Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 225. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 23. März 2017 Inhalt: Gedenken an die Opfer des Anschlags in London am britischen Parlament 22485 A Benennung von Gebäuden des Deutschen Bundestages in Otto-Wels-Haus und Matthias-Erzberger-Haus 22485 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 22486 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 6, 15 a und 15 b 22487 C Nachträgliche Ausschussüberweisungen 22487 D Tagesordnungspunkt 3: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und anderer Gesetze Drucksachen 18/11398, 18/11647 22488 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exportverbot für hochradioaktive Abfälle – zu dem Abschlussbericht der Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe: Verantwortung für die Zukunft: Ein faires und transparentes Verfahren für die Auswahl eines nationalen Endlagerstandortes Drucksachen 18/9791, 18/9100, 18/11647 22488 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Umgang mit Atommüll – Defizite des Entwurfs des Nationalen Entsorgungsprogramms beheben und Konsequenzen aus dem Atommülldesaster ziehen Drucksachen 18/5228, 18/7275 22488 D Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin BMUB 22489 A Hubertus Zdebel (DIE LINKE) 22490 D Steffen Kanitz (CDU/CSU) 22491 D Winfried Kretschmann, Ministerpräsident (Baden-Württemberg) 22494 C Dr. Matthias Miersch (SPD) 22496 A Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22497 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) 22497 C Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) 22498 C Hiltrud Lotze (SPD) 22501 A Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU) 22502 B Eckhard Pols (CDU/CSU) 22503 A Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Konstantin von Notz, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Arbeit 4.0 – Arbeitswelt von morgen gestalten Drucksache 18/10254 22504 D Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22505 A Uwe Lagosky (CDU/CSU) 22506 B Klaus Ernst (DIE LINKE) 22508 A Katja Mast (SPD) 22509 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22510 C Ralf Kapschack (SPD) 22511 B Kai Whittaker (CDU/CSU) 22512 A Klaus Ernst (DIE LINKE) 22514 A Kai Whittaker (CDU/CSU) 22514 C Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) 22515 B Michael Gerdes (SPD) 22516 A Antje Lezius (CDU/CSU) 22517 B René Röspel (SPD) 22518 C Stephan Stracke (CDU/CSU) 22519 D Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD) 22521 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) 22521 D Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht Drucksache 18/11546 22523 B Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMI 22523 B Petra Pau (DIE LINKE) 22525 A Dr. Lars Castellucci (SPD) 22526 A Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22528 A Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) 22529 A Sebastian Hartmann (SPD) 22530 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22532 A Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) 22533 A Nina Warken (CDU/CSU) 22534 C Tagesordnungspunkt 34: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Rechts der Umweltverträglichkeitsprüfung Drucksache 18/11499 22535 C b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 11. Juli 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Arabischen Republik Ägypten über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich Drucksache 18/11508 22535 D c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 26. September 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Tunesischen Republik über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich Drucksache 18/11509 22535 D d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften Drucksache 18/11547 22536 A e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. August 2016 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Turkmenistan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen Drucksache 18/11557 22536 A f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Dezember 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Agentur für Flugsicherheit über den Sitz der Europäischen Agentur für Flugsicherheit Drucksache 18/11558 22536 A g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der personellen Struktur beim Bundeseisenbahnvermögen und in den Postnachfolgeunternehmen sowie zur Änderung weiterer Vorschriften des Postdienstrechts Drucksache 18/11559 22536 B h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Ausweitung des Maßregelrechts bei extremistischen Straftätern Drucksache 18/11584 22536 B i) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Atomwaffen aus Deutschland abziehen und Neustationierung stoppen Drucksache 18/6808 22536 C j) Antrag der Abgeordneten Ralph Lenkert, Caren Lay, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Abschaffung der Zeitumstellung Drucksache 18/10697 22536 C k) Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Einen armutsfesten gesetzlichen Mindestlohn sicherstellen Drucksache 18/11599 22536 C Zusatztagesordnungspunkt 1: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung der Anlage VI des Umweltschutzprotokolls zum Antarktis-Vertrag vom 14. Juni 2005 über die Haftung bei umweltgefährdenden Notfällen (Antarktis-Haftungsgesetz – AntHaftG) Drucksache 18/11529 22536 D b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anlage VI des Umweltschutzprotokolls zum Antarktis-Vertrag vom 14. Juni 2005 über die Haftung bei umweltgefährdenden Notfällen (Antarktis-Haftungsannex) Drucksache 18/11530 22536 D c) Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einrichtung eines Bundesprogramms „Zugang zu Land – Chancen für neue Betriebe ermöglichen“ Drucksache 18/11601 22537 A d) Antrag der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Arzneimittelversorgung an Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientieren – Heute und in Zukunft Drucksache 18/11607 22537 A Tagesordnungspunkt 35: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen und zur Einrichtung des Elektronischen Urkundenarchivs bei der Bundesnotarkammer Drucksachen 18/10607, 18/11636 22537 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu der Verordnung der Bundesregierung: Siebte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung Drucksachen 18/10829, 18/10924 Nr. 2.2, 18/11214 22537 C c)–h) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 416, 417, 418, 419, 420 und 421 zu Petitionen Drucksachen 18/11422, 18/11423, 18/11424, 18/11425, 18/11426, 18/11427 22537 D Zusatztagesordnungspunkt 2: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Drucksachen 18/11140, 18/11638 22538 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 60 Jahre Römische Verträge Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22538 D Thorsten Frei (CDU/CSU) 22539 D Alexander Ulrich (DIE LINKE) 22540 D Michael Roth, Staatsminister AA 22542 A Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU) 22543 D Andrej Hunko (DIE LINKE) 22544 D Joachim Poß (SPD) 22546 A Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22547 A Matern von Marschall (CDU/CSU) 22548 B Dr. Dorothee Schlegel (SPD) 22549 A Iris Eberl (CDU/CSU) 22550 A Norbert Spinrath (SPD) 22551 B Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) 22552 C Tagesordnungspunkt 32: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem Engagement und zum Bürokratieabbau bei Genossenschaften Drucksache 18/11506 22553 D Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV 22553 D Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) 22554 D Marco Wanderwitz (CDU/CSU) 22555 D Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22557 B Dr. Matthias Bartke (SPD) 22558 B Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) 22559 B Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kreis der Anspruchsberechtigten und die Bezugsdauer in der Arbeitslosenversicherung erweitern Drucksache 18/11419 22560 B Klaus Ernst (DIE LINKE) 22560 C Dr. h. c. Albert Weiler (CDU/CSU) 22562 A Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22563 C Markus Paschke (SPD) 22564 D Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) 22565 B Tobias Zech (CDU/CSU) 22566 C Klaus Ernst (DIE LINKE) 22567 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) 22568 C Tagesordnungspunkt 8: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie, zur Ausführung der EU-Geldtransferverordnung und zur Neuorganisation der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen Drucksache 18/11555 22569 C b) Antrag der Abgeordneten Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch, Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE: Anonyme Briefkastenfirmen verbieten – Transparenzregister einrichten Drucksache 18/8133 22569 D Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär BMF 22569 D Richard Pitterle (DIE LINKE) 22571 A Dr. Jens Zimmermann (SPD) 22571 D Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22573 A Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) 22574 A Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) 22575 B Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) 22576 C Tagesordnungspunkt 9: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europaweiten Atomausstieg voranbringen – Euratom-Vertrag reformieren oder aussteigen Drucksachen 18/8242, 18/8439 22577 C b) Antrag der Abgeordneten Alexander Ulrich, Hubertus Zdebel, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: EU-Förderung von Atomenergie stoppen – EURATOM-Vertrag beenden Drucksache 18/11595 22577 C c) Antrag der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ausfuhr von Uran-Brennstoffen für den Betrieb störanfälliger Atomkraftwerke im Ausland stoppen Drucksache 18/11596 22577 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Brennstofflieferungen für belgische Atomkraftwerke stoppen Drucksachen 18/9676, 18/10934 22577 D Dr. Nina Scheer (SPD) 22577 D Alexander Ulrich (DIE LINKE) 22579 D Barbara Lanzinger (CDU/CSU) 22581 A Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22582 C Steffen Kanitz (CDU/CSU) 22583 D Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22584 C Tagesordnungspunkt 10: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum weiteren quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung Drucksache 18/11408 22586 A Manuela Schwesig, Bundesministerin BMFSFJ 22586 B Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) 22587 C Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) 22588 C Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22590 C Sönke Rix (SPD) 22591 C Ingrid Pahlmann (CDU/CSU) 22592 C Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Prekäre Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft wirksam bekämpfen Drucksache 18/11597 22594 B Nicole Gohlke (DIE LINKE) 22594 B Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU) 22595 B Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22596 D Dr. Simone Raatz (SPD) 22598 A Dr. Wolfgang Stefinger (CDU/CSU) 22600 A Tagesordnungspunkt 12: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie Drucksache 18/11495 22601 B Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär BMF 22601 B Susanna Karawanskij (DIE LINKE) 22602 B Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV 22603 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22603 D Matthias Hauer (CDU/CSU) 22604 C Dr. Jens Zimmermann (SPD) 22605 B Tagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Claudia Roth (Augsburg), Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte indigener Völker stärken durch Ratifikation der ILO-Konvention 169 Drucksachen 18/4688, 18/11569 22606 A Frank Schwabe (SPD) 22606 B Annette Groth (DIE LINKE) 22607 A Sylvia Pantel (CDU/CSU) 22608 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 22608 C Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22610 A Tagesordnungspunkt 14: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verarbeitung von Fluggastdaten zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/681 (Fluggastdatengesetz – FlugDaG) Drucksache 18/11501 22611 A Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär BMI 22611 B Jan Korte (DIE LINKE) 22612 B Wolfgang Gunkel (SPD) 22613 A Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22614 B Clemens Binninger (CDU/CSU) 22615 B Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Jürgen Trittin, Katja Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verhandlungen über einen Atomwaffenverbotsvertrag aktiv unterstützen Drucksache 18/11609 22616 D Inge Höger (DIE LINKE) 22617 A Dr. Katja Leikert (CDU/CSU) 22618 A Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) 22618 D Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22619 D Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) 22620 D Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) 22621 D Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Europol-Gesetzes Drucksache 18/11502 22622 B Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes Drucksache 18/11493 22622 C Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung Drucksachen 18/9525, 18/10146, 18/10307 Nr. 7, 18/11640 22622 D Tagesordnungspunkt 19: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe Drucksachen 18/9521, 18/9948, 18/10102 Nr. 13, 18/11468 22623 A Christian Flisek (SPD) 22623 A Jörn Wunderlich (DIE LINKE) 22625 A Detlef Seif (CDU/CSU) 22626 A Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22627 B Alexander Hoffmann (CDU/CSU) 22628 C Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften im Bereich des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts Drucksachen 18/10714, 18/11637 22629 D Tagesordnungspunkt 21: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes Drucksachen 18/10944, 18/11284, 18/11472 Nr. 1.2, 18/11635 22630 A Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Innovationskraft von kleinen und mittleren Unternehmen stärken – Anreize für mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung schaffen Drucksache 18/11594 22630 B Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) 22630 C Thomas Lutze (DIE LINKE) 22631 B Sabine Poschmann (SPD) 22632 A Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22633 A Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) 22634 A Tagesordnungspunkt 23: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Netzentgeltstruktur (Netzentgeltmodernisierungsgesetz) Drucksache 18/11528 22635 B Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Deutschen Wetterdienst Drucksache 18/11533 22635 B Tagesordnungspunkt 25: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitungen und zur Änderung anderer Vorschriften Drucksache 18/11488 22635 C Tagesordnungspunkt 26: Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56a der Geschäftsordnung: Technikfolgenabschätzung (TA) – Synthetische Biologie – Die nächste Stufe der Bio- und Gentechnologie Drucksache 18/7216 22635 D Stephan Albani (CDU/CSU) 22636 A Ralph Lenkert (DIE LINKE) 22637 A Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22637 D Tagesordnungspunkt 27: Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Innovativer Staat – Potenziale einer digitalen Verwaltung nutzen und elektronische Verwaltungsdienstleistungen ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dieter Janecek, Dr. Konstantin von Notz, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stillstand beim E-Government beheben – Für einen innovativen Staat und eine moderne Verwaltung Drucksachen 18/9788, 18/9056, 18/10865 22639 A Nächste Sitzung 22639 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 22641 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Thomas Feist, Michael Kretschmer, Yvonne Magwas, Maria Michalk und Marco Wanderwitz (alle CDU/CSU) zu der Abstimmung über den von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 3) 22641 D Anlage 3 Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstimmung über den von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 3) 22642 A Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22642 B Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU) 22643 C Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Europol-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 16) 22644 B Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) 22644 B Susanne Mittag (SPD) 22645 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) 22646 A Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22646 D Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär BMI 22647 C Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 17) 22648 B Norbert Schindler (CDU/CSU) 22648 B Christian Petry (SPD) 22649 C Andreas Rimkus (SPD) 22650 B Herbert Behrens (DIE LINKE) 22650 D Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22651 C Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär BMF 22652 C Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung (Tagesordnungspunkt 18) 22653 B Alexander Hoffmann (CDU/CSU) 22653 C Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) 22653 D Dr. Johannes Fechner (SPD) 22655 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE) 22656 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22656 D Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften im Bereich des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts (Tagesordnungspunkt 20) 22658 A Dr. Silke Launert (CDU/CSU) 22658 B Sebastian Steineke (CDU/CSU) 22659 A Sonja Steffen (SPD) 22660 A Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) 22661 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 22662 A Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes (Tagesordnungspunkt 21) 22662 D Kordula Kovac (CDU/CSU) 22662 D Marlene Mortler (CDU/CSU) 22663 D Gustav Herzog (SPD) 22664 D Roland Claus (DIE LINKE) 22665 C Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22666 A Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Netzentgeltstruktur (Netzentgeltmodernisierungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 23) 22667 B Thomas Bareiß (CDU/CSU) 22667 B Jens Koeppen (CDU/CSU) 22668 A Johann Saathoff (SPD) 22669 B Ralph Lenkert (DIE LINKE) 22670 B Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22671 B Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Deutschen Wetterdienst (Tagesordnungspunkt 24) 22672 A Günter Lach (CDU/CSU) 22672 A Arno Klare (SPD) 22673 B Ralph Lenkert (DIE LINKE) 22673 C Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22674 B Dorothee Bär, Parl. Staatssekretärin BMVI 22675 A Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitungen und zur Änderung anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 25) 22676 A Dr. Roy Kühne (CDU/CSU) 22676 A Emmi Zeulner (CDU/CSU) 22677 B Hilde Mattheis (SPD) 22678 A Kathrin Vogler (DIE LINKE) 22679 D Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22680 B Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56a der Geschäftsordnung: Technikfolgenabschätzung (TA) – Synthetische Biologie – Die nächste Stufe der Bio- und Gentechnologie (Tagesordnungspunkt 26) 22681 A Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU) 22681 B René Röspel (SPD) 22681 D Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Innovativer Staat – Potenziale einer digitalen Verwaltung nutzen und elektronische Verwaltungsdienstleistungen ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dieter Janecek, Dr. Konstantin von Notz, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stillstand beim E-Government beheben – Für einen innovativen Staat und eine moderne Verwaltung (Tagesordnungspunkt 27) 22682 D Michael Frieser (CDU/CSU) 22683 A Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU) 22683 C Saskia Esken (SPD) 22684 A Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD) 22684 D Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) 22685 D Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 22686 C 225. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 23. März 2017 Beginn: 9.01 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon wieder hat ein fürchterlicher Anschlag Menschen mitten aus dem Leben in den Tod gerissen und andere schwer verletzt, diesmal in London ganz in der Nähe des britischen Parlaments. Unsere Gedanken sind in diesen Stunden bei den Angehörigen der Opfer, den Getöteten und den Verletzten, denen unser Mitgefühl gilt und denen wir eine möglichst schnelle Genesung wünschen. Unseren Freunden im Vereinigten Königreich versichern wir unsere uneingeschränkte Solidarität im Kampf gegen jede Form von Terror und Gewalt. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Heute jährt sich das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933. Die Selbstaufgabe des Parlaments bahnte – wie man damals ahnen musste und heute weiß – den Weg unumkehrbar in die nationalsozialistische Diktatur. Der Reichstag tagte nach dem großen, mysteriösen Brand schon nicht mehr in diesem Gebäude; ein Parlament wurde fortan auch nicht mehr gebraucht. Der 23. März verweist als ein Wendepunkt der deutschen Geschichte auf die persönlichen Schicksale zweier herausragender Parlamentarier, die der Deutsche Bundestag von heute an mit der Benennung prominenter Liegenschaften hier in Berlin ehren wird: Otto Wels und Matthias Erzberger. Mit ihnen verbinden sich die dramatischen Anfänge und das tragische Ende der ersten deutschen Republik, beginnend mit dem Waffenstillstand im Wald von Compiègne 1918, den zu unterschreiben der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger als Leiter der deutschen Verhandlungsdelegation auf sich nahm, um das sinnlose Gemetzel in Europa nach vier entsetzlich langen Jahren endlich zu beenden. Als Folge der berechnenden Feigheit verantwortlicher Generäle, ihre militärische Niederlage selbst einzugestehen, blieb nicht nur der Ruf der jungen, gerade neu gegründeten Republik und der parlamentarischen Demokratie nachhaltig beschädigt; auch Erzberger persönlich, der für die Idee eines Völkerbundes und die Annahme des von vielen als „Friedensdiktat“ empfundenen Versailler Vertrags eintrat, wurde Ziel übelster Schmähungen und Verleumdungen und im August 1921 das Opfer eines Mordanschlags. 1933, unmittelbar vor dem Ermächtigungsgesetz, gewährte Reichspräsident Paul von Hindenburg mit einer Verordnung für „Straftaten, die im Kampfe für die nationale Erhebung des Deutschen Volkes, zu ihrer Vorbereitung oder im Kampfe für die deutsche Scholle begangen sind“, Straffreiheit und damit auch den ins Ausland geflüchteten Attentätern Matthias Erzbergers, für deren Rückkehr sich Hitler persönlich aussprach. Sie hatten einer nationalistisch-antisemitischen Terrororganisation angehört, hervorgegangen aus einem Putsch konterrevolutionärer Kräfte gegen die Republik, der im März 1920 an einem Generalstreik gescheitert war. Dieser war damals organisiert und initiiert von Otto Wels. Dieser war es auch, der als SPD-Vorsitzender am 23. März 1933 in einem Akt demokratischer Selbstbehauptung seine Stimme gegen die Auslieferung der Demokratie an ihre Feinde erhob, als Einziger, mutig und mit bestechender Klarheit. Durch die Kraft der Rede ließ sich die Entwicklung nicht mehr verändern, die Transformation einer labilen Demokratie in einen autoritären, schließlich totalitären Staat. Und doch wurde das Wort zur Tat: zum Widerstand gegen die Anmaßung der neuen Machthaber, zum Signal, zur Botschaft an die Nachwelt, dass auch unter eskalierendem Terror Widerstand nötig und möglich war. Diese historische Erfahrung verdient nicht nur in Deutschland in Erinnerung bewahrt und politisch bewusst zu bleiben. Ähnliche Versuchungen gibt es offenkundig auch heute. Bei allen Unterschieden in Herkunft und politischer Sozialisation eint Otto Wels und Matthias Erzberger, dass ihr Wirken in der Rückschau auf die existenziellen Krisenmomente reduziert wird. Dabei zeigten sich in ihnen wie in einem Brennglas Charakter und demokratische Gesinnung, die ein viel längeres politisches Leben auszeichneten. Beide gehörten dem Reichstag jeweils fast zwei Jahrzehnte an. Sie organisierten an herausgehobener Position den schwierigen Übergang von der Monarchie zur Republik und formten deren Grundfeste mit – Otto Wels von 1919 an als Vorsitzender seiner Partei, deren führender Kopf er auch im Exil bis zu seinem Tod zwei Wochen nach Kriegsbeginn blieb. Erzberger wiederum personifiziert das im Kaiserreich gewachsene Selbstbewusstsein des Parlaments. Auch wenn die von ihm initiierte Friedensrevolution, in der sich der Reichstag vor genau 100 Jahren mehrheitlich für einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen aussprach, folgenlos blieb, erwies sich das damals geschmiedete parlamentarische Bündnis aller demokratischen Kräfte als tragfähig für die spätere, die Republik stützende sogenannte Weimarer Koalition. In der kurzen Zeitspanne, die Erzberger blieb, um diese Republik mitzugestalten, ist ihm Beachtliches gelungen. Er organisierte ein reichseinheitliches Bahnsystem und schuf als Finanzminister eine der größten Steuerreformen der Geschichte, deren Grundlagen bis in die heutige Zeit reichen, und das übrigens innerhalb von neun Monaten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir Persönlichkeiten ehren, die in ihrem Kampf um Demokratie und Parlamentarismus scheiterten und dafür sogar mit dem Leben bezahlten, ist keine deutsche Besonderheit, der Schleier des Vergessens aber, der vielfach über den Wegbereitern unserer Demokratie liegt, schon. So gibt es in Berlin einen Hindenburgdamm, aber bis heute keine Straße und keinen Platz, die bzw. der an Matthias Erzberger erinnert. Deshalb freue ich mich, dass der Ältestenrat meinem Vorschlag gefolgt ist, Gebäude und Säle des Bundestages nach bedeutenden Parlamentariern und Parlamentarierinnen zu benennen. Möglichst bald wollen wir so auch eine herausragende Frau des deutschen Parlamentarismus würdigen. Mit der Benennung des Gebäudes Unter den Linden 50 in „Otto-Wels-Haus“ und Unter den Linden 71 in „Matthias-Erzberger-Haus“ setzt der Deutsche Bundestag ein überfälliges Zeichen im öffentlichen Raum. (Beifall im ganzen Hause) Wir erinnern an die Lebensleistung zweier herausragender Parlamentarier, die beispielgebend moralische Größe und demokratische Haltung bewiesen – zu einer Zeit, als es auch in Deutschland tatsächlich Mut brauchte, um für seine Überzeugungen einzutreten. Ihr Vermächtnis ist und bleibt uns anvertraut. Vielen Dank für Ihre Zustimmung. (Beifall im ganzen Hause) Ich möchte Sie vor Eintritt in unsere Tagesordnung darauf aufmerksam machen, dass es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 34) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung der Anlage VI des Umweltschutzprotokolls zum Antarktis-Vertrag vom 14. Juni 2005 über die Haftung bei umweltgefährdenden Notfällen (Antarktis-Haftungsgesetz – AntHaftG) Drucksache 18/11529 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anlage VI des Umweltschutzprotokolls zum Antarktis-Vertrag vom 14. Juni 2005 über die Haftung bei umweltgefährdenden Notfällen (Antarktis-Haftungsannex) Drucksache 18/11530 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einrichtung eines Bundesprogramms „Zugang zu Land – Chancen für neue Betriebe ermöglichen“ Drucksache 18/11601 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arzneimittelversorgung an Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientieren – Heute und in Zukunft Drucksache 18/11607 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie ZP 2 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 35) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Drucksache 18/11140 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/11638 ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 60 Jahre Römische Verträge ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Brennstofflieferungen für belgische Atomkraftwerke stoppen Drucksachen 18/9676, 18/10934 ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Jürgen Trittin, Katja Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verhandlungen über einen Atomwaffenverbotsvertrag aktiv unterstützen Drucksache 18/11609 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ZP 6      – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Infrastrukturabgabengesetzes Drucksachen 18/11237, 18/11536 – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Herbert Behrens, Sabine Leidig, Caren Lay, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes über die Erhebung einer zeitbezogenen Infrastrukturabgabe für die Benutzung von Bundesfernstraßen (Infrastrukturabgabenaufhebungsgesetz – InfrAGAufhG) Drucksache 18/11012 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) Drucksache 18/11646 ZP 7      – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Verkehrsteueränderungsgesetzes Drucksachen 18/11235, 18/11560 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Drucksache 18/11643 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/11644 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kein Sachgrund – Keine Befristung Drucksache 18/11608 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales Der Tagesordnungspunkt 6 – hier geht es um die Neuregelung des Mutterschutzrechts – wird heute abgesetzt. Stattdessen soll der Tagesordnungspunkt 32 – Gesetzentwurf zu Unternehmungen aus bürgerschaftlichem Engagement – unter Beibehaltung der vereinbarten Debattenzeit aufgerufen werden. Ebenso sollen die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b abgesetzt werden – hier geht es um Anträge zum Atomwaffenverbotsvertrag – und stattdessen der gemeinsame Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/11609 mit dem Titel „Verhandlungen über einen Atomwaffenverbotsvertrag aktiv unterstützen“ ebenfalls mit unveränderter Debattenzeit beraten werden. Anstelle des Tagesordnungspunktes 28 sollen die Beschlussempfehlungen auf der Drucksache 18/11646 zu dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Infrastrukturabgabengesetzes sowie die Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/11643 zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Verkehrsteueränderungsgesetzes in verbundener Beratung mit einer Debattenzeit von 60 Minuten aufgerufen werden. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken entsprechend nach hinten. Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam: Der am 17. Februar 2017 (219. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Gesundheit (14. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes Drucksache 18/11163 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Der am 9. März 2017 (221. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Gesundheit (14. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes Drucksache 18/11326 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Der am 9. März 2017 (221. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) sowie dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen Drucksache 18/11233 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Haushaltsausschuss Der am 9. März 2017 (221. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten Drucksache 18/11240 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Der am 10. März 2017 (222. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) sowie dem Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der haushaltsnahen Getrennterfassung von wertstoffhaltigen Abfällen Drucksache 18/11274 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden sind. – Das sieht ganz danach aus. Dann können wir so verfahren. Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und anderer Gesetze Drucksache 18/11398 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) Drucksache 18/11647 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exportverbot für hochradioaktive Abfälle – zu dem Abschlussbericht der Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe Verantwortung für die Zukunft Ein faires und transparentes Verfahren für die Auswahl eines nationalen Endlagerstandortes Drucksachen 18/9791, 18/9100, 18/11647 c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Umgang mit Atommüll – Defizite des Entwurfs des Nationalen Entsorgungsprogramms beheben und Konsequenzen aus dem Atommülldesaster ziehen Drucksachen 18/5228, 18/7275 Zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Auch dazu gibt es offensichtlich Einvernehmen. Also verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Frau Dr. Barbara Hendricks. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Standortauswahlgesetzes wird der Fahrplan zur Endlagersuche jetzt mit Leben erfüllt, wenn wir heute dieses Gesetz verabschieden. Das Gesetz legt das Verfahren fest, an das sich künftig jeder zu halten hat, der an der Suche nach einem Endlagerstandort für hochradioaktive Abfälle beteiligt ist. Es ist meine tiefe Überzeugung, dass nur mit festen Regeln und mit absoluter Transparenz eine ergebnisoffene und bundesweite Suche nach einem Endlagerstandort gelingen kann. Dem Gesetzentwurf ist die Arbeit der Endlagerkommission vorausgegangen, in die Mitglieder des Deutschen Bundestages, Vertreterinnen und Vertreter der Länder, der Wissenschaft und gesellschaftlicher Gruppen eingebunden waren. Mein besonderer Dank gilt heute dieser Kommission. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie hat in den letzten Jahren mit schwieriger Detailarbeit und in oft kontroverser Debatte einen fundierten Bericht erstellt. Die Kommission hat damit die Grundlage für das Verfahren gelegt, für das ich Sie heute um Zustimmung bitte. Die Herausforderung könnte kaum größer sein. Hochradioaktive Abfälle aus den Atomkraftwerken müssen für 1 Million Jahre sicher von der Umwelt ferngehalten werden. So steht es im Gesetz, obwohl natürlich die Zahl von 1 Million eine gegriffene Größe ist. Aber gehen wir von 1 Million Jahre aus: Mehr als 30 000 Generationen werden in diesem Zeitraum noch von den Folgen der Atomtechnologie betroffen sein, die bei uns gerade einmal 60 Jahre in Betrieb gewesen ist. Seit Christi Geburt sind übrigens rund 60 Generationen vergangen – um einmal die Dimension deutlich zu machen, mit der wir es hier zu tun haben. Alle diese Zahlen zeigen noch einmal überdeutlich, welch ein Irrweg die Nutzung der Atomenergie gewesen ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es wird Zeit, dass das letzte deutsche Atomkraftwerk im Jahr 2022 vom Netz geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich bei allen bedanken, die sich zum Teil seit Jahrzehnten für den Atomausstieg engagiert haben – in Wyhl, in Brokdorf, in Wackersdorf, in Kalkar, im Wendland und an vielen anderen Orten. Der friedliche Protest gegen die Atomenergie zählt für mich zu den großen Leistungen der Demokratie in Deutschland. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass der Atomausstieg politisch richtig war, ist den meisten von uns mittlerweile wohl klar. Im vergangenen Dezember hat uns das Bundesverfassungsgericht bestätigt, dass er verfassungskonform ist. Es gibt also glücklicherweise keinen Weg mehr zurück. Aber auch wenn die Nutzung der Atomkraft bald Geschichte sein wird, bleibt uns und unseren Nachkommen der Atommüll erhalten und alle damit verbundenen Risiken. Deshalb war es dringend erforderlich, das Chaos in Sachen Atommüll zu ordnen, und dafür haben wir die vergangenen Jahre dieser Legislaturperiode intensiv genutzt. Erstens. Wir haben uns ehrlich gemacht. Mit dem erstmals von einer Bundesregierung vorgelegten Nationalen Entsorgungsprogramm haben wir eine langfristige Strategie zur Entsorgung der Brennelemente beschlossen. Zweitens. Wir haben das Hickhack um die verbleibenden Castoren aus der Wiederaufarbeitung beendet und sie eben nicht nach Gorleben geschickt, sondern sie auf andere Zwischenlager bundesweit verteilt. Drittens. Wir haben das seit zwei Jahrzehnten diskutierte Thema der Atomrückstellungen angepackt und sichergestellt, dass die Stromkonzerne ihre finanziellen Pflichten bei der Stilllegung und beim Rückbau tatsächlich erfüllen werden. Viertens. Wir haben die oftmals kritisierten Zuständigkeiten für die Endlagerung neu und transparent geregelt. Wir sind dort im Umsetzungsprozess. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind also ein großes Stück vorangekommen. Was bleibt, ist die Frage: Wohin mit dem Atommüll? Mit dem Gesetz, das Ihnen heute zur Entscheidung vorliegt, leiten wir einen Prozess ein, an dessen Ende in einigen Jahrzehnten ein deutsches Endlager stehen soll. Wir – damit meine ich auch viele derer, die die Atomkraft lange bekämpft haben – stellen uns der schwierigen und unangenehmen Verantwortung, die aus dem Erbe des Atomzeitalters herrührt. Diese Verantwortung ist auch nicht delegierbar, zum Beispiel an andere Länder oder an andere Generationen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Export von Abfällen ins Ausland wäre das komplette Gegenteil einer verantwortlichen Lösung. Der Gesetzentwurf schränkt den Export zu Recht sogar weiter ein, indem er einen entsprechenden Vorschlag der Endlagerkommission aufgreift. Künftig ist eine Entsorgung im Inland nicht nur für bestrahlte Brennelemente aus Atomkraftwerken, sondern grundsätzlich auch für solche aus Forschungsanlagen vorgesehen. Dieser Grundsatz wird ausschließlich durchbrochen, wenn die Brennelemente noch nicht in ein deutsches Zwischenlager verbracht worden sind und der Export aus schwerwiegenden Gründen der Proliferation oder der Versorgung deutscher Forschungsanlagen mit Kernbrennstoff erforderlich ist. Lassen Sie mich aber eindeutig klarstellen: Entgegen dem, was von manchen aktuell behauptet wird, eröffnet diese Regelung keine Hintertür, die Brennelementekugeln aus Jülich oder Hamm-Uentrop in die USA zu entsorgen. Das geht gerade nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das novellierte Standortauswahlgesetz legt fest, wie und nach welchen Kriterien das Standortauswahlverfahren ablaufen wird. Dabei sind alle infragekommenden Wirtsgesteine einzubeziehen, und es sind umfangreiche Bewertungen der geologischen Verhältnisse an den Standorten durchzuführen. Der wichtigste Maßstab für die Auswahl des Endlagerstandorts wird die Sicherheit sein. Davon wird sich während des Prozesses die gesamte Öffentlichkeit überzeugen können. Das Standortauswahlverfahren sieht deshalb neue Gremien für die Öffentlichkeitsbeteiligung vor – vor Ort in den fraglichen Gebieten, aber auch überregional. Zusätzlich werden die Möglichkeiten gestärkt, das Verfahren von den Bürgerinnen und Bürgern gerichtlich überprüfen zu lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt in unserer Verantwortung, den Standort für ein Endlager zu finden, das für eine nach menschlichen Maßstäben unvorstellbar lange Zeit größtmögliche Sicherheit bietet und das damit die Bürde dieses Erbes für die kommenden Generationen so klein wie eben möglich hält. Damit korrigieren wir auch die Entscheidung aus dem Jahr 1977, Gorleben zum Endlagerstandort zu machen. Die Proteste gegen das Endlager Gorleben sind Teil des kollektiven Gedächtnisses unseres Landes geworden. Wir müssen uns eingestehen, dass die Kritik der Gorleben-Gegnerinnen und Gegner zumindest in weiten Teilen berechtigt war. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Das Verfahren damals entsprach weder den Anforderungen der Wissenschaft noch den berechtigten Forderungen der Bürgerinnen und Bürger nach Transparenz. Das neue Auswahlverfahren geht einen anderen, einen besseren Weg. Es startet mit einer weißen Landkarte. Wir betrachten das ganze Bundesgebiet, ohne einzelne Regionen zu bevorzugen und ohne bestimmte Standorte von vornherein auszuschließen. Stück für Stück werden wir auf Basis wissenschaftlicher Fakten Standorte ausschließen und andere dann jeweils näher untersuchen. Wir werden dabei transparent arbeiten und die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen – und das von Beginn an und nicht erst am Ende der Suche. Gleichwohl ist mir bewusst: Wenn es darum geht, einen Standort festzulegen, wird dies nicht ohne Widersprüche gehen – um es vorsichtig auszudrücken. Deswegen ist es klar, dass wir als Deutscher Bundestag bzw. unsere Nachfolger im Deutschen Bundestag die Verantwortung dafür werden übernehmen müssen. Es kann schlechterdings nicht der kommunalen Planungshoheit überlassen bleiben; denn dann würden wir zu keinem Ergebnis kommen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen Standort für die Endlagerung zu finden, ist, wie ich finde, ein Testfall für die Demokratie. Ein handlungsfähiger Staat muss sich daran messen lassen, ob eine Lösung gelingt, die wissenschaftlich begründet ist und auch von einer breiten Mehrheit des Landes getragen wird. Daraus folgt eine Verpflichtung für uns alle. Einfach nur zu sagen: „Nicht vor meiner Haustür!“, das wird als Argument nicht ausreichen. Uns alle eint der Gedanke, dass wir diese Herausforderung jetzt gemeinsam angehen wollen. Wir alle zusammen müssen uns auf den Weg machen, einen jahrzehntelangen tiefen Konflikt in unserer Gesellschaft zu lösen. Ich hoffe deshalb auf Ihre breite Unterstützung für den vorgelegten Gesetzentwurf. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Hubertus Zdebel ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich heute eines vorweg sagen: Auch wenn es in der Sache gravierende Differenzen gibt – für die faire und kooperative Zusammenarbeit zum Thema „Standortauswahlgesetz und Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ möchte ich mich bei allen Berichterstatterinnen und Berichterstattern aus den anderen Fraktionen ausdrücklich ganz herzlich bedanken. Das gilt für Sylvia Kotting-Uhl, für Matthias Miersch, aber auch für Steffen Kanitz. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Es ist ja nicht der Regelfall, dass trotz so unterschiedlicher Auffassungen sachlich gestritten wird. In der Sache aber stehen wir als Fraktion Die Linke als einzige Opposition im Bundestag einer Koalition aus Grünen, SPD und CDU/CSU gegenüber, und wieder einmal geht es um Atomfragen. Zuletzt haben im Dezember die Grünen gemeinsam mit den Regierungsfraktionen den Atomkonzernen eine milliardenschwere Last abgenommen und die Risiken für die Finanzierung der Atommülllagerung den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland aufgeladen. Jetzt soll ein weiterer vermeintlicher Atomkonsens auf den Weg gebracht werden, der aber nicht hält, was Regierung und die Fraktionen der Grünen, SPD und CDU/CSU versprechen. Natürlich sind die jetzt zur Abstimmung stehenden Veränderungen eine Verbesserung gegenüber dem bisherigen Gesetz zur Endlagersuche. In der Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ haben meine Fraktion und ich selbst in den letzten Jahren aktiv daran mitgearbeitet. (Beifall bei der LINKEN) Richtig ist aber auch: Die grundsätzlichen Mängel an diesem Gesetz werden mit dieser Gesetzesnovelle nicht beseitigt. Wer den jahrzehntelangen Großkonflikt um die Atomenergie und die hochradioaktiven Hinterlassenschaften beenden will, der muss aus der Vergangenheit Konsequenzen ziehen, um verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. (Beifall bei der LINKEN) Dem hier zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf ist das bis heute nicht gelungen. Es sollte doch zu denken geben, dass das Verfahren zu diesem Gesetz und seine Ergebnisse bis heute von nahezu allen Teilen der Antiatombewegung und ihren Organisationen heftig bzw. massiv kritisiert werden. Nur mit ihnen als ein entscheidender Vertrauenspartner, aber nicht gegen sie kann das Ziel eines gesellschaftlichen Konsenses beim Neustart der Endlagersuche gelingen. (Beifall bei der LINKEN) Es mag einen Fraktionskonsens zwischen Grünen, SPD und CDU/CSU geben, aber selbst in Bezug auf diesen wissen wir Linken, dass er sehr brüchig – um nicht gleich „faul“ zu sagen – ist. Dieser Konsens beruht nämlich darauf, dass Gorleben als einziger Standort für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle im Rennen bleibt. Statt hier im Bundestag politisch einen klaren Schlussstrich unter Gorleben zu ziehen und damit ein überzeugendes Signal für einen tatsächlichen Neustart zu geben, wird der Streit um Gorleben erneut in das Verfahren zur Endlagersuche verschoben. Das, meine Damen und Herren, schafft kein Vertrauen, sondern begründet erneut Zweifel. Deswegen lehnen wir Linken dieses Gesetz und diese Novelle weiterhin ab. (Beifall bei der LINKEN) Wie brüchig bzw. belastet das Vertrauen in der Bevölkerung beim staatlichen Umgang mit den radioaktiven Abfällen ist, können wir auch bei der Umsetzung des Exportverbots sehen. Statt klipp und klar in das Gesetz zu schreiben: „Exporte von hochradioaktivem Atommüll aus Jülich in die USA wird es nicht geben“, findet sich im Gesetzentwurf eine derart kryptische Formulierung, dass zu Recht Hintertüren vermutet werden können. Auch das trägt nicht dazu bei, Vertrauen zu schaffen. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Gnadenlosigkeit ist da fehl am Platze!) Der vorliegende Gesetzentwurf beansprucht, die Empfehlungen der Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ eins zu eins umzusetzen. Er greift auch dabei an vielen Stellen noch zu kurz. Die Klagerechte für Bürger bleiben auch nach der Neuregelung unzureichend. Wir sind der Meinung, dass den Bürgerinnen und Bürgern bereits bei der Entscheidung zur Auswahl der obertägig zu erkundenden Regionen eine gerichtliche Prüfung ermöglicht werden muss. (Beifall bei der LINKEN) Das soll aber nun nicht erfolgen. Auch die in der Kommission deutlich benannte Tatsache, dass die Standortentscheidung – im Gesetz wird nun wieder eine Frist bis zum Jahre 2031 genannt – und die Inbetriebnahme eines Endlagers später kommen werden – womit die Zwischenlagerung deutlich, vermutlich über Jahrzehnte, länger dauern wird, als bislang genehmigt –, bleibt weitgehend ausgeblendet. Das ist eines der Kern- bzw. Kardinalprobleme der Arbeit in der Kommission gewesen. Diese defizitäre Umsetzung des Kommissionsberichts durch den Gesetzentwurf hat die Fraktion Die Linke während der parlamentarischen Beratungen durch einen Änderungsantrag zu beheben versucht, der aber gestern von den anderen Fraktionen leider abgelehnt wurde. Für uns ist sonnenklar: Die Halbwertzeit dieser Gesetzesnovelle wird nicht besonders lang sein; denn die Probleme bleiben. Für einen tatsächlichen Neustart bei der Endlagersuche mit dem Ziel eines gesellschaftlichen Konsenses muss das Verfahren vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Es braucht eine möglichst sichere Lösung, und diese muss in Deutschland gefunden werden. Dafür setzen wir Linke uns weiterhin ein. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege Steffen Kanitz das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Steffen Kanitz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Zdebel, Sie haben gestern im Ausschuss Demut und Nachdenklichkeit in der Debatte angemahnt. Wenn ich Ihren Worten so folge, muss ich sagen: Sie sind Ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht geworden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Man kann doch nicht ernsthaft alles dafür tun, um dafür zu sorgen, dass es in Deutschland kein Endlager für hochradioaktive Abfallstoffe gibt, und gleichzeitig bemängeln, dass wir uns zu wenig um die Zwischenlager kümmern. (Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Typisch Linke!) Das ist ein Widerspruch, den man immer wieder deutlich machen muss. Wir als diejenigen drei Fraktionen in diesem Deutschen Bundestag, die sich darum kümmern, eine Lösung für dieses Menschheitsproblem zu finden, haben diesen Widerspruch aufgedeckt. Und wir fangen mit dem ersten Schritt an, nämlich ein Endlager für hochradioaktive Abfallstoffe zu finden. Insofern ist es ein guter Gesetzentwurf, den wir heute auf den Weg bringen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, ich glaube, dass die Arbeit der Kommission in der Tat der letzte Versuch ist, diese Menschheitsaufgabe „Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfallstoffe“ zu lösen. Das ist ja auch in der Rede der Ministerin deutlich geworden. Dass es eine Menschheitsaufgabe ist, zeigt der Anspruch, dass wir ein Endlager finden wollen, das Sicherheit für 1 Million Jahre garantieren soll. Das mag dem einen oder anderen nur ein müdes Lächeln abringen. Aber ich glaube, dieser Anspruch macht deutlich, dass wir ein Endlager finden wollen, bei dem wir eben nicht nachfolgenden Generationen die Last aufbürden, sich darum kümmern zu müssen, wie wir mit den Hinterlassenschaften der Kernenergie umgehen, sondern das robust ist gegenüber geologischen, klimatischen, aber auch gesellschaftlichen Veränderungen, das so robust ist, dass es wartungsfrei aufgestellt werden kann, wohl wissend, dass wir heute nicht über absolutes Wissen verfügen. Deswegen haben wir im Verfahren die Möglichkeit von Rücksprüngen eingebaut. Wir haben ein lernendes Verfahren aufgestellt, das wahrscheinlich einzigartig ist. Wir haben vereinbart, dass 500 Jahre lang die Rückholbarkeit garantiert sein soll, weil wir eben nicht wissen, ob nachfolgende Generationen anders mit den Hinterlassenschaften umgehen. Aber wir wollen ihnen eben nicht die Bürde auferlegen, sich noch einmal damit beschäftigen zu müssen. Insofern ist der Anspruch, ein sicheres Endlager für eine sehr lange Zeit zu finden, völlig richtig. Die nackten Zahlen: Wir haben 124 Sitzungen der Endlagerkommission und der verschiedenen Arbeitsgruppen gehabt, über 550 Kommissionsdrucksachen sind entstanden, und wir haben einen Abschlussbericht von fast 600 Seiten vorgelegt. Das zeigt: Die Kommission hat sich in den letzten knapp drei Jahren große Mühe gegeben, eine gute und konsensuale Lösung zu finden. Ich möchte mich herzlich bedanken bei den beiden Vorsitzenden der Endlagerkommission, bei Michael Müller und Ulla Heinen-Esser, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Aber ich glaube, dass gerade diese Unterschiedlichkeit ein Teil des Erfolges gewesen ist. Ich möchte mich herzlich bedanken bei meinen Koberichterstatterinnen und berichterstattern Sylvia Kotting-Uhl, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Matthias Miersch und, lieber Herr Zdebel, auch bei Ihnen, der Sie am Ende mit Ihrer Fraktion nicht dabei sind, aber der Sie lange mitgearbeitet haben. Es hat insgesamt große Freude gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich selbst habe aus der Arbeit in der Kommission viel gelernt. Ich habe gelernt, dass das Angebot, an einem Diskurs teilzunehmen, nicht von jedem selbstverständlich wahrgenommen wird. Die Umweltverbände sind angesprochen worden. Sie sind ja sozusagen kein monolithischer Block, sondern agieren sehr unterschiedlich. Wir als Fraktion haben uns lange darum bemüht, dass auch zwei Vertreterinnen bzw. Vertreter der Umweltverbände in die Kommission kommen und ihre Kompetenz einbringen, um eine Lösung zu finden. Am Ende hat das zum Glück auch funktioniert. Was ich gelernt habe, ist außerdem, dass es unter den Umweltverbänden in Teilen – in Teilen – ein Demokratieverständnis gibt, das jedenfalls nicht meins ist und das dem Motto folgt: Nur wenn meine eigene Meinung akzeptiert wird, dann mache ich mit. – Ich glaube, wer diesem Credo folgt, der taugt nicht zum Diskurs, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich will hier auch sehr deutlich sagen: Was es dort an persönlichen Anfeindungen gegeben hat, insbesondere gegenüber unserer Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, ist nicht fair, nicht sachgerecht und dem Dialog auch nicht zuträglich. Was Sie da aushalten mussten, war schon eine ganze Menge. Deswegen Ihnen persönlich vielen Dank für Ihre Standhaftigkeit in dem Verfahren! (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Trotzdem – ich glaube, das bleibt auch weiterhin unsere Aufgabe – bleibt unsere Hand ausgestreckt. Das ist sie während des Verfahrens immer auch geblieben, bei öffentlichen Anhörungen, bei öffentlichen Veranstaltungen, bei Hintergrundgesprächen und bei den folgenden Öffentlichkeitsbeteiligungsverfahren. Selbstverständlich – das hat die Ministerin zum Ausdruck gebracht – würdigen wir die Arbeit der Umweltbewegung und der Umweltverbände. Gleichzeitig will ich, weil das in der Debatte zu kurz kam, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Energieversorgungsunternehmen Danke sagen, die dafür gesorgt haben, dass wir in Deutschland in über 50 Jahren Kernenergie keinen signifikanten Störfall hatten. Vielen Dank dafür, dass das ordentlich funktioniert hat! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Die Aufgabe der Kommission war es, dem Bundestag Vorschläge für eine transparente, ergebnisoffene und an wissenschaftlichen Kriterien orientierte Endlagersuche zu unterbreiten. Ich glaube, das ist mit dem Abschlussbericht gelungen. Deswegen ist es auch nur konsequent, dass der Gesetzgeber diesem Kommissionsbericht in ganz großen Teilen folgt. Dort, wo er es nicht tut, ist das das Ergebnis der Anhörung, beispielsweise bei dem Wort „insbesondere“. Wir haben im Gesetzesauftrag bisher gehabt, dass wir uns um ein Endlager für „insbesondere“ hochradioaktive Abfallstoffe kümmern. Das Nationale Begleitgremium, aber auch viele Umweltverbände haben darauf hingewiesen, dass es schwierig wird, ein Kombilager zu finden, das für schwach- und mittelradioaktive Abfallstoffe wie für hochradioaktive Abfallstoffe gleichermaßen die bestmögliche Sicherheit garantiert. Deswegen ist es nur konsequent, dass wir uns auf die hochradioaktiven Abfallstoffe konzentrieren. Das zeigt, dass wir die Öffentlichkeitsbeteiligung sehr ernst nehmen. Das Verfahren, das wir Ihnen vorschlagen, ist in drei Phasen unterteilt. Wir werden jetzt, in Phase eins, mit der obertägigen Erkundung beginnen, von der wir hoffen, dass wir sie 2022 abschließen können. Wir haben einen Kriterienkatalog aufgestellt, der in einem breiten Diskurs gemeinsam mit Wissenschaft und Forschung entstanden ist, wo wir erst einmal die Ausschlusskriterien anwenden. Wir werden kein Endlager in Regionen suchen, die erdbebengefährdet sind oder in denen es Vulkanismus gibt. Wir werden Mindestanforderungen anwenden. Zu den Mindestanforderungen gehört, dass das Wirtsgestein, in das wir die hochradioaktiven Abfallstoffe einlagern möchten, eine ausreichende Mächtigkeit hat. Wir haben uns über Abwägungskriterien unterhalten. Dazu gehört beispielsweise die Schutzfunktion des Deckgebirges, ein Kriterium, das kein Gorleben-K.-o.-Kriterium ist, sondern ein Abwägungskriterium darstellt. In dem Moment, in dem wir zwei Standorte haben, die ansonsten völlig gleich sind, wird derjenige Standort vorgezogen, der ein intaktes Deckgebirge hat. Aber das ist ein Abwägungskriterium und kein Ausschlusskriterium. Im Anschluss gibt es planungswissenschaftliche Abwägungskriterien, beispielsweise die Siedlungsdichte, die Frage also: Leben dort viele Menschen? Um diese Suche vollziehen zu können, brauchen wir Sicherungsvorschriften, die sich nicht nur auf Gorleben beziehen, sondern auf ganz Deutschland. Das ist nur richtig und konsequent. Sie sind auch absolut notwendig. Wir wollen dabei gleichzeitig Deutschland industriepolitisch nicht lahmlegen. Deswegen gibt es auch Ausnahmen: für Bohrungen bis 100 Meter, auch bis 200 Meter, wenn nachgewiesen wird, dass kein Wirtsgestein geschädigt wird. Das gilt auch für diejenigen Vorhaben, die im engen räumlichen Zusammenhang mit bereits durchgeführten Maßnahmen stehen. Bergbau wird weiterhin möglich bleiben. Das ist auch deshalb möglich, weil wir wissen, dass wir in Bergbauregionen, wo die Erde durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse, sehr wahrscheinlich kein sicheres Endlager finden können. Ich glaube, es ist auch richtig, dass wir als Gesetzgeber gemeinsam mit dem Ministerium schauen, dass diese Regelung praxistauglich bleibt. Phase zwei ist die Ermittlung der Standorte für die untertägige Erkundung. Phase drei ist die Einengung auf einen Standort, der 2031 gefunden werden kann. Das haben wir jetzt in der Hand. Wir können jetzt nicht mehr auf die Konzerne schauen und sagen: „Ihr seid schuld, dass es nicht nach vorne geht“, sondern der Bund ist im Moment in der Verantwortung. Wir haben die vollständige Organisationshoheit. Wir werden ab dem 1. Juli sämtliche Finanzmittel haben, die wir brauchen, um ein Endlager zu finden. Insofern liegt es auch in unserer Verantwortung, diesen Zeitrahmen einzuhalten. Ja, Herr Kollege Zdebel, es ist völlig richtig: Wir werden uns um die Zwischenlager kümmern müssen; auch wir sehen dieses Problem. Damit werden wir uns sicherlich in der nächsten Legislaturperiode noch einmal beschäftigen müssen. Wenn wir es den Menschen an den Zwischenlagerstandorten recht machen wollen, dann müssen wir das Verfahren jetzt zeitnah starten. Bestenfalls direkt nach Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes muss der Vorhabenträger mit der obertägigen Erkundung starten, damit wir den Zeitplan einhalten können. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Thema Gleichbehandlung aller Wirtsgesteine ist uns gemeinsam wichtig. Wir schließen kein Wirtsgestein und keinen potenziellen Standort im Vorhinein aus. Wir werden in den drei potenziellen Wirtsgesteinen suchen und werden politisch nichts ausschließen. Schweden zeigt, dass es auch möglich ist, ein Endlager zu bauen mit einer technischen und einer geotechnischen Barriere. Gleichzeitig – das impliziert der natürliche Menschenverstand – gehen wir davon aus, dass die über Jahrmillionen gewachsene Geologie gegenüber einer technischen oder einer von Menschen gemachten Barriere eine bessere Schutzfunktion hat. Deswegen ist es richtig, dass wir in allen Wirtsgesteinen gleichermaßen suchen und – hier bin ich ganz entspannt – am Ende aber nach Sicherheitskriterien entscheiden. Wir werden denjenigen Standort auswählen, der die bestmögliche Sicherheit für 1 Million Jahre garantiert. In Richtung der niedersächsischen Freunde muss ich sagen: Es ist wohlfeil, Bayern und Sachsen dafür zu kritisieren, dass sie auf die Gleichbehandlung aller Wirtsgesteine drängen. Gleichzeitig aber darauf hinzuweisen, dass es falsch ist, Gorleben im Verfahren zu halten, funktioniert nicht. Weiße Landkarte bedeutet: inklusive aller potenziellen Standorte. Es kann doch nicht richtig sein, dass als Ergebnis des Verfahrens herauskommt, dass derjenige aus dem Verfahren ausscheidet, der lange genug protestiert. Vielmehr werden wir denjenigen aus dem Verfahren nehmen müssen, der aufgrund der geologischen Situation für ein Verfahren nicht geeignet ist. Das schafft Vertrauen, und das schafft Verlässlichkeit, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Exportverbot ist angesprochen worden. Ich halte es für völlig richtig, dass wir dem Grundsatz der Inlandsentsorgung folgen. Die bei uns in Deutschland entstandenen radioaktiven Abfälle sollen auch bei uns in Deutschland entsorgt werden. Gleichzeitig ist es völlig richtig, dass wir die Forschung in Deutschland nicht kaputtmachen wollen. Wir haben in München – dafür hat sich der Kollege Florian Oßner sehr eingesetzt – den Forschungsreaktor FRM II, einen von weltweit drei Forschungsreaktoren, in denen Radioisotope für die Krebsdiagnostik hergestellt werden. Es wäre fahrlässig, wenn wir den Reaktor mit diesem Gesetzentwurf kaputtmachten. Insofern ist es richtig, dass es Ausnahmen gibt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gleichzeitig sage ich auch: Wir wollen, dass der genehmigungslose Zustand in Jülich in Nordrhein-Westfalen beendet wird. Wir brauchen dringend und unverzüglich – so ist es ja auch angekündigt – eine Lösung, die dem Sicherheitsbedürfnis der Anwohnerinnen und Anwohner gerecht wird. Deswegen ist es richtig, dass wir mit dem Gesetzentwurf auch da Druck machen, damit es zu einer Lösung kommt. Ich bedanke mich ganz herzlich bei Peter Altmaier und beim Staatssekretär Schütte aus dem BMBF, die beide gemeinsam mit uns Berichterstatterinnen und Berichterstattern daran gearbeitet haben, dass wir bei diesem Thema einen tragfähigen Kompromiss entwickeln. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Mir persönlich ist wichtig, meine Damen und Herren, dass wir uns um das Thema Fachkräfte kümmern. Die alten Schlachten sind geschlagen und sind Vergangenheit; aber es geht jetzt darum, dass wir uns der Aufgabe des Rückbaus und der Entsorgung der radioaktiven Abfallstoffe widmen. Ich würde mich freuen, wenn es uns in einer nationalen Kraftanstrengung gelänge, für den Wissenserhalt bei Nuklearthemen zu stehen und bei jungen Menschen dafür zu werben, dass wir noch über Jahrzehnte gute Beschäftigungsmöglichkeiten in diesen technologisch anspruchsvollen Gebieten haben, dass das auch ein Exportschlager für Deutschland werden kann, weil weltweit viele Reaktoren in das Alter kommen, in dem sie langsam vom Netz genommen werden. Da hat Deutschland eine einzigartige Kompetenz. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist jetzt eine Zeit, in der die Protestkultur schweigen muss und in der wir eine Kultur der Verantwortung brauchen, die auch umfasst, dass wir diejenigen Gemeinden honorieren und es ihnen nicht schwer machen, sondern leicht machen, die sich der schwierigen Aufgabe stellen, ein Endlager für hochradioaktive Abfallstoffe zu finden. In der Tat, liebe Kollegen von den Linken, darf man da nicht Partikularinteressen folgen, sondern muss dem großen Ganzen gerecht werden. Ich bedanke mich bei Ihnen allen für die gute Zusammenarbeit, auch beim BMUB, das kräftig daran mitgearbeitet hat, dass es funktioniert. Ich glaube, dass wir jetzt eine gute Lösung gefunden haben, und bitte deswegen herzlich um Ihre Zustimmung zum Gesetzentwurf. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für den Bundesrat erhält nun der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann das Wort. Winfried Kretschmann, Ministerpräsident (Baden-Württemberg): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Abgeordnete! Heute ist ein Tag der Verantwortung. Mit dem Standortauswahlgesetz schaffen wir die Grundlage dafür, einen sicheren Endlagerstandort für hochradioaktive Abfälle zu suchen, und das ist eine wahrhaft epochale Aufgabe. Es geht um das schwierigste Infrastrukturprojekt in der Geschichte unseres Landes; denn wir müssen einen Ort finden, an dem wir den Atommüll für 1 Million Jahre sicher lagern können – ein unvorstellbarer Zeitraum, der im Grunde das menschliche Maß überschreitet. Wir übernehmen also nicht nur Verantwortung für uns, auch nicht nur für unsere Kinder und Enkel, sondern wir stellen uns der Verantwortung für viele Tausend künftige Generationen, soweit das überhaupt in der Möglichkeit des Menschen liegt. Deswegen bin ich dankbar, dass wir diesen Gesetzentwurf in einem nationalen Konsens verabschieden, in einem Konsens zwischen Bund und Ländern, aber auch in einem parteiübergreifenden Konsens. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Denn so wichtig zivilisierter Streit als Normalmodus der Demokratie ist, so wichtig ist der Konsens bei solch fundamentalen Fragen. Ich sage aber auch ganz deutlich: Die größte Aufgabe liegt noch vor uns. Der Suchprozess wird von uns allen noch sehr viel Mut, Disziplin und Verantwortungsbewusstsein verlangen; ansonsten wird er scheitern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, nach der schrecklichen Reaktorkatastrophe von Fukushima haben wir gemeinsam, im Konsens zwischen Bund und Ländern, im Sommer 2011 den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen, wobei ich mir an dieser Stelle natürlich nicht ganz verkneifen kann, daran zu erinnern, dass wir zehn Jahre zuvor mit dem grünen Umweltminister Trittin den Atomausstieg schon einmal durchgesetzt hatten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber nicht im Konsens!) Aber es ist immer gut, wenn man sich durch Katastrophen auch belehren lässt. Besser ist natürlich, man lässt sich durch Vernunft belehren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist eine Eigenschaft der Ministerpräsidenten!) Eine zweite fundamentale Frage war noch offen: Wohin mit den radioaktiven Abfällen, die im Laufe der Jahrzehnte angefallen sind und noch weiterhin anfallen? Das war eine Frage, bei der wir uns in einer Sackgasse befanden. Ich erinnere mich noch genau, wie das damals war, als ich 2011 als frischgebackener Ministerpräsident den Vorstoß für eine neue, ergebnisoffene Endlagersuche unternommen habe. Viele haben den Kopf geschüttelt und gefragt: Warum ziehst du dir den Schuh an, wo du und deine Partei doch jahrzehntelang gegen die Atomkraft gekämpft habt? Warum bringst du dein eigenes Bundesland als möglichen Standort ins Spiel und riskierst damit den Unmut deiner Landsleute? – Es ist ganz einfach: Ich habe das damals getan, weil wir vom Sankt-Florians-Prinzip zum Prinzip der Verantwortung kommen mussten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) und die Endlagerdebatte aus einer Sackgasse holen mussten. Die Entwicklung zeigt: Das war der richtige Weg. Mit dem 2013 verabschiedeten Standortauswahlgesetz ist es gelungen, einen Neustart bei der Endlagersuche zu erreichen. Der erste Schritt auf diesem neuen Weg war, dass die Endlagerkommission über zwei Jahre hinweg intensiv gearbeitet hat. Sie hat Empfehlungen zu den wissenschaftlichen Grundlagen für das Auswahlverfahren entwickelt und geeignete Formate zur Beteiligung der Öffentlichkeit erarbeitet, die in diesem Umfang und in dieser Qualität nie da gewesen sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Darauf dürfen wir wirklich stolz sein. Deswegen möchte ich auch den beteiligten Kommissionsmitgliedern und Bürgern sehr herzlich für ihre hervorragende Arbeit danken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die Empfehlungen der Endlagerkommission nun umgesetzt. Damit setzen wir neue Maßstäbe bei der Suche. Wir suchen nicht irgendeinen Standort, sondern den Standort mit der bestmöglichen Sicherheit, und zwar ausschließlich auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das ist, glaube ich, in dieser Zeit, in der die Verbreitung faktenfreier Meinungen um sich greift, ganz wichtig. Wir treffen keine Vorfestlegungen. Ausgangspunkt ist eine weiße Landkarte. Die Suche erfolgt anhand gesetzlich festgelegter Kriterien. Entscheidend ist die Geologie und nicht die politische Geografie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Dass die Menschen im Wendland nach der Historie von Gorleben lieber heute als morgen einen Schlussstrich wollen, ist mehr als verständlich. Als junger Abgeordneter habe ich selbst dort vor 37 Jahren demonstriert. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aha!) Aber man könnte den Menschen in all den Regionen, auf die der Blick jetzt neu fallen wird, nicht vermitteln, dass bei ihnen nach rein wissenschaftlichen Kriterien geprüft wird, während ein anderer Standort zuvor aus politischen Gründen ausgeschlossen wurde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Wir setzen zudem neue Maßstäbe in der Qualität des Suchverfahrens. Wir legen das Verfahren in staatliche Hände. Wir schaffen maximale Transparenz. Alle relevanten Daten und Unterlagen kommen auf den Tisch. Wir beteiligen die Bürgerinnen und Bürger und die Öffentlichkeit umfassend und von Anfang an. Ein gesellschaftliches Begleitgremium wacht über den gesamten Suchprozess. Das Verfahren sieht weitgehende Rechtsschutzmöglichkeiten vor. Über jede einzelne Etappe des Verfahrens entscheiden Bundestag und Bundesrat. Das sichert die demokratische Legitimation der Endlagersuche. Dabei ist klar: Die endgültige Entscheidung über einen Endlagerstandort fällen der Bundestag und die Länderkammer und eben nicht die betroffene Region; denn es handelt sich dabei um eine nationale Aufgabe. Damit werden wir dem Anspruch gerecht, ein ergebnisoffenes, streng wissenschaftsbasiertes, transparentes und lernendes Auswahlverfahren zu entwickeln. Am wichtigsten ist dabei – das möchte ich noch einmal betonen –, dass wir mit dem Gesetz neues Vertrauen in unseren Umgang mit der Endlagerfrage schaffen, oder besser: schaffen können; denn das bislang gewonnene Vertrauen ist noch ein zartes Pflänzchen. Machen wir uns nichts vor: Die größten Herausforderungen liegen noch vor uns; denn im Laufe des Prozesses wird sich die Suche auf einen immer kleineren Kreis von Regionen konzentrieren. Es kann vor Ort verständlicherweise zu Protesten und Widerständen kommen. Die lokale und regionale Politik kann dabei massiv unter Druck geraten. Deswegen werden wir alle ein starkes Rückgrat benötigen. Die Entscheidungen werden nur dann in der Öffentlichkeit insgesamt auf Akzeptanz stoßen, wenn bis dahin ein stabiles Vertrauen in das Verfahren selbst gewachsen ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Deswegen müssen sich alle Beteiligten an das jetzt vereinbarte Verfahren halten, und zwar ohne Wenn und Aber. Entscheidend sind alleine die Vorgaben der Wissenschaft. Die Politik muss sich zurückhalten und der Versuchung widerstehen, bestimmte Standorte von vornherein für ungeeignet zu erklären; denn mit politischer Taktiererei würde das Vertrauen schnell wieder zerstört. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns deshalb unserer gemeinsamen Verantwortung gerecht werden und das Suchverfahren sorgfältig durchführen. Lassen Sie uns eigene Interessen zugunsten des gesamtgesellschaftlichen Interesses zurückstellen. Lassen Sie uns auch bei den weiteren Schritten in den kommenden Jahren den größtmöglichen Konsens bewahren. Nur so können wir die Endlagersuche zum Erfolg führen. Das sind wir den künftigen Generationen schuldig; denn wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Matthias Miersch ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Matthias Miersch (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst muss man, glaube ich, an einem solchen Tag betonen, auch angesichts der Debatten, die wir in den letzten Jahren anlässlich der Jahrestage von Fukushima und Tschernobyl geführt haben: Der Weg in die Atomkraft war und ist eine Sackgasse. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zwar wird heute immer noch über die Atomenergie philosophiert und mancher sagt, dass das doch eigentlich eine sichere und vor allem günstige Technologie ist; aber am Thema Endlagerung zeigt sich: Wenn wir die Kosten, die mit der Endlagerung verbunden sind, von vornherein eingepreist hätten, wäre die Atomenergie alles andere als günstig und verantwortbar. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe noch sehr genau im Ohr, was einige Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU hier angesichts der Gedenktage gesagt haben. Deshalb sage ich: Lassen Sie uns heute wirklich den absoluten Schlussstrich ziehen und festhalten: Es darf nie wieder darüber geredet werden, dass AKWs über 2022 hinaus in Deutschland betrieben werden sollten. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich darf mich dem Dank meiner Kolleginnen und Kollegen an Steffen Kanitz, auch an Hubertus Zdebel und vor allen Dingen an Sylvia Kotting-Uhl anschließen. Sylvia, ich finde, es wäre gerecht gewesen, dir heute ein paar Minuten Redezeit einzuräumen. Umso größer ist der Dank an dich für das, was du geleistet hast. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich lobe hier und heute ganz bewusst auch das Bundesumweltministerium. Ich möchte meinen Dank zum Ausdruck bringen. Das, liebe Barbara Hendricks, was deine Leute und du in den letzten Jahren geleistet haben, war eine Herkulesaufgabe. Wir konnten uns immer darauf verlassen, dass ihr konstruktive Vorschläge unterbreitet, die auch in unserem Sinne sind. Dafür ein herzliches Dankeschön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da das alles ja nicht nur eine Einheitssoße sein soll, möchte ich als niedersächsischer Abgeordneter, lieber Ministerpräsident Kretschmann, dann doch betonen: Das, was Stephan Weil und Stefan Wenzel hier in den letzten Jahren angestoßen haben, auch mit Ihnen zusammen, ist, glaube ich, das gewesen, was als größtmöglicher Konsens erreichbar war. Aber ich sage ganz bewusst, auch deshalb, weil ich als Anwalt viele Menschen aus dem Wendland vertreten habe und ich mich nach wie vor verantwortlich fühle: „Weiße Landkarte“ kann man so einfach sagen; aber wir haben Erkenntnisse – wir hatten in diesem Haus auch einen Untersuchungsausschuss, und ich sage das nach wie vor, auch wenn Gorleben erst einmal im Topf drin ist –, die allemal ausreichen, um festzustellen, dass Gorleben nicht geeignet ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es war ganz interessant: Als wir vor einigen Wochen den Gesetzentwurf vorgestellt haben, habe ich einen Kommentar gelesen, der zum Ausdruck brachte: Das, was wir hier machen, ist eine Falle für die Bürgerinnen und Bürger. Wir würden Öffentlichkeitsbeteiligung da herstellen, wo sie eigentlich überhaupt nicht angezeigt wäre. Die Überschrift lautete: „Lasst Experten entscheiden“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist spannend, dass nach wie vor – wir haben Meinungsfreiheit – so etwas geschrieben wird. Aber gerade die Atomtechnologie, gerade die Frage der Endlagerung ist doch ein Beispiel dafür, dass Experten sich absolut irren können. Was haben sie gesagt? „Die Asse ist sicher.“ Jetzt sehen wir 10 000 Liter Wasser am Tag. Es kann doch nicht sein, dass man jetzt einfach blind Experten vertraut! (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Ich hoffe, das gilt für Klima auch, ebenso für das EEG!) – Herr Lengsfeld, Sie sind ja noch dran; dazu können Sie gleich noch etwas sagen. (Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Na klar! Mache ich auch; werde ich tun!) Stattdessen haben wir hier verschiedene Institutionen implementiert, die nicht ganz unumstritten gewesen sind. Herr Präsident Lammert, ich erinnere mich noch: Als ich mit Rebecca Harms den Vorschlag zur Einrichtung einer Kommission gemacht habe, gab es zumindest bei Ihnen sehr große Skepsis. Ich glaube, nach zwei Jahren Arbeit dieser Kommission können wir feststellen, verbunden mit einem herzlichen Dank an Michael Müller und Ulla Heinen-Esser, dass es sich gelohnt hat, bei dieser großen Menschheitsaufgabe neben dem Parlament ein kontinuierlich tagendes Sachverständigengremium zu implementieren, dessen Mitglieder aus den unterschiedlichsten Gruppen der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft kamen. Ich bin jedenfalls dankbar, dass wir diesen Weg gegangen sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Zum anderen haben wir jetzt ein Gremium in den Gesetzentwurf geschrieben, das Nationale Begleitgremium, über das ebenfalls viel philosophiert worden ist: Wollen wir einen Wächterrat, der über Bundestag und Bundesrat steht? So wurde mir von einem Rechtsprofessor sogar Verfassungsbruch vorgeworfen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist meines Erachtens altes Denken. Wenn wir etwas aus dieser Geschichte der Atomkraft lernen, dann ist es doch, dass wir ein bisschen demütig im Hinblick auf Entscheidungskulturen und auf die Art und Weise sind, wie transparent und hinterfragend wir an eine solch große Frage herangehen. Deswegen finde ich es richtig, dass die nachfolgenden Bundestage und auch der Bundesrat weiterhin von einem Gremium begleitet werden, das auch die Macht hat, Alarm zu schlagen, wenn es das Gefühl hat, hier geht etwas unfair zu. Transparenz und Rechtfertigungsdruck werden die einzigen Möglichkeiten sein, die Konflikte, die in den nächsten Jahrzehnten in dieser Frage vor uns liegen, zu bewältigen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin Kotting-Uhl das Wort. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Präsident. – Ja, Matthias, ich wollte das jetzt nicht so stehen lassen, dass du es angemessen gefunden hättest, wenn meine Fraktion auch mir ein paar Minuten Redezeit gegeben hätte. Ich danke dir zwar für das Lob, das dahintersteckte. Aber es war gar nicht mein Wunsch, ein paar Minuten zu bekommen, sondern es war mein Wunsch, dass Winfried Kretschmann diese zehn Minuten spricht. Denn ich halte es in dieser Debatte – im Hinblick auf das, was nach dem Beschluss des Gesetzes und mit Beginn des Verfahrens auf uns als Gesamtgesellschaft zukommt – für sehr notwendig, dass ein Ministerpräsident hier noch einmal klarmacht, dass es – natürlich neben der Gesamtgesellschaft, den Bürgerinnen und Bürgern – in ganz großer Verantwortung die Länder sein werden, die diese Aufgabe dann schultern müssen, und dass sie diese Aufgabe annehmen müssen. Wir Berichterstatter wissen sehr gut, dass das nicht bei allen Ländern von Anfang an gleichermaßen auf Bereitschaft gestoßen ist. Deswegen halte gerade ich – alle, die mit mir gearbeitet haben, wissen, wie wichtig mir dieses Gesetz ist – es für sehr wichtig, dass wir hier heute eine Stimme hören, die sagt: Ja, die Länder sind jetzt in der Pflicht, diese Aufgabe anzunehmen, sonst wird diese große Aufgabe scheitern. – Dafür bin ich Winfried Kretschmann sehr dankbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Eva Bulling-Schröter erhält nun das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Warum redet keiner aus dem Osten?) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bezüglich des Neustarts der Suche nach einem Lager für atomare Abfälle sprach Minister Habeck von einer Art nationaler Versöhnung. Ich muss sagen: Leider ist es das nicht. Dies kann man an den heutigen Protesten der Antiatombewegung vor dem Reichstag sehen, auch wenn ich zugebe, dass wir schon ein bisschen weitergekommen sind. Trotzdem muss ich heute in der Wunde bohren. Mitte Dezember haben Union, SPD und Grüne in diesem Haus den Finanzierungsdeal der Atomfolgekosten auf den Weg gebracht. Die Linke hat das sehr kritisiert, und zwar mit Recht. Man hätte wissen können, was nun klar ist: Vattenfall zieht seine 4,3-Milliarden-Klage in Washington eben nicht zurück. Einige Abgeordnete haben damals gesagt, der Staat würde sich lächerlich machen, wenn die beiden letzten kostspieligen Klagen nicht zurückgezogen würden. Ich sage: Die Kolleginnen und Kollegen der Union, der SPD und auch der Grünen, die sich hier vor drei Monaten für diesen Deal gelobt haben, haben sich leider lächerlich gemacht. (Beifall bei der LINKEN – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abwarten!) Es ist ungefähr die gleiche Gruppe von Abgeordneten, die heute das novellierte Standortauswahlgesetz auf den Weg bringt. Dieses Gesetz beinhaltet wesentliche Verbesserungen. Es ist aber unzureichend geblieben – leider. (Beifall bei der LINKEN) Einige aus dem Unionslager streiten bereits heftig dafür bzw. argumentieren, dass gerade das bayerische Kristallingestein für Endlagerzwecke nicht geeignet sei. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Quatsch!) Da wird aus dem Ökonomen Herrn Nüßlein plötzlich ein versierter Geologe, der weiß, dass Granit im Bayerischen Wald für die Endlagerung nicht taugt. Er wird uns das vielleicht nachher erklären. (Zuruf des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]) Unter dem Motto „Bayern first“ möchte man keine Verantwortung übernehmen. Schließlich war ja auch Franz Josef Strauß derjenige, der die AKWs forciert hat. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Ganz so einfach ist das nicht!) Aber immerhin ist Kristallin mit dabei. Vor der eigenen Gartentür hört bei Ihnen der Konsens auf. Das ist schon seit 1970 so. So wurde übrigens damals das Zonenrandgebiet Gorleben ausgewählt. (Zurufe von der CDU/CSU) – Ich weiß gar nicht, wieso Sie sich so aufregen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Eigentlich war ein Standort im Emsland für geeignet gehalten worden. Dieser lag aber in den CDU-Wahlkreisen von Werner Remmers und Rudolf Seiters. Gorleben war einfach weit genug davon entfernt. Wir alle kennen das Bild vom grinsenden Ministerpräsidenten Albrecht, der vor exakt 40 Jahren auf der Landkarte auf den damals völlig unbekannten Ort Gorleben deutete. Also nichts mit wissenschaftlich! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Bis heute geben CDU und CSU nicht wirklich zu, dass Gorleben politisch ausgewählt wurde und dass es vor allem deshalb im Spiel gehalten werden musste, weil man Gorleben als Entsorgungsnachweis für die laufenden Atomkraftwerke brauchte, die man sonst vom Netz hätte nehmen müssen. Das muss man einmal sagen. (Beifall bei der LINKEN) In den 1990er-Jahren lehnte die Bundesregierung die Suche nach einem alternativen Standort ab, weil man an anderen Standorten nie den gleichen hohen Erkundungsstand erreichen könne wie in Gorleben. (Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Sie dürfen dieses Land nie regieren! Niemals!) Heute argumentiert die Mehrheit genau andersherum. Gorleben müsse im Verfahren bleiben, sonst wäre das nicht gerecht. Wir, die Linken, finden, dass das überhaupt nicht zusammenpasst. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Gorleben steht für eine große Wunde, falsche Entscheidungen, Manipulationen, Unwahrheiten und Polizeiprügel. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Gorleben im Verfahren zu belassen, ist daher eine Art Erbsünde dieses Standortauswahlgesetzes. Dieses Vorgehen ist nicht geeignet für eine Art nationale Versöhnung. (Beifall bei der LINKEN) Heute war die Demo. Es waren auch Leute von der BI Gorleben da. Eine Frau hat gesagt: Wenn jemand ein Auto mit Zündschlüssel stehen lässt und es geklaut wird, ist das Verleitung zum Diebstahl. Wenn Gorleben nicht ausgeklammert wird, ist das Verleitung zur Lagerung von Atommüll in einem nicht geeigneten Lager. Herr Kanitz, Sie reden von einer Kultur der Verantwortung und sagen, die Leute sollen nicht mehr protestieren. Ich sage Ihnen: Wer sich einmischt, wer protestiert, auch einmal Nein sagt und nachdenklich ist, der trägt Verantwortung. (Beifall bei der LINKEN – Steffen Kanitz [CDU/CSU]: Wer nur Nein sagt, trägt keine Verantwortung! – Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Sie tragen hoffentlich nie Verantwortung in diesem Land! Niemals!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Das, was wir heute beraten, ist Schlusspunkt und Neuanfang zugleich. Ich möchte betonen, lieber Herr Kollege Miersch, dass der dickste Punkt, nämlich der Ausstieg aus der Kernenergie, schon vor einer ganzen Weile beschlossen wurde. Ich habe mich eben schon ein bisschen echauffiert, weil Sie versucht haben, die Diskussionen von gestern wieder anzustoßen. An dieser Stelle wäre das, glaube ich, nicht notwendig gewesen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist typisch SPD! Vergangenheitsbewältigung statt Zukunftsgestaltung! – Ulrich Freese [SPD]: Herr Nüßlein, der Ausstieg aus dem Ausstieg kommt von Ihnen!) Im Übrigen war das, was Sie gesagt haben und was die Kollegin Bulling-Schröter gerade ergänzt hat, auch etwas unfair gegenüber den Altvorderen aus Ihrer Partei. Denn natürlich ist es Leuten wie Helmut Schmidt damals auch darum gegangen, dieses Land mit Strom zu versorgen, damit unser Wohlstand wächst und die Industrie funktioniert; das muss man einmal deutlich sagen. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was genau hat das mit dem Thema Atomenergie zu tun?) Eigentlich sollte uns jetzt die Frage umtreiben, was denn nach dem Ausstieg kommt. Entscheidend ist nämlich die Frage: Wie schaffen wir es, dieses Land zuverlässig und kostengünstig mit Strom zu versorgen? Darüber sollten wir diskutieren, nicht aber über das Vorgestern philosophieren. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, beim Thema Kernausstieg ist es dieser Großen Koalition gelungen, zwei weitere Schlusspunkte zu setzen. Dabei geht es um die Finanzierung und Organisation des Rückbaus und um die Suche nach einem Endlager. Das, Herr Miersch, war übrigens sehr wohl einkalkuliert. Deshalb werden wir auch auf die Rückstellungen der Kernkraftversorger zurückgreifen. Insofern ist es objektiv falsch, wenn Sie sagen, das sei nicht einkalkuliert gewesen. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Wir sprechen uns noch!) Das war einkalkuliert. Wir greifen, wie gesagt, auf die Rückstellungen zurück, gehen mit dem Geld verursachergerecht um und werden dafür sorgen, dass die Endlagerung ohne zusätzliches Risiko für die Steuerzahler organisiert wird. Zu diesem Zweck gehen wir heute einen entscheidenden Schritt, indem wir die formalen Voraussetzungen für ein Standortauswahlverfahren sichern. Das ist ganz wichtig. Das oberste Gebot, meine Damen und Herren, muss dabei lauten: bestmögliche Sicherheit. Dass dies parteiübergreifend, ja geradezu überparteilich und auch gesamtgesellschaftlich fundiert gelingt, ist etwas ganz Besonderes. Ich gebe ganz offen zu, dass ich kein Fan von Kommissionen bin – überhaupt nicht –; denn ich glaube, niemand repräsentiert die Gesellschaft in diesem Land besser als der Deutsche Bundestag. Aber in den zwei Ausnahmefällen, über die wir heute reden, war es, glaube ich, vernünftig, so vorzugehen. Es war auch erkenntnisreich. Gewundert hat mich allerdings die Pontius-Pilatus-Strategie einiger Umweltverbände, die ihre Hände dauerhaft in Unschuld waschen wollten und ursprünglich überhaupt nicht geneigt waren, sich an den Diskussionen über dieses schwierige Thema zu beteiligen. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz besondere Verantwortung hat aber bestimmt immer die CSU übernommen, was?) – Jetzt wollte ich Sie gerade loben; wenn Sie nicht dazwischenschreien, tue ich es auch noch. – Umso bemerkungswerter finde ich, dass die Grünen – die Rolle von Frau Kotting-Uhl ist bereits gewürdigt worden – hier Verantwortung übernehmen. Dafür herzlichen Dank und meine Anerkennung! (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herrn Miersch und anderen von der SPD möchte ich an dieser Stelle sagen: Schauen Sie sich an, wie sich die Linke verhält. Das ist, glaube ich, mit Blick auf die Zukunft aufschlussreich, und das sollte man durchaus einmal tun. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Oh! Habt ihr schon Angst? Habt ihr schon Muffensausen? Gut so!) Gestern haben wir vom neuen Bundespräsidenten gelernt, dass es in der politischen Orthografie keinen Schlusspunkt, sondern nur Kommas gibt. Nach einem solchen Komma steht eines ganz klar, nämlich Verantwortung, und das in einer Zeit, die nicht ganz einfach werden wird. Für die Standortsuche nehmen wir uns bis zum Jahr 2031 Zeit. Ich halte es auch für richtig, dass wir den Fokus auf die hochradioaktiven Abfälle legen. Das war sicher auch ein gutes Ergebnis des parlamentarischen Beratungsprozesses, weil es das Verfahren stringenter macht. Es ist, wie alle Redner vorher betont haben, ein großer gemeinsamer Erfolg, und ich will mich dem Dank an die Berichterstatter, die Mitarbeiter – insbesondere im Ministerium – und die Ministerin anschließen. Der Dank an die Ministerin wäre noch ein bisschen euphorischer ausgefallen, wenn sie, Frau Ministerin – das sage ich ganz ehrlich –, die Seele der Atomkraftgegner nicht gar so massiert hätten. Trotzdem will ich ganz ausdrücklich betonen, dass das auch Ihr Erfolg ist, weil Sie mit Beharrlichkeit immer überzeugend dargelegt haben, warum dieser Gesetzentwurf an dieser Stelle Erfolg verspricht. Vielen Dank dafür. (Beifall bei der CDU/CSU) Dieser Kompromiss – das haben wir gehört – verlangt allen etwas ab. Ich bin der Überzeugung, dass mit diesem Ergebnis keiner so unzufrieden sein kann, dass er dem Gesetzentwurf nicht zustimmen kann. Wenn ich sage, dass alle an dieser Stelle Kröten schlucken müssen, dann gilt das natürlich auch mit Blick auf die Anforderungen an eine weiße Landkarte. Nur so wird dieser Prozess unangreifbar, das ist richtig, und nur so kann man dem Argument, Gorleben sei nur aus politischen Gründen in den Fokus geraten, entgegenwirken. Das heißt aber auch: Wenn wir das Verfahren so durchführen, wie wir es jetzt vorhaben, dann wird Gorleben aber nicht unwahrscheinlicher, sondern wahrscheinlicher, und deshalb sind ein paar im linken Lager an dieser Stelle so aufgeregt; das muss man ganz klar sagen. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das überlassen Sie mal denen!) Zum heutigen Zeitpunkt gibt es wissenschaftlich – um das zu wissen, muss man kein Geologe sein, sondern nur lesen können – keine wirklichen technischen Einwände gegen Gorleben, weshalb wir darauf gedrungen haben, dass Gorleben im Fokus bleibt. Wir haben an dieser Stelle bisher 2 Milliarden Euro an Vorinvestitionen getätigt. Eine weiße Landkarte wäre ohne Gorleben, wie Ministerpräsident Kretschmann das richtig und seriös dargestellt hat, nicht möglich. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne Bayern auch nicht!) Deshalb danke ich Ihnen, Herr Ministerpräsident Kretschmann, für diese Klarheit, auch weil ich weiß, dass man sich hier nach Shakespeare die Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geschicks auf sich ziehen wird, wenn man das als grüner Ministerpräsident so klar sagt. Das zeichnet Sie hier in ganz besonderer Weise aus. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist der Seehofer? – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Baden-Württemberg hat das Glück, so einen Ministerpräsidenten zu haben! Anders als Bayern! – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Machen Sie sich keine Sorgen um Bayern. Das Glück Bayerns machen wir nicht an Personen, sondern am Erfolg fest. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie Seehofer zum Abschuss freigegeben? Söder-Fan, oder was?) Lieber Herr Kollege, wenn wir am Ende der Regierungszeit Bayern und Baden-Württemberg vergleichen und eine Erfolgsbilanz ziehen, dann werden wir sehen, wer am Schluss besser dasteht. Ich weiß, wie es ausgehen wird, und Sie werden es erleben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da kommen Sie nicht mehr heraus, Herr Nüßlein!) Ich danke allen, die hier über ihren Schatten gesprungen sind, auch wenn ich merke, wie schwer es ihnen fällt. Ich spreche jetzt nicht vom Krötenschlucken, weil ich weiß, dass insbesondere die Grünen an dieser Stelle ein paar naturschutzrechtliche Bedenken hätten. Aber ich glaube schon, dass man davon sprechen kann, dass der Gesetzentwurf uns tatsächlich Ehre macht. Ich will aber auch sagen, dass auch unsere Seite eine solche Kröte schlucken musste. Ich hätte mir gewünscht, dass wir das Thema Granitgestein von vornhinein klar ausschließen, weil dieses Gestein zerklüftet ist und deshalb keinen Sinn macht. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja!) Wir haben gesagt, wir lassen es im Topf und im Fokus, weil wir uns nicht einem politischen Vorwurf aussetzen wollten, der hier sofort reflexartig gemacht worden wäre. Trotzdem glaube ich, dass in diesem Gesetzentwurf – ich bitte, jetzt genau hinzuhören – ganz klar zum Ausdruck kommt, dass eine Endlagerung in kristallinem Gestein, das, wie gesagt, zerklüftet ist und deshalb auf technische Barrieren angewiesen wäre, nur die zweitbeste Möglichkeit sein könnte. Das will ich an dieser Stelle ganz klar unterstreichen. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Da müssen Sie Ihre Fassung aber noch einmal überprüfen!) Wer das nicht glaubt, der soll mir an dieser Stelle doch einmal genau erklären, wie man bei dem angesprochenen Zeitraum von 1 Million Jahren einen Langzeit-Sicherheitsnachweis für irgendwelche technischen Behältnisse erbringen will. Mit einem auf der Geologie beruhenden Konzept ist es einfacher, zu begründen, trotz der Schwierigkeiten, die keiner bestreiten will. Aber ich jedenfalls halte es für wahrscheinlicher, dass ein einschlusswirksames Wirtsgestein Vorteile hat, wenn man über die Frage diskutiert: Was kann und wird in der Zeit von 1 Million Jahren passieren? Es wäre schon eine Hybris, die zu dem, was Sie immer kritisieren, überhaupt nicht passt, wenn man sagte: Wir lösen dieses Problem an dieser Stelle technisch. Ich glaube, dass wir alle miteinander intelligente Formulierungen gefunden haben, um klarzustellen, was das zweitbeste Konzept ist. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Die aber nicht das aussagen!) Mit Rücksicht auf politische Formulierungen kann man vielleicht an der einen oder anderen Stelle Klarheit entbehren. Aber das war eben dem Thema „weiße Landkarte“ geschuldet: Alle sind mit dabei. Alle Bundesländer nehmen ihre Verantwortung wahr und sehen das auch ein. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn jetzt mit Bayern?) Alle unterziehen sich der Anfangsprüfung. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt jetzt Bayern?) Wir werden uns dann an dem wissenschaftlichen Ergebnis orientieren, so wie das Ministerpräsident Kretschmann vorhin beschrieben hat. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das war ein deutlich anderer Duktus als bei Ihnen!) Entscheidend am Schluss ist die Frage: Wofür entscheiden wir uns? Wir wählen nicht politische Maßstäbe und nicht Maßstäbe des Protests, sondern die Maßstäbe der Wissenschaftlichkeit, die hier zum Ausdruck kommen. Ich glaube, dass das richtig ist. Es ist wichtig und richtig, die Schritte, so wie sie heute beschrieben wurden, zu gehen. Wir haben die finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen zur Endlagersuche geschaffen, die dazu führen, dass wir ab 1. Juli dieses Jahres 23,6 Milliarden Euro an Geldern von den EVU bekommen, um das Ganze finanzieren zu können. Dies verpflichtet uns natürlich dazu, heute diesen Schritt zu gehen. Man kann nicht erst das Geld einnehmen und dann sagen: Wir können uns aber nicht entscheiden, wie wir jetzt weiter verfahren wollen. – Das wäre falsch. Die Tatsache, dass wir bereits die Bundesgesellschaft für Endlagerung geschaffen haben, stellt eine weitere Verpflichtung dar, heute diesen Schritt zu gehen und diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Darüber hinaus – auch das halte ich für ganz wichtig; da spreche ich für meinen Wahlkreis, in dem Gundremmingen liegt – sind wir auch gegenüber denen verpflichtet, bei denen es mittlerweile Zwischenlager gibt. Ihnen müssen wir eine Perspektive geben und sagen, wie es weitergeht und wie lange das dauert. Das tun wir mit dem heutigen Tag. Das ist ganz wichtig, was ich deutlich unterstreichen möchte. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort der Kollegin Hiltrud Lotze für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Hiltrud Lotze (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich komme aus dem Wahlkreis Lüchow-Dannenberg–Lüneburg. Dort liegt Gorleben. Gorleben wurde vor 40 Jahren von der Politik und allen voran vom damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht willkürlich als Endlagerstandort benannt – (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch gar nicht!) gegen jeden wissenschaftlichen Rat und ohne jegliche Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Die Menschen im Wendland haben diese Entscheidung nicht hingenommen und sich ihr widersetzt. Damit begann ein gesellschaftlicher Großkonflikt, der hauptsächlich hier im Wendland ausgetragen wurde. Mit dem Standortauswahlgesetz lassen wir diese Art der Auseinandersetzung jetzt hoffentlich hinter uns. Wir machen einen Neustart in der Endlagersuche. Der nationale Endlagerstandort soll in einem fairen und transparenten Verfahren ausgewählt werden. Die Öffentlichkeit wird im Standortauswahlverfahren frühzeitig und dauerhaft beteiligt. Wir suchen bundesweit und ergebnisoffen. Meine Damen und Herren, trotz alledem ist es so: Die Geschichte um Gorleben, die ich eben nur ganz kurz angerissen habe, hat dazu geführt, dass die Menschen vor Ort wenig Vertrauen in den Neustart der Endlagersuche haben. Ich verstehe das, und ich bedaure zutiefst, dass es so ist. Ich habe es auch sehr bedauert, dass Vertreter aus Lüchow-Dannenberg nicht in der Endlagerkommission mitgearbeitet haben, nicht konnten oder nicht wollten. Dennoch sind ihre Anliegen in der Kommission diskutiert worden, und sie sind auch im Gesetzentwurf berücksichtigt worden. In der vorletzten Woche haben wir noch einmal in einer öffentlichen Anhörung den Entwurf des Gesetzes diskutiert, und ich sage hier deutlich: Es war gut, dass mit Martin Donat ein Experte aus der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg dabei war. In dieser Anhörung, bei der auch Herr Töpfer, der Vorsitzende des Nationalen Begleitgremiums, anwesend war, wurde noch einmal sehr deutlich, dass die zentrale Herausforderung bei der Umsetzung des Standortauswahlverfahrens ist, dass Vertrauen wieder aufgebaut wird und dass – es ist hier schon mehrfach gesagt worden, aber ich sage es gern noch einmal – ein Endlager wirklich nur in einem breiten gesellschaftlichen Konsens erreicht werden kann. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hubertus Zdebel [DIE LINKE]) Das Gesetz, das wir heute verabschieden, legt dafür eine gute Grundlage, davon bin ich überzeugt. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Eine sehr gute!) Wir gehen hier einen neuen Weg und lassen damit auch die Tricks und Täuschungen der Vergangenheit hinter uns. Wir haben noch etliche Anmerkungen aus der Anhörung aufgenommen. Es wurde zum Beispiel präzisiert, dass wir einen Standort für hochradioaktiven Müll suchen und nicht für ein Kombilager. Formulierungen, die eine Priorisierung von Gorleben beinhaltet hätten, haben wir noch einmal überprüft, und wenn es nötig war, haben wir sie herausgenommen. (Beifall bei der SPD) Und natürlich: Als Abgeordnete aus der Region hätte ich es gut gefunden, wenn Gorleben von vornherein aus dem Verfahren genommen worden wäre. Dafür gibt es auch gute Gründe, Herr Nüßlein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wenn Sie Gutachten lesen, dann lesen Sie auch die geologischen Gutachten, die eine klare Sprache sprechen und in denen festgestellt wird, dass dieser Standort nicht geeignet ist. Deswegen bin ich auch sehr sicher, dass Gorleben im Verfahren sehr frühzeitig ausscheiden wird. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Dann passiert doch nichts!) Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal die Menschen ansprechen, ohne die wir nach meiner Überzeugung heute hier nicht über dieses Gesetz sprechen und abstimmen würden. Ich meine damit die Antiatombewegung und ganz besonders natürlich die Menschen im Wendland. Ich habe Marianne Fritzen, die Grande Dame der Antiatombewegung, kennengelernt, kurz bevor sie im vergangenen Jahr verstorben ist. Sie war das, was unsere Ministerin heute Morgen als eine demokratische Kraft bezeichnet hat. Sie hat sich aufrichtig und bis zum Ende für die Antiatombewegung eingesetzt, und sie hat mich sehr beeindruckt. An dieser Stelle ist, glaube ich, wirklich ein Dank an alle erforderlich, die sich 40 Jahre lang in dieser Bewegung engagiert haben. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Viele, die ich hier sehe, sind öfter in Gorleben bei Castortransporten gewesen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nur bei der Besichtigung!) Da waren auch immer viele Polizistinnen und Polizisten. Das war vor Ort kein Vergnügen, und ich denke, es ist heute angemessen, auch einmal an die Einsatzkräfte zu denken, die dort den Kopf für eine falsche politische Entscheidung hinhalten mussten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Demokratie in Deutschland!) Und noch eine Gruppe will ich ansprechen, die von unseren Entscheidungen betroffen ist, die wir aber selten im Blick haben. Das sind die Beschäftigten im Erkundungsbergwerk Gorleben. Rund 100 von ehemals 240 Bergleuten arbeiten jetzt noch dort. Sie bauen nach dem Erkundungsstopp das Bergwerk zurück und bereiten es für den Offenhaltungsbetrieb vor. Dieser soll am 1. Januar 2018 beginnen. Viele Bergleute haben ihren Job dort schon verloren, und etliche werden ihn noch verlieren. Das wissen sie, und sie haben sich damit abgefunden. Sie akzeptieren die politischen Entschlüsse. Sie erwarten aber – und das fordere ich als örtliche Abgeordnete auch ein –, dass sie von ihrem Arbeitgeber über die zukünftige Entwicklung frühzeitig informiert werden, dass sie erfahren, wie viele Leute ab dem 1. Januar noch vor Ort verbleiben und wo die anderen eine Verwendung finden. Sie erwarten Information über alles, was damit zusammenhängt, und dass man bis zum letzten Arbeitstag respektvoll und würdevoll mit ihnen umgeht. Ich bin mir hier der Unterstützung unserer Umweltministerin sicher. Sie ist schon dort gewesen und hat Gespräche geführt. Das ist mir ein wichtiges Anliegen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hubertus Zdebel [DIE LINKE]) Meine Damen und Herren, das Standortauswahlgesetz ist ein Meilenstein. Die eigentliche Arbeit liegt noch vor uns. Der Weg wird sicherlich nicht immer konfliktfrei sein. Ich hoffe und vertraue aber darauf, dass wir als Gesamtgesellschaft diese Aufgabe im respektvollen Umgang miteinander und mit Mut gemeinsam meistern werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Hubertus Zdebel [DIE LINKE]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Philipp Lengsfeld erhält nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Meine letzte Rede zur Atomkraft habe ich mit einem Bekenntnis gestartet, nämlich dem, dass ich schon immer Atomkraftgegner war, Kollege Miersch. Dafür gibt es zwei Kernargumente, die Sie auch genannt haben: die Sicherheitsfrage und die Lagerungsfrage. Beide sind nicht wirklich zufriedenstellend zu lösen. Deshalb ist es richtig, dass Deutschland aus dieser Technologie aussteigt. (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Ulli Nissen [SPD]: Oh, Herr Lengsfeld!) Wir beschäftigen uns heute mit der zweiten Thematik, und ich möchte ausdrücklich feststellen, dass auch ich froh bin, dass es diese Koalition zusammen mit Bündnis 90/Die Grünen geschafft hat, ein Gesetz für die langfristige Lagerung von hochradioaktiven Atomabfällen aus deutschen Kernkraftwerken in Deutschland auf den Weg zu bringen. Denn natürlich ist es richtig, dass wir unsere Abfälle aus unseren Kraftwerken nicht in andere Länder exportieren, selbst wenn es sicher Regionen in der Welt gibt, die für eine langfristige Lagerung atomarer Abfälle bessere Voraussetzungen haben als das dichtbesiedelte Deutschland. Ich halte es für politisch klug, dass wir auch diesen Teil des Umgangs mit der Technologie in unserem eigenen Land nach unseren eigenen Regeln und unter unserer Kontrolle gestalten. Der Gesetzentwurf basiert – das ist schon gesagt worden – auf den Empfehlungen der Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“, die ich im Kern richtig finde. Ich möchte den wissenschaftlichen Anspruch noch einmal herausstellen und ausdrücklich begrüßen. Die langfristige Lagerung in tiefen geologischen Formationen ist nach Abwägung aller bislang weltweit betrachteten Optionen die beste. Es gab durchaus auch andere Ansätze. Das Konzept soll reversibel sein. Diesen Punkt will ich noch einmal vertiefen, weil er sehr wichtig ist. Zentrale Elemente sind hierbei im Rahmen der Offenhaltungsphase des Endlagers die Rückholung der Abfälle und nach Verschluss des Lagers die Möglichkeit der Bergbarkeit der Abfälle bis zu 500 Jahren. Diese 500 Jahre scheinen mir – bei allem Respekt vor der Kommission – ein viel realistischerer Zeithorizont zu sein als die im Bericht genannte Vorgabe von 1 Million Jahren. Das hat mit Wissenschaftlichkeit nichts zu tun. Diese Bemerkung sei mir erlaubt. Deshalb halte ich die Bezeichnung „Endlager“ auch nicht für ganz glücklich. Ziel des neuen Suchverfahrens ist, einen Standort für die hochradioaktiven Abfallstoffe mit bestmöglicher Sicherheit – auch das ist schon gesagt worden – in einem Verfahren zu finden, welches nach klaren Kriterien abläuft. Als Ziel für die Standortfestlegung – davon war noch nicht so oft die Rede – wird das Jahr 2031 angestrebt. Gerade als Berliner muss ich sagen: Das ist doch einmal ein halbwegs realistischer Zeithorizont in diesem Land. Ich möchte noch einen letzten Aspekt aus Sicht eines Forschungspolitikers ansprechen – das ist auch der Grund, warum ich zu diesem Punkt spreche –: In Deutschland herrscht ein Exportverbot für hochradioaktive Abfälle aus Leistungsreaktoren. Ich begrüße im Namen meiner AG, der AG Bildung und Forschung, ausdrücklich, dass dieses Exportverbot eben nicht ausnahmslos auf Forschungsreaktoren ausgeweitet wurde. Hier ist ideologische Unerbittlichkeit – und übrigens auch deutsche Rechthaberei, Kollege Miersch – falsch. Bei allem Respekt, Frau Ministerin: Ich finde, das Umweltministerium sollte seine Kraft auf die Hauptaufgabe konzentrieren, nämlich auf die Identifikation eines für die Lagerung von Abfällen aus Leistungsreaktoren geeigneten Standorts, statt auf die Frage, was wir mit den Kügelchen der AVR Jülich machen. Das ist die Aufgabe des BMBF. Wir brauchen Optionen, um diese Frage zu lösen. (Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Herr Trittin, ich mache nachher in Erinnerung Ihrer politischen Leistungen eine Dose auf. – Dabei helfen uns ideologische Vorgaben ganz sicherlich nicht weiter. Wir brauchen Optionen. Das ist Forschung, und da werden eben auch Fehler gemacht, Herr Miersch. Wenn wir in Deutschland immer schon vorher wüssten, was das Ergebnis von Forschung ist, dann wären wir sehr viel besser als alle anderen Länder dieser Welt. Aber das ist nun einmal nicht der Charakter von Forschung; Forschung ist auch Trial and Error. Man darf auch einmal Fehler machen. Das sollte einem nicht in dieser rechthaberischen Art und Weise jahrzehntelang vorgehalten werden. Da wir Forschungsreaktoren haben, müssen wir das Problem lösen. Das hat aber nichts mit der Endlagersuche zu tun. Deshalb begrüße ich, dass wir das Exportverbot nicht gnadenlos und ausnahmslos auf die Forschungsreaktoren ausgeweitet haben. Wie Sie sehen, bin ich mit dem vorgelegten Gesetzentwurf insgesamt zufrieden. Ich kann deshalb – auch aus forschungspolitischer Sicht – um Unterstützung werben. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Eckhard Pols für die CDU/CSU das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Eckhard Pols (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass wir heute in letzter Lesung über den Entwurf eines Standortauswahlgesetzes debattieren, ist keine Selbstverständlichkeit. Nach Jahren der Tatenlosigkeit haben wir uns in dieser und der vorangegangenen Legislaturperiode der Verantwortung gestellt und des Themas Endlagerung hochradioaktiver Abfallstoffe angenommen. Die Arbeit der Standortauswahlkommission hat allen Beteiligten in den vergangenen drei Jahren viel abverlangt. Es war ein Ringen um einen Kompromiss, bei dem alle Seiten die eine oder andere Kröte schlucken mussten. Eines hatten wir alle aber gemeinsam: Wir wollten endlich die Suche nach einem Endlager voranbringen und die Grundlage dafür noch in dieser Legislaturperiode schaffen. Während der Arbeit der Kommission wurde viel aufgearbeitet. Es wurde auch viel gestritten. Es wurde um Formulierungen gerungen. Im Bewusstsein der heiklen Situation forderten die Experten in der Endlagerkommission in ihrem Abschlussbericht schließlich ein selbsthinterfragendes, lernendes System für die Standortauswahl. In diesem Zuge ist eine gute Kommunikation unter Einbeziehung aller Meinungen unerlässlich. Deshalb hat die Kommission auch ein neues und umfangreiches Öffentlichkeitsbeteiligungskonzept zur Begleitung der Standortsuche erarbeitet und vorgeschlagen. Dieses Prinzip der Kommunikation und Partizipation gilt auch nach der Festlegung eines Standorts. So wird die Ausgestaltung eines entsprechenden Ausgleichskonzepts bei der zuständigen Regionalkonferenz angesiedelt sein, also bei jenen Menschen, die ihre Region am besten kennen und am besten wissen, wo Unterstützung nötig ist. All diese Maßnahmen zur Förderung von Kommunikation und Austausch sollen Fehlentwicklungen vorbeugen und die Offenheit des Prozesses erhalten. Aber wichtig ist aus meiner Sicht auch, dass die betroffenen Standortregionen kein Vetorecht haben. Am Schluss entscheidet der Gesetzgeber. Die Union hat einen großen Schritt gemacht. Wir haben aus Ereignissen, ja vielleicht auch aus den Fehlern der vergangenen Jahrzehnte gelernt; denn auf dem Weg hin zu einer akzeptablen Lösung war es für uns ein unumgänglicher Schritt, auch einmal über den eigenen Schatten zu springen, und das zum Wohle aller. Dieses Verhalten hätte ich mir von allen Beteiligten gewünscht, Herr Zdebel, auch und gerade von den Linken. Dass Sie den gefundenen Kompromiss auch bei der letzten Abstimmung nicht mittragen, ist der Sache sicherlich nicht dienlich, vor allem da Sie die ganze Zeit aktiv mitgearbeitet haben. Noch mehr habe ich mich geärgert über diejenigen, die gar nicht bereit waren, sich dem Austausch verschiedener Standpunkte zu stellen. Dazu gehören die schon erwähnten Umweltverbände und sogar die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg aus dem Landkreis, in dem Gorleben liegt. Statt konstruktiv an einer Lösung der Endlagerfrage mitzuarbeiten, haben sie sich aus der Verantwortung gestohlen und nur von außen versucht, alles zu kritisieren. Daher frage ich mich: Wie dreist ist man denn, ein Ergebnis zu kritisieren, wenn man doch die Mitwirkung an eben jenem bewusst ausgeschlagen hat? Aber selbstverständlich ist es immer leichter, mit dem Finger auf andere zu zeigen, als sich an einer gemeinsamen arbeitsamen Kompromissfindung zu beteiligen. Fakt ist aber: Wir legen heute den Grundstein, damit wir unseren Kindern und Kindeskindern nicht die Beantwortung der Frage nach der Lagerung hochradioaktiver Abfallstoffe übertragen. Wir tragen die Verantwortung. Wir stehen heute aber erst am Anfang der Suche nach einem Endlager. Wir beginnen – das macht mich besonders froh – mit einem neutralen Ausgangspunkt, der sogenannten weißen Landkarte. Es ist kein Geheimnis – das haben wir schon gehört –, dass manch einer den Standort Gorleben gern von vornherein ausgeschlossen hätte. Ich bin, ehrlich gesagt, froh, dass dies nicht gelungen ist. Denn wie sollten wir es – das hat der Ministerpräsident vorhin schon gesagt – den Menschen an anderen potenziellen Standorten erklären, dass wir eben doch nicht alle Standorte auf Eignung überprüft haben? Gorleben wird in dem Verfahren, das wir nun verabschieden, ein Ort unter vielen sein. Der Standort wird sich den Kriterien und dem Vergleich mit anderen Standorten stellen müssen. Wie am Schluss das Ergebnis sein wird, kann nur das Verfahren zeigen. Wir haben die Veränderungssperre, die jetzt für den Standort Gorleben und alle anderen Orte jenen Zweck erfüllt. Die Union hat sich dafür starkgemacht, dass kein Ort den anderen gegenüber bevorzugt oder benachteiligt wird. Auch wenn einige es immer noch nicht wahrhaben wollen: Das Verfahren zur Standortauswahl ist und bleibt transparent, fair und ergebnisoffen. Es besteht keine Vorfestlegung. Ja, ein Endlager könnte am Standort Gorleben, in meinem Wahlkreis, entstehen. Es könnte aber auch in einem der anderen 298 Wahlkreise entstehen, die wir in Deutschland haben. Als Kind dieser Region bereitet mir der Zustand keine schlaflosen Nächte. Schlaflose Nächte, Frau Lotze, bereitet mir eigentlich nur, was mit den vielen Arbeitnehmern im Erkundungsbergwerk und deren Familien passiert; denn die werden auf diese Art und Weise arbeitslos und wissen nicht, wie ihre Zukunft aussieht. (Hiltrud Lotze [SPD]: Das habe ich ja angesprochen!) Das ist nicht die soziale Verantwortung, die Ihre Partei sonst immer gerne zeigt. (Hiltrud Lotze [SPD]: Was?) Mit dem Kriterienkatalog haben wir dafür gesorgt, dass die Entscheidung über ein Endlager wissenschaftlich profund getroffen wird und vor allen Dingen die Bürger und Bürgerinnen gehört werden. Aber bis dahin ist noch ein weiter Weg. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Eckhard Pols (CDU/CSU): Wir legen heute, wie gesagt, den Grundstein. Ich bitte um eine breite Zustimmung zu diesem Gesetz. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und anderer Gesetze. Hierzu liegen mir einige persönliche Erklärungen zur Abstimmung vor, die wir unserem üblichen Verfahren entsprechend dem Protokoll beifügen.1 Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/11647, den Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/11398 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der antragstellenden Fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist mit dem gleichen Abstimmungsverhalten bei einer Stimmenthaltung aus den Reihen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Gesetzentwurf angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/11648. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Die Antragsteller. Wer stimmt dagegen? – Alle anderen. Dann ist der Entschließungsantrag abgelehnt. Tagesordnungspunkt 3 b. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit auf der Drucksache 18/11647 fort. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/9791 mit dem Titel „Exportverbot für hochradioaktive Abfälle“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss, den Abschlussbericht der Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“, den es auf Drucksache 18/9100 gibt, zur Kenntnis zu nehmen. Er hat den Titel „Verantwortung für die Zukunft – Ein faires und transparentes Verfahren für die Auswahl eines nationalen Endlagerstandortes“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Das sieht nach Einmütigkeit aus. Ist jemand dagegen oder enthält sich der Stimme? – Das ist nicht der Fall. Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 3 c. Hier geht es um die Beschlussempfehlung des gleichen Ausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Umgang mit Atommüll – Defizite des Entwurfs des Nationalen Entsorgungsprogramms beheben und Konsequenzen aus dem Atommülldesaster ziehen“. Hier empfiehlt der Ausschuss in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/7275, den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/5228 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Antragsteller mit den übrigen Stimmen des Hauses angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Konstantin von Notz, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arbeit 4.0 – Arbeitswelt von morgen gestalten Drucksache 18/10254 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss Digitale Agenda Nach einer Vereinbarung der Fraktionen sind auch für diese Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Wir können also so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Kerstin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wirtschaftsmagazin brand eins hat in seiner Märzausgabe getitelt: „Neue Arbeit ... ist mehr als alte Arbeit mit Internetanschluss“. Digitalisierung verändert nicht nur die Art, wie wir produzieren grundlegend, sondern auch unsere Arbeitsweise. Arbeit wird technischer, vernetzter und flexibler. Das bietet auch eine Chance für humanere und selbstbestimmtere Arbeit. Aber was wir uns fragen müssen, ist, ob das Neue auch in das Alte passt. Die Motivation für unseren Antrag war, sich dieser Frage zu stellen: Wie verändert sich eigentlich die Arbeitswelt? Wie gehen wir damit um, wenn die Menschen Angst davor haben, dass die Digitalisierung ihren Arbeitsplatz gefährdet? Wer verliert überhaupt? Wir sind uns ganz sicher: Wir können und wollen diese Entwicklung nicht aufhalten; aber wir können und müssen sie gestalten und dafür sorgen, dass niemand abgehängt wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Die Voraussetzungen dafür sind, dass wir alle Menschen mitnehmen, befähigen, fördern, qualifizieren. Digitalisierung schafft bessere Möglichkeiten, sich zu informieren und weiterzubilden. Das reicht aber nicht aus. Schulen brauchen bessere Ausstattungen. Lehrer müssen geschult werden. Weiterbildungsangebote, gerade für Geringqualifizierte, Ältere und Menschen mit Migrationshintergrund, sind vonnöten. Weiterbildung und Qualifizierung dürfen nicht vom Geldbeutel der Menschen abhängen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn Weiterbildung daran scheitert, dass das Geld dafür nicht aufgetrieben werden kann, dann ist das ein Fehler. Was wir Ihnen vorschlagen, ist, dass Agenturen und Jobcenter zu Zukunftsagenturen für Arbeit und Weiterbildung ausgebaut werden. Arbeitsuchende und Erwerbstätige bei der Weiterbildung aktiv zu unterstützen, das ist unser konkreter Vorschlag. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Zweite ist, dass wir Regeln für diesen digitalen Wandel brauchen. Das betrifft den Beschäftigtendatenschutz. Da geht es um Regeln, um der Entgrenzung entgegenzuwirken. Das nimmt im Übrigen auch die Arbeitgeber in die Pflicht. Wo hört Selbstbestimmung auf, und wo fängt Ausbeutung an? Nun hat die Ministerin Nahles mit dem Grünbuch im Jahr 2015 die richtigen Fragen gestellt. Dort steht: Mit Arbeiten 4.0 wollen wir eine wichtige Debatte eröffnen und Fragen stellen, gemeinsame Antworten finden. Und weiter: ... am Ende des Prozesses werden wir genauer wissen, wie wir in Zukunft arbeiten möchten und was wir tun müssen. Wir sind am Ende des Prozesses; aber ich habe nicht den Eindruck, dass Sie die gewünschten Antworten haben. Das Weißbuch sollte Lösungen liefern; aber es bleibt im Konjunktiv: hätte, müsste, sollte. Dort, wo es konkret werden muss, da fehlt Ihnen der Mut für konkrete Antworten; aber wir brauchen eine mutige Bundesregierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Haben wir!) Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Die Menschen wollen flexibler arbeiten, Arbeit und Familie besser verbinden, aber nicht im Goodwill des Arbeitgebers. Beschäftigte brauchen eine echte Wahlarbeitszeit – Selbstbestimmung und Freiheit, größere Freiheit hinsichtlich Ort und Zeit der eigenen Arbeit. Was machen Sie jetzt? Sie bieten eine dreijährige Experimentierklausel für ausgewählte Betriebe an und auch nur für Beschäftigte mit Tarifvertrag. Das ist weder ein klarer Rahmen noch eine klare Ansage. Beschäftigte wollen ein Recht auf Homeoffice. 74 Prozent der Beschäftigten geben heute an, sie wollten mehr von zu Hause arbeiten. Wir wollen, dass hier ein Rechtsrahmen geschaffen wird, dass Rechtssicherheit besteht. Das nutzt auch der Motivation der Menschen. Das hat viel mit veränderten Arbeitswelten zu tun und viel mit der Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Dann müsste das Auto von zu Hause aus gebaut werden! – Zuruf des Abg. Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]) – Natürlich, Herr Lengsfeld, kann die Bäckerin nicht von zu Hause ihre Brötchen verkaufen. Homeoffice funktioniert natürlich nur da, wo es betriebsbedingt möglich ist. Aber wenn nur 12 Prozent der Betriebe dies in Anspruch nehmen, obwohl es bei 40 Prozent der Betriebe möglich wäre und 74 Prozent der Menschen das wollen, dann ist da eine Schieflage. Das ist das, was wir meinen, wenn wir sagen: Wir brauchen hier Rechtssicherheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Digitalisierung schafft mehr Selbstständigkeit. Wir Grüne unterstützen das. Selbstständigkeit ist eine Graswurzel unserer Wirtschaft, eine wichtige Quelle für Innovation. Aber ihre Stärke kann sie nur ausspielen, wenn sie sich nicht im sozial luftleeren Raum bewegt. 50 Prozent aller Solo-Selbstständigen haben weder eine gesetzliche noch eine private Altersversicherung. Deswegen sagen wir: Wir müssen die Versicherungen zu Bürgerversicherungen weiterentwickeln, wobei alle mitgenommen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Wir brauchen gerade für Gründer und für diejenigen in diesen neuen Beschäftigungsformen einen bezahlbaren Zugang zu den Sozialversicherungssystemen. Es kann doch nicht sein, dass die Sorge um die soziale Absicherung dazu führt, dass man sich nicht in dieser neuen Arbeitswelt zurechtfindet, dass Existenzsicherung die eigene Kreativität so hemmt, dass man seinen Platz nicht findet. Hier brauchen wir Antworten von Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schließlich müssen wir Arbeit neu denken. Dazu gehören neue Beschäftigungsformen wie Crowdworking. Es gibt digitale Plattformen. Da verdienen sich viele ein paar Euro oder auch mehr dazu; das ist gut. Das Problem ist, dass dieser neue Markt 24 Stunden jeden Tag global im Wettbewerb steht. (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Das ist kein Problem! Das ist gut!) Hier ist ganz deutlich erkennbar, dass das Neue nicht mehr in das Alte passt. Deswegen müssen wir darüber nachdenken. Wir können nicht einfach stehen bleiben. Plattformen dürfen kein rechtsfreier Raum sein. Auch da brauchen wir Lösungen von Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Wir befinden uns mitten in einem gigantischen Umbruch. Manche sprechen von einer digitalen Revolution mit ähnlich umwälzenden Folgen wie denen der industriellen Revolution vor 200 Jahren. Die Geschwindigkeit der Veränderungen stellt jeden Einzelnen, aber auch die Gesellschaft insgesamt vor große Herausforderungen. Die Politik ist gefordert, hier Antworten zu liefern. Deswegen legen wir Ihnen den Antrag „Arbeit 4.0“ vor. Ich möchte, dass wir in die Diskussion über Instrumente gehen, die dazu beitragen, dass die Menschen mit dieser Digitalisierung und mit dieser Veränderung am Arbeitsplatz, in der Arbeitswelt klarkommen, sich sicherer fühlen und an dieser Veränderung teilnehmen. Gehen wir in die Diskussion! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir diskutieren mit!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Uwe Lagosky ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Uwe Lagosky (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Digitalisierung entwickelt sich in einer Geschwindigkeit, die alle Entwicklungen am Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren in den Schatten stellt. Das haben wir gerade auch von Ihnen gehört, liebe Kollegin. Allerdings ist die Diskussion um dieses Thema bereits voll entfacht worden, und viele Dinge sind bereits auf den Weg gebracht. Das muss natürlich in entsprechendes gesetzliches Handeln in der Zukunft einmünden. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welches denn?) In immer kürzeren Intervallen steigt die Leistungsfähigkeit der Rechnersysteme, der Speicher und natürlich auch der Anwendungen, die damit verbunden sind. Automatisierungsprozesse finden in allen Betrieben statt. Das verändert die Arbeitswelt. Ob im Maschinenbau oder in der Elektro- oder Automobilindustrie, im Handwerk oder auch im Dienstleistungsbereich – in allen Bereichen findet durch die Digitalisierung bereits eine grundlegende Veränderung statt. Deutschland nutzt diese Entwicklung bereits heute. Nicht ohne Grund sind wir mit weniger als 1 Prozent der Weltbevölkerung die viertgrößte Volkswirtschaft. Deutschlands Know-how ist in der ganzen Welt gefragt und begehrt. Mit 43,6 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern generieren wir heute ein Bruttoinlandsprodukt von über 3 Billionen Euro. Das haben wir den Menschen in unserem Land zu verdanken, die es immer wieder geschafft haben, unser Land durch Innovationen leistungsfähig zu machen. Durch unser starkes Bildungs- und Hochschulwesen sowie unsere duale Ausbildung, die unser Land stark gemacht haben, sind wir ein Land von Facharbeitern, Akademikern und qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind Experten in dem, was sie tun. Laut einer Allensbach-Studie aus dem letzten Jahr sehen sich drei Viertel der Bevölkerung den künftigen Anforderungen gut gewachsen. Viele sehen in der Digitalisierung einen Vorteil für sich selber. Wir wollen die Chancen der Digitalisierung nutzen. Die digitalisierte Arbeitswelt soll dabei explizit in den Dienst der Menschen gestellt werden. Das ist unsere Anforderung. (Beifall bei der CDU/CSU) Wichtig ist mir dabei aber auch, dass wir die Menschen mitnehmen, die in Bezug auf die Anforderungen der Zukunft immer noch Ängste haben. Auch daran müssen wir arbeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im letzten Jahr gemeinsam mit einigen Mitgliedern des Ausschusses für Arbeit und Soziales die USA bereist und zahlreiche Gespräche geführt. Ich fasse die bei dieser Reise gewonnenen Erkenntnisse zusammen: Erstens. Welchen Bildungsstand und welche Ausbildung man in den USA erhält, hängt maßgeblich von den finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen ab. Ich finde, mit unserem System der dualen Ausbildung und der Hochschulausbildung haben die Menschen in unserem Land ein hervorragendes Fundament für ihr gesamtes Berufsleben. Zweitens. Die USA haben uns im Silicon Valley und an anderen Stellen bei den Unternehmensneugründungen durchaus einiges voraus. Circa jeder dritte Student der Stanford University gründet eine eigene Firma. In den USA ist auch wesentlich mehr Venture Capital, Risikokapital, vorhanden, als es in Deutschland der Fall ist. Auch ist dort die Bereitschaft der Menschen viel ausgeprägter, in eine Selbstständigkeit zu gehen. Ich finde, an dieser Baustelle müssen wir in Deutschland in erheblichem Maße arbeiten. Drittens. Auf die Frage, wie man die wachsende Ungleichheit in den USA in den Griff bekommt und wie man die Menschen in einer sich rasant ändernden Arbeitswelt mitnimmt, haben uns die 14 Professoren der Stanford University keine Antwort geben können. Die Rahmenbedingungen, die wir durch unsere Regelungen zum Arbeitsschutz haben, spielen dort eine eher untergeordnete Rolle. Deshalb ist es gut, wenn wir uns auf das besinnen, was Deutschland stark gemacht hat, nämlich auf unsere soziale Marktwirtschaft. Die müssen wir entsprechend weiter aufbauen und pflegen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was heißt das jetzt konkret?) Insofern sind Ihre Ansätze durchaus diskutabel. Wir werden über diese auch in der Zukunft sprechen. Denn letztlich geht es darum, die Entwicklungsmöglichkeiten eines jeden, den Freiraum und den Schutz der Beschäftigten sowie die Wirtschaft zu stärken. All diese drei Punkte unter einen Hut zu bekommen, ist Aufgabe und Herausforderung. Und das macht die CDU/CSU-geführte Bundesregierung, wie ich finde, in hervorragender Art und Weise. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hans-Joachim Schabedoth [SPD] – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In welcher Form?) Unser deutsches Arbeitsrecht gibt Leitplanken vor, zwischen denen sich Beschäftigte und Arbeitgeber frei bewegen können. Diese Bewegungsfreiheit schafft Wachstum und Sicherheit. Sie zeichnet unsere soziale Marktwirtschaft aus. Wir haben also beste Voraussetzungen, um auch in Zukunft wirtschaftlich erfolgreich zu sein und in diesem Land eine gute soziale Absicherung zu garantieren. Dass dies so bleibt, ist natürlich kein Selbstläufer. Deshalb müssen wir die Anforderungen, vor die uns die Digitalisierung stellt, mit Bedacht entsprechend in unser System einbauen. Die Bundesregierung hat dazu – das wurde eben auch schon erwähnt – im April 2015 den Dialogprozess „Arbeiten 4.0“ gestartet. Dessen Ergebnisse wurden im vergangenen November durch das BMAS in einem Weißbuch vorgestellt. Durch zahlreiche Workshops und Stellungnahmen sowie durch einen wissenschaftlichen Beirat wurden in breitem Umfang Ideen gesammelt und Handlungsempfehlungen gegeben. Es gilt, diese jetzt in entsprechender Form umzusetzen. Darüber diskutieren wir ja auch, und wir werden das auch weiterhin tun. Liebe Grüne, uns also in Ihrem Antrag zu sagen, die Bundesregierung habe in diesem Bereich in den vergangenen Jahren zu wenig getan, ist schlichtweg falsch. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wurde denn gemacht?) Lassen Sie mich etwas zu dem sagen, was in Ihrem Antrag zur Wahlarbeitszeit steht. Viele Manteltarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen nutzen die Möglichkeiten, die innerhalb der Leitplanken unseres Arbeitszeitgesetzes gegeben sind. Damit wird die Arbeitszeit, die von den Sozialpartnern in den Unternehmen verhandelt wird, auf die Erfordernisse der Beschäftigten und des Betriebes zugeschnitten. Gleichzeitig geht es aber auch darum, die als Leitplanken vereinbarten Regelungen im Arbeitszeitgesetz – dabei geht es insbesondere um die Ruhe- und Tageshöchstarbeitszeiten –, die dem Arbeitsschutz und damit dem Schutz der Gesundheit der Beschäftigten dienen, entsprechend umzusetzen. Insofern sind weitere Gestaltungsspielräume zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie Sie sie vorschlagen, nur möglich, wenn sie dem Schutz der Beschäftigten nicht widersprechen. Deshalb lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob man mit tariflichen Öffnungsklauseln im Arbeitszeitgesetz dafür sorgen kann, dass man diesem Anspruch gerecht wird und gleichzeitig eine bessere Vereinbarkeit hinbekommt. Ein Beispiel: Wenn eine Mutter am Vormittag vier Stunden im Betrieb gearbeitet hat und nach Kinderbetreuung und Freizeit am Nachmittag gegebenenfalls am Abend noch einmal zwei Stunden arbeiten möchte, verstößt das nach heutiger Rechtslage möglicherweise gegen das Arbeitszeitgesetz wegen der Ruhezeit, die eingehalten werden muss. Hieran wollen wir arbeiten und entsprechend dafür sorgen, dass wir hier Rechtssicherheit schaffen – zum Wohle der Beschäftigten und der Arbeitgeber. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gleichzeitig möchten wir, dass Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer umfassend über Gesundheitsrisiken und präventive Maßnahmen aufklären. Sie merken also an den vielen Punkten, die wir hier vorschlagen und miteinander diskutieren, dass wir an den gleichen Themen arbeiten, nämlich an den Handlungsfeldern, die uns das Weißbuch vorgibt. Allerdings ist die Herangehensweise an vielen Stellen durchaus unterschiedlich, so auch im Bereich des Arbeitsschutzes. Sie treten für eine Reform der Arbeitsschutzverordnung bei psychischer Gefährdung ein, wissen aber genau, dass die Ergebnisse der Studien, die bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Auftrag gegeben wurden, erst im Mai dieses Jahres vorgestellt werden. Wäre es nicht besser, erst einmal auf diese Ergebnisse zu warten, bevor man einen Antrag stellt? Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Uwe Lagosky (CDU/CSU): Zum Schluss noch etwas zum Thema „Q wie Qualifizierung“. Aus unserer Sicht muss Weiterbildung in erster Linie im Job erfolgen und nicht erst dann, wenn jemand arbeitslos geworden ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD]) Es gilt, die Weiterbildung in den Betrieben praxisnah zu organisieren und den Beschäftigten damit das Rüstzeug für die aktuelle und zukünftige Arbeit zu geben. Dafür werden wir uns einsetzen. So gestaltet sich der Wandel in der Arbeitswelt zum Wohle der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Grünen gibt uns die Möglichkeit, wichtige Fragen im Zusammenhang mit Veränderungen in der Arbeitswelt zu diskutieren. Prinzipiell geht der Antrag in die richtige Richtung. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber natürlich nicht weit genug!) Zu Herrn Lagosky: Ihr Beispiel von der Frau, die vier Stunden am Vormittag und zwei Stunden am Abend arbeitet, passt nicht. Das hat mit Digitalisierung nichts zu tun. Solche Beispiele hat es immer schon gegeben. Wir müssen also aufpassen, dass wir nicht alle Ideen, die wir jetzt diskutieren, in Zusammenhang mit neuer Technik bringen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Vieles von dem, was wir fordern und diskutieren, ist ja gar nichts Neues. Aber trotzdem einige grundsätzliche Bemerkungen. Worum geht es, wenn wir uns als Parlament hier über die Folgen der Digitalisierung unterhalten? Die Grundfragen, die sich stellen, sind: Wem kommen die Produktivitätsgewinne, die dabei entstehen, zugute? Wer bekommt sie? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Kommen diese Produktivitätsgewinne einseitig dem Unternehmen zugute, oder gelingt es uns, durch gesetzliche Regelungen dafür zu sorgen, dass auch die Beschäftigten, zum Beispiel durch kürzere Arbeitszeiten, zum Beispiel durch mehr Bildungszeiten, davon profitieren? Profitiert vielleicht sogar die Gesellschaft davon, dass freiwerdende Beschäftigte in den Bereichen eingesetzt werden können, wo wir sie brauchen, zum Beispiel im Pflege- oder Gesundheitsbereich? Das sind die Fragen, die uns beschäftigen müssen und mit denen wir uns hier auseinandersetzen müssen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Hans-Joachim Schabedoth [SPD]) Meine Damen und Herren, der Einsatz von Technik findet bei uns unter kapitalistischen Bedingungen statt. Das kann man gut oder schlecht finden, aber so ist es. Das bedeutet, dass in erster Linie der Arbeitgeber darüber entscheidet, was eingesetzt wird und wie es eingesetzt wird. Dabei geht es natürlich um die Senkung von Kosten – das ist das Ziel –, sonst würde der Arbeitgeber es nicht machen. Digitalisierung ist nichts anderes als ein weiteres Element, um den Produktionsprozess mit neuen technischen Möglichkeiten rationeller zu gestalten. Das Ziel der Arbeitgeber allerdings ist – jetzt wird es für uns, das Parlament, spannend –, dass sich die Beschäftigten an die technischen Möglichkeiten anpassen sollen, und leider nicht, wie es im Antrag der Grünen impliziert ist, dass Freiräume für die Beschäftigten geschaffen werden sollen. Das Ziel der Arbeitgeber ist etwas ganz anderes. Ich zitiere aus der Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände: Wichtig ist, dass die Flexibilität, die die Digitalisierung durch neue Arbeitsabläufe und neue Kommunikationsinstrumente mit sich bringt, nicht durch Regulierung behindert wird. Positive Wettbewerbs- und Beschäftigungseffekte können nur mit einem flexiblen Rahmen ausgeschöpft werden. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Hört! Hört!) Dort steht klar, was sie wollen: Ausweitung der Wochenendarbeit, Ausweitung der Feiertagsarbeit, Abschaffung der gesetzlich geregelten Höchstarbeitszeit, Anpassung der Ruhezeiten an Betriebsabläufe, und Beschäftigte sollen auch kurzfristig von zu Hause abberufen werden, um ihre Arbeit verrichten zu können. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die absolute Unterordnung der Beschäftigten unter die Produktion. Das müssen wir verhindern und regeln. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Hans-Joachim Schabedoth [SPD]) Die Interessen der Beschäftigten stehen denen der Arbeitgeber diametral gegenüber. Da will man von Teilzeit wieder in Vollzeit. Richtig. Da will man nach acht Stunden auch aufhören können, ohne durch entsprechenden Druck dazu gezwungen zu werden, länger zu arbeiten. Da will man Beginn und Ende der Arbeitszeit selbst definieren und sich nicht der Technik anpassen. Da will man – das ist sehr wichtig; hier bin ich wieder beim Kollegen Lagosky –, wenn man kleine Kinder hat, raus aus der Schichtarbeit und hin zur Normalschicht, damit man sich um die Kinder kümmern kann. Das alles gibt es momentan noch nicht. Dazu brauchen wir einen gesetzlichen Rahmen, weil es sonst in der Praxis nicht dazu kommt. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt komme ich zu den Grünen. Das ist mir wichtig: Wenn man die Interessen der Beschäftigten durchsetzen will, muss man aufpassen, wenn man in den Antrag schreibt „sofern dem keine wichtigen betrieblichen Belange entgegenstehen“. Aus meiner langjährigen Praxis in Betrieben kann ich Ihnen sagen: Immer wenn dies formuliert wird, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sich die Beschäftigten durchsetzen, weil der Arbeitgeber immer einen Punkt findet, dass dem betriebliche Interessen entgegenstehen. Wir brauchen daher einklagbare Rechte für die Beschäftigten. Darüber müssen wir reden. (Beifall bei der LINKEN) Wir können es aber nicht dem Arbeitgeber überlassen. Meine Damen und Herren, Digitalisierung – da haben Sie Recht; das ist auch der Grundsatz – fordert mehr Schutzrechte für abhängig Beschäftigte. Es geht darum, das Direktionsrecht des Arbeitgebers, zu verfügen, wann, wie und wo was im Betrieb passiert, weiter einzuschränken. Dann müssen wir es aber auch tun und nicht nur appellieren. Auch die Bundesregierung muss in dieser Frage reagieren und nicht nur appellieren, weil sich sonst nichts ändert. Das ist ein wichtiger Punkt. (Beifall bei der LINKEN) Ich stimme den Grünen in dem Aspekt zu, dass Arbeit zunehmend in rechtsfreien Räumen stattfindet. Sie haben über Vermittlungsplattformen gesprochen. Ja, aber wie können wir das regeln? Was passiert in diesen Vermittlungsplattformen? In rechtsfreien Räumen wird zunehmend Arbeit vermittelt von anonymen Organisationen, bei denen man sich um Aufträge bemüht, vollkommen unabhängig von den Fragen: Wie lange wird dort gearbeitet? Was wird für diese Aufträge bezahlt? Wir haben also eine Aushebelung geltender Bestimmungen in der Bundesrepublik Deutschland durch den Fakt. Das ist nur ein Aspekt. Wie können wir das regeln? Wir müssen über die Begriffe „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ reden. Wenn jemand einen Menschen über eine Plattform vermittelt, wie Sie richtig sagen, ohne Sozialversicherung und ohne Absicherung: Ist er dann nicht ein Arbeitgeber? Ein Arbeitgeber in einem Betrieb macht auch nichts anderes. Jemand kommt, er beschäftigt ihn, er vermittelt ihm Arbeit. Der andere macht im Prinzip dasselbe. (Zuruf des Abg. Kai Whittaker [CDU/CSU]) – Sie haben wirklich wenig Ahnung davon. Ich würde mich ein bisschen zurückhalten. Sie brüllen zwar dazwischen, aber Sie haben wirklich keine Ahnung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie der Abg. Katja Mast [SPD] und Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deshalb sage ich: Wir müssen den Begriff des Arbeitgebers neu regeln. Ist derjenige, der einen Menschen vermittelt, nicht Arbeitgeber? Müsste er dann nicht auch die Sozialversicherungsbeiträge zahlen, wenn er jemanden vermittelt? (Beifall bei der LINKEN) Das sind Aspekte, die wir in die weitere Beratung aufnehmen sollten. Ich freue mich darauf. Insofern ist der Antrag der Grünen durchaus hilfreich. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin spricht Katja Mast für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Lezius [CDU/CSU]) Katja Mast (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist klar: Unsere Welt befindet sich in einem grundlegenden Wandel. Auch die Arbeit wandelt sich natürlich. Arbeiten 4.0 wird vernetzter, digitaler, flexibler sein. Wir stehen natürlich vor großen Herausforderungen, bei denen es darum geht, wer am Wohlstand teilhaben wird, wie sich Chancengleichheit und soziale Sicherheit in unserem Land zukünftig entwickeln. Es geht in dieser Debatte um Chancen und Risiken; das haben meine Vorredner mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen schon deutlich gemacht. Aber wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten führen an dieser Stelle keine Angst-, sondern eine Gestaltungsdebatte. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Lezius [CDU/CSU] – Lachen des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bestes Beispiel dafür ist das Weißbuch Arbeiten 4.0 unserer Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da steht aber nichts drin!) Alle, die behaupten, wir eröffneten heute die Debatte darüber, sollten vielleicht zunächst einmal dieses Buch lesen. Dann sähen sie, dass es in der öffentlichen Debatte schon viele Vorschläge gibt. Die Ministerin skizziert darin die zentralen Gestaltungsaufgaben. Ich will auf einen Aspekt eingehen – es kommen ja noch viele Rednerinnen und Redner der SPD –, den ich als zentralen Zukunftsaspekt bei der Gestaltung von Arbeiten 4.0 empfinde: die Qualifizierung. Sie entscheidet aus meiner Sicht im Kern über die Verteilungsgerechtigkeit in Zeiten der Digitalisierung. Es gibt düstere Beschäftigungsszenarien, Studien, die von millionenfachen Jobverlusten ausgehen. Aber das Bundesarbeitsministerium geht davon aus, dass es sich um einen Wandel von Kompetenzen und Berufen handelt. Wenn sich Berufe und Kompetenzen wandeln, also der Arbeitsmarkt sich wandelt, dann heißt das doch ganz klar: Wir müssen in Qualifikationen investieren, wir müssen in die Köpfe der Menschen investieren, damit sie auch in Zukunft an der Verteilung des Wohlstands, an der Verteilung des Kuchens teilhaben. Klar ist: Wandel von Kompetenzen und Qualifikationen gab es schon immer. Die Digitalisierung macht das alles aber viel schneller, als wir es jemals gekannt haben. Das heißt, wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Ja, es gibt eine Verantwortung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern für die Qualifizierung; aber es gibt natürlich auch eine gesellschaftliche Verantwortung, also eine Verantwortung staatlicher Akteure für den Wandel der Arbeitswelt und für die Qualifizierung. Nur mit diesem Dreieck der Verantwortungen – Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Gesellschaft – wird es am Schluss das richtige Modell. Alle müssen zusammen an einem Strang ziehen – davon sind wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten überzeugt. Ansonsten kommt es zu einer Entwertung von Qualifikationen. Wenn wir da nicht ansetzen, bekämpfen wie keine Arbeitslosigkeit. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie soll es jetzt konkret gehen?) – Weil meine geschätzte Kollegin von den Grünen laut ruft: „Was heißt das denn jetzt konkret, liebe Katja Mast?“ – ich ergänze gerne den Zwischenruf –, sage ich: Martin Schulz und Andrea Nahles haben ein Konzept vorgelegt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Seit wann? Das ist ja ein Witz!) Wir schaffen ein Recht auf Weiterbildung. Wir schaffen ein Arbeitslosengeld für Qualifizierung. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das weiß Herr Schulz aber noch nicht!) Wir wollen die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung ausdehnen, indem wir die Rahmenfristen ausdehnen. (Zurufe von der CDU/CSU) – Ihr Unmut sagt mir: Sie haben es schon mal gehört, aber noch nicht durchdrungen. (Beifall bei der SPD – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Ja, und Sie haben es noch nicht verstanden!) Wir wollen die Bundesagentur für Arbeit zu einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung ausbauen. Das ist genau der richtige Weg. Was steckt dahinter? Wir wollen mit Weiterbildungsberatung, Förderung von Weiterbildung, Zeit für Weiterbildung dafür sorgen, dass Menschen nicht erst qualifiziert werden, wenn sie den Job verloren haben, wir wollen früher im Erwerbsleben ansetzen. (Beifall bei der SPD) Denn wahr ist doch auch, Kolleginnen und Kollegen: Ob Aufstieg durch Bildung gelingt, ob das große sozialdemokratische Versprechen in Erfüllung geht – die Kinder sollen es besser haben als die Eltern –, entscheidet sich nicht mehr nur am Lebensanfang, sondern die ganze Erwerbsbiografie hindurch. Daran müssen sich auch staatliche Institutionen anpassen. Deshalb brauchen wir eine Weiterentwicklung der Bundesagentur für Arbeit zu einer Agentur für Arbeit und Qualifizierung. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist lächerlich!) Nur so können wir dafür sorgen – da hat Herr Klaus Ernst recht; das Spannende ist die Verteilungsfrage –, dass die Bevölkerung wirklich an den Chancen der Digitalisierung und der sich daraus ergebenden Wertschöpfung teilhaben wird. Deshalb: Unsere Konzepte liegen auf dem Tisch. Ich freue mich auf die Debatte. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, es ist richtig: Es gibt sehr viele Menschen, die sich durch die Digitalisierung neue große Chancen ausrechnen. Es gibt aber auch Menschen, die sich vor den daraus resultierenden Veränderungen fürchten. Sie haben Sorge, dass sie mit dem Tempo nicht mitkommen, sie haben Sorge, dass sie den Anforderungen nicht gerecht werden, und sie haben auch Sorge um ihren Arbeitsplatz. Ich bin der festen Überzeugung, dass man diesen Ängsten und diesen Sorgen am besten damit begegnet, dass man unter Beweis stellt, dass man dort, wo die Veränderungsprozesse bereits begonnen haben, wo die Zukunft der Arbeit längst Realität ist, tragfähige Antworten gibt, dass man Chancen eröffnet und damit verhindert, dass Verlierer produziert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, einen Dialogprozess zu führen, ist gut und schön, ein Weißbuch vorzulegen, ist auch gut und schön, aber das reicht bei weitem nicht aus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Was wir brauchen, sind konkrete Antworten. Wir brauchen Entscheidungen. Wir brauchen gesetzliche Regelungen. Ich will Ihnen das am Beispiel der Arbeitslosenversicherung einmal deutlich machen. Die Zukunft der Arbeit hat längst begonnen. Es gibt doch längst diese unsteten, diese kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse. Die Menschen, die sich darin befinden, zahlen in die Arbeitslosenversicherung ein, fallen aber im Falle der Arbeitslosigkeit direkt in Hartz IV. Das liegt daran, dass Sie die Arbeitslosenversicherung für diese Menschen gerade nicht zukunftsfest gemacht haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Katja Mast [SPD]: Ausbildung und Weiterbildung!) Jeder vierte dieser Erwerbstätigen zahlt ein und bekommt nichts heraus. Das sind inzwischen 580 000 Menschen. Was bieten Sie diesen Menschen mit Ihrer „enormen Gestaltungskraft“ an, Frau Mast? Eine Sonderregelung, durch die im ganzen Jahr 239 Menschen gestützt wurden. Was für ein Bild des Jammers! Was für ein Missverhältnis! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 580 000 Menschen zu 239 Menschen, wo ist da Ihre Gestaltungskraft, Frau Mast, wo ist da Ihr Gestaltungsdialog? Was haben Sie gemacht? Anstatt diese Hürden endlich abzubauen, haben sie die Dauer dieser Regelung für kurzzeitig Beschäftigte, die nichts taugt, einfach verlängert. Herr Kapschack hat sich dafür auch noch gefeiert. Ich finde, das ist wirklich armselig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dabei wissen wir alle, dass sich durch die Digitalisierung diese Formen der Erwerbstätigkeit noch weiter entwickeln werden. Gerade diese Menschen brauchen aber doch mehr und nicht weniger Sicherung. Bilden Sie sich doch nicht ein, dass Sie mit einer solchen Sonderregelung Vertrauen in die Arbeit 4.0 schaffen. Wenn Sie das schon nicht geregelt bekommen, dann bekommen Sie die Gestaltung der Zukunft erst recht nicht geregelt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE] – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Große Worte!) Meine Damen und Herren, ja, die Digitalisierung bietet eine Menge Chancen. Insbesondere Frauen könnten davon profitieren. Darauf hat meine Kollegin Kerstin Andreae hingewiesen; deswegen möchte ich das hier nicht weiter ausführen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin Pothmer, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kapschack zu? (Ralf Kapschack [SPD]: Überraschung!) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gerne. Ralf Kapschack (SPD): Liebe Kollegin Pothmer, erst einmal herzlichen Dank dafür, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich kann mich, ehrlich gesagt, an keine Feier erinnern. Vielleicht waren Sie bei einer Feier, zu der ich nicht eingeladen war. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Das aber nur nebenbei. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass es in den Vorschlägen des Kanzlerkandidaten und der Arbeitsministerin zum Thema „Zugang zum Arbeitslosengeld“ eine deutliche Veränderung zum jetzigen Zustand gibt? Die Rahmenfrist soll nämlich auf drei Jahre erweitert werden. Innerhalb dieser drei Jahre müssen zehn Monate Beschäftigung nachgewiesen werden. Das ist im Vergleich zum gegenwärtigen Zustand eine deutliche Verbesserung und würde – solche Gespräche führen Sie ja auch – vor allem kurzzeitig Beschäftigten zum Beispiel im Kultur- und Medienbereich helfen. (Beifall bei der SPD) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Kapschack, nur um Ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen: Ich habe mich auf eine Pressemitteilung bezogen, die Sie und Ihr Kollege zu der Verlängerung dieser völlig wirkungslosen Sonderregelung abgegeben haben. Darin haben Sie behauptet, dadurch hätten Sie weiteres Vertrauen geschaffen. Ich glaube, Sie haben einfach nur jede Hoffnung begraben. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich wusste nicht, Herr Kapschack, dass hier Wahlkampfversprechen der Grünen zur Debatte stehen. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wahlkampfversprechen nicht der Grünen, der SPD!) Meiner Ansicht nach geht es in dieser Debatte um einen Antrag der Grünen und um das Handeln der Bundesregierung. Ich habe nicht mitbekommen, dass Sie nicht mehr Teil der Bundesregierung sind, sondern inzwischen in der Opposition sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Wir haben den Eindruck schon manchmal! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Manche versuchen, den Eindruck zu erwecken!) Lassen Sie mich jetzt noch etwas zur Weiterbildung sagen, weil Frau Mast dieses Thema in besonderer Weise hervorgehoben hat. Wir wissen alle, dass die Halbwertzeit von Wissen durch die Digitalisierung noch weiter abnehmen wird. Das heißt, dass Weiterbildung für alle, für wirklich alle dringend notwendig ist. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das hat Frau Mast gesagt!) Aber die Hartz-IV-Empfänger – Frau Mast, hören Sie jetzt bitte einmal zu – werden bei Ihnen fast vollständig abgehängt. Sie betonen die Bedeutung der Weiterbildung; aber im SGB II gilt nach wie vor der Vorrang der Vermittlung vor Qualifizierung. (Zuruf der Abg. Katja Mast [SPD]) Diejenigen brauchen Ihrer Meinung nach offensichtlich keine Weiterbildung. Ich frage Sie: Wo bleibt Ihre Weiterbildungsoffensive? Wann wird das Meister-BAföG tatsächlich zu einem Gesetz zur Förderung lebenslangen Lernens umgebaut? (Zuruf der Abg. Katja Mast [SPD]) Nein, Sie sind immer noch im Modus der Sonntagsreden; aber den müssen wir jetzt dringend verlassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wer es in einer ganzen Amtszeit nicht geschafft hat, überzeugende Antworten auf die bereits eingetretenen Veränderungen der Arbeitswelt zu geben – die Zukunft der Arbeit hat bereits begonnen –, der wird kaum das Vertrauen der Menschen dafür gewinnen, (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das ist nämlich der Punkt!) eine so grundlegende Veränderung wie die, die vor uns liegt, zu gestalten. Dieses Vertrauen brauchen wir aber, wenn der Weg in die Digitalisierung und die Zukunft der Arbeit gelingen soll. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Schauen wir mal, wem sie vertrauen werden!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Kai Whittaker für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Kai Whittaker (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Ich nehme diese Debatte nicht als Gestaltungsdebatte wahr, sondern eher als Angstdebatte. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie mal richtig zuhören!) Führen wir uns einmal die Schlagwörter vor Augen, die in dieser Debatte und in vielen anderen Diskussionen benutzt werden: Da geht es um „Ausbeutung“, um „Entgrenzung“, um „Verdichtung von Arbeit“ und um „ständige Erreichbarkeit“. Arbeit 4.0 heißt für die linke Seite des Hauses: vier Ängste und null Lösungen. Das ist ein Lehrstück, wie man den Leuten erst Angst einjagt und sich dann zum Heilsbringer aufschwingt, um sie zu beschützen. Dass die Menschen von links nichts zu erwarten haben, konnte man meiner Meinung nach, liebe Frau Mast, am vergangenen Sonntag erleben. (Lachen der Abg. Katja Mast [SPD]) Das deutsche Silicon Valley liegt definitiv nicht bei Würselen. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh! – Katja Mast [SPD]: Aber auch nicht in Baden-Baden!) Wer das nicht glaubt, dem empfehle ich – das gilt auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer an den Fernsehgeräten –, einfach einmal online zu gehen und sich die Rede Ihres sogenannten Spitzenkandidaten herauszusuchen, den Text herunterzuladen und nach dem Wort „Digitalisierung“ zu fahnden. Wissen Sie, wie oft er es benutzt hat? Ein einziges Mal kommt das Wort vor, und er benutzt es noch nicht einmal im Zusammenhang mit Arbeit 4.0, sondern im Zusammenhang mit dem Breitbandausbau. – Liebe Kollegen von der SPD, herzlich willkommen in der Bundesregierung! Das machen wir seit vier Jahren. Unser Minister Dobrindt hat gerade diese Woche wieder entsprechende Förderbescheide übergeben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein ganz schlechtes Beispiel! – Zurufe von der SPD) Das Schöne an der Digitalisierung ist ja, dass sie Transparenz ermöglicht: Man sieht große Zusammenhänge und sieht, worüber geredet worden ist. Da gibt es die Möglichkeit, sogenannte Wortwolken zu erstellen, und dann sieht man, wo der Schwerpunkt einer Rede lag. Das habe ich natürlich mit der Rede vom vergangenen Sonntag gemacht. Sie kann man auf meiner Facebook-Page sehen; aber ich habe sie auch einmal mitgebracht. Wenn man sich die Worte einmal zusammensucht und daraus einen Satz bildet, dann kommt aus den wichtigsten Wörtern der letzten Rede folgender Satz heraus: Liebe Genossinnen und Genossen, Deutschland hat Menschen. – Ein beeindruckendes Programm für die Zukunft unseres Landes! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Herr Whittaker, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst zu? Kai Whittaker (CDU/CSU): Nein. Ich würde jetzt gerne mit der Rede fortfahren. Meines Erachtens sollten wir hinsichtlich der Digitalisierung drei Dinge feststellen. Erstens. Die Digitalisierung hat doch schon längst angefangen. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Wir sind nicht auf dem CDU-Parteitag!) Die Menschen nehmen das doch nicht als eine Revolution wahr, die kommt, sondern als etwas, in dem wir schon mittendrin sind: Wir buchen unsere Urlaube online, wir bekommen Tickets für die Deutsche Bahn online, wir haben Maschinen, die sich miteinander vernetzen. Wir arbeiten mit dem Laptop von überall aus. Die Firmen haben mehr Wissen über die Kunden und können sich deshalb besser auf sie einstellen. In Zukunft werden Drohnen die Arzneimittel zu den älteren Menschen bringen, und sie müssen nicht mehr den langen Weg zur Apotheke gehen. Aber es bedeutet auch, dass jetzt schon über die Hälfte der Deutschen online arbeitet. So hat es zumindest das Institut der Deutschen Wirtschaft herausgefunden. Es ist auch keine böse Revolution, die da aus Amerika über uns hereinschwappt. Die Menschen haben doch keine Angst davor, weil sie ja tagtäglich mit diesen Themen umgehen. Die Menschen fühlen sich nicht unter Druck gesetzt, sondern sie sind wesentlich produktiver. Das hat übrigens das Bundesarbeitsministerium für das Weißbuch herausgefunden. Die Digitalisierung führt eben auch nicht zu einer Massenverelendung durch Crowd- und Click-Working. Das betrifft die absolute Minderheit. Lediglich 4,2 Prozent in der IT-Wirtschaft arbeitet danach. Die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen sieht, dass die Vorteile die Nachteile überwiegen. Selbst bei den Geringqualifizierten, die ja am ehesten skeptisch gegenüber der Digitalisierung eingestellt sein müssten, sagt über die Hälfte, dass sie sich von der Digitalisierung Positives versprechen und durch sie in ihrer körperlichen Arbeit entlastet werden. – Auch das stammt nicht von mir, sondern wurde vom BMAS festgestellt. Die Menschen in Deutschland sind viel weiter als manch einer hier in diesem Saal. Wir müssen anfangen, diese Debatte als Chance zu begreifen; aber wir werden – das bringt mich zum zweiten Punkt – diese Chance nicht mit den alten Mustern nutzen können. Herr Ernst, ich finde schon, es ist ein falsches Bild, wenn man glaubt, dass es auf der einen Seite den bösen Arbeitgeber gibt, der seine Mitarbeiter wie im 19. Jahrhundert ausbeuten möchte, während auf die andere Seite eventuell der faule Arbeitnehmer gesetzt wird, der Neues blockieren will. Beide Bilder sind Zerrbilder. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das hat auch keiner gesagt!) Es wird in Zukunft nur gemeinsam gehen. Wenn sich diese Menschen eben nicht gemeinsam als Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammentun, dann werden wir noch mehr solche Negativbeispiele wie vor fünf Jahren haben, als Kodak einfach vom Markt gefegt wurde, obwohl es die Digitalkamera erfunden hat. Kodak hat es nicht geschafft, auf die neuen Zeichen der Zeit zu setzen. Wir sollten ebenso nicht den Fehler machen, zu bewerten, was gut oder schlecht ist, sondern wir sollten versuchen, die Dinge zu ermöglichen. Wer sagt denn, dass die Menschen in Zukunft alle sozialversicherungspflichtig arbeiten wollen? Die Mitarbeiter werden in Zukunft nicht nur für einen Arbeitgeber, sondern für mehrere tätig sein, als Dienstleister beim Kunden, in mehreren Betrieben, auf längere Zeit, in gemischten Teams, über viele Länder hinweg. Wir haben in dieser Legislaturperiode die Zeitarbeits- und Werkverträge reformiert, vor allem mit Blick auf diejenigen Branchen, die damit Schindluder getrieben haben, gar keine Frage. Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir uns damit nicht vielleicht auch die eine oder andere Chance für die Zukunft verbaut haben, dieser Entwicklung gerecht zu werden. Der dritte Punkt, den ich anführen möchte, ist, dass die Digitalisierung kein Selbstzweck ist. Vielmehr müssen wir den Menschen erklären, warum wir die Digitalisierung brauchen. Die Antwort lautet eben nicht, dass es darum geht, dass Deutschland in 20 Jahren wirtschaftlich weiterhin so stark ist. Das ist allenfalls das Ergebnis einer guten Politik, die wir heute machen. Die Menschen wollen doch mit ihrer Arbeit etwas bewirken, ihre Umwelt verändern. Das sehen wir beim automatisierten Fahren. Was bedeutet das? Es bedeutet in Zukunft weniger Staus, effizienteres Fahren, weniger Unfälle, also eine bessere Lebensqualität. Wenn die Maschinen sich vernetzen und sich melden, bevor sie kaputtgehen, dann erspart uns das in Zukunft nervenaufreibende Wartezeit, oder wenn wir mit dem 3D-Drucker von zu Hause aus Gegenstände ausdrucken können, dann bedeutet das weniger Warten, weniger Transportkosten, weniger Ressourcenverbrauch. Sprich: Vieles wird für die Menschen erschwinglicher und besser. Wir können diese Dinge nur ermöglichen, wenn wir uns auf zwei Punkte konzentrieren. Der erste Punkt ist: Wir müssen den Menschen mehr zutrauen, was ihre Arbeitszeiten und Arbeitsformen angeht. Ich sehe das in meinem eigenen Freundeskreis; Kollege Lagosky hat es schon angesprochen. Es ist nun einmal der Fall, dass man morgens die Kinder in den Kindergarten bringt und vormittags in der Firma arbeitet. Nachmittags kommt man nach Hause und verbringt Zeit mit der Familie. Nachts wird dann die zweite Arbeitsschicht von zu Hause aus eingelegt. Dadurch kommen die Menschen, auch heute schon, mit unseren Arbeitszeitgesetzen in Bedrängnis. Deshalb: Wenn die Leute so erwachsen sind, eine Entscheidung zu treffen, wo und wie sie arbeiten wollen, dann sollten wir es ihnen auch ermöglichen und nicht verbieten. (Beifall bei der CDU/CSU) Der zweite Punkt ist: Wir müssen den Menschen helfen, diesen Wandel mitzugestalten. Dabei geht es um ihre Qualifikation. Ja, einige Tätigkeiten werden verschwinden; das ist die bittere Wahrheit. Aber dafür entstehen genauso viele, wenn nicht sogar noch mehr neue Jobs: 3D-Druckspezialisten, Webentwickler, Mobile Developer, Scrum Master, das alles sind Jobs, die es vor zehn Jahren noch gar nicht gab. Was braucht man dafür? Wir brauchen digitale Kompetenzen in der Schule. Estland zum Beispiel ist uns da voraus. Dort gibt es bereits das Fach Programmieren. Wir brauchen das digitale Know-how auch in unseren Ausbildungsberufen, weil die duale Ausbildung nun einmal die Stütze unserer mittelständischen Wirtschaft in Deutschland ist. Wir müssen auch unsere Einstellung ändern. Man hat eben nicht mehr mit 18 oder Mitte 20 ausgelernt, sondern es geht immer weiter. Wir müssen Anreize setzen, um die Menschen in Weiterbildung zu bringen. Frau Mast, ich finde, Ihr ALG Q ist großer Quatsch; denn Sie versuchen, die Leute erst dann zu qualifizieren, wenn sie schon arbeitslos sind, (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Stimmt doch gar nicht!) wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Wir müssen vorher ansetzen, wir müssen die Menschen qualifizieren, bevor es so weit kommt. (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Wie billig!) Deshalb sollten wir eher darüber nachdenken, welche steuerlichen Anreize wir geben können, damit die Menschen die Zeit und das Geld haben, sich weiterzubilden. Arbeit 4.0 bedeutet für uns: Vier weitere Jahre mit der Union ergibt null Probleme bei der Digitalisierung. Das ist unsere Agenda 2020 für Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Eine Kurzintervention ist gewünscht von Klaus Ernst. Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Whittaker, Sie haben von Angst gesprochen, davon, man würde den Leuten Angst machen. Wissen Sie, wenn Sie solch eine Debatte über die Zukunft der Arbeit, über Risiken und Chancen der Arbeit 4.0 – das ist das Thema dieser Debatte – dazu nutzen, über die Arbeitslosenversicherung zu reden, dann merke ich, wie groß bei Ihnen die Angst vor dem Vorschlag der SPD ist. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So sensibel kenne ich Sie gar nicht, Herr Ernst!) Mir liegt es ja fern, die SPD zu verteidigen – das ist auch gar nicht mein Job –, aber eines muss ich Ihnen schon sagen: Wenn Ihnen nichts anderes einfällt, als festzustellen, dass Würselen nicht Silicon Valley ist, dann haben Sie zumindest beim Geografieunterricht nicht geschlafen. Das ist ein Punkt, der für Sie spricht, lieber Kollege. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt noch einmal zum Inhalt. Es geht überhaupt nicht darum, dass man nicht möchte, dass Menschen ihre Arbeitszeit selber bestimmen. Nur: Als Assistent der Geschäftsführung zu arbeiten, ist etwas anderes, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) als im Betrieb an einer Maschine zu stehen. Dann merkt man nämlich, dass das, was die Menschen an Arbeitszeiten und an Selbstbestimmung wollen, nichts Neues ist. Das gab es auch früher schon. Auch Frauen haben diese Probleme und sagen: Wir wollen wieder in Vollzeit wechseln. Auch Menschen mit kleinen Kindern sagen: Die Arbeitszeiten sollten nicht so verändert werden, dass wir sie mit der Kindererziehung nicht mehr in Einklang bringen können. Ihr Beispiel, mein Gott! Der eine arbeitet früh, der andere spät. Ich habe auf Betriebsversammlungen erlebt, wie Frauen den Ablauf ihres Familienlebens geschildert haben: Beide arbeiten in Schicht. Der Mann schreibt, wenn er geht, auf einen Zettel: Ich komme heute Abend später. Wenn er morgens aufsteht, ist die Frau wieder weg. Sie hat dann auf den Zettel geschrieben: Ich habe es gemerkt. – Das kann nicht die Zukunft sein, Herr Whittaker. Das müssen wir regeln. Ich habe nichts dagegen, dass wir Freiräume nutzen, auch die, die durch Technik entstehen. Aber bitte schön, wenn Sie verneinen und verleugnen, dass es notwendig ist, dass wir diese Regelungen schaffen – durchaus im Sinne des Antrages der Grünen –, dass wir gesetzliche Regelungen brauchen, damit die Menschen ihre Rechte durchsetzen können, dann muss ich Ihnen sagen: Sie haben von der betrieblichen Realität so viel Ahnung wie eine Kuh vom Fußballspielen. Das muss ich Ihnen wirklich einmal sagen. Ich kann nur an Sie appellieren: Stellen Sie sich der Realität, gehen Sie in einen Betrieb, und reden Sie mit den Leuten! Wenn es uns nicht gelingt, diese Dinge zu regeln, dann werden die Menschen den technischen Möglichkeiten, die künftig üblich sind, unterworfen. Dann gehen die Löhne nach unten, dann gehen die Arbeitszeiten hoch, dann ist das freie Wochenende passé, und immer mehr Leute fragen sich hinterher: Was haben wir eigentlich falsch gemacht? Warum haben wir Berufskrankheiten? Warum sind wir psychisch krank? Warum fallen wir der Allgemeinheit zur Last? – Denn die Allgemeinheit muss diese Menschen über die Gesundheitssysteme versorgen. Das ist das Problem. Ich bitte Sie einfach, die Realität ein wenig zur Kenntnis zu nehmen. (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So viel Arroganz hat man selten!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Herr Whittaker. Kai Whittaker (CDU/CSU): Ich hatte gedacht, Aschermittwoch ist vorbei und die Faschingsreden auch. Aber offensichtlich können Sie sich in Ihren Reden zum Großteil nur mit Sprüchen unter der Gürtellinie profilieren. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, ja! Und jetzt zum Thema, bitte! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Oder mit schlechten Witzen! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie haben doch keinen Gürtel! Sie wissen nicht, was drüber und was drunter ist!) Ich sage Ihnen nur eines: Vor dem Vorschlag der Sozialdemokraten zum ALG Q haben ich und die Unionsfraktion keine Angst. Diese Diskussion führen wir gerne. Menschen, die 30, 40 Jahre lang in einem Betrieb gearbeitet haben – das gilt vor allem für tarifgebundene Betriebe –, müssen eigentlich am wenigsten Angst haben, innerhalb weniger Monate in Hartz IV zu landen. Hier sind nämlich sehr, sehr viele Netze dazwischengeschaltet, auf tariflicher und betrieblicher Ebene und auf der Ebene des Sozialstaates. Diese Menschen werden am ehesten aufgefangen, bevor sie in Hartz IV landen. Tatsächlich etwas tun müssen wir allerdings für Langzeitarbeitslose und alleinerziehende Frauen. Wenn es um diese Menschen geht, können wir diese Debatte gerne führen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, da auch!) Aber die Klientel, die Sie im Blick haben, muss in diesem Land am wenigsten Angst vor Hartz IV haben. Sie versuchen, diesen Menschen Angst einzureden, damit sie Sie nachher wählen. Das ist der Grund, weshalb Sie diese Debatte anstoßen. (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Alles, was Sie haben, ist keine Ahnung! Aber davon haben Sie viel!) Glauben Sie mir: Als Assistent der Geschäftsleitung (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Oh ja!) bin ich sicherlich nicht auf der Fischsuppe dahergeschwommen. Natürlich habe auch ich gesehen, was die Menschen im Betrieb machen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, ja!) Ich habe mich bei meiner Arbeit von Anfang an nicht nur an den Schreibtisch gesetzt, sondern auch an die Maschinen, um den Leuten über die Schulter zu schauen und zu sehen, was sie tun. (Zuruf von der LINKEN: Was für Maschinen waren denn das? Schreibmaschinen?) Ich muss schon sagen: Die betriebliche Wirklichkeit ist eine andere als die, die Sie hier beschreiben. Sie versuchen, sich mit Ihrem alten Klassenkampf aus dem 19. Jahrhundert zu profilieren, weil Sie damit Ihre Existenz sichern können. Aber die Realität ist eine andere. Es geht in Zukunft nur partnerschaftlich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Wenn wir das nicht ermöglichen und diesen beiden nicht zutrauen, über Arbeitszeiten, Arbeitsformen und Gesundheitsschutz neu zu debattieren und entsprechende Regelungen auszuverhandeln, sondern alles von Berlin aus regeln, dann werden wir den Kampf um die Digitalisierung nicht gewinnen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Jetzt hat Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt aber Schluss mit Klassenkampf!) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Danke. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir können ja zu einem Beispiel kommen. Ich habe das Beispiel der deutschen Automobilindustrie herausgesucht, um zu zeigen, wie gravierend die innovativen Brüche unter Arbeit 4.0 in den nächsten zehn Jahren sein werden. Aus der Sicht der Beschäftigten ist klar, dass in diesem Prozess nicht nur Automobilkonzerne und Gewerkschaften, sondern eben auch die Politik eine maßgebliche soziale Verantwortung hat. Die Automobilindustrie stellt in Deutschland die Schlüsselindustrie dar. Laut IG Metall sind in diesem Zweig 2,3 Millionen Menschen direkt und indirekt sogar 9,8 Millionen Menschen beschäftigt. Der Anteil ihres Umsatzes an der deutschen Industrieproduktion betrug 2013  21 Prozent. Im Kern geht es um drei innovative Brüche: Der erste innovative Bruch ist die Einführung der Elektromobilität. Das heißt, es entfallen Komponenten des klassischen Antriebssystems, andere müssen angepasst oder neue entwickelt werden. Es sind also erhebliche Investitionen zu tätigen, und insbesondere die Zulieferer werden die Risiken und Kosten dieser Umstellung zu tragen haben. Die Beschäftigten wiederum stehen vor einem erheblichen Weiterbildungs- und Qualifikationserfordernis. Ein Drittel von ihnen droht nach jetzigen Einschätzungen sogar den Arbeitsplatz zu verlieren. Dagegen muss in sozialer Verantwortung gearbeitet werden. (Beifall bei der LINKEN) Der zweite innovative Bruch ist die Einführung von Fahrerassistenzsystemen oder selbstfahrenden Modellen, für die eine massenhafte Verarbeitung von Daten notwendig ist. Dafür werden leistungsfähige digitale Plattformen als Intermediäre benötigt, und über diese verfügen die Automobilkonzerne heute nicht. Das Auto selbst wird zur Plattform. Es muss mit anderen Fahrzeugen kommunizieren und hat ganz neue Funktionen. Die Konkurrenz der deutschen Automobilkonzerne, beispielsweise in Amerika, ist genau den anderen Weg gegangen. Sie haben ihre eigenen Plattformen für neue Mobilitätskonzepte und neue Mobile genutzt. Wir kennen bereits Googles Self Driving Car, wir wissen, dass Apple an einem iCar arbeitet, Tesla dringt massiv in den Markt, und in den Garagen von Silicon Valley wird an ganz neuen Fahrzeugkonzepten gearbeitet. Ab 2025 sollen eigentlich nur noch Elektromobile und Selbstfahrer verkauft werden. Wenn BMW, Daimler, Audi und VW zukünftig also nicht nur Hardware an Google, Apple und andere Datenkonzerne liefern wollen, dann müssen sie diese Plattform gemeinsam entwickeln. Schließlich gibt es in Europa keine solche Plattform. Drittens. Die Nutzungsmodelle ändern sich. Viele Leute wollen heute gar kein Auto mehr besitzen. Carsharing gehört in diesem Land zum Alltag. Die Ökonomie des Teilens lässt die Nachfrage nach Fahrzeugen, insbesondere in Städten, schon heute deutlich sinken. Auch dadurch drohen Arbeitsplatzverluste. Das heißt, im Prozess „Arbeit 4.0“ muss vorausschauend gehandelt werden. Die Bundesregierung muss mit den Gewerkschaften, den Unternehmen und den Plattformbetreibern neue Modelle zur Beschäftigung und Beschäftigtenqualifikation entwickeln. Da stehen wir hier selbst in der Verantwortung, und dazu gehören dann eben beispielsweise auch branchenbezogene Mindest- bzw. Basishonorare für Selbstständige und Solo-Selbstständige. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn in diesem Umfang menschliche Arbeit in allen Branchen entfällt und mehr und mehr digitale Güter mit anderen ökonomischen Eigenschaften als materielle Güter in die Nutzung drängen, brauchen wir Ideen, wie Sozial-, Sicherungs- und auch Steuersysteme konditioniert und vor allem gestärkt werden. Darüber haben wir hier auch zu diskutieren. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Abschließend: Ja, wir müssen auch darüber reden, dass es in diesem Prozess die Chance gibt, eine geschlechtergerechte Verteilung von Arbeit zu praktizieren. Das sollten wir auch tun. Herr Ernst hat es ja schon gesagt: Es geht um die Arbeitszeit und um neue Arbeitszeitmodelle, aber vor allem um die Sicherung der Beschäftigten. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die digitale Arbeits- und Lebenswelt muss schließlich demokratisch gestaltet werden. Das ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Vor allem müssen wir an dieser Stelle Politik für das Gemeinwohl machen. Unter dem wird es nicht zu machen sein. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Michael Gerdes hat als nächster Redner für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Michael Gerdes (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal: Lieber Kai Whittaker, Martin Schulz bedankt sich bei dir für die gute Werbung. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Nun aber zum Thema „Arbeit 4.0“. Über ein so zentrales Thema, wie die Gestaltung unserer Arbeitswelt, kann man gar nicht oft genug sprechen. Arbeit schafft in vieler Hinsicht Werte, Arbeit sorgt für Teilhabe, Arbeit stiftet Sinn. Das geschieht aber nur dann, wenn die Bedingungen für gute Arbeit erfüllt sind. Andernfalls verlieren wir den Anschluss an die Gesellschaft; sonst macht Erwerbsarbeit krank. Das, was gute Arbeit ausmacht, muss zu Teilen neu definiert werden: So verstehe ich den Dialogprozess „Arbeit 4.0“. Wir werden Arbeit 4.0 nicht aufhalten können, aber wir können Arbeit 4.0 gestalten. Die Herausforderungen, die sich aus der Digitalisierung ergeben, betreffen fast alle Facetten des Arbeitslebens: zum Beispiel das sich rasant verändernde Fachwissen und den Wechsel zwischen abhängiger und selbstständiger Erwerbsarbeit. Mit der Verlagerung von Arbeitszeiten, Arbeitstagen und Arbeitsorten kommen große Herausforderungen auf die Sozialpartner zu. Wie werden die Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften und der Gesundheitsschutz demnächst kontrolliert? Wie wird sich das Verhältnis von Arbeitszeit und Ruhezeit – Stichwort: Work-Life-Balance – künftig verändern? Welchen Einfluss haben Gewerkschaften in der Welt von Arbeit 4.0? – All das muss gründlich durchdacht werden, und als Bergmann und Schichtarbeiter weiß ich, wovon ich rede. Womit ich nicht einverstanden bin, ist der Vorwurf, die Bundesregierung habe ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Gerade beim Thema „Arbeit 4.0“ sind wir unter der Leitung von Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles ein gutes Stück vorangekommen. „Arbeit weiter denken“, das Weißbuch aus dem Arbeitsministerium, welches seit November letzten Jahres vorliegt, stellt konkrete Maßnahmen vor. Insbesondere die Zwischenschritte hin zur Arbeitsversicherung überzeugen mich. Uwe Lagosky hat unser Bildungssystem bereits dargestellt. Das ist allerdings der Istzustand. Um auf die Arbeitswelt von morgen vorzubereiten, haben wir in dieser Legislaturperiode die Verbesserung des Meister-BAföG und das Weiterbildungsstärkungsgesetz umgesetzt. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Lezius [CDU/CSU] und Uwe Lagosky [CDU/CSU]) Das Meister-BAföG schafft Anreize für den beruflichen Aufstieg. Teilnehmer erhalten nunmehr einen einkommensabhängigen Zuschuss zu den Maßnahmekosten und bei Vollzeitmaßnahmen einen Unterhaltszuschuss. Das stärkt vor allem diejenigen, die bereits eine Familie gegründet haben und bisher gezögert haben, den Schritt zum Meister zu wagen. Im Übrigen haben wir eine Weiterbildungsprämie eingeführt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Weiterbildungsstärkungsgesetz richtet sich an die Gruppe von Arbeitnehmern, denen Grundkompetenzen oder ein Berufsabschluss fehlen. Wir schreiben niemanden ab, erst recht nicht, wenn es um grundlegendes Handwerkszeug wie Lesen, Schreiben oder Rechnen geht. Wie stark sich die Arbeit der Zukunft aufgrund der Digitalisierung verändern wird, können wir nicht zu 100 Prozent voraussehen. Aber wir können sagen, dass die Menschen dann gut gewappnet sind, wenn sie sich auf lebenslanges Lernen einstellen und einlassen. Hierzu müssen wir als Staat stetig die Rahmenbedingungen überprüfen. Wir müssen zur Weiterbildung animieren. So gesehen sind das Meister-BAföG und das Weiterbildungsstärkungsgesetz zunächst einmal Teilerfolge. Hier müssen wir noch zulegen. Die Journalistin Ursula Weidenfeld hat die Notwendigkeit der beruflichen Weiterbildung in ihrem Kommentar im Tagesspiegel vom 5. Februar 2017 sehr treffend beschrieben – Zitat –: Lastwagenfahrer und Ärzte, Rechtsanwälte und Sachbearbeiterinnen werden die Erfahrung machen, dass nicht mehr zählt, was sie gelernt haben. Wichtig wird dagegen, ständig dazuzulernen, ganz neu zu lernen, ein neues Berufsfeld zu erobern. Die besten Chancen haben dabei dummerweise diejenigen, die schon obenauf sind. Die Studierten, ... sie haben gelernt, wie man lernt. ... Die anderen, die eher lustlos zur Schule gegangen sind und nach der Lehre genug vom Lernen hatten, werden die ersten echten Opfer der digitalen Revolution. Sie werden ihre Jobs verlieren. Es sei denn, sie ändern sich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen weder Opfer noch Verlierer. Das politische Ziel heißt Befähigung. Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen sich allesamt der Weiterbildung widmen. Bildung ist zentral für unser Leben, egal in welchem Alter. Hier in dieser Debatte steht vor allem die Bildung von Erwachsenen im Fokus. Nach Schule, Ausbildung oder Studium darf auf keinen Fall Schluss sein. Weiterbildung muss alltäglich und selbstverständlich sein. Ähnlich wie bei der Gesundheit zählt die Prävention. Wer rechtzeitig Veränderungen am Arbeitsplatz wahrnimmt, ist besser vorbereitet, wenn er neue Fähigkeiten und neues Wissen braucht. Diese Vorausschau können nur wenige alleine bewältigen. Deshalb halte ich eine strukturierte und professionelle Weiterbildungsberatung und die Erfassung von Kompetenzen für äußerst sinnvoll. (Beifall bei der SPD) Momentan ist die Weiterbildung wie ein Dschungel: intransparente Förderwege, unübersichtliche Angebote. Die Bundesagentur für Arbeit hat an verschiedenen Standorten Pilotprojekte zur Weiterbildungsberatung durchgeführt. Erste Erfahrungen machen Mut. Individuelle Beratung kann den Weg in den Arbeitsmarkt ebnen und beugt Arbeitslosigkeit vor. Auch das Recht zur Weiterbildung muss Teil unserer Überlegung sein. Bildung als Zukunftsinvestition: Das von der SPD vorgeschlagene Arbeitslosengeld Q ist ein weiterer guter Beitrag zur Gestaltung der Arbeitswelt 4.0. (Beifall bei der SPD) Herzlichen Dank. Glück auf! (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin spricht Antje Lezius von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Antje Lezius (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als Union haben uns auf Parteiebene und innerhalb der Fraktion eingehend und schon lange mit dem wichtigen Zukunftsthema „Arbeit 4.0“ befasst. Wir haben hierzu zahlreiche Fachgespräche mit allen beteiligten Akteuren geführt. Dabei hat uns die Frage geleitet, wie Arbeit in Zukunft definiert wird. Das bedeutet auch, die Frage nach dem Sinn der Arbeit zu stellen: Werden wir arbeiten, um zu leben, oder leben wir, um zu arbeiten? In den Veränderungen durch die Digitalisierung sehe ich in erster Linie eine Chance, Herr Ernst, und zwar nicht nur für Arbeitgeber, sondern gerade auch für Arbeitnehmer; eine Chance, die wir alle gemeinsam wahrnehmen und zum Wohle aller gestalten werden. Der digitale Wandel ist dazu da, den Menschen zu dienen, ihnen die Arbeit und das Leben zu erleichtern. Wenn er uns zum Beispiel körperliche Arbeit abnimmt, können wir die freiwerdende Zeit anders organisieren, zum Beispiel in der Pflege, in der intelligente Assistenzsysteme vielen nützen und Freiräume für ein menschlicheres Miteinander schaffen können. Homeoffice-Lösungen oder flexiblere Arbeitszeitmodelle könnten mehr Möglichkeiten für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf schaffen, und in vielen Unternehmen gibt es hierzu bereits Betriebsvereinbarungen, von denen alle profitieren und die gern genutzt werden. Durch die Digitalisierung verändert sich aber nicht nur das Arbeitsleben, sondern auch unser gesamtes Alltagsleben: die Art, wie wir miteinander kommunizieren und in der modernen Welt unseren Alltag organisieren. Menschen werden heute schon in Echtzeit über Kontinente hinweg – ob über E-Mail oder Skype – verbunden. Das, was vor ein paar Jahren noch undenkbar schien, ist heute gelebte Alltagsrealität. Allerdings ist diese Entwicklung nicht für alle einfach; das haben wir schon gehört. Gerade in Gesprächen mit älteren Menschen erfahre ich oft Skepsis darüber, ob alle technischen Neuerungen, die die moderne Welt bereithält, auch wirklich gebraucht werden. Bei Smartphones gibt es zum Beispiel Dutzende von Funktionen, von denen nur wenige genutzt werden. Mit digitaler Technik sind viele Menschen überfordert. Viele wollen sich auch nicht darauf einlassen. Gleichzeitig sind aber mehr ältere Menschen berufstätig als noch vor einigen Jahren, auch jenseits der Rente. Laut Statistischem Bundesamt war im Jahr 2015 jeder siebte 65- bis 70-Jährige erwerbstätig. Diese Zahl hat sich binnen eines Jahrzehnts mehr als verdoppelt auf 225 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte über 65 Jahren und fast 1 Million Minijobber. Das Deutsche Zentrum für Altersfragen stellt dabei erfreulicherweise fest, dass es den meisten arbeitenden Rentnern nicht nur um eine Aufbesserung ihrer Rente geht: Sie wollen weiterarbeiten. Dabei ist es ihnen wichtig, etwas Sinnvolles zu tun und ihre Erfahrungen weiterzugeben. Gleichzeitig ist die digitale Arbeitswelt besonders für Ältere eine große Herausforderung. Es wird viele Umbrüche in gewohnten Berufsbildern geben. Auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer warten neue Anforderungen, nicht nur in der Digitalisierung. Hier wird die berufliche Weiterbildung zunehmend wichtiger. Betriebe sind darauf angewiesen, dass ihre Angestellten sich auf das notwendige lebenslange Lernen auch einlassen. Dabei haben nicht nur die Arbeitnehmer einen Wettbewerbsvorteil, die sich weiterbilden, sondern auch für Arbeitgeber sind gute Weiterbildungsangebote ein Alleinstellungsmerkmal, um Fachkräfte zu gewinnen und an den Betrieb zu binden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Weiterbildung braucht aber von beiden Seiten Zeit, Geld und Initiative. Hier wirken Anreize unserer Ansicht nach besser als gesetzliche Vorgaben. Weiterbildung und Qualifizierung könnten so bei Modellen der Bildungsteilzeit stärker steuerlich entlastet werden. Auch der Einsatz von Lebensarbeitszeitkonten könnte für kleine Betriebe attraktiver gemacht werden. Dabei haben wir als Union auch jene Betriebe im Blick, die nicht tarifgebunden sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Staatliche Weiterbildungsoffensiven werden aber insbesondere von mittelständischen Betrieben oft kritisch wahrgenommen. In zahlreichen Gesprächen habe ich erfahren, dass auch Mitnahmeeffekte durch nicht relevante Weiterbildungsmaßnahmen erwartet werden. Andererseits fürchten besonders kleinere Unternehmen auch, dass die Mitarbeiter während der Fortbildungsmaßnahmen an ihrem Arbeitsplatz fehlen. Eine Möglichkeit, die gerade die Digitalisierung bietet, wäre hier Training on the Job. Arbeitgeber könnten mit den passgenauesten Mitteln der beruflichen Weiterbildung experimentieren. Durch E-Learning könnten sie Zeit und Geld sparen. Uns ist wichtig, dass gerade KMUs Weiterbildungsmöglichkeiten und Qualifizierungsmaßnahmen für ihre Angestellten besser nutzen, und zwar unbürokratisch und übersichtlich. Hier setzen wir auf bessere Vernetzung der an der Weiterbildungsberatung beteiligten Institutionen. Ein Recht auf Homeoffice, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, halte ich weder für rechtlich möglich noch für praktikabel. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum?) Zur Qualifizierung gehört zunächst auch die Ausbildung. Die Berufswahlvorbereitung sollte bereits in den allgemeinen Schulen beginnen. Dazu könnten Betriebspraktika und Projektwochen im Austausch mit der Wirtschaft häufiger angeboten werden. Berufswünsche könnten so besser an die Begabungen des einzelnen Schülers angepasst werden. Die Arbeitsagenturen nehmen ihren gesetzlichen Auftrag dabei in vorbildlicher Weise wahr. In meinem Wahlkreis Bad Kreuznach verfolgt die dortige Arbeitsagentur das Ziel, auf eine möglichst hohe Ausbildungsquote hinzuwirken. Durch Berufsberatung und Netzwerke zu den Schulen, den Kammern und den Betrieben wird viel getan, um jungen Menschen bei der Orientierung zu helfen und sie zu vermitteln und um das duale System der Berufsbildung zu stärken, zum Beispiel durch Ausbildungsbörsen. Im Hinblick auf die berufliche Orientierung halte ich die Einführung eines Schulfachs Wirtschaft für einen großen Schritt in die richtige Richtung. Schüler würden lebensnah und praxisnah wichtige Kompetenzen für das spätere Berufsleben lernen. Darüber hinaus müssen auch Ausbilder immer weiter fortgebildet werden, damit ihr Wissen auf dem neuesten Stand ist. Ich habe selbst eine Ausbildereignungsprüfung abgelegt, und ich habe auch ausgebildet. Ich weiß, dass Wissen veralten kann. Aber gerade in der Ausbildung brauchen wir kontinuierliche Fortbildung und erweiterte Möglichkeiten zur Weiterbildung, damit junge Menschen eine zeitgemäße Ausbildung bekommen. Liebe Kollegen und Kolleginnen der Grünen, es ist nicht alles in Ihrem Antrag übertrieben. Wenn Sie eine Überprüfung der Ausbildungsordnung und bessere Beratung der Betriebe fordern, bin ich ganz bei Ihnen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber schön!) Um die Chancen der Arbeitswelt von morgen zu nutzen, haben wir gesamtgesellschaftlich viel Spielraum, wenn wir den digitalen Veränderungsprozess aktiv mitgestalten. Wir wollen Befürchtungen der Menschen abbauen und sie sowohl schützen als auch unterstützen. Wir als CDU/CSU setzen uns für die Stärkung der Allianz für Aus- und Weiterbildung und die bessere Vernetzung aller beteiligten Akteure in der Weiterbildung ein. Hierfür brauchen wir aufgeschlossene Unternehmen, die Weiterbildung aktiv mit unterstützen. Das lebenslange Lernen sollte aber für jeden selbstverständlich werden. Wir als Union wollen den Prozess der Digitalisierung in unsere soziale Marktwirtschaft einbetten. Uns ist es wichtig, den Wirtschaftsstandort Deutschland so stark zu halten, wie er ist. Deswegen werden wir als Politik mit Maß und Mitte vorgehen und die Rahmenbedingungen so gestalten, dass die Digitalisierung in der Arbeitswelt der Zukunft ein Erfolg wird. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: René Röspel hat als nächster Redner für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) René Röspel (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vielen Dank, dass ich für wenige Minuten die Gelegenheit habe, als Forschungspolitiker zu einem Thema zu sprechen, das seit 150 Jahren das Kernthema der Sozialdemokratie ist, nämlich unter welchen Lebens- und Arbeitsbedingungen Menschen leben und wie wir es schaffen, diese Bedingungen zu verbessern. Immer dann, wenn wir regierungsführend waren, haben wir dieses Thema politisch weiterentwickelt. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Mit Hartz IV! Ja!) – Ich glaube, dass das nicht unbedingt ein Beitrag war, Arbeit zu stärken. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber recht hat er! – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das sieht Martin aber anders!) Aber darüber kann man vielleicht an anderer Stelle noch einmal diskutieren. Wir haben in den 70er-Jahren unter einem Forschungsminister der SPD, Herrn Matthöfer, den Ältere vielleicht noch kennen, als Antwort auf die Herausforderung einer Computerisierungswelle, wie man sie damals noch nicht kannte, ein Programm mit dem Titel „Humanisierung des Arbeitslebens“ eingeführt. Es ging darum, die Lebens- und vor allen Dingen die Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an ihrem Arbeitsplatz zu verbessern, vor allem aus dem Arbeits- und Gesundheitsschutz heraus. Seitdem sind Arbeits- und Gesundheitsschutz auch keine esoterischen Forderungen von Gewerkschaften mehr, sondern etablierter Bestandteil einer sozialen Marktwirtschaft, die auch funktioniert. (Beifall bei der SPD) Das Programm ist übrigens dankenswerterweise von Heinz Riesenhuber unter der Union fortgesetzt worden, aber dann irgendwie versackt. Leider hat Deutschland seine führende Stellung im Bereich Arbeitsforschung verloren. Umso erfreuter sind wir, dass wir in den Koalitionsvertrag hineinverhandeln konnten, dass wir uns unter dem Stichwort „Forschung für die Arbeit von morgen“ wieder damit befassen, welchen Herausforderungen wir in den Bereichen Arbeit, Dienstleistungen, aber auch Produktion in unserer Gesellschaft begegnen werden, um gewappnet zu sein und in einer modernen arbeitsintensiven und wohlstandssichernden Gesellschaft und Arbeitsform weiterzukommen. Seitdem haben wir beispielsweise für den Bereich Arbeits-, Produktions- und Dienstleistungsforschung den Forschungsetat mittlerweile auf 100 Millionen Euro erhöht. Das ist ein wichtiges Signal dafür, sich mit Neuem auseinanderzusetzen und auf Fragen Antworten zu finden. Ich bin sehr dankbar, dass das Arbeitsministerium in eigener Initiative zuerst ein Grünbuch und dann ein Weißbuch vorgestellt hat, in dem es um die Fragestellung geht: Arbeit 4.0, was bedeutet das? Das bedeutet jedenfalls nicht, Arbeitnehmer an neue technische Entwicklungen anzupassen, sondern, Arbeitsplätze und -bedingungen so zu gestalten, dass Menschen in diesem Land weiterhin gesund, zufrieden und glücklich arbeiten können und nicht an ihrer Arbeit kaputtgehen müssen. Dieses Grünbuch ist am Ende eines längeren Prozesses im November 2016 vorgelegt worden. Ich bin froh, dass auch die Grünen im November 2016 den Antrag, über den wir heute diskutieren, erstmalig eingebracht haben. Dort werden einige Punkte aufgeführt, die ich durchaus für sinnvoll halte, zum Beispiel, wenn es um die Arbeitnehmermitbestimmung und den Beschäftigtendatenschutz geht. Vieles im Antrag der Grünen greift aber zu kurz oder fehlt gänzlich. So heißt es dort, Aufgabe der Politik sei, „einen Rahmen zu schaffen, der es ... den Beschäftigten ermöglicht, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten“. Das ist uns zu wenig. Wir wollen Gesellschaft gestalten und immer versuchen, einen Schritt voraus zu sein. Dazu bedarf es übrigens auch einer vernünftigen Forschung. In gewissen Punkten können wir dem Antrag der Grünen nicht zustimmen, weil Dinge fehlen, die für die Zukunft wichtig sind. Wissensintensive Dienstleistungen – wir kümmern uns darum besonders intensiv und haben dazu schon viel auf den Weg gebracht – und personen- bzw. menschennahe Dienstleistungen fehlen komplett. Sicherlich kann man sich für ein Recht auf Homeoffice aussprechen. Aber im Hinblick auf die Diskussion über die Entgrenzung von Arbeit sage ich: Das kann auch ein großer Nachteil im Sinne eines latenten Zwangs sein. Ich stelle mir dabei eine Frau vor – davon werden hauptsächlich Frauen betroffen sein –, die zu Hause sitzt, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau! Mit dem Kind auf dem Schoß!) das Kind auf dem Arm hat und gleichzeitig am Computer Homeoffice macht. Eine solche Entwicklung will ich auf keinen Fall haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das alles muss sehr differenziert betrachtet werden. Noch ein anderer Aspekt. Im Pflegeheim gibt es kein Homeoffice, sondern Nachtschichten. Wenn wir nicht wie Japan – dort ist das selbstverständlich – auf Robotik in der Pflege setzen, sondern die Arbeitsbedingungen für die Pflegenden so gestalten wollen, dass sie trotz Schichtarbeit 20 Jahre in ihrem Beruf durchhalten und dass der menschliche Aspekt in der Pflege erhalten bleibt, dann müssen wir viel tiefer gehen als der Antrag der Grünen. Ich bin ganz froh, dass die Arbeitsministerin Andrea Nahles in die Fußstapfen von Hans Matthöfer tritt und dass wir für eine Humanisierung der Arbeit eintreten. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Stephan Stracke (CDU/CSU): Grüß Gott, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, verändert sich zum Teil von Grund auf. Die Umbrüche sind zum Teil gravierend. Wir stecken schon mitten in diesem Prozess. Maßgeblicher Treiber ist das, worüber wir heute diskutieren, nämlich die Digitalisierung. Sie wird die gegenwärtigen Systeme und Geschäftsmodelle über viele Jahre – vielleicht sogar unumkehrbar – weiterentwickeln. Sie bietet sicherlich ganz neue Möglichkeiten in vielen Bereichen des Lebens. So können ältere Menschen durch Smart-Home-Technologie länger zu Hause leben oder kann das Wort für Gehörlose noch sichtbarer gemacht werden. All das ist möglich. Wir wissen aber noch gar nicht, wie stark die Auswirkungen auf jeden Einzelnen abstrahlen werden. Für die Arbeitswelt werden einige Punkte kennzeichnend sein. Die Arbeit wird flexibler werden. Moderne Kommunikationsmittel ermöglichen, zeitlich und örtlich ungebundener seiner Arbeit nachzugehen. Das ist eine große Chance gerade für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ein familienfreundliches Arbeitsleben ist die Basis für Motivation und Bindung an ein Unternehmen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird für Arbeitnehmer zunehmend zu einem Ausschlusskriterium bei der Entscheidung für oder gegen ein Unternehmen. Des Weiteren wird sich die Bezahlung stärker daran orientieren, welche Arbeitsergebnisse erzielt werden. Die sich verändernden Organisationsstrukturen erfordern, Arbeit verstärkt anlass- und themenbezogen zu organisieren und Teams zusammenzustellen. All das beschreibt die sich durch die Digitalisierung verändernde Arbeitswelt. Gerade das mobile Arbeiten eröffnet Arbeitnehmern die Chance, eine neue Balance zwischen Erwerbsarbeit auf der einen Seite und Familie und Freizeit auf der anderen Seite zu finden, mehr Verantwortung, insbesondere mehr Eigenverantwortung, zu übernehmen, und es eröffnet die Chance, Hierarchien flacher zu gestalten. Das ist doch durchaus attraktiv. Wenn wir endlich von monotoner Arbeit und körperlich belastenden Tätigkeiten durch Assistenzsysteme loskommen, dann hilft das vor allem älteren Arbeitnehmern oder Menschen mit Handicap. Wer nun die schöne alte Welt konservieren will, der wird sicherlich den Anschluss verpassen, der wird die Chance der Digitalisierung nicht nutzen, und dann werden Wertschöpfung und Wohlstand nicht mehr in diesem Maße in Deutschland stattfinden. Deshalb hat die Gesellschaft die Aufgabe, den Wandel nicht hinzunehmen, sondern aktiv zu gestalten. (Beifall bei der CDU/CSU) Die großen Potenziale der Digitalisierung müssen nach Möglichkeit allen Menschen gleichermaßen zugutekommen. Dabei setzen wir auf bewährte Prinzipien: Leistung und Sozialpartnerschaft, Chancengerechtigkeit und Solidarität. Das sind die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Diese bleiben Richtschnur. Wir werden die Digitalisierung sozial gerecht gestalten. Digitalisierte Arbeitswelt braucht starke Sozialpartner, einen fairen Interessensausgleich, und deshalb werden Tarifverträge auch weiterhin eine zentrale Rolle einnehmen. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt mal konkret!) Aber natürlich rufen auch die Unternehmen verstärkt nach Flexibilität. Es ist natürlich etwas daran, Arbeitszeitrecht zu hinterfragen und vorsichtig zu öffnen. Darauf setzt auch das Bundesarbeitsministerium mit Experimentierräumen. Wir könnten da durchaus mutiger sein; aber wir müssen uns immer klar sein: Wir brauchen weiterhin genügend Raum für Familie, für Freizeit und Erholung. Erwerbsarbeit ist wichtig und gut, aber sie ist im Leben nicht alles. (Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deswegen müssen wir darauf achten, dass wir auch genügend Räume für Familie, Erholung und Pausen für Kreativität haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nur dann wird Kreativität entstehen. Wir müssen Räume für individuelle Lösungen eröffnen, für die Unternehmen gleichermaßen wie für die Arbeitnehmer. Das ist unsere große Aufgabe. Ich traue uns zu, dass wir in diesem Rahmen einen fairen Interessensausgleich hinbekommen. Ein zweiter Aspekt: Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit. Je mehr Freiheiten die Menschen haben, desto mehr wird auch der Aspekt der Eigenverantwortung in den Mittelpunkt rücken. Das gilt auch für den Arbeitsschutz. Deswegen müssen wir gerade die Fähigkeit zur Eigenverantwortung stärken. Gute Aus- und Weiterbildung ist mein dritter Punkt. Die duale Berufsausbildung hat sich mit ihrer hohen Anpassungsfähigkeit durchaus bewährt. Sie wird auch bei der Digitalisierung Erfolgsmodell bleiben müssen. Ausbildungsordnungen müssen sicherlich überprüft werden, insbesondere aber muss die digitale Kompetenz gestärkt werden. Ich meine damit die Fähigkeit zur Selbstorganisation jedes Einzelnen, Eigenschaften wie Selbstbestimmung, Verantwortungs- und Sicherheitsbereitschaft, aber auch Zuverlässigkeit. Natürlich müssen wir auch den Grundsatz des lebenslangen Lernens stärker in den Blick nehmen. Die Verantwortung hierfür liegt bei jedem Einzelnen, bei den Arbeitnehmern wie auch bei den Unternehmen selbst. Sie wollen wir in ihrer Eigenverantwortung unterstützen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dabei hilft nicht die Schablone, sondern dabei helfen passgenaue Lösungen. Dafür wollen wir die Stärken der Bundesagentur für Arbeit nutzen. Es gilt, die Unternehmen und die Beschäftigten verstärkt für das Thema Weiterbildung zu motivieren. Die Begleitung der Beschäftigten gerade an den Übergängen und Wechseln im Arbeitsleben ist und bleibt die zentrale Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit, die Beratung und gezielte Förderung. Transparenz bei den Weiterbildungsangeboten zu schaffen, darin sehe ich die zentrale Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit. Sie muss eine Lotsenfunktion haben, aber darf keine staatliche Weiterbildungsbehörde werden. Das genau wird die Bundesagentur für Arbeit nicht sinnvoll ausfüllen können. Die Betriebe, die Unternehmen und jeweils der einzelne Mensch brauchen individuelle Lösungen. Das schaffen wir nicht durch Schablonen und staatliche Behörden. Wir müssen ganz subsidiär bei den Unternehmen ansetzen und diese stärken und weiterentwickeln. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Digitalisierung ist eine große Chance, weil sie vor allem die Menschen mit ihren Fähigkeiten, mit ihren Begabungen in den Mittelpunkt rückt. Genau diese Fähigkeiten und Begabungen als Informations- und Wissensarbeiter gilt es zu stärken. Wir müssen klären, wie wir es schaffen, Informationen stärker zusammenzuführen, Lösungen schnell zu entwickeln. Das hat natürlich Auswirkungen nicht nur auf die Organisation in Betrieben, sondern auch darauf, wie wir miteinander kommunizieren, welche Fähigkeiten wir in der Kommunikationsstruktur und im Kommunikationsverhalten mitbringen. Die Digitalisierung ist eine große Chance für uns, Wertschöpfung in diesem Land zu sichern, zu erhalten und auszubauen, aber auch, mehr Flexibilität gerade im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen. Daran arbeiten wir. Ein herzliches Dankeschön. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner spricht Dr. Hans-Joachim Schabedoth für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle reden von Industrie 4.0, Arbeit 4.0, Schalke 4.0. (Heiterkeit) Bei Schalke 4.0 bin ich mir nicht so sicher, aber die anderen Begriffe stehen für eine Entwicklung, die wir miteinander eher als Chance sehen denn als Risiko. Wer uns zuhört, wird das, glaube ich, als Konsens herausgehört haben. Die vernünftige Perspektive im weiteren Verlauf der Digitalisierung ist nicht die menschenleere Fabrik – darüber sind sich die Fachleute längst einig –, sondern die menschenfreundliche Fertigung. Dabei könnte gute Arbeit von der Ausnahme, die es heute leider noch ist, zur Regel werden. Es eröffnen sich neue Perspektiven – meine Vorredner haben dazu schon viel genannt – für Arbeitszeitverkürzung, für die Humanisierung der Arbeit, für neue Beteiligungschancen, für eine Arbeitsorganisation, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wirklich erleichtert. Es geht auch – davon wollen viele nichts hören – um Chancen für eine bessere Bezahlung. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Richtig! Genau!) Den Wegfall monotoner und gesundheitsbelastender Arbeit wird von uns sicherlich niemand bedauern. Bei der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeit in den Produktions- und Dienstleistungssystemen ist Arbeitslosigkeit keine zwangsläufige Entwicklung. Die Beschäftigten aus der Wirtschaftswunder- und Babyboomerzeit erreichen in den kommenden Jahren ihr Rentenalter. Der vielbeschworene Kollege Roboter könnte hier Lücken füllen. Komplexe Produkte können kostengünstiger hergestellt werden. Das bringt das Out für Outsourcing. Doch solche Fortschritte ergeben sich nicht zwangsläufig; darauf komme ich noch einmal zurück. Nur gut – das entnehme ich dem Antrag der Grünen –, dass ich da keine Nachhilfe geben muss. Sie haben das richtig erkannt: Wir müssen etwas tun. Die gesellschaftlichen und politischen Gestaltungsaufgaben warten. Das betrifft notwendige Veränderungen im Bildungs- und Ausbildungssystem, bei Hochschule und Weiterbildung. Den Schutz vor missbräuchlicher Nutzung von Daten will ich noch einmal hervorheben; das ist die Achillesferse des Fortschritts im Bereich Arbeit 4.0 und Fabrik 4.0. Notwendig sind zudem Investitionen in den Breitbandausbau sowie gesetzliche Regulierungen zur Datensicherheit und zum Erhalt von Netzneutralität. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Völlig unterbelichtet im Antrag der Grünen ist, finde ich, die Herausforderung an die Tarifvertragsparteien. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Lagosky [CDU/CSU]) Die neuen Wertschöpfungsnetzwerke und Geschäftsfelder vergrößern die privatwirtschaftlich organisierte Reichtumsproduktion. Das eröffnet neue einkommens- und finanzpolitische Teilhabechancen, aber auch nicht von allein. In den gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Debatten ist es selbstverständlich, den neu erzielten Zuwachs an produziertem Reichtum so zu verteilen, dass alle etwas davon haben. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Das sollten, meine ich, auch die Grünen stärker rezipieren. Anders als die Grünen glaubt die SPD auch beim Thema Industrie 4.0 und Arbeit 4.0 nicht daran, Gutes könnte man von oben verordnen, etwa wir als Gesetzgeber. Aushandlungsprozesse sind nötig, gerne auch, Herr Whittaker, partnerschaftlich. Aber die Erfahrung sagt: Wenn es im Konsens nicht geht, muss man den Konflikt organisieren. Auch das gehört zu den Prinzipien einer sozialen Marktwirtschaft. Zum Glück sind beim Erarbeiten neuer Verteilungsregeln die Tarifvertragsparteien oftmals kompetenter als die Bundesregierung; das gilt im Übrigen für jede Form ihrer Zusammensetzung. Wir setzen auf den Erhalt und den Ausbau der deutschen Mitbestimmungskultur; denn Entscheidungen im System der Industrie 4.0 überschreiten schon jetzt die herkömmlichen Betriebszuständigkeiten. Es gibt neuen Regelungsbedarf, meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Der Prozess läuft schon und überschreitet den Entscheidungsraum dieser Legislaturperiode und sogar den der nächsten. Kontinuierlich wird es notwendig sein, hier nachzuschärfen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): Ja, ich komme gern mit der Feststellung zum Schluss: Es lohnt sich, darüber intensiver weiter nachzudenken – in jedweder Zusammensetzung des Parlaments und der Regierung. Ich freue mich darauf. (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, ihr macht nichts mehr!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Ende dieser Debatte zum Thema „Arbeit 4.0“ – dazu liegt ein Antrag der Grünen vor – möchte ich mit einem Sprichwort anfangen: In der Kürze liegt die Würze. – Oft stimmt das, aber bei diesem Antrag der Grünen kann ich das leider nicht sehen. Auf drei Seiten haben Sie versucht, zusammenzufassen, wie Arbeit 4.0 in der Zukunft gestaltet werden soll. Aber Ihr Antrag – ich kann es nicht anders sagen – ist noch unzureichend. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es ist wenigstens einer! Von euch kommt gar nichts!) Ich sage Ihnen auch, woran Ihr Antrag krankt. Neue Technologien verändern unsere Gesellschaft; darüber sind wir uns ganz einig. Aber wie diese Veränderungen aussehen, das ist nicht in Stein gemeißelt. Hier können und müssen wir gestalten; das hat die Debatte gezeigt. Herr Kollege Whittaker – wo ist er denn überhaupt? nicht mehr da –, ich jedenfalls stehe nicht dafür, dass wir in Deutschland amerikanische Verhältnisse einführen. Das wollen wir als Sozialdemokraten nicht. (Beifall bei der SPD) Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte über Digitalisierung. Deshalb ist es so wichtig, dass der Arbeit-4.0-Prozess, den Frau Ministerin Nahles angestoßen hat, in ganzer Breite diskutiert wird. Dabei werden die Chancen genauso aufgezeigt wie die Veränderungen, die zu Konflikten führen; das haben wir schon besprochen. Dazu muss ich Ihnen von den Grünen sagen: Sie gehen diesem Konflikt mit Ihrem Antrag nicht auf den Grund, sondern aus dem Weg. Sie leisten nicht, was die Überschrift sagt. Sie gestalten nicht, sondern zeigen punktuell auf, wo man Anpassungen vornehmen kann. Aber das, meine Damen und Herren, reicht gerade nicht. (Beifall bei der SPD) Ich mache das einmal an Beispielen fest, die heute noch nicht genannt worden sind: Mein Kollege Röspel hat auf die Betriebsräte hingewiesen und darauf, dass Sie ihnen mehr Befugnisse im Arbeitsschutz einräumen wollen. Gut – aber nur im Prinzip. Ihre Lösung ignoriert einfach, dass wir ein Problem bei der Mitbestimmung haben: Die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die durch Betriebsräte vertreten werden, sinkt stetig. Gerade in den Beschäftigungsformen der digitalen Arbeitswelt haben wir zunehmend Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nicht vertreten sind. Dafür bieten Sie keine Lösung an. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das war doch Ihre Aufgabe! Sie regieren doch!) Sie stellen zu Recht fest, dass neben den Anforderungen auch die Formen der Beschäftigung mit der Digitalisierung eine Änderung erfahren. Sie schreiben, dass die Grenzen zwischen abhängiger und selbstständiger Tätigkeit verschwimmen. Richtig. Das haben Sie alles sehr schön dargestellt. Aber hinter dieser Entwicklung verbirgt sich doch nicht nur eine freiwillige Selbstständigkeit. Dazu sagen Sie kein Wort. Die Unternehmen, meine Damen und Herren, organisieren sich zunehmend anders. In verschiedenen Branchen arbeiten immer weniger festangestellte Arbeitnehmer gemeinsam mit Befristeten, Ausgelagerten und Leiharbeitern sowie mit Menschen mit Werkverträgen zusammen. Übrigens ist es so: Im Bereich des Arbeitslosengeldes II haben wir – insofern haben wir ja eine Antwort auf etwas gegeben, das wir schuldig geblieben waren – die Weiterbildungsprämie eingeführt, die bei einem Zwischen- oder Abschlusszeugnis gezahlt wird. (Beifall bei der SPD) Und was noch viel wichtiger ist: Wir haben eine weitere Verbesserung hinbekommen. Wer jetzt im Arbeitslosengeld II ist und einen Ausbildungsvertrag hat, dem wird nicht, wie es bisher der Fall war, automatisch das Arbeitslosgengeld II gekürzt. Das ist eine Errungenschaft, auf die ich auch einmal hinweisen möchte. (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Digitalisierung führt in Bezug auf die Arbeitsplätze zu einer immer weiter gehenden Forcierung, und wir wissen eigentlich nicht, wann die Spitze erreicht sein wird. Wir wissen nicht, wo das wirklich hinführt. Mein Sohn ist ein hochspezialisierter IT-Techniker und Programmierer. Er arbeitet von zu Hause aus und findet das toll; aber das gilt doch nicht für alle. Gilt das denn auch für den selbstständigen Paketboten, der immer weiter unter Druck gerät? Gilt das für den Schichtarbeiter oder für die Servicekraft im Hotel? Die kann das doch gar nicht mehr aushalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben über Jahre beobachtet, wie Lohndrückerei durch Minijobs, Leiharbeit und Werkverträge zur Normalität erhoben worden ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin, ich muss auch Sie bitten, zum Schluss zu kommen. Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Ich komme sofort zum Schluss. – Im Weißbuch „Arbeiten 4.0“ steht, dass wir bei aller Notwendigkeit der Flexibilisierung eine systematische Verlagerung der Risiken und der Verantwortung auf Arbeitnehmer nicht dulden können. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, die Chancen zu nutzen. Dafür brauchen wir aber einen Rahmen; wir brauchen eine Grundlage aus dem Weißbuch bzw. Grünbuch. Das fehlt in Ihrem Antrag. Da haben Sie noch nachzubessern. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Das war aber, wenn ich das sagen darf, nicht ein „zügig zum Schluss kommen“. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ich entschuldige mich!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will aus gegebenem Anlass noch einen kleinen Hinweis geben: Es gehört zur guten Debattenkultur in diesem Haus, dem Deutschen Bundestag, dass die Redner einer Debatte während der gesamten Debatte anwesend sind. Ich möchte einfach nur noch einmal daran erinnern. Das gilt für alle Kolleginnen und Kollegen. Manchmal gibt es einen wichtigen Grund, dass man nicht anwesend sein kann. Das ist, denke ich, akzeptabel. Man teilt das dann den Kolleginnen und Kollegen aber mit, und dann wird es auch akzeptiert. Ich bitte einfach, das in Zukunft zu berücksichtigen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/10254 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht Drucksache 18/11546 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Wenn es dazu Widerspruch gibt, dann müsste der jetzt vorgebracht werden. – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der Aussprache hat Dr. Thomas de Maizière, der Bundesminister des Innern, das Wort für die Bundesregierung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein schnelles Asylverfahren und eine schnelle Rückführung sind wichtige Voraussetzungen für die Akzeptanz des Asylrechts in Deutschland. Dass ich mit einem Zitat des Kollegen Oppermann beginne, wird Sie vielleicht überraschen; (Zurufe von der SPD: Nein!) aber wo es Einigkeit gibt, sollte man das auch sagen. Ich teile seine Aussage ausdrücklich auch, wenn es um die Auffassung zu Aufnahmeeinrichtungen außerhalb Europas geht, zumal er dort meine Position übernommen hat. (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er ist freier Abgeordneter!) Ich weiß, dass das nicht ungeteilte Zustimmung in der Sozialdemokratie findet. Meine Zustimmung findet es aber. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit dem Gesetz, das ich hiermit einbringe, werden, wie der Kollege Oppermann völlig zu Recht angemerkt hat, Beschlüsse umgesetzt, die wir am 9. Februar dieses Jahres gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Länder getroffen haben. Damit werden wichtige Konsequenzen auch für das Aufenthaltsrecht gezogen – auch aus dem Fall Amri, also dem Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 in Berlin. Unser Rechtsstaat lebt davon, dass rechtsstaatliche Verfahren durchgeführt werden, dass diese gerichtlich überprüft werden können und dass getroffene Entscheidungen auch durchgesetzt werden. Das gilt ganz allgemein und in der Flüchtlingspolitik ganz besonders. Unsere Flüchtlingspolitik beruht darauf, in einem rechtsstaatlichen Verfahren festzustellen, ob wegen der Verhältnisse im Herkunftsstaat oder aus persönlichen Gründen ein Schutzbedürfnis für den Aufenthalt in Deutschland besteht. Sie beruht darauf, dass diejenigen Schutz erfahren und integriert werden, die wirklich schutzbedürftig sind. Ob ein Asylverfahren mit einem positiven oder einem negativen Ergebnis endet, das muss am Ende aber einen Unterschied machen, und zwar hinsichtlich der tatsächlichen Bleibeperspektive. Aufenthaltsrechtliche Regelungen sind sinnlos, wenn sie am Ende gar keine Konsequenzen haben. Deshalb: Ja zu guter Integration der Schutzbedürftigen und Ja zur Rückkehr der Nichtschutzbedürftigen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Sebastian Hartmann [SPD]) Rückkehr und Integration sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, und beide Seiten nehmen wir ernst. Ein Beispiel: Allein in diesem Jahr werden wir über 400 000 Menschen den Besuch eines Integrationskurses ermöglichen, und gleichzeitig werden wir die Zahl derjenigen erhöhen und erhöhen müssen, die freiwillig in ihr Herkunftsland zurückkehren oder abgeschoben werden. Wir haben schon einige Gesetzesänderungen im Bundestag beschlossen, um Vollzugsdefizite bei der Aufenthaltsbeendigung zu beseitigen, etwa noch im Jahre 2015 mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, mit den Regelungen zur Einstufung der Länder des Westbalkans als sichere Herkunftsstaaten, mit der Abschaffung der Ankündigung von Abschiebungen oder mit der Pflicht zum besseren Nachweis medizinischer Abschiebehindernisse im sogenannten Asylpaket II. Diese Maßnahmen greifen auch. Die Zahl der freiwilligen Rückführungen und Abschiebungen steigt. Im vergangenen Jahr haben rund 55 000 abgelehnte Asylbewerber Deutschland freiwillig verlassen, mehr als 25 000 wurden abgeschoben. Das ist ein Zuwachs von etwa 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr; das ist gut. Auch das Verhältnis von freiwilligen Rückführungen zu Abschiebungen ist gut. Wir wollen diese Entwicklung aber noch besser machen, insbesondere weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jetzt die Altfälle abarbeitet und pro Monat 60 000 bis 70 000 Entscheidungen fällt. Das heißt: Die Zahl derjenigen, die integriert werden, steigt ebenso wie die Zahl derjenigen, die unser Land wieder verlassen müssen. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist dafür ein wichtiger Beitrag. Er fußt auf drei Säulen: erstens Identität besser feststellen, zweitens Abschiebung effektiver durchsetzen und drittens gefährliche Ausreisepflichtige besser überwachen. Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs stehen zum einen die ausreisepflichtige Menschen, die über ihre Identität oder ihre Staatsangehörigkeit täuschen, die hier nicht zur Aufklärung über sich selbst beitragen, die ihre Mitwirkung bei der Rückführung verweigern. Meine Damen und Herren, ich finde es nicht zu viel verlangt, wenn man gegenüber unseren Behörden seinen Namen und sein Herkunftsland korrekt angibt, wenn man von unserem Land Schutz haben möchte. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wenn das nicht so ist, dann muss das eben auch Konsequenzen haben. Zum anderen betrifft der Gesetzentwurf diejenigen, von denen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht. In einem Rechtsstaat können wir es nicht hinnehmen, dass Asylbewerber scheinbar sanktionslos und nach Belieben verschiedene Namen und Staatsangehörigkeiten angeben, keine brauchbaren Auskünfte geben und darauf hoffen, dass die Behörden auch bei den Herkunftsstaaten bei der Beschaffung von Papieren nicht weiterkommen. Das ändern wir. Auch in Zweifelsfällen und bei mangelnder Kooperation werden wir Identität und Herkunftsland in Zukunft besser aufklären. Dazu nutzen wir alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten, am liebsten Ausweise und Reisedokumente, die mitgebracht werden, aus denen die Identität und die Heimatländer hervorgehen. Fehlen diese, lassen aber Smartphones und Tablets Schlussfolgerungen über die Herkunft zu, dann ist es weder übertrieben noch unangemessen, hierüber Erkenntnisse über die Identität zu erlangen. Das ist nur vernünftig und auch fair; denn sonst würden nur die weiterkommen, die am besten verschleiern. (Beifall bei der CDU/CSU) Im Übrigen haben die Ausländerbehörden bereits ein solches Recht zum Auslesen von Datenträgern zur Identitätsbestimmung. Mit diesem Gesetz versetzen wir nun das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in die gleiche Lage. Dabei handelt es sich nicht, um gleich einem möglichen Debattenbeitrag vorzubeugen, um eine Telekommunikationsüberwachung, sondern um eine genauso offene Maßnahme, als würde an der Grenze ein Koffer in Augenschein genommen. Bevor jetzt reflexhaft aufgeschrien wird: Auch in einem Koffer können sich Gegenstände befinden, aus denen auf die private Lebensgestaltung Rückschlüsse gezogen werden können. Trotzdem hat niemand etwas dagegen, wenn in bestimmten Fällen ein Koffer an der Grenze geöffnet wird. Im Übrigen sieht das Gesetz zur Wahrung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung weitreichende Schutzvorrichtungen vor. Das ist auch richtig so. Der Gesetzentwurf enthält weitere Regelungen zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht. Ausreisepflichtige, die über ihre Identität und Staatsangehörigkeit getäuscht oder ihre Mitwirkung bei der Rückführung verweigert haben, sollen sich fortan nur noch innerhalb des Bezirks der jeweiligen Ausländerbehörde aufhalten dürfen. Wir nennen das eine verschärfte Residenzpflicht. Wir ermöglichen künftig auch dann eine Abschiebehaft, wenn nicht gesichert ist, dass vollziehbar Ausreisepflichtige binnen drei Monaten abgeschoben werden können. Auch das ist eine Konsequenz aus dem Fall Amri. Man kann lange darüber diskutieren, ob man trotzdem hätte versuchen sollen, spätestens im Oktober, nachdem die tunesische Regierung dem Verbindungsbeamten der Bundespolizei mitgeteilt hat, dass es sich um einen Tunesier handelt, einen Abschiebehaftantrag zu stellen. Darüber wird diskutiert. Wir werden auch noch entsprechende Berichte bekommen und diese hier diskutieren. Klar ist, egal wie man diesen Fall bewertet: Es ist wichtig und eine Erleichterung, die Dreimonatspflicht aufzuheben, damit man in Zukunft strittige Fälle nicht mehr diskutieren muss. Wir verlängern die Höchstdauer des Ausreisegewahrsams. Bisher wurde das Instrument zur Sicherung der Abschiebung nur zögerlich genutzt, weil die Frist von vier Tagen zu kurz ist. In der Koalition konnten wir uns nun auf zehn Tage einigen. Schließlich verbessern wir das Instrumentarium zur Kontrolle Ausreisepflichtiger, von denen eine besondere Gefährdung ausgeht. Ihr Aufenthalt kann künftig durch sogenannte elektronische Fußfesseln überwacht werden, wenn das zur Gefahrenabwehr notwendig ist. Wir wissen sehr wohl, dass die Fußfessel kein Allheilmittel ist – niemand hat das behauptet –; aber es ist ein zusätzliches wirksames Mittel, um Gefahren von der Bevölkerung abzuwenden. Deswegen wollen wir darauf nicht verzichten und diese Möglichkeit einführen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, es ist für alle Beteiligten von Vorteil, wenn Zwangsmaßnahmen gar nicht erst ergriffen werden müssen. Vorrang hat immer die freiwillige Ausreise. Dafür haben wir mit dem Programm „StarthilfePlus“ einen zusätzlichen Anreiz geschaffen. Der Bund stellt hierfür in diesem Jahr zusätzliche 40 Millionen Euro zur Verfügung. Mit der neuen Zentralstelle zur Unterstützung der Rückführung, einer gemeinsamen Stelle von Bund und Ländern, verbessern wir auch die Bund-Länder-Zusammenarbeit. Ich habe sie vor kurzem eröffnet; ab Mai wird sie voll einsatzfähig sein. Mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf bringen wir erhebliche gesetzliche Verbesserungen auf den Weg, die um praktische Verbesserungen ergänzt werden müssen. Allen ausreisepflichtigen Gefährdern sage ich deutlich: Die Offenheit und Liberalität, die unser Land lebens- und liebenswert machen, leisten wir uns gerade deshalb, weil wir einen starken Staat haben, der Angriffe auf uns nicht hinnimmt. Die Offenheit gilt nicht für diejenigen, die unsere Offenheit frontal angreifen oder unsere Verfahren wissentlich auszutricksen versuchen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir sind und bleiben freundlich und offen, aber wir sind und bleiben aufmerksam und handlungsfähig, und wir setzen das Aufenthaltsrecht auch durch – auch wenn es umstritten ist, wenn es wehtut. Es ist erforderlich. Es ist die andere Seite der Medaille der Flüchtlingspolitik. Integration und Ausreise sind zwei Seiten einer Medaille. Ich bitte um zügige Beratung dieses Gesetzentwurfs. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Petra Pau hat als nächste Rednerin das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Petra Pau (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einführend einen Gesetzentwurf der Bundesregierung. Er trägt den Titel „Entwurf eines Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“. Die Linke hätte sich gewünscht, dass die Bundesregierung mit demselben Eifer ein Gesetz zur besseren Integration von Schutzsuchenden vorgelegt hätte. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber genau darum geht es heute nicht. Ja, es gab im Jahr 2016 nicht nur die Beratungen, sondern auch den Beschluss zu einem Gesetz zur Integration, aber es war und ist halbherzig; es schloss und schließt viele Geflüchtete aus statt ein. Das Gesetz, um das es heute geht, bedient vor allem eine allgemeine Abschiebestimmung. Damit befördert es auch eine feindliche Stimmung gegenüber den Schutzsuchenden. Das beginnt damit, dass die Bundesregierung wiederholt mit überzogenen und falschen Zahlen über Ausreisepflichtige agiert. Ich empfehle hier die Stellungnahme des Paritätischen Gesamtverbandes, der uns heute zu dieser Gesetzesberatung den Hinweis gegeben und ins Stammbuch geschrieben hat, dass angesichts der Rekordanerkennungsquoten im Asylverfahren – 2016 betrug die bereinigte Schutzquote 71,4 Prozent – die aktuelle Herausforderung Schutzgewährung und Integration und nicht Ausgrenzung und Abschiebung lautet. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie ahnen es: Die Linke muss den Entwurf in seiner jetzigen Fassung ablehnen. Nun liegen zum Gesetzentwurf zahlreiche Stellungnahmen unter anderem vom Paritätischen Gesamtverband, von Pro Asyl, der Diakonie Deutschland und anderen vor, also von Verbänden, die über eine ausgewiesene rechtliche und auch sachliche Kompetenz verfügen. Entsprechend kritisch fallen auch deren Urteile aus. Das beginnt übrigens schon bei den Fristen, die zur Stellungnahme eingeräumt wurden – Respekt vor den Erfahrungsträgern sieht anders aus. Aber die Kritik in der Sache wiegt noch viel schwerer. Ganz verkürzt: Mit dem Gesetzentwurf werden Tore geöffnet, um mehr abgelehnte Asylbewerber als bislang ihrer Freiheit zu berauben und sie länger in Abschiebehaft zu nehmen. Als Gründe werden nach wie vor rechtlich unbestimmte Begriffe wie „Gefährder“ bemüht. Das halten wir für genauso fragwürdig wie die Tatsache, dass in anderen Debatten „sichere Herkunftsländer“ je nach Gusto bestimmt werden. (Beifall bei der LINKEN) Mit unangekündigten Abschiebungen nach über einjähriger Duldung werden Betroffenen obendrein Rechtsmittel – etwa das Rechtsmittel eines Widerspruchs – geraubt, die ihnen eigentlich zustehen. (Rüdiger Veit [SPD]: Das stimmt leider!) Der nächste Kritikpunkt: Hier wird Asylbewerbern ihre Würde genommen. Hinzu kommt der Eingriff in verbriefte Bürgerrechte, etwa durch das Auslesen ihrer Handys ohne jeden Strafverdacht und richterliche Anordnung. Herr Minister, Ihr Bild vom Koffer, der an der Grenze kontrolliert wird, trägt da nicht. Ich weiß ja nicht, wie Sie es halten; aber ich pflege weder in meinem Koffer noch in meiner Reisetasche meine ganze private Korrespondenz oder meine intimsten Daten mit mir herumzutragen. Aber heute ist es so, dass viele von uns ebendiese besonders geschützten Daten auf ihren Handys, Tablets oder wo auch immer archiviert haben. Dieses Bild trägt also in keiner Weise. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Damit legt sich der Gesetzentwurf auch mehrfach mit Urteilen des Bundesverfassungsgerichts an. Das betrifft hohe Hafthürden ebenso wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Paritätische Gesamtverband moniert: Er „vermischt in unzulässiger Weise straf- sowie polizei- und ordnungsrechtliche mit aufenthaltsrechtlichen Aspekten“. Auch dieser Kritik schließt sich die Linke an. Hinzu kommt ein grundsätzliches Problem. Ein Drittel aller Schutzsuchenden sind unter 18 Jahre alt. Viele von ihnen leben auch hierzulande unter Bedingungen, die weder kindgerecht noch integrationsfördernd sind. Das stellte UNICEF in einer gerade erst veröffentlichten Studie fest. Der nun vorliegende Gesetzentwurf, wenn er denn in die Tat umgesetzt würde, verschärft die Probleme, anstatt dafür zu sorgen, dass die Menschen so schnell wie möglich dezentral untergebracht werden. Auch das ist so nicht hinzunehmen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein Schlussgedanke für heute: Etliche Kommentatoren bezeichnen den vorliegenden Gesetzentwurf als „Lex Amri“. Sie spielen damit auf den schlimmen Terrorakt auf dem Berliner Weihnachtsmarkt und den Täter an. Und sie belegen zugleich, dass die jetzt vorgesehenen Regelungen eben nicht verhindern, was Sie vermeintlich vorgeben zu verhindern. Vielmehr werden die Geflüchteten unter Generalverdacht gestellt. Ich halte das für nicht rechtsstaatlich und für würdelos. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Dr. Lars Castellucci spricht jetzt für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Lars Castellucci (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede Herrn Oppermann zitiert. Ich wollte zu Beginn meiner Rede eigentlich Herrn Mayer zitieren, aber stattdessen frage ich als Erstes Herrn Gutting, ob die Farbe seiner Jacke ein politisches Statement ist. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Das beschäftigt mich gerade irgendwie mehr. Vielleicht schwimmen Ihnen ja so langsam die Felle davon. (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Sonst haben Sie keine Probleme?) Das ist mir nur aufgefallen. Herr Mayer, Sie haben der Presse heute Morgen schon mitgeteilt, dass Sie für eine härtere Gangart bei Abschiebungen sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber wenn ich mir die entsprechende Statistik aus Ihrem Heimatland anschaue, dann fällt mir auf, dass die Zahl der Abschiebungen in Bayern im letzten Jahr gesunken ist. (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Kein Land schiebt so viel ab wie Bayern!) Der bayrische Löwe startet mal wieder mit einem Sprung und landet als Bettvorleger. Was ich besonders interessant fand: Der bayerische Innenminister Herrmann zieht trotzdem eine positive Bilanz. Ich finde das großartig. Das gibt es wirklich nur bei der CSU. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Finden Sie das denn richtig?) Zurück zum Ernst, der dieser Angelegenheit angemessen ist. Es gibt Menschen, die hierbleiben dürfen, und es gibt Menschen, die nicht hierbleiben dürfen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Dann müssen sie abgeschoben werden!) Wenn diejenigen, die nicht hierbleiben dürfen, trotzdem hierbleiben, (Zuruf von der CDU/CSU: Dann stimmt was nicht!) dann zeigt das, dass unser Rechtsstaat nicht funktioniert. Deswegen müssen wir Ausreisen durchsetzen, wenn die Pflicht dazu besteht. (Zuruf von der CDU/CSU: Schleswig-Holstein zum Beispiel!) Ich führe bei mir im Wahlkreis hin und wieder sogenannte Wohnzimmergespräche. In den letzten Monaten ist ein Satz immer häufiger gefallen. Er lautete: Der Rechtsstaat muss für alle gelten. – Die Menschen sagen: Bei mir werden Steuern und Abgaben abgezogen, wenn ich über eine rote Ampel fahre, muss ich zahlen, usw. Und sie fragen mich: Wie kann das sein, dass Menschen einfach über die Grenze kommen? Oder: Wie kann es sein, dass Menschen, die hier sind, aber nicht hier sein dürfen, trotzdem hierbleiben können? Ich glaube, dass wir den Rechtsstaat in Gefahr bringen, wenn wir nicht für klare Verhältnisse sorgen. Deshalb: Wer Ausreisen nicht durchsetzen will, der kann das Asylrecht auch gleich abschaffen; denn das eine bedingt das andere. (Beifall der Abg. Dr. Silke Launert [CDU/CSU]) Ich kämpfe für das Asylrecht. Deswegen finde ich: Abschiebungen gehören dazu. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Warum gelingen Abschiebungen nicht? Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen, und einer ist, dass die Identität der betreffenden Personen nicht festgestellt werden kann. Ja, es ist so: Viele, die zu uns kommen, besitzen keine Papiere. Das ist ihnen vielfach gar nicht vorzuwerfen. Es kann sein, dass sie die Papiere abgeben mussten, weil die Schleuser es von ihnen verlangt haben. Die abgenommenen Papiere werden so zu den gefälschten Papieren der nächsten Flüchtlinge, die wiederum von diesen Schleusern abhängen. So entsteht ein neues Geschäft. Dass wir keine legalen und sicheren Zugangswege über sogenannte Kontingente eröffnen – darüber haben wir uns häufiger ausgetauscht –, ist ein Teil der Misere, die zu diesen Geschäften beiträgt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Aussage, es könne nicht sein, dass einer ohne Papiere, aber mit Handy kommt, zeugt – das muss ich leider sagen – nicht von besonderer Kenntnis; denn man kann sich ohne Papiere auf die Reise machen, ohne Handy aber nicht. Es geht darum: Man kann hier ohne Papiere ankommen; aber von demjenigen, der hier Hilfe erwartet oder auch nur erhofft, können wir erwarten, dass er mitwirkt an der Feststellung seiner Identität. Wenn jemand keine Papiere hat, aber ein Handy, dann muss man im Zweifel nach Ausschöpfung aller anderen Mittel, nach dem Interview und nach Hinzuziehung von Experten, auch die Handydaten nutzen können. Ich glaube, das ist nicht nur vertretbar, sondern auch geboten. Wir haben ein Recht darauf, zu wissen, wer bei uns ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nun wird von verschiedenen Seiten Kritik an diesem Gesetzentwurf laut, unter anderem daran, dass wir vorsehen, dass Menschen länger in den Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben sollen. Das bringt mich zu der Frage, wie es um die Verfahren bestellt ist. Sehr geehrter Herr de Maizière und verehrte Kolleginnen und Kollegen, bei diesem Thema platzt mir langsam der Kragen. Es ist nun einmal so, dass man die Leute nicht abschieben kann, bevor das Verfahren abgeschlossen ist. So wird kein Schuh draus. Wir haben bereits im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir eine Verfahrensdauer von drei Monaten anstreben. Im letzten Jahr wurde uns jedes Vierteljahr von Ihnen und vom Bundesamt auf die Frage, ob alle Mitarbeiter an Bord seien, gesagt: Ja, das werden wir bis zum Ende des Quartals schaffen. – Auf die Frage, ob die liegengebliebenen Verfahren abgearbeitet sind, wurde gesagt: Ja, das werden wir bis zum Ende des Quartals schaffen. – Und auf die Frage, ob die Verfahren jetzt durchschnittlich drei Monate dauern, wurde gesagt: Das werden wir bis zum Ende des Quartals schaffen. – Jetzt erhalten wir die Asylgeschäftsstatistik, in der von einem Rückgang der Antragszahlen um 71,5 Prozent und 333 000 anhängigen Verfahren – Stand Februar – die Rede ist. Sehr geehrter Herr Minister, das kann so wirklich nicht bleiben. Dieser Gesetzentwurf erweckt mal wieder den Eindruck, als seien die Leute, die zu uns kommen, schuld an allen Problemen, weil sie täuschen, tricksen und sich nicht richtig verhalten. Wir müssen diese Verfahren in Ordnung bringen. Das ist der Dreh- und Angelpunkt. Nur dann können auch die Abschiebungen funktionieren. (Beifall bei der SPD) Vernünftige Verfahren heißt, dass wir eine angemessene Verfahrensdauer brauchen, und zwar nicht gemessen zwischen Beginn und Ende des Verfahrens, sondern ab dem Zeitpunkt, zu dem die Leute über die Grenze kommen. Wir müssen die Rechtsberatung in die Verfahren integrieren. Stand letztes Jahr hatten wir 150 000 bei den Gerichten anhängige Verfahren. Das ist doch kein Zustand. Das führt doch zu immer weiteren Verzögerungen. Ich bin dafür – jetzt komme ich zur Kritik der Verbände –, dass die Menschen so lange in den Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben, solange ihr Verfahren läuft, und nur verteilt werden, wenn klar ist, dass sie hier eine Bleibeperspektive haben. Alles andere macht doch gar keinen Sinn. Die Menschen reißen sich ein Bein aus, werden Patinnen und Paten, sorgen für Wohnungen, sorgen für Ausbildungsplätze, kümmern sich darum, dass die Integration vor Ort funktioniert, und rums werden die Leute woandershin verteilt oder müssen das Land wieder verlassen. Das ist nicht sinnvoll. Deswegen ist es vernünftig, zu sagen: Solange die Verfahren laufen, sind die Menschen an einem Ort, wo zentral alles für sie getan wird. Das geht aber nur, wenn wir eine Verfahrensdauer von drei Monaten haben. (Beifall bei der SPD – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Sie aber nicht!) Die Verbände fragen: Wo sind die Räumlichkeiten, in denen derjenige, der zur Schule geht, lernen kann? Wie sieht es mit der Privatsphäre aus? Wie sieht es mit dem Zugang zu Freizeitangeboten, mit Teilhabeangeboten aus? – Dazu sage ich: Ja, auch das muss in diesen Erstaufnahmeeinrichtungen gewährleistet werden. Das ist kein Argument dafür, dass die Leute sofort im Land verteilt werden müssen. Im Übrigen: Wenn man gerade auf die Abschiebungen schaut, die schon stattgefunden haben, ist es ja so, dass sich unter den Abgeschobenen viele Menschen befinden, die schon viele, viele Jahre hier in Deutschland ansässig sind, die zum Teil über einen Arbeitsplatz verfügen, die ihren eigenen Lebensunterhalt finanzieren können und die angefangen haben, unsere Sprache zu lernen. Ich bin der Auffassung, wenn wir zu einer härteren Gangart bei den Ausweisungen kommen, wie es gefordert ist, dann sollten wir auch Wege eröffnen, sodass diejenigen, die schon lange hier sind und die schon begonnen haben, sich zu integrieren, hier in diesem Land auch eine Bleibeperspektive haben. Alles andere macht keinen Sinn. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dazu zählen im Übrigen auch die sogenannten Dublin-Fälle. Im Moment ist es so, dass die eine Abteilung versucht, Leute, die schon sehr lange hier sind, wieder zurück nach Italien und bald auch nach Griechenland zu bringen. Die nächste Abteilung an Beamten ist händeringend darum bemüht, Leute aus Italien und bald auch aus Griechenland nach Deutschland zu bringen. Wir bringen Leute zurück, die angefangen haben, sich hier zu integrieren, und wir holen uns wieder Leute, die hier bei null anfangen. Das ist doch ein neues Kapitel im Roman zu Schilda, das macht keinen Sinn. Ein solches Verfahren müssen wir unbedingt beenden, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD) Also, wir sind in der Passionszeit. Wenn man die Passion hört, dann ist da der Ruf des Volkes: „Kreuziget ihn!“ Da sind wir heute weiter. Heute ruft man nur nach einem neuen Gesetz. Das ist natürlich ein Fortschritt. Ob jedes Gesetz ein Fortschritt ist, ist damit noch nicht gesagt. In jedem Fall gilt: Die Gesetze, die wir haben, und die Gesetze, die wir jetzt verabschieden, muss man konsequent umsetzen, und dazu rufe ich Sie auf. Das ist das Allererste, was wir tun müssen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin spricht Luise Amtsberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte erst einmal etwas Grundlegendes zu diesem Gesetzgebungsverfahren sagen, weil es ja mittlerweile schon schlechte Tradition dieser Bundesregierung und mit ihr leider auch der Fraktionen der Großen Koalition ist, sich eben nicht mehr sorgfältig mit der Asylpolitik auseinanderzusetzen. Das ist nicht nur für das Parlament eine Belastung; es ist auch eine Belastung für die Behörden, die das alles ausführen müssen. Es ist eine Belastung für die flüchtlingssolidarische Zivilgesellschaft, für die NGOs, vor allen Dingen aber auch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die Geflüchteten selbst. Diesem Gesetzentwurf ist ein Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vorausgegangen. Der Referentenentwurf aus dem Bundesinnenministerium kam keine Woche später. Die Länder hatten noch nicht einmal zwei Tage Zeit zur Stellungnahme. Jetzt soll das Gesetz schnellstmöglich verabschiedet werden. Eine sorgfältige Auseinandersetzung des Bundestages mit diesen Vorschlägen ist also kaum möglich; das ist meines Erachtens offensichtlich. Gestern haben wir im Innenausschuss eine Expertenanhörung für nächsten Montag beantragt, und dies, obwohl wir erst heute die erste Lesung im Parlament haben und bei diesem Gesetz – das kann ich schon einmal vorwegnehmen – die Eilbedürftigkeit überhaupt nicht zu erkennen ist. Meine Fraktion empfindet dieses Vorgehen als extrem befremdlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wir haben gestern hier in diesem Hohen Hause alle zusammen unserem ehemaligen, aber auch unserem amtierenden Bundespräsidenten zugeklatscht, als beide angemahnt haben, Demokratie und demokratische Spielregeln auch ernst zu nehmen, sie mit Leben, aber eben auch mit Respekt zu füllen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu diesen demokratischen Spielregeln gehört aber eben auch die parlamentarische Befassung mit Vorschlägen der Bundesregierung. Weil wir Abgeordneten bei diesen Abstimmungen unserem Gewissen unterworfen sind, verpflichtet sind, gehört eben auch die Sorgfalt in einem Gesetzgebungsverfahren dazu. Das kann ich hier leider Gottes nicht erkennen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will nicht falsch verstanden werden: Es ist vollkommen in Ordnung, dass sich auch die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der Bundeskanzlerin beraten und Beschlüsse fassen. Wenn diese aber, in Gesetzesform gegossen, anschließend im Galopp durch den Bundestag gejagt werden, dann entwertet dies den Bundestag als Gesetzgebungsorgan, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deshalb noch einmal der Appell vor allen Dingen an die SPD: Widersetzen Sie sich, wenn schon nicht inhaltlich, dann zumindest wegen der Form! Ich möchte nur noch einmal daran erinnern, dass das Asylpaket II ein ähnliches Verfahren hatte. In seiner Folge sind jetzt Zehntausende Flüchtlinge von der Beschränkung beim Familiennachzug betroffen. Gerade Sie, liebe Sozialdemokraten, beteuern doch jetzt, dass Ihnen diese Folge damals überhaupt nicht klar gewesen sei. Also machen Sie bitte nicht noch einmal denselben Fehler; denn dieses vorliegende Gesetz versteckt eben auch eine ganze Reihe von Tücken für die Rechte von allen Schutzsuchenden in Deutschland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zum Inhalt: Es zielt vor allen Dingen darauf ab, die Ausreisen und Abschiebungen zu beschleunigen. Was dieser Gesetzesvorschlag dabei aber völlig außer Acht lässt, ist, wie gut viele Menschen trotz ihres unsicheren Aufenthalts in Deutschland bereits integriert sind. Einzelne Regelungen des Entwurfs zielen auf die Verhinderung eines effektiven Rechtsschutzes. Herr Bundesinnenminister, Sie haben gerade noch angemahnt, wie wichtig dieser Schutz ist. In dem Gesetzentwurf steht, dass Personen, die lange in Deutschland geduldet gelebt haben, eben künftig nicht mehr über anstehende Abschiebungen informiert werden sollen. Sie werden in eine dauerhafte Unsicherheit versetzt, und es soll für Personen gelten, die an ihrer eigenen Ausweisung trotz zumutbarer Anforderungen nicht mitgewirkt haben. Der Begriff „zumutbare Anforderungen“ wird überhaupt nicht definiert oder konkretisiert. Der ohnehin von uns kritisierte Ausreisegewahrsam ohne richterliche Zustimmung wird auf zehn Tage erhöht. Das geplante Auslesen von Handys durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – das wurde schon angesprochen – kann letztendlich auch die privatesten Daten von Geflüchteten umfassen. Bei der Frage, wie weit Behörden dabei gehen können, gibt es überhaupt keine Konkretisierung. Meine Fraktion findet aber, dass die strengen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz der Privatsphäre eben nicht nur für Deutsche gelten, sondern für alle Menschen in Deutschland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Geflüchtete sollen künftig noch länger in Sammel- und Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Weil die Gruppe, die es betreffen soll, im Gesetzestext nicht klar definiert und umrissen ist, droht dies auch Kindern und ihren Familien. Wenn sie dauerhaft in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht werden, dann wäre einer großen Zahl von Kindern der Zugang zur Schule verwehrt. Es geht noch weiter: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden künftig schneller in Asylverfahren gedrängt, anstatt endlich eine qualifizierte Rechtsberatung für diese besonders schutzbedürftige Gruppe vorzuschalten. In meinen Augen haben wir hier eine besondere Verpflichtung. Dieser kommt der Gesetzentwurf überhaupt nicht nach. Deswegen können wir ihm in dieser Form nicht zustimmen. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Dr. Stephan Harbarth hat als nächster Redner das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der festen Überzeugung: Mit dem Gesetz, über das wir heute diskutieren, legen wir einen wichtigen Entwurf vor zur Verbesserung der inneren Sicherheit in diesem Land, zur Verbesserung des Schutzes vor islamistischen Anschlägen, aber auch zur Verbesserung der Ausreisepraxis derer, die in Deutschland keinen Schutzstatus haben. Allein mit der Pflicht zur freiwilligen Ausreise werden wir nicht weiterkommen. Wir müssen – Thomas de Maizière hat es unterstrichen – dort, wo keine freiwillige Ausreise erfolgt, die Ausreisepflicht auch mit Zwang durchsetzen. Wenn wir es hinnehmen, dass geltendes Recht breitflächig nicht vollzogen wird, dann werden wir das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat untergraben, und wir werden ihre Unterstützung verlieren, wenn es um die Aufnahme von Schutzbedürftigen geht. Für uns als Union ist klar: Wer Schutz braucht, der soll diesen Schutz auf Zeit in Deutschland auch bekommen. Deshalb ist genau das Gegenteil dessen richtig, was Sie, Frau Pau, vorhin ausgeführt haben. Es ist falsch: Wir schaffen mit dem Gesetzentwurf kein feindseliges Klima gegen Migranten und Schutzsuchende, sondern wir schaffen die Voraussetzung dafür, dass die gesellschaftliche Akzeptanz für diejenigen erhalten bleibt, die tatsächlich Schutz benötigen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) Bei den Rückführungen geht es um ein ganz klares Signal zur Begrenzung von Zuwanderung. Nur in dem Maße, in dem ausreisepflichtige Ausländer unser Land verlassen, wird deutlich, wer nicht schutzbedürftig ist. Wer in Deutschland einen Asylantrag stellt, obwohl er keine Aussicht auf einen Aufenthalt hat, sollte sich am besten erst gar nicht auf den Weg in unser Land machen. Unser prioritäres Ziel in der Union heißt: Zuwanderung steuern, Zuwanderung begrenzen. Wer ein Bleiberecht hat, darf auf Zeit bleiben. Wer kein Bleiberecht hat, muss zeitnah in seine Heimat zurückkehren. Wir möchten im parlamentarischen Verfahren vonseiten der Unionsfraktion auch an anderer Stelle noch einmal um Unterstützung werben. Zur finanziellen Unterstützung derer, die nach Deutschland kommen, geben wir jedes Jahr viele Milliarden Euro aus. Diese vielen Milliarden Euro geben wir nicht nach dem Prinzip aus, dass sich jeder einfach nehmen kann, was er gerne hätte, sondern nach klar festgelegten Regeln, nach klar festgelegten Sätzen. Der allergrößte Teil der Asylbewerber hält sich daran. Wir sind in den vergangenen Wochen aber immer wieder auch mit Berichten über Asylbewerber konfrontiert worden, die sich Sozialleistungen erschleichen. Wenn etwa ein Sudanese mit sieben verschiedenen Identitäten in Deutschland unterwegs ist und ein Mann aus Eritrea mit vier verschiedenen Identitäten, dann hat dafür niemand Verständnis. Diese Fälle haben aber eines gemeinsam: Sie haben im Augenblick keine aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen. Deshalb möchten wir dafür werben, dass Sozialbetrug künftig auch klare ausländerrechtliche Konsequenzen hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Dazu gehört erstens, dass wir die strafrechtliche Hürde absenken wollen, bei der jemand aus dem Asylverfahren ausgeschlossen wird. Dazu gehört zweitens, dass wir uns auch noch einmal das Ausweisungsrecht ansehen. Bei bestimmten Delikten wie etwa Angriffen gegen das Leben, gegen die körperliche Unversehrtheit oder gegen das Eigentum kann der Weg zum Ausschluss aus dem Asylverfahren bereits ab einer Freiheitsstrafe von einem Jahr eröffnet sein. Der Sozialbetrug fällt bisher nicht unter diese Regelungen. Das sollten wir korrigieren, um ein ganz klares Signal zu senden: Wer unseren Schutz benötigt, der kann in Deutschland Schutz und auch finanzielle Zuwendungen bekommen; aber wer unserem Land auf der Nase herumtanzen will, dem werden wir mit Entschiedenheit entgegentreten. – Dafür werden wir als Unionsfraktion auch im parlamentarischen Verfahren noch einmal werben. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, der Herr Innenminister hat unterstrichen, dass es bei diesem wichtigen Gesetz nicht „nur“ um die Rückführung von Migranten geht, sondern es geht um eine ganze Reihe von wichtigen Maßnahmen zur Verhinderung weiterer islamistischer Terroranschläge in Deutschland. Darunter befinden sich auch Maßnahmen, die Thomas de Maizière bereits im August des vergangenen Jahres vorgeschlagen und zu denen er bereits im Oktober des vergangenen Jahres, weit vor dem schlimmen Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz, entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt hatte. (Zuruf von der CDU/CSU: Ganz genau!) Lange Zeit war Thomas de Maizière, lange Zeit war unsere Fraktion bei diesem Thema der einsame Rufer in der Wüste. Ich glaube, es ist wichtig, dass kluge Sicherheitspolitik nicht nach dem Grundsatz „Aus Schaden wird man klug“ verfährt, sondern dass gute Sicherheitspolitik nach dem Grundsatz verfährt, Gefahren richtig einzuschätzen und im Vorfeld zu handeln. Deshalb wäre es besser gewesen, wenn wir in der Koalition bereits im vergangenen Jahr die Unterstützung dafür bekommen hätten und nicht erst nach den Geschehnissen auf dem Berliner Breitscheidplatz. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, die Erweiterung der Abschiebehaft für ausreisepflichtige Ausländer, von denen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, ist wahrlich keine Marginalie. Die Zahl dieser Gefährder ist alles andere als gering. Derzeit geht die Polizei in den Bundesländern davon aus, dass wir mehr als 100 ausreisepflichtige Ausländer haben, bei denen zu befürchten steht, dass sie sich an politisch motivierten Straftaten von erheblicher Bedeutung beteiligen und eine feste Funktion in der islamistischen Szene einnehmen. Wir müssen gegen diesen Personenkreis in aller Konsequenz vorgehen. Dazu leistet der vorgelegte Gesetzentwurf einen wichtigen Beitrag. (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach ja? Sagen Sie doch mal konkret, wie!) Ich danke dem Bundesinnenminister, freue mich auf die parlamentarischen Beratungen und bin überzeugt, dass wir hiermit einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Situation im Bereich der Ausreise abgelehnter Ausländer, aber auch zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus machen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Dr. Sebastian Hartmann hat als Nächster für die SPD-Fraktion das Wort. – Ohne „Dr.“. (Beifall bei der SPD) Sebastian Hartmann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin, auch aufgrund schlechter Erfahrungen hier im Plenum: Die Promotion ist in meinem Fall nicht zutreffend. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Ich habe mich schon korrigiert. Sebastian Hartmann (SPD): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte das, was verschiedene Vertreter hier im Plenum bereits angesprochen haben, aufgreifen. Es ist auf den Fall Anis Amri und den Anschlag am Breitscheidplatz Bezug genommen worden. Aber wir stehen auch unter dem Eindruck des Attentats, das sich gestern in der Nähe des Parlaments in London ereignet hat. Wir haben im Fernsehen Opfer, Verletzte und traurige Bilder gesehen. Wir sind schockiert und verurteilen dieses abscheuliche Handeln. Die Attentate, die uns jeden Tag über die sozialen Medien erreichen, haben alle ein Ziel: Sie sollen uns ängstigen, uns zu bestimmten Handlungen veranlassen und damit zu einer Veränderung unserer Denk- und Lebensweise führen. Es ist richtig, dass wir angesichts der Gewalt und der Taten, die wir an vielen Stellen der Welt erleben – im Übrigen auch in der Türkei oder im Irak, nicht nur in Belgien oder in Großbritannien –, gegenüber den wehrlosen Opfern nicht abstumpfen oder gar gleichgültig werden, sondern dass uns das bewegt. Es ist für einen demokratischen Rechtsstaat wichtig, dies deutlich zu machen. Aber wir müssen in aller Klarheit und aller Deutlichkeit auch sagen, dass die Terroristen das genaue Gegenteil dessen erreichen, was sie erreichen wollen. Denn der demokratische, freie Rechtsstaat ist nicht schwach; er ist stark. Unsere Gesellschaft ist zwar nicht immun gegen Angst und Terror, aber wir sind mutig. Wir sind Demokraten und handeln – das ist ganz wichtig – stets auf der Basis von Recht und Gesetz, und wir stellen uns auch unserer internationalen und humanitären Verantwortung. Das werden wir hier immer zu unserer Linie machen und auch durchhalten. Unser Bundeskanzler Helmut Schmidt formulierte das so: Sie – die Terroristen – wollen den demokratischen Staat und das Vertrauen der Bürger in unseren Staat aushöhlen. ... Der Staat muss darauf mit aller notwendigen Härte antworten. Helmut Schmidt sagte uns auch: „Jeder weiß, dass es eine absolute Sicherheit nicht gibt“, und er sagte, es sei genauso klar: „Der Terrorismus hat auf Dauer keine Chance“. Meine Damen und Herren, es bleibt das Ziel all unseren Handelns, größtmögliche Sicherheit zu organisieren und alles für einen starken und handlungsfähigen Rechtsstaat – ich betone: Rechtsstaat – zu tun. Ich glaube, dass wir angesichts der Diskussionen und der notwendigen Gesetzesänderung, die wir jetzt vornehmen, eines noch einmal an den Anfang stellen müssen: Deutschland ist eines der sichersten Länder dieser Welt, und daran wird sich nichts ändern. Hierfür haben wir gehandelt, und hierauf können wir stolz sein. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Es bleibt auch richtig: Damit das so bleibt, haben wir eine Vielzahl von Gesetzen angepackt und Veränderungen vorgenommen. Die Verbesserung der Videoüberwachung wurde hier mit breiter Mehrheit beschlossen. Wir haben ein Gesetz zum Schutz unserer Einsatzkräfte und vieles mehr beschlossen, wir gehen gegen die organisierte Kriminalität vor, und wir verbessern den Informationsaustausch. All das haben wir getan. Daneben haben wir den Stellenausbau vorangetrieben und entgegen dem alten Mantra der Neoliberalen gehandelt, Stellen abzubauen und den Staat mit wenigen Stellen schwach zu machen. Nein, wir haben gesagt: Wir wollen mehr Stellen in Polizei- und Sicherheitsbehörden haben. Auch das haben wir getan. (Beifall bei der SPD – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie auch noch zum Gesetzentwurf?) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir zu zwei Punkten kommen. – Lieben Dank, Frau Kollegin Amtsberg. (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich wollte Sie nur daran erinnern! Acht Minuten sind auch endlich!) Wir befinden uns am Anfang des Gesetzgebungsverfahrens, und man muss das manchmal auch entsprechend einordnen dürfen. Wir reden über die Gefahrenabwehr und eine verbesserte Durchsetzung des Aufenthaltsrechtes. Es ist wichtig, dass wir hier einen Unterschied machen und einem bestimmten Fehler nicht erliegen. Es gibt nämlich einen großen Unterschied zwischen einem Flüchtling und einem Terroristen. Der Flüchtling flieht vor dem Terroristen, und er wird nicht durch sein Flüchtling-Sein zu einem Terroristen. Ganz viele der Flüchtlinge – 99,9 Prozent – wollen Schutz vor dem Terror, und dem werden wir weiterhin gerecht werden. (Beifall bei der SPD) Wir müssen hier aber auch unterscheiden. Es gibt eine gewisse Zahl an hochgefährlichen Menschen, die zwar vollziehbar ausreisepflichtig sind, die wir aber nicht abschieben können. Darauf muss der Staat reagieren können. Die Zahlen sind genannt worden, und wir werden das in Zukunft mit diesem Gesetz auch tun können. Eine Person darf bisher nur dann in Ausreisehaft genommen werden, wenn die Ausreise innerhalb von drei Monaten realistisch ist, und ich wende mich jetzt auch einmal an die Kolleginnen und Kollegen, die es sich mit ihrer Argumentation vielleicht etwas einfach gemacht haben. Hier darf man nämlich einem Fehler nicht erliegen: Es wird die Argumentationslinie aufgemacht, man hätte den Herrn Anis Amri mal eben in Haft nehmen können, obwohl man wusste, dass er nach dem Gesetz nicht innerhalb der nächsten drei Monate abgeschoben werden kann. Man muss sich hier bei der Argumentation entscheiden. Hat man das Gesetz nicht entsprechend aufbereitet, sodass man ihn nicht in Haft nehmen konnte? Dann muss man es heute ändern. Und man darf den verantwortlichen Sicherheitsbehörden der Länder nachher nicht unterstellen – dieser Vorwurf ist im Innenausschuss ja auch gemacht worden –, man hätte das auf Verdacht tun können. Nein, auch die Sicherheitsbehörden – die Exekutive – sind stets an Recht und Gesetz gebunden. Sie müssen sich aber, wie alle Mitbürgerinnen und Mitbürger in diesem Land, darauf verlassen können, dass wir dann, wenn wir diese Lücken erkennen, das Gesetz entsprechend anpassen, und darum geht es. Wir werden das ausweiten. (Beifall bei der SPD) Es geht nicht darum, pauschal jeden Ausländer zu treffen. Ein Asylverfahren kann damit ausgehen, dass man Asyl oder ein Recht zum Aufenthalt erhält oder nicht. Es gibt aber auch Menschen, die sich in unserem Land nichts zuschulden kommen lassen und trotzdem abgeschoben oder zur Ausreise bewegt werden müssen. Herr Innenminister, wir werden der freiwilligen Rückkehr natürlich immer den Vorrang einräumen, damit wir aufgrund der hohen Zahlen auch zu guten Ergebnissen kommen. Unter denjenigen, die wir abschieben müssen, gibt es aber eine kleine, genau identifizierbare gefährliche Gruppe, die wir uns anschauen müssen. Diese müssen wir in den Fokus nehmen, wenn es darum geht, eine Abschiebehaft zu verhängen. Wir müssen den Schutz der Allgemeinheit sicherstellen und dafür sorgen, dass von dieser Gruppe keine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit und das Leben der Menschen ausgeht. Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist gut vertretbar. Darauf können wir uns im Gesetzgebungsverfahren verständigen. (Beifall bei der SPD) Es ist nicht so, wie immer unterstellt wird, dass man eine pauschale Verschärfung einfach so vornimmt. Der Deutsche Richterbund sagt hierzu: Dies geschieht, indem weitere Sonderregelungen für Ausländer geschaffen werden, von denen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit sowie Leib und Leben ausgeht. In Ansehung der erheblichen und konkreten Gefahren, die sich in der jüngeren Vergangenheit auch teilweise realisiert haben, stellen wir diese rechtssystematischen Bedenken jedoch zurück und stimmen den Regelungen zu. Auch diejenigen, die bisher eine kritische Positionierung zu bestimmten Fragen der Innenpolitik eingenommen haben, sagen: An dieser Stelle wird mit Augenmaß gehandelt. Wir können dieser Gesetzesverschärfung zustimmen. – Ich glaube, dass das dazu einladen sollte, eine möglichst breite Mehrheit für diese Regelungen zu schaffen, um die Menschen in unserem Land zu schützen. Dies gilt auch für die Menschen, die in jüngster Zeit zu uns gekommen sind und Schutz vor Terror und Gewalt suchen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD) Wir werden im Gesetzgebungsverfahren aber auch kritische Punkte ansprechen müssen. Ja, jedem, der von diesen Maßnahmen betroffen ist und möglicherweise in Abschiebehaft genommen wird, muss der Rechtsweg in allen Fällen offenstehen. Richtervorbehalte sind angesprochen worden. Hier haben wir die Stellungnahme des Bundesrates zur Kenntnis genommen. Wir stehen am Anfang eines Gesetzgebungsverfahrens, in dem Anhörungen folgen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür sind wir im parlamentarischen Verfahren verantwortlich. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Deutschland so bleibt, wie es ist: eines der sichersten Länder der Welt. Darauf können sich die Menschen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, auch auf den Tribünen, verlassen. Das ist unsere Aufgabe. Danke. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich eines vorwegschicken: Es wurde von Rednern der Großen Koalition, zunächst vom Bundesinnenminister, betont – diese Auffassung teile ich –, dass viele Menschen hierherkommen, die einen Aufnahmegrund und damit einen Schutzanspruch haben, weil sie verfolgt sind. Diesen Schutzanspruch wollen wir verwirklichen. Wir müssen darauf achten – auch das möchte ich Ihnen sagen –, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht widerrechtliche Bescheide erstellt, durch die bestimmte Verfolgungsschicksale ignoriert werden, und dass diese Fehler erst im Rahmen der Rechtsprechung korrigiert werden. Es gibt aber auch Menschen, die hierherkommen und Asyl beantragen, obwohl sie nicht verfolgt werden und keinen Grund haben, hierzubleiben. Wir sind uns selbstverständlich einig, dass die Menschen, die keinen Grund haben, hierzubleiben, das Land verlassen sollen und müssen. Wir können und sollen rechtsstaatlich alles tun, was dies befördert. Der Dissens zeigt sich da, wo es um Regelungen geht, die an der Verfassungswidrigkeit vorbeischrammen, oder wo wir über rein symbolische Rechtspolitik reden. Genau das machen Sie hier. Sie tun so, als ob Sie auf den schrecklichen Anschlag auf dem Breitscheidplatz, auf den Fall Amri, rechtspolitisch reagieren würden. Ich habe erstmals nach Ihrer Rede, Herr Castellucci, verstanden, warum Sie diesen komischen Regelungsvorschlägen zustimmen wollen: Sie wollen den Eindruck erwecken, es sei gar nichts schiefgelaufen, es sei alles wunderbar gewesen, und es hätte nur an Gesetzen gefehlt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es hat aber nicht an Gesetzen gefehlt, sondern an Kooperation und an konsequenter Anwendung des geltenden Rechts. Natürlich ist der Fall Amri nach § 2 Absatz 14 Ziffern 1 bis 3 des Aufenthaltsgesetzes einschlägig. Die Voraussetzungen zur Verhängung von Abschiebungshaft haben in diesem Fall eindeutig bestanden. Es gab aber keinen Informationsaustausch, in dessen Verlauf man hätte sagen können: Angesichts der Voraussetzungen wenden wir dieses Gesetz an, weil die Abschiebungshaft in diesem Fall sinnvoll ist. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Wer regiert noch mal in Nordrhein-Westfalen?) Die Frage, die sich dann im Fall Amri stellt – an diesem Dilemma ändern Sie mit Ihren Regelungen zur Gefährderhaftung überhaupt nichts –, ist, ob die Voraussetzungen für Abschiebungshaft nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegeben sind. Abschiebungshaft ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur dann zulässig – sie ist eben keine Strafhaft, und es gibt im deutschen Recht auch keine Präventivhaft –, wenn sie unmittelbar der Durchführung einer Abschiebung dienlich ist. Deshalb ist der neue Haftgrund, den Sie schaffen, rechtlich weiße Salbe, weil damit dieses Dilemma in einem Rechtsstaat nicht aufgelöst werden kann. Ja, wir wollen jeden Gefährder loswerden; aber was ein Gefährder ist, ist sehr schwer zu definieren. Am Ende ist das eine Prognose in die Zukunft. Deshalb ist man in den rechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten beschränkt, solange diese Leute keine konkreten Straftaten begangen haben, sondern wir das nur glauben und ihnen zutrauen, dass sie diese begehen. Wenn Sie nach drei Monaten aufgrund der Voraussetzungen zu dem Ergebnis kommen, die Abschiebung konnte nicht durchgeführt werden, dann wird Ihnen die Verlängerung um weitere drei Monate, die Sie hier im Gesetz schaffen, nicht viel helfen, weil die Rechtsprechung Sie korrigieren wird. Das Bundesverfassungsgericht wird am Ende darauf achten, dass jemand, der unschuldig ist, nicht einfach dauerhaft in Haft genommen werden kann, wenn es keine Abschiebungsaussicht gibt. Deshalb müssen Sie Ihre Hausaufgaben machen. Sie müssen mit den Herkunftsländern reden, auf dass diese die Betroffenen zurücknehmen. Das sind die Aufgaben; aber an diesem Dilemma ändert dieser Gesetzentwurf einfach kein Jota. