliarden Euro geht, die benötigt werden, um den 70 000 jungen Menschen jetzt jeweils Jahr für Jahr eine reale Ausbildungsperspektive zu geben. Wir müssen zusammen darüber nachdenken, ob es Ländern, Bund und BA möglich ist, diese Mittel für ein Perspektivprogramm zu mobilisieren. Wir haben einen Bericht 2006, in dem schon bestimmte Probleme in Bezug auf die Jugendlichen mit Migrationshintergrund aufgezeigt wurden, und einen Bericht 2016, in dem insbesondere die aktuelle Flüchtlingssituation aufgearbeitet und angesprochen wird. Aber im Bericht 2026 darf nicht stehen, es gebe dort eine verlorene Generation, weil wir uns an der Stelle nicht konzentriert darangemacht haben, jetzt hier Mittel aufzubringen, um eine Perspektive für diese viele tausend jungen Leute rechtzeitig zu schaffen. Das Werben der Sozialdemokratie lautet: Machen wir dies jetzt gemeinsam, und setzen wir jetzt dort ein sichtbares Zeichen! Wer herkommt, soll über den Einstieg in eine duale, vollzeitschulische oder vorbereitende berufliche Bildung eine Chance erhalten. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Katja Dörner spricht nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr Kollege Rossmann, auch ich halte gar nichts von Schwarz-Rosa-Malerei, und deshalb will ich auch gar nicht bestreiten, dass es in den letzten Jahren in der Bildungspolitik im Zusammenspiel der Bundesländer und der Kommunen Fortschritte gegeben hat. Aber ich bin es eben auch total leid – ich denke, da stimmen Sie mir auch zu –, dass wir in jedem Bildungsbericht, in jeder Bildungsstudie immer wieder lesen müssen, dass in fast keinem anderen Industrieland der Bildungserfolg noch immer so sehr von der sozialen Herkunft abhängig ist wie in Deutschland. Ich finde das unwürdig für unser Land. Wir verschleudern die Potenziale der Kinder und Jugendlichen, und wir nehmen ihnen Lebenschancen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich finde, das muss ein Ende haben. Da könnte und müsste die Bundesregierung tatsächlich mehr tun. Es ist gut, dass die Anstrengungen der letzten Jahre beim Kitaausbau mittlerweile Früchte tragen und dass immer mehr Kinder aus den sogenannten bildungsfernen Schichten und Kinder mit Migrationshintergrund frühkindliche Bildungseinrichtungen besuchen. Aber auch das ist bei weitem kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Im Gegenteil: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, vor allem in die Qualität der Kitas zu investieren. Meine Fraktion versteht überhaupt nicht, warum wir immer noch hier im Deutschen Bundestag auf ein Kitaqualitätsgesetz warten müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen aber auch alles daransetzen, die hohe Bildungsbeteiligung, die es in den Kitas schon gibt, auf die folgenden Bildungsetappen zu übertragen. An den Übergängen in unserem Bildungssystem ruckelt es nämlich immer noch ganz gewaltig. Da finde ich es schon fast etwas unredlich, dass sich die Regierungsfraktionen zwar dafür feiern, dass die Zahl ausländischer Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher im Vergleich zu 2006 gesunken ist, dabei aber verschweigen, dass sich diese Zahl von 2013 auf 2014 wieder vergrößert hat. Das ist ein Schritt vor und ein Schritt wieder zurück, und das ist keine zukunftsweisende Bildungspolitik, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie wissen genauso gut wie ich: Wo ein politischer Wille ist, gibt es auch ein gerechtes Bildungssystem. Diesen politischen Willen vermissen wir aber. Das beste Beispiel dafür ist das Geschacher um das Kooperationsverbot. Statt das Kooperationsverbot in der Bildung beherzt aufzuheben und den Weg beispielsweise über ein Ganztagsschulprogramm und damit für eine ganz zentrale wichtige Maßnahme für mehr Bildungsgerechtigkeit freizumachen, (Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Reden Sie doch mal mit Herrn Kretschmann darüber, und dann kommen Sie wieder!) einigen sich die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen mit der Bundeskanzlerin auf einen müden Formelkompromiss. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Ideologisches Geschnatter!) Statt wenigstens diesen Formelkompromiss ernsthaft auszufüllen, schaltet die SPD in den Wahlkampfmodus und feiert sich für die Abschaffung des Kooperationsverbots, (Zurufe von der SPD) und die Union tut so, als sei überhaupt nichts Relevantes beschlossen worden, und geht gleich auf den Koalitionspartner los. Ministerin Wanka spricht noch ganz moderat von einer Missdeutung seitens der SPD. Über die Wortwahl des bayerischen Kultusministers muss man sich wirklich extrem wundern, der der SPD dann gleich – Zitat – „feuchte Wunschträume“ andichtet. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, da fehlt offensichtlich jede Ernsthaftigkeit, sich mit zentralen Herausforderungen in unserem Bildungssystem zu beschäftigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist denn mit Herrn Kretschmann? – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Der bayerische Kultusminister macht einen Superjob! Daran sollten Sie sich einmal ein Beispiel nehmen!) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Aufhebung des Kooperationsverbots muss aus Sicht der grünen Bundestagsfraktion unbedingt kommen. Bis dahin müssen wir das nun geöffnete Fenster – da spreche ich auch ausdrücklich vom Bildungs- und Teilhabepaket – nutzen. Seit 2010 gibt es dieses mühselig und untauglich gebaute Konstrukt, mit dem der Bund versucht, seine soziale Verpflichtung bei der Bildungsgerechtigkeit zu erfüllen. Wir wissen aber alle: Antragshürden, Unwissenheit, Sprachprobleme und Scham verhindern, dass die Kinder das bekommen, was ihnen zusteht, worauf sie ein Recht haben. Deshalb sollten wir die MPK und die Bundeskanzlerin beim Wort nehmen und zumindest bei dieser Bundesaufgabe die bestehenden Hürden in Bezug auf Bildungs- und Teilhabechancen für Kinder beseitigen. Es ist jetzt an Ihnen, wenigstens an dieser Stelle kleine Schritte zu tun. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Bundesministerin Frau Dr. Wanka. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung und Forschung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um etwas über die Situation der Bildung in Deutschland zu erfahren, haben wir den Bildungsbericht. Ich sage, Gott sei Dank, weil wir deshalb nämlich nicht auf Polemik angewiesen sind, sondern aufgrund handfester Fakten diskutieren können. Nicht nur bezogen auf ein Jahr, sondern bezogen auf den Zeitraum seit 2006, also im zeitlichen Längsschnitt, sehen wir: Was hat sich verändert? Was hat sich verbessert? Da kann man – egal aus welcher Richtung man kommt – eine Aussage nicht wegreden: Es ist so, dass sich der Bildungsstand und die Bildungsbeteiligung in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Herr Rossmann sagte, dass es immer mehr geworden ist. Damit muss man nicht unbedingt zufrieden sein. Aber es ist immer mehr geworden. Das ist eine ganz klare Tendenz. Ich fand nicht, dass Herr Jung eine rosarote Brille aufhatte; er hat nur die Fakten genannt. Da er die Fakten so schön aufgezeigt hat, will ich nicht alles wiederholen, sondern nur noch ein, zwei Punkte nennen. Wir haben zum Beispiel immer mehr Kinder unter drei Jahren – mittlerweile beträgt ihr Anteil über ein Drittel –, die Betreuungsangebote in der Kita wahrnehmen. Wenn wir sagen, wir wollen keine Abhängigkeit vom Hintergrund des Elternhauses, dann ist das genau die richtige Stelle, um anzusetzen: Die Kinder, die zu Hause Eltern haben, die viel mit ihnen sprechen, singen oder ihnen etwas vorlesen, brauchen diese Angebote nicht so sehr. Wir bieten die Angebote zwar auch für diese, aber vor allem für diejenigen Kinder an, die das Pech haben, nicht so ein Elternhaus zu haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Man muss am Anfang ansetzen, und das kann man nicht mit irgendwelchen Rahmenplänen tun, sondern hier muss man ganz konkret handeln. (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Handeln ist gut! Dann fangen Sie mal an!) Ein weiteres Beispiel: Auch die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischen Bedarfen, die inklusiv beschult werden, hat sich in den letzten Jahren erhöht. Für diese müssen Ausbildungsplätze etc. geschaffen werden. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Wir sind auf einem guten Weg. Da sind beide beteiligt, also Bund und Länder; denn Bildung ist keine Sache, die der Bund alleine verordnet, sondern Bund und Länder müssen zusammenarbeiten. Jeder hat seine Aufgaben. Man kann sagen: Wir haben hier eindeutige Erfolge. Es sollte aber keine Selbstzufriedenheit aufkommen – das wäre wirklich nicht angemessen –, sondern man sollte auch sehen, dass dieser Bildungsbericht – darin liegt ja gerade sein Wert – auf Schwächen aufmerksam macht, dass er die Herausforderungen benennt. Wenn ich im Antrag der Grünen lesen, dass Sie die unverzügliche Umsetzung der Empfehlungen des Bildungsberichts fordern, dann muss ich sagen: Falsch, es gibt überhaupt keine Empfehlungen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sicher, es gibt Empfehlungen!) Das ist die dezidierte Absprache. Es gibt eine Darstellung des Sachverhalts. Daraus abzuleiten sind Entscheidungen, die politisch zu treffen sind, zum Beispiel in der KMK, zum Beispiel hier im Bundestag. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb unser Antrag!) Ich will einmal ein Beispiel nennen: Ganztagsschulausbau. Der Anteil der Ganztagsschulen – es wird bilanziert, wie die Situation ist – beträgt bei den Integrierten Gesamtschulen 87 Prozent, bei den Schulen mit mehreren Bildungsgängen 78 Prozent. Dann schreiben die Autoren in ihrem Bericht: Bislang werden aber die erweiterten Lern- und Fördermöglichkeiten von einem Großteil dieser Schulen nicht genutzt. – Ich wiederhole: Sie werden von einem Großteil dieser Schulen nicht genutzt. Das heißt, hier besteht Bedarf, und wir als Bund machen auch etwas. Wir geben Millionen dafür aus, dass Konzepte entwickelt werden, aber nicht an jeder Ecke neu. Vielmehr sollen sie über die Transfereinrichtungen oder andere Einrichtungen verbreitet werden. Die dritte Förderphase des Forschungsprogramms „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ hat in diesem Jahr begonnen. Der Grundtenor der Forderungen ist: Der Bund muss mit einsteigen. Der Gedanke im Hinterkopf ist: Der Bund muss mitfinanzieren. Das kann man sich ja wünschen. Aber wenn man wirklich glaubt, dass ein zentrales Bildungssystem, dass eine starke Stellung des Bundes das Allheilmittel ist, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das glaubt doch keiner!) dann sollte man sich die Situation in den Ländern anschauen, in denen das so organisiert ist, zum Beispiel unter anderem in Frankreich. Dann sieht man: Das funktioniert nicht. (Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Das ist Ideologie!) Es soll keiner sagen: Chancengerechtigkeit ist ein Thema für den Rest der Legislaturperiode. Chancengerechtigkeit ist ein ganz zentrales Thema. Das habe ich vom ersten Tag an gesagt. In diesem Bereich haben wir viel erreicht. Ich will gar nicht aufzählen, was wir alles erreicht haben. Das ist in der Kurzzusammenfassung des Bildungsberichts gut nachlesbar. An den Ergebnissen des Bildungsberichts besonders erschreckend waren für mich die hohen regionalen Unterschiede; denn es ist ja auch ein Stück Ungerechtigkeit, wenn der Bildungserfolg sehr stark vom Wohnort, von der Region abhängt. Frau Hein, Sie haben sinngemäß gesagt, es gebe nur noch Privatschulen. Als ob die schlecht sind. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das hat sie doch gar nicht gesagt! – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Nein! Die sind aus der Not entstanden!) – Sie hat es so dargestellt, als ob alles ganz katastrophal sei. Natürlich ist Daseinsvorsorge eine gesellschaftliche Aufgabe, der überall nachgegangen werden muss. Aber die Tatsache, dass gerade in den neuen Bundesländern christliche oder andere Privatschulen entstanden sind, zeigt doch, dass der Bedarf und auch der Wunsch danach vorhanden sind. (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das ist aber an der Stelle genau nicht der Fall!) Zum Schwerpunkt Bildung und Migration. Wir, KMK und Bund, können entscheiden, welche Sonderuntersuchung wir durchführen wollen. 2006 haben wir Maßnahmen gestartet, um die Bildungsleistungen von Menschen mit Migrationshintergrund zu verbessern. Nach zehn Jahren haben wir die Ergebnisse evaluiert. Man sieht: Verbesserungen sind möglich. Aber man sieht auch ganz deutlich: Das braucht Zeit. Es geht bei der Bildungsbiografie von Migrantinnen und Migranten sichtbar voran, aber das braucht Zeit. Es liegen uns Zahlen vor, die wir vor zehn Jahren nicht für möglich gehalten hätten. 90 Prozent – ich sage es noch einmal ganz deutlich: 90 Prozent! – der drei- bis unter sechsjährigen Kinder mit Migrationshintergrund besuchen eine Betreuungseinrichtung. Damit ist für Chancengerechtigkeit gesorgt. Oder, Frau Hein: Vor Jahren war es so, dass der Anteil der Jugendlichen, die einen mittleren Abschluss schaffen, bei den deutschen Jugendlichen bei über 50 Prozent lag, während er bei ausländischen Jugendlichen bei 36 Prozent lag. Jetzt liegen diese Jugendlichen mit den deutschen Jugendlichen gleichauf. Wenn hier also rhetorisch gefragt wird: „Warum schaffen wir das nicht?“, dann kann ich nur sagen: Wir arbeiten daran, aber die Erfolge werden sich nicht von heute auf morgen einstellen. Ich finde, es motiviert aber immer, wenn es Erfolge gibt, wenn wir sehen: Der Weg ist richtig. Dafür und auch wenn wir sehen, wir müssen etwas ändern, ist der Bildungsbericht ganz entscheidend. Zu den Leistungssteigerungen bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei PISA. Sie haben aufgeholt. Es gibt zwar immer noch eine große Diskrepanz, aber sie haben ihre Leistungen schneller gesteigert als die Deutschen in der Zeit. Anhand dieser Fakten könnte man sagen: Wenn das Bildungssystem gut ist, dann ist es für alle gut, dann erledigt sich das alles von selbst. Schauen wir nach Finnland. Alle glauben ja, dass Finnland ein super Schulsystem hat, aber die Diskrepanz zwischen den Leistungen derer mit und ohne Migrationshintergrund ist im finnischen Schulsystem mit am größten. Das heißt, das Schulsystem allein kann nicht alles leisten. Deswegen würde ich darum bitten, die Stellungnahme der Bundesregierung zum Bildungsbericht zu lesen. Wir haben dort detailliert aufgelistet, was alles gemacht wird, und zwar ressortübergreifend. Eine Erkenntnis aus dem Bildungsbericht ist auch ganz wichtig: Vergleicht man die Bildungsbeteiligung von 15-jährigen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, die den gleichen sozioökonomischen Hintergrund haben, dann stellt man fest: Sie ist in den jeweiligen Bildungsgängen immer gleich. Das heißt, der sozioökonomische Hintergrund ist mittlerweile entscheidender als der Migrationshintergrund. Das Thema Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund ist wichtig, und es beschäftigt uns schon lange. Es gibt exzellente Forschung in diesem Bereich, zum Beispiel in Osnabrück, Bielefeld, Mannheim und Nürnberg, die sich sehr stark mit den Nachkommen der Arbeitsmigranten beschäftigt. Weniger beschäftigt man sich mit denen, die im letzten Jahr gekommen sind, die in einer ganz anderen Konstellation zu uns gekommen sind. Wir haben hier auch wenig belastbare Ergebnisse. Wir wissen aber, dass in zwei Jahren ein großer Schwung aus der Schule kommt. Deswegen haben wir die Mittel für den Bereich Migrationsforschung, der ohnehin schon gut aufgestellt ist, sofort erhöht. Allein von 2016 bis 2019 stehen 18 Millionen Euro für diesen Bereich zur Verfügung. Große Projekte laufen bereits. Wir bekommen repräsentative, aussagekräftige Ergebnisse. Wir werden auch die Bildungsverläufe derer, die gerade in Deutschland angekommen sind, weiterverfolgen. In der nächsten Woche veröffentlichen wir eine neue Ausschreibung mit einem Volumen von 12 Millionen Euro, bei der es um die Frage geht, wie wir die Herausforderungen hinsichtlich unseres Zusammenlebens, unserer Werte, unserer Vorstellungen, unserer Kultur, also des gesellschaftlichen Zusammenhalts unter den jetzt entstandenen Bedingungen bewältigen können. Das sind ganz konkrete Maßnahmen, die auch in diesem Hause registriert werden sollten. Zum Schluss noch eine Bemerkung: Vor kurzem hat die britische Regierung eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Die Chancen für junge Menschen auf der ganzen Welt wurden verglichen. Es wurde gefragt: Welche Bildungschancen und -möglichkeiten haben die jungen Menschen? Welche Jobchancen haben sie? Wie ist die gesundheitliche Präferenz? Welche Möglichkeiten haben sie, sich politisch zu beteiligen? Wie ist es um die Möglichkeiten für ein bürgerschaftliches Engagement bestellt? – 183 Staaten wurden untersucht. Erster Platz: Deutschland. Ganz so schlimm kann es also nicht sein. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Mutlu ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man sich den aktuellen Bildungsbericht anschaut, kann man in der Tat einige Fortschritte im deutschen Bildungssystem feststellen – immerhin. 15 Jahre nach dem PISA-Schock in einem der reichsten Länder der Welt wurde das auch Zeit. Von „Bildungsrepublik“ kann allerdings immer noch keine Rede sein. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ein Quatsch!) Deswegen dürfen wir uns auch nicht zurücklehnen und mit den Ergebnissen zufrieden sein, Kollege Jung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Zwischenzeitlich sind zwei allgemeine Erkenntnisse in allen Köpfen angekommen – dabei schaue ich insbesondere in die Reihen der CDU/CSU-Fraktion –, erstens, dass Bildungsungerechtigkeit das Problem im deutschen Bildungssystem ist, zweitens, dass unser Land fit für die Einwanderungsgesellschaft gemacht werden muss. Der Schwerpunkt des Bildungsberichts – Bildung und Migration – ist auch für die aktuelle Debatte in Deutschland von großer Bedeutung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Deshalb müssen wir die Empfehlungen der Autorinnen und Autoren des Berichts nicht nur ernst nehmen, Frau Wanka, sondern wir müssen sie auch zügig umsetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Nur so haben wir eine Chance. Nur so können wir die Fehler der Vergangenheit vermeiden. Gute Bildungspolitik ist Integrationspolitik, ist Sozialpolitik, ist Wirtschaftspolitik. Gute und gerechte Bildung ist auch eine Investition in die Sicherheit unseres Landes und schützt vor Radikalismen unterschiedlichster Art; Salafismus und Rechtsextremismus wären da zwei Beispiele. (Xaver Jung [CDU/CSU]: Oder Linksextremismus!) Die Befunde des Bildungsberichts belegen, wie zahlreiche Studien zuvor, dass das deutsche Bildungssystem immer noch nicht in der Lage ist, alle Schülerinnen und Schüler teilhaben zu lassen und soziale Disparitäten auszugleichen. Wir als Grüne sagen: Das können und dürfen wir nicht länger hinnehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen eine gerechte, offene, demokratische Gesellschaft und keine gespaltene, in der der Geldbeutel der Eltern über den Bildungserfolg entscheidet. Dass das so ist, das ist ein großes Problem, und das müssen wir gemeinsam anpacken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Segregationsentwicklungen sind auch regional sichtbar. Auch Ministerin Wanka hat das endlich erkannt (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist ungeheuerlich!) und möchte diese Tendenzen beobachten – ich zitiere –, „damit nicht neue Ungerechtigkeit entsteht“. Beobachten? Mit Verlaub, Frau Ministerin, das ist keine nachhaltige Strategie. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]) Warum warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist? Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit. Hier müssen Sie endlich handeln und Ihren warmen Worten Taten folgen lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wegweisende Erkenntnisse!) Wir müssen jetzt etwas ändern. Wir müssen jetzt handeln, damit nicht weitere Regionen in Deutschland entstehen, die Kindern und Jugendlichen kaum bis keine Chancen bieten. Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das sagt auch Ministerin Wanka. Ich sage: Absolut dʼaccord. Deshalb müssen wir im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen endlich jenseits von ideologischen Grabenkämpfen schauen, (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass es bei der Bildung in Deutschland weitergeht. Mit der Reform der Bund-Länder-Finanzierung und der Ankündigung des Digitalpakts, der noch nicht haushalterisch unterlegt und wohl eher ein Wahlkampfgeschenk ist, sind erste Schritte getan. Aber das reicht nicht. Sie mogeln sich mit diesen Maßnahmen am Kooperationsverbot vorbei und belegen damit im Grunde die Absurdität des Verbots der Kooperation in der Bildung. (Zuruf des Abg. Tankred Schipanski [CDU/CSU]) Zugleich kommt der Finanzminister um die Ecke und kündigt zusätzliche 3,5 Milliarden Euro für die Schulsanierung an. (René Röspel [SPD]: Ist doch gut! – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Freut euch doch!) Das ist absolut löblich, Kollege Rossmann, aber in Anbetracht des bundesweit riesigen Sanierungsbedarfs und Investitionsstaus in den Schulen, der bei 34 Milliarden Euro liegt, ist das kein allzu großer Wurf. Da muss mehr geliefert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Na, ja!) Noch immer investieren wir viel zu wenig in unsere Bildungseinrichtungen. Statt die Zielvorgabe – Kollegin Dörner hat es schon gesagt –, dass die Bildungsinvestitionen 10 Prozent des BIP betragen sollen, zu erreichen, stagnieren wir weiterhin bei 9,1 Prozent. Damit liegen wir im internationalen Vergleich immer noch unter dem OECD-Durchschnitt. Das reicht nicht. (Zuruf des Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]) Deshalb sagen wir: Lassen Sie es uns gemeinsam anpacken und mehr in die Bildung, also in die Zukunft unseres Landes, investieren. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Lassen Sie uns gemeinsam eine Bildungsoffensive starten, damit Bildungsungerechtigkeit in unserem Land endlich der Vergangenheit angehört. Lassen Sie uns endlich gemeinsam das Kooperationsverbot in der Bildung in Gänze abschaffen, – Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Mutlu. Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – damit es nicht immer wieder diese Mogelpackungen gibt. – Vielen Dank, Herr Präsident, und vielen Dank an die CDU/CSU-Fraktion. Hoffentlich hat sie gut zugehört und etwas gelernt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Man weiß vorher schon, was kommt! Da muss man nicht zuhören!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Mit der Frage, warum nur immer die grandiosen Schlusssätze erst deutlich jenseits der verfügbaren Redezeit im Manuskript vorgesehen werden, werde ich einmal den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages konfrontieren. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Regierungsfraktionen machen es vor!) Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Präsident! Es hat einen Grund. Es gibt einen Spruch aus unserer Jugend, der heißt: Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon so spät? (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das geht uns allen hier manchmal so, und zwar fraktionsübergreifend. Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Ich glaube, dass dieser Nationale Bildungsbericht in gerade dieser Zeit Anlass ist, über einen Zusammenhang zu sprechen, der uns alle bewegt, jedenfalls die demokratischen Parteien von rechts bis links in diesem Hause. Ich meine die Tatsache, dass wir in einer Zeit leben, in der die Werte der Aufklärung, die Werte von Freiheit und Gleichheit und auch Toleranz, die Werte des 17. und 18. Jahrhunderts wieder an Bedeutung gewinnen und uns vor allen Dingen die rechtspopulistischen autoritären Erscheinungen in verschiedensten westlichen Demokratien ernsthaft umtreiben müssen. Es gibt zwei zentrale Sätze der Aufklärung. Der erste von Immanuel Kant lautet: Besinne dich darauf, dich deines eigenen Verstandes zu bemühen. Der zweite war von Sir Francis Bacon: Wissen ist Macht. – Erst Wissen und Bildung befähigen Menschen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Deshalb ist die Förderung von Bildung und Wissenschaft für das Gelingen von freiheitlichen Demokratien wichtig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Warum sage ich das? Die Bundeskanzlerin hat, wie ich finde zu Recht, darauf hingewiesen, dass das, was wir beispielsweise im amerikanischen Wahlkampf erlebt haben, nämlich dass Wahrheit und Fakten keine Rolle mehr spielen, dass Hass, Respektlosigkeit und Lügen – die Bundeskanzlerin hat es mit dem Begriff „postfaktisch“ beschrieben – zum Kennzeichen der politischen Auseinandersetzung geworden sind. Da müssen wir gegenhalten mit den Werten der Aufklärung, mit Freiheit, mit Toleranz, mit Respekt und eben mit der Idee von gleichen Chancen für alle. Das gilt auch für den Bildungsbereich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Nationale Bildungsbericht beschreibt das sehr differenziert. Frau Ministerin Wanka, ja, es gab in vielen Bereichen Fortschritte, auf die wir gemeinsam stolz sind: Die frühe und individuelle Förderung von Kindern und in vielen Bereichen auch das längere gemeinsame Lernen, der neue Stellenwert frühkindlicher Förderung und Bildung in diesem Land, der Ausbau im Bereich der Kindertagesstätten und Kindergärten und – seit dem Programm von Edelgard Bulmahn – auch die Fortschritte beim Ausbau von Ganztagsschulen haben mit dafür gesorgt, dass wir heute, nach diesen Jahren, zu besseren Ergebnissen kommen als noch vor einigen Jahren. Aber richtig ist auch – da haben die Kollegin von der Linkspartei, der Kollege von den Grünen und Ernst Dieter Rossmann vollkommen recht; auch Sie haben es erwähnt –, dass sich soziale Ungleichheiten in diesem Land nach wie vor gerade auch im Bildungssystem konservieren. Wir sind bei dem Vorhaben, dies zu überwinden, weitergekommen, aber noch nicht weit genug. Wir können das anhand der Zahlen feststellen. Nach wie vor wächst jedes vierte Kind – 25 Prozent! – unter mindestens einer Risikolage auf, was zu einer – das bescheinigt der Bildungsbericht – finanziell, sozial oder durch die Eltern begründeten Bildungsferne führt, mit der Folge, dass es deutlich schlechtere Bildungschancen und damit auch deutlich schlechtere Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben hat als andere Kinder und Jugendliche. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind bei allen Fortschritten deutlich stärker davon betroffen. Frau Ministerin, der Expertenstreit, ob der Migrationshintergrund oder die sozioökonomische Schwäche der Familie die wichtigere Ursache dafür ist – natürlich sind es vor allen Dingen soziale und nicht kulturelle Ursachen –, ist am Ende des Tages ein akademischer Streit. Es geht um konkrete Lebenslagen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frau Ministerin Wanka, man muss hier auch einmal selbstkritisch feststellen, dass Ziele, die man sich selbst gesetzt hat, nicht erreicht wurden. Sie erinnern sich an den Nationalen Bildungsgipfel aus dem Jahre 2008 unter der schönen Überschrift „Bildungsrepublik“. Damals hat man sich das Ziel gesetzt – das ist nachlesbar –, bis zum Jahre 2015 die schulischen Leistungen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund denen anderer Jugendlicher gleichzustellen. Das haben wir nach wie vor nicht erreicht, was anhand der Zahl der Schulabschlüsse, der fehlenden beruflichen Bildung und der Lebensverläufe nach wie vor festzustellen ist. Das hat etwas mit der Frage zu tun, welche Rolle Bildung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft hat. Eine Gesellschaft, in der soziale Ungleichheit nicht überwunden wird, eine Gesellschaft, die auseinanderdriftet, eine Gesellschaft, die so funktioniert, wie wir das leider Gottes in anderen Ländern in und außerhalb Europas noch schlimmer erleben, schafft das Klima für Radikalismus und Extremismus, schürt Ängste vor der Zukunft und führt zu Unzufriedenheit. Gerade in solchen Zeiten ist die Überwindung sozialer Ungleichheiten – auch im Bildungssystem – nach wie vor eine der vordersten Aufgaben, der wir uns für alle Kinder und Jugendlichen in diesem Land – egal welcher Herkunft – zu widmen haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da klatscht die CDU/CSU nicht einmal! Peinlich!) Das heißt konkret: Ja, wir haben auch in dieser Koalition eine ganze Menge auf den Weg gebracht – Herr Kollege Mutlu, jetzt hören Sie einmal genau zu –, auf das wir zu Recht stolz sind, zum Beispiel die Reform des BAföG. Wir haben jetzt die Chance, noch mehr zu tun, und zwar nicht nur im Bereich der frühkindlichen Bildung, für den sich vor allen Dingen Ministerin Schwesig in den letzten Jahren sehr erfolgreich engagiert hat, sondern auch im Bereich der schulischen Bildung, und hier geht es nicht um irgendwelche Ideologien zwischen Zentralismus und Föderalismus. Die Hauptverantwortung für die schulische Bildung in diesem Land bleibt bei den Ländern. Schulträger sind im Regelfall die Kommunen; das ist gar keine Frage. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich sage das hier einmal ganz explizit, Frau Ministerin Wanka, weil Sie denjenigen, die sich für das Aufbrechen des Kooperationsverbotes engagieren, immer wieder unterstellen, dass sie sich für ein Bundesschulamt einsetzen. Es geht nicht um ein Bundesschulamt. Man kann in der Bildungspolitik auch zentralistisch ganz viel falsch machen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!) Das sagt über die Qualität noch gar nichts aus. Es geht auch nicht um Zentralismus oder Föderalismus, sondern darum, dass Bund, Länder und Kommunen an einem Strang ziehen und arbeitsteilig so etwas wie eine nationale Bildungsallianz organisieren können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ja, die Länder sind nach wie vor verantwortlich für das Schulsystem und für die Inhalte. Schulträger sind die Kommunen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das soll auch so bleiben!) Der Bund kann mit der jetzt getroffenen Vereinbarung innerhalb der Bund-Länder-Finanzbeziehungen mithelfen, die schulische Infrastruktur gezielt und nicht auf Umwegen zu verbessern, mit der Gewissheit, dass das Geld auch dort ankommt, wo wir es haben wollen. Dadurch können wir mithelfen, den Sanierungsstau in den Schulen aufzulösen, Schulen zu sanieren und zu modernisieren – vor allen Dingen in den Kommunen, die es besonders schwer haben. Das ist ein konkreter Beitrag dafür, Lernorte zu verbessern. Mit der Kombination der Mittel von Bund, Ländern und Kommunen können wir dafür sorgen, dass die soziale Herkunft nicht zum Schicksal für die Bildungschancen in diesem Land wird, und dafür setzen wir uns ein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Mutlu, Frau Dörner, Sie haben von Missverständnissen geredet. Ich kann das aufklären. Der Blick in die Bund-Länder-Vereinbarung, die übrigens 16 Ministerpräsidenten aller möglichen Parteien dieses Hauses und die Bundesregierung unterschrieben haben, zeigt, dass wir 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen – das werden wir über einen Nachtragshaushalt tun –, um entsprechende Möglichkeiten für Investitionen zu schaffen. Das ist allein das Geld des Bundes. Einige Bundesländer – vor allen Dingen Nordrhein-Westfalen – engagieren sich ganz massiv für zusätzliche Mittel zur Schulsanierung. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rot-Grün-regiert!) In dieser Kombination müssen wir den Investitionsstau von 34 Milliarden Euro auflösen. Wir ermöglichen, dass das Geld gezielt in den Kommunen ankommt, indem wir das Grundgesetz ändern; auch das steht deutlich darin. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Wir nennen das das „Aufbrechen des Kooperationsverbotes“, weil es die Chance schafft, Schulen nicht nur zu sanieren, sondern auch zu modernisieren und über diese Legislaturperiode hinaus Geld des Bundes zum Beispiel für Ganztagsschulangebote zur Verfügung zu stellen. Ich bin dem Koalitionspartner ausdrücklich dankbar dafür, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen. (Dr. Karamba Diaby [SPD]: So ist es!) Alle Ministerpräsidenten haben das unterschrieben. Herr Mutlu, wenn Sie mithelfen wollen, dass wir das jetzt auch gut hinbekommen – Ihr Parteitag beginnt ja heute –: Reden Sie einmal mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir gerne!) Der ist der Einzige, der dazu eine Protokollerklärung abgegeben hat. Gemeinsam sind wir stark, Herr Mutlu. Ich setze auf Ihre Überzeugungskraft gegenüber dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten auf dem Parteitag. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zum Schluss: Wir brauchen angesichts dieses Nationalen Bildungsberichts eine nationale Bildungsallianz, um die Chancen zu nutzen, die die Digitalisierung bietet. Frau Wanka, daran müssen wir noch ein bisschen arbeiten. Dass wir 3,5 Milliarden Euro für die Schulsanierung haben, ist das eine; die 5 Milliarden Euro für digitale Bildung, die Sie angekündigt haben und die wir ausdrücklich begrüßen, nicht nur weil in einigen Tagen der IT-Gipfel stattfindet und digitale Bildung ein zentrales Thema ist, sind das andere. Die Kombination dieser Mittel auf einer Zeitschiene vom Jahr 2017 bis 2021, ungefähr 8,5 Milliarden Euro, würde einen Riesenschritt bedeuten, mit dem wir viel Geld hebeln könnten. Meine herzliche Bitte ist: Machen Sie solche Konzepte nicht für irgendwann oder nach der Bundestagswahl. Die besten Wahlversprechen sind die, die man vor der Wahl hält. Deshalb müssen wir dafür kämpfen, dass die 3,5 Milliarden Euro der erste Schritt sind, dass wir zusätzlich Geld für Ganztagsschulangebote und digitale Bildung in diesem Land bekommen, damit auch die Digitalisierung der Bildung nicht zu neuen Ungleichheiten, sondern zu neuen Chancen führt. Das ist der Weg, auf den wir uns machen wollen. Alle Gutwilligen sind eingeladen, ihn mitzugehen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Cemile Giousouf die nächste Rednerin. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. René Röspel [SPD]) Cemile Giousouf (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da jetzt viel gesagt worden ist, was, ich will nicht sagen: am Thema vorbeigeht, aber was ein wenig den Blick vom Bildungsbericht abgelenkt hat, möchte ich gern auf den Kern der heutigen Debatte zurückkommen (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zunächst mal den Bericht lesen!) und die Reden meiner Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, in denen sie viele Dinge kritisiert haben, die in die Zuständigkeit der Länder fallen, so deuten, dass der Bund eben seine Hausaufgaben gemacht hat. (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Übererfüllt! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt Herr Jung dazu?) Uns liegt ein guter Bericht vor. Deshalb erlauben Sie mir, kurz die guten Ergebnisse und Fakten zusammenzufassen. Die Ausgaben für Bildung, Forschung und Wissenschaft sind im Jahr 2013 auf 257,4 Milliarden Euro und nach vorläufigen Berechnungen auf 265,5 Milliarden Euro im Jahr 2014 gestiegen. Das sind jeweils 9,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Das Ergebnis: Der Bildungsstand der Bevölkerung hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Bei den Abschlussquoten an Schulen bleibt der Trend zu höheren Schulabschlüssen ungebrochen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt gar nicht!) Im Jahr 2014 erhielten 41 Prozent der Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen die allgemeine Hochschulreife. 2006 waren es noch 29,6 Prozent der gleichaltrigen Bevölkerung. Der Anteil der Schülerinnen bzw. Schüler ohne Hauptschulabschluss hat sich von 8 Prozent in 2006 auf 5,8 Prozent in 2014 reduziert. Wir sind linker Schwarzmalerei zum Trotz auf einem sehr guten Weg, (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollten die Zahl halbieren! – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das ist auch Ländersache!) nicht zuletzt dank der guten Arbeit unserer Ministerin und ihres Hauses. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Bildungsbeteiligung und der Bildungserfolg von Menschen mit Migrationshintergrund haben sich verbessert. Mehr unter Dreijährige mit Einwanderungsgeschichte besuchen Betreuungsangebote. (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Ländersache!) Das ist eine Verdoppelung seit 2009 auf 22 Prozent. Das resultiert aus der Tatsache, dass wir Dinge, die Ländersache sind, mit unterstützen. (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Sie nennen nur die positiven Ergebnisse, die Ihnen gefallen! – Zuruf des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Es stellt sich nur die Frage, warum Sie die positiven Ergebnisse der Bundesebene nicht anerkennen. Die Bildungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im Kindergartenalter liegt 2015 sogar bei 90 Prozent. Darüber hinaus haben sich sowohl im Grundschul- als auch im Sekundarbereich die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte verbessert. Die Rede unserer Ministerin hat gerade sehr deutlich gemacht, dass sich das integrationspolitische Schlüsselministerium dieser Aufgabe nicht nur im aktuellen Kontext stellt; bereits seit vielen Jahren setzt die unionsgeführte Bundesregierung bei der Integration auf den Bildungsbereich. Für uns ist kulturelle Vielfalt eine Bereicherung. Das müssen wir uns von den Linken bestimmt nicht erklären lassen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Ich denke schon!) Dennoch dürfen wir uns nicht auf unseren Erfolgen ausruhen. Da sind wir uns auch alle einig; denn dieser Bericht zeigt eben auch, dass immer noch ein Zusammenhang von sozioökonomischem Status und schulischer Bildung besteht. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ach was!) Ich glaube, es ist ein Unterschied – da bin ich nicht Ihrer Meinung, Herr Kollege Heil –, ob Kinder aus einem Akademikerhaushalt stammen oder ob sie ausländische Wurzeln haben. Letztere sind benachteiligt. Die Zahlen des Berichts zeigen, dass ausländische Kinder mehr als doppelt so häufig die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. Sie erreichen dreimal seltener die Hochschulreife. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber es geht um konkrete Lebenslagen!) Bei den Drei- bis Fünfjährigen haben insbesondere Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Schulabschluss sowie mit nichtdeutscher Muttersprache Sprachförderbedarf. Der Anteil liegt bei jeweils 39 Prozent. Auch in der Berufsausbildung ist die Abbruchquote 50 Prozent höher als die der Deutschen. Bei der dualen Ausbildung liegt der Anteil der Lehrlinge mit Migrationshintergrund mittlerweile bei 24 Prozent. Hier gibt es laut dem Bericht aber starke regionale Unterschiede. Ministerin Wanka ist darauf eingegangen. Durch die starke Zuwanderung im vergangenen Jahr steht das deutsche Bildungssystem nach Ansicht der Forscher vor zusätzlichen Herausforderungen. Für die Integration der im Jahr 2015 Zugewanderten fallen der Studie zufolge jährlich zusätzliche Kosten von 2,2 bis 3 Milliarden Euro an. Aber diese Ausgaben werden sich lohnen. Auch wenn dies nicht kurzfristig der Fall sein sollte, so zeigt sich doch immer wieder in der Bildungspolitik: Wir müssen langfristig investieren. Wir werden sehen – auch das sagen die Forscher; auch wenn es bei ihnen unterschiedliche Einschätzungen gibt –, dass sich eine nachhaltige Bildungspolitik natürlich auch bei denjenigen, die neu zu uns kommen und Asyl suchen, mittel- und langfristig auszahlen wird. Wir müssen die Weichen stellen. Hier müssen wir ansetzen und weiter daran arbeiten. Auf dem Weg dorthin – das möchte ich noch einmal betonen – haben wir viel geschafft. Als Berichterstatterin für die Begabtenförderung bin ich hier in besonderer Weise involviert. Die Begabtenförderwerke und Stiftungen machen es sich mehr und mehr zur Aufgabe, auch jungen Erwachsenen aus weniger gut betuchten Familien die Möglichkeit eines Stipendiums zu geben. Jeder hat in Deutschland die Möglichkeit, ungeachtet seines sozialökonomischen Status eine qualitativ hochwertige Ausbildung zu erhalten. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hier widersprechen Sie sich aber!) Nehmen wir exemplarisch das BMBF-Förderprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“. Wir werden bald im Hohen Hause einen Antrag zur kulturellen Bildung für Geflüchtete diskutieren. Derzeit profitieren von dem Programm 300 000 bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche. Eine Zwischenbegutachtung des Programms ergab, dass 92 Prozent der Bündnisse Kinder und Jugendliche erreichen, die ansonsten nicht an Angeboten der kulturellen Bildung teilgenommen hätten. Das BMBF hat nunmehr auch zusätzliche Angebote für junge Flüchtlinge im Programm. So können junge Menschen beispielsweise auch in meinem Wahlkreis im Emil Schumacher Museum in Hagen die Kraft der Kunst und Bilder kennenlernen. Kinder und Jugendliche werden in Workshops aktiv an kulturelle Bildung herangeführt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Besser als das Betreuungsgeld!) Von 2013 bis 2017 stellt der Bund insgesamt bis zu 230 Millionen Euro für das Programm bereit. On top werden im Rahmen von „Kultur macht stark Plus“ Maßnahmen der kulturellen Bildung für geflüchtete junge Erwachsene bis einschließlich 26 Jahre angeboten. Zum Ende meiner Rede möchte ich noch einmal auf das Instrument des Anerkennungsgesetzes hinweisen. Auch da bin ich gemeinsam mit meinem Kollegen Diaby dabei, die Bedingungen und Möglichkeiten des Anerkennungsgesetzes weiter auszuschöpfen. Die Anerkennung von Abschlüssen ist ein wichtiges Instrument, um Menschen das Ankommen in unserem Land zu erleichtern. Wir haben – das möchte ich abschließend sagen – bisher deutlich gemacht, dass Deutschland jedem diese Chancen geben will. Wir werden trotz aller polarisierenden, populistischen und auch politischen Entwicklungen weiter daran arbeiten. Wir können eine Gesellschaft schaffen, in der es eben nicht zählt, ob man aus einem Akademikerhaushalt kommt oder nicht. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Vizepräsident Johannes Singhammer: Der Kollege Dr. Karamba Diaby spricht jetzt für die SPD. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Michaela Noll [CDU/CSU]) Dr. Karamba Diaby (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ergebnisse des Bildungsberichts zeigen, dass wir weiterhin vor großen Herausforderungen stehen. Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung für Bildung. Wir brauchen eine nationale Bildungsallianz. (Beifall bei der SPD) Denn Bildung ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen später gute Arbeit finden und an der Gesellschaft teilhaben. Wir wissen: Investitionen in Bildung lohnen sich für jeden Einzelnen und für unsere Gesellschaft. (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Investitionen in Bildung verbessern die Chancen auf Teilhabe der Menschen an der Gesellschaft, und Investitionen in Bildung stärken den sozialen Zusammenhalt. Ich verdeutliche das anhand von vier Maßnahmen: Erstens. Es beginnt damit, dass wir die Schulen sanieren müssen. Sigmar Gabriel hat es gut auf den Punkt gebracht: Die Schulen müssen die Kathedralen unserer Städte und Gemeinden werden. Sie müssen lebenswerte und lebensnahe Lernorte sein. Dafür stellen wir ab 2017 rund 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Zweitens. An einigen Schulen gibt es soziale Probleme. Diese müssen wir in den Griff bekommen. Der Bund muss die Länder und Kommunen hier unterstützen. Das Ziel muss sein: Keine Schule ohne Schulsozialarbeiter! (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Drittens. Wir müssen die berufliche Bildung stärken; denn sie hat eine enorm wichtige Bedeutung für die Teilhabe der Menschen. Sie ist der Schlüssel zur persönlichen Entwicklung, und sie ist die Voraussetzung, um in einer digitalisierten und globalisierten Arbeitswelt zu bestehen. Die Schüler müssen sich in den Berufsschulen wohlfühlen. Die Schulen brauchen eine bessere Ausstattung. Und die Berufsschullehrer müssen bei ihrer wichtigen Arbeit besser unterstützt werden. (Beifall bei der SPD) Unsere Forderung lautet: Kein Schüler darf künftig ohne einen Abschluss unsere Schulen und Berufsschulen verlassen. (Beifall bei der SPD) Viertens. Auch für die Integration ist gute Bildungspolitik ein zentraler Baustein. Die Anerkennung der beruflichen Qualifikationen ist von großer Bedeutung für die Teilhabe an der Gesellschaft. Wir haben diese Bedeutung erkannt. Aber auch hier gibt es Verbesserungsmöglichkeiten. Das zeigt der Bericht zum Anerkennungsgesetz. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesregierung künftig die Kosten für die Verfahren finanziell unterstützen wird. Dafür stehen 5 Millionen Euro im Haushalt bereit. Das finden wir sehr gut. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Es ist aber auch kein Geheimnis, dass die SPD mehr will. Wir müssen die Menschen unterstützen, die keine Leistungen nach SGB II oder SGB III beziehen. Wenn das Anerkennungsverfahren dazu führt, dass man sein Essen oder seine Miete nicht bezahlen kann, werden die Menschen das Anerkennungsgesetz leider nicht nutzen. Wir wissen also, was zu tun ist. Im nächsten Schritt müssen wir auch die Lebenshaltungskosten unterstützen, zum Beispiel durch ein Stipendium oder ein Darlehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass alle Menschen an der Gesellschaft teilhaben. Investitionen in Bildung sind dafür der Schlüssel. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hoffentlich nicht wieder eine Märchenstunde!) Dr. Wolfgang Stefinger (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verfügen über ein qualitativ hochwertiges Bildungssystem sowie über gute Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Das bescheinigt uns der Nationale Bildungsbericht. Es ist ein Bildungssystem, um das uns viele beneiden. Es ist ein Bildungssystem, das Deutschland zu einem attraktiven Standort macht. Wir alle wissen: Eine gute Bildung ist eine unabdingbare Voraussetzung für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg, aber auch für gelungene Integration. Dass wir eine solche Erfolgsgeschichte schreiben können, verdanken wir vor allem drei Dingen: erstens umfangreichen Investitionen in Bildung und Forschung, zweitens einer Vielzahl von Programmen, Maßnahmen und Initiativen und drittens den vielen Menschen, die sich im Bildungsbereich engagieren. Vielen Dank dafür! (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Es wurde an dieser Stelle schon mehrfach gesagt: Noch nie wurde hierzulande so viel in Bildung und damit in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes investiert wie heute. In den letzten elf Jahren haben sich die Ausgaben des Bildungs- und Forschungsministeriums mehr als verdoppelt. Für das nächste Jahr sind im Bundeshaushalt über 17,5 Milliarden Euro veranschlagt, also noch einmal über 1 Milliarde Euro mehr als im laufenden Jahr. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte den Haushältern danken, die bis heute früh um drei Uhr den neuen Haushalt festgezurrt haben, über den wir in der nächsten Sitzungswoche beraten dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch im diesjährigen OECD-Bericht schneidet Deutschland gut ab. Als eine seiner großen Stärken gilt die berufliche Bildung, die maßgeblich zum wirtschaftlichen Erfolg beiträgt und vielfältige Aufstiegschancen ermöglicht. In kaum einem anderen Land gehen so viele junge Menschen zur Schule, machen eine Ausbildung oder haben einen Job. Kein anderes europäisches Land hat eine so geringe Jugendarbeitslosigkeit wie Deutschland. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. René Röspel [SPD]) Ich finde, das alles kann sich wahrlich sehen lassen und zeigt: Wir sind auf einem erfolgreichen Kurs. Natürlich dürfen wir uns nicht ausruhen, und das tut von uns auch keiner. Die Herausforderungen für unser Bildungswesen sind komplexer und vielschichtiger geworden, vor allem seit letztem Jahr, als mehrere Hunderttausend Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind. Diese Herausforderungen gelten natürlich auch für die berufliche Ausbildung; denn immer weniger Jugendliche beginnen eine duale Berufsausbildung. Nach wie vor bleiben viele Lehrstellen unbesetzt. Viele Ausbildungsbetriebe klagen über Lehrlingsmangel. Zugleich suchen viele junge Menschen nach einer Ausbildungsmöglichkeit. Sie fragen sich, wie das zusammenpasst? Demografische Faktoren und mitunter ausgeprägte regionale und berufsspezifische Unterschiede spielen dabei eine wichtige Rolle. Dies alles kann weitreichende Folgen für unsere Wirtschaft und die Gesellschaft mit sich bringen. Ohne eine ausreichende Anzahl bestens qualifizierter Fachkräfte geht es nicht. Was wir daher brauchen, ist eine Ausgewogenheit von akademischer und beruflicher Bildung. Das Leben beginnt nicht erst mit dem Abitur. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir brauchen Ingenieure und Ärzte, aber eben auch Handwerker und Mittelständler. Ich möchte noch auf immer wieder geäußerte Begrifflichkeiten eingehen, an denen ich mich massiv störe. Ein solcher Begriff ist zum Beispiel der des Bildungsabsteigers oder des Bildungsverlierers. Warum ist ein Kind, das aus einem Akademikerhaushalt kommt und eine berufliche Lehre machen möchte, ein Bildungsabsteiger? (Beifall bei der CDU/CSU) Das kann nicht so weitergehen. Auch deswegen sind wir gefordert, das Image der beruflichen Ausbildung nicht schlechtzureden; bei jeder Auslandsreise wird man darauf angesprochen. Ich darf darauf hinweisen: Nicht umsonst wollen viele andere Länder von uns lernen, wie die duale Ausbildung funktioniert. Denn sie wissen: Deutschland kann Berufsausbildung. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in den letzten Jahren auch viel für die Durchlässigkeit der beruflichen Ausbildung getan und tun dies weiterhin. Ich möchte nur ganz kurz an die Allianz für Aus- und Weiterbildung erinnern, an die Studiengänge für Handwerksmeister, die in Zusammenarbeit mit den Handwerkskammern entstanden sind, oder auch an die Novelle zum Meister- bzw. Aufstiegs-BAföG. Ich habe die Herausforderungen durch die Digitalisierung erwähnt. Wir stärken mit einem Sonderprogramm zur Digitalisierung die überbetrieblichen Bildungsstätten. Wir haben das Programm „Digitale Medien in der beruflichen Bildung“ fortgeführt; um nur einige Beispiele aus diesem Bereich zu nennen. Sie sehen, wir haben die Herausforderungen im Blick. Wir kennen unsere Stärken, und wir dürfen darauf auch stolz sein. In diesem Sinne lassen Sie uns weiterarbeiten und dieses Land noch besser machen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/10100, 18/8825 und 18/10248 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Widerspruch sehe ich keinen. Deshalb sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 sowie den Zusatzpunkt 11 auf: 38. Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Petra Pau, Martina Renner, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Umsetzung der Empfehlungen des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode zur Verbrechensserie des Nationalsozialistischen Untergrundes Drucksachen 18/6465, 18/9331 ZP 11 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes – Aufenthaltsrecht für Opfer rechter Gewalt Drucksache 18/2492 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) Drucksache 18/10288 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Widerspruch sehe ich keinen. Dann ist das somit beschlossen. Ich eröffne damit die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Petra Pau für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Petra Pau (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Kürzel NSU steht für Nationalsozialistischer Untergrund, mithin für eine bislang beispiellose rechte Terrorserie und ein tödliches Staatsversagen. Das alles wurde vor fünf Jahren offenbar. Ebenso zum fünften Mal jährt sich demnächst das Versprechen von Bundeskanzlerin Angela Merkel nach bedingungsloser Aufklärung. Doch davon kann bisher keine Rede sein. Es wird geschwiegen, geleugnet und vertuscht – auf Landes- und Bundesebene. Beim Verfassungsschutz werden Belege geschreddert, wird also Recht gebeugt. Die Justiz hält, wie im Fall „Lothar Lingen“, die schützende Hand darüber. Damit wird die Bundeskanzlerin in den Meineid getrieben. Was noch schlimmer ist: Die Betroffenen werden ein weiteres Mal verhöhnt. Das ist eine Schande! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Der erste NSU-Untersuchungsausschuss hat im September 2013 fraktionsübergreifend einen Bericht mit 47 Schlussfolgerungen vorgelegt. Darin ging es um rechtliche und strukturelle, auch um mentale Änderungen in den Sicherheitsbehörden. Alle diese 47 Vorschläge wurden vom Bundestag einstimmig, einmütig bestätigt. Nun wollte die Linke wissen, was davon umgesetzt wurde. Die Antwort der Bundesregierung liegt vor. Sie ist auch für alle, die uns im Netz folgen, nachlesbar. Ich konzentriere mich jetzt auf drei Aspekte, die durchaus strittig sind. Erstens. Ob Kriminalämter oder Justizbehörden – fast niemand wollte oder konnte erkennen, dass die NSU-Morde rassistisch motiviert waren. Auch deshalb gibt es die Forderung nach dem Mentalitätswechsel. Nun kann man Mentalitäten schlecht messen. Aber allein ein Blick nach Sachsen zeigt, wie viel noch zu tun bleibt. Naziaufmärsche werden goutiert, Gegenkundgebungen dagegen düpiert – und das alles von Amts wegen –, und Politiker beschwichtigen. Konsequenzen sehen anders aus. (Beifall bei der LINKEN) Im Untersuchungsausschuss waren wir uneins, ob wir es mit institutionellem Rassismus zu tun haben, also auch in Behörden. Die Linke meint Ja, CDU/CSU und Teile der SPD meinen Nein. Wir sollten dies nicht als Mehrheitsentscheidung abhaken, sondern vom Deutschen Institut für Menschenrechte untersuchen lassen. Die Linke hat dafür Mittel bei den finalen Haushaltsberatungen beantragt. Ich hoffe auf die Zustimmung aller Fraktionen und Kolleginnen und Kollegen. Zweitens. Im Zentrum des Staatsversagens agierten die Ämter für Verfassungsschutz. Damit wäre ich beim zweiten großen Dissens. CDU/CSU und SPD haben 2016 ein neues Gesetz für das Bundesamt für Verfassungsschutz beschlossen. Es erhält dadurch mehr Geld, mehr Personal und mehr Kompetenzen. Zugleich wurde die schmierige V-Mann-Praxis, also die Kumpanei mit Nazis, legalisiert. Die Linke bleibt dabei: Die Ämter für Verfassungsschutz sind als Geheimdienste aufzulösen. Die V-Mann-Praxis ist sofort zu beenden. (Beifall bei der LINKEN) Drittens. Wir waren uns einig, dass Initiativen zur Opferberatung, für Demokratie und Toleranz umfangreicher unterstützt werden müssen. Die Bundesmittel dafür wurden inzwischen erheblich aufgestockt. Das ist gut so. Die Linke hat dem zugestimmt. Gleichwohl erfahre ich auf meinen Wegen über das Land zu häufig, dass von den zusätzlichen Millionen bei den Initiativen kaum etwas ankommt. Hier muss die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern dringend prüfen, woran es liegt, dass die Mittel, die wir hier einmütig beschlossen haben, nicht ankommen. Denn entscheidend ist letztlich nicht das, was vorne hineingesteckt wird, sondern das, was hinten herauskommt – und dies umso mehr, da niemand garantieren kann, dass nicht längst neue Nazizellen raubend und mordend unterwegs sind, allemal da das rassistisch aufgeheizte Klima von ihnen als regelrechter Auftrag gedeutet werden könnte, wie damals beim NSU. Danke. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Der Kollege Armin Schuster spricht als Nächster für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Susann Rüthrich [SPD]) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 4. November – nicht lange her –: fünfter Jahrestag des Auffliegens der NSU-Mordserie. Das ist ein guter Termin für diese Debatte, drei Jahre nach dem Abschlussbericht, den der erste NSU-Untersuchungsausschuss erarbeitet hat, und gut drei Jahre nachdem wir uns hier in aller Form persönlich bei den Angehörigen der Opfer entschuldigt haben. Wir haben im September 2013 zwei Versprechen abgegeben, nämlich erstens, alles zu unternehmen, damit sich das nicht wiederholt, und zweitens, alles zu unternehmen, um diese Serie aufzuklären. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Das erste Versprechen mündete in 47 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses für Exekutive, Legislative und Judikative. Alle hatten ihr Päckchen zu tragen. Heute ziehen wir Bilanz. Das zweite Versprechen, alles zu tun, um aufzuklären: Das sehen Sie in München vor Gericht. Das sehen Sie in zwölf NSU-Untersuchungsausschüssen von Ländern und im Bund. Sie sehen es an der akribischen intensiven Arbeit des Bundeskriminalamts, des Bundesamts für Verfassungsschutz und vieler Ländersicherheitsbehörden. Meine Damen und Herren, diametral anders als Sie, Frau Pau, halte ich das, was wir seit Ende 2011 in diesem Land tun, um das alles zu klären, für historisch beinahe einmalig. Ich hätte mir gewünscht, dass wir so konsequent auch nach der RAF-Mordserie oder nach dem Oktoberfest-Attentat gehandelt hätten; da wäre das vielleicht auch notwendig gewesen. Was wir in Sachen NSU-Aufklärung tun, ist ein ganz schlechter Anlass, Frau Pau, um uns selbst zu beschimpfen. Sie haben sich ja gerade eben selbst beschimpft. Das halte ich nicht für angemessen. Es ist über Parteigrenzen hinweg, gerade im Untersuchungsausschuss, in den Untersuchungsausschüssen, alles unternommen worden. Warum? Wir haben alle regiert, Sie auch. Wir waren alle betroffen, nicht nur der Verfassungsschutz. Ich sage es Ihnen ganz offen: Es ist ein Ausdruck von Feigheit, wenn wir hier mit dem Finger auf den Verfassungsschutz zeigen und selbst nie in einem Innenausschuss eines deutschen Parlaments die Mordserie als Tagesordnungspunkt aufgerufen haben. Wer selbst so viel Grund hat, über sich nachzudenken, sollte nicht mit dem Finger andauernd auf andere zeigen. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Zur Sache! Was läuft denn hier?) Ich habe damals, im September 2013, von einem kompletten Systemversagen gesprochen: der Justiz, der Exekutive, aber auch der Legislative. Deswegen finde ich die Schuldzuweisungen ein bisschen billig, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU – Karin Binder [DIE LINKE]: Es geht nicht um Schuldzuweisung, sondern um das Erkennen von Fehlern!) Lassen Sie uns mal über die 47 Empfehlungen sprechen! Wir haben in diesem Haus 47 Empfehlungen verabschiedet. Ich kenne keinen anderen Politikbereich, in dem man in einem solchen Fall nach drei Jahren sagen kann: Beinahe alles abgeräumt, meine Damen und Herren. – Ein Mammutreformprogramm haben wir gemacht. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Was denn?) Wie Frau Pau kann auch ich nicht alles aufzählen. Ich bräuchte 90 Minuten Redezeit, um zu erklären, was wir alles getan haben. Sie haben auch nur 3 Punkte von 47 herauspicken können. (Zuruf der Abg. Karin Binder [DIE LINKE]) Meine Damen und Herren, das ist auch ein Stück Erfolg: konsequente Umsetzung. Ich nenne es eine staatliche Entschuldigung. Wir haben uns bei den Angehörigen der Opfer persönlich entschuldigt. Es gibt aber auch eine staatliche Entschuldigung, weil wir wahrmachen, was wir versprochen haben: mit der Einrichtung von Abwehrzentren gegen rechts, mit der Rechtsextremismusdatei, mit anderen polizeilichen Informations- und Analysesystemen, mit der Verfassungsschutzreform. Die Abschaffung von V-Leuten, Frau Pau: Nicht mal Ramelow setzt das um. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Oberlehrer spielen!) Seien Sie ehrlich: Er ist als großer Tiger gestartet und landet jetzt als Bettvorleger. Ich bin froh darüber, dass Sie das Amt für Verfassungsschutz nicht aufgelöst haben. Ich bin auch froh darüber, dass die Thüringer erkennen, dass es V-Leute braucht. Das war ein Vorschlag zur Unzeit. (Frank Tempel [DIE LINKE]: V-Leute unter den Rechtsextremen sind in Thüringen abgeschaltet!) Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand draußen versteht, dass Sie das Amt jetzt, zur Hochzeit des Terrorismus, auflösen wollen. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Ein bisschen mehr Sachkenntnis vielleicht!) Bundesjustizminister Maas hat ein umfangreiches Justizreformpaket verabschiedet. Wir haben hier letzte Sitzungswoche die Reform des Parlamentarischen Kontrollgremiums verabschiedet. Das Parlamentarische Kontrollgremium schon wieder zu reformieren, war nicht leicht. Aber es war eine Kernforderung des Empfehlungskatalogs des NSU-Untersuchungsausschusses aus der letzten Legislaturperiode. Meine Damen und Herren, so schlimm all das, was passiert ist, war – wir sind in der Lage, zu sagen: Wir haben enorm viel geleistet. Deswegen ist mein Befund ein völlig anderer als der der Linken. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Keine Sachkenntnis, aber irgendwas erzählen!) Jetzt gehe ich auf die Frage ein: Was bringt eigentlich der NSU-Untersuchungsausschuss dieser Legislaturperiode? Meine Damen und Herren, es geht um die Ehre der Opfer. Es geht um Schmerz, Wut und Trauer von Angehörigen, und es geht um die Frage der Haltung unseres Staates. Solange wir nicht wissen, warum diese Menschen zu Opfern wurden, solange wir nicht genau wissen, ob es genau diese drei Täter waren, solange wir nicht genau wissen, wer wirklich geholfen hat, ist es eine Frage der Haltung, niemals aufzugeben, diese Fragen beantworten zu wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mit einem kleinen Augenzwinkern richte ich mich jetzt an die Mitarbeiter vom Bundeskriminalamt, vom Generalbundesanwalt, vom Bundesamt für Verfassungsschutz und vieler Länderbehörden. Ja, wir Untersuchungsausschussmitglieder sind manchmal verdammt müde. Es ist hart, vor allen Dingen donnerstagabends; das gebe ich zu. Auch ich habe dann Selbstzweifel. Aber ich glaube, wir tun das Richtige. Wir werden uns nicht wie bei der RAF in 10 oder 15 Jahren davon überraschen lassen, dass plötzlich noch drei dieser Täter in der Gegend herumlaufen und ein paar Raubüberfälle begangen werden. Das wird uns nicht passieren. Der Auftrag, den wir uns gegeben haben, ist nicht, das x-te Behördenversagen zu identifizieren. Nein, wir wollen jede Chance nutzen, dass eine der spektakulärsten und schlimmsten Mordserien der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht unaufgeklärt bleibt. Noch ein Augenzwinkern. Wir wissen nicht, wie viele Nachermittlungen wir durch unsere Arbeit im Untersuchungsausschuss auslösen. Aber wir ahnen es. Allein die Tatsache, dass es Nachermittlungen gibt, ist ein Erfolg, ebenso die Tatsache, dass wir mit etlichen Theorien, teilweise auch Verschwörungstheorien, aufräumen können. Auch ich hatte Theorien, die sich zerbröselt haben. Und es ist wichtig, dass sie sich zerbröseln. Es ist wichtig, dass wir auf den Kern der Sache kommen. Meine Damen und Herren, Wolfgang Wieland, der Fraktionssprecher der Grünen in der letzten Legislaturperiode, sagte – ich gebe ihn sinngemäß wieder –: Wir haben uns alle Mühe gegeben, herauszufinden, ob die Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind sind. – Sein Befund war: Sie sind nicht auf dem rechten Auge blind, aber in einem gehörigen Maße betriebsblind, ja. Frau Dr. Högl, die hier sitzt, sagte damals, es sei ein Versagen mit strukturellen Ursachen gewesen; Rechtsextremismus sei als Gefahr nicht gesehen worden. Aber die SPD-Fraktion und auch wir, die Union, haben nicht den Befund erhoben: Hier gibt es institutionellen Rassismus. (Dr. Eva Högl [SPD]: Doch, das haben wir immer gesagt!) Das ist ein ganz schlimmer Vorwurf, der von den Grünen und Linken leider immer wieder erhoben wird. Meine Damen und Herren, in diesen Zeiten braucht es Politiker in Regierungen und Parlamenten, die Verantwortung vor Gesinnung stellen. Verantwortung vor Gesinnung heißt, Frau Pau, dass Sie sich hier am Rednerpult genauso verhalten wie im Ausschuss. Warum Sie hier teilweise anders sprechen, weiß ich nicht. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Macht sie nicht! Macht sie definitiv nicht!) Ich weiß auch nicht, welche Kundschaft Sie bedienen müssen. Aber die kooperative und konstruktive Zusammenarbeit im Ausschuss gefällt mir sehr gut. Es passt aber nicht zu dem, wie Sie hier reden. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie kann reden, wie sie will!) Zum Abschluss. Meine Damen und Herren, ein wahrscheinlich in diesem Haus einmaliger Reform- und Aufklärungsmarathon im Bereich Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus erfordert Ausdauer und Geduld. Diese sollten wir bewahren. Ich glaube, dass das angesichts des Leids, das die Menschen, die Opfer wurden, erfahren haben, nicht zu viel verlangt ist. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Irene Mihalic. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Bundesregierung! Wenn man Ihre Antwort auf die Große Anfrage der Linken liest, dann wird schon sehr deutlich, was für Sie die Aufarbeitung des NSU-Terrors in der Praxis bedeutet. Herr Schuster hat sie ein „Mammutreformprogramm“ genannt. Ich nenne sie ganz viel Kosmetik, ganz viel Bestandspflege, wie beim Bundesverfassungsschutzgesetz, ganz viel Augenwischerei, und mein Eindruck ist ein wenig „Haken dran und fertig“. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das sage ich bei aller fraktionsübergreifenden Einigkeit, die ich im Untersuchungsausschuss erlebe. Aber wir sehen das ganz anders. Für uns ist das Ende der Aufarbeitung dieser beispiellosen Terrorserie noch lange nicht in Sicht. Wir sehen ja auch aktuell, wie gefährlich eine solche Haken-dran-Mentalität heutzutage ist. Allein in diesem Jahr gab es 832 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, und die Zahl der rechten Gewaltdelikte hat sich gegenüber dem Jahr 2015 bereits heute mehr als verdoppelt. Da ist es schon ein heftiger Kontrast, wenn die Bundesregierung in ihrer Einschätzung aktuell nur 20 Gefährder im rechten Spektrum ausmacht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Zahl zerschellt doch krachend an der Realität. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Dass der analytische Blick an den Tatsachen hart vorbeigeht, hat auch etwas damit zu tun, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz bei der Aufklärung des NSU-Terrors weiter mauert. Gesetzlich wird das Eigenleben des Verfassungsschutzes sogar noch gefördert. So können immer noch schwerstkriminelle Neonazis als V-Leute angeworben werden und mit staatlicher Unterstützung rechnen. Wie gefährlich das sein kann, sehen wir bei unserer Untersuchungsausschussarbeit laufend. Deshalb kann ich Ihnen sagen: Ich vertraue diesen sogenannten Vertrauensleuten nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Aber was Regierung und Parlament zu dieser Praxis sagen, zählt laut Gesetz leider überhaupt nicht. Am Ende entscheidet der Verfassungsschutzpräsident im Alleingang. Aber das kann doch kein Zustand sein, an dem wir ernsthaft festhalten wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wir brauchen die Novelle der Novelle des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Erst gestern hat eine ehemalige Leiterin einer Verfassungsschutzbehörde im Untersuchungsausschuss treffend gesagt: So kann es nicht weitergehen. – Auflösen und neu starten, das wäre das, was man mit dem Verfassungsschutz machen müsste. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen wir doch immer!) In der Antwort auf die Große Anfrage kann man auch etwas über Reformbemühungen lesen. Ich will einen Satz zitieren: Einen wesentlichen Beitrag zur Transparenz des Verfassungsschutzes stellen die zahlreichen öffentlichen Ausführungen der Amtsleitung des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Medien, bei Diskussionsveranstaltungen und Vorträgen dar. Ja, das stimmt. Im Fernsehen und in überregionalen Interviews ist Herr Maaßen ein häufig gesehener Gesprächspartner. Im Innenausschuss des Bundestages hat er sich dagegen schon lange nicht mehr blicken lassen. Ich ahne auch, warum. Schließlich sagt er ja selbst, dass wir hier im Parlament nur die Arbeit seiner Behörde erschweren würden. Ja was ist das denn für eine Haltung, liebe Kolleginnen und Kollegen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Herr Schuster, Sie haben völlig recht: Das, was wir tun – mit zwölf Untersuchungsausschüssen, die gearbeitet haben, ihre Arbeit abgeschlossen haben oder heute noch an diesem Thema dran sind –, ist in der Tat historisch. Aber angesichts dieser Haltung des Behördenleiters einer Verfassungsschutzbehörde ist es doch kein Wunder, dass wir in dieser Logik bei der Aufklärung der Rolle des Verfassungsschutzes keinen Schritt weiterkommen. Die Bundeskanzlerin hat vor fast fünf Jahren rückhaltlose Aufklärung versprochen. Heute, am fünften Jahrestag des vorsätzlichen Aktenschredderns, erwarte ich endlich ein unmissverständliches Wort der Kanzlerin an den Verfassungsschutz, diese Blockadehaltung endlich aufzugeben und die Aufklärung nicht weiter zu blockieren. Wir jedenfalls machen dieses Spiel auf Zeit nicht mit. Auch wenn die x-te Akte verspätet, gar nicht, geschwärzt, durcheinander oder nur teilweise geliefert wird oder wichtige Zeugen krank oder im Urlaub sind: Es dauert so lange, wie es dauert. Nicht abhaken, sondern vollständig aufklären und verändern – das muss das Ziel sein. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächster Redner ist der Kollege Uli Grötsch für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Uli Grötsch (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 19 Monate intensive Aufklärungsarbeit, 107 vernommene Zeugen und Sachverständige in fast 350 Stunden Sitzungszeit, rund 12 000 als Beweismittel beigezogene Akten: Für all das und noch viel mehr steht der erste NSU-Untersuchungsausschuss, den der Bundestag im Januar 2012 eingesetzt hat, für eine in der Geschichte des Parlaments wohl einmalige Art der Aufklärung und der Arbeitsweise. Und doch, Herr Schuster, der Ausschuss hat damals deutlich gemacht, dass es sich auch um institutionellen Rassismus handelte und nicht nur um Ermittlungspannen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Armin Schuster [Weil am Rhein] [CDU/CSU]: Mit abweichenden Voten!) Der Untersuchungsausschuss wurde als Erster in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aufgrund eines gemeinsam formulierten Antrags aller Fraktionen – einstimmig – mit dem einen Ziel eingesetzt, eine lückenlose, gründliche und vollständige Aufklärung staatlichen Versagens bei einer der schwersten Verbrechensserien zu erreichen, die dieses Land je gesehen hat – eine Verbrechensserie, die uns alle angeht und deren Aufarbeitung andauert, bis heute. Denn die Taten, die die Opfer und ihre Angehörigen unfassbares Leid haben erfahren lassen, waren ein Anschlag auf uns alle, auf uns, für die es selbstverständlich ist, dass Deutschland ein weltoffenes und vielfältiges Land ist und bleibt. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieser Untersuchungsausschuss steht nicht nur für den umfassenden Aufklärungswillen, sondern auch für 47 Handlungsempfehlungen. Diese 47 Empfehlungen sind die Botschaft über die rund 1 300 Seiten Abschlussbericht hinaus. Eine derartige Verharmlosung der Gefahr aus dem rechtsextremen Lager und das multiple Versagen von Polizei, Justiz, Verfassungsschutz, Politik, von Medien und Gesellschaft dürfen sich niemals wiederholen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Clemens Binninger [CDU/CSU]) Wo stehen wir heute, gut fünf Jahre nachdem sich die rechtsextreme Terrorgruppe NSU selbst enttarnt hat? Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir uns insbesondere für eine bessere Schulung und Sensibilisierung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Sicherheitsbehörden eingesetzt. Wir haben die notwendige Reform des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Gang gesetzt sowie klarere und strengere Regeln für die Anwerbung und Führung von V-Personen und die Ausweitung der parlamentarischen Kontrolle erreicht. Dabei war es uns auch wichtig, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in funktionierende Sicherheitsbehörden wiederherzustellen. Außerdem haben wir zentrale Vorgaben mit Blick auf den Einsatz von Vertrauenspersonen in den Sicherheitsbehörden aufgegriffen. Klare gesetzliche Regelungen haben wir nun nicht nur hinsichtlich der Bezeichnung menschlicher Quellen. Wir haben diese darüber hinaus auch mit Blick auf deren Auswahl, Führung und deren Befugnisse. Mit dem Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum etwa haben wir eine wichtige Plattform für den Informationsaustausch geschaffen. Innerhalb des Verfassungsschutzverbundes bilden die Inbetriebnahme eines runderneuerten nachrichtendienstlichen Informationssystems und dessen kontinuierliche Weiterentwicklung einen wichtigen Schritt, um die Analyse- und Koordinierungsfähigkeit der Verfassungsschutzbehörden fortlaufend zu verbessern. Darüber hinaus haben wir durch das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus neben dem Aufbau der Rechtsextremismusdatei auch die Verarbeitung von Texten in NADIS-Verbunddateien durch Einbezug des Bereichs rechtsextremistischer Bestrebungen erleichtert. Diese Ergänzung hat die Auswertungs- und Analysefähigkeit in diesem Bereich deutlich verbessert. Aber all diese gesetzgeberischen und technischen Maßnahmen können eines nicht ersetzen: Der vielbeschworene Mentalitätswechsel, die Sensibilität für Rassismus und Menschenverachtung, ist und bleibt der zentrale Hebel dafür, dass alle Menschen in Deutschland wieder mehr Vertrauen in ausnahmslos alle Sicherheitsbehörden in Deutschland haben. Ich spüre das Bemühen der Sicherheitsbehörden bei meiner täglichen Arbeit im Bundestag. Aber ich möchte an dieser Stelle schon auch sagen, dass ich es für utopisch halte, in Behörden mit Tausenden von Mitarbeitern keine schwarzen Schafe zu haben. Aber auch wenn es wie eine Utopie klingt: Das muss das Ziel sein. Diejenigen, die sich in den Sicherheitsbehörden dafür einsetzen, die sich mit uns auf den Weg dahin gemacht haben, verdienen jede Unterstützung von uns. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Auch wenn durch die Umsetzung der Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschusses ein umfassender Reformprozess bei Polizei, Verfassungsschutz und Justiz im Bund und in den Ländern angestoßen worden ist, will ich an dieser Stelle gar nicht abstreiten, dass wir uns keinesfalls darauf ausruhen dürfen. Wir haben vielmehr noch ein gutes Stück der Wegstrecke vor uns. Dass wir noch lange nicht am Ende unserer Reformbestrebungen angekommen sind, wird uns immer wieder in den Zeugenvernehmungen des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses vor Augen geführt. Wir merken seit geraumer Zeit beinahe jeden Tag beim Lesen der Zeitung, dass diese Notwendigkeit weiterhin besteht: Ein rechtsgesinnter „Reichsbürger“ erschießt einen Polizisten; ein katholischer Bischof bekommt Todesdrohungen, weil er einen muslimischen Bundespräsidenten für vertretbar hält; 832 Angriffe gegen Flüchtlingsheime in Deutschland in den ersten zehn Monaten des Jahres 2016 zählt das Bundeskriminalamt – nur drei vermeintliche Höhepunkte der menschen- und demokratiefeindlichen Zeit, in der wir offenbar leben. Weil bereits latent vorhandene rechtsextreme Einstellungen ein erhebliches Risiko für das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft darstellen, haben wir uns als SPD-Bundestagsfraktion im Zusammenhang mit den Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschusses vehement dafür eingesetzt, die Zivilgesellschaft zu stärken und die Präventionsarbeit endlich zu verstetigen (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, weder mit den 47 Handlungsempfehlungen des ersten Bundestagsuntersuchungsausschusses zu den Taten des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds noch mit unserer aktuellen Befassung im Nachfolgeausschuss kann diese Arbeit jemals abgeschlossen sein. Sie muss für uns alle eine Daueraufgabe sein. Ich darf in diesem Zusammenhang an die Worte der Bundeskanzlerin erinnern, die im Rahmen der Trauerfeier für die NSU-Opfer und deren Angehörige im Februar 2012 Folgendes sagte: Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann. Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir uns messen lassen. Dies sind wir nach wie vor dem ganzen Land schuldig, aber vor allem jenen, die meiner Meinung nach aktuell zu sehr im Hintergrund stehen, nämlich den Ermordeten Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat, der getöteten Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter, dem schwerverletzten Kollegen, allen Angehörigen der Opfer sowie den bei den Sprengstoffanschlägen in Köln zum Teil schwer verletzten Menschen. Vielen Dank. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Hoffmann für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Thorsten Hoffmann (Dortmund) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Pau, Frau Mihalic, einige Sachen sehe ich wirklich komplett anders als Sie. – Das nur am Anfang. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ja jetzt neun Minuten!) Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in der Dortmunder Nordstadt heimtückisch ermordet. Zu dieser Zeit – jetzt werde ich mal persönlich – verrichtete ich als Polizeibeamter meinen Dienst in dieser Stadt. Und wer sich dort ein wenig auskennt, der weiß, dass der Tatort, der Kiosk der Kubasiks, auf der Mallinckrodtstraße liegt und diese Gegend als eher schwierig zu beurteilen ist. In die Ermittlungen zum Mord an Mehmet Kubasik war ich nicht eingebunden. Aber ich kannte und kenne alle Ermittler aus der damaligen Mordkommission. Jeder von ihnen war mit ganzem Herzen dabei und hat versucht, diese schreckliche Tat aufzuklären, um den oder die Täter zu ermitteln oder dingfest zu machen. Als am 14. Juni 2000 Michael Berger, ein Neonazi aus Dortmund, auf der Flucht einen Kollegen erschoss, war ich im Dienst. Mit meinem damaligen Partner und vielen anderen Kolleginnen und Kollegen verfolgten wir Berger durch Dortmund, Waltrop und einige andere Städte des Ruhrgebiets. Im Bereich von Waltrop erschoss er zwei weitere Kollegen. Dann nahm er sich in einem Waldstück selbst das Leben. An dieser Stelle möchte ich an meine Kollegen Thomas Goretzky, Yvonne Hachtkemper und Matthias Larisch von Woitowitz erinnern. Sie haben sich für unsere Sicherheit eingesetzt. Sie verloren im Dienst ihr Leben. Es wurde ihnen von einem Wahnsinnigen genommen. Ich möchte auch noch einmal an Mehmet Kubasik erinnern, dessen Familie bis heute nicht weiß, warum diese irren Neonazis gerade den Ehemann, Vater und Freund Mehmet Kubasik ermordet haben. In beiden Fällen war das Opfer keine gezielt ausgesuchte Person. Berger kannte die Polizisten nicht. Mundlos und Böhnhardt, von denen wir heute wissen, dass sie Mehmet Kubasik erschossen, kannten ihn nicht. Meine Damen und Herren, die Arbeit des ersten NSU-Untersuchungsausschusses war unheimlich wichtig. Es waren viele Fragen offen; daran besteht gar kein Zweifel. Das dürfen wir nicht verschweigen, und das machen wir ja auch nicht. Wir sind es den Hinterbliebenen und der Bevölkerung schuldig, die Geschehnisse lückenlos aufzuklären; denn ich und wir alle – davon bin ich überzeugt – möchten, dass die Familien und Angehörigen der Opfer des NSU-Terrors Ruhe finden, endlich Ruhe finden. Ich möchte, dass sie wissen, dass wir als Staat und Gesellschaft alles tun, um diese grausamen Taten aufzuklären. Ich möchte, dass sie wissen, dass in Deutschland jedes Leben gleich viel wert ist, sei es das eines Polizisten oder das eines türkischen Kioskbesitzers. (Beifall im ganzen Hause) Meine Damen und Herren, ich sage das hier auch deshalb so deutlich, weil unser Staat und seine Institutionen nicht fremdenfeindlich und nicht rechtsradikal sind. Wenn hier jemand meint, er könne die Taten des NSU missbrauchen, um fragwürdige politische Ansichten zu verbreiten, so erteilen wir ihm hier gemeinsam eine Absage. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer macht denn das?) Wer dem Staat pauschal und vielleicht auch aus politischen Erwägungen heraus ohne jeden Nachweis abspricht, sich ernsthaft um die Aufklärung bemüht zu haben, spielt den Extremisten in die Karten. – Sie ziehen sich den Schuh ja möglicherweise an; ich weiß es nicht. Das haben Sie gerade gemacht. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann zitieren Sie mal! Wir fragen doch nur, wer das macht!) Auch der NSU wollte den Staat treffen. Die Taten richten sich nicht nur gegen die Opfer, gegen Ausländer in Deutschland und Mitbürger mit Migrationsgeschichte, sondern auch ausdrücklich gegen unseren Staat. Der Mord an Michèle Kiesewetter, der versuchte Mord an dem Polizisten Martin Arnold, meine drei von Michael Berger ermordeten Kollegen, das waren gezielte Morde und keine Kollateralschäden. Die Terroristen hassen den Staat. Sie hassen, dass unser Staat jedem die gleiche Heimat gibt. Sie hassen, dass unserem Staat Ethnien und Glaubensrichtungen gleich sind. Sie hassen, dass unser Staat und seine Institutionen alle seine Bürger schützt und allen Freiheiten gewährt. Meine Damen und Herren, es ist wahr, dass unser Staat durch den NSU eine herbe Niederlage erlitten hat. Durch die Ergebnisse des ersten NSU-Untersuchungsausschusses wurden Schwachstellen erkannt, weil wir einvernehmlich und gut zusammengearbeitet haben, und das machen wir jetzt auch im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss. Größtenteils wurden diese Schwachstellen behoben. Wenige Lücken müssen wir noch schließen, und da sind wir dran. Die tatsächlich gemachten Fehler bei den Ermittlungen im NSU-Fall dürfen aber nicht dazu führen, dass wir denken, dass ganze Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften, Gerichte, Verfassungsschutzämter und sonstige staatliche Institutionen über Jahrzehnte hinweg schlecht gearbeitet haben. Das ist definitiv nicht richtig. Das stimmt einfach nicht. Wir haben in Deutschland eine hervorragende Aufklärungsquote, wenn es zum Beispiel um Kapitaldelikte geht. Wir haben einen Verfassungsschutz, der auf rechtlicher Grundlage immer wieder detailliert über die Gefahren von rechts und links und auch aus dem religiös motivierten Extremismus berichtet. Wir sind doch jetzt qualitativ an einer ganz anderen Stelle. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) Gerade auch das Bundesamt für Verfassungsschutz hat in den letzten Wochen und Monaten sehr gute Erfolge vorzuweisen. Denken wir nur an die Zerschlagung des IS-Anwerbernetzes um Abu Walaa. Diese Erfolge sind eben auf diese veränderten Arbeitsweisen, die Verbesserungen in der Informationsstruktur und auf die sensibilisierte Arbeitsweise zurückzuführen. Um dies leisten zu können – das zeigt doch die Antwort der Bundesregierung ganz klar –, brauchen wir auch und vor allem mehr Personal. Die Maßnahmen, die im Rahmen des personell Möglichen und im Rahmen des Zuständigkeitsbereichs der Bundesregierung vollständig umgesetzt werden, verbessern die Arbeit der Ermittlungsbehörden weiter. Warum ist das wichtig? Zum einen dürfen wir von unseren ausgebildeten Beamten im Einsatz nicht erwarten, dass sie die tägliche Arbeit wie zuvor leisten und zusätzlich noch zahlreiche Lehrgänge und Fortbildungen machen, wenn wir nicht durch zusätzliches Personal Zeit dafür schaffen. Richtig und wichtig ist, dass dieses Personal ausdrücklich bei Menschen mit Migrationshintergrund gesucht wird. Dass die Bundespolizei in die Zukunft denkt – das macht sie übrigens innovativ –, zeigt sich daran, dass sie bei der Anwerbung von Nachwuchs verstärkt das Potenzial der sozialen Medien nutzen wird. Zum anderen braucht es allerdings Zeit, bis sich Veränderungen durchsetzen. Wir können nicht erwarten und verlangen, dass sich alles von heute auf morgen ändert. Es braucht Zeit, bis sich Änderungen durchsetzen, bis sie in Fleisch und Blut übergehen. Veränderungen müssen im Übrigen auch verarbeitet werden. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede; schließlich habe ich selbst einmal dort gearbeitet. Wir können aber nicht beim Thema Personal stehenbleiben, das dürfen wir auch nicht. Zur Verbesserung der Struktur haben wir mit dem Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum gegen Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus ein hervorragendes Instrument zur Früherkennung von politisch motivierten Straftaten geschaffen. Mit dieser Einrichtung sind wir am Puls der Zeit; denn es ist nicht einfach nur eine neue Behörde, sondern es ist eine dauerhafte Kooperationsplattform von Bund und Ländern. Sie vereinfacht die oft schwierigen und länderübergreifenden Ermittlungen. Denn wie in anderen Kriminalitätsbereichen gilt auch hier: Der Rechtsextremismus macht nicht vor Ländergrenzen halt. Die Einrichtung des Polizeilichen Informations- und Analyseverbundes PIAV war deshalb notwendig. Es ist gut, dass bis 2020 ein ambitionierter Ausbau von PIAV angedacht ist. Zugleich wird dadurch in den kommenden Jahren auch der Informationsfluss weiter verbessert. Zeiten und Ressourcen werden dadurch deutlich eingespart. Mit all diesen Maßnahmen wollen wir die Zusammenarbeit der Polizeien der Länder, der Bundespolizei, des BKA und der Geheimdienste noch weiter verbessern. Dies ist der einzig richtige Weg, den größtmöglichen Schutz vor Verbrechen und insbesondere vor Hasskriminalität zu gewähren. Ich komme zum Gesetzentwurf der Linken. Ich sage es von vornherein: Wir können ihm nicht zustimmen. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Das ist ja eine Überraschung!) – Das haben Sie sich gedacht; das habe ich mir wiederum gedacht. – Wir können ihm nicht zustimmen, weil wir Opfer von Gewalttaten nicht belohnen wollen, sondern wir wollen die Straftaten im Vorfeld verhindern. Das ist für uns der richtige Ansatz. Dazu haben wir die richtigen Maßnahmen eingeleitet. Deswegen haben wir im Bundeskriminalamt die „Task Force Gewaltdelikte“ und die Clearingstelle „Straftaten gegen Asylunterkünfte“ eingerichtet. Das ist der richtige Weg. Man braucht nicht einmal böse von Menschen zu denken, wenn man erwartet, dass diese versuchen würden, das von Ihnen angedachte Gesetz zu missbrauchen. Deshalb müssen wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Ich bin der Überzeugung, dass wir in der Umsetzung der Empfehlungen des ersten Untersuchungsausschusses wirklich weit gekommen sind. Die Bundesregierung hat hier ihre Aufgaben gemacht. Deshalb möchte ich an dieser Stelle – das ging fast unter – herzlichen Dank sagen an alle ermittelnden Behörden, die uns tatkräftig bei der Verbrechensaufklärung unterstützen. Herzlichen Dank dafür an dieser Stelle. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte noch kurz auf die Länder zu sprechen kommen. Auch diese sind auf dem richtigen Weg. Ich bin zuversichtlich, dass auch hier zeitnah alle möglichen Verbesserungen umgesetzt werden. Wir sind nämlich nur im Verbund stark. Und wir leben – das darf man an dieser Stelle ruhig einmal sagen – in einem der sichersten Länder der Welt. Wenn man bedenkt, dass in Cali in Kolumbien rund 1 600 Morde passieren und in ganz Deutschland mit knapp 81 Millionen Einwohnern – in Anführungszeichen; jeder ist zu viel – nur 282 Morde passieren, dann zeigt das die Dimension. Wir wohnen in einem der sichersten Länder der Welt. Darauf können wir stolz sein, und das dürfen wir ruhig auch mal sagen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Der Kollege Frank Tempel spricht jetzt für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Frank Tempel (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit gut anderthalb Jahren sitze ich im zweiten Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum NSU. Im Abschlussbericht des ersten Untersuchungsausschusses wurden Empfehlungen ausgesprochen, verfestigte Einstellungen und Kurzsichtigkeit gegenüber rechtsextremen und rassistischen Gewalttätern bei Polizei und Gerichten zurückzudrängen. Rechtlich wurde auch einiges gemacht. Es wurden „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Beweggründe und Ziele von Gewalttaten ausdrücklich in den Katalog der Strafzumessungsumstände aufgenommen. Diese sollen von Staatsanwaltschaft und Gericht strafverschärfend berücksichtigt werden. (Beifall der Abg. Susann Rüthrich [SPD]) Doch was, Herr Schuster, sind solche Empfehlungen wert, wenn es keinen Mentalitätswechsel bei den staatlichen Strukturen gibt? Empfehlungen alleine reichen eben nicht; (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) Petra Pau hat das in ihrer Rede bereits angesprochen. Als Kriminalbeamter aus Thüringen schaue ich natürlich ganz besonders auf die Polizei. Ich erinnere mich mit Unbehagen an ein konkretes Beispiel aus dem jetzigen Untersuchungsausschuss. Ich wohne nun einmal in der Nähe von Zwickau, also der Stadt, in der das Mordtrio so viele Jahre, völlig unbehelligt von den staatlichen Strukturen, untertauchen konnte, und ich weiß als Beobachter von einer ausgeprägten rechtsextremen Szene, von Nazikonzerten, von einem rechten Hooliganmilieu. Wir durften eigentlich erwarten, dass bei verantwortungsvoller Problemanalyse ganz besonders der zuständige Dienststellenleiter der Kriminalpolizei diesen Schwerpunkt kennt und beachtet. Mein Erstaunen war vor wenigen Monaten im Untersuchungsausschuss jedoch sehr groß, als ich feststellen musste, wie gering das Wissen des Zwickauer Kripochefs zur rechten Szene ist. Ich erinnere an seine Antwort: Wir haben keine Schwerpunktlage rechts. Dieses Desinteresse findet sich nicht nur in der Polizei von Zwickau, und es ist schon gar nicht ein rein polizeiliches Problem; wir finden es auch beim Verfassungsschutz und bei der Justiz immer wieder. Ich muss es leider sagen: Viele Polizeibeamte, nicht alle, aber viele Polizeibeamte in den verschiedensten Bereichen, mit denen ich gerade in den letzten Wochen persönlich gesprochen habe, sehen nach wie vor in Flüchtlingen in erster Linie erst einmal potenzielle Straftäter, nicht Opfer. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Na, na, na! Das glauben Sie doch selber nicht! – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Belegen Sie das mal!) – Das ist tatsächlich so. In ganz vielen persönlichen Gesprächen war das immer wieder die Antwort. Von Rechtsextremisten werden augenscheinlich in erster Linie Linke, die Zivilgesellschaft und Menschen mit Migrationshintergrund bedroht. Viele Bürger, auch Polizeibeamte, fühlen sich davon selbst nicht betroffen. Sie haben keinen Blick dafür. Ich unterstelle da nicht einmal bösen Willen. Verzerrte Wahrnehmung kennen wir aus der Psychologie; wir wenden das hier nur nicht an. (Zuruf des Abg. Clemens Binninger [CDU/CSU]) Wenn wirklich Vorurteile und verzerrte Wahrnehmungen bei der Polizei abgebaut werden sollen, dann reichen Empfehlungen nicht, dann liegt sehr viel Arbeit vor uns. (Beifall bei der LINKEN) Ein parlamentarischer Polizeibeauftragter könnte, nebenbei bemerkt, als Frühwarnsystem gegen solche Entwicklungen durchaus wirksam sein. Einseitige Wahrnehmung entsteht nun einmal durch subjektive Wahrnehmungen im Dienstalltag. Dem muss entgegengewirkt werden, um wiederkehrende Schieflagen bei der Einschätzung rechtsextremer Straftaten zu beseitigen. Es ist falsch, wenn Innenminister de Maizière auf die Aufforderung der Gewerkschaft der Polizei nach mehr politischer Bildung in der Bundespolizei antwortet, politische Bildung sei Privatpflicht der Beamten und nicht von der Polizei zu leisten. Hier ist der Dienstherr gefragt, meine Damen und Herren, und damit auch wir. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Als Nächstes spricht die Kollegin Susann Rüthrich für die SPD. (Beifall bei der SPD) Susann Rüthrich (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die rechtsextreme Terrorgruppe NSU hat zehn Menschen umgebracht, mit Bomben Menschen verletzt und Banken überfallen. Davon wissen wir jetzt genau seit fünf Jahren. Aber sind das alte Geschichten? Na ja, eher nicht. Es gab über 800 Angriffe allein in diesem Jahr. Es wird im Moment Anklage gegen eine mutmaßliche Terrorgruppe aus Freital erhoben, die rassistische Überfälle umgesetzt, politische Gegner angegriffen, Angst verbreitet hat. Mitglieder der Gruppe Oldschool Society sind angeklagt. Sie haben Angriffe auf Kirchen, Kindergärten und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen geplant. Diese Angriffe wollten sie Musliminnen und Muslimen und politischen Gegnern in die Schuhe schieben, um einen Krieg in Deutschland anzustacheln. Diese Gruppen konnten Gott sei Dank daran gehindert werden, Menschen zu töten. Ist das ein Beleg dafür, dass wir aus den Fehlern im Zusammenhang mit dem NSU gelernt haben? Reagieren unsere Behörden schneller? Ich will es hoffen. Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt bei mir ein flaues Gefühl. Wie würden wir reagieren, wenn diese Taten nicht von rechten Menschenfeinden geplant worden wären, sondern etwa von Islamisten? Wie würden wir reagieren, wären Kirchen oder Kindergärten von denen bedroht worden, wären Bomben in Freital vom IS gelegt worden, wären in diesem Jahr 800 weiße Deutsche aus Hass angegriffen worden? Meine Vermutung ist: Dieses Land würde kopfstehen, und zwar völlig zu Recht. Das wäre in Politik und Medien das Topthema. Wir würden es als das erkennen und benennen, was es ist: als Terror. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dieser rechte Terror sendet eine Botschaft an die eh schon oft an den Rand gedrängten Gruppen: Ihr seid hier nicht sicher. Geht! – Aber wir fühlen uns viel zu oft nicht angegriffen, sondern das sind Menschen, die zu viele von uns für „andere“ halten. Genau das ist das Problem. Die Taten des NSU können wir nicht rückgängig machen. Wir können die Toten nicht lebendig machen, genauso wenig wie die vielen anderen Opfer rechtsextremer Gewalt. Was wir aber den Opfern, den Angehörigen und Freunden schuldig sind, ist, aus den Taten zu lernen. Wir mögen seit der Selbstenttarnung des NSU aufmerksamer geworden sein und vieles verändert haben, wir mögen auch vieles aufgeklärt haben: Aber haben wir bereits genug getan? Ich denke: nein. Ich nenne zwei Bereiche, in denen ich noch Handlungsbedarf sehe. Zum einen sehe ich ihn bei der Stärkung der Zivilgesellschaft; dies ist eine der Handlungsempfehlungen. Denn was den NSU zu einer solchen Tragödie gemacht hat, ist aus meiner Sicht, dass nicht nur die Behörden versagt haben, sondern wir alle. Die dafür nötige Haltung, um es zu erkennen, ist zu ändern. Dies fördern viele Vereine, viele Initiativen, viele Organisationen mit seit Jahren wirksamer Aufklärung und Bildung quer durch die Republik. Betroffene rechter Gewalt können sich an Opferberatungen wenden. Damit wurden unverzichtbare Strukturen geschaffen, um nach einem Angriff handlungsfähig zu sein. Zum Glück wird der Wert all dieses Engagements zunehmend verstanden und anerkannt. Wir sagen dafür Danke. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Demokratieförderprogramme gehören deswegen auch für uns mittlerweile zum Repertoire, um gegen menschenverachtende Gewalt vorzugehen. Das ist selbstverständlich. Wir werden die Mittel allein für das Programm „Demokratie leben!“ in diesem Jahr von 50 Millionen Euro auf 100 Millionen Euro verdoppeln. Damit ist eine wesentliche Forderung aus dem NSU-Abschlussbericht erfüllt. Das ist auch nötig; denn wir wissen mittlerweile, was funktionieren kann. Vieles ist vor Ort entstanden. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass das, was in Kommune A funktioniert, auch in die Gemeinde B übertragen werden kann, und zwar ohne dass Kommune A aus der Förderung fällt, weil kein Geld mehr da ist. Außerdem sind die Bedrohungen der Demokratie vielfältig, und neue Phänomene entstehen. Darauf müssen wir reagieren können, und zwar nicht auf Kosten des Bewährten. Viele der Träger klagen seit Jahren darüber, dass eine Daueraufgabe in zeitlich begrenzte Projekte gepresst werden muss. Beratungsarbeit, Bildungsarbeit, Demokratieentwicklung, Radikalisierungsprävention – das alles ist Beziehungsarbeit. Vertrauen zwischen den Menschen und zwischen den Gruppen muss wachsen können. Daueraufgaben müssen daher dauerhaft gefördert werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der nächste Schritt muss also noch in dieser Legislaturperiode eine gesetzliche Lösung sein: ein Demokratiefördergesetz. Das haben wir einstimmig im NSU-Abschlussbericht bestätigt, und das steht auch im Koalitionsvertrag. Also machen wir das jetzt bitte auch. Ein weiterer Punkt wurde am Fall NSU deutlich, und er ist bis heute problematisch. Es geht mir um die Opfer und Betroffenen von rassistischer Gewalt nach einem Angriff. Viele Punkte im Abschlussbericht beziehen sich auf einen angemesseneren Umgang mit den Opfern und Hinterbliebenen. Eines aber bleibt offen – das wurde im Gesetzentwurf der Linksfraktion erwähnt –: die Frage, ob die Menschen, die angegriffen wurden, oder die Hinterbliebenen, wenn es denn zum Strafprozess kommt, überhaupt noch in unserem Land sind, überhaupt noch hierbleiben dürfen. Es geht also um die Frage, ob ein Heilen der oftmals auch unsichtbaren Wunden überhaupt möglich ist, wenn die Bleibeperspektive unsicher ist. Das ist tatsächlich ein Problem. Zum Teil wird die Bleibeperspektive genau durch den Angriff erst genommen. Wenn etwa eine eigenständige Existenzgrundlage Voraussetzung für ein Bleiberecht ist und genau diese durch den Angriff zerstört wurde, dann drängen wir Opfer leider wieder an den Rand. Wie oft geschieht das, ohne dass eine so engagierte Ombudsfrau wie Frau John im Fall der NSU-Hinterbliebenen darauf hinweisen kann? Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt macht in einem Papier, das mich gestern erreicht hat, auf genau diese Frage der Bleibeperspektive aufmerksam. Allzu oft sind diejenigen, die in einem Strafprozess gegen einen rassistisch motivierten Täter aussagen könnten, zum Zeitpunkt des Prozesses bereits zur „freiwilligen“ Ausreise bewegt oder abgeschoben worden. Die strafprozessualen Rechte der Betroffenen können so nicht mehr verwirklicht werden. Die Verurteilung des Täters wird massiv beeinträchtigt. Ich weiß nicht, ob dieses Problem über das Aufenthaltsrecht zu lösen ist, wie Sie es vorschlagen. Strafrechtliche Probleme über das Aufenthaltsrecht zu lösen, erscheint mir zumindest fragwürdig. Man kann die Situation aber auch nicht so belassen, wie sie ist. Es geht darum, Schlagkraft durch die so oft erwähnte ganze Härte des Rechtsstaates gegen die Täter zu entfalten. Deswegen brauchen wir mindestens eine Regelung, die Opfern rechter Gewalt zusichert, dass sie während des laufenden Strafverfahrens hierbleiben können. Es muss das klare Signal an Täter und potenzielle Täter geben: Ihr erreicht euer Ziel nicht! Eure Gewalt wird bestraft! (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn bereits viel erreicht wurde, haben wir noch viel zu tun. Immer noch werden Menschen wie ich am Bahnhof so gut wie nie kontrolliert, Menschen mit dunklem Bart oder Kopftuch aber schon eher. Dieses Racial Profiling ist nicht in Ordnung. Immer noch wird bei Hakenkreuzschmierereien, zum Beispiel bei einem Angriff auf ein Bürgerbüro, nach einem Beleg für eine rechtsmotivierte Straftat gesucht, als wenn nicht die Tat an sich das Bekenntnis wäre. Immer noch werden Menschen, die angegriffen wurden, im Anschluss gefragt, wie sie die Nazis denn provoziert hätten, worauf sie sie angegriffen haben. Teilweise werden Jugendliche, die sich zum Zwecke der Gewalt zusammentun, auch als eventorientierte Jugendliche bezeichnet. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Abenteuerlust“, wie wir gestern gehört haben!) Nein, es ist nicht erst dann jemand wirklich rechts, wenn er den Staat angreift. Nazis und Rassisten greifen Menschen an. Deren Würde ist durch Artikel 1 des Grundgesetzes geschützt. Da sie geschützt ist, müssen wir jeden einzelnen Menschen gleich schützen. Vizepräsident Johannes Singhammer: Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Redezeit. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Sie ist gut! Sie kann noch ein bisschen!) Susann Rüthrich (SPD): Solange sich nicht alle Menschen durch Gesetze und Strukturen gleich geschützt fühlen, müssen wir weiter vermuten, dass es institutionellen Rassismus gibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, denen, die ich gestern im Untersuchungsausschuss gesehen habe, muss ich nicht erklären, warum ich das so betone: Unsere Aufgabe ist es, nicht nur staatliche Institutionen zu schützen, sondern Menschen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Als Nächste spricht die Kollegin Monika Lazar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU sind noch immer viele Fragen unbeantwortet. Wurde seitdem genügend dafür getan, um rechten Terror künftig zu verhindern? Was hat sich seitdem in den Behörden und unserer Gesellschaft verändert? Positiv ist, dass die Sensibilität für rechte Gewalt an vielen Stellen gewachsen ist. Die mediale Berichterstattung über Rassismus und Gewalt erfolgt kontinuierlicher als noch vor einigen Jahren. Strukturen gegen rechts werden solider gefördert, auch wenn im Detail weiterhin Luft nach oben ist. Dennoch ist die Gefahr nicht gebannt. Im Gegenteil: Die aktuellen Entwicklungen geben Anlass zur Sorge. 2015 stieg die Zahl rechter Gewalttaten laut BKA um mehr als 44 Prozent auf 1 485 Fälle. Die Dunkelziffer ist höher, wie Erhebungen aus der Zivilgesellschaft belegen. Neonazis schlagen immer brutaler zu. Bis Anfang Oktober dieses Jahres gab es bereits elf versuchte Tötungsdelikte und damit vier mehr als im gesamten Jahr 2015. Mehrere Delikte richteten sich gegen Geflüchtete und Migranten, die zu den Hauptzielen rechter Attacken gehören. Die Brutalisierung und Häufung rassistischer Gewalt kommt aus einer Gesellschaft heraus, in der die Abwertung bestimmter Menschengruppen zunehmend salonfähig erscheint. Im Juni wurden mit der aktuellen „Mitte“-Studie wieder alarmierende Ergebnisse präsentiert. Demnach hat eine deutliche Radikalisierung stattgefunden, vor allem in Bezug auf Asylsuchende, Muslime sowie Sinti und Roma. Ein zentraler Befund der Studie ist die enthemmte Gewalt in den zu Rechtsextremismus neigenden Milieus. Diese haben in AfD und Pegida eine politische Heimat gefunden, sodass sie massiver und organisierter auftreten können. Wenn rechter Terror künftig verhindert werden soll, müssen rechtsstaatliche Möglichkeiten konsequent ausgeschöpft werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Ebenso brauchen wir wirksame Maßnahmen zum Schutz der Menschengruppen, die besonders von Abwertung betroffen sind. Ein strukturierter Dialog zwischen staatlichen Behörden und zivilgesellschaftlichen Initiativen zur Bekämpfung von Rassismus und Gewalt gehört zu den Maßnahmen, die die Bundesregierung fördern sollte. Aber es gehört auch unsere gesamte Gesellschaft in den Blick. Rassistischer Hass und Gewalt gehen uns alle an, nicht nur die direkt davon Betroffenen. Die diesjährige Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels Carolin Emcke sagte darüber in ihrer Dankesrede – ich zitiere –: Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädigt nicht nur diejenigen, die er sich zum Opfer sucht, sondern alle, die in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen, Reinen, Völkischen verengt die Welt. … Es versieht die einen mit wertvollen Etiketten und Assoziationen und die anderen mit abwertenden. Wer in einer so engen Gesellschaft nicht leben will, muss aktiv gegensteuern. Um Taten wie die des NSU zu verhindern, muss viel getan werden; aber es genügen nicht Überwachung und Repression. Notwendig sind außerdem die Stärkung der zivilgesellschaftlichen Kräfte, die eindeutige Distanzierung von rechtspopulistischen Diskursen sowie eine lebensnahe Vermittlung unserer demokratischen Werte und politischer Bildung. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Ich möchte auch Dankeschön für die vorbildliche Einhaltung der Redezeit sagen. Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU haben wir heute eine gute Gelegenheit, über die Aufarbeitung und die Konsequenzen dieser Mordserie zu sprechen. Die Kernfrage ist, ob der Rechtsstaat, dem wir in diesem Lande den Begriff „wehrhafter Rechtsstaat“ zubilligen, sich als wehrhaft und lernend erwiesen hat. Die Frage ist also: Haben wir das Versprechen dieses Staates, zur Aufklärung beizutragen, eingehalten oder nicht? Der Ausgangspunkt ist die Fassungslosigkeit und das Entsetzen des Staates, aber auch der Zivilgesellschaft über diese beispiellose Mordserie. Die Aufklärung hat zwei wichtige Komponenten: Wir müssen und sollen wissen, was passiert ist, nicht im Sinne einer historisch richtigen Geschichtsschreibung, sondern wir sind es den Opfern und ihren Angehörigen schuldig, dass sie wissen, warum sie Opfer geworden sind und was die Beweggründe für diese Taten waren. Aber der Staat hat auch zu lernen, damit er zukünftig Gefahren besser erkennen kann und durch diese Erkenntnis der Gefahren neue Mordserien möglicherweise verhindern kann. Das ist unser Auftrag. Wo stehen wir heute? Wir haben einen Blick auf die gesamtstaatliche Aufklärungsarbeit zu werfen. In München geht der NSU-Prozess mittlerweile über 300 Verhandlungstage. Insgesamt zwölf Parlamentarische Untersuchungsausschüsse in sieben Ländern und zwei im Bund haben zur Aufklärung beigetragen. Ich will heute aber auch nicht verschweigen, dass es eine große gesellschaftliche Beschäftigung mit dem Thema NSU gibt: im Bereich Kunst und Kultur, durch Filme und Theaterstücke, aber auch durch das Engagement der Bürgergesellschaft. Auch das sollten wir an dieser Stelle würdigen. Bürger des ganzen Landes fragen sich, wie das passieren konnte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Wir haben uns die Frage zu stellen, wie weit wir gekommen sind. Der Blick geht dabei zunächst auf die Empfehlungen des ersten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages. Dieser hat insgesamt 47 Empfehlungen abgegeben. Die Empfehlungen sind breit gefächert. Sie betreffen Fragen der Sensibilisierung der Behörden für rassistische und rechtsextremistische Gewalt. Es geht um Fragen des Datenaustausches, um stärkere Befugnisse und, ja, auch um die Änderung unseres Strafrechts. Wir haben heute festzustellen – darauf kann dieser Bundestag stolz sein –, dass praktisch alle Empfehlungen umgesetzt sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, wie wir zu der tatsächlichen Aufklärung stehen. Ja, es sind noch Fragen offen. Wir haben bislang nicht auf alle Vorkommnisse Antworten gefunden, die uns zufriedenstellen. Aber möglicherweise müssen wir auch akzeptieren – selbst wenn wir es nicht akzeptieren wollen, weil wir innerlich dagegen sind –, dass vielleicht manche Fragen ungeklärt bleiben werden, weil es nicht mehr menschenmöglich ist, sie aufzuklären. Trotzdem kann ich heute sagen: Was dieser Staat an Aufklärung geleistet hat, das ist historisch und beispiellos. Diese Aufklärung beweist eine starke innere Kraft unseres Staates, daraus zu lernen und es für die Zukunft besser zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir benötigen auch weiterhin eine wehrhafte Demokratie und einen starken Rechtsstaat; denn die Feinde unserer Verfassung und eines friedlichen Zusammenlebens, die Feinde desjenigen, der anders aussieht oder eine andere Herkunft hat, und die, die nicht akzeptieren möchten, wie wir leben, werden sicherlich nicht ruhen. Deswegen muss dieser Staat konsequent gegen Verfassungsfeinde jeglicher Couleur vorgehen: gegen Rechtsextremisten, Linksextremisten und gegen den islamistischen Terror. Dafür brauchen wir die entsprechenden Handlungsmöglichkeiten des Staates. Wir brauchen weiterhin einen starken Verfassungsschutz, und wir brauchen auch V-Leute in einem richtigen rechtlichen Rahmen, damit wir erkennen können, was passiert. Wer V-Leute abschaffen möchte und den Verfassungsschutz schwächt, der wird am Ende des Tages auch dieses Land und seine Wehrhaftigkeit schwächen. Das können wir nicht zulassen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege Dr. Ullrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tempel? Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Bitte. Frank Tempel (DIE LINKE): Herr Dr. Volker Ullrich, vorhin hat der Kollege Schuster gesagt, dass die Kollegin Pau hier teilweise anders spricht als im Untersuchungsausschuss. Bei Ihnen habe ich den Eindruck, dass Sie da komplett durchschlafen. Das gilt für die Sitzung des Untersuchungsausschusses gestern genauso wie für die ganze Historie. Sie verteidigen den Einsatz von V-Leuten gerade in diesem Bereich. Gerade die VP-Führer des Verfassungsschutzes tun sich durchweg schwer, V-Leute überhaupt als Extremisten einzuschätzen. Da kommt etwa als Definition, dass V-Leute, wenn sie mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten, gar keine Extremisten sein können. Es wird von „guten Jungs“ gesprochen, die vielleicht etwas abenteuerlustig oder hibbelig sind. Wir sehen aber im Gegensatz dazu, dass dort mit Menschen gearbeitet wurde, die ganze Paletten von Straftaten begangen haben und Gewalttäter waren, im Waffenhandel tätig waren oder im Bereich gewalttätiger politisch motivierter Straftaten aktiv waren. Das sind gerade die Leute, von denen Sie eben hervorgehoben haben, wie wichtig sie für das Sicherheitssystem sind. Wir vernehmen diese Leute im Untersuchungsausschuss, und Sie bekommen dort dieselben Antworten wie wir. Das sind die Leute, die uns eine Gefahrenanalyse geben sollen und die die rechtsextremen Strukturen aufklären und in ihrer Gefährlichkeit einschätzen sollen. Wenn Sie genauso wie wir die Antworten von diesen Personen und von den Beamten des Verfassungsschutzes im Untersuchungsausschuss hören, wie können Sie dann ernsthaft den Einsatz der V-Leute und dieses System rechtfertigen? (Beifall bei der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Natürlich! Das muss er rechtfertigen! Das ist ja schlimm genug, dass Thüringen das abschafft, für die Sicherheit der Thüringerinnen und Thüringer! Unmöglich, was Sie da machen!) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Herr Kollege Tempel, es ist gar keine Frage, dass im Umfeld der Terrorzelle NSU zahlreiche V-Leute und auch ihre V-Leute-Führung schwere Fehler gemacht haben. Diese schweren Fehler hat der erste Untersuchungsausschuss aufgedeckt. Bei diesen Verfehlungen sind wir im zweiten Untersuchungsausschuss auch nicht stehen geblieben. Aber das Versagen Einzelner und fehlerhafte Zusammenarbeit zwischen Behörden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir insgesamt zur Aufrechterhaltung der Wehrhaftigkeit unserer Demokratie dieses Instrument brauchen. V-Leute sind kein Selbstzweck. Vielmehr brauchen wir sie, damit wir Einblick in gefährliche Strukturen haben, in den rechtsterroristischen und den linksterroristischen Bereich, aber auch in den Bereich des islamistischen Terrors. Ohne V-Leute wären wir weniger wehrhaft. Deswegen hat der Bundestag, Herr Kollege Tempel, im letzten Jahr mit großer Mehrheit eine Reform des Bundesamtes für Verfassungsschutz beschlossen und hat als Konsequenz aus dieser Mordserie und den Untersuchungsausschüssen wesentlich stärkere Restriktionen für V-Leute erlassen. Diese Beschränkungen funktionieren in der Praxis. (Beifall bei der CDU/CSU – Frank Tempel [DIE LINKE]: Tino Brandt wird in Thüringen nicht mehr finanziert vom Staat, von der CDU! Die CDU hat Tino Brandt bezahlt! – Gegenruf des Abg. Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Nein, das müssen Sie sich anhören, Herr Tempel!) Nicht nur der Staat ist gefragt, sich für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung einzusetzen. Vielmehr ist jeder gefragt, an einem aktiven Eintreten für die Werte unseres Grundgesetzes, die körperliche Unversehrtheit, die Würde des Menschen und die Freiheit des Einzelnen teilzunehmen. Wir müssen außerdem in Bezug auf die Sprache sensibel sein. Kritik ist erlaubt. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Wir müssen aber verhindern, dass die Verrohung der Sprache in der Gesellschaft weiter um sich greift. Wir haben die Verpflichtung, uns dem entgegenzustellen. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen. Abschließend möchte ich zum Ausdruck bringen, dass wir uns, obwohl die unternommene Aufarbeitung noch nicht zu Ende ist, auf einem guten Weg befinden. Ich bitte diejenigen, die sich mit diesem Thema befassen, und die Angehörigen der Opfer, uns abzunehmen, dass unsere Haltung zu Aufklärung und Aufarbeitung als das gewertet werden kann, was sie ist, nämlich ein wichtiger Beitrag, um unsere Verfassungsordnung, die Freiheit und die Würde des Menschen noch stärker zu machen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes – Aufenthaltsrecht für Opfer rechter Gewalt. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10288, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2492 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zustimmen wollen, jetzt um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch Drucksache 18/10211 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Widerspruch wird dagegen nicht erhoben. Dann ist das beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin für die Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin Anette Kramme das Wort. (Beifall bei der SPD) Anette Kramme, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in besorgniserregenden Zeiten. Politiker mit nationalistischen Parolen erhalten Zulauf, und Institutionen wie die Europäische Union, die für Völkerverständigung und für internationale Kooperation stehen, sind schwer unter Beschuss geraten. Deshalb gilt jetzt mehr als jemals zuvor: Wir dürfen uns nicht aus Europa zurückziehen. Wir dürfen nicht zurückfallen in Abschottung und Kleinstaaterei; denn der Rückzug auf das Nationale befördert Europa- und Ausländerfeindlichkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie jetzt Ihren Gesetzentwurf zurück? Das finde ich aber gut!) Genau das wird uns fälschlicherweise vorgeworfen im Zusammenhang mit den Regelungen zu Sozialleistungen für Bürgerinnen und Bürger aus anderen EU-Staaten, die wir heute debattieren. Aber gerade das tun wir nicht, liebe Kollegen und Kolleginnen. Im Gegenteil: Wir setzen auf Europa. Wir wollen, dass wir gemeinsam in Europa zu Problemlösungen kommen, die für alle tragen. Es geht uns um die Stärkung der europäischen Idee. Dieses Ziel erreichen wir aber nur, indem wir die Akzeptanz der Arbeitnehmerfreizügigkeit als eine der fundamentalen Grundlagen der Europäischen Union schützen, und dazu dient die Klarstellung des Zusammenhangs von Arbeitnehmerfreizügigkeit einerseits und Ansprüchen auf Sozialleistungen andererseits. Ich will hier noch einmal betonen: Durch das geplante Gesetz bekräftigen wir die Intention des europäischen Gesetzgebers. Er stellt nämlich einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Arbeitnehmerfreizügigkeit und Sozialleistungsansprüchen her. Die Kehrseite ist – darum geht es hier –, dass klar sein muss, dass Personen, die kein Freizügigkeitsrecht und kein Aufenthaltsrecht aufgrund der Freizügigkeitsrichtlinie haben, diese Ansprüche gegenüber dem deutschen Sozialstaat nicht haben. Gleichzeitig verlieren wir aber nicht aus dem Blick, warum Menschen aus anderen EU-Staaten nach Deutschland kommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frieden und Wohlstand sollte Europa bringen. Vor allen Dingen im Süden des Kontinents, aber nicht nur dort sehen wir, dass das Wohlstandsversprechen Europas brüchig geworden ist. Dieses Problem müssen wir angehen, gemeinsam in Europa. Dafür brauchen wir Handlungsfähigkeit, und zwar dort, wo die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag betroffen sind. Wir müssen zum einen glaubhaft und erfahrbar machen, dass sich die Gemeinschaft als soziale Wertegemeinschaft versteht und nicht als bloße Wirtschaftsgemeinschaft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Von der Politik der vergangenen Jahre haben eben nicht alle Menschen in Europa profitiert. Die Verbesserung sozialer Standards stand ebenfalls nicht oben auf der Prioritätenliste. Die schwierige soziale Lage in einigen Mitgliedstaaten verschärft die Armutsmigration innerhalb Europas, und diese greift die Solidaritätsbereitschaft der Zielländer an. Dem steuern wir mit unserem Gesetzentwurf entgegen, indem wir klarstellen: Wer kommt, um hier zu arbeiten, genießt selbstverständlich die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa, mit den daraus folgenden Ansprüchen an Sozialversicherung und Sozialstaat. Wer dagegen nur kommt, um hier höhere Sozialleistungen als in einem anderen Staat zu erhalten, der hat keinen Anspruch darauf; denn die Antwort auf soziale Probleme in Europa kann nicht mehr Armutsmigration sein. Dafür dürfen wir keine Anreize setzen. Das Ziel muss doch eine Anpassung der sozialen Mindeststandards nach oben sein. Für den Aufbau einer europäischen Säule sozialer Rechte, die ihren Namen verdient, lohnt es sich, zu streiten. Ich lade alle Kritiker ein, ihre Energie in den aktuellen Diskussionsprozess einzubringen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin überzeugt: Unsere Regelung dient dem sozialen Fortschritt in Europa. Zugleich gibt sie den Kommunen Klarheit und Rechtssicherheit, und sie stärkt die Akzeptanz für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn das Bundessozialgericht urteilt, dass EU-Bürgerinnen und -Bürger Anspruch auf Sozialleistungen haben, dann geht die Bundesregierung nicht etwa daran, dieses höchstrichterliche Urteil umzusetzen. Nein, Sie machen sich das ganz einfach: Sie verändern die Rechtslage. Ich frage Sie: Mit welchem Ziel? Doch ganz ausdrücklich mit dem Ziel, dass EU-Bürgerinnen und -Bürger Deutschland wieder verlassen, wenn sie hier in finanzielle Nöte geraten. Ich sage Ihnen: Das ist unsozial. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das heißt, das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum wird geopfert. Frau Nahles macht den Seehofer und denkt, so bekommt sie die Wählerinnen und Wähler wieder zurück. (Widerspruch bei der SPD) Ich sage Ihnen: Das funktioniert nicht. (Beifall bei der LINKEN) Vor einigen Jahren hatte das Bundesverfassungsgericht zum Asylbewerberleistungsgesetz zu urteilen. (Katja Mast [SPD]: Peinlich!) – Hören Sie mir doch zu! Dann können Sie vielleicht noch etwas lernen. – Damals sprach der Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof die denkwürdigen Worte an die Bundesregierung: Das Motto, ein bisschen hungern, dann gehen die schon, könne es doch wohl nicht sein. Aber genau diesem Motto folgen Sie in dem vorliegenden Gesetzentwurf ein weiteres Mal. Unsozialer geht es wirklich nicht, meine Damen und Herren! (Beifall bei der LINKEN) Wahrscheinlich müssen wir ein weiteres Mal damit rechnen, dass das Gesetz, das Sie jetzt entworfen haben, vor dem Bundesverfassungsgericht oder sogar vor dem Europäischen Gerichtshof landet. Das ist schon beschämend genug. Schlimmer noch ist aber das Signal, das Sie mit diesem Gesetz aussenden. Sie hauen damit genau in die Kerbe der Brexit-Befürworter in Großbritannien. Sie bestätigen das Vorurteil, dass angeblich Hunderttausende nach Deutschland kommen wollen, um hier Sozialleistungen abzukassieren. Sie bestätigen die verbreitete Wahrnehmung, dass die europäische Einigung im Interesse der Unternehmen vorangetrieben wird. Aber wenn es um die kleinen Leute geht, die sich dort auf die Suche nach Arbeit machen wollen, wo es wirtschaftlich gut läuft, dann ist Schluss mit der europäischen Idee. Dann zählen auf einmal wieder nationale Interessen. Die Brexit-Befürworter in Großbritannien haben ihren Solidaritätsschein für Europa verbrannt. Mit diesem Gesetz gießen Sie Benzin in das gleiche Feuer. Das darf doch wohl nicht wahr sein. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wachen Sie endlich auf! Stellen Sie sich den sozialen Verpflichtungen, die ein zukunftsfähiges Europa mit sich bringt! Das menschenwürdige Existenzminimum ist im Grundgesetz festgeschrieben. (Dagmar Ziegler [SPD]: Aber nicht für die ganze Welt!) – Ich bin ja auch noch gar nicht fertig. – Es gilt für deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und ebenso für ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die hier in Deutschland leben. Darüber sind wir alle uns doch wohl einig. Mit Ihrem Gesetz schließen Sie Tausende von EU-Bürgerinnen und -Bürgern von jeder öffentlichen Hilfe aus. Diese EU-Bürger leben bereits hier. Sie leben hier, weil sie in ihren Heimatländern keine Perspektive für sich und ihre Familien sehen. Diese Menschen werden aber auch nicht einfach abreisen, wie Sie es wollen. Wo sollen sie denn auch hin? Wenn Sie den Menschen alle Möglichkeiten und Perspektiven rauben, verrohen sie irgendwann und resignieren. Ich weiß nicht, ob Sie es merken: In diesem Klima sind wir schon längst angekommen. Auch die Folgen spüren wir. Wir spüren sie immer mehr und tagtäglich. Ich frage Sie: Können Sie das noch länger verantworten? (Beifall bei der LINKEN) Die Kommunen haben zu Recht darauf hingewiesen, welche Kosten durch das BSG-Urteil auf sie zukämen. Viele Kommunen stehen finanziell bereits mit dem Rücken an der Wand. Das ist ein Problem, das wir alle kennen. Die Linke fordert: Die Gemeinden müssen endlich wieder genug Mittel an die Hand bekommen, damit sie ihren Aufgaben wieder nachkommen können. (Beifall bei der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Deswegen kriegen die auch eine Menge Geld vom Bund!) Sie wissen doch, wie in diesen Bereichen gekürzt wird. Mit Ihrem Gesetzentwurf nehmen Sie den Ausländerfeinden und den Rechtspopulisten nicht den Wind aus den Segeln, sondern, im Gegenteil, verschärfen die Schlagseite des europäischen Einigungsprozesses. Wachen Sie endlich auf, ändern Sie den Kompass, oder Sie fahren uns in einen Sturm hinein, in dem wir am Ende alle als Schiffbrüchige enden werden. Vizepräsident Johannes Singhammer: Frau Kollegin Zimmermann, – Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Meine Damen und Herren, sozial geht anders. Vizepräsident Johannes Singhammer: – gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Weiler, bevor Ihre Redezeit zu Ende ist? Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Er kann ja auch eine Kurzintervention machen. Vizepräsident Johannes Singhammer: Sie gestatten also keine Zwischenfrage. Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Nein. Ich bin jetzt fertig. (Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) Ich will Ihnen nur noch einmal sagen: Sozial geht anders, und sozial geht nur mit der Linken. Danke. (Beifall bei der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Das wird immer kindischer!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Dann kommen wir zum Kollegen Dr. Martin Pätzold, der als nächster Redner für die CDU/CSU spricht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die bisherige Debatte hat deutlich gemacht, dass es am Ende um die Frage geht, wie wir die soziale Waage in Europa gestalten, wie wir sie ausbalancieren. Zur Freizügigkeit ist erst einmal festzustellen, dass sie eine große europäische Errungenschaft ist. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Es sind 4 Millionen EU-Ausländer, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sollte man nicht aufs Spiel setzen!) Von diesen sind 1,68 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie leisten mit ihrer Erwerbstätigkeit einen wichtigen, einen ganz entscheidenden Beitrag zur wirtschaftlichen Dynamik, zur Entwicklung in unserem Land. (Beifall des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD]) – Vielen Dank an die SPD! – Sie leisten damit einen Beitrag dazu, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland heute eine Rekordbeschäftigung haben. In meinem Bundesland Berlin sind insgesamt 73 000 EU-Ausländer sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie werden vor allen Dingen im Bereich der Kreativwirtschaft, in den Start-ups gebraucht und leisten hier ihren Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung. Es gibt aber noch eine andere Seite. Das ist der Grund, warum wir dieses Gesetz in der Form heute hier diskutieren. Auch die Staatssekretärin hat sehr deutlich gemacht, was die Beweggründe sind. Wir diskutieren es deswegen, weil es auch 440 000 EU-Ausländer gibt, die über Hartz IV, über aufstockenden Leistungen, Sozialleistungen in der Bundesrepublik Deutschland beziehen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aufstockende Leistungen, das heißt: Sie arbeiten!) Es sind 46 000 Personen in meinem Bundesland Berlin. Daran sieht man, dass dieses Thema vor allen Dingen in Ballungsgebieten eine große und bedeutende Rolle spielt. Laut meiner Kollegin Jutta Eckenbach aus Essen, mit der ich mich zu diesem Thema auch intensiv ausgetauscht habe, gibt es auch dort Herausforderungen für die Kommunen, die wir gemeinsam gestalten und meistern müssen. Das, was von Ihnen, Frau Zimmermann, angesprochen wurde, dass wir die Kommunen entlasten müssen, das machen wir mit diesem Gesetz. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau! Das tun wir!) Ein Viertel der Kosten, die da anfallen, werden bisher von den Kommunen getragen, und die werden in Zukunft nicht mehr anfallen. Ich sage Ihnen: Sie haben es richtig angesprochen. Wir setzen es auch um. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) In Berlin erleben wir, dass es in einigen Bezirken, etwa in Neukölln oder Friedrichshain-Kreuzberg, zu einer Ballung kommt, wodurch sich Probleme herausbilden, die – das wurde von der Staatssekretärin angesprochen – durchaus denen Raum geben, denen wir keinen Raum geben wollen. Deswegen müssen wir handeln, und wir handeln an dieser Stelle auch sehr sachlich und sehr abgewogen. Wir werden noch im Laufe dieser Debatte, in einer Anhörung im Ausschuss und in der weiteren parlamentarischen Befassung herausarbeiten können, wen es an dieser Stelle betrifft und für welche Personen es keine Änderungen gibt. Wir sind auch deswegen zum Handeln gezwungen, weil es diese beiden bekannten großen Fälle Alimanovic und Dano gibt, in denen der Europäische Gerichtshof festgestellt hat, dass es richtig ist, von SGB-II-Leistungen auszuschließen, dass es aber über einen verfestigten Aufenthalt dazu kommen kann und nach sechs Monaten muss, dass die Kommunen unterstützen müssen, um das Existenzminimum zu finanzieren. Deswegen regeln wir mit diesem Gesetzentwurf, dass Personen, die nur zur Arbeitssuche nach Deutschland kommen, in den ersten fünf Jahren von Sozialleistungen nach dem SGB II oder SGB XII ausgeschlossen werden. Das ist eine sehr vernünftige und abgewogene Entscheidung, auch wenn man bedenkt, dass wir für diejenigen, die schon da sind oder die mit großen Hoffnungen zu uns kommen, einmalige Überbrückungsleistungen festsetzen. Diese sehr soziale Gesetzgebung hat das Ziel, für denjenigen kurzfristig, nämlich innerhalb von vier Wochen und einmalig innerhalb von zwei Jahren, die Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege, die Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung sowie die Kosten für die notwendigen Arztbehandlungen zu übernehmen. Das Wichtigste ist, diesen Menschen ein Darlehen zu geben, wenn es darum geht, in ihre Heimat zurückzugehen und sich wieder eine Perspektive aufzubauen. Ich glaube, dass der Gesetzentwurf, den wir machen, sehr sozial und abgewogen ist. Es ist richtig, dass wir bestimmte Gruppen nicht einbeziehen. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das alles müssen aber die Kommunen bezahlen!) Ich habe den Zwischenruf aus der Grünenfraktion von vorhin über die aufstockenden Leistungen vernommen. Wir ändern – das ist vollkommen richtig – an dieser Stelle nichts, weil es eben darum geht, dass Personen, die als Arbeitnehmer aus Europa, aus der Europäischen Union, vielleicht mit Familie, hierherkommen und arbeiten, weiterhin eine Unterstützung bekommen, wenn die Bezahlung im Beruf nicht auskömmlich ist. Worüber wir reden müssen – das sehen wir dezidiert anders als der Koalitionspartner, da gibt es inhaltlich durchaus andere Auffassungen –, ist die Frage: Wie geht man mit Selbstständigen um? Ich spreche von Selbstständigen, die aus Griechenland, Spanien oder Italien nach Deutschland kommen, hier aufstockende Leistungen beantragen und deren Gewinnabsicht nicht immer so klar ist. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstständige arbeiten auch!) Die Frage ist: Gibt es in diesem Sinne eine Selbstständigkeit? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir noch viel stärker die Unterstützung der Behörden und auch die Möglichkeit, zu überprüfen, ob eine Selbstständigkeit mit dem Ziel einer Gewinnabsicht vorliegt. Abschließend die Frage: Warum machen wir diesen Gesetzentwurf? Erstens. Wir wollen unser Sozialsystem vor Missbrauch schützen. Zweitens. Wir stellen fest und klar – dabei geht es um Rechtssicherheit –, wer anspruchsberechtigt ist und wer vor allen Dingen nicht anspruchsberechtigt ist. Drittens. Es gilt dann nach fünf Jahren der Grundsatz „Fordern und Fördern“. Ich glaube, das ist eine richtige und gute Ableitung aus diesem Gesetzesvorschlag. Wir freuen uns auf die Debatte und leisten damit unseren Beitrag dafür, dass Europa, so wie es die Staatssekretärin gesagt hat, sozialer wird und die Regeln klarer werden. Wir lassen nicht zu, dass Populisten die Oberhand gewinnen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Zahlen dürfen hier nicht genannt werden!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen, spricht als Nächster. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein soziales Europa ist dringender denn je notwendig. Der Zusammenhalt zwischen den Ländern und den Menschen in Europa ist gefährdet. Nach der Wahl in Amerika in dieser Woche ist es vielleicht noch wichtiger, die europäische Einheit zu stärken und das soziale Europa stark zu machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Es ist wichtig, dass das nicht nur in Sonntagsreden und in Gastbeiträgen passiert, sondern dass dem auch Taten folgen. Es ist schon ziemlich scheinheilig, dass die Ministerin an dem Tag, an dem dieser Gesetzentwurf im Bundeskabinett beschlossen wurde, einen Gastbeitrag für die FAZ geschrieben hat, in dem sie für einen stärkeren sozialen Zusammenhalt in Europa plädiert hat; denn dieser Gesetzentwurf ist das genaue Gegenteil. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Er setzt europapolitisch ein völlig falsches Signal. Er ist sozialpolitisch verfehlt, und er erschwert die notwendige Integration vor Ort. Ausbaden vor Ort müssen das letztendlich die Kommunen. Deswegen ist Ihr Vorschlag für die Kommunen nur eine Scheinlösung. Einig sind wir uns darin, dass es Handlungsbedarf gibt. Es gibt das Urteil des Bundessozialgerichts. Es stellt auch keine gute Lösung dar, weil es keine Rechtsklarheit schafft. Dafür sind wir als Gesetzgeber verantwortlich. Es ist auch keine Lösung, zu sagen: Die Menschen sollen, um ihr Existenzminimum zu sichern, was ein Grundrecht ist – da hat die Kollegin Zimmermann völlig recht –, Sozialhilfe beziehen können. Sozialhilfe ist keine Leistung für erwerbsfähige Menschen, und sie muss komplett von den Kommunen bezahlt werden. Das ist keine gute Lösung, da besteht Handlungsbedarf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Es besteht aus einem zweiten Grund Handlungsbedarf, nämlich aufgrund der sozialen Situation vor Ort. Mein Wahlkreis ist Offenbach. Offenbach ist die Stadt mit dem höchsten Anteil an Bulgaren und Rumänen in ganz Deutschland. Man kann bei mir vor Ort sehen, welche Folgen es hat, wenn Menschen keine soziale Absicherung haben. Von irgendetwas müssen sie leben. Sonst leben sie in teilweise unwürdigen Verhältnissen. In Frankfurt gibt es ein Zeltcamp, in dem fast slumartige Zustände herrschen. In Offenbach müssen manche Menschen in Schrottimmobilien wohnen; andere suchen auf anderen Wegen nach Geld, durch illegale Tätigkeiten wie Schwarzarbeit oder schlimmere Aktivitäten. Wir brauchen soziale Unterstützung, um den Menschen zu helfen, integriert zu werden. Sie dürfen nicht ausgegrenzt werden, sondern müssen möglichst schnell Teil dieser Gesellschaft werden und eine echte Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]) Unser Vorschlag, unsere Alternative ist: Weil wir dafür sorgen müssen, dass die Menschen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen, sollten sie Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, vulgo Hartz IV, bekommen. Denn dann hätten sie eine Unterstützung, was Sozialleistungen, finanzielle Leistungen und Arbeitsmarktintegrationsleistungen angeht. Wir sagen: Nach drei Monaten soll es die Möglichkeit geben, Hartz IV zu beantragen. Wenn die Betroffenen wirklich nach Arbeit suchen und eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, dann müssen sie unterstützt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir sagen auch, dass in Einzelfällen – aber nur in Einzelfällen –, wenn nachgewiesen wird, dass die Menschen gar nicht nach Arbeit suchen oder dass sie trotz aller Bemühungen der Jobcenter keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, die Leistung wieder entfallen kann, weil dann auch das Recht auf Freizügigkeit entfällt. Aber dies soll im Einzelfall entschieden werden und nicht eine pauschale Diskriminierung darstellen, wie Sie sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen; auch das ist uns wichtig. Natürlich muss man auf EU-Ebene endlich dafür sorgen, dass die Menschen nicht aus finanzieller Not zu uns kommen. Auch da – die Staatssekretärin hat das eben zwar erwähnt – fehlen noch Aktivitäten auf bundespolitischer Ebene. Es gibt noch keine Stellungnahme der Bundesregierung zur Säule sozialer Rechte. Hier müssen wir aber ansetzen. Wir müssen eine Mindesteinkommensrichtlinie haben, damit es überall angemessene Grundsicherungssysteme gibt und die Menschen überall in Europa vor Armut geschützt werden. Wir brauchen auch Mindeststandards bei den sozialen Sicherungssystemen, um zu verhindern, dass Menschen aus finanzieller Not auswandern und ihr Land verlassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn die Menschen aber zu uns kommen, dann müssen wir sie unterstützen – und zwar besser als bisher – und den pauschalen Ausschluss, den es jetzt im SGB II gibt, abschaffen. Wir brauchen eine bessere soziale Absicherung der Freizügigkeit. Wir brauchen mehr und nicht weniger soziales Europa. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Und das ausschließlich in Deutschland, oder wie?) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt für die SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Freizügigkeit innerhalb der EU ist zunächst einmal daran gebunden, dass man seinen Lebensunterhalt selbstständig bestreiten kann und möchte, und das ist auch richtig so. (Beifall bei der SPD) Sozialleistungen erhält dann, wer Rechte aus Arbeit und aufgrund von Sozialbeiträgen erworben hat. Ich glaube, so ist das Gerechtigkeitsempfinden der allermeisten Menschen. Jeder und jede, egal aus welchem EU-Land, der oder die in einem anderen Land arbeitet, sich für längere Zeit dort niederlässt und dort seinen oder ihren Beitrag leistet, muss die gleichen sozialen Rechte haben. Die Arbeitsnehmerfreizügigkeit ist eine der größten Errungenschaften der EU. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Martin Pätzold [CDU/CSU]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer noch – obwohl die Sensibilität für soziale Fragen in der EU zunimmt – ist das Wohlstandsgefälle sehr groß. Immer noch sind in verschiedenen Ländern die nationalen sozialen Sicherungssysteme unzureichend. Immer noch werden Minderheitenrechte, zum Beispiel die der Sinti und Roma, nicht geachtet und vonseiten der EU mit zu wenig Nachdruck durchgesetzt. Das führt zu Wanderungsbewegungen, nicht nur aufgrund von Arbeit und Arbeitssuche. Der Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“ – ein schöner Titel – stellte fest: Die Zuwanderung aus anderen EU-Staaten nach Deutschland hat zugenommen. Der sogenannte Sozialmissbrauch ist aber gering. Ganz überwiegend profitieren wir von der Zuwanderung, müssen aber auch mit den sozialen Problemen und Spannungen umgehen, wie sie in einigen Städten Deutschlands entstanden sind. Wir haben damals die Unterstützung für diese Städte verstärkt. Das war auch gut so; denn Integration ist die beste Antwort auf Zuwanderung. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katharina Landgraf [CDU/CSU] – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu gehört auch die soziale Sicherung, sonst funktioniert das nicht mit der Integration!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns mit dem Gesetzentwurf in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf Existenzsicherung für jeden Menschen, der sich in Deutschland aufhält, und der Kontrolle darüber, wer sich aus welchem Grund rechtmäßig oder nicht rechtmäßig bei uns aufhält. Ich bin dem Ministerium dankbar dafür, dass es gerade nach den verschiedenen Urteilen zu dieser Frage mit diesem Gesetz eine Klarstellung herbeiführen möchte. Dennoch bleiben für uns einige Fragen offen: Wie genau und mit welchem Verfahren unterscheide ich Wanderung zur Arbeitssuche oder Wanderung allein zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen? (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Wie gehen wir mit Härtefällen um? Was passiert zum Beispiel, wenn sich eine Frau von ihrem Mann trennt oder trennen muss, aber beide noch keine fünf Jahre in Deutschland waren? Was ist zukünftig der Status ihrer Kinder, die hier in die Schule gehen oder eine Ausbildung machen? In welchem Verhältnis steht das Gesetz zur EU-Verordnung zu Wanderarbeitern? Wie wirken sich Unterbrechungen des Aufenthalts auf die Fünfjahresfrist aus? Es sind also noch einige Fragen offen, die wir im Gesetzgebungsprozess zu beantworten haben. Ich freue mich auf eine gute und konstruktive Debatte. Glück auf! (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katharina Landgraf [CDU/CSU]) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Stephan Stracke. (Beifall bei der CDU/CSU) Stephan Stracke (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland hat sich für viele Menschen zum Sehnsuchtsort entwickelt; außerhalb der Europäischen Union, aber auch innerhalb der EU. Seit der Wirtschaftskrise kommen immer mehr EU-Ausländer zu uns und bleiben hier in Deutschland. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nennt man Arbeitnehmerfreizügigkeit!) Waren es 2010 über 87 000, so sind es seit 2013 jedes Jahr knapp 300 000, im letzten Jahr sogar fast 400 000 Menschen. Diese europäische Zuwanderung hat sicherlich Gründe: die Strahlkraft Deutschlands. Wir sind ein weltoffenes Land, uns geht es gut, die Wirtschaft brummt und der Wohlstand steigt. Weil das so ist, können wir uns hier in Deutschland ein höheres Sicherungsniveau leisten als viele andere Staaten in Europa. Das löst natürlich auch einen Sogeffekt aus. Diesen wollen wir nicht. Meine sehr verehrten Damen und Herren – ich zitiere –: „Wirbel um Sozialhilfe für EU-Bürger“ und „Seid umarmt, ihr Rumänen!“ Das waren einige Reaktionen der Presse nach dem Urteil des Bundessozialgerichts Anfang Dezember 2015. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist abenteuerlich. Sie besagt, dass jeder EU-Ausländer sich Sozialleistungen ersitzen kann, er muss bloß sechs Monate hier in Deutschland sein. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Grundgesetz! Das ist das deutsche Grundgesetz!) Dieses sozialpolitische Ergebnis der Rechtsprechung ist nicht hinnehmbar. Deswegen korrigieren wir es. Es ist auch nicht mit dem Grundgesetz kollidierend. Wir tun es deshalb, weil wir unsere Kommunen vor ungerechtfertigten Mehrbelastungen schützen wollen. Darüber bestand auch recht schnell Einigkeit innerhalb der Koalition. Dass es am Ende fast ein Jahr gedauert hat und es vor der Kabinettsbefassung noch einmal zur Diskussion zwischen dem Bundesarbeitsministerium und dem Bundesinnenministerium gekommen ist, zeigt, dass es zwischen Union und SPD durchaus noch Unterschiede gibt, mit welcher Intensität Armutszuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme wirksam begrenzt werden soll. Die Haltung der CSU-Landesgruppe und der Union war eindeutig. Wir setzen alles daran, die Einwanderung in unsere Sozialsysteme zu verhindern. Jeder Missbrauch in diesem Bereich gefährdet die Akzeptanz der Freizügigkeit. Es ist vor allem auch eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber unseren Bürgern; denn sie sind es, die mit ihrer Arbeitsleistung einen Beitrag für unsere Sozialsysteme leisten. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb gilt für uns der Grundsatz: Nur diejenigen sollen in den Genuss von Sozialleistungen kommen, die hier leben, arbeiten und Beiträge zahlen. Wer jedoch zu uns kommt und hier nie gearbeitet hat, aber dennoch Sozialleistungen begehrt, für den soll es ein klares Stoppschild geben: existenzsichernde Leistungen ja, aber nicht unsere Leistungen, nicht auf unserem Niveau, sondern die des Heimatlandes. Das ist das Signal, das wir mit diesem Gesetz in die Herkunftsländer aussenden: Armutsmigration nach Deutschland lohnt sich nicht. Gleichzeitig senden wir ein klares Signal an unsere Bürgerinnen und Bürger: Zuwanderung in unsere Sozialsysteme wollen wir nicht. Denn unsere Bürger sind es, die mit ihrer Arbeitsleistung unsere Sozialsysteme im Wesentlichen tragen. Wir haben in der Vergangenheit in diesen Bereichen schon viel erreicht: befristete Wiedereinreisesperren, stärkere Bekämpfung von Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit und die Verhinderung des Doppelbezuges von Kindergeld – alles Maßnahmen, die wir als CSU eingefordert, durchgesetzt und umgesetzt haben. Wir werden ja häufig für unsere klare Sprache gescholten, für pointierte Zuspitzungen, (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie stärken damit die AfD! Das wissen Sie schon, oder?) beispielsweise in Wildbad Kreuth. Aber letztlich kommt es bei der Bekämpfung der Armutszuwanderung auch immer auf klare Worte an. Am Ende zählt vor allem das Ergebnis. Wir sind erfolgreich, im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger. Die Maßnahmen, die wir in der Vergangenheit in der Großen Koalition umgesetzt haben, sind richtig, und auch der vorliegende Gesetzentwurf ist richtig und dringend erforderlich, um die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in diesen Fällen zu korrigieren. Was ist nun vorgesehen? Zum einen werden die bestehenden Leistungsausschlüsse eindeutig geregelt. Damit werden dem Erfindungsspielraum Kassels entsprechende Grenzen gesetzt. Für die von den Leistungsausschlüssen betroffenen Personen gibt es Überbrückungsleistungen, also sehr wohl Leistungen, (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die die Kommunen bezahlen müssen! Warum bezahlt das nicht der Bund? Warum bezahlen das die Kommunen?) bis hin zur Ausreise, zur Übernahme der angemessenen Kosten der Rückreise in das Heimatland. Die damit verbundene Botschaft ist auch klar: Den Weg nach Deutschland, allein um hier Sozialhilfe zu kassieren, kann man sich von vornherein sparen. Erst nach fünf Jahren gewöhnlichen Aufenthalts ohne wesentliche Unterbrechung wird ein Leistungsanspruch gewährt, (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wovon leben die Leute in den fünf Jahren? Kommen Sie mal nach Offenbach! Da können Sie sehen, was die Leute machen, wenn sie keine Sozialleistungen kriegen!) unabhängig davon, ob sich die Betroffenen rechtmäßig oder unrechtmäßig aufgehalten haben. Das war am Ende letztlich auch der kitzelige Punkt zwischen Union und SPD. Wir wollten allein auf einen rechtmäßigen Aufenthalt abstellen. Das ist auch sinnvoll. Der Gesetzentwurf stellt nun auf den tatsächlichen Aufenthalt ab und differenziert nicht mehr zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem Aufenthalt. Allerdings werden Zeiten, in denen sich Personen nicht rechtmäßig in Deutschland aufhalten, weil sie ausreisepflichtig sind, nicht auf den Fünfjahreszeitraum angerechnet. Am Ende kann man sagen: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Der gefundene Kompromiss mag eine Einigung erleichtert haben; rechtssystematisch ist es dennoch nicht der beste Weg. Bedauerlich ist auch, dass durch den Gesetzentwurf die bisherige Systemabgrenzung zwischen SGB II und SGB XII aufgehoben wird. Im Hinblick auf Überbrückungsleistungen bedeutet dies einen nicht unerheblichen bürokratischen Mehraufwand für Sozialämter und Jobcenter. Das wäre vermeidbar gewesen. Trotz dieser Schwächen stimmt die Zielrichtung des Gesetzentwurfs. Wir schließen mit dem Gesetzentwurf die durch das Bundessozialgericht geschaffenen erheblichen Lücken im nationalen Recht. Die Kommunen werden von Mehrbelastungen verschont. Und was natürlich auch schön ist: Ein zentrales Anliegen der CSU-Landesgruppe wird umgesetzt. Herzliches Dankeschön. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Zum Abschluss der Aussprache spricht der Kollege Markus Paschke für die SPD. (Beifall bei der SPD) Markus Paschke (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II und Unterstützung bei der Arbeitsuche erhalten diejenigen, die ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik haben. Grundsätzlich sind da auch alle Europäer gleichzubehandeln. Das ist richtig, und das ist auch gut so. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann muss man es halt auch so machen!) Keinen Anspruch haben jedoch Ausländerinnen und Ausländer, die sich nur zur Arbeitsuche hier aufhalten. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber dafür ist doch die Grundsicherung für Arbeitsuchende da! „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ heißt das!) Auch das ist richtig, denn deren Lebensmittelpunkt liegt bisher nicht in Deutschland. Nun hat das Bundessozialgericht den Betroffenen in mehreren Fällen Anspruch auf Sozialhilfe nach dem SGB XII zugestanden. Das Ziel dieses Ausschlusses im SGB II war jedoch nicht, die Betreffenden in die Sozialhilfe zu drängen; denn da gehören sie auch nicht hin. Die Freizügigkeit innerhalb Europas ist an zwei Voraussetzungen gebunden. Es lohnt sich, das einmal wieder nachzulesen. Das sind nämlich erstens eine bestehende Krankenversicherung und zweitens ausreichend Mittel für den Lebensunterhalt. Bisher war der Anspruch auf Leistung nach dem SGB II dauerhaft ausgeschlossen, wenn jemand nicht gearbeitet hat. Wir haben jetzt Rechtssicherheit. Nach fünf Jahren gilt Deutschland als Lebensmittelpunkt. Damit es in Europa keine Migration in die Sozialsysteme gibt, brauchen wir verbindliche europäische Mindeststandards in der sozialen Sicherung, Mindeststandards, die allen Bürgerinnen und Bürgern Europas an dem Ort ihres Lebensmittelpunktes das sozioeiner Bundesethikkommission kulturelle Existenzminimum sichert. Es muss außerdem sichergestellt sein, dass alle Europäer – egal, ob aus Portugal, Rumänien, Finnland oder Luxemburg, und egal, welcher Volksgruppe sie angehören – die gleichen Chancen auf Bildung, Gesundheitsversorgung und Zugang zum Arbeitsmarkt haben. (Beifall bei der SPD) Für mich ist deshalb klar: Wir brauchen eine europäische soziale Sicherung. Beim vorliegenden Gesetzentwurf sind für mich noch einige Fragen offen, die sich auf Situationen beziehen, die Härtefälle für die Betroffenen bedeuten können. Es kann gute Gründe geben, warum man, auch wenn man seinen Lebensmittelpunkt inzwischen hier hat, das Land zwischendurch für eine gewisse Zeit verlassen muss, zum Beispiel weil es gilt, Familienangehörige zu pflegen oder andere Probleme zu lösen, die ein bisschen länger dauern und wofür man durchaus seine Wohnung hier aufgibt. Solche Unterbrechungen sind bisher nicht berücksichtigt. Auch kann es eine Härte bedeuten, wenn zum Beispiel eine Ehe – aus welchen Gründen auch immer – zerbricht und nur ein Partner Arbeit hat. Zusammenfassend kann man, glaube ich, sagen: Der Grundsatz in dem Gesetzentwurf ist okay. Über Details und offene Fragen müssen wir dann noch reden. Danke schön. Ich wünsche, bevor es der Präsident tut, allen ein schönes Wochenende. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Das ist sehr fürsorglich gegenüber den Kolleginnen und Kollegen und dem Präsidenten. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/10211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere Vorschläge sehe ich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit zugleich am Schluss unserer heutigen Tagesordnung und am Schluss der 200. Sitzung dieser Legislaturperiode. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages, die 201., auf Dienstag, den 22. November 2016, 10 Uhr, ein. Kommen Sie alle gesund wieder. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 12.58 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Auernhammer, Artur CDU/CSU 11.11.2016 Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Barthel, Klaus SPD 11.11.2016 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Brantner, Dr. Franziska BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Bülow, Marco SPD 11.11.2016 Crone, Petra SPD 11.11.2016 De Ridder, Dr. Daniela SPD 11.11.2016 Drobinski-Weiß, Elvira SPD 11.11.2016 Fuchs, Dr. Michael CDU/CSU 11.11.2016 Gohlke, Nicole DIE LINKE 11.11.2016 Groth, Annette DIE LINKE 11.11.2016 Hajduk, Anja BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Hellmich, Wolfgang SPD 11.11.2016 Hintze, Peter CDU/CSU 11.11.2016 Ilgen, Matthias SPD 11.11.2016 Janecek, Dieter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Kurth, Markus BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Liebing, Ingbert CDU/CSU 11.11.2016 Malecha-Nissen, Dr. Birgit SPD 11.11.2016 Nahles, Andrea SPD 11.11.2016 Nissen, Ulli SPD 11.11.2016 Özdemir, Cem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Paus, Lisa BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Petzold (Havelland), Harald DIE LINKE 11.11.2016 Pitterle, Richard DIE LINKE 11.11.2016 Riesenhuber, Dr. Heinz CDU/CSU 11.11.2016 Ripsam, Iris CDU/CSU 11.11.2016 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 11.11.2016 Schmidt, Dr. Frithjof BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Schön (St. Wendel), Nadine CDU/CSU 11.11.2016 Steinbach, Erika CDU/CSU 11.11.2016 Verlinden, Dr. Julia BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11.11.2016 Wawzyniak, Halina DIE LINKE 11.11.2016 Zeulner, Emmi * CDU/CSU 11.11.2016 *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Kerstin Griese und Dr. Eva Högl (beide SPD) zu der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 36) Hinter dieser Abstimmung verbirgt sich eine brisante ethische Frage. Der Gesetzentwurf will fremdnützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patient/innen künftig erlauben. Die Unversehrtheit dieser besonders schutzwürdigen Menschengruppe wäre mit diesem Gesetz nicht mehr gewährleistet. Das bedauern wir sehr. Gegen diese Neuregelung richtet sich der Änderungsantrag Schummer/Schmidt, den ich mit voller Überzeugung unterstützt habe. Wir möchten nicht, dass demenzkranke Menschen, denn um diese handelt es sich in der Mehrzahl bei den „nicht einwilligungsfähigen Patient/innen“,  Proband/innen für eine Forschung werden, die für sie nicht gut ist und von der sie selbst keine Verbesserung haben. Hiermit würden wir einer Verzweckung von Menschen in der Forschung Tür und Tor öffnen. Wir sind besorgt, welche Entwicklung daraus folgen kann. Denn es wird auch um weitere nichteinwilligungsfähige Menschen gehen.  Wir sind der Ansicht, dass auch künftig ausschließlich einwilligungsfähige Menschen entscheiden, ob sie an klinischen Studien teilnehmen wollen, und dass nicht einwilligungsfähige Menschen nur dann an Medikamententests teilnehmen können, wenn sie ihnen helfen können.  Ein zweiter wichtiger Grund ist für uns, dass es keinen Bedarf aus der Forschung gibt, hier eine Änderung vorzunehmen. Ohne Not wird eine ethische Hürde überschritten. Dazu können wir unsere Zustimmung aus Gewissensgründen nicht geben. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Michaela Noll und Sabine Weiss (Wesel I) (beide CDU/CSU) zu der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 36) Dem heute zur Beratung vorliegenden Antrag der Bundesregierung stimme ich in der vorliegenden Form zu. Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt: In der 2. Lesung des Gesetzentwurfs am 9. November 2016 habe ich den Änderungsantrag Drucksache 18/10233 unterstützt. Darin heißt es: Artikel 2 Nummer 11 wird wie folgt geändert: 1. § 40b Absatz 4 Satz 2 wird wie folgt gefasst: „Eine klinische Prüfung darf an einer nicht einwilligungsfähigen Person im Sinne des Artikel 2 Nummer 19 der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 nur durchgeführt werden, wenn wissenschaftliche Gründe vorliegen, die erwarten lassen, dass die Teilnahme an der klinischen Prüfung einen direkten Nutzen für die betroffene Person zur Folge hat, der die Risiken und Belastungen einer Teilnahme an der klinischen Prüfung überwiegt.“ 2. In § 40b Absatz 4 Satz 3 wird das Wort „solche“ gestrichen. Dieser Änderungsantrag wurde leider überstimmt und somit nicht angenommen. Er hätte für die größtmögliche Beibehaltung der bisherigen Rechtslage in Deutschland gesorgt, nach der eine gruppennützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen ohne potenziellen individuellen Nutzen für die jeweiligen Studienteilnehmer ausgeschlossen ist. Die hohen Schutzstandards, die es in Deutschland diesbezüglich gegeben hat, insbesondere hinsichtlich der Würde des Menschen und seiner körperlichen Unversehrtheit, wären erhalten geblieben. Eine gruppennützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen ohne potenziellen individuellen Nutzen löst in mir erhebliche ethische und rechtliche Bedenken aus. Eine gruppennützige Forschung stellt nicht das Wohl des betroffenen Patienten, sondern das Wohl anderer in den Vordergrund. Eine solche Bereitschaft muss ein Patient widerrufen können. Dafür muss er noch zu einer eigenen Willensbildung in der Lage sein. Wenn diese Voraussetzung nicht gegeben ist, und davon ist bei demenziell Erkrankten ab einem gewissen Zeitpunkt auszugehen, darf keine Forschung stattfinden. Hier vertrete ich eine andere Auffassung als die im vorliegenden Gesetzentwurf. Gleichwohl stimme ich diesem – wenn auch mit erheblichen Bedenken – zu, da der Änderungsantrag Drucksache 18/10236 angenommen wurde. Dieser stellt sicher, dass eine Teilnahme an klinischen Studien gegen den aktuellen, natürlichen Willen eines Probanden verboten bleibt, unabhängig davon, ob dieser Wille verbal oder nonverbal geäußert wird oder ob die Person einwilligungsfähig ist. Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zu der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 36) Heike Baehrens (SPD): Die heute zur Abstimmung stehende AMG-Novelle setzt wichtige europäische arzneimittelrechtliche Vorschriften in nationales Recht um. Darüber hinaus werden Änderungen in der Bundes-Apothekerordnung, dem Arzneimittelgesetz, der Arzneimittel- und Wirkstoffherstellungsverordnung und weiteren Regelungswerken vorgenommen, denen ich zustimme. Gleichzeitig wird eine EU-Richtlinie zu klinischen Prüfungen in nationales Recht umgesetzt, die ich für höchst problematisch halte. Künftig soll es möglich sein, gruppennützige Forschung an volljährigen Personen vorzunehmen, die nicht in der Lage sind, Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und ihren Willen hiernach auszurichten. Vorausgesetzt, die Betroffenen haben nach einer ärztlichen Beratung im früheren Zustand der Einwilligungsfähigkeit mittels Patientenverfügung nach § 1901a BGB einer Teilnahme zugestimmt, können sie an Studien beteiligt werden, die ihnen keinen individuellen Nutzen bringen. Es geht hier um Forschung an besonders verletzlichen Menschen – vor allem an Demenzkranken. Bisher ist Forschung an dieser Gruppe, wenn sie nicht zumindest mit der Wahrscheinlichkeit eines individuellen Nutzens verbunden ist, aus ethischen Gründen grundsätzlich verboten. Ich bin der Meinung, dass wir in Deutschland – nicht zuletzt vor dem Hintergrund unserer Geschichte – gut daran tun, diesen hohen Schutzstandard, insbesondere hinsichtlich der Würde des Menschen und seiner körperlichen Unversehrtheit, aufrechtzuerhalten. Auch praktisch besteht keine Notwendigkeit einer Öffnung, da es bislang keine bekannt gewordenen Fälle gibt, in denen ein Forschungsvorhaben am Fehlen einer solchen Möglichkeit der gruppennützigen Forschung gescheitert ist. Deswegen habe ich im parlamentarischen Beratungsverfahren den Änderungsantrag unterstützt [Drucksache 18(14)0214.1], der sichergestellt hätte, das vorhandene Schutzniveau aufrechtzuerhalten. Leider hat dieser keine Mehrheit erhalten. Weil es also nicht möglich war, diese entscheidende Änderung im Gesetzestext zu verankern, kann ich aus ethischen Gründen dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen. Alexander Funk (CDU/CSU): Dem heute zur Beratung vorliegenden Antrag der Bundesregierung stimme ich in der vorliegenden Form zu. Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt: In der 2. Lesung des Gesetzentwurfs am 9. November 2016 habe ich den Änderungsantrag Drucksache 18/10233 unterstützt. Darin heißt es Artikel 2 Nummer 11 wird wie folgt geändert: 1. § 40b Absatz 4 Satz 2 wird wie folgt gefasst: „Eine klinische Prüfung darf an einer nicht einwilligungsfähigen Person im Sinne des Artikel 2 Nummer 19 der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 nur durchgeführt werden, wenn wissenschaftliche Gründe vorliegen, die erwarten lassen, dass die Teilnahme an der klinischen Prüfung einen direkten Nutzen für die betroffene Person zur Folge hat, der die Risiken und Belastungen einer Teilnahme an der klinischen Prüfung überwiegt.“ 2. In § 40b Absatz 4 Satz 3 wird das Wort „solche“ gestrichen. Dieser Änderungsantrag wurde leider überstimmt und somit nicht angenommen.  Aus meiner Sicht müssen die hohen Schutzstandards, die es in Deutschland bei klinischen Studien momentan für nichteinwilligungsfähige Erwachsene gibt, insbesondere hinsichtlich der Würde des Menschen und seiner körperlichen Unversehrtheit, dringend erhalten bleiben. Um diesen größtmöglichen Schutz zu gewähren, müssen klinische Prüfungen daher einen direkten Nutzen für den Betroffenen haben. Hier vertrete ich eine andere Auffassung als die im vorliegenden Gesetzentwurf. Dennoch stimme ich dem Gesamtgesetz zu. Hubert Hüppe (CDU/CSU): Ich stimme heute in der dritten Beratung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften auf Drucksache 18/8034 mit Nein, obwohl ich als Berichterstatter den während des parlamentarischen Verfahrens erarbeiteten Änderungen, die sich in Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 18/10056 wiederfinden, zugestimmt habe. Grund meiner Ablehnung ist die Einführung von fremdnützigen klinischen Arzneimittelprüfungen an nichteinwilligungsfähigen Menschen, die ausschließlich einen Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgruppe, zu der die betroffene Person gehört, zur Folge haben wird, nicht jedoch für den nichteinwilligungsfähigen Probanden selbst, sogenannte gruppennützige klinische Prüfungen. Diese lehne ich aus ethischen Gründen ab und bekenne mich zu dem vom Deutschen Bundestag am 31. Januar 2013 einstimmig gefassten Beschluss: „Bei Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen und an Personen in Notfallsituationen ist ein direkter individueller Nutzen vorauszusetzen.“ Die erkennbare Praxisuntauglichkeit der vorgesehenen schriftlichen Verfügung nach ärztlicher Aufklärung wird absehbar zu der Forderung führen, die schriftliche Verfügung einschließlich der ärztlichen Aufklärung als zwingende Voraussetzung gruppennütziger klinischer Prüfungsteilnahme nichteinwilligungsfähiger Personen zu streichen. Dies ist umso naheliegender, als diese Forderung von als vermeintlichen Befürwortern der jetzt getroffenen Regelung vorgestellten Gruppen bereits während der parlamentarischen Beratungen erhoben worden ist. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hielt in ihrer Stellungnahme zur 4. AMG-Novelle vom 28. August 2016 fest, dass die vorgesehene gesetzliche Regelung gruppennützige Forschung an Menschen, die „nie einwilligungsfähig waren (wie bei Menschen mit geistigen Behinderungen)“, unmöglich mache, und stellte die rhetorische Frage: „Will also der deutsche Gesetzgeber gruppennützige Forschung – anders als die entsprechende EU Richtlinie – wirklich so eng begrenzen?“ Das KKS-Netzwerk und der Medizinische Fakultätentag schrieben am 18. Mai 2016 an den Gesundheitsausschuss, dass sie eigentlich die schriftliche Verfügung – und damit implizit auch die damit verknüpfte ärztliche Aufklärung – ablehnen: „Auch wenn wir uns eine generelle Regelung ohne Patientenverfügung wünschen würden, so unterstützen wir den Vorschlag der Bundesregierung, die gruppennützige Forschung bei einer Untergruppe der nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen auf der Basis einer Patientenverfügung zu erlauben.“ Der als Einzelsachverständiger zur Anhörung am 16. Oktober 2016 geladene Vorsitzende des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen, Professor Dr. Joerg Hasford, empfahl in seiner schriftlichen Stellungnahme, “den Artikel 31 der EU-Verordnung Nr. 536/2014 nicht mit eigener Gesetzgebung zu ergänzen“, also gruppennützige Forschung gemäß Artikel 31 der EU-Verordnung an allen nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen und Kindern, einschließlich solchen mit sogenannter geistiger Behinderung, in Deutschland zu legalisieren. Daher halte ich die Befürchtung für begründet, dass die heutige begrenzte Zulassung fremdnütziger Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen der Türöffner für die zukünftige Einbeziehung zusätzlicher besonders vulnerabler Gruppen in fremdnützige Forschung ist. Bernhard Kaster (CDU/CSU): Dem heute zur Beratung vorliegenden Antrag der Bundesregierung stimme ich in der vorliegenden Form zu. Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt: In der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs am 9. November 2016 habe ich den Änderungsantrag Drucksache 18/10233 unterstützt. Darin heißt es: Artikel 2 Nummer 11 wird wie folgt geändert: 1. § 40b Absatz 4 Satz 2 wird wie folgt gefasst: „Eine klinische Prüfung darf an einer nicht einwilligungsfähigen Person im Sinne des Artikel 2 Nummer 19 der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 nur durchgeführt werden, wenn wissenschaftliche Gründe vorliegen, die erwarten lassen, dass die Teilnahme an der klinischen Prüfung einen direkten Nutzen für die betroffene Person zur Folge hat, der die Risiken und Belastungen einer Teilnahme an der klinischen Prüfung überwiegt.