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ähnlich absurd ist das bei Ihrer Fußfesselregelung. Der Hersteller aus Israel selbst, Herr Leo Milstein, der diese Sachen gern an uns verkauft, sagt, er habe den Eindruck, dass die Deutschen nicht richtig verstanden hätten, wo man Fußfesseln anwenden kann. Im Rahmen der Bewährungsauflage haben die Delinquenten selber ein Interesse, statt in Haft zu bleiben, in die Freiheit, zur Familie, zur Arbeit zu kommen und sind deshalb kooperationswillig. Wie will man die islamistisch motivierte Person dazu motivieren, hier zu kooperieren? Sie hat doch ein gegenläufiges Interesse. Die Praxis hat es tragischerweise vor Augen geführt: Bei dem Attentat von Saint-Étienne-du-Rouvray trug einer der beiden Attentäter eine Fußfessel. Dieses Attentat konnte damit nicht verhindert werden. Selbst Ihr eigenes BKA sagt Ihnen, dass das, was Sie hier vorhaben, nicht geeignet ist. Deshalb: Lassen Sie uns das im Ausschuss noch einmal gründlich anschauen. Wir sollten bei den Bürgern nicht den Eindruck erwecken, dass man mit Druckerschwärze in Gesetzen Terrorismus wirklich wirksam bekämpfen kann. Wir wollen alle gemeinsam – Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – ich komme zum Schluss –, dass die, die nicht hier sein dürfen, gehen müssen, und wir wollen alles für die Sicherheit unseres Landes tun. (Sebastian Hartmann [SPD]: Sehr gut!) Ein Beitrag zu diesen beiden Zielen ist dieser Gesetzentwurf sicherlich nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zunächst einmal zu Ihnen, lieber Kollege Castellucci, nachdem Sie so freundlich waren, mein klares Plädoyer für eine härtere Gangart in Sachen Abschiebungen zu erwähnen: Sie haben in einem Punkt recht. In diesem Jahr, in den ersten zwei Monaten, liegt Bayern nicht ganz an der Spitze der Bundesländer, was das Thema Abschiebungen anbelangt. Aber was Sie geflissentlich unterschlagen haben, zu erwähnen, ist, dass beispielsweise das Land Nordrhein-Westfalen, das in diesem Jahr schon etwas mehr Personen abgeschoben hat als Bayern, fast fünfmal so viele ausreisepflichtige Personen im Land hat, die mit einer Duldung versehen sind. Knapp 48 000 Personen befinden sich im Land Nordrhein-Westfalen, die an sich das Land heute verlassen müssten, aber mit einer Duldung versehen sind. In Bayern sind es nur etwas mehr als 10 000 Personen. Um es auf Deutsch und klar zu sagen: Es ist keine Kunst, in der Zahl der Abschiebungen etwas über Bayern zu liegen, wenn man in den letzten Jahren das Thema Abschiebungen total verpennt hat, (Beifall bei der CDU/CSU) wenn man wie die nordrhein-westfälische Landesregierung über Jahre hinweg das Thema Abschiebungen stiefmütterlich behandelt hat. (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Der kommt aus Baden-Württemberg! Der kommt gar nicht aus NRW!) Herr Kollege Castellucci, ich habe aber auch eine gute Botschaft für Sie: Seitdem in Ihrem Heimatbundesland wieder ein CDU-Landesinnenminister das Sagen hat, sind zumindest die Abschiebungen in Baden-Württemberg innerhalb der letzten zwölf Monate deutlich gestiegen. Das ist ein gutes Signal. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir haben heute endlich die erste Lesung dieses wichtigen Gesetzes. Ich sage deshalb „endlich“, weil zur Wahrheit auch gehört, dass dieser Gesetzentwurf nicht nur die Konsequenz und die Schlussfolgerung der Erfahrungen des Anschlags vom Breitscheidplatz ist, sondern dass ein Großteil dieses Gesetzes auf Vorschläge des Bundesinnenministers zurückgeht, die er am 11. August letzten Jahres gemacht hat, nach den Anschlägen von Ansbach, Würzburg und München. Dazu gehört auch, dass ein Großteil der Inhalte dieses Gesetzentwurfs bereits Anfang Oktober letzten Jahres in einen Gesetzentwurf eingeflossen ist, der zum Beispiel den besonderen Haftgrund für Gefährder und die Verlängerung des Ausreisegewahrsams auf zehn Tage vorgesehen hat. Leider hat unser Koalitionspartner diesem Gesetzentwurf bislang nicht zustimmen können. Das ist die bedauerliche Nachricht. Die gute Nachricht ist, dass wir heute endlich die erste Lesung haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir, darauf gerade in Zeiten hinzuweisen, in denen der neue SPD-Vorsitzende wie vor wenigen Wochen in einer bemerkenswerten Rede sinngemäß behauptet, die Gefährdungssituation in Deutschland sei deshalb so prekär, weil die Union den Bundesinnenminister stellt, und es weitaus besser wäre, wenn endlich die SPD wieder den Bundesinnenminister stellen würde. (Beifall bei der SPD – Sebastian Hartmann [SPD]: Wo er recht hat, hat er recht!) Eine klare Antwort von mir darauf: Garant für die innere Sicherheit ist die CDU/CSU. In Sachen Innenpolitik und in Sachen Sicherheitspolitik macht uns, der CDU/CSU, niemand etwas vor. (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Letztendlich würde das auf das Gleiche hinauslaufen! – Gegenruf des Abg. Sebastian Hartmann [SPD]: Da hat er also doch recht!) Es ist richtig, dass mit diesem Gesetzentwurf die Voraussetzungen dafür erleichtert werden, dass ausreisepflichtige Personen, von denen eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, schneller außer Landes gebracht werden können. Um auch das einmal klar zu sagen: Wir haben in Deutschland ungefähr 150 Personen der Preisklasse von Anis Amri, entweder Gefährder oder relevante Personen, die ausreisepflichtig sind, sprich: die unser Land jetzt verlassen müssten, dies aber nicht tun, weil sie sich renitent verhalten und weil sie bei der Identitätsfeststellung oder bei der Passersatzbeschaffung nicht mitwirken. Es ist richtig, dass wir jetzt einen eigenen Haftgrund für diese ausreisepflichtigen Personen schaffen. Lieber Herr Kollege Hartmann, Sie haben darauf hingewiesen, dass möglicherweise ein Widerspruch dazu besteht, dass wir richtigerweise behaupten, dass das Land Nordrhein-Westfalen schon von der jetzigen Rechtslage hätte Gebrauch machen können, indem man Anis Amri im August letzten Jahres in Abschiebehaft hätte nehmen können. (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Nicht „möglicherweise“!) Das stimmt. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass es eine Unterlassung war, dass man Anis Amri nicht in Abschiebehaft genommen hat. Denn die materiellen Voraussetzungen dafür sind schon jetzt vorhanden. Deswegen stimmt die Aussage, man hätte Anis Amri in Abschiebehaft nehmen können. Aber genauso richtig ist die Aussage, dass wir trotzdem gesetzliche Verbesserungen vornehmen müssen, um es den Ausländerbehörden zu erleichtern, in derartigen Fällen die Abschiebehaft zu beantragen. Denn die Vergangenheit hat leider gezeigt, dass viele Ausländerbehörden vor diesem Antrag zurückgeschreckt haben, weil nicht sicher war, dass sie innerhalb von drei Monaten die konkrete Ausreise hätten bewirken können. Ich möchte aber dazusagen, dass diese Dreimonatsfrist auf Fälle wie Anis Amri nicht zutrifft, weil Anis Amri sich renitent verhalten und seine nicht erfolgte Ausreise selbst verschuldet hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist deshalb richtig, dass wir diese deutlichen Verschärfungen vornehmen. Wir haben derzeit über 213 000 ausreisepflichtige Personen in Deutschland. Viele können deshalb nicht abgeschoben werden, weil ihre Identität nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann. Ich möchte noch etwas zu dem Thema Auslesen des Mobilfunkgeräts sagen. Ich habe überhaupt kein Verständnis für die aus meiner Sicht sehr künstliche Erregung und Entrüstung über diese gesetzliche Änderung. Es ist doch das Normalste in der Welt, dass man im Notfall alle Möglichkeiten auch unter Hinzuziehung des Handys nutzt, um die Identität einer Person festzustellen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dabei geht es nicht darum, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, in die Intimsphäre des Betroffenen einzudringen, sondern es geht zum Beispiel nur darum, mit welchen Telefonnummern derjenige in der Vergangenheit häufiger Kontakt hatte, sprich: Hat er mit Tunesien telefoniert? Hat er mit Ägypten telefoniert? Hat er mit Marokko telefoniert? Es geht nicht darum, auf den Inhalt der Telekommunikation bzw. der SMS-Nachrichten Zugriff zu nehmen, sondern es geht schlichtweg nur darum, die Identität festzustellen. Ich sage ganz offen: Ich habe kein Verständnis dafür, dass der Großteil der Migranten, die derzeit zu uns kommen, nicht über einen Pass verfügen, aber fast alle über ein Handy. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb ist es aus meiner Sicht nur konsequent, dass wir diese Handys zurate ziehen, um die Identität desjenigen feststellen zu können. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir müssen und werden dieses Gesetzgebungsvorhaben in der notwendigen Seriosität durchführen. Ich sage aber am Ende meiner Rede sehr ernsthaft und bewusst dazu: Gerade angesichts der immanent großen Bedrohungssituation, in der sich unser Land befindet, dürfen wir uns nicht zu viel Zeit lassen. Ich habe bereits darauf hingewiesen: Ein Großteil der Inhalte geht bereits auf einen Gesetzentwurf vom Oktober letzten Jahres zurück. Deshalb ermahne ich uns zu der gebotenen Zügigkeit und Eile bei diesem wichtigen Gesetzgebungsvorhaben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Danke schön. – Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Nina Warken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Nina Warken (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die vergangenen beiden Jahre waren für uns alle, für unser Land und unsere Bürgerinnen und Bürger, eine große Herausforderung. Hunderttausende Menschen aus vielen Teilen der Erde haben in unserem Land Schutz und Zuflucht gesucht. Für uns als Union ist klar: Als reiches Land und als christliches Land wollen und werden wir Menschen in Not helfen. Aber ebenso klar ist für uns, dass wir die Not der Welt nicht allein mit den Mitteln des deutschen Asylrechts werden beheben können. Deshalb besagen das Grundgesetz und unsere Gesetze ganz bewusst nicht, dass jeder Mensch auf der ganzen Welt ein Recht darauf hat, in Deutschland zu leben. Unser Asylrecht schert gerade nicht alle Menschen über einen Kamm, sondern enthält ausdifferenzierte Regelungen und nimmt den Einzelfall, den einzelnen Menschen und seine individuelle Situation, in den Blick. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird deswegen nicht nach Schema F entschieden, sondern mit Dolmetschern und Gutachtern großer Aufwand betrieben, um in einem rechtsstaatlichen Verfahren für jeden einzelnen Antrag eine gerechte Entscheidung treffen zu können. Weil es sich dabei oft um schwierige Abwägungsfragen handelt und die Entscheidung für den Einzelnen eine enorme Tragweite hat, ist es für uns als Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit, dass man diese Entscheidung vor Gericht überprüfen lassen kann. Jeder Flüchtling hat das Recht, vor das Verwaltungsgericht zu ziehen, dann gegen dessen Entscheidung Rechtsmittel einzulegen und schließlich sogar eine Verfassungsbeschwerde zu erheben. Das ist ein Maß an Rechtsschutz, das auf der ganzen Welt seinesgleichen sucht. Wenn aber dann am Ende eine rechtskräftige Entscheidung steht, dann gilt sie, und zwar auch dann, wenn sie irgendwelchen linken Aktivisten nicht gefällt. (Beifall bei der CDU/CSU) Natürlich ist es richtig, den ausreisepflichtigen Menschen Perspektiven in ihrer Heimat aufzuzeigen und finanzielle Starthilfe anzubieten. Wenn jemand aber trotz alledem nicht freiwillig zur Ausreise bereit ist, dann muss unser Staat die Ausreisepflicht durchsetzen. Nur so erhalten wir das Vertrauen in unseren Rechtsstaat und die gesellschaftliche Akzeptanz unseres Asylrechts aufrecht. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer kluger Baustein in einer vernünftigen Flüchtlingspolitik. Wenn wir die Zahlen sehen – es gibt gegenwärtig über 200 000 Ausreisepflichtige in unserem Land –, dann müssen wir feststellen, dass Handlungsbedarf besteht. Wenn wir etwa sehen, dass manch ein Geduldeter seine Rückführung gezielt hintertreibt, indem er falsche Angaben zu seiner Person oder zu seiner Staatsangehörigkeit macht oder bei der Ausräumung von Ausreisehindernissen nicht mitwirkt, dann wissen wir, dass wir hier ansetzen und den Aufenthalt für diese Menschen räumlich einschränken müssen. Wer unsere Hilfe will, von dem können und dürfen wir Ehrlichkeit und Mitwirkung erwarten, und das müssen wir als Gesellschaft auch einfordern. Dies bedeutet auch, dass ein Flüchtling nicht nur mit den Schultern zuckt und sagt, er habe seinen Ausweis verloren, sondern dass er den Behörden die Möglichkeit gibt, seine Angaben zu überprüfen. Deshalb ist es in Zeiten der mobilen Kommunikation sinnvoll und erforderlich, dass die Daten auf Smartphones und anderen mobilen Datenträgern überprüft werden. Daraus können sich Hinweise ergeben, woher jemand tatsächlich kommt. Dass der vorliegende Gesetzentwurf eine entsprechende Mitwirkungspflicht der Asylbewerber vorsieht, ist deshalb folgerichtig. Das unterstützen wir. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn die zuständigen Behörden die Erfahrung machen, dass sich manche Ausreisepflichtige ihrer Rückführung entziehen, dann ist es genau der richtige Ansatz, die Höchstdauer des Ausreisegewahrsams zu verlängern, sodass wir dieser Leute dann habhaft sind, wenn der Flieger abhebt. Eines ist ganz klar: Obwohl wir besser geworden sind, werden wir im bisherigen Tempo nicht vorankommen. Eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern ist notwendig. Während sich etwa die rot-grüne Landesregierung in Schleswig-Holstein aus der Verantwortung stiehlt und mit pauschalen Abschiebestopps populistische Wahlkampfmanöver durchführt, verbessert der Bund mit dem Gesetz die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Länder, und das ist richtig so. (Beifall bei der CDU/CSU) Bei alldem ist eines auch klar: Wer unter dem Deckmantel des Asylrechts nach Deutschland kommt, um hier unsere innere Sicherheit zu gefährden, und wer damit die große Mehrheit der friedlichen Flüchtlinge in Misskredit bringt, dem zeigen wir klar die Rote Karte. Wir sind ein offenes und ein hilfsbereites Land, aber wir sind auch ein starker Staat, der die Sicherheit seiner Bürger zu schützen hat. Genau aus diesem Grund erweitern wir die Möglichkeit der Abschiebehaft für Gefährder, für Menschen, von denen eine große Gefahr für Leib und Leben unserer Bürgerinnen und Bürger ausgeht. Solche Menschen wollen wir nicht in unserem Land. Bis zu ihrer Abschiebung gehören diese Leute nicht auf die Straßen unserer Städte, sondern hinter Gitter. (Beifall bei der CDU/CSU) Für die Fälle, in denen es für einen Haftbefehl nicht ausreicht, schaffen wir die Möglichkeit der elektronischen Fußfessel, damit unsere Behörden wissen, wo sich diese Gefährder aufhalten, und damit die Gefährder wissen, dass wir sie im Blick haben. Damit schützen wir unsere Bevölkerung, damit gewährleisten wir die Rückführung, und damit senden wir ein ganz klares Signal, dass wir einen Missbrauch unserer Freiheit nicht dulden werden. Dieses Signal wollen wir heute mit diesem Gesetzentwurf setzen. Ebenso erwarten wir von den Ländern, dass sie das Ihre tun und Recht und Gesetz umsetzen. Wir, die Union, sind entschlossen, die vor uns liegenden Herausforderungen besonnen, vor allem aber auch konsequent anzugehen. Ich lade Sie herzlich ein, das Gesetz zügig auf den Weg zu bringen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Damit ist die Aussprache beendet. Zwischen den Fraktionen wurde vereinbart, den Gesetzentwurf auf Drucksache 18/11546 an die Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. Haben Sie dazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 k sowie Zusatzpunkte 1 a bis 1 d auf: 34.   a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Rechts der Umweltverträglichkeitsprüfung Drucksache 18/11499 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 11. Juli 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Arabischen Republik Ägypten über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich Drucksache 18/11508 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 26. September 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Tunesischen Republik über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich Drucksache 18/11509 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften Drucksache 18/11547 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. August 2016 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Turkmenistan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen Drucksache 18/11557 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Dezember 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Agentur für Flugsicherheit über den Sitz der Europäischen Agentur für Flugsicherheit Drucksache 18/11558 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der personellen Struktur beim Bundeseisenbahnvermögen und in den Postnachfolgeunternehmen sowie zur Änderung weiterer Vorschriften des Postdienstrechts Drucksache 18/11559 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Ausweitung des Maßregelrechts bei extremistischen Straftätern Drucksache 18/11584 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Atomwaffen aus Deutschland abziehen und Neustationierung stoppen Drucksache 18/6808 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph Lenkert, Caren Lay, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Abschaffung der Zeitumstellung Drucksache 18/10697 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Petitionsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einen armutsfesten gesetzlichen Mindestlohn sicherstellen Drucksache 18/11599 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie ZP 1   a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung der Anlage VI des Umweltschutzprotokolls zum Antarktis-Vertrag vom 14. Juni 2005 über die Haftung bei umweltgefährdenden Notfällen (Antarktis-Haftungsgesetz – AntHaftG) Drucksache 18/11529 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anlage VI des Umweltschutzprotokolls zum Antarktis-Vertrag vom 14. Juni 2005 über die Haftung bei umweltgefährdenden Notfällen (Antarktis-Haftungsannex) Drucksache 18/11530 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einrichtung eines Bundesprogramms „Zugang zu Land – Chancen für neue Betriebe ermöglichen“ Drucksache 18/11601 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arzneimittelversorgung an Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientieren – Heute und in Zukunft Drucksache 18/11607 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 h sowie Zusatzpunkt 2 auf. Auch hier handelt es sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 35 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen und zur Einrichtung des Elektronischen Urkundenarchivs bei der Bundesnotarkammer Drucksache 18/10607 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/11636 Durch die Einrichtung eines Elektronischen Urkundenarchivs wird die Möglichkeit eröffnet, die Aufbewahrungsfrist für parallel in Papierform aufzubewahrende Notariatsunterlagen zu verkürzen. Dies soll zu einer Entlastung der angespannten Lagerkapazitäten bei Notaren, Amtsgerichten und Staatsarchiven beitragen. Außerdem wird die Zuständigkeit für die Verwahrung von Notariatsunterlagen nach Erlöschen des Amtes oder Verlegung des Amtssitzes neu geregelt. Darüber hinaus beinhaltet der Gesetzentwurf in der Fassung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz auch Änderungen des Rechtspflegergesetzes, des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie der Grundbuchordnung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11636, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/10607 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Tagesordnungspunkt 35 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Siebte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung Drucksachen 18/10829, 18/10924 Nr. 2.2, 18/11214 Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 18/10829 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 35 c bis 35 h. Tagesordnungspunkt 35 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 416 zu Petitionen Drucksache 18/11422 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 416 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 417 zu Petitionen Drucksache 18/11423 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 417 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 418 zu Petitionen Drucksache 18/11424 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 418 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 419 zu Petitionen Drucksache 18/11425 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 419 ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen. Tagesordnungspunkt 35 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 420 zu Petitionen Drucksache 18/11426 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 420 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 35 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 421 zu Petitionen Drucksache 18/11427 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 421 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Drucksache 18/11140 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/11638 Mit diesem Gesetzentwurf soll die strafrechtliche Zusammenarbeit mit Island und Norwegen verbessert werden. Dazu werden die erforderlichen Ausführungsbestimmungen zu dem Übereinkommen vom 28. Juni 2006 zwischen der Europäischen Union einerseits und Island und Norwegen andererseits geschaffen, um das Auslieferungsverfahren und den Durchlieferungsverkehr an das innerhalb der Europäischen Union eingeführte Verfahren des Europäischen Haftbefehls anzugleichen. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11638, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/11140 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 60 Jahre Römische Verträge Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen. – Bitte schön. Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich kann im Namen aller hier im Hause sagen, dass unsere Herzen gegenwärtig bei den Menschen in London sind. We stand together with you against this barbarism. This horrible attack targeted a European capital and the response will be a European one. Wie wir alle wissen, heißt der Bürgermeister von London Sadiq Khan. Dies auch an die Adresse all derer, die pauschal von Islamophobie sprechen oder – umgekehrt – sich wünschen, dass Muslime in Europa keinen Platz haben. Beides ist absurd und hat mit der Realität Europas Gott sei Dank nichts zu tun. (Beifall im ganzen Hause) Ohne dieses Europa wären wir heute nicht da, wo wir sind. Das gilt für unser Land. Das gilt für meine Partei. Das gilt aber auch für mich ganz persönlich. Dass wir Grüne im Jahr 2017 mit einer ostdeutschen Protestantin und einem anatolischen Schwaben an der Spitze in den Bundestagswahlkampf ziehen, das wäre ohne Europa sicherlich nicht denkbar gewesen. Die erste Osterweiterung der Europäischen Gemeinschaft fand nicht etwa im Jahr 2004 statt, wie wir häufig lernen und lesen, sondern bereits im Jahr 1989/90. Der Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereinigung haben nicht nur unser Land, sondern auch den ganzen Kontinent umgekrempelt – als ein Triumph für Freiheit, ein Triumph für Demokratie und ein Triumph für offene Gesellschaften. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für sehr viele Menschen hat sich ein Fenster geöffnet: die Möglichkeit, zu reisen, die Möglichkeit zu Bildung, die Möglichkeit, selber zu entscheiden, welchen Beruf man sich aussucht, die Möglichkeit, frei gewählt zu werden, ohne dass der Staat dabei lenkend eingreift. Das ist das Tolle an Europa: Es zeigt, dass man sich der Welt öffnen und trotzdem seine eigene Identität als Schwabe oder was auch immer bewahren kann. Ich kann Schwabe sein, ich kann Deutscher sein, und ich kann Europäer sein. Ich finde das großartig, und das fühlt sich großartig an. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Überzeugte Europäerin aus der Uckermark zu sein, schließt sich ebenso wenig aus, wie gleichzeitig leidenschaftlicher – ich weiß gar nicht, wie man das sagt – Würselener und leidenschaftlicher Europäer zu sein. Beides ist möglich. Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 60 Jahren haben wir den Rahmen dafür geschaffen, dass unsere Demokratie wachsen konnte. 60 Jahre Römische Verträge, das heißt auch: 60 Jahre Miteinander statt Gegeneinander in Europa. Darauf, glaube ich, können wir alle miteinander stolz sein; denn das ist ein riesiger Schatz für unser Land. Umso bedauerlicher ist allerdings, dass die Große Koalition nicht bereit war, diesen feierlichen Anlass, wie wir es uns gewünscht hätten, mit einer vereinbarten Debatte zu begehen. Das wäre ein Signal gewesen, nach Europa und in unsere Gesellschaft hinein, wie wichtig uns 60 Jahre Römische Verträge sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich finde es sehr schade, dass Sie sich dazu nicht durchringen konnten. Bei der letzten Debatte, die wir hier im Hause zu diesem Thema geführt haben – das war vor zwei Wochen –, ging es um Europa, aber es ging auch um das Thema Türkei. Das zeigt, glaube ich: Wenn man über Europa spricht, dann ist man immer auch beim Thema offene Gesellschaften. Als die Türkei der Demokratie den Rücken zuwandte, da hat sie eigentlich de facto auch Europa den Rücken zugewandt. Als die Türkei anfing, Minderheiten und kritische Stimmen massiv auszugrenzen, da hat sie sich de facto auch von Europa ausgegrenzt. Deshalb: Wenn wir für offene Gesellschaften eintreten, dann treten wir immer auch für Europa ein. Sie haben vielleicht in Rom und in Krakau studiert, Sie haben vielleicht eine Schwester in Lissabon, einen Schwager in Bukarest, Sie haben vielleicht Kinder, die ganz selbstverständlich zum Schüleraustausch nach Helsinki, nach Paris gehen, Sie haben vielleicht Arbeitskollegen, die aus Budapest oder aus Paris zu uns gekommen sind. Aber zu dieser Selbstverständlichkeit muss noch eine weitere gehören, nämlich dass Menschen, die nicht studiert haben, Menschen, die in Ausbildung sind, sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ebenfalls in den Genuss Europas kommen. Deshalb finde ich es eine großartige Idee, dass man allen zum 18. Geburtstag ein freies Interrail-Ticket anbietet. Das wäre ein praktischer Beitrag dazu, dass wir alle Europa erfahren können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Viele hier im Haus wissen vielleicht noch aus eigener Erfahrung, wie das war und wie verändert man zurückgekommen ist, nämlich mit diesem europäischen Lebensgefühl. Ich finde, wir können den Menschen in Europa gar nicht dankbar genug sein, die sich beim Pulse of Europe und an diesem Samstag beim March for Europe hoffentlich massenhaft versammeln und dieses Europa in die Hand nehmen. Meine Damen, meine Herren, ich will zum Schluss sagen: Ich bin froh, dass wir in einem Land leben, wo wir bei dieser Frage Konsens haben. Wünschen würde ich mir allerdings, dass die Regierung auch Gebrauch davon macht, dass eine Opposition da ist, die proeuropäisch ist. Viele in Europa würden sich wünschen, dass sie eine Opposition haben, die Europa nicht infrage stellt. Wir stehen hinter Ihnen. Allein: Machen Sie was draus! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Bevor ich dem Kollegen Frei für die CDU/CSU-Fraktion das Wort erteile, möchte ich noch einmal darauf aufmerksam machen, dass bei aller Begeisterung für Europa in der Aktuellen Stunde die Redezeit maximal fünf Minuten beträgt – nicht minimal. Herr Kollege Frei. (Beifall bei der CDU/CSU) Thorsten Frei (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 60 Jahre Römische Verträge, das ist vor allen Dingen ein Grund zur Freude. 60 Jahre Römische Verträge bedeuten letztlich nichts anderes als 60 Jahre Friede und Freiheit in Europa – und das auf einem Kontinent, der in den vergangenen Jahrhunderten eher durch Kriege, Verwüstung und Elend geprägt war. Noch jede Generation hat es bei uns geschafft, das, was sie sich selber erarbeitet hatte, durch Kriege wieder zunichtezumachen. Auch wenn man den Blick auf die aktuellen Geschehnisse richtet – die Bedrohungen in der Welt, den Krisenbogen um Europa herum –, wird deutlich, dass wir das Vermächtnis der europäischen Gründerväter fortzuführen haben und dass die Geschichte unseres Kontinents für uns auch Verpflichtung sein muss. Europa ist aber auch Prosperität und Wohlstand. Das gilt nicht nur für uns Deutsche, die wir als Exportweltmeister in besonderem Maße vom Binnenmarkt profitieren. Es gilt auch für viele andere Länder. Ich denke dabei etwa an die ost- und mitteleuropäischen Länder, die 2004 zu uns gekommen sind und es innerhalb kurzer Zeit geschafft haben, von 40 Prozent der durchschnittlichen europäischen Wirtschaftsleistung auf 60 Prozent zu kommen. Man muss sich nur Polen anschauen: Dieses Land konnte in den ersten zehn Jahren nach dem Beitritt die Arbeitslosigkeit halbieren und das Bruttoinlandsprodukt um 50 Prozent steigern. Das alles sind Beweise dafür, wie wichtig Europa ist und wie substanziell die Fortschritte sind, die wir hier erzielen können. Umgekehrt aber sehen wir gerade am Beispiel Polens, dass dies ein Land ist, das in besonderer Weise auf die Legitimations-, Sinn- und Handlungskrise Europas hinweist. Letztlich machen die großen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind – Migration insbesondere aus Afrika, Brexit und viele andere mehr –, immer wieder deutlich, wie wichtig es ist, dass wir nicht glauben, dass die Errungenschaften in Europa für alle Zeiten gesichert sind, sondern wissen, dass wir jedes Mal aufs Neue darum kämpfen müssen. Das wird hier, glaube ich, in besonderer Weise sichtbar. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, dass es gerade vor diesem Hintergrund gut ist, dass die Kommission diesen Geburtstag zum Anlass nimmt, darüber nachzudenken, wie denn die Zukunft aussehen soll, wie sich Europa weiterentwickeln könnte. Ich finde den Ansatz richtig, fünf Entwicklungsszenarien zu erarbeiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die aber auch Denkanstöße für uns bieten, die uns darüber nachdenken lassen, wie man Europa richtig baut, damit es zukunftsfähig ist und Akzeptanz bei den Menschen findet. Wenn ich ein paar wenige Bemerkungen dazu machen darf: Ich glaube, dass es richtig ist, wenn wir uns in Europa auf die wesentlichen Themen konzentrieren und immer auch deutlich machen, wo wir nicht nur einen europäischen Mehrwert haben, sondern wo es vielleicht sogar so ist, dass sich die Herausforderungen ohne Europa auf nationaler Ebene gar nicht wirklich bewältigen lassen. Dabei denke ich etwa an den Binnenmarkt, an die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, an die Sicherung europäischer Grenzen und an die Bewältigung der Wanderungsbewegungen weltweit. Das alles sind Punkte, bei denen für mich sonnenklar ist, dass sie auf europäischer Ebene sehr viel besser und effektiver gelöst werden können als auf nationaler Ebene. Das bedeutet für mich aber gleichzeitig auch, dass wir sehr genau hinschauen müssen, wo Aufgaben idealerweise vielleicht nicht auf europäischer Ebene angesiedelt sind. Dabei geht es nicht nur um das Austarieren der Verhältnisse zwischen Europa und den Nationalstaaten. Man muss da die Länder, die Regionen und die Kommunen genauso mitdenken; denn jedes Haus wird vom Fundament her gebaut. Das gilt auch für das Haus Europa. Deshalb ist es entscheidend, dass die nächsthöhere Ebene letztlich immer eine Begründungspflicht dafür hat, dass sie eine Aufgabe besser bewältigen kann. (Beifall bei der CDU/CSU) Da, glaube ich, haben wir noch einiges zu tun. Ich denke dabei etwa an das Instrument der Subsidiaritätsrüge, das wir verzweifelt versuchen einzusetzen, zuletzt beim Dienstleistungspaket, aktuell beim Winterpaket. Wir stellen aber auch fest, dass das eben ein stumpfes Schwert und nicht das richtige Mittel dafür ist, auszutarieren, wie die politischen Aufgaben zwischen den einzelnen Ebenen idealerweise verteilt werden sollten. Da brauchen wir andere Ansätze, weil das Europa effektiver, effizienter und schlagkräftiger macht und vor allen Dingen auch die Glaubwürdigkeit stärkt. Und wir müssen auch dafür sorgen, dass die Dinge, die wir gemeinsam vereinbart haben, dann auch tatsächlich durchgesetzt werden, damit nationale Interessen nicht immer wieder als Erpressungspotenzial eingesetzt werden, um eigene Ziele auf Kosten der Gemeinschaft zu erreichen. Europa ist auch eine Rechtsgemeinschaft, und das muss im Umgang spürbar sein. Die letzte Bemerkung, die ich machen möchte, ist: Wir müssen uns immer auch bewusst sein, dass es nicht nur auf Normen und Regelungen ankommt, sondern vor allen Dingen auch auf die Menschen. Am Ende des Tages muss es mehr Menschen geben, die von der Zukunft und der Zukunftsfähigkeit der EU überzeugt sind, als Menschen, die das nicht so sehen. Da darf uns die aktuelle Bertelsmann-Studie zuversichtlich stimmen, nach der vier Fünftel der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Europa ihre Zukunft genau in dieser Gemeinsamkeit sehen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Frei. Thorsten Frei (CDU/CSU): Vielen Dank – auch für Ihr Verständnis. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Christian Petry [SPD]) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bitte schön. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Kollege Alexander Ulrich das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Alexander Ulrich (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 60 Jahre Römische Verträge: Dieses Ereignis hat es tatsächlich verdient, würdig hier im Parlament besprochen und diskutiert zu werden. Wir haben gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen im Ältestenrat den Antrag für eine Vereinbarte Debatte eingebracht. Es ist schade, dass CDU/CSU und SPD das offensichtlich nicht wollten und dass es eine von der Opposition beantragte Aktuelle Stunde brauchte, um darüber zu diskutieren. Es zeigt auch, mit welcher Euphorie diese Bundesregierung Europa begleitet. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg ist wohl die größte historische Errungenschaft, die die hier im Bundestag vertretenen Generationen miterleben dürfen. Die Europäerinnen und Europäer begegnen sich heute nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern in Städtepartnerschaften, internationalen Universitäten, Austauschprogrammen, Konferenzen oder auch im Europäischen Parlament. Das ist historisch betrachtet eine Sensation. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Jahrestag der Römischen Verträge ist daher selbstverständlich ein Grund zum Feiern. Wir müssen diesen Jahrestag aber auch zum Anlass nehmen, darüber zu reden, dass die Europäische Union ganz offenkundig in der tiefsten Krise ihrer Geschichte ist. Wenn es hierfür noch der Beweise bedarf, dann sind dies die Entscheidung Großbritanniens zum Ausstieg aus der Europäischen Union, die Rechtsentwicklung in vielen Mitgliedsländern, aber auch antidemokratische Tendenzen in osteuropäischen Ländern oder die Tatsache, dass Europa immer mehr von seinen Werten Abstand nimmt. Das ist, glaube ich, nicht gut. Wir kritisieren zu Recht, dass die USA Mauern an der Grenze zu Mexiko aufbauen wollen. Wir selbst aber bauen an den Grenzen Europas Mauern – gegenüber Menschen, die auf der Flucht sind und in Europa Hilfe suchen. Auch das muss man an diesem Tag deutlich zum Ausdruck bringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor wenigen Tagen war der Infobus des Deutschen Bundestages in Kaiserslautern, meiner Heimatstadt. Da hat eine junge Schülerin, 17 Jahre alt, mit Migrationshintergrund, zu mir gesagt: Die Friedensidee Europas ist richtig und gut, sie reicht aber nicht mehr aus, um die jungen Menschen für Europa zu gewinnen. Die junge Generation glaubt nicht, dass mit dem Ausstieg Großbritanniens die Kriegsgefahr in Bezug auf dieses Land wieder größer geworden ist. – Die Friedensidee, die Europa bewegt hat, reicht also heute nicht mehr aus, um die jungen Menschen für Europa zu gewinnen. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die jungen Menschen sind eher europabegeistert!) Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit. Wir müssen deutlicher machen, dass die EU mehr ist als ein Projekt der Banken und der Großkonzerne. Wir brauchen ein Europa der Menschen. (Beifall bei der LINKEN) Davon haben wir uns durch die Wirtschaftskrise weiter entfernt als jemals zuvor. Deshalb sage ich: Was sollen denn die jungen Menschen in Südeuropa denken, wo die Jugendarbeitslosigkeit über 50 Prozent liegt? Der Gedanke, dass Europa Wohlstand bringt, wird doch da gar nicht mehr verwirklicht. Wir erleben gerade auch in Südeuropa, dass viele junge Menschen über Generationen keine Chance mehr auf mehr Wohlstand haben. Vielmehr fühlen sie sich abgehängt und verbinden das auch mit einer Austeritätspolitik, die ihnen von der Europäischen Union und insbesondere von dieser Bundesregierung mit Merkel und Schäuble verordnet worden ist. Sie haben sich mit dieser Austeritätspolitik an der europäischen Idee versündigt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Weißbuch, das die Europäische Kommission jetzt auf den Weg gebracht hat, ist ein Beweis dafür, dass man keine grundlegenden Ideen mehr hat. Es ist eine Sammlung von möglichen Wegen, wie man Europa besser gestalten kann. Aber ich sage: Das hängt nicht damit zusammen, in welchen Geschwindigkeiten man sich in Europa beteiligt, es hängt nicht damit zusammen, ob man einen eigenen Weg oder mit wenigen anderen Ländern zusammen eigene Wege in Europa suchen kann. Die Politik in Europa muss sich ändern. Nur das ist der Schlüssel für mehr Europa und für ein besseres Europa. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Nicht die Institutionen sind das Problem, sondern die Politik, die diese Institutionen betreiben, ist falsch. Sie muss geändert werden. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke wird den mit dem Weißbuch einhergehenden Prozess proeuropäisch begleiten. Wir sagen auch ganz deutlich: Wir brauchen einen Neustart der Europäischen Union. Die Verträge von Lissabon haben leider den Neoliberalismus als Grundlage in die EU-Verträge aufgenommen. Das muss sich grundlegend ändern. (Beifall bei der LINKEN) Abschließend möchte ich – das habe ich auch gestern im Europaausschuss gesagt – an die gestrige Rede des neuen Bundespräsidenten erinnern, der deutlich gesagt hat: Demokratie lebt auch davon, dass man Kritik zulässt, dass kritische Stimmen wahrgenommen werden, dass man sich damit beschäftigt. – Aber wie gehen wir in Deutschland und auch in Europa oftmals mit Kritik an der Europäischen Union um? Wir kritisieren pauschal, die Kritiker seien alle Antieuropäer. Wir dürfen die Kritik an Europa aber nicht immer antieuropäisch verklären. Wir müssen den Menschen die Chance geben, für ein besseres Europa zu kämpfen, ohne stigmatisiert zu werden. (Beifall der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE]) Deswegen sage ich ganz deutlich: Die Gegner von TTIP oder CETA sind doch keine Antieuropäer. Sie wollen keinen Handel verbieten, sie wollen Europa nicht beschädigen, sondern sie wollen einen fairen Handel. Deshalb muss man diese Kritik auch in Zukunft zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Ulrich, höchstens fünf Minuten, nicht mindestens. Alexander Ulrich (DIE LINKE): Ja. – Deswegen sage ich ganz deutlich: Wer den Rechtspopulisten das Wasser abgraben will, muss die Sorgen der Bürger ernster nehmen und auch ihre Diskussionen ernst nehmen, (Joachim Poß [SPD]: Den Linkspopulisten auch, nicht nur den Rechtspopulisten!) um vielleicht auch in ihrem Sinne die Politik zu verändern. Nur dann wird Europa gelingen – sozial, friedlich und demokratisch. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Es ist ja gut, wenn die Emotionen zu Europa so stark sind. Jetzt spricht für die Bundesregierung Herr Staatsminister Michael Roth. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie viele von Ihnen besuche auch ich Schulen und suche das Gespräch mit Schülerinnen und Schülern. Kürzlich wurde ich von einer Schülerin gefragt: Michael Roth, was hat Sie eigentlich zu einem Europäer werden lassen? – Ich musste ein bisschen nachdenken. Dann erinnerte ich mich daran, woher ich gekommen bin, wo ich groß geworden bin und wo ich aufwuchs. Ich bin in Heringen geboren, groß geworden, zur Schule gegangen. Heringen an der Werra liegt in Osthessen, ungefähr 1 Kilometer von der ehemaligen Grenze zur DDR entfernt. Wenige Monate vor meinem Abitur – ich weiß das noch wie heute – fiel die Mauer. Ich hatte das große Glück, dass ich im Westen groß geworden bin. Aber für mich galt der Song von Udo Lindenberg: „Hinterm Horizont geht’s weiter“ nicht. – Hinter dem Horizont ging es für mich nämlich nicht weiter, weil in Richtung Osten ein für mich unbekanntes Land lag. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da durfte man hinfahren!) Daraus habe ich, wie viele Männer und Frauen meiner Generation, eine Lehre gezogen: Europa ist ein Projekt der Freiheit, ein Projekt, das Zäune und Mauern zu überwinden versucht. Deswegen werde ich mich niemals mit einem Europa abfinden, in dem neue Mauern gebaut und neue Zäune errichtet werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ja, Europa heißt für mich: nie wieder Krieg, nie wieder Holocaust, nie wieder Faschismus, aber eben auch nie wieder Mauern und Zäune. Heute sind wir in Gedanken bei unseren Freunden und Partnern in Großbritannien. Wir sind fassungslos über diesen Terrorangriff. Wir trauern um die Opfer. Unser Mitgefühl gilt den Familien der Opfer. Zusammenhalten, zusammenstehen – das zeichnet uns in Europa aus. Liebe Britinnen und Briten, ihr seid in eurer Trauer nicht allein. Wir stehen an eurer Seite, auch im Kampf gegen den Terrorismus. Solidarität, Miteinander – das ist die einzigartige Stärke der Europäischen Union, und ihr gehört dazu. Wir sind traurig, dass ihr in Zukunft nicht mehr dazugehören wollt. Das war sicherlich einer der Tiefpunkte, die uns im vergangenen Jahr erschüttert haben: dass die Bürgerinnen und Bürger eines Staates zum allerersten Mal in der Geschichte des vereinten Europas mehrheitlich sagen, sie wollen nicht mehr dazugehören. Aber wir sollten deshalb nicht rückwärtsgewandte Debatten führen, sondern das auch als eine Chance zur europäischen Selbstvergewisserung begreifen. Wir müssen natürlich auch selbstkritisch über unser Europa, so wie es sich derzeit darstellt, nachdenken. Streit gehört in Europa immer dazu. Es gehört aber auch dazu, dass wir diesen Streit respektvoll und tolerant austragen und dass wir immer wieder versuchen, uns in die Rolle des jeweils anderen Partners hineinzuversetzen, dass wir Europa auch mal mit den Augen des jeweils anderen oder der jeweils anderen sehen. Das hilft. Miteinander nach Lösungen zu suchen, ist gelegentlich schwierig; denn Europa beruht auf Vielfalt. Auch wir in Deutschland haben Traditionen, wegen derer es schwierig war, im Rahmen des Binnenmarktes zu gemeinsamen Lösungen zu kommen – wenn ich mal an die Schornsteinfeger oder auch an den Meisterbrief denke. Da ist es auch vielen bei uns in Deutschland schwergefallen, auf etwas zu verzichten, was als Stärke unseres Landes angesehen wurde. Jedes Land hat eigene Traditionen, die es vielleicht nur schwerlich aufgeben möchte. Aber trotz allen Streits gehört es dazu, dass man sich an das Gemeinsame erinnert. Was macht uns in Europa stark, und was macht uns im Kern zu Europäerinnen und Europäern? Wir sind nicht in erster Linie ein Binnenmarkt; wir sind in erster Linie eine Wertegemeinschaft, und dieses Wertefundament verpflichtet uns. In Europa wollen wir ohne Angst verschieden sein, unabhängig davon, wen wir lieben, unabhängig davon, an welchen Gott wir glauben oder ob wir überhaupt an einen Gott glauben. Das ist das, was Europa stark gemacht hat; Europa beruht auf Vielfalt. Vielleicht haben wir in den vergangenen Jahren zu wenig daran erinnert, dass dieses Europa eben auch von gemeinsamen Werten zusammengehalten wird. Diese Werte verpflichten uns alle; aber Europa, die Europäische Union, ist offen für alle, unabhängig davon, welcher Religion, welcher Ethnie oder auch welcher Kultur sie angehören. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir müssen unsere Stimme erheben, wenn politisch Verantwortliche in der Europäischen Union einen Satz wie diesen sagen: Flüchtlinge gehören nicht zu unserem Land, wir können sie nicht aufnehmen, weil sie Muslime sind. – Dieser Satz ist mit den Werten Europas unvereinbar; (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) er ist mit den Verträgen der Europäischen Union nicht vereinbar. Wir brauchen also auch hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, Klarheit. Bei Werten darf es keine politischen Rabatte geben. Es geht um unsere eigene Glaubwürdigkeit. Wie wollen wir auf der globalen Ebene für Menschenrechte, für Demokratie, für die Unabhängigkeit der Justiz, für die Freiheit der Medien glaubhaft eintreten, wenn wir einen Zweifel daran lassen, dass wir diese Werte uneingeschränkt im Inneren der Europäischen Union achten, respektieren und verteidigen? Wir können nur dann selbstbewusst unsere Werte gegenüber Russland, gegenüber der Türkei, gegenüber China und vielen anderen Staaten dieser Welt vertreten, wenn wir selbst diese Werte uneingeschränkt achten. Es ist seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika auf der globalen Ebene nicht leichter geworden. Umso wichtiger ist es, dass wir hier zusammenstehen, mit einer Stimme sprechen und deutlich machen: „Europa steht für diese Werte“ – nicht nur in Sonntagsreden, sondern im Alltag, im Kleinen wie im Großen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Warum ist es gelegentlich so schwer, Bürgerinnen und Bürger für Europa zu begeistern? Das mag auch daran liegen, dass wir Politikerinnen und Politiker die Debatte über Europa gelegentlich als eine Verzichtsdebatte geführt haben, auch hier im Bundestag, nach dem Motto: Wir müssen als Nationalstaat auf etwas verzichten, wenn wir Zuständigkeiten auf die Europäische Union verlagern. – Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir können doch nur auf das verzichten, was wir noch haben. Der Nationalstaat alter Prägung ist nicht mehr in der Lage, die Globalisierung angemessen – demokratisch, sozial und nachhaltig – zu gestalten. Das heißt, wir gewinnen über ein handlungsfähigeres, ein demokratischeres, ein stärkeres Europa politische Gestaltungsmacht zurück, die uns auf der nationalen Ebene schon längst nicht mehr zur Verfügung steht. Vielleicht können wir so Bürgerinnen und Bürgern wieder Mut machen und deutlich machen, dass wir nichts verlieren, sondern dass wir mit Europa etwas hinzugewinnen. Genau das hat auch unser Außenminister kürzlich in einem Namensbeitrag deutlich gemacht. Wie oft muss man hören: Deutschland ist der Zahlmeister Europas. – Kein Land hat vom vereinten Europa so viel profitiert wie die Bundesrepublik Deutschland. Wir sind stark, weil wir in einem starken und solidarischen Europa leben. Wir können uns keine Armutsinseln in der Europäischen Union erlauben. Wir leben vom Wohlstand auch in anderen Regionen der Europäischen Union. Unsere Arbeitsplätze, unser Wirtschaftswachstum beruhen auf offenen Grenzen und darauf, dass sich auch Spanierinnen und Spanier, Griechinnen und Griechen und viele andere unsere qualitativ hochwertigen, aber eben auch teuren Produkte leisten können. Das heißt, wenn es anderen Europäerinnen und Europäern gut geht, geht es uns auch in Deutschland gut. Das muss man wieder offensiv vertreten, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ja, dieses Europa der 28 ist komplizierter geworden; es ist schwieriger geworden, einen Konsens zu finden. Deswegen ist es vielleicht auch an der Zeit, wieder intensiver darüber nachzudenken, wie wir es schaffen, dass wir uns nicht vom Langsamsten und vom Unwilligsten Richtung und Tempo vorgeben lassen müssen. Das hat nichts mit der Debatte über Kerneuropa zu tun. Wir wollen keinen Closed Shop, sondern wir wollen ein Europa der Mutmacher. Wir wollen, dass Staaten in bestimmten Politikbereichen vorangehen und deutlich machen: Europäische Lösungen sind am Ende besser, nachhaltiger, gerechter und funktionsfähiger als rein nationale Lösungen. Diesem Europa der Mutmacher können sich alle anschließen. Vielleicht bringt das Europa wieder in Schwung und zeigt, dass Europa nun wirklich nicht Teil des Problems, sondern vielmehr Teil der Lösung ist. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Staatsminister. Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Um die wesentlichen Bewährungsproben, mit denen wir es derzeit zu tun haben, zu bestehen, reichen, wie ich das sehe, keine rein nationalen Lösungen aus. Weder im Kampf gegen den Terrorismus noch in der Bekämpfung von Fluchtursachen noch in der Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion noch im Kampf gegen Steuerdumping noch in der Stärkung der sozialen Dimension sehe ich allein Deutschland in der Pflicht, ich sehe uns alle in Europa in der Pflicht. Wir in Deutschland müssen uns besonders anstrengen, dass diese Europäische Union gelingt, dass sie besser und handlungsfähiger wird; denn Europa war, ist und bleibt unsere Lebensversicherung in Zeiten der Krise. Sie ist eine Chance auf etwas Einzigartiges, vor allen Dingen für die jungen Menschen, die derzeit auf die Straßen gehen. Sie haben meine Sympathie, sie haben meine Solidarität. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Danke schön. – Als Nächste spricht für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Ursula Groden-Kranich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Durchsicht meiner Termine für diese Woche habe ich eine Einladung vermisst, nämlich die Einladung des Präsidenten des Deutschen Bundestages zu einem Empfang aus Anlass des 60. Jahrestages der Römischen Verträge. Nichts läge mir ferner, als unser Präsidium in dieser Frage zu kritisieren. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Sicherlich ist der eigentliche Grund für das Ausbleiben dieser Einladung die derzeitige Fastenzeit. Aber gerade der Deutsche Bundestag als eines der europäischsten nationalen Parlamente in der EU hätte heute Grund zum Feiern und zur Freude. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Genau das sollten wir viel öfter tun. Wir sollten uns an dem erfreuen, was wir und die Generationen vor uns in Europa erreicht haben. Gerade in der schwierigen Phase, in der wir uns heute befinden, müssen wir aufhören, zu jammern, und müssen die Dinge stattdessen anpacken. Wo wären wir denn heute, wenn die Väter und Mütter der europäischen Einigung vor 60 Jahren nur gezaudert hätten? Sie haben sich anders entschieden. Sie gingen mutig voran, brachen mit tradierten Klischees und Rollenzuschreibungen und wagten das, was nur wenige Jahre und Jahrzehnte vorher undenkbar gewesen wäre: den Prozess der europäischen Einigung. Das ist ein historischer Verdienst, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Ich selbst bin leidenschaftliche Europäerin, und ich weiß auch, warum: Weil meine persönliche Geschichte und die meiner Familie mich dazu gemacht haben. Mein Vater wurde 1931 in Breslau geboren, in einer Zeit, in der die Länder unseres Kontinents von einer Welle des Nationalismus überspült wurden. In den Wirren des Zweiten Weltkrieges musste er, wie so viele, seine Geburtsstadt verlassen. Er fand in Mainz eine neue Heimat. Gerade nach den grauenvollen Erfahrungen des Krieges war es für die Generation meiner Eltern geradezu unvorstellbar, dass die Menschen in Europa irgendwann nicht nur friedlich nebeneinander koexistieren, sondern auch gemeinsam ihre Zukunft aktiv gestalten. Die europäische Einigung mag vielleicht als Elitenprojekt gestartet sein, sie wurde aber zu einer Volksbewegung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Von dieser Volksbewegung hat meine Generation wiederum ganz maßgeblich profitiert. Grenzen verschwanden mit der Zeit – nicht nur auf dem Land, sondern immer mehr auch in den Köpfen. Wie viele andere konnte ich bei meinem ersten Schüleraustausch Dijon, die Partnerstadt meiner Heimatstadt, besuchen, Gleichaltrige treffen und das Land mit ihnen gemeinsam kennenlernen. Später, im Berufsleben, führten mich meine Wege nach Frankreich und England und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auch zum Geburtshaus meines Vaters in Breslau. Der Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten bereichert doch unser aller Leben ungemein. Weil ich diese guten und positiven Erfahrungen, die mich so geprägt haben, machen durfte, freue ich mich umso mehr, dass meine Tochter derzeit in England zur Schule geht und dort Freunde aus aller Welt kennenlernt. Dies alles wäre heute nicht möglich, wenn die Väter und Mütter der europäischen Einigung nicht bereit gewesen wären, neue Wege zu beschreiten. Heute können wir auf den Wegen gehen, die diese Generation uns bereitet hat. Daraus erwächst für uns eine besondere Verantwortung. Als leidenschaftliche Europäerin darf ich auch feststellen, dass nicht alles in der EU gut läuft. Ja, wir haben viele Baustellen. Ja, der Grundsatz, Europa muss groß in großen Dingen und klein in kleinen Dingen sein, ist noch nicht bis in jede Ecke des Berlaymont und des Europäischen Parlaments vorgedrungen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dieser Grundsatz eingehalten wird; Kollege Frei ist schon darauf eingegangen. Der informelle Europäische Rat am kommenden Samstag ist ein weiterer Meilenstein in einem Prozess des Innehaltens und der Selbstprüfung für die Europäische Union. Die mit dem Weißbuch vorgelegten fünf Szenarien geben uns eine Möglichkeit, wieder über Europa zu diskutieren. Europa ist nicht nur ein Friedensgarant. Die Europäische Union ist als Wertegemeinschaft unsere einzige glaubhafte Antwort auf eine sich immer stärker globalisierende Welt und – ich sage es gerne noch einmal – gegen Nationalismus und Ausgrenzung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir künftig häufiger über das reden, was Europa in den letzten 60 Jahren zu einer besseren Heimat für uns alle gemacht hat, dann ist mir um die Zustimmung der Menschen zur EU nicht bange. Dazu müssen wir nur in Europa gemeinsam mutig vorangehen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Kollege Andrej Hunko das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Andrej Hunko (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über 60 Jahre Römische Verträge; aber noch kein Redner ist bislang auf diese Verträge eingegangen. Was waren denn die Römischen Verträge? Das waren zwei Verträge. Der erste Vertrag war der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Ja, Frau Groden-Kranich, das war ein Elitenprojekt. Wenn man sich den Vertrag anschaut, dann sieht man das. Das ist ein Vertrag, der maßgeblich für große Konzerne geschrieben wurde. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! – Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU]: Wie bitte? Dann haben Sie mir gerade nicht zugehört!) Das ist einer der Geburtsfehler der Europäischen Union. Der zweite Vertrag, Herr Özdemir, war der Euratom-Vertrag, in dem es um die Schaffung einer mächtigen Atomindustrie in Europa ging. Es wundert mich, dass das alles von Ihrer Seite so gefeiert wird. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Von Ihrer Seite nicht, oder wie?) – Den Euratom-Vertrag feiern wir nicht. Wir halten die Schaffung einer mächtigen europäischen Atomindustrie nicht für zielführend. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht kapiert, was die Europäische Union ist!) Aber wir halten es für zielführend und für eine große Errungenschaft, dass die Länder, die zwei Weltkriege gegeneinander geführt haben, miteinander kooperieren. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Beispiel für eine Rede, die man am besten nicht hält! Schämen Sie sich für Ihren Auftritt!) Wir halten Integration für zielführend. Das gilt für Frankreich, für Großbritannien, aber auch für Russland. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so was von peinlich!) Zu einem gemeinsamen europäischen Haus gehören auch eine Kooperation und der Frieden mit Russland. Das will ich sehr deutlich sagen. (Beifall bei der LINKEN) Ja, es ist eine historische Leistung, dass es eine wirtschaftliche Integration gegeben hat. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unerträglich!) Wir erkennen das an; es ist sehr gut. Aber es ist eben nur ein Teil Europas gewesen. Es waren am Anfang sechs Länder. Die Anzahl der Mitgliedsländer ist dann größer geworden. Aber Russland, ein Hauptopfer von zwei Weltkriegen, ist nach wie vor ausgeschlossen, und wir stehen vor einer neuen Konfrontation und einer neuen Aufrüstung in Europa; auch dies muss man sehr deutlich sagen. Wir wollen ein gemeinsames europäisches Haus, ein gesamteuropäisches Haus, und nicht einen neuen Kalten Krieg mit Russland. (Beifall bei der LINKEN – Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Russland ist gut, und wir sind böse!) Im Juli 1989 hat Michael Gorbatschow in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates diese Vision eines gemeinsamen europäischen Hauses vorgetragen. In den 90er-Jahren gab es eine historische Chance, es Wirklichkeit werden zu lassen. Leider ist das nicht eingetreten, sondern gescheitert, und das hat auch mit der NATO-Osterweiterung und den dann folgenden Reaktionen von russischer Seite zu tun. Es wird nach wie vor eine große historische Aufgabe sein, dieses gesamteuropäische Haus zu schaffen. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat Ihnen denn diese Rede geschrieben?) Ein zweites Problem, auf das man hinweisen muss, besteht darin, dass sich ebenfalls in den 90er-Jahren der neoliberale Charakter der Europäischen Union verstärkt hat, so in den Verträgen von Maastricht und Lissabon. Es ist ein großes Problem in vielen europäischen Ländern, dass nach einer Bertelsmann-Studie gegenwärtig 118 Millionen Menschen von Armut betroffen sind und dass der Anteil der Vollzeit arbeitenden Menschen, die in Armut leben, wächst. (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat doch nichts mit Europa zu tun!) Das schafft natürlich den Boden für Rechtspopulisten. Der Rechtspopulismus ist die andere Seite des Neoliberalismus, seine Schattenseite, und diese Orientierung muss aufhören. Wir brauchen ein sozial gerechtes Europa, ein integratives Europa, sowohl sozial als auch geopolitisch. (Beifall bei der LINKEN) Wenn wir also über die Römischen Verträge reden, sollten wir auch über den Inhalt der Verträge reden und hier nicht nur Sonntagsreden halten. Ich halte das durchaus für sehr wichtig. (Beifall bei der LINKEN) Diese zwei Säulen, einerseits eine Überwindung des neoliberalen Charakters der Grundlagenverträge wie des Lissabon- und des Maastricht-Vertrages (Zurufe der Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und andererseits eine Entspannung und eine integrative Politik gegenüber dem Osten, umreißen die historische Aufgabe, vor der Europa steht. Ich glaube, darüber müssten wir ernsthaft diskutieren. Es ist gut, dass die Europäische Kommission jetzt Szenarien entwirft. Ich hielte es für wichtig, über diese Szenarien zu diskutieren und nicht nur Sonntagsreden zu halten. Wenn das nicht passiert – das sage ich hier auch sehr deutlich –, wird die Krisenhaftigkeit der Europäischen Union leider fortschreiten. Wir brauchen diese Debatte dringend. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Joachim Poß für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt aber, Herr Poß!) Joachim Poß (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Hunko, Sie haben etwas geschafft, was nicht viele hier schaffen: Sie haben die Geschichte so verzerrt, wie man es selten in diesem Deutschen Bundestag gehört hat. (Inge Höger [DIE LINKE]: Er hat die Wahrheit gesagt!) – Das hat mit Wahrheit überhaupt nichts zu tun. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie verschleiern die Rolle Putins, dessen Ziel doch offenkundig ist, Europa zu zerstören, und Sie sind an seiner Seite. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Oder wie sollte ich Ihren Beitrag jetzt interpretieren? Punktum! Sie stellen sich in eine Reihe mit den Rechtsextremisten aus der ganzen Welt, deren Schutzpatron Putin de facto ist, Herr Hunko. Darüber müssen Sie sich im Klaren sein. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn auch die Kritik nicht ganz unberechtigt ist, dass es in den 60 Jahren oft ein Elitenprojekt war (Inge Höger [DIE LINKE]: Und noch immer ist!) und zu wenig getan wurde, um die Bevölkerung in ganz Europa mitzunehmen, muss ich sagen: Ich war als Bergarbeiterkind schon mit zehn Jahren von Europa sehr begeistert. Also von wegen Elitenprojekt! Ich will damit sagen: Es war in den 50er- und 60er-Jahren ein Projekt der Herzen für viele Deutsche, die nicht zurückwollten. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das müssen Sie trotz Ihrer Grenznähe – Sie wohnen ja im Dreiländereck – offenkundig noch lernen. Wir alle müssen lernen, dass man mit Defensive und Kleinmut den wachsenden Nationalismus nicht in die Schranken weisen kann. Wir haben gute Argumente: Meinungsfreiheit, Demokratie, Rechts- und Sozialstaat. Viel zu selten verwenden wir eher egoistische Argumente, sozusagen deutsche Argumente. Europa ist in unserem eigenen Interesse – Herr Roth hat es angedeutet –: Es geht um Arbeitsplätze, viele Arbeitsplätze, die durch ein zusammenwachsendes Europa hier in Deutschland entstanden sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) So müssen wir die Diskussionen anpacken und nach vorne führen. Sigmar Gabriel hat recht: Deutschland ist ein Nettogewinnerland. Das ist aufgrund der oft populistischen und opportunistischen Debatte – Sie haben hier ein Beispiel dafür geliefert – vielen Menschen in diesem Land nicht klar. Das klarzumachen, ist aber unsere Aufgabe, wenn wir uns in der Tradition der Aufklärung sehen. Es muss einiges passieren. Verschiedene Mitgliedstaaten müssen hierfür Beiträge erbringen. Die Bereitschaft Deutschlands, in die eigene Zukunft und damit in die Zukunft Europas zu investieren, muss wachsen. Die Mittelmeerländer müssen sich stärker bei den notwendigen Strukturreformen engagieren: bei Bildung, Ausbildung, Justiz, einer effizienteren Verwaltung, der Bekämpfung von Klientelismus und Korruption. Die Beneluxstaaten als Gründerstaaten müssen endlich ihre skandalöse Steuerpolitik zulasten der ehrlichen Steuerzahler in Europa beenden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Polen und Ungarn müssen realisieren, dass sie zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückkehren müssen. Nur so kann es, jedenfalls meines Erachtens, für sie eine Zukunft in Europa geben. In diesem Zusammenhang muss natürlich auch die rumänische Regierung genannt werden. Der Sündenfall geschah, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, schon vor einigen Jahren im Fall von Ungarn. Das anhaltende Schweigen der konservativen Europäischen Volkspartei, der CDU und auch von Frau Merkel und die Kumpanei der CSU mit Herrn Orban waren einer der Sargnägel für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Auch das muss man offen aussprechen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Blödsinn!) Dieses Verhalten hat den Polen Kaczynski zusätzlich ermutigt. Was soll man von der falschen Solidaritätsdebatte, die von einigen geführt wird, halten? Was soll man davon halten, wenn Herr Kaczynski Solidarität in Verteidigungsfragen einfordert, im Umgang mit Flüchtlingen in Europa aber keine Solidarität zeigt, wenn Herr Tsipras mangelnde Solidarität beklagt, obwohl sein Land das größte europäische Hilfspaket in der Geschichte bekommen hat? (Zuruf von der LINKEN) – Ja, sicher. – Die in den Niederlanden, Frankreich und Italien geführten Debatten über einen möglichen Exit aus dem Euro sind ökonomisch und politisch noch absurder als die Grexit-Debatte, die von einigen hier in Deutschland geführt wird, auch auf der rechten Seite. Sicherlich kann es ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten geben, nicht aber ein Europa, das in verschiedene Richtungen strebt. Deswegen bin ich sehr gespannt, wie die Erklärung am 25. Juni in Rom aussehen wird. Wenn unsere Werte dort nicht deutlich beschrieben sind, dann wird es ernst für Europa. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Die nächste Rednerin ist Annalena Baerbock für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die EU ist das Wertvollste, was dieser Kontinent je geschaffen hat. Konflikte lösen wir am Verhandlungstisch und nicht mehr auf dem Schlachtfeld und auch nicht auf Twitter. – Das ist ein Satz, dem jeder hier folgen kann. Das in Festreden zu sagen, ist einfach. Dafür zu werben, wenn einem der Wind ins Gesicht bläst, das ist die eigentliche Aufgabe, vor der wir stehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte betonen: Die EU, die europäische Integration, das war nie ein einfaches Projekt. Konrad Adenauer sagte vor 60 Jahren zu der Unterzeichnung der Römischen Verträge:  ... die Optimisten, nicht die Pessimisten, haben recht behalten. Charles de Gaulle, Konrad Adenauer und vor allen Dingen Robert Schuman sind damals das politische Risiko eingegangen. Hätte es den Begriff „Shitstorm“ damals schon gegeben, dann wäre er sicherlich ein Euphemismus für das gewesen, was auf die Vorschläge, die kriegswichtigen Güter der verschiedenen Länder zu vergemeinschaften, gefolgt ist. Herr Kollege Hunko, bei allem Respekt möchte ich Sie an das erinnern, was uns die Geschichte gelehrt hat, und deutlich machen, welch großer Mut bei den ehemaligen Kriegsfeinden vor 60 Jahren erforderlich war, um zu sagen: Wir arbeiten zusammen. – Das war doch eine Lehre, vor allen Dingen für Deutschland. Was hat die NSDAP denn stark gemacht? Es war der damalige Volksentscheid zum Young-Plan. Es sollte in Deutschland nämlich darüber abgestimmt werden, ob die Reparationszahlungen als Folge des Ersten Weltkrieges geleistet werden sollten. Diese Volksabstimmung hat die NSDAP erst stark gemacht. In Anbetracht dieser Lehre aus der Weimarer Republik sollte man nicht kritisieren, dass man nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt hat: Wir haben den politischen Mut, uns auch gegen die Stimmung im Land in einer europäischen Gemeinschaft zu versöhnen. – Das ist doch ein historischer Erfolg. Ihn kleinzureden, ist wirklich absolut falsch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Ich erwähne hier, wie viel Mut dafür erforderlich war, weil mich wirklich stört, dass heute gerade von politischen Verantwortungsträgern immer wieder gesagt wird: Nein, jetzt können wir nicht über Europa reden; die Stimmung ist gerade so schlecht. – Vor 60 Jahren war die Stimmung richtig mies. Die Stimmung war auch nicht rosig, als wir darüber diskutiert haben, ob wir die Deutsche Mark behalten wollen. Die Stimmung war auch nicht toll, als man gesagt hat – ich komme übrigens aus Brandenburg –, man wolle eine Osterweiterung nach Polen. Trotzdem hat man sich getraut, dieses Vorhaben anzugehen, und man hat gesagt, man streite für das Friedensprojekt Europa. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Den politischen Mut, auch gegen die Stimmung im Land zu sagen: „Wir stehen für unsere Werte ein“, brauchen wir auch heute. (Andrej Hunko [DIE LINKE]: Gilt das auch für Russland?) Das ist unsere Aufgabe als Politiker. Genau dies ist auch der Grund, warum der Brexit so gekommen ist, wie er gekommen ist. Der politische Verantwortungsträger hatte diesen Mut nämlich nicht. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Als UKIP groß geworden ist – ja, da lachen Sie; schauen Sie es sich noch einmal an –, hat Cameron gesagt: Oh Gott, wir haben hier Euroskeptiker. Was könnte das für meine politische Karriere bedeuten? – Anstatt sich hinzustellen und zu sagen: „Ich streite für Europa“, hat er gesagt: Diese Verantwortung möchte ich nicht übernehmen. Ich möchte gerne weiterregieren. Machen wir doch eine Volksabstimmung, aber erst in drei Jahren. Und die Regeln für diese Abstimmung interessieren mich eigentlich nicht. – Das ist politisches Versagen, und Sie finden das auch noch richtig. Das ist erschreckend! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Weil genau dieses politische Versagen in einigen anderen Mitgliedstaaten jetzt wieder droht – da sollten wir übrigens auch auf Deutschland schauen –, hat der Kommissionspräsident aus meiner Sicht zu Recht gesagt: Ich zeige euch jetzt einmal auf, welche fünf verschiedenen Szenarien es für Europa gibt. Ihr, liebe Mitgliedstaaten, ihr, liebe Bürgerinnen und Bürger, aber vor allen Dingen ihr, liebe politisch Verantwortlichen, sollt jetzt einmal darüber diskutieren. Ich finde es sehr traurig, dass wir auch in dieser Debatte nicht darüber diskutieren, wo wir eigentlich hinwollen, und dass vonseiten der Bundesregierung dazu leider nichts zu hören ist. Bei der SPD hat man sich wohl gedacht: Wir haben den Ex-Präsidenten des Europäischen Parlaments als Kanzlerkandidaten aufgestellt; deshalb brauchen wir zur Zukunft Europas jetzt gar nichts mehr zu sagen. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Vorschläge dazu, ob wir Szenario eins, zwei, drei, vier oder fünf wollen, habe ich bisher überhaupt noch nicht gehört. Auch von Ihnen, Herr Roth, habe ich gerade leider nichts dazu gehört. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zur Union. Die Kanzlerin hat gesagt, sie sei für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Da denkt man: Okay, zumindest hat sie sich einmal getraut. – Wenn man allerdings genau hinschaut, stellt man fest: Das ist eigentlich ein innenpolitischer Schachzug. Sie kleistert nämlich zu, dass überhaupt nicht klar ist, wo die Union eigentlich hinwill. Herr Friedrich erklärte letzte Woche hier, er wolle Szenario vier; er will nämlich weniger Europa. Andere sagen, sie wollen mehr Europa. Und was liest man in der FAZ von Herrn Schäuble? Er sagt, unter dem Stichwort „Unterschiedliche Geschwindigkeiten“ könne man ganz vieles verstehen: variable Geometrie oder flexible Geschwindigkeit, Kerneuropa oder Coalition of the Willing. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist doch nicht dasselbe! „Kerneuropa“ heißt, es gehen einige voran, und der Rest ist außen vor. Das spaltet Europa, und das ist das Ende von Europa! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir als Bündnis 90/Die Grünen sagen ganz klar: In den Bereichen, von denen die Menschen sagen: „Hier muss Europa etwas tun, sozialer werden, ökologischer werden und für Sicherheit sorgen“, braucht es mehr Europa. Es braucht Mut, das zu sagen, weil wir dazu vielleicht auch Vertragsänderungen benötigen. Denn ohne diese Vertragsänderungen werden wir hier nicht vorankommen. Es ist aber unsere Aufgabe, meine sehr verehrten Damen und Herren, nach 60 Jahren dafür zu sorgen. In den Bereichen, in denen die Menschen dies wollen, brauchen wir, wie gesagt, mehr Europa. In den Bereichen, in denen man nur im Rahmen unterschiedlicher Geschwindigkeiten zusammenarbeiten kann, – Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Das war gerade ein wunderbares Schlusswort, Frau Baerbock. Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – kann man das tun, aber im Rahmen der Verträge; denn sonst ist dies das Ende der Römischen Verträge. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Nächster Redner ist der Kollege Matern von Marschall, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Matern von Marschall (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Baerbock, ich glaube, wenn wir über die Zukunft Europas nachdenken, dann ist ganz offensichtlich, dass wir uns darauf konzentrieren müssen, in Europa die Aufgaben zu erledigen, die nicht in den Nationalstaaten selbst erledigt werden können. Auf diese Arbeiten müssen wir Europa begrenzen, und es gibt jede Menge großer Aufgaben, die wir nur gemeinsam und nicht in den Einzelstaaten erledigen können, weil sie zu schwach dafür sind. (Dagmar Ziegler [SPD]: Nicht ganz richtig!) Deswegen haben wir über Verteidigung, über eine gemeinsame Terrorismusbekämpfung, über eine gemeinsame Forschungslandschaft in einer Digitalunion und über eine Energieunion, das heißt, über die Unabhängigkeit der Energieversorgung, die auch die Energiewende ermöglicht, gesprochen. Über diese wichtigen Dinge sollten wir auch weiterhin sprechen – und nicht über das, was vor Ort selbstständig in den Nationalstaaten gemacht werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will aber auch sagen: All diese wichtigen Dinge müssen einem Ziel zugeordnet sein, und dieses Ziel ist, den Frieden in Europa in Freiheit zu stärken. Das bedeutet, dass wir nicht nur den Anfechtungen von außen, Herr Hunko, denen die Stabilität, die Freiheit und die Rechtsstaatlichkeit Europas ausgesetzt sind, begegnen, sondern auch im Innern darauf achten müssen, dass die Grundprinzipien der Freiheit, die sich aus der Rechtsstaatlichkeit der Demokratien ergibt, durchgesetzt werden. Das bedeutet vor allen Dingen – darüber sprechen wir viel zu wenig, und das ist auch ein Auftrag an die Bildung –: Die Unabhängigkeit der Verfassungsorgane muss gewährleistet sein. Das ist eine Aufgabe, die die Europäische Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten durchsetzen muss. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber mit den Mitgliedstaaten! Allein kriegt sie das nicht hin!) Was ist Europa für uns? Wir haben es gehört: Für jeden ist Europa auch in seiner Heimat zu spüren. Meine Heimat ist Freiburg im Breisgau. Wenn ich auf den wunderschönen Turm unseres Freiburger Münsters steige, einem Beispiel der europäischen Gotik, dann sehe ich gegenüber die Vogesen und etwas weiter flussabwärts das Straßburger Münster, und dann erkenne ich: Das ist Europa. Der Geist der Gotik manifestiert sich auf dem europäischen Kontinent in diesen wunderbaren Bauwerken. Gleichzeitig sehe ich in den Vogesen gegenüber den Hartmannswillerkopf. Der Hartmannswillerkopf ist die Blut- und Knochenmühle aus dem Ersten Weltkrieg. Auch das ist Europa. Wie durch ein Wunder ist trotzdem diese Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland zustande gekommen. Ich bin so dankbar dafür, dass ich unseren französischen Freunden – und ich glaube, wir dürfen das – gerade in diesen Wochen vor der Wahl in Frankreich zurufe: Ne nous quittez pas, nos amis français! Lasst uns nicht alleine, wir brauchen euch in Europa! (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich glaube, wir kommen ganz alleine nicht zurecht. Wir müssen Europa als Friedensgemeinschaft begreifen. Wenn ich in den Schwarzwald hinaufschaue, dann sehe ich dort die Donauquelle. Diese Quelle speist einen Strom bis ins Schwarze Meer. An ihm liegen zehn Länder, von denen nicht alle Mitglieder der Europäischen Union sind. In Serbien und im westlichen Balkan haben die Menschen die Schrecken des Krieges noch sehr unmittelbar in Erinnerung. Auch diesen Menschen darf und soll die Europäische Union Hoffnung geben; denn sie klopfen sehnsuchtsvoll an die Tür dieses Hauses von Frieden, Freiheit und Sicherheit. Wenn wir auf den Rhein schauen und darauf jetzt die vielen Handelsschiffe sehen, die nach Rotterdam und von dort in die freie Welt fahren, dann sehen wir: Auch der Handel ist etwas, was Europa stark macht. Aber stark macht uns in erster Linie dieses Bekenntnis zur Freiheit. Dieses Bekenntnis zur Freiheit ist in der Präambel des Grundgesetzes verankert, das in den dunkelsten Stunden unseres Landes verfasst wurde. In der heißt es: „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Dr. Dorothee Schlegel. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Dorothee Schlegel (SPD): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Seit der Antike wird der Kontinent Europa als Frau dargestellt. Dieser Logik folgend, feiert die Europa der Moderne in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag. Ihre Geburtsurkunde sind die Römischen Verträge – Europa hat Väter und Mütter –, und wir als überzeugte Europäerinnen und Europäer feiern mit ihr. Wir feiern im Namen der Aufklärung und der Vernunft ein Europa, das von jeher Symbol für die Ideale von Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung ist. Wir feiern Europa vor allem mit einem Gefühl der Dankbarkeit als ein Symbol für 70 Jahre Frieden. Widerstände, Herausforderungen und Krisen setzen der europäischen Einigung hart zu. Vieles davon ist schon genannt worden: der Brexit, die Nachwehen der Finanzkrise, die hohe Anzahl an Flüchtlingen und das Erstarken der Nationalisten oder Rechtspopulisten. Trotzdem: Europa ist eine Erfolgsgeschichte, und das europäische Projekt ist lebendig. Jugendliche zwischen Wien, Warschau, Budapest, Berlin, Lissabon und eben auch London schätzen Frieden und Freiheit. Dafür gehen sie auch wieder auf die Straßen; denn sie schätzen das grenzenlose Studieren, Arbeiten und Reisen. Die Mehrheit der jungen Europäerinnen und Europäer steht fest hinter der EU. Aktuelle Umfragen, wie sie auch Kollege Frei schon zitiert hat, bestätigen das. Es gibt also – generationenübergreifend – viele Europafans. Meine Damen und Herren, „Europa ist unsere gemeinsame Zukunft“, heißt es in dem Entwurf einer Erklärung der 27 EU-Staaten, die beim Gipfeltreffen am 25. März 2017 verabschiedet werden soll. Lassen Sie mich ergänzen: Europa ist unsere Aufgabe und unsere Antwort; unsere Antwort auf große Aufgaben wie Klimaschutz, Flüchtlingsfrage oder Terrorabwehr, die sich nur gemeinsam bewältigen lassen. Das Vertrauen der Menschen in die europäische Idee muss also wieder und weiter gestärkt werden. Die Römischen Verträge und mit ihnen die zwölf goldenen Sterne strahlen bis heute Zuversicht aus. Wir halten an unseren europäischen Werten und Idealen fest. Auf Populisten, die die Zeit zurückdrehen wollen, haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten seit über 150 Jahren die gleiche klare Antwort: Wir wollen ein soziales Europa, und zwar nicht erst seit gestern oder heute, Frau Kollegin Baerbock. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tja! Dann müssen Sie auch die Kompetenzen auf die EU übertragen!) Wir wollen europaweite soziale Sicherungsstandards und mehr Investitionen, vor allem in gute Arbeit, berufliche Bildung und Ausbildung im Kampf gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Wir wollen Europa demokratischer gestalten und das EU-Parlament weiter aufwerten. Wir wollen die europäische Integration in der Sozial- und Wirtschaftspolitik weiterentwickeln. Die europäische Säule sozialer Rechte ist ein erster guter Schritt. Wir gehen mit auf diesem Weg zu einem Triple-A-Rating für Europa im sozialen Bereich. Auf unserer Wunschliste zum 60. Geburtstag steht aber ganz klar, dass wir ein Europa des größten gemeinsamen Nenners wollen. Europa ist so viel mehr als ein Binnenmarkt. Es geht um Sicherheit, um Frieden, es geht um Bürger- und Menschenrechte, es geht um Demokratie und Freiheit. Das sind Errungenschaften in Europa, auf die wir stolz sind, für die wir kämpfen und die wir bewahren müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Referendum in der Türkei zur geplanten Verfassungsreform rückt näher. Wir erleben, dass sehr viele türkische Mitbürgerinnen und Mitbürger diese europäischen Werte schätzen und nicht nur in Deutschland mutig auch für ein Nein werben. Meine Damen und Herren, vom Vatikan hieß es im Vorfeld der Feierlichkeiten in Rom, der Mensch müsse wieder im Mittelpunkt der europäischen Politik stehen, und ich ergänze sehr gern: für Frauen und Männer gleichermaßen; denn in Deutschland – wie in vielen anderen Mitgliedstaaten – formieren sich neue konservative und rechtspopulistische Kräfte gegen eine fortschrittliche Geschlechter- und Familienpolitik. Aber Gleichstellung ist in der EU ein primärrechtlich verankertes Ziel seit 60 Jahren, siehe Artikel 119 der Römischen Verträge oder heute Artikel 141 des EG-Vertrages. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Daher wollen und müssen wir verhindern, dass Gleichstellung schleichend von der Agenda verschwindet. Die Europa der Moderne wird hierbei den Stier bei den Hörnern packen und ihm die Richtung weisen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt Iris Eberl das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Iris Eberl (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 60 Jahre Römische Verträge sind eine lange Erfolgsgeschichte von Frieden und Freiheit, eine Erfolgsgeschichte der Europäischen Union. Es war eine Friedensperiode mit wachsendem Wohlstand für alle, die Deutschland die Wiedervereinigung ermöglichte. Die Europäische Union hat sich gelohnt, und es lohnt noch immer, an ihr festzuhalten, wovon wir alle – fast alle – überzeugt sind. Trotzdem gibt es genug Stimmen, die einen Austritt fordern. Großbritannien wird austreten, wohl wissend, wie schwierig und wie teuer der Prozess der Auseinandersetzung werden wird. Inhaltlich benennt Großbritannien vor allem zwei Gründe, die seine nationale Hoheit betreffen. Es will wieder selbst über die Einwanderung entscheiden, und es will sich dem EuGH nicht mehr beugen. Auch viele unserer Bürger haben das Vertrauen in die Union verloren, bzw. ihr Vertrauen ist erschüttert. Wir Abgeordnete sind praktisch gläsern, aber der Bürger weiß nichts über die Richter am EuGH, nichts – oder kaum etwas – über die Entscheidungsprozesse in Brüssel, fast nichts über die Personen, die dort über Europa entscheiden und sich ungebeten in nationale Belange einmischen. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Ausschüsse sind da alle öffentlich! – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zum Bundestag kann man sich die alle online anschauen!) Menschen fürchten sich vor Unbekanntem; zu Recht. Deshalb muss mehr Transparenz eine Forderung für die Zukunft der Union sein. Wie es mit der Europäischen Union weitergeht, wird auch vom Umgangston untereinander abhängen und davon, wie wir mit Freunden umgehen. Noch ist Großbritannien Unionsmitglied, und es ist ein Freund. Nutzen wir also den Austrittsprozess Großbritanniens für eine positive Evaluation unserer Union. Sortieren wir sorgsam für unser Projekt Europa: Rosinen ins Töpfchen und Fallobst in die Saftpresse. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rosinen?) Die Sicherheit der Bürger ist eine Rosine! Gemeinsame europäische Verteidigungspolitik, Schutz der Außengrenzen, innere Sicherheit und Terrorbekämpfung – hier erkennt der Bürger auch den Mehrwert der Union. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Solidarität ist keine Einbahnstraße!) Aber was wir nicht brauchen, ist Einmischung in Klein-Klein: Ekelbilder auf Zigarettenschachteln, Feinstaubregelungen aus Brüssel, um nur zwei Beispiele zu nennen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gesundheitsschutz!) Das nächste aktuelle Schlagwort, hinter dem sich Probleme verbergen, heißt: Wir brauchen ein soziales Europa. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sozial, aber keine Gesundheit!) Falsch. Wir haben ein soziales Europa. (Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Europa ist sozial, weil es aus sozialen Marktwirtschaften besteht. Jede Nation hat ihre sozialen Sicherungen, abgestimmt auf die nationalen Verhältnisse. Soziale Sicherungen können nur subsidiär geregelt werden; denn sie müssen dem Bürger effektiv helfen. Sein Bedarf wird in seiner Heimat bestimmt. Außerdem ist es keinem Arbeitnehmer in Deutschland zumutbar, für die Arbeitslosen in Frankreich zu bezahlen. Die gehören dem französischen Premier. Es ist ganz offensichtlich, dass ein europäisches Sozialversicherungssystem für Deutschland unbezahlbar wird. Warum sollten wir dieses Fass ohne Boden haben wollen? (Christian Petry [SPD]: Das ist aber nicht unsere Auffassung! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist aber extrem antieuropäisch!) Die Umverteilung von reichen zu armen Ländern läuft sowieso seit langem, zum Beispiel mit den nie fällig werdenden TARGET-Salden, die von uns nicht steuerbar sind. Wir bauen den BMW. Wir liefern ihn nach Griechenland. Wir leihen dem Griechen das Geld, damit er das Auto bezahlt. Dafür werden wir halbjährlich im Europäischen Semester aus Brüssel gerügt, weil wir zu viel exportieren. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: In welcher Welt leben Sie eigentlich?) Diese Rüge verrät uns noch ein Problem der Union, nämlich Brüsseler Planwirtschaft programmiert mit Nachfragepolitik. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Brüssel als Planwirtschaft? Die Bundesregierung entscheidet doch! Meine Güte!) Wir brauchen wieder eine Diskussion über Wirtschaftspolitik. Erfolge für die Bürger gibt es nur dort, wo Freiheit und Eigenverantwortung gelten. Einen ganzen Kontinent durch Bürokratie planwirtschaftlich steuern zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Warum stimmt dann die Bundesregierung nicht dagegen?) Soll die Europäische Union langfristig weiter existieren, müssen wir uns zu Freiheit und Subsidiarität bekennen. Ich hoffe, meine Damen und Herren, meine Worte waren konstruktiv. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren falsch! – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ahnungslos!) Denn die Union ist die kostbarste Erfindung des 20. Jahrhunderts. Sehen wir sie als Gemeinschaft demokratischer Länder! Respektieren wir jeden einzelnen Wählerwillen! Auch den aus Ungarn, Herr Poß. (Joachim Poß [SPD]: Ach! Das heißt, Sie sind auch für die Abschaffung von Demokratie und Rechtsstaat!) Genießen wir die Vielfalt der Nationen! Pflegen wir unsere Europäische Union! Wir haben die Jugend auf unserer Seite. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Sie nicht!) Danke. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Norbert Spinrath. (Beifall bei der SPD) Norbert Spinrath (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich teile ausdrücklich nicht das, was Frau Kollegin Eberl gerade gesagt hat; ich teile ausdrücklich zunächst einmal die Würdigung der Entwicklung, aber auch der Notwendigkeit der Römischen Verträge und ihres Geistes, die Staatsminister Michael Roth eben vorgenommen hat. Am Samstag wird in Rom nicht nur gefeiert, sondern mit dem Bratislava-Prozess und dem Weißbuch der Kommission steht nicht weniger als die Zukunft der EU auf der Tagesordnung. Es wird von uns allen schon seit langem erkannt, dass der Status der Verträge nicht mehr ausreicht, um mit den aktuellen Erfordernissen und den Herausforderungen der Zukunft umzugehen. Wir sollten nicht so verzagt sein, wie wir es auch manchmal in Deutschland sind. Martin Luther hat sich dazu einst kräftig geäußert. Im Luther-Jahr sollte man ihn zitieren dürfen, was ich mir jetzt aber versage. Um diese Uhrzeit könnten Kinder zuhören. Aber lassen Sie uns nicht verzagt sein. Lassen Sie uns Mut zur Weiterentwicklung der Europäischen Union haben. Diesen Mut brauchen wir, so habe ich heute vernommen, auch und gerade in Deutschland. (Beifall bei der SPD) Parallel zum Europäischen Rat werden Tausende Menschen in Rom und in vielen weiteren europäischen Städten für ein geeintes Europa demonstrieren, so wie es auch die Bewegung Pulse of Europe seit einigen Wochen jeden Sonntag europaweit macht. Diese Menschen zeigen Mut. Sie ermuntern uns, unsere Zurückhaltung aufzugeben und Europa für uns zu begreifen und weiterzuentwickeln. Die vorgestern veröffentlichte Umfrage der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass die Mehrheit der 15- bis 24-Jährigen in Mittel- und Osteuropa die EU befürwortet (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei Drittel!) und damit Mut beweist. Die Zustimmungswerte liegen in allen untersuchten Ländern bei über 70 Prozent, in Deutschland sogar bei 87 Prozent. Aber wir sind verzagt. Wir haben den Mut nicht; die jungen Menschen haben ihn. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die zwei Jungen klatschen ja auch!) – Genau, die jungen Menschen applaudieren. – Diese Jugendlichen sollten uns motivieren, mutig und konstruktiv über die Zukunft der EU zu diskutieren. Wir müssen nun alle Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Jugend Europas ihre eigene Zukunft in Europa gestalten kann. (Beifall bei der SPD) Im Weißbuch zur Zukunft der EU stellt die Kommission fünf mögliche Szenarien zur Diskussion. Zwei Szenarien erteile ich eine ganz klare Absage, nämlich dem Rückzug auf den Binnenmarkt und einer Fokussierung auf wenige Politikbereiche. Da unterscheiden wir uns, Herr Frei und Herr Matern von Marschall. In Ihrer Aufzählung kommen die sozialen Standards nicht vor. Nicht einmal der Begriff „sozial“ ist gefallen. Beide Szenarien enthalten gravierende Folgen für Sozialstandards, Arbeitnehmerrechte und regionale Entwicklungen. Wer das will, zeigt keinen Mut. Wer das will, versündigt sich gegen den Geist der Römischen Verträge. (Beifall bei der SPD) Frau Eberl, es ist ein bisschen realitätsfremd, auf die Sozialstandards in den jeweiligen Mitgliedsländern zu verweisen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie predigen doch ständig, dass wir Konvergenz – auch bei den Wirtschaftsdaten – brauchen, um alle am größtmöglichen Profit Europas zu beteiligen. Wo bleibt denn Ihre Forderung nach der Konvergenz der Sozialstandards? Wir brauchen diese Konvergenz in Europa dringend. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Denn die Menschen in Europa profitieren vom höchsten Gut, das Europa ihnen zu bieten hat, nämlich von der Freizügigkeit. Wenn sie diese Freizügigkeit nutzen, müssen wir auch sicherstellen, dass die sehr unterschiedlichen Sozialstandards angeglichen werden. Dafür brauchen wir das soziale Europa, und dafür brauchen Sie endlich Mut. (Beifall bei der SPD) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen hin zu einer echten gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion. Aber wir wollen auch hin zu einem sozialen Europa. Der Satz stimmt: Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit, nicht nur für die Menschen in Deutschland, sondern für alle Menschen in Europa. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie auch Kompetenzen übertragen!) Lassen Sie uns die besten Ideen und Ansätze der drei verbleibenden Szenarien des Kommissionsweißbuchs aufgreifen, mit eigenen Vorschlägen ergänzen und daraus ein neues Szenario entwickeln. Lassen Sie uns mit viel Mut an der Gestaltung Europas im Sinne der Menschen in Europa dranbleiben. Wer ein gemeinsames europäisches Haus will, Herr Hunko, ist herzlich dazu eingeladen. Wir waren gemeinsam in der letzten Woche mit einer Delegation des EU-Ausschusses in Moskau. Wer uns aber so behandelt wie die dortige politische Ebene, sendet keine Signale, dass er ein gemeinsames Haus will. Man hat uns die kalte Schulter gezeigt. Ermutigen Sie Ihre Freunde doch dazu, endlich Gesprächsbereitschaft zu zeigen! Dann können wir weiterreden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen eine Weiterentwicklung in Europa. Wenn wir nicht wollen, dass sich die Menschen von Europa abwenden, dann müssen wir jetzt den Mut und die Bereitschaft zu weiteren gemeinsamen Schritten aufbringen. Sonst wird es bald fünf vor zwölf für die EU sein. Es ist nicht nur wichtig, Ergebnisse zu veröffentlichen. Nein, wir müssen vielmehr über den Weg dorthin öffentlich diskutieren. Wir müssen die Menschen in Europa erfahren lassen, wie wir Lösungen anstreben und dass die europäische Politik ihren Alltag und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Wir müssen die Menschen deutlich mehr als bisher an der Gestaltung der Europäischen Union beteiligen; denn nur dann können die Menschen Europa als ihr Europa begreifen und dafür mutig und engagiert kämpfen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Es wurde Zeit, dass Sie zum Ende kommen. – Jetzt hat der Kollege Dr. Christoph Bergner die Gelegenheit, diese Debatte abzuschließen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich zitiere in dieser Debatte gern folgenden Satz von Wolfgang Schäuble: Die europäische Einigung ist vielleicht die beste Idee, die die Europäer im 20. Jahrhundert hatten, und gewiss ist sie die beste Vorsorge für unser 21. Jahrhundert. Ich füge aus persönlicher Sicht gerne hinzu: Wenn ich mir vor Augen führe, welche Verpflichtungen ich gegenüber der Generation meiner Kinder und Enkel habe, dann weiß ich, dass die Verpflichtung, mich für die Zukunft Europas einzusetzen, eine zentrale Aufgabe ist. So erlebe ich es, und so will ich es auch wahrnehmen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Sosehr wir das Recht haben, den Feiertag „60 Jahre Römische Verträge“ mit Dankbarkeit zu begehen und auf die letzten 60 Jahre mit Genugtuung zurückzublicken, so sehr sollten wir uns darüber im Klaren sein, welche Probleme uns in den nächsten sechs Jahren erwarten. Wir sprechen im Europaausschuss über die Bewältigung des Brexit, wir wissen von Zentrifugalkräften in der Europäischen Union und vieles andere mehr. Deshalb ist es, glaube ich, angemessen, dieses Jubiläum einerseits mit Dankbarkeit für das, was erreicht wurde, aber andererseits auch mit Problembewusstsein für das, was an Aufgaben unmittelbar vor uns steht, zu begehen. So halte ich es für eine gute Fügung, dass zeitgleich mit diesem Jubiläum das Weißbuch des Kommissionspräsidenten, der Bratislava-Prozess und der Bericht des Europäischen Parlamentes zum Zustand der EU sowie mögliche Perspektiven verabschiedet und beraten wurden. Wer sich mit diesen Papieren beschäftigt, weiß, dass wir die Probleme, die vor uns liegen, nicht allein mit Euphorie – mit Mut schon – bewältigen werden, sondern dass wir sehr viel Nüchternheit brauchen. Im Sinne dieser Nüchternheit habe ich mir erlaubt, ein Problem in dieser Debatte aufzugreifen, das mich besonders umtreibt und in dem ich die Ursache mancher Schwierigkeiten der Europäischen Union sehe. Das ist die Frage nach der demokratischen Legitimation, über die wir gestern im Ausschuss schon ein wenig diskutiert haben. Um es klar zu sagen: Ich widerspreche jedem, der vom Diktat der Kommission spricht, wenn es um Rechtsetzung geht, die wir als Nationalstaaten der Europäischen Kommission übertragen haben. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, dem Rat und dem Parlament!) Aber ich kann nicht übersehen, dass die Entscheidungen in Brüssel oft genug so wahrgenommen werden, als wären sie ein Diktat von oben, (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von wem? Von Ihnen?) und dass sich das Gefühl breitmacht – wenn ich Peter Graf von Kielmansegg zitieren darf –, dass je höher wir in den europäischen Institutionen sind, desto dünner die demokratische Luft wird. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum?) – Warum ist das so? Es ist so, weil der natürliche Ort demokratischer Legitimation die Nationalstaaten und die nationalen Parlamente sind. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!) Das Europaparlament ist eine großartige Erfindung, es ist eine unverzichtbare Institution, aber es ist kein Ort repräsentativer Demokratie, (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum?) solange wir kein europäisches Staatsvolk haben und solange wir nicht davon ausgehen können, dass wir eine europäische Öffentlichkeit als Ort gemeinschaftlicher Meinungsbildung haben. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Und jetzt wollen Sie sie abschaffen?) – Werfen Sie mir doch so etwas nicht vor! – Das ist das Dilemma, in dem wir uns bewegen und in dem wir uns zurechtfinden müssen. Wir dürfen uns auch nicht wundern, dass manche Prozesse, mit denen wir uns herumschlagen, entsprechend kompliziert und schwierig geworden sind. Demokratie ist konstitutiv für die Europäische Union, und deshalb müssen wir Lösungen suchen. Ich wünsche mir, dass Folgendes in die Debatte über das Weißbuch mit einbezogen wird. Erstens. Stärkung des Subsidiaritätsprinzips – das hat Herr Frei schon gesagt –, weil es gewissermaßen ein Instrument ist, die demokratische Willensbildung zu ordnen. Zweitens. Das politische Mandat der Kommission sollte unter den gegebenen Umständen nicht ausgebaut, es muss wohl eher begrenzt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie denn?) Drittens. Die Vision eines europäischen Staatsvolkes mag eine Utopie sein, aber wir müssen trotzdem bereit sein, uns in diese Richtung zu bewegen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich denke, dass Dinge wie die Weiterentwicklung der Unionsbürgerschaft, wie die Verständigung über grenzüberschreitende, gemeinsame kulturelle Identifikationspunkte, wie meinetwegen auch das Interrailticket, das in dem Zusammenhang durchaus einen Beitrag leisten kann, Elemente sind, die wir zur Stärkung der Identifikation mit Europa brauchen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank, Herr Dr. Bergner. Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Ein letzter Satz. – Mein Wunsch wäre es, dass wir dieses Jubiläum nicht nur im Rückblick mit Zufriedenheit feiern, sondern dass wir dieses Jubiläum als einen Arbeitsauftrag betrachten; denn es liegen schwierige Probleme vor uns, denen wir uns widmen müssen, und zwar nicht nur mit Euphorie, sondern auch mit Nüchternheit und Problembewusstsein. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Die Debatte ist etwas länger geworden als geplant. Aber es ist auch mit viel Leidenschaft gestritten worden, und das ist gut für Europa, denke ich. Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 32 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem Engagement und zum Bürokratieabbau bei Genossenschaften Drucksache 18/11506 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre von Ihrer Seite keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange. – Bitte schön. (Beifall bei der SPD) Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf will die Bundesregierung zum einen die Gründung kleiner unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem Engagement erleichtern, indem eine passende Rechtsform zur Verfügung gestellt wird. Zum anderen geht es um Erleichterungen für Genossenschaften selbst. Beide Teile, freilich, stehen in einem Zusammenhang; denn die Genossenschaft ist ebenfalls eine ideale Rechtsform für das bürgerschaftliche Engagement. Die alte genossenschaftliche Idee „Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele“ gilt auch für Initiativen aus bürgerschaftlichem Engagement: Viele Bürgerinnen und Bürger tun sich zusammen, um etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen. Genau das wollen wir unterstützen und fördern. Diese Bürgerinnen und Bürger tun etwas nicht nur für sich selbst, sondern für die Gemeinschaft, zum Beispiel gründen sie einen Dorfladen, schaffen erreichbarere Einkaufsmöglichkeiten, erhöhen die Lebensqualität auf dem Land, insbesondere für ältere Personen. Die Umwelt wird geschont, wenn Autofahrten zu entfernten Supermärkten entfallen. Oft wird ein Dorfladen zu einem sozialen Treffpunkt und stärkt die Dorfgemeinschaft. Aber auch in Städten kann bürgerschaftliches Engagement die Lebensqualität verbessern, zum Beispiel, wenn Bürgerinnen und Bürger ein Programmkino in einer Kleinstadt oder eine andere Kultureinrichtung übernehmen, weil das auf eine Gewinnerzielung angewiesene Unternehmen es nicht mehr tun möchte. Für solche kleinen Unternehmen aus bürgerschaftlichem Engagement gilt regelmäßig: Sie werden ehrenamtlich betrieben und haben wenig Geld zur Verfügung. Die Mitglieder wollen die knappen Ressourcen an Zeit und Geld so weit wie möglich für die Verwirklichung ihres Zwecks nutzen und nicht für die Erfüllung von bürokratischen Anforderungen. Bei bürgerschaftlich getragenen Unternehmen ist es daher oft zu aufwendig und zu teuer, den Zweck in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft zu verfolgen. Auf der anderen Seite ist es den Bürgerinnen und Bürgern, die sich ehrenamtlich für ihre Region engagieren, ein Anliegen, dass sie nicht persönlich haften. Unser Gesetzentwurf sieht deshalb vor, für solche Initiativen aus bürgerschaftlichem Engagement den Zugang zum rechtsfähigen Wirtschaftlichen Verein zu erleichtern. (Beifall bei der SPD) Diese Rechtsform verursacht wenig Aufwand und Kosten, und es gibt keine Haftung der Mitglieder. Nach den Erfahrungen in Rheinland-Pfalz hat sich bewährt, dass Dorfläden die Rechtsfähigkeit als Wirtschaftlicher Verein verliehen wird. Die Verleihungspraxis ist in den Bundesländern freilich sehr uneinheitlich. Daher sollen künftig die Voraussetzungen für die Verleihung der Rechtsfähigkeit an Wirtschaftliche Vereine stärker konkretisiert und dadurch die Verleihungspraxis stärker vereinheitlicht werden. § 22 des Bürgerlichen Gesetzbuches soll verständlicher gefasst werden, und es ist eine Ermächtigung für eine Rechtsverordnung vorgesehen, durch die die Verleihungsvoraussetzungen für Initiativen aus ehrenamtlichem Engagement konkretisiert werden. Auch die Genossenschaft ist eine sehr geeignete Rechtsform für bürgerschaftliches Engagement, insbesondere wenn sich die Mitglieder mit nicht unerheblichen Geldbeträgen beteiligen wollen; denn bei Genossenschaften werden – durch die verpflichtende Gründungsprüfung und die regelmäßigen Pflichtprüfungen – die Vermögenslage und die Geschäftsführung überwacht. Dies gibt den Mitgliedern Sicherheit bei ihrem Engagement. Durch verschiedene bürokratische Erleichterungen soll mit dem Gesetzentwurf auch die Rechtsform der Genossenschaft noch attraktiver gemacht werden, insbesondere für Kleinstunternehmen. (Beifall bei der SPD) Zum Beispiel soll künftig bei Kleinstgenossenschaften jede zweite Pflichtprüfung in Form einer kostengünstigeren vereinfachten Prüfung stattfinden. Auch soll die Finanzierung von Investitionen durch Mitgliederdarlehen erleichtert werden. Meine Damen und Herren, es sind keine tiefgreifenden Änderungen im Genossenschaftsgesetz vorgesehen. Einige Vorschläge wurden im Regierungsentwurf gegenüber dem Referentenentwurf etwas abgeschwächt. Aber das Signal ist klar: Auch die Genossenschaft ist eine attraktive Rechtsform für Unternehmen des bürgerschaftlichen Engagements. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn Sie eine Vielzahl anderer Gesetze zu beraten haben und im Hinblick auf das Ende der Wahlperiode die Zeit immer knapper wird: Dieses Gesetz sollte noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden, damit der Gesetzgeber zeigt, dass er etwas für ehrenamtliches Engagement in Deutschland tut. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als nächste Rednerin spricht Dr. Petra Sitte von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Danke. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das UNESCO-Welterbekomitee hat im November des vergangenen Jahres die Idee der Genossenschaften in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen. In der Begründung wurde einstimmig erklärt, dass die Genossenschaftsidee als überkonfessionelles Modell auf den Maximen der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung beruht. (Beifall bei der LINKEN) Weltweit sind über 800 Millionen Menschen in Genossenschaften organisiert. Allein in Deutschland engagieren sich nach Zahlen aus dem Jahr 2015  20 Millionen Menschen in rund 7 600 Genossenschaften. Genossenschaftliches Agieren hat eine jahrhundertealte Tradition. Schon seit dem Mittelalter existieren nachweisbar genossenschaftliche Strukturen oder Bestrebungen, die der wirtschaftlichen und sozialen Förderung ihrer Mitglieder dienen. Ich selbst bin vor vier Jahren Gründungsmitglied einer Genossenschaft in meinem Wahlkreis geworden, nämlich der Peißnitzhaus Genossenschaft. Es gibt sicher noch so manchen im Saal, der oder die auch in einer solchen Genossenschaft mitarbeitet. Das Peißnitzhaus ist ein ganz wichtiger Pfeiler bei uns für Hallesche Kultur, für Naherholung. Es bietet zahlreiche Angebote in den Bereichen Umweltbildung, Kunst, Kultur, Konzerte und auch Geschichte. Vor allem ist es eine Genossenschaft, in der Menschen mit Behinderung Arbeit finden. Das ist auch ein Aspekt, den wir dabei mit bedenken sollten. (Beifall bei der LINKEN) So habe ich natürlich mit Interesse die Bestrebungen der Bundesregierung verfolgt, bei der Gründung solcher Genossenschaften zu Erleichterungen für das Ehrenamt zu kommen. Im Koalitionsvertrag findet sich dazu auch etwas. Es sind ungefähr dreieinhalb Jahre vergangen, seit der Koalitionsvertrag geschrieben worden ist. Sie mahnen jetzt zur Eile. Nun ja, gut; besser jetzt als gar nicht. Das hätte man aber auch schon früher hinbekommen können. (Zuruf des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]) – Ja, wir haben immer etwas zu meckern; das wissen Sie doch. – Im Koalitionsvertrag steht: Die Gründung unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem Engagement, zum Beispiel – wie vorhin schon gesagt – Dorfläden, aber auch Kitas, altersgerechtes Wohnen oder Energievorhaben, soll erleichtert werden. Für solche Initiativen soll eine geeignete Unternehmensform im Genossenschafts- oder Vereinsrecht zur Verfügung stehen. Vor allem sollen dabei, wie schon zitiert, unangemessener Aufwand und Bürokratie vermieden werden. – Allerdings ist unsere Befürchtung: Der Gesetzentwurf, den wir hier beraten, wird das weder gut noch deutlich besser tun. Das derzeitige Genossenschaftsgesetz – da sind wir uns wohl einig – ist überorganisiert und ziemlich undemokratisch verfasst. Man könnte sogar sagen: Es verhindert in manchen Fällen die genossenschaftliche Selbsthilfe und Solidarität. (Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall! Jedes Mitglied hat eine Stimme!) – Ich rede doch über das bisherige, das in der Kritik steht; das ist ein feiner Unterschied. (Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Auch im bisherigen ist das so!) Die alleinige Leitungsmacht des Vorstands nach dem Genossenschaftsgesetz muss eingeschränkt werden, und die Mitbestimmungsmöglichkeiten und Rechte der Mitglieder und der Generalversammlung sollten gestärkt werden. (Beifall bei der LINKEN) Eine engere Bindung der Geschäftsleitung an die Beschlüsse des Vorstandes könnte in vielen Fällen die Zahl der Entscheidungen reduzieren, die „über die Köpfe hinweg“ getroffen werden. Wir wissen ja alle, dass es gerade mancher Wohnungsgenossenschaft ausgesprochen gut tun würde, sich in dieser Beziehung wieder zu erden. Die Möglichkeit des Justizministeriums, den Wirtschaftlichen Verein per Rechtsverordnung nach § 22 BGB wieder einzuführen, könnte – da haben wir unsere Bedenken – den Druck auf kooperative Wohninitiativen wieder verschärfen. Es wird nämlich befürchtet, dass sie diese Rechtsform – das können wir ja in der Ausschussdebatte klären – nutzen müssen, statt die Möglichkeit eines eingetragenen und teilweise gemeinnützigen Vereins nutzen zu können. Diese Befürchtung ist ja auch nicht ganz unbegründet, gibt es doch schon jetzt große Probleme, sich in das Vereinsregister eintragen zu lassen. Ich will noch etwas zur Logik der Genossenschaften sagen. Im Bundesjustizministerium, aber auch im Ministerium für Wirtschaft und Energie ist man offenbar der Auffassung, dass sich Genossenschaften auch am Markt bewähren und dass sie mit anderen Anbietern am Markt konkurrieren müssen. Das sehen wir ausdrücklich nicht so, weil zahlreiche Gründungen eben genau deshalb erfolgen, weil man sich dieser Logik entziehen will. Das sollten wir auch stärken, weil es eben um die Ressourcen vieler zum Wohle aller geht. (Beifall bei der LINKEN) Ich komme schließlich zu Kitas und Dorfläden: Ja, das sind ganz wichtige Beispiele, wo kollegial und solidarisch zusammengearbeitet werden muss und auch wird. Jeder von uns kennt diese Beispiele. Insofern ist die ehrenamtliche Arbeit in Genossenschaften bzw. um das Genossenschaftswesen herum eine ganz wichtige Aufgabe. Sie darf aber natürlich soziale Daseinsvorsorge oder andere Aufgaben und Verantwortungen des Staates nicht ersetzen. Darüber sollte man sich im Klaren sein, wenn man über diese Konstrukte diskutiert. Insofern werden wir also im Ausschuss schauen, was sich dort machen lässt. Wo es eben möglich ist, Menschen mit ihrem bürgerschaftlichen Engagement bzw. in ihrem Ehrenamt zu unterstützen, da sollte sich das in diesem Gesetz auch niederschlagen. Vor allen Dingen sollten die bürokratischen Hürden reduziert werden. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Michaela Noll: Als nächster Redner hat das Wort Marco Wanderwitz von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zehntausende Bürgerinnen und Bürger engagieren sich in unserem Land täglich ehrenamtlich miteinander und füreinander. Als Erstes fallen uns da Feuerwehren und Vereine aller Art – zum Beispiel Sportvereine – ein, aber eben auch Initiativen wie beispielsweise kleine Dorfläden sowie Kitas, die sich in der Trägerschaft von Elternvereinen befinden. Ich nenne in diesem Zusammenhang weiterhin folgende Stichwörter: altersgerechtes Wohnen, Energievorhaben, Eltern- und Nachbarschaftsinitiativen usw. usf. Viele dieser städtischen, aber auch ländlichen Initiativen werden wirtschaftlich insbesondere dort tätig, wo einerseits der Markt Teile der Daseinsvorsorge nicht gewährleisten kann oder will oder wo es eben der Staat auch nicht kann bzw. sich damit schwertut. Die bekanntesten solcher Initiativen, deren Zweck auf einen wirtschaftlichen Betrieb in geringem Umfang gerichtet ist, sind eben die genannten Dorfläden, wo der Einzelhandel auf dem flachen Land – ich glaube, viele von uns kennen das aus ihren Wahlkreisen – keine Gewinne erwirtschaften kann. Dort schließen sich nicht selten die Einwohnerinnen und Einwohner zusammen, um sich die gewohnten kurzen Wege und die damit verbundene Lebensqualität zu erhalten. Dorfläden werden heute beispielsweise als Unternehmensgesellschaft, als rechtsfähiger Wirtschaftlicher Verein oder eben als Genossenschaft gegründet. Die Genossenschaft stellt auch aus meiner Sicht eine sehr sinnvolle Rechtsform für diese Initiativen dar. Ein Austritt von Mitgliedern ist sehr unkompliziert möglich. Die Mitglieder haften nicht persönlich. Und es gilt der genossenschaftliche Grundsatz: Ein Mitglied, eine Stimme. Der schützt beispielsweise davor, dass Investoren in irgendeiner Art und Weise einsteigen und dominieren können. Die Rechtsform der Genossenschaft ist jedoch für kleine Unternehmen, wo weniger für den Gewinn als gegen den Verlust gewirtschaftet wird, nicht immer attraktiv. Da gibt es zum einen die Kosten der Gründungsprüfung, zum anderen Mitgliedsbeiträge beim genossenschaftlichen Prüfungsverband oder auch die Kosten für regelmäßige genossenschaftliche Pflichtprüfungen. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart – Kollege Staatssekretär Lange hat es schon dargestellt –, die Gründung unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem Engagement zu erleichtern. Die Inhalte eines Koalitionsvertrages werden so abgearbeitet, dass gewisse Dinge zu Beginn, gewisse Dinge zur Mitte und gewisse Dinge zum Ende an die Reihe kommen. Das ist, glaube ich, in jeder Koalitionsregierung so, egal wer daran beteiligt ist. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die einen sind halt schneller, die anderen nicht!) – Ja, mir sind aber keine Koalitionen aus den Ländern bekannt, an denen die Linkspartei beteiligt ist und die im letzten Jahr nichts mehr aus ihrem Koalitionsvertrag abzuarbeiten gehabt hätten. Aber ich glaube, wichtig ist, dass wir jetzt an dieser Stelle noch tätig werden, dass es jetzt den Gesetzentwurf gibt und dass wir ihn, so hoffe ich zumindest, auch in den Ausschussberatungen zu einem guten Ergebnis führen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]) Wir haben im Koalitionsvertrag einen Prüfauftrag vereinbart und wollen schauen, inwieweit Handlungsbedarf besteht und wo wir gegebenenfalls weitere Erleichterungen am sinnvollsten abbilden können, ohne in bewährte Systeme zu tief und zu grundlegend einzugreifen. An dieser Stelle gleich einmal gesagt: Ich halte das Genossenschaftsgesetz für sehr bewährt. Es gibt sicherlich immer gewisse Dinge zu verbessern, aber die doch relativ fundamentale Kritik, die hier geäußert wurde, teile ich nicht. Das für das Genossenschaftswesen zuständige Bundeswirtschaftsministerium hatte zu Beginn der Legislaturperiode eine Studie mit dem Titel „Potenziale und Hemmnisse von unternehmerischen Aktivitäten in der Rechtsform der Genossenschaft“ in Auftrag gegeben. Das war einer der Gründe – erst einmal anschauen, dann vorlegen –, warum es nicht gleich zu Beginn der Legislaturperiode zu einem Gesetzentwurf kam. Meine Lesart der Studie: Mehr als 90 Prozent der Befragten sind zufrieden mit der gewählten Rechtsform und lehnen Änderungen am genossenschaftlichen Prüfungs- und Beratungsansatz ab. Eine große Mehrheit bewertet Vorteile wie Vertrauen und Sicherheit höher als die Kostennachteile, die die Rechtsform Genossenschaft mit sich bringt. Selbst Kleinstgenossenschaften wie Dorfläden mit geringfügiger wirtschaftlicher Tätigkeit, die dieser Gesellschaftsform unterliegen und befragt wurden, fordern mit Blick auf die Kosten mehrheitlich keine generelle Abschaffung von Pflichtmitgliedschaft und Abschlussprüfung, und jeder zweite Betreiber der so organisierten und befragten Dorfläden sagt, die Gründungsprüfung verhindere unternehmerische Fehlentscheidungen früh. Insofern sind nach meiner Lesart eher nur kleinere Eingriffe im bewährten Genossenschaftsrecht zu rechtfertigen. Der vorgelegte Gesetzentwurf sieht einerseits Maßnahmen im Genossenschaftsrecht, andererseits im Vereinsrecht vor. Insbesondere die Änderungen im Vereinsrecht hat Kollege Lange schon umfänglich ausgeführt. Wir sind der Meinung, dass das gut angelegte Regelungen sind. Wir unterstützen diese ausdrücklich. Skeptischer bin ich bezüglich der Änderungen, die das Genossenschaftsrecht betreffen. Das betrifft insbesondere den neu eingefügten § 53a Genossenschaftsgesetz. Dort sind Pflichtprüfungen in der normalen Form, wie sie bisher jährlich stattfinden, nur noch jedes zweite Jahr vorgesehen. In den Jahren dazwischen soll es zu vereinfachten Prüfungen kommen. Klar, die vereinfachten Prüfungen bedeuten ein Weniger im Verhältnis zu den regulären Pflichtprüfungen, wie wir sie jetzt kennen. Wir sollten zumindest sehr genau hinschauen, ob diese Änderung im Genossenschaftsrecht eine gute Idee ist oder ob sie nicht dem Vertrauen in die Genossenschaft als besonders insolvenzfester, besonders gut geprüfter und beratener Unternehmensform schadet. Vorgeschlagen ist zudem, dass eine Befreiung von der Jahresabschlussprüfung für Genossenschaften mit einer Bilanzsumme von unter 1,5 Millionen Euro und einem Umsatzerlös von unter 3 Millionen Euro stattfinden soll. Das würde bedeuten, dass zu den 50 Prozent der Gesellschaften, die jetzt schon von dieser Jahresabschlussprüfung befreit sind, noch weitere dazukommen würden. Auch mittelgroße Gesellschaften würden dann künftig nicht mehr diesen Regelungen unterliegen. Damit würde ein Stück weit weniger genau hingeschaut und beispielsweise in Frühphasen nicht mehr erkannt, dass es unternehmerische Fehlentwicklungen gibt. Deswegen wollen wir in den Ausschussberatungen insbesondere diese beiden Punkte noch einmal sehr genau thematisieren. Die Verordnungsermächtigung ist bereits angesprochen worden. Wir sind der Meinung, dass es ideal wäre, wenn es uns gelänge, im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens dieses Thema mit abzuräumen. Das heißt, dass wir entweder im Gesetz festschreiben, was die genauen Kriterien sind, oder dass wir uns als Gesetzgeber alternativ die Verordnung gleich mit anschauen und sie dann in unmittelbarer zeitlicher Nähe in einer auch vom Parlament diskutierten und gebilligten Form verabschiedet werden kann. Wir haben eine gute Chance, in einem zeitlich gar nicht so weit auseinanderliegenden Verfahren zu einer guten Lösung zu kommen, damit Initiativen wie beispielsweise Kitas oder Dorfläden als Kleinstgenossenschaften, aber auch als Vereine künftig noch ein Stück leichter und ein Stück besser arbeiten können. Wir haben uns das fest vorgenommen und freuen uns auf die parlamentarischen Beratungen hier im Haus. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes kommt der Redner Dieter Janecek von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Gemeinsam mehr erreichen – das ist der Grundgedanke der Genossenschaften. Sie haben ja auch schon viel erreicht: die Energiewende in der heutigen Form, letztlich auch den Ausstieg aus der Atomenergie, den wir heute schon in der Endlagerdebatte thematisiert haben. Das alles wäre ohne genossenschaftliches Engagement nicht gegangen, bei dem sich viele Hunderttausend Menschen für gemeinsame Ideale eingesetzt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich komme aus München. Ich merke auch dort, dass viele Leute mithelfen, zum Beispiel die Landwirtschaft ökologischer zu machen, um die Versorgung sicherzustellen. Mir fällt das Beispiel des Kartoffelkombinats ein, das den Gemüseanbau in der Region nach vorne bringt und Menschen in der Stadt mit guten Produkten aus der Region versorgt. Deswegen ist es gut, dass wir heute gemeinsam diskutieren, wie wir noch mehr Freiheiten und noch weniger Bürokratie für die Genossenschaften erreichen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Mit den Genossenschaften machen wir unsere Wirtschaft nachhaltiger, aber auch die Unternehmen handeln verantwortlicher und effizienter. Das sind oftmals die Erfahrungen. Ganz wichtig ist: Wir machen die Wirtschaft demokratischer. All das zusammen wollen wir; denn wir wollen eine wertebasierte Wirtschaft, die für die Menschen da ist und nicht umgekehrt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Deshalb fordern wir Grüne schon seit vielen Jahren, die Bedingungen für genossenschaftliches Wirtschaften zu stärken. Wir haben Anträge verfasst, beispielsweise „Kleine und Kleinstgenossenschaften stärken, Bürokratie abbauen“, zuletzt einen Antrag zum Thema „Share Economy“. Wir wollen Betriebe haben, die teilen statt besitzen. Wir wollen auch das E-Government stärken und für Hilfe sorgen, um den analogen Prozess in das digitale Zeitalter zu überführen, weil genau das den Kleinen sehr viel Arbeit macht. Wir wollen uns für das Prinzip „Ein Mitglied, eine Stimme“ einsetzen; denn das entspricht dem genossenschaftlichen Demokratieprinzip und dem Grundsatz der Selbstverwaltung. All das wollen wir gemeinsam stärken. Wir wollen es auch deswegen tun, weil wir mit unserer Wirtschaftsweise schlechte Erfahrungen gemacht haben. Ich erinnere nur an die Weltfinanzkrise von 2007/2008. Seitdem gibt es wieder eine Renaissance des genossenschaftlichen Modells, weil viele den Weg des Finanzkapitalismus nicht gehen wollen. Sie wollen Alternativen aufbauen, die für Wertschöpfung in der Region sorgen. Dafür stehen wir. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Ich komme auf Ihren Gesetzentwurf zu sprechen. Sie haben einige Ziele benannt. Wir sind auch noch bei der künftigen Anhörung im Gespräch. Wir werden uns heute noch nicht abschließend zu diesem Gesetzentwurf verhalten, weil es eine rechtlich komplizierte Situation ist, die wir zu bewerten haben. Aber ich will einige Dinge ansprechen. Sie wollen zum einen, dass es sehr kleinen Genossenschaften zukünftig ermöglicht wird, jede zweite Pflichtprüfung in Form einer vereinfachten Prüfung durchzuführen. Das begrüßen wir uneingeschränkt. Das finden wir gut. Wir hätten allerdings auch bei einer Erhöhung der Grenzen der Bilanzsumme – beispielsweise von 2 Millionen Euro auf 4 Millionen Euro – für verpflichtende Jahresabschlussprüfungen ansetzen können. Auf diesen Vorschlag sind Sie nicht eingegangen. Wir hätten uns hier gewünscht, dass Sie mehr Spielraum schaffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Wir begrüßen auch, dass darüber nachgedacht wird, die Förderlandschaft zielgerichteter auszubauen. Dieses Problem betrifft viele Kleinstunternehmer. Auch hier müssen wir bei der Anhörung auf die Details achten. Wir müssen dafür sorgen, dass die Instrumente greifen, damit Menschen mit einem Umsatz in Höhe von vielleicht 10 000 bis 20 000 Euro, die sehr viele gemeinwohlorientierte Interessen verfolgen, zum Zuge kommen. Hier ist die Förderlandschaft, die wir heute haben, nicht wirklich innovativ aufgestellt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zu guter Letzt – das ist vielleicht einer der wesentlichsten Punkte – geht es hier um die Frage – das haben Sie, Herr Staatssekretär, angesprochen –, ob wir mehr Unternehmen in die Rechtsform eines Wirtschaftlichen Vereins überführen können. Nach § 22 Absatz 2 BGB hat das BMJV – das haben Sie angesprochen – diese Möglichkeit, aber es gibt auch hinreichend Kritik, beispielsweise von der Bundesanwaltskammer, auch von der Verbandsseite selber, ob diese Regelung zielführend ist. Ich will das in diesem Moment einfach nur mal ansprechen. Ich glaube, wir sind da offen für die Diskussion; aber bisher sehen auch wir diesen Punkt kritisch, weil die Eingriffe vielleicht eben nicht zu Erleichterungen führen könnten, sondern eher zu einer Beschränkung des wirtschaftlichen Handelns solcher Kleinstbetriebe. Fazit aus unserer Sicht: Das Ansinnen ist gut. Wir werden im Verfahren weiter konstruktiv mitarbeiten, wünschen uns Fortschritte im Sinne des Gedankens des gemeinwirtschaftlichen Handelns und der Gemeinwohlökonomie, die wir uns vielleicht für die Zukunft wünschen, und freuen uns auf den weiteren Prozess. – So weit von meiner Seite. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner spricht Dr. Matthias Bartke von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Matthias Bartke (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Was dem einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele.“ Dieser Satz stammt von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, einem der großen Gründerväter des Genossenschaftswesens. Dieser Satz bringt das Wesen der Genossenschaft auch heute noch treffend auf den Punkt. Genossenschaften haben in Deutschland eine lange Tradition. Volksbanken und Wohnungsbaugenossenschaften sind bis heute bei uns weit verbreitet. Trotzdem schien die Idee der Genossenschaften eine Zeit lang ein Auslaufmodell zu sein. Ende der 90er-Jahre war ein Jahr mit 30 Neugründungen schon ein gutes Jahr. Mit der Energiewende hat sich das Blatt dann aber gewendet. Genossenschaften sind damals geradezu wie Pilze aus dem Boden geschossen. Die Menschen haben sich zusammengetan, um selbst Energieproduzenten zu werden. Inzwischen hat sich die Zahl der Neugründungen von Genossenschaften bei etwa 200 pro Jahr stabilisiert. Die Neugründungswelle im Energiebereich ist abgeebbt. Dafür gibt es aber im Dienstleistungssektor neuen Aufwind. Die Genossenschaftsszene ist eben sehr vielfältig. In meinem Wahlkreis, in Hamburg-Altona, gibt es zum Beispiel die fux eG. Sie ist ein gemeinschaftlich betriebener Produktionsort für Kunst, Kultur, Gewerbe und Bildung in einer alten, trutzigen Polizeikaserne, der Viktoria-Kaserne. Das Besondere an Genossenschaften ist: Sie dienen nicht der Erwirtschaftung von Gewinnen; sie dienen den wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Zwecken ihrer Mitglieder. Die Haftung der Mitglieder ist auf ihre Einlage beschränkt, und ein Mindestkapital ist nicht vorgeschrieben. Es gilt – es wurde schon gesagt –: ein Mitglied, eine Stimme. Damit bieten Genossenschaften den idealen Rahmen für Bürgerinnen und Bürger, die gemeinsam etwas auf die Beine stellen wollen. Und doch wird die Genossenschaft von unternehmerischen Initiativen des bürgerschaftlichen Engagements regelmäßig gemieden. Den Genossenschaften obliegen nämlich verschiedenste Pflichten, und die Erfüllung dieser Pflichten kostet Zeit und Geld. Gerade bei kleinen Genossenschaften verkomplizieren sie die Nutzung dieser Rechtsform unnötig. Die SPD fordert daher schon lange, dass kleine Genossenschaften von den überzogenen Prüfungspflichten befreit werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 2013 gab es einen ersten Anlauf dafür. Geplant war die Einführung einer Kooperationsgesellschaft im Genossenschaftsrecht. Sie sollte von Pflichtprüfungen und -mitgliedschaften generell befreit sein. Der Gesetzentwurf ist damals gescheitert, der Reformbedarf ist aber geblieben. Das hat auch die umfangreiche Studie „Potenziale und Hemmnisse von unternehmerischen Aktivitäten in der Rechtsform der Genossenschaft“ ergeben, auf die Herr Wanderwitz eben hingewiesen hat. Die Studie zeigt deutlich: Insgesamt herrscht große Zufriedenheit mit der Rechtsform der Genossenschaft. Klar ist aber auch: Die Belastungen für kleine Initiativen sind zu hoch. Insofern freue ich mich, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ganz wesentliche Erleichterungen für Genossenschaften einführen. Das erleichterte Prüfwesen, Herr Wanderwitz, gehört dazu. Wir Sozialdemokraten haben das Wort „Bürokratiemonster“ nicht erfunden. Aber für viele kleine Genossenschaften gilt das, was dort in der Vergangenheit an Prüfungsgeschichten praktiziert worden ist, als ein Bürokratiemonster, etwas, was richtig davon abhält, Genossenschaften zu gründen. Im Koalitionsvertrag hatten wir uns vorgenommen: Wir werden Genossenschaften die Möglichkeit der Finanzierung von Investitionen durch Mitgliederdarlehen wieder eröffnen. Wir haben das umgesetzt: In Zukunft können Genossenschaften ihr Geschäft rechtssicher über Mitglieder finanzieren. Im Koalitionsvertrag hatten wir uns auch zum Ziel gesetzt: Wir wollen die Gründung unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem Engagement … erleichtern. Bei vielen ehrenamtlichen Initiativen stehen engagierte Bürgerinnen und Bürger vor der Frage, wie sie ihr Engagement auf sicherer Rechtsgrundlage und ohne persönliches Haftungsrisiko organisieren können: Genossenschaften sind zu aufwendig und zu teuer; Vereine wiederum dürfen nur in ganz begrenztem Ausmaß eine wirtschaftliche Betätigung verfolgen. In der SPD haben wir die Lösung für dieses Problem in den prüfungsbefreiten Minigenossenschaften gesehen. Wir haben in der letzten Wahlperiode aber auch die Kritik, die einer Minigenossenschaft entgegenschlägt, erlebt. Wir hätten hier also nicht unser Ziel erreicht. Ans Ziel wollen wir aber unbedingt kommen. Bürgerschaftliches Engagement leistet nämlich unersetzliche Beiträge für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wo bürgerschaftlichem Engagement Hürden begegnen, müssen wir diese aus dem Weg räumen. Das Fehlen einer unkomplizierten Rechtsform ist eine solche Hürde. Solange wir die Einführung der Minigenossenschaft nicht durchsetzen können, gehen wir den Weg über das Vereinsrecht. Der vorliegende Gesetzentwurf wird den Zugang zum Wirtschaftlichen Verein erleichtern. Von den Idealvereinen ist uns in der letzten Woche signalisiert worden, dass sie sich im Wirtschaftlichen Verein nicht zu Hause fühlen können, schließlich verfolgen sie vor allem einen ideellen Zweck und keinen Geschäftsbetrieb. Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Ich glaube trotzdem, dass der Wirtschaftliche Verein auch für sie ein Zuhause sein kann. Der Wirtschaftliche Verein verursacht wenig Aufwand und Kosten. Er besitzt die vertrauten Strukturen des eingetragenen Vereins. Ich glaube, der Wirtschaftliche Verein ist eine wirkliche Alternative für all jene Vereine, deren wirtschaftliche Betätigung über das Nebenzweckprivileg hinausgeht. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzter Redner spricht in dieser Aussprache Dr. Volker Ullrich von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bürgerschaftliches Engagement bereichert überall in unserem Land die Gesellschaft. Die Menschen kümmern und sorgen sich um eine gute Nachbarschaft, um Projekte und um Vorhaben, ohne die eine Gesellschaft in sozialem Zusammenhalt nicht gelingen könnte. Viele Projekte sind in den letzten Jahren entstanden. Zu denken ist an Initiativen für Kindertagesstätten, Gaststätten und Vereinslokale, die sonst geschlossen wären. Zu denken ist an Initiativen für Investitionen in Blockheizkraftwerke und Windräder, aber auch an den klassischen Dorfladen, der die Versorgung gerade auf dem Land und in Stadtteilen verbessert. Die konkrete Frage, vor der die Menschen stehen, ist eine ganz praktische: Welche Rechtsform sollen wir für diese Initiativen wählen? Klar ist für uns: Das Recht soll den Menschen und ihren Projekten dienend zur Seite stehen. Deswegen darf es nicht zu formal sein wie bei einer Aktiengesellschaft oder einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Aber auch eine persönliche Haftung wie bei einer BGB-Gesellschaft muss für diese Menschen ausfallen, weil sie schlichtweg nicht zumutbar ist. Es geht den Menschen, die sich engagieren, nicht um den persönlichen Ertrag, sondern es geht ihnen um den Gewinn für das Gemeinwesen. Das unterstützen wir. Wir haben uns deswegen zu fragen, ob wir nicht eine neue Rechtsform einführen sollten. Ich glaube aber, dass wir eines mit Fug und Recht festhalten können: Es besteht in diesem Land kein Mangel an Rechtsformen. Die Einführung einer weiteren neuen Gesellschaftsform wäre nicht unbedingt ein wesentlicher Beitrag zum Bürokratieabbau. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist deswegen richtig, die Lösung für die Probleme in den bestehenden Rechtsformen zu suchen. Es ist richtig, dass dieser Gesetzentwurf zunächst einmal das Vereinsrecht in den Blick nimmt. Wirtschaftliche Vereine können tatsächlich eine taugliche Rechtsform sein, um die beschriebenen Projekte, um gerade bürgerschaftliches Engagement auch rechtlich abzusichern, gerade dann, wenn eine Kapitalgesellschaft oder eine größere Gesellschaft nicht zumutbar erscheint. Deswegen mein Appell bereits jetzt, zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens: Lassen Sie uns die Zulassung für Wirtschaftliche Vereine unbürokratisch handhaben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lassen Sie uns gerade auf Länderebene den Ländern die entsprechende Möglichkeit geben, diese Vereine schnell gründen zu lassen. Und ja, es ist richtig, dass auch die Genossenschaften gestärkt werden. Genossenschaften sind die ideale Rechtsform für Kooperationen, für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Sie sind vielleicht die am demokratischsten verfasste Rechtsform, weil jeder Genosse eine Stimme hat, egal wie viele Kapitalanteile er einbringt, und weil jeder, der Verantwortung trägt, im Aufsichtsrat und im Vorstand, auch Mitglied dieser Genossenschaft sein muss. Das ist Selbstverantwortung aus sich selbst heraus. Deswegen ist es richtig, dass wir die Gründung von Genossenschaften erleichtern (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) und zulassen, dass Mitglieder Kleindarlehen an ihre Genossenschaften vergeben und damit finanzielle Verantwortung für die eigene Idee übernehmen. Ich glaube, das sind gute Lösungen für ein modernes Genossenschaftswesen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen uns auch überlegen, wie wir zukünftig mit den Prüfungen umgehen. Im Genossenschaftsrecht ist vorgeschrieben, dass jede Genossenschaft eine verpflichtende Prüfung durch den Genossenschaftsverband zu erdulden hat. Diese Prüfung ist im Kern richtig, weil wir die Lauterkeit und das Funktionieren des Genossenschaftswesens irgendwie überprüfen müssen. Die geringe Insolvenzrate von Genossenschaften – sie ist in dieser Rechtsform so gering wie in keiner anderen – zeigt, dass dieses genossenschaftliche Prüfungswesen seinen Sinn und Zweck nicht verfehlt hat. Deswegen lassen Sie uns in Ruhe und besonnen überlegen, wie wir die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Prüfungen in Zukunft regeln. Ich glaube, wir müssen einen Mittelweg finden zwischen möglichen Erleichterungen für kleine Genossenschaften einerseits und den für das Vertrauen in diese Rechtsform notwendigen Prüfungen andererseits. Insgesamt ist dieser Gesetzentwurf ein Appell an eine ein Stück weit stärker gemeinwohlorientierte Wirtschaftspolitik in den Stadteilen und in den ländlichen Räumen. Das ist ein Gesetzentwurf für gute Nachbarschaft und Zusammenhalt in diesem Land. Lassen Sie uns das angehen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 18/11506 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kreis der Anspruchsberechtigten und die Bezugsdauer in der Arbeitslosenversicherung erweitern Drucksache 18/11419 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster Redner Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: LINKEN: Guter Mann!) Klaus Ernst (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst auch von mir Glückwunsch an Martin Schulz. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wer ist das? – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ach, jetzt geht es los! – Beifall bei der SPD) Er hat es geschafft, der SPD wieder Leben einzuhauchen. Grandios! (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wir haben vorher schon gelebt!) – Na ja, nicht mehr so ganz. – Mich freut übrigens auch das Wahlergebnis von 100 Prozent für Martin Schulz. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sozialistisch!) Damit hat er mit mir etwas gemeinsam: Ich habe auch 100 Prozent bekommen, allerdings nur im Wahlkreis Schweinfurt. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Schlimm genug!) In der Süddeutschen Zeitung habe ich gelesen – Zitat –: „Kauder: Schulz denkt nur an Wahlkampf“. Ich bin erschrocken. Habt ihr schon aufgegeben? Macht ihr keinen Wahlkampf mehr? (Heiterkeit bei der SPD – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Wir regieren noch ein bisschen, Herr Ernst!) Habt ihr keine Lust mehr? Habt ihr schon resigniert, weil die Werte der SPD nach oben gehen und eure nach unten? Was macht denn euer Kauder? Macht er keinen Wahlkampf mehr? Züchtet er nur noch Karnickel, oder was macht er? (Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Er ist Lobbyist von der Waffenindustrie!) Macht euch doch nicht lächerlich mit solchen Sprüchen! Als ich das gelesen habe, habe ich gedacht: Das darf doch wirklich nicht wahr sein, der Schulz macht Wahlkampf. Irre! (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie jetzt Pressesprecher der SPD werden?) Schulz hat gesagt – das ist der Grund, warum es diesen Hype gibt; damit sind wir beim Thema –: Menschen müssen mit Respekt und Anstand behandelt werden, wenn sie ihren Job verlieren. Menschen, die viele Jahre, oft Jahrzehnte, hart arbeiten und ihre Beiträge zahlen, haben ein Recht auf entsprechenden Schutz und Unterstützung, wenn sie – oft unverschuldet – ins Straucheln geraten. So weit das Zitat. Genau darum geht es in unserem Antrag. Ein 49-Jähriger, der sein ganzes Leben gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, hat zurzeit nur 12 Monate Anspruch auf Arbeitslosengeld I, ein 55-Jähriger nur 18 Monate. Dann ist er oder die betroffene Person oder wie auch immer auf Hartz IV. Das kriegt er aber auch nicht unbedingt, sondern nur dann, wenn er das, was er sich in seinem Leben sauer angespart hat, auch noch vorher ausgibt. Das ist die Realität. Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, und deshalb hat Schulz vollkommen recht, wenn er das anprangert, und ihr seid ein bisschen hinter dem Mond, wenn ihr nicht merkt, dass das ein Problem ist. Das ist der Zustand, den wir haben. (Barbara Lanzinger [CDU/CSU]: Das ist glatte Anbiederung!) Nach unserem Antrag, meine Damen und Herren, hätte ein Beschäftigter, der im Alter von 25 Jahren zu arbeiten beginnt, nie arbeitslos ist und immer in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, bei einer Arbeitslosigkeit im Alter von 55 Jahren wenigstens einen Anspruch von drei Jahren und vier Monaten. Abhängig Beschäftigte zahlen in die Arbeitslosenversicherung ein, um bei Jobverlust finanziell abgesichert zu sein. Je größer die Angst vor Arbeitslosigkeit ist – ich denke, das hat sich als Standpunkt wieder durchgesetzt –, umso leichter ist es, Belegschaften zu disziplinieren und die Löhne zu drücken. Wenn man das Ziel verfolgt, die Löhne zu drücken, muss man das Arbeitslosengeld I schleifen. Genau das hat Schröder getan; Sie wissen das noch. Deshalb wurde die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung mit den Reformen der Agenda 2010 massiv eingeschränkt. Vor Schröder, also in der Kanzlerschaft von Kohl, wurde Arbeitslosengeld bis zu 32 Monate gezahlt. Sie wissen das vielleicht nicht mehr; es war so. (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Doch, ich weiß es! Ich habe es gelesen!) Heute sind nur noch 31 Prozent der Erwerbslosen im Arbeitslosengeld I; der Rest ist schon ins Arbeitslosengeld II abgedrängt. Durch die realistische Gefahr, durch Jobverlust bald in Hartz IV zu landen, wurde der Zwang erzeugt, einen neuen Job anzunehmen, selbst wenn dieser schlechter bezahlt ist als der vorherige und weit unter der bisherigen Qualifikation ist. Schröder hat übrigens die Lohndrückerei auch noch gelobt. Er rühmte sich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2005 – Zitat –, „einen der besten Niedriglohnsektoren in Europa geschaffen zu haben“. In der Tat haben wir heute in Deutschland den größten Niedriglohnsektor in Europa. Was hat Schulz dazu gesagt? Das freut mich jetzt wieder. Er hat dazu gesagt – Zitat –: Auch wir haben Fehler gemacht. Fehler zu machen, ist nicht ehrenrührig. Wichtig ist, wenn Fehler erkannt werden, dann müssen sie korrigiert werden. (Beifall bei der SPD – Katja Mast [SPD]: Guter Mann!) Recht hat er. – Heute haben Sie mit unserem Antrag die Möglichkeit, es gleich schon einmal zu tun. (Beifall bei der LINKEN – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: So gut ist er nun auch wieder nicht!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie allerdings korrigieren, dann bitte schön auch richtig. Das ist jetzt schon zum Nachdenken, liebe Kolleginnen und Kollegen: Auch die Kriterien, wann ein Arbeitsloser im Arbeitslosengeld I einen Job ablehnen darf, ohne dass ihm eine Kürzung oder Sperrung seines Arbeitslosengeldes droht, wurden im Zuge der Agenda deutlich verschlechtert. Schon in den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit muss jeder einen Job annehmen, auch wenn er bis zu 20 Prozent schlechter bezahlt wird, nach weiteren drei Monaten, auch wenn er zu 30 Prozent schlechter bezahlt wird. Ohne das Recht, einen Job unter der eigenen Qualifikation ablehnen zu dürfen, bleiben Förderung, Weiterbildung und Qualifikation Etikettenschwindel. Dann müssen wir das schon richtig machen. Das, was wir gegenwärtig haben, ist eine verordnete Rutschbahn der Löhne nach unten. Das müssen wir ändern. Es geht bei unserem Antrag tatsächlich um das, was Martin Schulz gesagt hat. Ich zitiere ihn noch einmal: Menschen müssen mit Respekt und Anstand behandelt werden, wenn sie ihren Job verlieren. Das gilt im Übrigen ganz besonders – das sage ich auch an die Adresse der Grünen – für Menschen, die älter sind. Sie brauchen mehr Zeit für die Jobsuche. Sie sollen bis 67 arbeiten, aber werden kaum noch eingestellt, wenn sie älter als 50 sind. Frau Hasselfeldt – ich habe sie nicht gesehen –, auch ältere Menschen wollen arbeiten und nicht, wie Sie behaupten, in Frührente gehen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben!) Das ist Unfug. Deshalb sage ich Ihnen: Sie wollen auch schon deshalb nicht in Frührente gehen, weil sie mit den gekürzten Renten, für die auch die Grünen Verantwortung haben, kaum noch über die Runden kommen. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wegen Ihres Koalitionsvertrages unserem Antrag schon nicht zustimmen, was ich mir vorstellen könnte, (Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]: Das könnte so passieren!) dann geben Sie wenigstens zu, dass wir recht haben; dann regeln wir das in der nächsten Koalition. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Optimist!) Ich danke fürs Zuhören. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes spricht der Kollege Albert Weiler von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. h. c. Albert Weiler (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sicherheit hat für jeden Menschen oberste Priorität. Hier geht es aber nicht um innere oder äußere Sicherheit, hier geht es um soziale Sicherheit. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch wichtig!) Ich kann gut verstehen, dass ein Mensch, der Verantwortung für eine Familie, eine Firma oder Freunde übernimmt, sich nach sozialer Absicherung sehnt. Viele fühlen sich gerade in der jetzigen Zeit in dieser Sicherheit bedroht. Die Linke nutzt diese Bedrohung aus und präsentiert hier reine Wahlkampfforderungen ohne Finanzierungsvorschlag. Ich aber frage mich: Was ist machbar? Ich handle nach dem Sprichwort „Ehrlich währt am längsten“. Ich bin in der finanzpolitischen Realität angekommen, und da werden Sie, Kollegen von den Linken, im September nach der Wahl auch ankommen müssen. Ich habe Verständnis dafür, dass Menschen von jetzt auf gleich jemandem hinterherlaufen, der verspricht, alle Wünsche zu erfüllen. Wahlkampfplattitüden hören sich gut an und erzeugen ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Sie geben Versprechungen ab, nur um Stimmen zu erschleichen. Sie wollen sogar, dass Menschen, die mehrmals gute Arbeit ablehnen und nicht arbeiten wollen, nicht mehr sanktioniert werden. Damit stellen Sie Arbeitsunwillige auf eine Stufe mit Menschen, die jeden Tag acht bis zehn Stunden arbeiten, um sich eine Wohnung, ein kleines Häuschen, ein Auto oder vielleicht einen Urlaub leisten zu können. Aber wenn die Realität kommt – das sehen wir im Freistaat Thüringen –, werden linke Versprechungen eben nicht eingehalten. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ihr habt doch einen guten Ministerpräsidenten!) Von dem Kuchen, von den 600 Millionen Euro, die der Steuerzahler mehr eingebracht hat, geben Sie den Kommunen und somit den Schulen, den Kindergärten und den Jugendhilfeeinrichtungen nichts ab. Sie verbraten dieses Geld für ein unsinniges Gebietsreformvorhaben à la Rot-Rot-Grün. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir reden gerade über Arbeitslosenversicherung! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie haben den falschen Tagesordnungspunkt erwischt!) Was wollen wir? Wir wollen Bedürfnisse stillen. Jeder soll durch seine Arbeit seinen Lebensunterhalt finanzieren und für seine Familie sorgen können. Wir sagen: Sozial ist, was Arbeit schafft. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das muss man auch hinterfragen!) Wir sichern Wachstum und Wohlstand, damit Arbeitsplätze entstehen und Arbeitslosigkeit schon im Voraus verhindert wird. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE]) Sie machen Versprechungen. Wir bekämpfen Arbeitslosigkeit präventiv, damit Menschen überhaupt gar nicht erst arbeitslos werden. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wir wären überhaupt nicht an die Macht gekommen, wenn ihr erfolgreich gewesen wärt! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1,2 Millionen Aufstocker!) Das muss das eigentliche Ziel sein. Aus meiner Sicht kann es daher nur einen Weg geben: Wir müssen Arbeitslosigkeit verhindern. Wir müssen Menschen, die arbeitslos geworden sind, schnellstmöglich wieder integrieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Danke schön. – Daher plädiere ich dafür, die Angebote in der Aus- und Weiterbildung zu intensivieren und zu modernisieren. Weiterbildungsmaßnahmen dürfen nicht erst bei Arbeitslosigkeit erfolgen. Wir sorgen für passende Angebote, welche die Beschäftigten so befähigen, dass sie den Anforderungen einer modernen Arbeitswelt nicht nur gerecht werden, sondern bei den Veränderungen an der Spitze vorangehen können. Unser Fokus liegt vor allem bei den Älteren, den Alleinerziehenden und den Jugendlichen. Für sie benötigen wir passende Instrumente, um ihnen den Weg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Für die Förderung von älteren Arbeitslosen hat sich unser Programm „Perspektive 50plus“ als erfolgreich erwiesen. (Katja Mast [SPD]: Unser Programm! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gibt es doch gar nicht mehr!) Alleinerziehende müssen besonders unterstützt werden. Unsere Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes zielt hier genau in die richtige Richtung. Angesichts von rund 655 000 gemeldeten offenen Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit stärken wir eine individuelle Betreuung und effektive Vermittlung, um Phasen zwischen den Beschäftigungen so kurz wie möglich zu halten und insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern. (Beifall bei der CDU/CSU) Wo sind die Schwächen Ihres Antrags? Sie führen zu Recht an, dass insbesondere ältere Menschen auf dem Weg zurück in die Beschäftigung größere Schwierigkeiten haben. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass auf Druck der Union in der Vergangenheit bereits wichtige Korrekturen umgesetzt wurden, um genau diesen Menschen zu helfen. Wer älter als 50 Jahre ist, bekommt 15 Monate Arbeitslosengeld I, wer über 55 Jahre ist, 18 Monate, und ab 58 Jahren gibt es 24 Monate Arbeitslosengeld I. Damit ist der Zeitraum für die Suche nach einer Anschlussbeschäftigung erheblich ausgeweitet worden. Sicher: Mehr zu fordern, hört sich immer gut an. Ihre Forderung, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes über 48 Monate – das sind vier Jahre – auszuweiten, bedeutet nichts anderes, als die populistischen Forderungen eines einzelnen Herrn mit Bart – den Namen möchte ich jetzt nicht nennen – zu überbieten. (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Guter Mann!) Ich zitiere lieber unseren gerade verabschiedeten Bundespräsidenten, der gestern noch sagte: Fürchten Sie sich nicht vor den Scheinriesen, die da draußen in der Welt herumspringen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn Sie in Ihrem Antrag aufführen, dass jeder Vierte nach einer Beschäftigung direkt in das Hartz-IV-System fällt, dann heißt das doch im Umkehrschluss, dass die Arbeitslosenversicherung für drei Viertel aller Beschäftigten funktioniert. Das ist ein positives Zeichen. Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung ist also stark. Nur passt diese Sichtweise nicht zu Ihrer Taktik der Angstmacherei. Sie stellen alles immer nur negativ dar, bieten aber selbst keine vernünftigen Vorschläge. Auf die Frage nach der Finanzierung höre ich immer nur: Steuern erhöhen. – Sie wollen also eine noch stärkere Belastung der arbeitenden Bevölkerung. Statt die Steuern zu erhöhen, sorgen wir für eine hervorragende Bilanz. 43,6 Millionen Erwerbstätige – das gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen wurde seit 2005 fast halbiert. (Katja Mast [SPD]: Und was habt ihr dazu beigetagen?) Sie verschweigen, dass wir den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung in den letzten zehn Jahren deutlich senken konnten. Das merken vor allem die vielen Millionen Menschen, die in Arbeit sind, in ihrem Geldbeutel. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gab noch nie so viele erwerbstätige Arme und noch nie so viele arme Kinder!) Wie wollen Sie die zu erwartenden Kosten begleichen? Etwa durch eine Erhöhung des Beitragssatzes, wodurch Sie die Menschen, die arbeiten, wieder direkt belasten würden? Das ist mit uns nicht zu machen; das sage ich an dieser Stelle ganz deutlich. Sie bleiben uns einen sinnvollen Finanzierungsvorschlag schuldig. Höhere Steuern sichern keine Arbeitsplätze, sondern belasten Steuer- und Beitragszahler. Ihre Vorschläge schaden der Arbeitslosenversicherung und vor allem den Versicherten. Einen Versuch war es wert. Aber den Menschen vor der Wahl billige Versprechen zu machen und ihnen durch die Hintertür in die Tasche zu greifen, ist unredlich und mit der CDU/CSU nicht zu machen. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: So ein Quatsch! Das wollen wir ja auch gar nicht!) Zum Schluss möchte ich festhalten: (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter Antrag!) Ziel unserer gemeinsamen Bemühungen muss es sein, Arbeitslosigkeit präventiv zu verhindern, Menschen ohne Arbeit durch gezielte Qualifizierung effektiv zu vermitteln und sie schnell an den Arbeitsmarkt heranzuführen. (Beifall bei der CDU/CSU) Das sorgt für Sicherheit und sozialen Frieden. Der entscheidende Unterschied liegt darin: Wir wollen Arbeitslosigkeit verhindern und Menschen in Arbeit bringen, damit alle am Wohlstand teilhaben können, und wir wollen durch angemessene Löhne bei den Menschen für Zufriedenheit sorgen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Kollege Weiler. – Als Nächste hat die Kollegin Brigitte Pothmer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde es gut, dass jetzt wieder mehr über die Reform der Arbeitslosenversicherung geredet wird – natürlich abgesehen von Ihnen, Herr Weiler; Sie haben hier über alles Mögliche geredet, aber nicht über das Thema. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Doch! Sie haben wohl nicht aufgepasst!) Ich habe heute Morgen schon darauf hingewiesen, dass es dringend notwendig ist, bei der Arbeitslosenversicherung etwas zu verändern, weil sie für sehr viele Beitragszahler ihre Schutzfunktion verloren hat. Wenn wir das nicht korrigieren – das muss uns klar sein –, dann gerät die Arbeitslosenversicherung irgendwann in eine Legitimationskrise. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Richtig!) Wir können von einem Sozialsystem, wie ich finde, zu Recht, erwarten – das gilt insbesondere für die Arbeitslosenversicherung –, dass es genauso flexibel ist, wie die Menschen heute arbeiten. Es muss Sicherheit bieten, ganz unabhängig davon, ob jemand selbstständig ist oder ob jemand befristet, unbefristet, in Projekten arbeitet oder, oder, oder. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In diese Richtung ist diese Bundesregierung bisher leider keinen Schritt vorangekommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, bei Ihrem Antrag (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Der gut ist, oder?) beschleicht mich der Verdacht, dass es Ihnen in erster Linie um einen nahtlosen Übergang ab 55 in die Rente geht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das ist wirklich nicht gut, und das hat auch nicht unbedingt etwas mit Respekt zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich finde es richtig, dass auch Sie die hohen Hürden beim Zugang zur Arbeitslosenversicherung abbauen wollen. Deswegen finde ich es auch gut, dass Sie unseren unbürokratischen Vorschlag übernommen haben, der besagt: Wer vier Monate eingezahlt hat, erhält zwei Monate lang Arbeitslosengeld, wer sechs Monate eingezahlt hat, erhält drei Monate lang Arbeitslosengeld, usw. Das ist nämlich ein echtes Angebot in Bezug auf die kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Ernst, bei Ihrer Rede habe ich den Eindruck gehabt, dass Sie jetzt irgendwie auch Pressesprecher der SPD geworden sind. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Man hilft, wo man kann! – Heiterkeit bei der LINKEN) Herr Ernst, bei den allermeisten Vorschlägen in Ihrem Antrag geht es vor allen Dingen darum, die Bezugsdauer des Arbeitslosgengeldes I zu verlängern. Ich bestreite nicht, dass ältere Arbeitslose ein größeres Problem haben, wieder Arbeit zu finden. Die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I bringt aber niemanden schneller und besser in Arbeit. Das ist das Problem. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Den Beweis müssen Sie erst mal antreten!) Ich finde, es hat ausdrücklich etwas mit Respekt gegenüber Älteren zu tun, wenn wir alles, aber auch wirklich alles daransetzen, Brücken in Beschäftigung zu bauen, sodass sie schnell wieder Arbeit finden. Dafür ist Weiterbildung natürlich ein gutes Instrument, aber es ist verdammt noch mal nicht das einzige. (Katja Mast [SPD]: Das behauptet doch kein Mensch!) Effektive Lohnkostenzuschüsse, verstärktes Coaching: das alles sind Maßnahmen, die wirklich helfen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]) Herr Ernst, das Prinzip „Weiterbildung verlängert die Zahlung des Arbeitslosengeldes I“ gibt es in der Arbeitslosenversicherung bereits. Schon heute verlängert das den Bezug von Arbeitslosengeld I. Sie wollen diesen Bezug jetzt einfach noch einmal weiter verlängern. Wo wir gerade bei der Weiterbildung sind: Weder Sie noch die SPD reden in diesem Zusammenhang – hier geht es um den Rechtsanspruch nach dem SGB III – über die Tatsache, dass im SGB II überhaupt nichts in dieser Richtung steht. Im Gegenteil: Hier gilt immer noch der Vermittlungsvorrang. Diese Menschen interessieren Sie offensichtlich nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie verstärken dieses unhaltbare Zweiklassensystem in der Arbeitsförderung in unverantwortlicher Art und Weise, und das werden wir nicht mitmachen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wer hat es erfunden?) Gerade im Bereich des SGB II – wo 60 Prozent der Bezieherinnen und Bezieher von Hartz IV keine Berufsausbildung haben und jeder Fünfte keinen Schulabschluss hat – könnten wir mit Qualifizierung echte Zugänge eröffnen und Arbeitsmarktchancen schaffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Insgesamt gilt für die Arbeitslosenversicherung: Wir müssen sie auf die digitale Zukunft vorbereiten – das ist sie bisher nämlich nicht –, und wir müssen sie für die bunter werdenden Erwerbsbiografien fit machen. Sie muss auch präventiv arbeiten und Arbeitslose unterstützen können, und sie muss dabei helfen, dass die Menschen wieder gut in Arbeit kommen. Das gilt für alle Arbeitslosen, völlig unabhängig davon, welche Geldleistungen sie beziehen, wie alt sie sind und welche Voraussetzungen sie mitbringen. Davon ist die Arbeitslosenversicherung noch sehr, sehr weit entfernt. Lieber Herr Ernst, Ihr Antrag bringt uns diesem Ziel kaum näher. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes hat der Kollege Markus Paschke von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Markus Paschke (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter Antrag!) Vor einigen Monaten war in meiner Bürgersprechstunde ein Facharbeiter aus der Textilindustrie. Er ist Mitte 40 und hat 25 Jahre im selben Unternehmen gearbeitet, bis dessen Insolvenz seine Lebensplanung kaputt gemacht hat. Die früher stolze und starke Textilindustrie produziert heute in Deutschland so gut wie gar nicht mehr. Der Strukturwandel hat dazu geführt, dass der Facharbeiter keine Alternative in der Region mehr hat und mit seinen Qualifikationen keine Chance auf dem Arbeitsmarkt erhält. So wie ihm geht es vielen Menschen in Deutschland. Eine einmal erworbene Qualifikation reicht längst nicht mehr für ein gesamtes Berufsleben. Vonseiten der Politik können wir die Betroffenen nicht alleinlassen und sagen: Pech gehabt! Wenn du noch arbeiten willst, arbeite unter deiner Qualifikation. Hauptsache, du bist schnell wieder in einem Job. – Vielmehr sind wir es den Menschen schuldig, sie dabei zu unterstützen, eine Perspektive für die Zukunft zu finden. Dieser Facharbeiter muss noch 20 Jahre arbeiten. Er will auch noch 20 Jahre arbeiten. Eine gute und zukunftsfähige Qualifizierung lässt sich aber nicht mit Praktika und Kurzschulungen erreichen. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Recht hat der Mann!) Deshalb brauchen wir einen Rechtsanspruch auf Qualifizierung. (Beifall bei der SPD) Der Qualifizierungszeitraum darf dann nicht auf die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes angerechnet werden. Das ist doch ganz klar. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber beim ALG II geht das alles!) Das ist auch der Grund, warum Andrea Nahles und Martin Schulz (Beifall bei der SPD – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Funktioniert das auch auf Knopfdruck?) – damit nicht nur Klaus Ernst von unserem Vorsitzenden redet – (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Nahles war das aber nicht!) den Vorschlag gemacht haben, das Arbeitslosengeld Q – „Q“ bedeutet Qualifizierung – einzuführen. Das hilft den Menschen und gibt ihnen für die Zukunft eine Perspektive. (Beifall bei der SPD – Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Zu dir komme ich gleich noch. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Michaela Noll: Lassen Sie die Zwischenfrage zu? Ich sehe es Ihrem Gesicht schon an. Markus Paschke (SPD): Gerne. Vizepräsidentin Michaela Noll: Bitte. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Ganz herzlichen Dank, lieber Kollege Paschke, dass die Zwischenfrage zugelassen wird. – Inzwischen ist so häufig, nicht nur heute Morgen, sondern auch jetzt, von einem Abwesenden die Rede, dass man fast den Eindruck haben könnte, hier wird ein Lied von Mireille Mathieu intoniert: „All meine Träume heißen Martin, Martin, denn seine Liebe war so schön“. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Gleichwohl: Es wurde hier schon mehrfach über das Arbeitslosengeld Q gesprochen, das für ältere Arbeitslose sozusagen eine Verlängerung des Bezuges von Arbeitslosengeld mit der Möglichkeit vorsieht, sich zu qualifizieren. Das kann man durchaus machen. Mich interessiert thematisch, wie es mit Ihrem Bild von sozialer Gerechtigkeit vereinbar ist, wenn gleichzeitig die Perspektive „50plus“ nicht mehr weitergeführt wird, also Langzeitarbeitslose nicht weiter besonders gefördert werden. Ich bitte einfach darum, mir zu versichern, dass das nicht das Bild der sozialen Gerechtigkeit ist, das die SPD im Wahlkampf präsentieren will, dass sie die Gesellschaft nicht spalten will, dass sie die Langzeitarbeitslosen nicht abhängen will, sondern dass sie sich wie die Union darum bemüht, alle in Arbeit zu bringen, seien sie langzeitarbeitslos oder seien sie im SGB III. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Markus Paschke (SPD): Lieber Kollege Zimmer, ich freue mich über diese Zwischenfrage und Anmerkung. Das gibt mir Gelegenheit, genau diesen Punkt herauszuarbeiten. Heute reden wir über die Arbeitslosenversicherung. Da ist Qualifizierung dafür, in der Zukunft Perspektiven zu haben, ein ganz entscheidender Punkt. Sie haben gerade die Förderung von Langzeitarbeitslosen angesprochen. Wir sind dazu bereit. Wir können sofort die Einführung des Passiv-Aktiv-Transfers unterschreiben, (Beifall bei der SPD) sodass wir etlichen Langzeitarbeitslosen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt geben. Das ist doch bisher an der Union gescheitert und nicht an der SPD. (Beifall bei der SPD – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das war jetzt ein Rohrkrepierer! – Katja Mast [SPD]: Eigentor!) Wir waren aber beim Arbeitslosengeld, bei der Qualifizierung. Genau in diesem Zusammenhang finde ich interessant – ich habe heute Morgen gut zugehört bei der Diskussion –, dass genau diejenigen dieses Konzept am lautesten kritisieren, die auch am lautesten über Fachkräftemangel jammern und die bisher nicht bereit sind, unsere Jugendlichen bei der Ausbildung ausreichend zu unterstützen und jedem einen Ausbildungsplatz zu bieten. Ich sage es ganz deutlich: Wenn dann einige Politiker auf diesen Zug aufspringen, dann frage ich mich, mit welcher Motivation sie dies tun und wessen Interessen sie da eigentlich vertreten. Ich will das mit einem schönen Bild verbinden: Der Schulz-Zug ist in der Frage der Arbeitslosenversicherung und der Gerechtigkeit ein ICE, (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Mit Neigetechnik!) und einige versuchen, ihn mit einer handbetriebenen Draisine zum Wettrennen aufzufordern. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Ich freue mich, dass die Linken mit Teilen ihres Antrags auf diesen ICE aufspringen wollen und nicht auf die Draisine. Klaus, da kriegen wir bestimmt etwas hin. (Beifall bei der SPD) Wir haben im Dialogprozess Arbeiten 4.0 den Anspruch auf Qualifikations- und Weiterbildungsberatung festgelegt. Mit dem Gesetz zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung haben wir Schwerpunkte auf die Weiterentwicklung und Weiterbildung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gesetzt. Wir belohnen Bildung und motivieren zum Weitermachen bis zum erfolgreichen Abschluss. Das sind doch die ersten Schritte hin zu einer zukunftsfähigen und zukunftsorientierten Arbeitsversicherung. Eine weitere Baustelle ist der Zugang zur Arbeitslosenversicherung. Gerade Menschen in prekären und flexiblen Beschäftigungsformen brauchen eine Absicherung. Ich kann den Ärger der Betroffenen sehr gut verstehen. Kurzfristig Beschäftigte zahlen im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses Beiträge an die Arbeitslosenversicherung und haben dann keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn sie nicht mindestens 12 volle Monate innerhalb von 24 Monaten Beiträge bezahlt haben. Ich finde, das ist nicht gerecht, und weil das nicht gerecht ist, ist auch hier der Schulz-Zug schon in Fahrt gekommen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD) Andrea Nahles und Martin Schulz haben Anfang des Monats ihre Ideen vorgestellt, wie es besser geht: (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was die SPD alles machen würde, wenn sie an der Regierung wäre!) Wer in drei Jahren zehn Monate lang Beiträge gezahlt hat, soll zukünftig Arbeitslosengeld erhalten. Damit wird der Schutz in der Arbeitslosenversicherung auf viele kurzfristig und prekär Beschäftigte, Filmschaffende und andere Künstlerinnen und Künstler ausgedehnt. Ich finde, das ist gerecht. Es hilft vor allem den betroffenen Menschen; denn die Menschen müssen im Mittelpunkt stehen. (Beifall bei der SPD) Ich lade alle herzlich ein, ein Ticket für diesen ICE zu lösen und gemeinsam mit der SPD die Arbeitslosenversicherung zukunftsfähig und gerechter zu gestalten. Danke. (Beifall bei der SPD – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Kommt der Schulz-Zug auch zum Koalitionsausschuss? Oder wird die Haltestelle ausgelassen?) Vizepräsidentin Michaela Noll: Danke, Herr Kollege. – Als nächster Redner spricht Tobias Zech von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Tobias Zech (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Klaus Ernst, vielen Dank erst einmal für die von mir wohlgemeint aufgenommene Sorge um unsere Wahlkampffähigkeit. Natürlich hast du recht: Wir sind nicht im Wahlkampf. Wir sind sechs Monate vor der Bundestagswahl nicht im Wahlkampf, weil wir als Union, als CDU/CSU, dieses Land regieren und uns nicht mit Wahlkampfklamauk aufhalten und eine Sau nach der anderen durchs Land treiben, (Beifall bei der CDU/CSU) weil dieses Land und dieses Volk es verdienen, dass man auch sechs Monate vor der Bundestagswahl vernünftige Arbeit abliefert. Dafür stehen wir hier in dieser Koalition und in diesem Parlament (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Dann müsst ihr mal Horst Seehofer Bescheid sagen!) und vor allem in dieser Debatte, der Debatte, die wahrscheinlich jeden von uns schon einmal betroffen hat durch die Angst vor Arbeitslosigkeit. Ich weiß nicht, wie es Ihnen in der Vergangenheit ging. Ich habe erst vor kurzem wieder daran denken müssen: Ich habe vor knapp 20 Jahren eine Ausbildung bei Edeka gemacht. Ich habe da Tomaten nach Größe und Joghurts nach Datum sortiert. Vor kurzem habe ich gehört, dass es den ersten kassenlosen Supermarkt geben wird, in dem kein Kassierer und keine Kassiererin mehr gebraucht wird. Da habe ich mir gedacht: Was denken sich jetzt meine Kollegen in dem alten Laden? Die können nichts dafür. Die Technologie schreitet fort. – Kollege Paschke hat es ausgeführt: Es gibt Branchen, die verschwinden. Somit ist jeder persönlich, individuell immer wieder mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. Dieses Thema lädt dazu ein, aufgegriffen zu werden. Es ist aber kein Thema für Wahlkampf, und es ist auch kein Thema für Klamauk. Weil ich die Debatte in den letzten Wochen verfolgt habe und auch davon die Rede war, dass man am Arbeitslosengeld schrauben muss, will ich kurz ein paar sachliche Fakten in die Debatte einführen: Wir haben im Vergleich zu 2005  400 000 offene Stellen zusätzlich – on top! – auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben so viele sozialversicherungspflichtig Beschäftigte wie noch nie seit Bestehen dieser Bundesrepublik, und seit 2005, seit Angela Merkel regiert, hat sich die durchschnittliche Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I bei über 55-Jährigen nahezu halbiert. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Sag doch mal, woran das liegt, Tobi! Was hat Angela Merkel damit zu tun?) Sie ist mit 217 Tagen auf einem historischen Tiefstand. Das ist die Wahrheit. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Zahl der über 55-jährigen Arbeitslosen ist nur leicht gesunken; das stimmt. Man muss aber dazusagen, dass wir mittlerweile 3 Millionen mehr Arbeitnehmer über 55 auf dem Arbeitsmarkt haben. Somit ist die Zahl der über 55-jährigen Arbeitslosen massiv zurückgegangen. Das und nichts anderes ist die Wahrheit. Wir sind seit zehn Jahren auf einem guten Weg. Alles andere redet den Arbeitsmarkt und die Fähigkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland schlecht. Dafür sind wir nicht zu haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Klaus, du hast uns einen Tipp für den Wahlkampf gegeben. Ich gebe euch auch einen: Vielleicht müsstet ihr euch auch einen Buchstaben für euer Konzept überlegen. Von Q war schon die Rede. Vielleicht nehmt ihr W für Arbeitslosengeld „Wahlkampf“. Mehr ist es nämlich nicht. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder V wie Verstand! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Oder L wie Links!) Ich möchte auf den Antrag näher eingehen; er hat es nämlich verdient. Vizepräsidentin Michaela Noll: Herr Kollege Zech, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst zu? Tobias Zech (CDU/CSU): Natürlich. Klaus Ernst (DIE LINKE): Lieber Tobias, ich möchte noch einmal auf folgenden Zusammenhang eingehen – da sind wir wahrscheinlich gar nicht so weit auseinander –: Ja, Qualifikation ist notwendig, auch für die Älteren, die möglicherweise noch mit 55 ihren Job verlieren. Meine Erfahrung ist, dass gerade die 55-Jährigen das sehr gerne annehmen, weil sie, wenn sie bis 67 arbeiten müssen, nicht zwölf Jahre zu Hause bleiben wollen. Es liegt also nicht daran, dass die Menschen nicht arbeiten wollen. Wenn wir uns darüber einig sind und wenn wir die guten Arbeitsmarktzahlen kennen, dann müsste klar sein, dass eine theoretisch längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in der Praxis gar keine Wirkung hat, weil die Menschen mit ihrer Qualifikation bzw. spätestens nach einer Qualifikationsmaßnahme wieder Arbeit haben. Das bedeutet: Unser Antrag, auch wenn man die möglichen Kosten entsprechend hochrechnet, ist eigentlich nicht das Problem. Das Problem besteht vielmehr darin, dass eine große Zahl von Älteren – du hast die Zahlen selbst genannt – trotz der Weiterbildung nicht mehr in Jobs kommt. Wenn jemand mit 55 aus dem Betrieb ausscheidet, dann ist er nach zwei Jahren Weiterbildung 57. Wer stellt denn einen 57-Jährigen noch ein? Es gibt noch zwei Jobs, wo das theoretisch gut funktioniert, nämlich Bundespräsident und Papst. Bei den normalen Bürgern ist das schwieriger. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind da wirklich schon weiter!) Wir haben jetzt auch schon einen jüngeren Bundespräsidenten. Ja, auch da ist es nicht mehr so, dass man als Älterer gleich wieder einen Job kriegt. Wenn das Problem ist, dass man Ältere trotz Weiterbildung nicht vermitteln kann, dann ist die Frage: Wie gehen wir mit deren Würde um? Was machen wir mit denen? Schicken wir sie in den Hartz-IV-Bezug, oder schaffen wir eine Lösung, indem wir ihnen länger Arbeitslosengeld-I-Bezug ermöglichen, sodass sie mehr Zeit haben, wieder in Arbeit zu kommen, statt sie kurz vor der Rente nach einem erfüllten Arbeitsleben und möglicherweise 30, 40 oder 50 Jahren Arbeit in Hartz IV zu schieben? Das ist der Sinn unseres Antrags. Tobias Zech (CDU/CSU): Sehr geehrter Kollege Ernst, vielen Dank. Ich habe Ihren Antrag gelesen. Mir ist auch die Ernsthaftigkeit dessen, was dahintersteckt, durchaus bewusst. Das erkenne ich an. Ich bitte aber, mir nachzusehen – ich komme gleich darauf zurück –, dass ich einen anderen Ansatz habe, was die Lösung betrifft. Ich bin der Überzeugung – insofern haben Sie meine volle Zustimmung –: Für Weiterbildung ist es nie zu spät – bis zum letzten Tag. (Beifall bei der SPD) Die Frage ist nur, wer die Weiterbildung anbietet. Dazu gibt es durchaus unterschiedliche Ansichten. Wenn Sie die Studien vom IAB und vom Institut der deutschen Wirtschaft lesen, welche Art der Weiterbildung zur Reintegration in den Job führt, dann werden Sie feststellen, dass es sich zu 75 Prozent um Angebote der betrieblichen Weiterbildung und nur zu einem sehr geringen Teil um Angebote der Bildungsträger handelt. Wir müssen sicherlich noch einmal darüber sprechen, was unter Weiterbildung zu verstehen ist. Aber grundsätzlich stimmen Sie sicherlich der Aussage zu, dass Weiterbildung der Hauptfaktor ist, wenn es um auskömmliche Renten und gesunde Jobs geht. Ich glaube aber, dass ihr bei den Symptomen und nicht bei den Problemen ansetzt. Ich gebe der Kollegin Pothmer recht – das ist nichts Neues –: Euer Antrag geht – egal ob es um Q oder W geht – an der Praxis vorbei; denn er würde dazu führen, dass wir ein Mittel für eine weitere Frühverrentungswelle schaffen. Gerade das wollen wir nicht. Wir wollen nicht den leichten Weg in die Frühverrentung gehen. Euer Antrag stellt nichts anderes dar als eine reine Symptombekämpfung und greift nicht dort, wo es notwendig wäre. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die arbeitslos sind, wollen nicht – ich bitte auch hier um Ihre Zustimmung –, dass die Bezugsdauer so lange wie möglich ist, sondern wollen so schnell wie möglich zurück auf den ersten Arbeitsmarkt. Da – und nicht an der Bezugsdauer – müssen wir ansetzen. (Beifall bei der CDU/CSU) Daher erkläre ich – ob es nun um Q oder W geht –, dass die Koalition aus CDU/CSU und SPD diesen Antrag in voller Überzeugung ablehnen wird, und das zu Recht. Frank-Jürgen Weise hat sich zur Verlängerung der Bezugsdauer wie folgt geäußert – ich darf zitieren, Frau Präsidentin –: Mehr Verteilung schafft Leistungsempfänger statt Leistungserbringer. Der Wettlauf um die höchsten Zahlungen führt in eine Sackgasse. Diese Sackgasse wollen wir nicht. Wir haben sie erkannt und werden sie umschiffen. Zur Ehrlichkeit gehört dazu, dass die Kosten unkalkulierbar sind, wenn die Dauer der Arbeitslosengeldzahlungen verlängert wird. Das geht am Bedarf und auch an den Interessen der Arbeitnehmer vorbei. Ich halte eine Verlängerung auch im Hinblick auf die Generationengerechtigkeit für nicht verantwortbar; denn dieses Geld sollte besser für wirkliche Qualifizierungsmaßnahmen eingesetzt werden. Ich will jetzt nicht auf die Details eingehen; das haben schon die Vorredner gemacht. Ich möchte vielmehr betonen, dass wir die Arbeitslosenversicherung in diesem Land in den letzten Jahrzehnten zu einem äußerst modernen Zweig unseres Systems weiterentwickelt haben. Natürlich werden wir auch in Zukunft tatkräftig anpacken. Wir müssen die Arbeitslosenversicherung weiterentwickeln, aber in die Zukunft gewandt und nicht rückwärts. Wir müssen uns dabei an den Arbeitnehmern als Kunden orientieren, und die Kunden wollen zurück auf den ersten Arbeitsmarkt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ähnliches gilt für Ihre einzelnen Forderungen und die Ausweitung der Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre. Ich könnte diese Liste beliebig fortsetzen. Wir haben sicherlich das Problem erkannt, dass nicht jede Beratung funktioniert und dass es Schwierigkeiten bei der Vermittlung älterer Arbeitnehmer gibt. Hier muss die Bundesagentur für Arbeit, die dem Ministerium für Arbeit und Soziales zugeordnet ist, ansetzen. Es muss operativ gearbeitet werden. Wie das geschehen soll, will ich aber nicht erst aus Presseartikeln erfahren. Vielmehr muss sich das in der Arbeit des Ministeriums zeigen. Wir hatten lange genug Zeit dafür. Wir brauchen keine Systemänderung. Wir haben sehr gute Gesetze und eine gute Arbeitslosenversicherung; das müssen wir nutzen. Man muss operativ eingreifen, wenn etwas nicht funktioniert. Was wir aber nicht brauchen, ist eine unkalkulierbare, sinnlose und am Arbeitnehmer vorbeigehende Erweiterung der Arbeitslosengeldbezugsdauer. Eine solche Erweiterung wird nur dazu führen, dass die Menschen eher in Rente geschickt werden, bringt aber keinen Einzigen eher zurück in den Job. Den Menschen wieder Arbeit zu geben, muss unser Ziel sein. (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Olle Kamellen!) Dieses Thema wird uns garantiert noch länger beschäftigen. Ich freue mich auf die weiteren Debatten mit Ihnen über dieses große Thema. Ich lade jeden, dem es um die Sache geht, ein, darüber mitzudiskutieren. Das tun wir am besten hier im Parlament und nicht bei irgendwelchen Partys. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Kollege Zech. – Als Nächste spricht die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben schon heute Vormittag über die sich verändernde Arbeitswelt gesprochen – ich sage das nur für die Zuschauer – und haben dabei festgestellt, dass wir in Zukunft einen weitaus flexibleren Arbeitsmarkt erwarten. Der stellt genauso Anforderungen an Fortbildung und Qualifizierung wie auch an die soziale Absicherung von Arbeitslosigkeit – das Thema, über das wir jetzt reden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat im Rahmen des Prozesses „Arbeit 4.0“ eine Langzeitprognose für den Arbeitsmarkt erstellen lassen. Diese Zahlen sind heute noch nicht genannt worden. Die gute Nachricht ist: Uns geht die Arbeit nicht aus, keine Frage. Wir stehen aber vor der riesigen Herausforderung, dass ungefähr 750 000 Arbeitsplätze in 27 Wirtschaftszweigen bis 2030 verloren gehen werden. Auf der anderen Seite werden aber in 13 völlig anderen Branchen 1 Million Arbeitsplätze entstehen. Hinter diesen Zahlen stecken natürlich Tätigkeiten und Qualifikationen, die verschwinden, ebenso wie solche, die neu hinzukommen. Hinter diesen Zahlen stehen aber vor allem Menschen – Menschen, die in diesen Branchen arbeiten, die diese Berufe erlernt haben und die die entsprechenden Qualifikationen erworben haben. Diese Menschen brauchen Sicherheit. Erst einmal wollen sie sicher sein, dass die Arbeitslosenversicherung zahlt. Dann wollen sie sicher sein, dass sie nicht aufs Abstellgleis geschoben werden. Sie wollen auch sicher sein, dass sie eine Qualifizierung erhalten, mit der sie einen dieser neuen Jobs bekommen können. Ich komme aus Sachsen-Anhalt und weiß, wie lähmend die Angst sein kann, aufs Abstellgleis geschoben zu werden. Das ist auch heute noch an der Tagesordnung. Die Zukunft des digitalen Arbeitsmarktes wird natürlich Chancen bringen; das ist unbestritten. Aber die Menschen trauen sich doch nur dann, neue Chancen zu ergreifen, wenn sie Vertrauen in die Arbeitslosenversicherung haben können. (Beifall bei der SPD) In einigen Punkten stimmen wir mit dem Antrag der Linken überein, insbesondere darin, dass die Qualifizierung einen besonderen Stellenwert bekommen muss. Aber wir brauchen mehr. Aus der Arbeitslosenversicherung muss eine Arbeitsversicherung werden. (Beifall bei der SPD) Aus der Bundesagentur für Arbeit muss eine Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung werden. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist sie doch schon!) Darauf – das ist kein Wahlkampfgetöse; das will ich gleich abtun – zielt das Weißbuch der Bundesregierung ab. Da hat unsere Bundesministerin schon einiges getan. Wir wissen: Der erlernte Beruf reicht heute nicht mehr aus. Das Schlagwort „lebenslanges Lernen“ müssen wir ernster denn je nehmen. Aus diesem Grund soll die Bundesagentur für Arbeit nicht erst bei Arbeitslosigkeit greifen. Sie soll nicht erst dann ins Spiel kommen, sondern Beschäftigte sollen in ihrem Berufsleben jederzeit eine unabhängige Beratung erhalten können. (Beifall bei der SPD) Jeder stellt sich doch die Fragen: Welche beruflichen Perspektiven habe ich mit meiner vorhandenen Qualifikation? Welche Optionen bleiben mir für eine berufliche Weiterbildung? Was ist für mich sinnvoll? – Die Bundesagentur soll für das gesamte Erwerbsleben Ansprechpartnerin für Weiterbildung sein, auch ohne Arbeitslosigkeit. (Beifall bei der SPD) Es geht um den Wiedereinstieg in Arbeit, aber nicht nur. Es geht auch darum, Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten und zu sichern. Eine Arbeitsversicherung könnte im Bereich der Qualifizierung die notwendigen Schritte übernehmen. Natürlich gilt das umso mehr für Menschen, die arbeitslos sind. Kollegin Pothmer, Kollege Weiler und Kollege Zech, Sie alle haben gesagt: Das ist Wahlkampfgetöse! – Nein, ein Blick ins Weißbuch der Bundesregierung bringt ein bisschen mehr Klarheit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dort steht eindeutig drin: Erste Schritte haben wir mit der Novelle zum Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz und zum Arbeitslosenversicherungsschutz- und Weiterbildungsstärkungsgesetz unternommen. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Aber das alles nicht als Brücke in die Frührente!) Es gibt nun für langzeitarbeitslose und geringqualifizierte Menschen einen besseren Zugang zu einer Weiterbildung, die auch zu einem Abschluss führt. Da müssen wir – das ist mir eine Herzensangelegenheit – nachlegen. (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Die Geschichte erzählt uns von vielen Berufen, die es schon lange nicht mehr gibt. Ich glaube, das Thema „digitale Arbeitswelt“ hat uns wieder an eine Zeitenwende gebracht; da stehen wir jetzt. Dass wir unsere sozialen Sicherungssysteme so gestalten, dass Menschen Sicherheit haben in Zeiten der Arbeit und auch der Arbeitslosigkeit, das ist unsere Aufgabe. Daran werden wir arbeiten. Das Weißbuch gibt uns die Grundlage. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/11419 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie, zur Ausführung der EU-Geldtransferverordnung und zur Neuorganisation der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen Drucksache 18/11555 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch, Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE Anonyme Briefkastenfirmen verbieten – Transparenzregister einrichten Drucksache 18/8133 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner spricht zu Ihnen der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Ihnen an dieser Stelle im vergangenen Monat das Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz vorgestellt. Dann haben wir uns als Konsequenz aus den Panama Papers mit der Frage, wie wir Steuerhinterziehung besser bekämpfen können, auseinandergesetzt. Bundesminister Wolfgang Schäuble hat einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, den wir in diesem Gesetzgebungsverfahren auf den Weg gebracht haben. Heute befassen wir uns mit den Herausforderungen der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung. Vor dem Hintergrund der Anschläge von Paris und Brüssel im vergangenen Jahr und gestern in London ist es, glaube ich, nicht nachvollziehbar, wenn wir nicht energisch gegen die Finanzierung terroristischer Organisationen vorgehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Die internationale Organisation FATF, die sich mit der Frage befasst, was man gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung tun kann, hat Empfehlungen ausgesprochen, die auf europäischer Ebene in der Vierten Geldwäscherichtlinie niedergelegt sind. Diese Empfehlungen besagen, in Zukunft nicht mehr eine gleichmäßige Kontrolle der gesamten Wirtschaft durchzuführen, sondern zu versuchen, mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen in einem effizienteren Ansatz eine risikoorientierte Kontrolle vorzunehmen, also dort vertieft zu prüfen, wo man Risiken identifizieren kann, und dort Ressourcen abzubauen, wo keine Risikoindikatoren anschlagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Das ist der Grundgedanke dieser Richtlinie. Die Richtlinie ist im Mai 2015 verabschiedet worden. Die Umsetzungsfrist läuft bis Juni dieses Jahres. Deshalb müssen wir jetzt hier im Bundestag über die nationale Umsetzung sprechen. Der erste Ansatzpunkt ist die Neuausrichtung der Financial Intelligence Unit, kurz: FIU. Das ist ein Ansatz, den in Deutschland bereits das Bundeskriminalamt verfolgt. Wir überführen das Ganze nun von der Polizei in den Bereich der Finanzen. Das ist wichtig, weil wir eine Institution schaffen wollen, die eine Filterfunktion hat und eingehende Verdachtsmeldungen nicht einfach ungefiltert weiterleitet. Sie führt eine erste Prüfung des Gehalts einer Meldung durch und sorgt dann dafür, dass die zuständigen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden risikoorientiert den tatsächlichen Verdachtsfällen nachgehen können. Wir werden die FIU beim Zoll ansiedeln und personell deutlich aufstocken. Heute hat diese Einheit 25 Mitarbeiter. Wir streben in Zukunft 165 Mitarbeiter an, um deutlich zu machen, dass wir diese Aufgabe sehr ernst nehmen. An dieser Stelle ist auch internationale Koordination gefragt; denn Verdachtsmeldungen kommen nicht nur aus dem Inland, sondern möglicherweise auch aus dem Ausland. Umgekehrt müssen wir natürlich entsprechenden Partnerbehörden in anderen Ländern unsere Verdachtsmeldungen weitergeben. Der zweite Ansatzpunkt ist ein sogenanntes Transparenzregister, mit dem wir dafür sorgen wollen, dass bei allen wirtschaftlichen Akteuren, insbesondere bei juristischen Personen, klar ist, wer eigentlich der wirtschaftlich Berechtigte ist, der dahinter steht. Das muss nicht zwingend der Eigentümer sein. Wir möchten wissen: Wer hat den wirtschaftlichen Einfluss auf eine Einheit? Das werden wir im Transparenzregister niederlegen. Da wir versuchen wollen, mit möglichst wenig Bürokratie auszukommen, greifen wir auf bestehende Register zurück, zum Beispiel das Handelsregister, und werden diese zu einem neuen Register verlinken. Wo wir neue Daten benötigen – bei Stiftungen, bei Trusts –, werden wir diese anfordern. Ansonsten versuchen wir, sparsam mit diesem Mittel umzugehen. Wir wollen den Zweck erreichen, aber nicht, indem wir viel Bürokratie erzeugen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Es gibt eine intensive Debatte über die Frage, wer Zugang zu den Informationen in diesem Register haben soll. Wir sind der Meinung, dass wir an dieser Stelle eine Eins-zu-eins-Umsetzung des europäischen Rechts, wie es in der Vierten Geldwäscherichtlinie steht, vornehmen sollten. Das bedeutet, dass bei einem berechtigten Interesse – aber eben nur dann – Zugang besteht nicht nur für Behörden und Verpflichtete im Sinne des Geldwäschegesetzes, sondern auch für Journalisten oder für Nichtregierungsorganisationen. Wir haben das vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit dem Eingriff in die Persönlichkeitsrechte und Datenschutzrechte des einzelnen Bürgers abgewogen. Wenn wir in diese Persönlichkeitsrechte eingreifen, dann muss eben ein entsprechender Grund dafür angeführt werden können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir sehen an zwei Stellen Ausweitungen vor, und zwar im Bereich der Verpflichteten. Das ist zum einen bei den Güterhändlern der Fall. Für die Güterhändler gelten heute schon die notwendigen Sorgfaltspflichten. Wenn sie Geschäfte abwickeln, dann sind sie Verpflichtete und müssen geldwäscherechtliche Sorgfaltspflichten einhalten. An dieser Stelle wird ein Grenzwert verändert. Statt heute 15 000 Euro bei Barzahlung sind es in Zukunft 10 000 Euro. Das heißt nicht, dass man bei Geschäften unterhalb dieser Grenze bezogen auf Geldwäsche nicht sorgfältig sein muss. Aber das heißt, dass man bei Barzahlung oberhalb dieser Grenze auf jeden Fall die Sorgfaltspflichten einhalten muss. Zum anderen ist das im Bereich des Glücksspiels der Fall. Beim Glücksspiel ist es seit jeher so, dass Glücksspielanbieter nicht zwingend Verpflichtete sind. Sie werden jetzt Verpflichtete, es sei denn, es ist ein staatlicher Anbieter wie etwa die Lottogesellschaft, oder es ist eine Gastronomie, wo Glücksspielautomaten stehen. Im letzteren Fall ist es zwar auch Glücksspiel; aber da sehen wir bei dem risikoorientierten Ansatz nicht unbedingt die Herausforderung. Ich bitte Sie, in der relativ knappen Zeit bis Juni diesen Gesetzentwurf sorgsam und intensiv mit uns zu beraten. Ich hoffe, dass wir unseren Verpflichtungen bei der Terrorismusfinanzierungsbekämpfung und der Geldwäschebekämpfung nachkommen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als Nächster spricht der Kollege Richard Pitterle von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Richard Pitterle (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Vor ungefähr einem Jahr war es Panama, vor ungefähr einem Monat Malta. In schöner Regelmäßigkeit wird über Geldwäsche und Steuerhinterziehung per Briefkastenunternehmen in Steueroasen berichtet. Es ist sozusagen längst Alltag, dass manche Reiche und Hyperreiche ihre Vermögen auf zwielichtigem Wege vor dem Zugriff des Finanzamtes schützen. Das schadet uns allen; denn wenn Steuern nicht gezahlt werden, fehlt dringend benötigtes Geld für Schulen, Straßen und Krankenhäuser. Die Bundesregierung legt nun den Entwurf ihres Gesetzes zur Umsetzung der Vierten Geldwäscherichtlinie der EU vor und präsentiert sich hier wieder als große Kämpferin gegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung. Meine Damen und Herren, die Realität sieht leider anders aus. Die Bundesregierung schreitet nicht voran, sondern dackelt offenbar völlig überfordert hinterher. (Beifall bei der LINKEN) Bis zum 26. Juni dieses Jahres ist – so haben wir gehört – die aus 2015 stammende Richtlinie umzusetzen, und erst jetzt, kurz vor Schluss, wird die Bundesregierung tätig. Mehr noch: Auf europäischer Ebene schnürt man längst am nächsten Maßnahmenpaket. Die Bundesregierung ist nicht Motor, sondern Bremse bei der EU-weiten Bekämpfung von Geldwäsche. Die Linke lässt Ihnen das so nicht durchgehen! (Beifall bei der LINKEN) Ich will drei Punkte zum vorliegenden Gesetz ansprechen. Das ist erstens das Transparenzregister, einer der zentralen Punkte des Gesetzes. Darin sollen die „wirtschaftlich Berechtigten“ – also die wahren Eigentümer zum Beispiel eines Unternehmens – aufgeführt werden, damit sich nicht X oder Y hinter irgendwelchen Briefkastenunternehmen verstecken können. So weit, so gut. Das Transparenzregister aber, das die Bundesregierung nun plant, ist leider genau eines nicht: transparent. Im Gegenteil: Die Daten bleiben unter Verschluss und werden nur dann an die Öffentlichkeit herausgegeben, wenn man ein berechtigtes Interesse an der Einsichtnahme nachweisen kann. Die Bundesregierung hat hier einmal wieder dem Druck der Unternehmerlobby nachgegeben, die auf angebliche Gefahren durch Entführer verwies. Wir von der Linken fordern hingegen in unserem Antrag, dass das Transparenzregister uneingeschränkt öffentlich zugänglich ist, damit tatsächlich eine wirksame Kontrolle stattfinden kann. (Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Aber Journalisten haben jetzt auch schon Zugang bei berechtigtem Interesse! Das ist schon einmal sehr gut!) Ich komme zum zweiten Punkt im Gesetz, den ich ansprechen möchte und der tatsächlich positiver Natur ist. Die bei Meldungen auf Geldwäscheverdacht zuständige Stelle war bisher beim Bundeskriminalamt angesiedelt. Mit dem neuen Gesetz wird die Stelle dort herausgelöst und künftig als sogenannte Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen bei der Generalzolldirektion und somit im Geschäftsbereich des Bundesfinanzministeriums untergebracht. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das ist gut!) Das ist grundsätzlich auch sinnvoll; denn genau dort sollten die Kompetenzen gebündelt sein, wenn man Geldwäschern und Steuerhinterziehern auf den Zahn fühlen will. Damit kommt die Bundesregierung – wenn auch mit kleinen Trippelschritten – wieder einmal einer unserer Forderungen entgegen. Immerhin hat die Linke schon 2013 die Einrichtung einer Bundesfinanzpolizei beim Bundesfinanzministerium gefordert, um Geldwäsche wirksam bekämpfen zu können. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Wenn wir Sie nicht hätten!) Wir freuen uns, dass die Große Koalition auch einmal lernfähig ist und geben natürlich weiterhin gerne Hilfestellung beim Laufenlernen. (Beifall bei der LINKEN) Zum Beispiel muss sich die Bundesregierung auch hier von ihrem Sparzwang befreien und das entsprechende Personal kräftig aufstocken. Ich komme zum letzten und dritten Punkt, zu den vollmundigen Ankündigungen der Bundesregierung und dem Ergebnis. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesminister Gabriel, Müller und Maas haben im letzten Jahr noch groß gefordert, auch weltweit mit gutem Beispiel voranzugehen und Briefkastenunternehmen zu bekämpfen. Da frage ich mich: Wo bleibt denn nun die große Initiative seitens der Bundesregierung? Wir wollen doch hoffen, dass das am Ende nicht wieder bloß die hinlänglich bekannte heiße Luft ist. (Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Sie reden vom völlig falschen Gesetz!) Aus meiner Sicht wäre es zumindest erforderlich, die Bußgelder nach dem Geldwäschegesetz sowie auch die Bußgelder bei Verletzung der Meldepflichten nach der Außenwirtschaftsverordnung deutlich anzuheben. Diese verpflichtet bekanntlich den Steuerpflichtigen, Beteiligungen an einer ausländischen Gesellschaft – zum Beispiel an einer GmbH in Panama – an die Bundesbank zu melden. Die Bußgeldrahmen unterscheiden sich bei vergleichbarem Fehlverhalten deutlich. Es wäre im Übrigen effizienter, Meldepflichten in einem Gesetz zu konzentrieren. Dies wäre auch für die Meldepflichtigen übersichtlicher. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster hat das Wort Dr. Jens Zimmermann von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Jens Zimmermann (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, man kann sehr gut an die Rede vom Kollegen Pitterle anschließen; denn der Kampf auch gegen Briefkastenfirmen und im Zusammenhang mit den Panama Papers eint uns ja. Deswegen verhandeln wir hier im Deutschen Bundestag gerade auch das Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz. Man kann uns da also sicherlich vieles vorwerfen, aber nicht, dass wir untätig sind. Gleichzeitig muss man an dieser Stelle – da haben Sie schon ein bisschen recht – auch sagen: Es gehört eben doch alles zusammen. Wenn man in dieser Woche die Presse verfolgt hat, konnte man lesen, dass Briefkastenfirmen im Zusammenhang mit der „Russian Laundromat“ – dabei ging es um die „russische Waschmaschine“ – eine Rolle gespielt haben. Das zeigt eben, dass Geldwäsche nach wie vor ein sehr großes Thema ist. Es werden Gelder aus zwielichtigen Kanälen gewaschen. Auch wird Geld gewaschen und transferiert, das für terroristische Aktivitäten genutzt werden kann. Deswegen eint uns, glaube ich, hier alle im Haus der entschiedene Kampf gegen Geldwäsche. Die Tatsache, dass sich die Umsetzung jetzt ein bisschen nach hinten geschoben hat, ist ja kein Beleg dafür, dass wir wenig machen wollen, sondern ganz im Gegenteil. Das Ansinnen der Koalition und der Bundesregierung an dieser Stelle war ja, möglichst die Fünfte Geldwäscherichtlinie, die wir jetzt noch bekommen werden, hier schon direkt hineinzunehmen. Dass das – Sie wissen, wie in Brüssel manchmal die Verhandlungen laufen – jetzt nicht geklappt hat, ist schade; aber es wäre falsch, das in diese Richtung zu interpretieren, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber wenn wir uns anschauen, was wir in der Umsetzung der Vierten Geldwäscherichtlinie in diesem Paket jetzt drin haben, dann können wir sagen: Wir haben mit der Neustrukturierung der Financial Intelligence Unit – das ist die Zentralstelle, die den Kampf gegen Geldwäsche führt – einen wirklich wichtigen Punkt umgesetzt, und wir begrüßen es sehr, dass wir an dieser Stelle eine deutliche personelle Aufstockung erleben werden. Ich glaube, ein ganz wichtiger Punkt, auf den wir in den Verhandlungen noch ein bisschen genauer eingehen müssen, ist die Koordinierungsfunktion zwischen den einzelnen Ländern. Wir alle, die wir im Kampf gegen Geldwäsche immer wieder zusammensitzen, wissen: Erfolgreich können wir in Deutschland nur sein, wenn der Bund und die Bundesländer an einem Strang ziehen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Transparenzregister ist angesprochen worden, ein wichtiger Punkt. Wir diskutieren jetzt darüber, wer eigentlich auf die Informationen in diesem Transparenzregister zugreifen darf. Es ist nun nicht so, als würden da ganz geheime Informationen drinstehen. Da steht letztendlich drin, wer der wirtschaftlich Berechtigte eines Unternehmens ist. Ich denke, das sind im Normalfall Informationen, die auch durch viele öffentliche Quellen zugänglich sind. Sie werden aus bestehenden Registern zusammengeführt. Wir haben ein abgestuftes Verfahren. Behörden sollen einen tieferen Einblick haben können als Geschäftspartner oder auch Journalisten. Das halten wir für richtig. Aber wir sollten uns im Laufe der Verhandlungen noch einmal genau überlegen, ob wir wirklich diese Schwelle einziehen wollen, dass dieses berechtigte Interesse jedes Mal nachgewiesen werden muss; denn es gibt, glaube ich, an dieser Stelle nur zwei Varianten. Die eine Variante ist, dass dieses berechtigte Interesse in Zukunft immer als Begründung dafür herhalten muss, dass man keinen Einblick gewährt, wenn man eine harte Linie fährt. Die andere Variante ist, dass man es umgekehrt ganz leicht macht und jeder, der möchte, immer Einblick nehmen kann. Dann sollten wir meiner Meinung nach aber auch nach außen das ganz klare Signal senden: Jeder sollte Einblick nehmen können, weil es eigentlich Informationen sind, bei denen niemand etwas zu verbergen hat. Diese Güterabwägung können wir an dieser Stelle, denke ich, treffen. (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Die Güterhändler sind ein wesentlicher Teil im Kampf gegen Geldwäsche. Es sind nicht nur die Banken. Es geht nicht nur um die Geldtransfers, sondern es geht auch um die Frage: Was passiert am Ende eigentlich mit diesem Geld? Deswegen halten wir es für den richtigen Schritt, dass die Schwelle, ab der erhöhte Sorgfaltspflichten gelten, von 15 000 Euro auf 10 000 Euro gesenkt wird. Was wir in der Diskussion, auch mit vielen Betroffenen, erfahren haben, ist, dass man gerne bereit ist, sich auf diese Schwelle einzulassen, weil viele Unternehmen zunehmend merken, dass sie Risiken eingehen, wenn sie solch hohe Bartransaktionen akzeptieren. Ich glaube, an dieser Stelle können wir mit der Industrie, mit dem Handel sicher zu einer guten Lösung kommen. In den weiteren Verhandlungen – wir sind heute in der ersten Lesung; der Bundesrat ist mit diesem Gesetzentwurf auch betraut – müssen wir vielleicht an der einen oder anderen Stelle noch genauer hinschauen. Ich will einen Punkt noch einmal explizit in den Blick nehmen, und zwar die Frage: Was machen wir mit den Glücksspielautomaten? Der Kollege Staatssekretär hat so schön von diesem einen Automaten in der Eckkneipe gesprochen, den wir jetzt nicht übermäßig belasten wollen. Da sind wir vollkommen einer Meinung. Aber mir geht es an dieser Stelle nicht um die Eckkneipe mit dem einen Glücksspielautomaten, sondern mir geht es um ganze Glücksspielkasinos, die teilweise – das muss man sagen – einen zweifelhaften Ruf haben. Ich halte es für ein schlechtes Signal, wenn wir bei der Umsetzung des Geldwäschebekämpfungsgesetzes genau diese Branche privilegieren und ausnehmen. Wir wollen aber nicht diejenigen ins Visier nehmen, die an diesen Automaten spielen, sondern wir wollen mit denjenigen reden, die solche Geschäfte betreiben. Ich glaube, es ist der Mühe wert, dass wir uns in den weiteren Verhandlungen dieses Thema noch einmal genauer anschauen und überlegen sollten, nicht auch für Betreiber von solchen Etablissements erhöhte Sorgfaltspflichten einzuführen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Kollege Zimmermann. – Als Nächstes spricht der Kollege Dr. Gerhard Schick von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Dossier in der Süddeutschen Zeitung über russische Geldwäsche, wonach in den Jahren 2010 bis 2014 mindestens 20 Milliarden Euro russisches Schwarzgeld in der Europäischen Union gewaschen worden sind, ist schon angesprochen worden. In dem Artikel finden sich zwei Zitate, die man sich in dieser Debatte noch einmal in Erinnerung rufen muss. Das eine Zitat ist: Geldwäscher fühlen sich von der Bundesrepublik eingeladen. Das andere Zitat lautet: Geldwäscher lieben Deutschland. Das ist nicht das Bild, das wir von unserem Land gerne hätten. Die Diagnose ist auch nicht neu. Wenn es um die Frage der Schattenfinanzzentren geht und von den NGOs internationale Rankings aufgestellt werden, dann taucht die Bundesrepublik Deutschland leider regelmäßig relativ weit oben auf. Es stellt sich die Frage: Was passiert hier eigentlich? Was ist in den letzten Jahren passiert? Jetzt haben wir wieder ein Gesetz, wo es im Wesentlichen um die Umsetzung einer europäischen Richtlinie geht. Wir haben also nicht einen eigenen Ansatz, das Defizit in unserem eigenen Land anzugehen, sondern es ist erneut getrieben von der Europäischen Union. In den Jahren seit 2009 wäre es notwendig gewesen – der Bundesfinanzminister ist für dieses Thema zuständig –, irgendwann zu überlegen: Was machen wir eigentlich, um diese Diagnose, diesen Zustand auch aus unserem eigenen Interesse heraus zu überwinden? Es kann nicht sein, dass wir immer warten, bis die Europäische Union handelt. Vor allem angesichts des ständigen Fingerzeigs von Deutschland auf Steueroasen da und dort ist es nicht lauter, nicht vor der eigenen Haustüre zu kehren. Das ist notwendig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Kernstück des Gesetzes, das in der Öffentlichkeit am meisten bekannt ist, ist das Transparenzregister. Es ist schon im Jahr 2014 von der Financial Action Task Force angemahnt worden, dass in Deutschland ein solches Register fehlt. Es ist eine langjährige Forderung, dass wir ein solches Register bekommen. Jetzt könnte man froh sein, dass es das gibt. Aber es wird keine wirkliche Öffentlichkeit hergestellt, weil dieses Register nur auf Antrag eingesehen werden kann, wenn man ein berechtigtes Interesse nachweisen kann. Auf der einen Seite gibt es das Problem, dass viele aufgrund dieser Voraussetzungen abgehalten werden, diese Information einzusehen, andererseits wird es ein Problem bei der Qualität der darin enthaltenen Daten geben. Wie stellt man denn sicher, dass das, was in einem solchen Register steht, wirklich stimmt? Am besten über eine öffentliche Kontrolle, also dadurch, dass korrigiert werden kann, wenn Leute merken, dass irgendwelche Daten nicht stimmen. Deswegen wird für uns ein wichtiger Punkt in den Beratungen des Gesetzes sein, dass wir es schaffen, dieses Register zu einem öffentlichen Register zu machen. Das ist auch aus Teilen Ihrer Parteien gefordert worden. Es ist eine Forderung der Zivilgesellschaft. Wir werden uns dafür starkmachen. Ein nichtöffentliches Transparenzregister schafft keine wirkliche Transparenz. Deswegen brauchen wir eine Korrektur. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch fehlt es wieder an Datenschutz. Das, was uns manche Unternehmerinnen und Unternehmer sagen, ist nicht ganz falsch. Wir wollen nicht, dass sich Unternehmen verschleiern können; aber Personen haben einen Anspruch darauf, dass ihre sensiblen Daten geschützt werden. Deswegen meinen wir, dass man noch einmal darüber reden muss, ob man mit einer Verschlüsselung der sensiblen Daten ein Stück mehr Datenschutz erreichen kann. Auch das werden wir in die Beratungen einbringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn es um die Verlagerung der Financial Intelligence Unit geht, dann werden wir uns das genau anschauen müssen. Der Aufwuchs der Beschäftigten ist sicher hilfreich. Aber allein die Verlagerung wird das Strukturproblem, dass Informationen aus vielen Branchen überhaupt nicht kommen, dass Verdachtsmeldungen überhaupt nicht da sind und nicht die richtige Qualität haben, dass die Behörden nicht zusammenarbeiten, nicht lösen. Deswegen bleibt der Appell an die Verantwortlichen in Bund und Ländern, das seit Jahren bekannte Problem: „Wie stellen wir uns organisatorisch, behördlich auf, welche Behörde macht was und wie arbeiten sie zusammen?“ endlich sinnvoll anzugehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will noch einen Punkt kurz ansprechen. Es geht um die Frage, die jetzt gerade auf europäischer Ebene diskutiert wird – die Bundesregierung steht da auf der Bremse –: Kann man eigentlich bei Immobilieneigentum feststellen, wem da was gehört, wenn man zum Beispiel Vermögen von Kriminellen einziehen will? Ich glaube, auch da gibt es in Deutschland noch Nachsteuerungsbedarf; das sollten wir hier diskutieren. Es sollte vielleicht nicht so sein, dass wir da wieder auf eine europäische Initiative, auf Druck von europäischer Seite warten, sondern aus unserem Interesse dafür sorgen, dass Strafverfolgungsbehörden hier die Möglichkeit haben, die Strafverfolgung zu leisten. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes spricht Dr. Frank Steffel von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute die Vierte EU-Geldwäscherichtlinie und hatten in der Tat die Absicht, sie gemeinsam mit der Fünften zu beraten. Das macht ja auch Sinn; denn es geht um erhebliche Veränderungen auch im Hinblick auf die Strukturen, die Kontrollmechanismen, das Controlling von Zehntausenden Unternehmen in Deutschland. Insofern sollte man das nicht jedes halbe Jahr neu regulieren. Leider hat die EU den Zeitrahmen, den sie sich vorgenommen hat, nicht eingehalten. Insofern werden wir jetzt – der Koalitionspartner hat zu Recht darauf hingewiesen: bis Juni – selbstverständlich die Vierte EU-Geldwäscherichtlinie in Deutschland umsetzen und unseren Beitrag dazu leisten, dass in Deutschland noch weniger Geldwäsche stattfindet und die Terrorismusbekämpfung noch effizienter erfolgen kann. Mit Panama-Briefkästen hat das alles übrigens leidlich wenig zu tun. Wir sind uns völlig einig: Das mit den Panama-Briefkästen ist eine Sauerei. Wo immer so etwas noch möglich ist, muss es international bekämpft und sanktioniert werden. Hier müssen diejenigen, die es zulassen, und diejenigen, die es tun, bestraft werden, in Deutschland und überall auf der Welt. Es gibt aber eine Gemeinsamkeit: Beides geht nur international – sowohl Geldwäsche- und Terrorismusbekämpfung als auch die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und dessen, was sich hinter den Begriffen „Panama-Briefkasten“ und „Panama Papers“ verbirgt. Insofern kann man am heutigen Tage bei aller Kritik an Europa, bei all dem, was manchmal schlecht und langsam umgesetzt wird, positiv feststellen – ich sage das gerade auch den vielen jungen Zuhörern hier im Deutschen Bundestag –: Geldwäsche- und Terrorismusbekämpfung ist ein gutes Beispiel dafür, dass es eben nur gemeinsam in Europa geht. Denn Geldwäsche macht vor deutschen Grenzen nicht halt, aber eben auch nicht vor polnischen, vor österreichischen oder vor französischen Grenzen. Insofern müssen wir es in Europa gemeinsam tun und werden es auch tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Kritik an der mangelhaften Umsetzung in Deutschland – Herr Schick, Sie haben das zu Recht in vielen Berichterstattergesprächen sehr kritisch angemahnt – eint uns, glaube ich, alle. Wir stellen fest, dass die Umsetzung in den 16 Bundesländern, die dafür zuständig sind, ziemlich leidenschaftslos betrieben wird, es da in vielen Ländern einen Mitarbeiter in irgendeiner Behörde gibt, und das nicht einmal einheitlich in allen Bundesländern. Deswegen unterstützen wir ausdrücklich das Anliegen der Bundesregierung, mehr zu zentralisieren, Stellen auf Bundesebene zu schaffen, den professionellen Zoll einzusetzen und Verdachtsmeldungen wirklich sehr konsequent nachzugehen. Das ist für mich nämlich das Allerfrustrierendste: Wir haben viele Unternehmen in Deutschland – ganz große und viele mittelständische –, die Verdachtsfälle melden. Sie sagen: Wir haben einen konkreten Verdacht, dass vielfach auch Menschen nichtdeutscher Nationalität in Deutschland Geldwäsche betreiben, indem sie Güter kaufen, indem sie Bargeld in Umlauf bringen und vieles andere mehr, aber stellen fest, dass unseren Verdachtsmeldungen überhaupt nicht nachgegangen wird, dass wir die Verdachtsmeldung abgeben und wir von der Behörde über Monate überhaupt nichts hören. – Ich glaube, das ist die Mindestvoraussetzung, von der man als Staatsbürger ausgehen kann: Wenn wir hier ein Gesetz beschließen, dann muss es auch ernsthaft dort umgesetzt werden, wo es kontrolliert wird, nicht nur in den Unternehmen und in den Organisationen, die die Meldungen machen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Zweiter Punkt: Bargeld. Wir stellen in Deutschland im positiven Sinne – das ist ganz menschlich – eine hohe Sensibilität im Hinblick auf Bargeld fest. Wir haben weniger Kreditkarten-Geldverkehr als fast alle vergleichbaren Länder der Welt. Sobald boulevardesk aufgemacht wird: „Die 500-Euro-Note verschwindet“, haben die Deutschen das Gefühl, man missachte ihr Interesse, mit Bargeld zahlen zu dürfen und nicht alles dokumentieren zu müssen, aber auch den Schutz ihrer persönlichen Daten und ihrer persönlichen Bürgerfreiheiten. Hier möchten wir die Menschen beruhigen und sagen: Nein, das werden wir nicht tun. (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU] – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das wird von manchen Professoren geschürt!) – Das wird von Fachleuten, von Medien geschürt, übrigens auch von Politikern, Herr Kollege Binding. – Aber eine Änderung in diesem Bereich wird nicht stattfinden, sondern es wird auch in Zukunft jedem Deutschen möglich sein, ganz legal mit Bargeld zu bezahlen. Hier muss niemand Sorge vor dieser Bundesregierung und dieser Koalition haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Die Sache mit dem Transparenzregister haben Sie sehr verkürzt dargestellt, Herr Schick. Da Sie Fachmann und nicht so naiv sind, wie Sie sich hier verkauft haben, (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) wissen Sie ganz genau, dass da kein Student nachts am Computer sitzt und im Transparenzregister stöbert und nebenbei russischen Oligarchen, den Mafiosi oder den Terroristen entdeckt. Das ist absurd. Die Hauptarbeit müssen die staatlichen Stellen leisten. Journalisten können da helfen. Die Hauptarbeit müssen NGOs leisten. Wir haben die Möglichkeit geschaffen, dass jeder, der ein Geschäftsinteresse hat, prüfen kann, ob derjenige, der etwas bei ihm kaufen möchte, etwas verschleiern möchte. Es gibt die Möglichkeit, zu prüfen: Wer ist wirtschaftlich begünstigt? (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die meisten Informationen kamen von den Whistleblowern und nicht von den staatlichen Stellen!) – Aber Herr Schick! – Hier eine Hexenjagd daraus zu machen (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist keine Hexenjagd!) und den Eindruck zu erwecken, dass jeder stille Gesellschafter und jeder, der aus irgendwelchen Gründen an einer deutschen Gesellschaft beteiligt ist, ein potenzieller Geldwäscher ist, das wird der deutschen Wirklichkeit nicht gerecht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat auch niemand behauptet!) 99,9 Prozent der deutschen Unternehmen sind von dem, was wir hier diskutieren, überhaupt nicht betroffen. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo haben Sie denn diese Zahl her?) Wir reden über einige wenige schwerkriminelle Straftaten, deren Überwachung wir noch besser hinbekommen möchten. Im Übrigen ist Deutschland deshalb so betroffen, weil es in Europa zentral liegt und weil es ein sehr großes und ein sehr freiheitliches Land ist. Natürlich ist eine Güterabwägung zu treffen. Wir werden in allen Bereichen, übrigens auch was den Güterhandel betrifft, mit Augenmaß vorgehen. Uns liegen sehr dezidierte Hinweise von internationalen Konzernen vor, in denen es heißt: Achtung, reguliert in Deutschland nicht schärfer als in anderen europäischen Ländern! Ihr macht unsere Geschäfte in Europa, in Asien und in Amerika kaputt, weil wir uns an das deutsche Gesetz halten müssen, unsere Wettbewerber aber nicht. Wir werden darauf achten, dass wir die Bürokratie nicht überborden. Es kann nicht sein, dass jeder, der einem Studenten einen Gebrauchtwagen für 1 200 Euro verkauft, in den Verdacht der Geldwäsche gerät. Das ist absurd. Das hat mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun. Wir haben im Parlament jetzt vier Wochen Zeit bis zur Anhörung Ende April. Wir werden über dieses Thema in aller Ausgewogenheit diskutieren. Die Menschen sollen wissen: Uns liegt Geldwäschebekämpfung am Herzen, Terrorismusbekämpfung ohnehin. Wir werden mit Augenmaß dafür sorgen, dass nicht Zehntausende von Unternehmen und Millionen von Bundesbürgern betroffen sein werden, nur weil es einige wenige furchtbar kriminelle schwarze Schafe gibt. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Michaela Noll: Danke, Herr Kollege Steffel. – Als nächster Redner: Lothar Binding von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir vorab eine Bemerkung. Ich habe bei Google nach dem Begriff „Geldwäsche“ gesucht. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Haben Sie Dr. Schick gefunden?) und wurde mit folgendem Pop-up beglückt: Diesen Freitag – jetzt mitspielen, Euro-Jackpot rund 49 Millionen! – Es hat mich gewundert, dass in diesem Kontext ein solches Pop-up kommt. Da merkt man, was von Google im Hintergrund verknüpft wird. Gerhard Schick hat zitiert, dass Geldwäscher Deutschland lieben, und die Zahl 20 Milliarden Euro erwähnt. Soweit wir wissen, sind von den 20 Milliarden Euro ungefähr 30 bis 40 Millionen Euro in Deutschland gewaschen worden. Das ist eine andere Größenordnung. Deshalb denke ich: Wenn wir so pauschal über dieses Thema sprechen, dann kommen wir der Sache nicht näher. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Was sind bei dem Beispiel, das er genannt hat, überhaupt die Zutaten? Ich nenne sie einmal: eine russische Firma, die Schwarzgeld hat – das ist klar –, zwei Briefkastenfirmen, und zwar nicht in Deutschland, sondern in Großbritannien – ich nenne sie einmal Firma A und Firma B –, einen Richter aus Moldau – man fragt sich: warum Moldau?; die Antwort: wir haben ein Assoziierungsabkommen, es gibt also Freihandel mit Moldau, und deshalb gelten Rechtsverhältnisse in Moldau auch für die EU – und einen Staatsbürger aus Moldau. Wir haben also Russland, England, Moldau und Deutschland. Jetzt schauen wir uns einmal an, was da eine Rolle spielt. Die Firma A schließt mit der Firma B einen Vertrag, dass die Firma A der Firma B ganz viel Geld leiht. Sie leiht ihr gar kein Geld, aber die Bürgschaft für dieses Leihgeschäft übernehmen die russische Firma und der Bürger aus Moldau, wir haben also zwei Bürgen. Nun verlangt die Firma A das gar nicht an die Firma B geliehene Geld zurück, obwohl noch gar kein Geld geflossen ist. Weil Firma B aber nicht zahlt – ist ja klar, sie hat ja auch kein Geld bekommen –, verklagt Firma A jetzt Firma B in Moldau auf Rückzahlung dieses nichtgezahlten Geldes. Der Bürge in Moldau ist zuständig. Der Richter in Moldau entscheidet, dass die Schuldforderung zu Recht besteht, und wenn die Schuldforderung zu Recht besteht, müssen die Bürgen zahlen. Das ist klar. Das ist ein Rechtsgeschäft, das dort gültig ist. Deshalb übernimmt jetzt die russische Firma die Überweisung an den Gerichtsvollzieher in Moldau. Der wiederum überweist das Geld auf ein Konto der Firma A in Lettland. Man merkt, was da eine Rolle spielt: Das Schwarzgeld ist nun auf dem Konto der Firma A in Lettland, in der EU, angekommen. Jetzt werden mit diesem Geld Bestellungen bei der Firma Bogner im Auftrag der russischen Firma getätigt. Sie kauft mit diesem Schwarzgeld in einer ganz großen Dimension in Deutschland ein. Jetzt könnte man sich fragen, ob der Außenhandelsvertreter der Firma Bogner nicht hätte spüren können, dass da möglicherweise andere Geschäftsmodelle im Hintergrund ablaufen. Man könnte darüber nachdenken, ob wir ihn nicht verpflichten sollten, in einem solchen Fall aktiv zu werden. An diesem Fall merken wir, dass die Sache nicht ganz so einfach ist, wie es hier vorgetragen wurde. Es geht nicht nur um Deutschland, sondern es geht um ein großes Geflecht und eine komplizierte Konstruktion, die das alles möglich macht. Umso mehr müssen wir mit den anderen Ländern darüber reden. Wer ist eigentlich beteiligt? Es gibt immer drei Schritte: die Einspeisung des Schwarzgeldes in den Markt, die Verschleierung – da gibt es verschiedene Mechanismen – und die Integration des Weißgeldes in den Markt. Wer ist hauptsächlich beteiligt? Spielbanken, Pferderennen, Hotels, Wechselstuben, Bankkonten, Automatenwirtschaft. Eine kleine Bemerkung dazu – Jens Zimmermann hat das schon erwähnt –: Wir haben uns ein bisschen darüber geärgert – darüber haben wir auch gestritten –, dass die CDU es erreicht hat, dass die Automatenwirtschaft, die im Referentenentwurf klugerweise enthalten war, herausgenommen wurde. (Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Wir waren doch gar nicht beteiligt, Herr Kollege!) Wir sehen darin einen schweren Fehler, weil – sagen wir es einmal so – zumindest nicht ganz klar ist, dass in den Automatensalons, von denen es allein im Umfeld meiner Wohnung sechs Stück gibt, Geldwäsche unmöglich ist. Insofern wäre es klug, sich darum noch einmal zu kümmern. Wir müssten sicher noch ein bisschen streiten, damit sie wieder hineinkommen. Aber auch deutsche Banken haben fragwürdige Überweisungen aus Russland angenommen. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch strafbar!) Auch dort hat niemand genau hingeschaut, obwohl das gut gewesen wäre. Die Verschleierung funktioniert – das kennen wir schon –: Scheingeschäfte, Offshorebanken, Briefkastengesellschaften, Scheingesellschaften, Strohmänner, gefälschte Rechnungen, Rückdatierungen usw. Die Quellen und Senken sind Korruption, Waffen- und Drogenhandel, Terrorismusfinanzierung. Also, es lohnt sich, dass wir uns darum kümmern. In dem Gesetz wird als Antwort eine Neuorganisation der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen in der vorgetragenen Weise vorgeschlagen. Das halten wir für eine sehr gute Idee. Auch die Einrichtung eines Transparenzregisters halten wir für eine gute Idee. Wer ein „berechtigtes Interesse“ hat, sollte da hineinschauen können, inklusive Journalisten. Das ist eine Brücke in die Öffentlichkeit. Vielleicht kann man da noch mehr machen; als ersten Schritt finde ich das aber ganz gut. Vielen Journalisten verdanken wir ja die Erkenntnisse, die wir in diesem Kontext haben. Insofern ist das sehr gut. Ein letzter Satz: Ich finde auch die Verschärfung der Sanktionen von 100 000 Euro auf 1 Million Euro hinreichend. Es handelt sich um die übelsten kriminellen Machenschaften, die wir beobachten können. Deshalb ist eine Geldbuße von 1 Million Euro wahrscheinlich angemessen. Ich finde, das ist für die erste Lesung ein sehr guter Aufschlag. Wir warten auf die zweite und dritte Lesung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Michaela Noll: Vielen Dank, Herr Kollege. – Der letzte Redner in dieser Aussprache ist Dr. Hans Michelbach von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Studie von 2016 wird das Geldwäschevolumen in Deutschland pro Jahr auf 100 Milliarden Euro geschätzt. Das ist eine unglaublich hohe Zahl. Ich glaube nicht, dass das realistisch ist. (Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Nein! Ich auch nicht!) Ich weiß aber, dass Ihr Zitat, Herr Dr. Schick, falsch ist. Geldwäscher dürfen sich in Deutschland nicht eingeladen fühlen. Das Gegenteil ist der Fall. Herr Dr. Schick, das wissen Sie. Natürlich wollen Kriminelle dorthin gehen, wo es eine hohe Wirtschaftlichkeit, eine hohe Wirtschaftskraft und eine hohe wirtschaftliche Wertschöpfung gibt. Das ist die automatische Anziehungskraft eines guten, erfolgreichen Wirtschaftsstandorts. Aber – das ist das Wichtige dabei – wir wollen in Deutschland saubere Geschäfte. Wir wollen keine Kriminellen. Wir wollen keine Steuerhinterziehung. Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Binding, es wird in diesen Zeiten immer mehr Mode, den Standort Deutschland eher schlechtzureden. Wir sind stark als Wirtschaftsstandort, und ich glaube, wir können und müssen zwischen den sauberen und den unsauberen Geschäften trennen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Deshalb werden Geldwäsche und Terrorismus mit aller Entschiedenheit bekämpft. Gerade in Zeiten, in denen die Terrorismusgefahr so hoch ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr, müssen wir auf allen Gebieten intensiv gegen den Terrorismus vorgehen. Dazu kann nicht nur die Innen- und Sicherheitspolitik einen wichtigen Beitrag leisten, sondern eben auch die Finanzpolitik; denn schließlich planen Kriminelle und Terroristen oft auch mit finanziellen Mitteln, um ihre extremen Pläne umzusetzen. Insofern tragen wir auch mit diesem Gesetz klar zu einer Bekämpfung bei. Es ist ein gutes Zeichen, dass in dieser Woche, in der wir das 60-jährige Bestehen der Römischen Verträge feiern, Europa auf diesem Gebiet vereint vorankommt, und das sollten wir auch positiv festhalten. Mit europaweit einheitlichen Regeln können Geldwäsche und Terrorismus am besten in effizienter Weise bekämpft werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schließlich haben uns die Anschläge der vergangenen Jahre gezeigt, dass Terroristen nicht national, sondern international agieren. Die Dritte Geldwäscherichtlinie gilt in Deutschland nunmehr zehn Jahre, und es ist selbstverständlich, dass wir angesichts der vielen Entwicklungen und der zusätzlichen technischen Möglichkeiten auf die neuen Vorgehensweisen zur Geldwäsche und Terrorfinanzierung reagieren müssen. Zudem verbessern wir mit diesem Gesetz ganz klar die Effizienz. Dies tun wir mit der heutigen Einbringung des vorliegenden Gesetzentwurfes zur Umsetzung der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie, die die Dritte EU-Geldwäscherichtlinie ablöst, und wir erwarten auch die Fünfte EU-Geldwäscherichtlinie, sobald das EU-Parlament dies beschlossen hat. Konkret bedeutet dies, dass wir die Empfehlungen weiter voranbringen. Die bedeutendsten Änderungen sind natürlich nun einmal die Geldwäscherisiken anhand von Listen. Wir haben jetzt mit dem Elektronischen Transparenzregister eine gute Lösung, hier auch weitere Erfassung voranzubringen. Damit erhöhen wir die Transparenz und erschweren wir gleichzeitig den Missbrauch von Gesellschaften und Trusts für Geldwäsche, Steuerbetrug und Terrorismusfinanzierung. Zukünftig müssen die Finanzinstitute auch die Risiken ihrer Niederlassungen im Ausland erfassen und somit entsprechende Maßnahmen danach ausrichten. Ich glaube, das ist der richtige Ansatz. Es ist das Problem, dass international in besonderem Maße in vereinter Kraft hingesehen werden muss. Dabei – das ist mir wichtig – darf es nicht zu pauschalem Generalverdacht und zur Überbürokratisierung kommen, und es darf nicht zu falschem Aktionismus kommen, wie das hier heute angeklungen ist. Das ist der falsche Weg. Wir müssen schon genau die Schnittstelle betrachten, wo etwas kriminell wird, wo Steuerhinterziehung stattfindet, und sollten nicht pauschal alles in Grund und Boden verdammen. Das ist falsch, (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das macht, glaube ich, auch keiner! Oder?) und deswegen müssen wir uns dies ganz gezielt vornehmen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin überzeugt, meine Damen und Herren, dass wir als starker Wirtschaftsstandort auch die Verantwortung haben, dass hierbei das kriminelle Geschäft, der Steuerbetrug, die Terrorismusfinanzierung von den anderen Dingen klar getrennt werden. Das werden wir mit der Beratung über dieses Gesetz realisieren. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/11555 und 18/8133 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c sowie den Zusatzpunkt 4 auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europaweiten Atomausstieg voranbringen –Euratom-Vertrag reformieren oder aussteigen Drucksachen 18/8242, 18/8439 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander Ulrich, Hubertus Zdebel, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE EU-Förderung von Atomenergie stoppen – EURATOM-Vertrag beenden Drucksache 18/11595 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ausfuhr von Uran-Brennstoffen für den Betrieb störanfälliger Atomkraftwerke im Ausland stoppen Drucksache 18/11596 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Brennstofflieferungen für belgische Atomkraftwerke stoppen Drucksachen 18/9676, 18/10934 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Nina Scheer (SPD): Meine sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über verschiedene Vorlagen, die den Euratom-Vertrag betreffen. Es ist nicht das erste Mal in dieser Legislaturperiode, dass wir uns mit dieser Thematik auseinandersetzen. Ich möchte voranstellen, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zu dem, was wir heute Vormittag verabschiedet haben, besteht. Das Standortauswahlgesetz ist reformiert worden. Ich verknüpfe den heutigen Tagesordnungspunkt thematisch mit dem heute verabschiedeten Gesetzentwurf; denn das Standortauswahlgesetz hält uns eindrücklich vor Augen, mit welch enormen Lasten und Risiken die Nutzung der Atomenergie verbunden ist. Im Gesetz ist festgeschrieben, dass wir uns für 1 Million Jahre verpflichten, verantwortlich mit den Altlasten der Atomenergienutzung umzugehen. Die Angabe „1 Million Jahre“ ist natürlich ein Platzhalter für Ewigkeit, weil wir erkennen mussten, dass die Gefahren, die allein schon vom Atommüll ausgehen, so unermesslich und unbeherrschbar sind, dass wir es nur so beziffern können; denn es geht ins Unendliche. Um dies gesetzlich zu fixieren, haben wir uns für die Angabe „1 Million Jahre“ entschieden. Ich betone das deswegen hier so ausdrücklich, weil es versinnbildlicht, wie unverantwortlich die Nutzung von Atomenergie ist. Wir haben über die deutschen Grenzen hinweg in und für Europa und natürlich auch international eine Verpflichtung, möglichst schnell aus dieser so gefährlichen Technologie, deren Erzeugung selbst schon Risiken birgt, auszusteigen. Wir kennen auch andere Gefahren. Zuletzt gab es vor ein paar Tagen die Meldung, dass aufgrund einer 20-minütigen Unterbrechung des Kontaktes zu einem Flugzeug Alarm in Atomkraftwerken in Deutschland ausgelöst wurde und Räumungen stattgefunden haben. Auch das zeigt, wie sensibel und gefährlich die Nutzung dieser Technologie ist. Es gibt noch eine weitere große Schwierigkeit im Zusammenhang mit der Nutzung von Atomenergie: die Verquickung – dies betrifft das technische Know-how – von militärischer Nutzung und ziviler Nutzung. Wenn man sich die Situation weltweit anschaut, wenn man sich anschaut, wer zu den Nutzern von Atomenergie im zivilen Bereich zählt und wer über Atomwaffen verfügt, ist eine Kongruenz festzustellen von atomenergienutzenden Staaten und solchen, die sich zugleich Staaten mit Atomwaffen oder Zulieferstaaten nennen können. Dies zeigt, dass wir hier eine weitere Herausforderung im Umgang mit der Nutzung von Atomenergie bzw. bei der Beendigung der Nutzung von Atomenergie vor uns haben. Wahrscheinlich wird es sehr schwer werden, weltweit aus der Atomenergie auszusteigen, solange noch Staaten in der Welt über Atomwaffen verfügen. Denn sie werden wahrscheinlich immer bestrebt sein, über die zivile Nutzung von Atomenergie das entsprechende Know-how im Land zu halten und sich in diesem Bereich sowie hinsichtlich der Technologie und der zu verwendenden Ressourcen nicht von anderen Staaten abhängig zu machen. Insofern haben wir, denke ich, auch friedenspolitisch eine Verpflichtung, weltweit dafür zu werben, dass tatsächlich nicht wieder in eine Atomwaffenaufrüstung hineingeschlendert wird, wie wir es derzeit leider vermuten müssen. Vielmehr müssen wir uns auf unsere weltweiten Abrüstungsverpflichtungen besinnen und sie weiter verschärfen. Auf diesen Weg müssen wir uns rückbesinnen, um den Ausstieg aus der militärischen Nutzung tatsächlich hinzubekommen und daran anschließend den Ausstieg aus der zivilen Nutzung vervollkommnen zu können. Auf diesen technischen und faktischen Zusammenhang wollte ich an dieser Stelle unbedingt hinweisen; denn er ist von zentraler Bedeutung. Im Zusammenhang mit dem Euratom-Vertrag möchte ich auf folgende Punkte hinweisen: Wir haben eine zweigeteilte Betrachtungsnotwendigkeit, was den Euratom-Vertrag betrifft. Einerseits gibt es im Euratom-Vertrag Bereiche, die in der Tat Dinge betreffen, die aus sicherheitspolitischen und aus Gesundheitsschutz- bzw. Vorsorgegründen wahrscheinlich aufrechtzuerhalten sind. Ich denke, wir sind uns wahrscheinlich weitgehend einig – auch hier im Bundestag –, dass es Elemente gibt, auf die sich die europäischen Staaten jenseits des Euratom-Vertrags oder auch innerhalb des Euratom-Vertrags verständigen sollten, weil sie bedeuten, gemeinsam für Sicherheit zu sorgen, jedenfalls solange in Europa auch nur noch ein einziges AKW existiert. Ein gemeinsames Für-Sicherheit-Sorgen ist, denke ich, sicherer, als wenn man das einem Staat alleine überlässt. Insofern gibt es aus sicherheitspolitischen und aus Gesundheitsschutz- bzw. Vorsorgegründen Anhaltspunkte, in der Europäischen Union vertragliche Vereinbarungen zu haben, die dies abbilden. Aber die Frage ist, ob der Euratom-Vertrag dies tatsächlich leistet. Wir müssen erkennen, dass im Euratom-Vertrag Aussagen enthalten sind, die sich zwar aus der Geschichte erklären lassen mögen, die heutzutage aber nicht mehr zeitgemäß sind. In der Präambel des Euratom-Vertrags steht zum Beispiel, dass es das Ziel ist, die „Voraussetzungen für ... eine mächtige Kernindustrie zu schaffen“. Und: Die Kernenergie stelle eine „unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt“ dar. Ich glaube, ich brauche meinen Kommentar nicht hinzuzufügen – ich tue es trotzdem –, dass das aus deutscher Sicht nicht mehr unser Ziel sein kann. Ich denke, die meisten Staaten in Europa würden das heute nicht mehr so formulieren. Zugleich – das muss man dazusagen – gibt es durch eine Erklärung der Bevollmächtigten die Anerkennung der Vertragsparteien, dass mit den Verpflichtungen, die damals durch den Euratom-Vertrag geschlossen wurden, nicht einhergeht, dass man sich tatsächlich auch verpflichtet, Atomenergie zu nutzen. Man ist in den letzten Jahren schon ein Stück weitergekommen: Die ursprüngliche Verpflichtung bedeutet nicht, dass in den betreffenden Staaten eine Pflicht zur Nutzung der Atomenergie besteht. Dennoch muss man erkennen: Solange eine vertragliche Verpflichtung der gerade von mir zitierten Art besteht, findet man natürlich Wertungswidersprüche, nicht nur mit Blick auf den Atomausstieg, den wir in Deutschland beschlossen haben und der verfassungsgerichtlich für zulässig erklärt wurde, sondern zum Beispiel auch mit Blick auf die Energiewende, die von der Europäischen Union formulierten Ziele zum Ausbau der erneuerbaren Energien und die klaren Erkenntnisse hinsichtlich der Gefahren im Umgang mit der Atomenergienutzung, die durch die EU-Stresstests Eingang gefunden haben. Insofern bleibt uns nichts anderes übrig – dafür werbe ich; ich werde gleich auch noch darauf hinweisen, inwieweit sich Deutschland dafür einsetzt –, als eine Reform des Euratom-Vertrages durchzuführen. Eine Reform des Euratom-Vertrages erachte ich für wichtig. Daher möchte ich dazu noch kurz ein paar Hintergründe erwähnen. Deutschland hat bereits in der Schlussakte von Lissabon vom 13. Dezember 2007 gemeinsam mit anderen europäischen Mitgliedstaaten eine Erklärung abgegeben, in der man die Unterstützung einer zeitgemäßen Veränderung des Euratom-Vertrags zum Ausdruck gebracht hat. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Und nichts ist passiert!) Ich möchte diese Schlussakte, weil sie, denke ich, für das weitere Verfahren im Umgang mit dem Euratom-Vertrag zentral ist, hier zitieren; auf die Frage, warum dies in der Zwischenzeit nicht passiert ist, gehe ich gleich noch ein. Die Erklärung Nummer 54 lautet: Deutschland, Irland, Ungarn, Österreich und Schweden stellen fest, dass die zentralen Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft seit seinem Inkrafttreten in ihrer Substanz nicht geändert worden sind und aktualisiert werden müssen. Daher unterstützen sie – die erklärenden Mitgliedstaaten – den Gedanken einer Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, die so rasch wie möglich einberufen werden sollte. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lange her!) – In der Tat, das ist bis heute nicht erfolgt. Es gibt zudem einen Beschluss der 56. Europaministerkonferenz, in dem diese ebenfalls eine Überarbeitung des Euratom-Vertrags fordert. Wir, die SPD-Fraktion, haben bereits in der letzten Legislaturperiode einen Antrag erarbeitet, in dem wir die Bundesregierung, damals Schwarz-Gelb, aufgefordert haben, darauf hinzuwirken, dass die im Euratom-Vertrag festgeschriebene Sonderstellung der Atomenergienutzung abgeschafft wird und die Passagen des Euratom-Vertrages, die Investitionen in die Atomenergie begünstigen, gestrichen werden. In der Tat ist bis heute eine solche Vertragsstaatenkonferenz nicht einberufen worden. Ich kann nur bestätigen, dass das ein misslicher Umstand ist. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist es!) – Das ist in der Tat der Fall. Ich möchte jetzt auf das Hier und Heute zu sprechen kommen, weil der Rückblick alleine ja nichts hilft, und in Erinnerung rufen, dass wir in den letzten Jahren in Europa durchaus auf hoher See unterwegs waren. Wir hatten in der Europäischen Union sehr starke Auseinandersetzungen und schwierige Konflikte jenseits des Euratom-Vertrages zu bewältigen. Damit will ich die Problematik im Zusammenhang mit dem Euratom-Vertrag keinesfalls kleinreden, aber ich möchte darauf hinweisen, dass es in der Europäischen Union eine sehr starke Fokussierung auf die Flüchtlingsfrage gab, und ich denke, ich sage nichts Neues hier im Haus, wenn ich konstatiere, dass Europa vor diesem Hintergrund tatsächlich vor eine Zerreißprobe gestellt wurde. Jetzt steht der Brexit vor der Tür. Die Briten haben sich entschieden, aus Europa auszusteigen. Insofern möchte ich jetzt hier nach vorne blickend genau auf diesen Punkt, den Brexit, eingehen, weil ich denke, dass in diesem Zusammenhang ohnehin eine Auseinandersetzung darüber wird stattfinden müssen, wie sich das Herauslösen eines Staates aus Verträgen, die zu den Gründungsakten zählen – der Euratom-Vertrag zählt zu den Gründungsakten –, zu vollziehen hat. Ich finde, genau in diesem Zusammenhang sollten wir uns auch intensiv damit auseinandersetzen, wie eine solche Reform des Euratom-Vertrages aussehen kann – gerade mit Blick auf den besonderen Gehalt des Euratom-Vertrages als einem der Gründungsakte. Ich bin am Ende meiner Redezeit; auch elf Minuten können sehr schnell vorbei sein, wenn es sich um eine komplexe Materie handelt. Ich hoffe und setze auf den weiteren Prozess in der von mir skizzierten Art, meine aber, dass man die Anträge, die heute vorliegen und zur Abstimmung stehen, aus den genannten Gründen abzulehnen hat. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du hast doch genau das gesagt, was in unserem Antrag steht!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Alexander Ulrich (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bertolt Brecht sagte einmal: „Man muss vom Alten lernen, Neues zu machen.“ Heute ist ein guter Tag, weil wir am gleichen Tag über Euratom diskutieren, an dem wir mittags eine Aktuelle Stunde zu den Römischen Verträgen durchgeführt haben; denn der Euratom-Vertrag ist einer dieser sogenannten Römischen Verträge. Ich glaube, es ist tatsächlich an der Zeit, das Alte – in diesem Fall den Euratom-Vertrag – zu beenden. Mit der milliardenschweren Förderung der Atomenergie sollte endlich Schluss sein. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ziehen wir unsere Lehren aus der Geschichte, und beginnen wir endlich mit dem Neuen, nämlich mit der Förderung der erneuerbaren Energien – und das nicht nur halbherzig, sondern tatsächlich richtig. (Beifall bei der LINKEN) Vor 60 Jahren glaubte man an die Atomenergie. Die sechs Gründerstaaten der Europäischen Union unterzeichneten damals den Euratom-Vertrag. Damals galt die Atomenergie noch als sicher, billig und beherrschbar. Fukushima zeigte erneut, dass sie nicht sicher und beherrschbar ist, und ich glaube – Frau Scheer, Sie haben über die 1 Million Jahre und die hohen Kosten gesprochen –, wenn wir alles zusammenrechnen, dann wissen wir alle: Die Atomenergie ist keine billige Energieform. (Hubertus Zdebel [DIE LINKE]: Die teuerste!) Inzwischen sind 60 Jahre vergangen. In diesen 60 Jahren haben die Menschen auf dramatische Art und Weise feststellen müssen – Stichworte: Tschernobyl und Fukushima –, zu welchen Folgen diese Atomenergie beitragen kann. Deshalb, glaube ich, ist es an der Zeit, noch einmal deutlich zu sagen: Wer den deutschen Atomausstieg ernsthaft betreiben will, der kann nicht länger an dieser milliardenschweren Förderung der Atomenergie über den Euratom-Vertrag europäisch festhalten. Wir müssen damit endlich Schluss machen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Dr. Scheer, ich habe Ihre Rede wirklich als sehr gut empfunden. Ich frage mich nur, warum Sie am Schluss zu dem Ergebnis kommen, dass die Anträge abgelehnt werden müssen; (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) denn die beste Begründung, warum man die Anträge von den Grünen und von uns heute annehmen müsste, haben Sie selbst geliefert. Wenn Sie sagen, dass Sie in Ihrer Fraktion in der Minderheit sind, dann verstehen wir das ja noch. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Koalition!) Wir verstehen es aber nicht, wenn Sie sagen, dass wir jetzt auf die nächsten zwei Jahre hoffen sollten, weil zehn Jahre lang nichts passiert ist, und wenn Sie das Argument anführen, dass der Brexit vielleicht ein toller Türöffner für Euratom-Gespräche ist. Ich glaube, die SPD-Fraktion sollte Ernst mit ihrer Regierungsverantwortung machen und sagen: Wir müssen jetzt frischen Wind in dieses Thema bringen und das europäisch verhandeln. Aus deutscher Sicht kann das nur bedeuten, dass wir nicht länger Steuergelder für die atomare Nutzung und Erforschung bereitstellen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch der Sicherheitsaspekt wird meines Erachtens falsch dargestellt. Nordrhein-Westfalen hat letztes Jahr Jodtabletten bestellt: Das Land hatte Angst, dass bei den Pannenreaktoren in Belgien etwas schiefgeht. Wir kennen die Situation von Kernkraftwerken aus Frankreich oder auch aus Osteuropa. Es ist nicht so, dass Euratom die Sicherheit von Kernkraftwerken tatsächlich erhöht. Das ist nur ein Placebo; denn für die Sicherheit sind immer noch die Nationalstaaten zuständig. Euratom macht also gar nicht das, von dem man glaubt, dass es das macht, nämlich die Sicherheit der AKWs zu verbessern. Deshalb: Wenn man Euratom abwickeln würde, wie es unser Vorschlag vorsieht, und wenn man die vielen Milliarden zur Einrichtung einer Agentur zur Förderung der erneuerbaren Energien nutzen würde, dann könnte man die Sicherheitsfragen in diese Agentur eingliedern, ohne an Euratom festzuhalten. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich etwas zu den vielen Hunderten von Millionen Euro sagen, die für ITER ausgegeben werden. Wenn wir es ernst damit meinen, dass die Zukunft in den Erneuerbaren liegt – das ist möglich; wir wären viel weiter, wenn man dieses Geld dafür genutzt hätte –, dann ist die Frage: Warum wollen wir dieses viele Geld weiterhin für eine Kernfusionsforschung nutzen, bei der wir nicht wissen, ob wir diese Technik sicherheitspolitisch meistern können? Wir wissen nicht, welche Gefahren damit verbunden sind. Auch da wird das Geld völlig unnütz für eine Zukunftstechnologie im Energiesektor verbrannt, die wir wirklich nicht brauchen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir sagen deshalb ganz deutlich: Wir gehen weiter als die Grünen, die in ihrem Antrag schreiben: Wir wollen Euratom reformieren. – Ich glaube, wir können Euratom und damit eine veraltete Technologie, die uns wirklich nicht weiterbringt – da hat Frau Dr. Scheer vollkommen recht; ich bin mir sicher, dass dies die Rednerin der Grünen gleich bestätigen wird –, nicht reformieren. Wir müssen einfach sagen: All das, was sich die Staaten bei der Gründung von Euratom vor 60 Jahren, vielleicht im guten Glauben, erhofft haben, hat sich leider nicht bestätigt. Um glaubwürdig zu bleiben, müssen wir sagen: Es ist an der Zeit, über Euratom nicht indirekt neue AKWs zu fördern und damit die Erneuerbaren zu schädigen. Wir müssen deutlich machen: Wir wollen überhaupt keinen Euro mehr in neue AKWs investieren. Wir wollen auch nicht, dass Euratom Bürgschaften für neue AKWs in Osteuropa gibt. Wir wollen, dass mit der Atomenergie endlich Schluss gemacht wird. Dafür muss Euratom als Agentur tatsächlich geschlossen werden. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich komme zum Schluss. Frau Scheer, vielleicht können Sie Ihre Fraktion davon überzeugen – heute ist dafür eine gute Gelegenheit –, nach 60 Jahren zu sagen: Das war’s. Wenn wir es mit dem deutschen Atomausstieg wirklich ernst meinen, müssen wir Euratom abwickeln. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Barbara Lanzinger für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Rängen! Die Linken und Grünen mit ihren heutigen Anträgen (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sind gut! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben recht!) versuchen – ich sage es einfach so –, mit ihren Verbotsanträgen den anderen EU-Ländern zu diktieren und vorzuschreiben, wie sie die Energiepolitik zu gestalten haben. (Zuruf von der LINKEN: Oh Gott! Oh Gott! Oh Gott! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Freiheit von Atomkraftwerken!) Sie versuchen, zu suggerieren, der Euratom-Vertrag sei eine böse Atomkraftwerksförderungsmaschinerie. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Stimmt ja auch! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist er auch!) Das ist nicht richtig. Das ist lächerlich, und das ist einfach falsch. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Genau!) Wir haben bei uns in Deutschland die Energiewende beschlossen. Dazu stehen wir. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Mühe und Not!) Wir stehen am Beginn des Zeitalters der erneuerbaren Energien mit enormem umwelt- und wirtschaftspolitischem Potenzial, aber auch mit schwierigen Herausforderungen. Wir haben uns entschieden, in Deutschland 2023 die letzten Kernkraftwerke abzuschalten. Das ist ein wirklich sehr ambitionierter Weg, vor allem ein nicht einfacher. Die EU-Mitgliedsländer entscheiden sich jedoch anders. Sie entscheiden sich nicht so wie wir. Ich sage ganz deutlich: Das haben wir zu respektieren. Wir können den anderen nicht das diktieren, was wir bei uns für richtig halten. Wir können darüber reden, ja, aber nicht in einem Diktat. Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist in Artikel 194 festgehalten, dass die Mitgliedstaaten selber entscheiden über die Struktur der Energieversorgung und die Nutzung ihrer Energieressourcen. Wir sollten uns davor hüten, anderen Ländern vorschreiben zu wollen, wie sie ihre Energiepolitik zu gestalten haben. Das könnte uns im Rahmen unserer eigenen nicht ganz so einfach umzusetzenden Energiewende durchaus auf die Füße fallen. Was steht denn in diesem Euratom-Vertrag? Interessant sind dort unter Artikel 3 die Ziele. Ich kann nicht alles vorlesen. Ich lese beispielhaft die Absätze 4 und 5 der Verordnung vor: Das Euratom-Programm wird so umgesetzt, dass die unterstützten Prioritäten und Tätigkeiten den sich wandelnden Bedürfnissen entsprechen und die Weiterentwicklung von Wissenschaft, Technologie, Innovation, Politik, Märkten und Gesellschaft berücksichtigen, damit die personellen und finanziellen Ressourcen optimiert und Doppelarbeit bei der Forschung und Entwicklung im Nuklearbereich in der Union vermieden wird. Absatz 5: Innerhalb der in den Absätzen 2 und 3 genannten Einzelziele können neue und unvorhersehbare Erfordernisse berücksichtigt werden, die sich während des Durchführungszeitraums des Euratom-Programms ergeben. ... Es ist also durchaus möglich, Änderungen und Anpassungen darin vorzunehmen. Durch Ihre Anträge wird im Prinzip jedoch so getan, als sei der Euratom-Vertrag nur dazu da, den Bau und den Betrieb von Kernkraftwerken in anderen EU-Ländern oder auch bei uns finanziell zu fördern, und das ist falsch. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die erste Zielbeschreibung!) Kurz und prägnant wird das in einer Analyse des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags vom September 2016 widerlegt: Weder im Euratom-Rahmenprogramm noch im Haushalt der EU sind Mittel für die Förderung des Baus und Betriebs von Kernkraftwerken in der EU bzw. Nicht-EU-Staaten vorgesehen. Der Vertrag setzt im Kern den Rahmen für eine sichere Verwendung der Kernenergie über Grenzen hinweg. Er ist die Rechtsgrundlage für europäische Regelungen beim Gesundheitsschutz, der Überwachung von Kernmaterial, nuklearen Entsorgung, europäischen und internationalen Kooperation, nuklearen Sicherheit und für weitere Punkte; alles zu lesen im Vertragswerk und im dazugehörigen Rahmenprogramm. Dazu gehört auch die Gefahrenabwehr, die nicht zu unterschätzen ist und wichtiger denn je wird. Erst 2014 wurde der Euratom-Vertrag weiterentwickelt durch eine Richtlinie über einen Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit kerntechnischer Anlagen. Deutschland hat sich darin für die Festsetzung von verbindlichen Sicherheitszielen in der EU für ein System wechselseitiger Kontrolle erfolgreich starkgemacht. Das heißt: Über Grenzen hinweg soll die Sicherheit kerntechnischer Anlagen verbessert werden. Wichtig ist auch: Der Euratom-Vertrag legt den Rahmen für Forschung und Entwicklung in diesem Hochtechnologiebereich fest. Dazu steht als übergeordnetes Ziel auch im aktuellen Euratom-Rahmenvertrag bis 2018 festgeschrieben, „Forschungs- und Ausbildungsmaßnahmen im Nuklearbereich mit Schwerpunkt auf der kontinuierlichen Verbesserung der Sicherheit, der Gefahrenabwehr und dem Strahlenschutz ... fortzusetzen, um insbesondere gegebenenfalls einen Beitrag zur langfristigen effizienten und sicheren Senkung der CO2-Emmissionen des Energiesystems zu leisten“. Unser verehrter Herr Riesenhuber hat im letzten Jahr sehr viel zu dem Thema, was Forschung und Entwicklung auch in diesem Rahmen bedeutet, gesprochen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, für mich ist das Zauberwort auch: Forschung und innovative Technologien, die es hier eines Tages hoffentlich geben mag. Ich sage ganz deutlich: Wir wären töricht, nicht nach vorn zu blicken und unser Wissen zu erweitern. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir!) Europaweit brauchen wir nicht zuletzt im Bereich Rückbau von Kernkraftanlagen weiterhin hohe Kompetenzen. Wie anmaßend wären wir, künftigen Generationen neue Technologien zu verwehren, indem wir jetzt nicht weiterforschen. Ob diese potenziellen neuen Technologien sich dann als sinnvoll erweisen werden oder nicht, ist eine ganz andere Frage, und die sollten wir unsere nachfolgenden Generationen entscheiden lassen. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Anmaßend wäre, den Generationen nach uns noch mehr Atommüll zu hinterlassen! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nichts gelernt aus der ganzen Atomwirtschaft!) Ihre Anträge haben aber auch eine nicht zu unterschätzende, erhebliche politische Brisanz. Für mich sind sie europafeindlich. Das ist eine europafeindliche Haltung. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Euratom-Vertrag ist eines der beiden Gründungsdokumente der EU. Er ist einer der beiden Grundsteine der Europäischen Union, deren 60. Geburtstag wir am kommenden Samstag feiern werden. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Niveauloser geht es nicht mehr!) Was für ein – ich sage es deutlich – verheerendes politisches Signal würden wir in diesen momentan so turbulenten Zeiten an Europa und die Welt senden, wenn wir das heute beschließen würden? (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird ja für alles bemüht!) Zusammenfassend ist bei dem, was Sie, liebe Grüne und Linke, fordern, nur eines sicher: Ein Ausstieg aus dem Euratom-Vertrag führt definitiv nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu weniger Verantwortung unsererseits, weil wir dann nämlich sämtliche Mitspracherechte, die wir bisher in den Gremien haben, verlieren würden. Ihre inhaltlich so oft unbegründete und gesellschaftlich aus meiner Sicht gefährliche Fundamentalopposition (Lachen des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE]) in manchen Themen macht mich immer wieder fassungslos. Dazu gehören nicht nur der Euratom-Vertrag, sondern auch viele andere Themen wie zum Beispiel CETA. Entweder erkennen Sie die politische Realität nicht, oder Sie wollen sie nicht erkennen. Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was mir mehr Sorge bereiten soll. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich appelliere: Der Euratom-Vertrag ist nach wie vor dem Grunde nach sinnvoll und gerade zum 60. Geburtstag der EU ein starkes politisches Signal für Europa, und das sollte er auch bleiben. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Weiter Atomenergie aus Dankbarkeit für 60 Jahre!) Danke schön für Ihr Zuhören und für Ihre Mitdiskussion. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! 60 Jahre Römische Verträge, 60 Jahre Euratom: Das eine ist Grund für eine Feier und Anlass, für und um die Weiterentwicklung der EU zu kämpfen, das andere ist die Restekiste einer vergangenen Zeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich will Ihnen darlegen, warum das so ist. Euratom setzt das Ziel „Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“, begründet die ausschließliche Souveränität der Länder bei der Sicherheit ihrer Atomkraftwerke und sichert die staatlichen Beihilfen bei Neubauten von Atomkraftwerken wie Hinkley Point und Paks. Frau Lanzinger, ich will gerne die Begründung zitieren, auf die sich die Kommission bei der Bewilligung dieser staatlichen Beihilfen gestützt hat. In Artikel 2 Buchstabe c Euratom-Vertrag heißt es: Die Mitgliedstaaten haben „die Investitionen zu erleichtern und, insbesondere durch Förderung der Initiative der Unternehmen, die Schaffung der wesentlichen Anlagen sicherzustellen, die für die Entwicklung der Kernenergie in der Gemeinschaft notwendig sind“. – So weit der Euratom-Vertrag. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Ist das was Schlimmes?) Euratom ist intransparent und undemokratisch. So hat das EU-Parlament keine Hoheit über das Euratom-Budget. Die finanzielle Ausrichtung der europäischen Energieforschung wird von Euratom gesteuert. Nach der Logik von Euratom muss sich das Atomkarussell weiterdrehen. Das heißt Kernfusion, Thoriumforschung, SMRs. Hauptsache, das Ziel von Euratom, die mächtige Kernindustrie, wird am Leben erhalten. Auch das Ausstiegsland Deutschland beteiligt sich – durch seine EU-Beiträge – selbstverständlich an diesen Forschungen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Sind wir Teil der Europäischen Union oder nicht?) Dass der Neubau von AKWs und Anlagen zur Erforschung der Kernfusion in Olkiluoto, Flamanville, Cadarache – das ist der ITER – ökonomische Desaster sind, spielt dabei offensichtlich keine Rolle. Das alles nehmen Sie in Kauf, weil Sie Euratom – ich zitiere die Bundesregierung – „als geeignete Rechtsgrundlage für … Sicherheitsforschung, internationale Kooperation“ und „nukleare Sicherheit“ ansehen. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Irre!) Selbst wenn Euratom das wäre, könnte man fragen, ob das den Preis rechtfertigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Euratom ist das aber nicht. Ich wurde vor kurzem gefragt, ob es nicht gut sei, dass es durch Euratom eine europäische Atomaufsicht gebe. Das ist aber gerade nicht der Fall. Es gibt keine europäische Atomaufsicht. Das Ziel von Euratom ist Investition in Atomkraft und nicht deren Begrenzung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Selbst heutige auf der Basis von Euratom beruhende Richtlinien der EU folgen der antiquierten Vor-Tschernobyl-und-Fukushima-Logik. Nehmen Sie zum Beispiel die Sitzung des Umweltausschusses gestern. Herr Kanitz wird sich erinnern: Es ging um die AtG-Novelle, die die EU-Richtlinie über einen Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit umsetzt. Darin steht: Anlagen sollen „so weit wie vernünftigerweise durchführbar“ verbessert werden. Hallo? Wir reden von alternden Schrottreaktoren an unseren Grenzen wie Tihange, Cattenom und Fessenheim. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn hier bei der Sicherheit nach dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht mehr nachgerüstet werden kann, entweder weil es sich – so meint das Euratom hauptsächlich – wirtschaftlich nicht mehr rechnet oder weil die Anlagen schlicht zu alt sind, dann müssen die betreffenden Atomkraftwerke abgeschaltet werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Aber nicht, solange wir Euratom haben. Dann laufen die Schrottreaktoren so lange, wie die Betreiber und die Länder, denen die Atomkonzerne oft genug gehören, das wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen gemeinsam für die EU kämpfen und sie verbessern. Wir wissen: Die EU muss die Klimakrise, die Wirtschaftskrise und die Abhängigkeit von Energieimporten überwinden. Dazu muss von Deutschland aus für eine europäische Energiewende gearbeitet werden. Euratom ist hier ein Klotz am Bein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wir können diesen Klotz drehen und wenden, aber er wird kein Schwungrad für eine zukunftsfähige Energieausrichtung werden. Das Ausstiegsland Deutschland muss hier initiativ werden. Nehmen wir, Nina Scheer, den zutiefst bedauerlichen Brexit, der auch den Austritt Großbritanniens aus Euratom bedeutet, zum Anlass, endlich einen Euratom-Konvent zu fordern. Werben wir in der EU dafür, Euratom endlich den Anforderungen von heute anzupassen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das hieße vor allem, die Sonderförderung der Atomkraft zu beenden, ein Mitspracherecht für Anrainerstaaten bei grenznahen Atomkraftwerken zu verankern, die europäische Energieforschung auf die Zukunft auszurichten und die demokratische Kontrolle durch das Europäische Parlament zu ermöglichen. Wenn das mit den Partnern in der EU nicht zu machen ist, dann müssen wir das Kreuz haben, Euratom zu verlassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das stellt, Frau Lanzinger und andere, unser Bekenntnis zu Europa nicht infrage, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Doch!) sondern nur das in Euratom festgeschriebene Bekenntnis zur Vorstellung von Atomkraft als eine Beglückung der Menschheit, die zu Gesundheit und Wohlstand führt. Diese Vorstellung hatte ihre Berechtigung vielleicht vor Tschernobyl und Fukushima. Heute ist sie von gestern. Wir müssen uns aber für morgen aufstellen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Steffen Kanitz für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Steffen Kanitz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eigentlich schade, dass wir nach der großen Einmütigkeit in der Endlagerdebatte von heute Morgen – die, fand ich, sehr erfrischend war – ein Stück weit wieder in alte Muster verfallen. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können ja zustimmen, Herr Kanitz! Sie müssen nicht in alte Muster verfallen!) Ich verstehe das aber. Es sind Wahlkampfzeiten. Die Opposition sucht nach Möglichkeiten der Profilierung. Ich will meinen Teil dazu beitragen, unsere Position deutlich zu machen. Ich beziehe mich hierbei insbesondere auf den Antrag der Linken, der auf unsägliche Art und Weise mit den Ängsten der Menschen spielt – ich zitiere –: In den noch am Netz befindlichen Atomkraftwerken … besteht weiterhin die Gefahr eines katastrophalen Störfalls bis hin zur Kernschmelze. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ja, das ist auch so!) Meine Damen und Herren von der Linken, wir haben die sichersten Kernkraftwerke weltweit, die wir bis 2022 abschalten; darin sind wir uns völlig einig. Den Menschen zu suggerieren, dass diese nicht sicher sind und dass wir in Deutschland kurz vor einem GAU stehen, ist unverantwortlich, ist blödsinnig und entspricht in keiner Weise der Realität. (Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es denn kein Risiko? Keine Versicherung versichert das!) Die Aussagen, die Sie zu Doel und Tihange treffen, zeigen, dass insbesondere Sie als Linke mittlerweile leider sehr ernsthaft im Zeitalter des Postfaktischen angekommen sind. Sie behaupten, dass das BMUB Hinweise habe, dass die Reaktordruckbehälter den Anforderungen bei schweren Störfällen nicht mehr gewachsen sein könnten. Das Gegenteil ist der Fall. Ich verweise auf die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen vom 15. März dieses Jahres, in der das BMUB sehr deutlich sagt – ich zitiere –: Die Reaktordruckbehälter von Doel 1 und Doel 2 wurden vor der Genehmigung zum Wiederanfahren auf Wasserstoffflocken geprüft. Dabei wurde der ordnungsgemäße Zustand der Reaktordruckbehälter festgestellt … Meine Damen und Herren, Sie skandalisieren einen Vorgang und operieren ganz offensichtlich mit falschen Behauptungen. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Ministerin ist trotzdem für die Abschaffung von Tihange!) Das ist fahrlässig und schäbig. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will das ergänzen. Das BMUB stützt seine Hinweise und Erkenntnisse auf eine unabhängige Kommission, die Reaktor-Sicherheitskommission, die in ihrer Kurzbewertung zu Doel/Tihange zu folgendem Ergebnis kommt: … kann aufgrund der umfangreichen Untersuchungen und geführten Nachweise zu den RDB Doel-3 und Tihange-2 … davon ausgegangen werden, dass unter Betriebsbelastungen ein Integritätsverlust der drucktragenden Wand der RDB nicht zu unterstellen ist. Aus heutiger Sicht gibt es keine konkreten Hinweise, dass die Sicherheitsabstände aufgezehrt sind. Ich finde, das muss man zur Kenntnis nehmen, wenn man von Schrottreaktoren an den deutschen Grenzen spricht, in Wirklichkeit aber weiß, dass das Gegenteil der Fall ist. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sind das denn für Reaktoren ohne jegliches Risiko, Herr Kanitz?) Es ist so, dass der Bund eine ganze Menge tut. Wir haben gerade im letzten Dezember ein bilaterales Abkommen zur nuklearen Sicherheit geschlossen, das es uns ermöglicht, in Gespräche einzutreten. Genau das ist der Punkt. Nur wer spricht, kann auch auf die Standards Einfluss nehmen; wer nicht spricht, kann das eben nicht. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Kanitz, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Kotting-Uhl? Steffen Kanitz (CDU/CSU): Gerne. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Kanitz. – Ich beziehe mich auf Ihre Äußerung von gerade eben, dass Sie es für fahrlässig halten, die Defizite von Tihange so zu thematisieren, wie die Linke es in ihrem Antrag gemacht hat. Würden Sie denn auch das Verhalten der Bundesumweltministerin für fahrlässig halten, die in Richtung Belgien deutlich gefordert hat, dieses Atomkraftwerk aus Gründen der Sicherheit abzuschalten, und zwar endgültig? Steffen Kanitz (CDU/CSU): Vielen Dank für die Frage, Frau Kollegin. – Das, was die Bundesumweltministerin getan hat, ist völlig richtig und ist auch im deutschen Interesse. Sie hat deutlich gemacht, dass wir gemeinsam mit den Belgiern Einfluss darauf nehmen wollen, dass die Sicherheitsstandards der Kernkraftwerke an der deutschen Grenze ordentlich und vernünftig sind und dass wir mit unseren deutschen Experten die Möglichkeit bekommen, dort hineinzuschauen. Sie hat ebenfalls gesagt, dass sie bis zum Abschluss der Prüfungen mit dem Wiederanfahren warten möchte. Das ist richtig, das ist konsequent, und das ist vernünftig. Insofern zeigt das, dass diese Bundesregierung die Sorgen und Ängste der Menschen in der Grenzregion sehr ernst nimmt. Aber ich meine, wir sollten es nicht übertreiben und den Leuten suggerieren, sie müssten jetzt Jodtabletten besorgen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das hat doch die NRW-Regierung gemacht!) Mir haben in Dortmund, weit weg von Aachen, Apotheker genau das gesagt. Ich finde, das ist extrem sensibel. Wir sollten hier Aufklärung leisten und nicht skandalisieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich komme zur Urananreicherungsanlage in Gronau, von der Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sehr genau wissen, dass sie über eine unbefristete Betriebsgenehmigung verfügt. Der Ministerpräsident der damaligen rot-grünen Landesregierung Steinbrück war es, der einer Verdreifachung der Kapazität das Wort geredet hat. Das geschah laut der Antwort der rot-grünen Landesregierung auf eine Kleine Anfrage im Jahr 2013, um auf deutsche Sicherheitsstandards zu setzen und nicht auf Anlagen im Ausland vertrauen zu müssen, die sich der Kontrolle der deutschen Behörden entziehen. Wir haben am Standort über 300 Mitarbeiter, alle hochqualifiziert, und wir brauchen jeden dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit seinem Know-how in Deutschland. Sie wissen zu gut, dass alle Kernkraftwerke weltweit ihre Beschaffung von Brennelementen redundant aufgestellt haben. Es hilft uns überhaupt nichts, und wir tragen auch nicht dazu bei, dass der Ausstieg weltweit beschleunigt wird, wenn wir 300 hochqualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland streichen und gleichzeitig aus Fabriken in Großbritannien, den Niederlanden oder den USA liefern. Urenco wurde in den Stresstest nach dem Reaktorunfall in Fukushima einbezogen. Die RSK kam zu einem ganz eindeutigen Ergebnis, nämlich dass die Anlage in Gronau deutliche Reserven gegen auslegungsüberschreitende Ereignisse aufweist. Sie erreichen in allen unterstellten Lastfällen das höchste Stresslevel. Deswegen muss man einfach einmal zur Kenntnis nehmen, dass es sich hier um eine extrem gut geführte Anlage handelt, dass die Sicherheitsstandards sehr hoch