“ 2. In § 40b Absatz 4 Satz 3 wird das Wort „solche“ gestrichen. Dieser Änderungsantrag wurde leider überstimmt und somit nicht angenommen. Aus eigener Erfahrung weiß ich um die große Bedeutung des angemessenen Umgangs mit schwerstkranken Familienangehörigen. Mir persönlich ist es daher ein großes Anliegen, Menschen, die aufgrund ihres Alters und oder einer schweren Erkrankung, welche ihre geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt, den größtmöglichen staatlichen Schutz zukommen zu lassen. Klinische Prüfungen müssen für mich daher einen direkten Nutzen für den Betroffenen haben. Hier vertrete ich eine andere Auffassung als die im vorliegenden Gesetzentwurf. Dennoch stimme ich dem Gesamtgesetz zu. Matern von Marschall (CDU/CSU): Entsprechend dem üblichen Verfahren zeige ich Ihnen hiermit an, dass ich bei der namentlichen Abstimmung am Freitag, 11. November 2016, gegen den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Vierten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften stimmen werde. Dieses Abstimmungsverhalten entspricht meiner Position in den vorangegangen Abstimmungen zu diesem Gesetz, bei denen ich dem Änderungsvorschlag der Unionskollegen Schummer et al. gefolgt bin. Ich habe bei meinen intensiven Recherchen im Vorfeld der Gesetzgebung niemanden in Klinik, Wissenschaft oder Verbänden getroffen, der gefordert oder mir schlüssig dargelegt hätte, dass gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten derzeit sinnvoll oder gar erforderlich ist. Im Gegenteil ist die klare Auskunft, dass solche Studien insbesondere an Alzheimer Patienten im weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium wegen der dann irreversiblen Zerstörung des Gehirnes sinnlos sind und dass vielmehr ganz andere Studien benötigt werden, um Ursachen kennenzulernen und Prävention zu verbessern. Allenfalls Studien an Patienten, bei denen gerade die Diagnose gestellt wurde, könnten sinnvoll sein. Diese aber wären dann ja zu Beginn der Studien einwilligungsfähig. Kurzum: Ein Gesetz, welches gruppennützige Forschung an nicht Einwilligungsfähigen ermöglicht, ist derzeit erkennbar nicht sinnvoll oder gar erforderlich, es öffnet aber die Tür zu einem ethisch sehr problematischen Verfahren: Wehrlose Menschen sollen sich für andere als Versuchspersonen zur Verfügung stellen, also ohne mit den Studien auch nur eine Erwartung an die Verbesserung ihrer eigenen Lage verbinden zu können. Das ist übrigens auch der wesentliche Unterschied zu den „klassischen“ Patientenverfügungen – Organentnahme, Abstellen lebenserhaltender Maschinen –, die sich stets auf die eigene Person beziehen. Deshalb hatte ja der Kollege Schummer einen Änderungsantrag gestellt, der lediglich einen Punkt gegenüber der Regierungsvorlage ändert, nämlich die Entscheidung zur Teilnahme freizustellen, aber sie eben auf Eigennützigkeit, also auf die eigene Person zu begrenzen. Dem hätte ich, wenngleich immer noch mit erheblichen Bedenken, zustimmen können. Der jetzige Gesetzentwurf widerspricht grundsätzlich meinen ethischen Vorstellungen, die ich aus christlichen Werten ableite. Markus Paschke (SPD): Bisher ist eine sogenannte gruppennützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen nach dem Arzneimittelrecht ausgeschlossen. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung will dieses Verbot nun insoweit aufweichen, dass zukünftig eine Teilnahme volljähriger Nichteinwilligungsfähiger auch ohne persönlichen Nutzen zulässig ist, wenn die Betroffenen im früheren Zustand der Einwilligungsfähigkeit mittels Patientenverfügung nach § 1901a BGB einer Teilnahme zugestimmt haben. Die Regelung wird voraussichtlich vor allem Menschen mit neurodegenerativen, beispielsweise dementiellen Erkrankungen betreffen. Ich lehne diesen Vorschlag klar ab. Die hohen Schutzstandards, die es in Deutschland bei klinischen Studien momentan für nichteinwilligungsfähige Erwachsene gibt, insbesondere hinsichtlich der Würde des Menschen und seiner körperlichen Unversehrtheit, müssen erhalten bleiben. Bereits 2013 hat sich der Bundestag – Drucksache 17/12183 – dazu ausgesprochen, dass in solchen Fällen das Schutzniveau für diese Personen zu erhalten ist. Von dieser Haltung darf nicht abgewichen werden. Würde und Sicherheit der Probandinnen und Probanden müssen immer im Vordergrund stehen. Dieser Grundsatz ist gefährdet, wenn Menschen an Forschung beteiligt werden, die nicht in der Lage sind, das Risiko und den Nutzen ihrer Teilnahme zu beurteilen, ohne selbst irgendeinen Nutzen aus der Teilnahme zu ziehen. Das Schutzniveau für diese besonders schützenswerte Patientengruppe muss in Deutschland weiterhin auf hohem Standard erhalten bleiben. Zudem entbehrt eine solche Öffnung jeder Notwendigkeit. Artikel 31 Absatz 2 der hier umzusetzenden Verordnung (EU) Nr. 536/2014 erklärt nationale Verbote einer gruppennützigen Forschung an Nichteinwilligungsfähigen ausdrücklich für zulässig. Diese EU-Verordnung erlaubt die Forschung an Nichteinwilligungsfähigen, wenn die wissenschaftlich begründete Erwartung besteht, dass der oder die Betroffene einen direkten Nutzen aus der Prüfung hat, der die Risiken und Belastungen der Studienteilnahme überwiegt (Eigennutzen). Auch praktisch besteht keine Notwendigkeit einer Öffnung, da es bislang keine bekannt gewordenen Fälle gibt, in denen ein Forschungsvorhaben am Fehlen einer solchen Möglichkeit der gruppennützigen Forschung gescheitert ist. Aus den ausgeführten Gründen werde ich daher gegen den vorliegenden Gesetzentwurf stimmen. Mechthild Rawert (SPD): Es geht in den Plenarsitzungen am 9. und 11. November 2016 um den Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ (18/8034), mit dem eine EU-Verordnung (Nr. 536/2014) umgesetzt werden soll. In der EU-Novelle wird die rein gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Zugleich bleibt es den EU-Staaten vorbehalten, auf nationaler Ebene strengere Regeln zu beschließen. Laut Gesetzentwurf der Bundesregierung soll die gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen auch in Deutschland erlaubt sein. Es liegen hierzu drei Änderungsanträge vor. Zu diesen hat am 19. Oktober 2016 eine öffentliche Anhörung des Ausschusses für Gesundheit stattgefunden. Ich stimme für den Änderungsantrag der Abgeordneten Hilde Mattheis und Sabine Dittmar. Drei Änderungsanträge zur rein gruppennützigen Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen: Erstens. Über den Änderungsantrag der Abgeordneten Uwe Schummer, Ulla Schmidt, Kathrin Vogler, Kordula Schulz-Asche wird zuerst namentlich abgestimmt. Er sieht vor, es bei der restriktiven Regelung in Deutschland zu belassen. Die unter Demenz leidenden Menschen müssten besonders geschützt werden. Aus medizinischer Sicht könnte diese Grundlagenforschung auch an anderen PatientInnengruppen geleistet werden könne. Zweitens. Der Änderungsantrag der Abgeordneten Hilde Mattheis und Sabine Dittmar gestattet die rein gruppennützige Forschung mit einer vorherigen ProbandInnenverfügung mit optionaler ärztlicher Beratung und wird danach abgestimmt. Der Deutsche Bundestag soll unter anderem beschließen, dass „die betroffene Person als einwilligungsfähige volljährige Person für den Fall ihrer Einwilligungsunfähigkeit schriftlich nach ärztlicher Aufklärung oder ausdrücklichem Aufklärungsverzicht nach Maßgabe des Paragrafen 630e Absatz 1 bis 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches“ festlegt, „dass sie in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende gruppennützige klinische Prüfungen einwilligt. … Die Aufklärung umfasst sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände. Dazu gehören insbesondere die Aufklärung über das Wesen, die Ziele, den Nutzen, die Folgen, die Risiken und die Nachteile klinischer Prüfungen.“ Drittens. Als Drittes wird über den Änderungsantrag Dr. Georg Nüßlein, Professor Dr. Karl Lauterbach, Maria Michalk, Hermann Gröhe, Ingrid Fischbach, Annette Widmann-Mauz, Rudolf Henke, beschlossen, der eine verpflichtende ärztliche Beratung vorsieht. Gründe meines Abstimmungsverhaltens Seit Monaten wird in der Politik und Öffentlichkeit über die Forschung an Demenz erkrankten Menschen gestritten. Im Mittelpunkt steht die Streitfrage, ob Arzneimittelstudien – also keine an nicht mehr einwilligungsfähigen Erwachsenen – zum Beispiel an Demenz Erkrankten – auch dann zulässig sein sollen, wenn sie nur gruppennützig sind, den Betroffenen selbst also keine Vorteile bringen. Das ist bislang in Deutschland verboten und soll nach dem Willen der Bundesregierung nun mit dieser gesetzlichen Änderung künftig erlaubt werden. Grundsätzlich dürfen Menschen, die nie einwilligungsfähig gewesen sind, zum Beispiel Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, an solchen gruppenbezogenen Forschungen nicht beteiligt werden. Sie sind als Zielgruppe mit dieser Novelle nicht angesprochen. Jeglicher Bezug auf experimentelle Forschungen an geistig behinderten Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus geht also am Inhalt der angestrebten Regelung völlig vorbei. Ich unterstütze grundsätzlich die im vorliegenden Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe geschaffene Möglichkeit zur Teilnahme von Menschen an Arzneimittelstudien, wenn sie dies vorab im einwilligungsfähigen und gesunden Zustand in einer Verfügung festgelegt haben. Es handelt sich hierbei um die Erprobung von Medikamenten, nicht um invasivere Studien. Nur auf Grundlage dieser Vorabverfügung für Studien für eine optimale medikamentöse Therapie dürfen dann Messungen von Blutdruck, Puls oder Therapie erfolgen. Invasivere Maßnahmen oder Studien würden mit dieser Regelung nicht erlaubt. Ich erkenne in der Möglichkeit für eine gruppennützige Forschung an nicht mehr einwilligungsfähigen Erwachsenen keinen „ethischen oder rechtlichen Freibrief für eine Verzwecklichung der Forschung“. Sowohl bei der optionalen als auch bei der verpflichtenden ärztlichen Beratung – Änderungsantrag 2 bzw. 3 – trifft jeder Erwachsene noch im gesunden Zustand diese Entscheidung als Vorausverfügung selbst. Für Arzneimittelstudien dieser Art gibt es zahlreiche Hürden: Bei der Beantragung einer Studie muss eine obligate Beratung durch öffentlich-rechtliche Ethikkommissionen erfolgen. Die im gesunden Zustand getroffene Einwilligung zur Teilnahme an einer gruppennützigen Forschung muss schriftlich vorliegen. Es muss zum Zeitpunkt der Teilnahme eine ärztliche Aufklärung der PatientInnen und der BetreuuerInnen erfolgen. Es besteht zu jeder Zeit die Möglichkeit, die Studie auch wieder abzubrechen – jede ablehnende verbale oder nonverbale Äußerung der PatientInnen und StudienteilnehmerInnen ist als entsprechender Wunsch zu werten. Zudem bin ich also aufgrund der für klinische Studien in Deutschland geltenden strengen Regelungen davon überzeugt, dass es einen systematischen Missbrauch kaum geben kann. Die rein gruppennützige Forschung bei Minderjährigen ist seit der zwölften Novellierung des Arzneimittelgesetzes (AMG) im Jahre 2004 in Deutschland explizit zugelassen. Es ist mir nicht einsichtig, weshalb eine Regelung für Minderjährige erlaubt und für Erwachsene verboten sein soll. Die Entscheidung, später einmal in einem nicht mehr einwilligungsfähigen Zustand, sei es wegen einer fortgeschrittenen Demenz, sei es wegen eines schweren Gehirnschadens, an einer rein gruppennützigen Forschung teilzunehmen, ist für mich auch ein Ausdruck von individueller Selbstbestimmung, wie ich es mit Vorausverfügungen wie dem Organspendeausweis oder einer Vorsorgevollmacht auch mache. Eine solch freiwillige Entscheidung ist auch Ausdruck gelebter Solidarität mit von der gleichen Krankheit betroffenen Menschen. Bei PatientInnen mit schweren Erkrankungen ist die Bereitschaft, auch ohne unmittelbaren Eigennutzen an der medizinischen Forschung zu ihrer Erkrankung mitzuwirken, durchaus weit verbreitet. Aktuell gibt es noch keine zufriedenstellende Medikation für die unterschiedlichen Phasen der dementiellen Erkrankungen. Aber auch Menschen in späteren Stadien der Demenzerkrankung sollen am medizinischen Fortschritt teilnehmen können. Vielleicht gibt es in einigen Jahr(zehnt)en Möglichkeiten der Linderung, der Heilung. Diese Chancen auf wichtige Erkenntnisgewinne zur Behandlung der Erkrankung Demenz möchte ich ergreifen. Deshalb stimme ich dem Änderungsantrag der Abgeordneten Hilde Mattheis und Sabine Dittmar zu. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Am Mittwoch haben wir hier in einer sehr kontroversen Debatte quer durch alle Fraktionen über drei Änderungsanträge zu dieser hier vorliegenden Novelle des Arzneimittelgesetzes debattiert und abgestimmt. Dabei ging es um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen nichteinwilligungsfähige Erwachsene als Versuchspersonen in klinische Arzneimittelstudien einbezogen werden dürfen, auch wenn sie davon individuell keinen Nutzen zu erwarten haben. Ich habe hier für die Annahme eines Änderungsantrags geworben, der dies auch weiterhin verbieten und damit die bisher in Deutschland geltenden Gesetzeslage bestätigen sollte. Die Mehrheit des Parlaments hat sich aber dafür entschieden, alle drei Änderungsanträge abzulehnen und mit dem ursprünglichen Regierungsentwurf diejenige Regelung zu wählen, die ich absolut für die schlechtestmögliche halte. Ehrlich gesagt, ich habe nicht damit gerechnet, dass die intensive Beratung in den Parlamentsgremien über ein so brisantes Thema an der absoluten Mehrheit des Hauses so komplett vorbeigehen kann. Deswegen kann ich das ganze Gesetz heute nur ablehnen, auch wenn sich meine Fraktion für eine Enthaltung entschieden hat. Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass die Erweiterung des Zugriffs der Pharmaforschung auf Menschen, die Ziel, Wesen und Tragweite eines Arzneimittelversuchs nicht erfassen und ihren Willen nicht danach ausrichten können, unethisch und unnötig ist. Manche Debattenbeiträge der Befürworter am Mittwoch haben mich in meiner Position eher noch bestärkt. Wenn etwa Versuche an lebenden und leidensfähigen Menschen gleichgesetzt werden mit Organspenden Verstorbener, dann sind wir nicht mehr weit entfernt von der Philosophie eines Peter Singer, der den Wert eines Menschen und sein Lebensrecht am Grad seiner Bewusstseinsentwicklung festmacht und zum Beispiel postuliert, dass die Tötung eines behinderten Säuglings sehr oft gar kein Unrecht sei. Einer solchen selektiven Ethik kann ich, auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, nur schärfstens widersprechen. Dann wurde in der Debatte recht oft darauf hingewiesen, dass ja die Ethikkommissionen schon für ausreichenden Schutz der besonders verletzlichen Personen sorgen würden. Dabei hebelt dieser Gesetzentwurf gerade die Unabhängigkeit der Ethikkommissionen teilweise aus. Dieselbe Behörde, die auch die Arzneimittelstudien genehmigt, soll künftig auch für die Registrierung der Landesethikkommissionen zuständig sein. Und die Voten der Ethikkommissionen sollen nicht mehr verbindlich, sondern nur noch maßgeblich berücksichtigt werden müssen. In der Kombination erst werden diese beiden scheinbar kleinen Änderungen zu einem potenziell kritischen Einfallstor für unethische Forschung an menschlichen Versuchsobjekten. Als Gesundheitspolitikerin muss ich die Würde des Menschen und den Respekt vor seinen individuellen und sozialen Rechten viel zu oft gegen die Zumutungen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems verteidigen, das Krankheit als Rohstoff und Gesundheit als Ware behandelt und in dem der Mensch als Patientin oder Patient eben nur das Objekt widerstrebender Geschäftsinteressen ist. Für mich sind Menschen, ganz gleich wie schwer beeinträchtigt, erkrankt oder behindert sie sind, niemals als Objekt zu behandeln, auch nicht für einen vermeintlich guten Zweck. Deswegen stimme ich heute gegen den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Ich stimme heute in der Dritten Beratung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften auf Drucksache 18/8034 mit Nein. Grund meiner Ablehnung ist die Einführung von fremdnützigen klinischen Arzneimittelprüfungen an nichteinwilligungsfähigen Menschen, die ausschließlich einen Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgruppe, zu der die betroffene Person gehört, zur Folge haben wird, nicht jedoch für den nichteinwilligungsfähigen Probanden selbst, sogenannte gruppennützige klinische Prüfungen. Diese lehne ich aus ethischen Gründen ab und bekenne mich zu dem vom Deutschen Bundestag am 31. Januar 2013 einstimmig gefassten Beschluss: „Bei Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen und an Personen in Notfallsituationen ist ein direkter individueller Nutzen vorauszusetzen.“ Die erkennbare Praxisuntauglichkeit der vorgesehenen schriftlichen Verfügung nach ärztlicher Aufklärung wird absehbar zu der Forderung führen, die schriftliche Verfügung einschließlich der ärztlichen Aufklärung als zwingende Voraussetzung gruppennütziger klinischer Prüfungsteilnahme nichteinwilligungsfähiger Personen zu streichen. Dies ist umso naheliegender, als diese Forderung von als vermeintlichen Befürwortern der jetzt getroffenen Regelung vorgestellten Gruppen bereits während der parlamentarischen Beratungen erhoben worden ist. Daher halte ich die Befürchtung für begründet, dass die heutige begrenzte Zulassung fremdnütziger Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen der Türöffner für die zukünftige Einbeziehung zusätzlicher besonders vulnerabler Gruppen in fremdnützige Forschung ist. Katrin Werner (DIE LINKE): Der Deutsche Bundestag stimmt heute über einen Entwurf der Bundesregierung eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften ab. Zu diesem Gesetz wurden mehrere Gruppenänderungsanträge eingebracht. Bisher ist eine sogenannte gruppennützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen nach dem Arzneimittelrecht ausgeschlossen. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung will dieses Verbot nun insoweit aufweichen, dass zukünftig eine Teilnahme volljähriger Nichteinwilligungsfähiger auch ohne persönlichen Nutzen zulässig ist, wenn die Betroffenen im früheren Zustand der Einwilligungsfähigkeit mittels Patientenverfügung nach § 1901a BGB einer Teilnahme zugestimmt haben. Die Regelung wird voraussichtlich vor allem Menschen mit neurodegenerativen, beispielsweise dementiellen Erkrankungen betreffen. Die Würde und Sicherheit der Probandinnen und Probanden muss immer im Vordergrund stehen. Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen muss mit einem erwartbaren Eigennutzen verbunden sein. Ansonsten droht eine Verzweckung von Menschen. Leider hat der Änderungsantrag zur Erhaltung der derzeitigen hohen Schutzstandards keine Mehrheit gefunden. Daher habe ich heute gegen den Gesetzentwurf der Bundesregierung gestimmt. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Ich lehne die nicht fremdnützige Forschung an nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten ab. Patienten müssen in der Lage sein, eine einmal gegebene Einwilligung jederzeit wieder zurückziehen zu können. Können sie dies nach dem Verlust ihrer Einwilligungsfähigkeit nicht und werden Objekte fremdnütziger Forschung, werden sie als Mittel für Zwecke anderer benutzt. Dies ist mit der Menschwürde aus meiner Sicht nicht vereinbar. Dagegen kann auch nicht argumentiert werden, dass der Mensch sich altruistisch verhalten könne. Sosehr dies zutrifft und etwa die freiwillige Teilnahme an fremdnütziger Forschung oder die Spende von Organen bei Lebenden Beispiele eines solchen altruistischen Verhaltens sind, beruhen sie auf der Möglichkeit des jederzeitigen Rücktritts. Dies ist bei nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten nicht gegeben. Darüber hinaus öffnet diese Möglichkeit der fremdnützigen Forschung an nichteinwilligungsfähigen – und damit auch nicht rücktrittsfähigen – Patienten die Tür zu einem Präferenzutilitarismus, wie ihn der australische Philosoph Peter Singer vertritt. Dieser vertritt aber ein Menschenbild, das mit der Würde des Menschen in einem christlichen Verständnis nicht mehr vereinbar ist und zu Recht abgelehnt wird. Anlage 5 Amtliche Mitteilung ohne Verlesung Der Bundesrat hat in seiner 950. Sitzung am 4. November 2016 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz zur Änderung des Kommunalinvestitionsförderungsgesetzes und zur Änderung weiterer Gesetze – Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 2016/2017 (BBVAnpG 2016/2017) – Gesetz zur weiteren Fortentwicklung der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes – Gesetz zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes – Zweites Gesetz zur Änderung des Berufskraftfahrer-Qualifikations-Gesetzes – Gesetz über die elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln (Elektromagnetische-Verträglichkeit-Gesetz – EMVG) – Gesetz zur Änderung der Artikel 8 und 39 des Übereinkommens vom 8. November 1968 über den Straßenverkehr Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 2016 Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaushaltsordnung über die Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 671 03 – Erstattung der Kosten für Maßnahmen im Fischereisektor – bis zur Höhe von 8 Mio. Euro Drucksachen 18/9224, 18/9596 Nr. 1.4 Ausschuss für Wirtschaft und Energie – Unterrichtung durch die Bundesregierung Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 62 Absatz 1 des Energiewirtschaftsgesetzes Energie 2015: Ein wettbewerbliches Marktdesign für die Energiewende Drucksachen 18/6432, 18/6605 Nr. 1.4 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre 2015 (Rüstungsexportbericht 2015) Drucksachen 18/9160, 18/9595 Nr. 1.2 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 62 Absatz 1 des Energiewirtschaftsgesetzes Energie 2015: Ein wettbewerbliches Marktdesign für die Energiewende Drucksache 18/6432 hier: Stellungnahme der Bundesregierung Drucksachen 18/9870, 10102 Nr. 1.6 Ausschuss für Arbeit und Soziales – Unterrichtung durch die Bundesregierung Zwölfter Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Drucksachen 18/673, 18/817 Nr. 4 Ausschuss für Kultur und Medien – Unterrichtung durch die Bundesregierung Weiterentwicklung der Konzeption zur Erforschung, Bewahrung, Präsentation und Vermittlung der Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes Drucksache 18/7730 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Drucksache 18/419 Nr. A.49 Ratsdokument 17392/13 Drucksache 18/419 Nr. A.50 Ratsdokument 17618/13 Drucksache 18/419 Nr. A.51 Ratsdokument 17621/13 Drucksache 18/419 Nr. A.52 Ratsdokument 17633/13 Drucksache 18/419 Nr. C.9 Ratsdokument 8065/13 Drucksache 18/419 Nr. C.10 Ratsdokument 8066/13 Drucksache 18/419 Nr. C.11 Ratsdokument 8145/11 Drucksache 18/419 Nr. C.12 Ratsdokument 8160/11 Drucksache 18/419 Nr. C.13 Ratsdokument 8163/11 Drucksache 18/1393 Nr. A.24 Ratsdokument 7838/14 Finanzausschuss Drucksache 18/9746 Nr. A.3 Ratsdokument 11583/16 Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 18/2677 Nr. A.10 Ratsdokument 12816/14 Drucksache 18/4857 Nr. A.6 Ratsdokument 7634/15 Drucksache 18/8140 Nr. A.13 EP P8_TA-PROV(2016)0064 Drucksache 18/8293 Nr. A.8 Ratsdokument 7614/16 Drucksache 18/8293 Nr. A.9 Ratsdokument 7616/16 Drucksache 18/8470 Nr. A.18 Ratsdokument 8100/16 Drucksache 18/8470 Nr. A.19 Ratsdokument 8104/16 Drucksache 18/8936 Nr. A.20 Ratsdokument 9610/16 Drucksache 18/8936 Nr. A.21 Ratsdokument 9611/16 Drucksache 18/8936 Nr. A.23 Ratsdokument 9727/16 Drucksache 18/9605 Nr. A.51 Ratsdokument 10847/16 Drucksache 18/9605 Nr. A.52 Ratsdokument 11120/16 Drucksache 18/9746 Nr. A.4 Ratsdokument 11772/16 Drucksache 18/10116 Nr. A.20 EP P8_TA-PROV(2016)0333 Drucksache 18/10116 Nr. A.21 Ratsdokument 12153/16 Drucksache 18/10116 Nr. A.22 Ratsdokument 12364/16 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Drucksache 18/9605 Nr. A.58 Ratsdokument 10864/16 Drucksache 18/9605 Nr. A.59 Ratsdokument 11482/16 Drucksache 18/9605 Nr. A.62 Ratsdokument 11522/16 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 18/9141 Nr. A.35 Ratsdokument 10209/16 Drucksache 18/9605 Nr. A.67 Ratsdokument 10826/16 1)  Anlagen 2 bis 4 2)  Ergebnis Seite 20006 C --------------- ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung, Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung, Berlin, Freitag, den 11. November 2016 III Plenarprotokoll 18/200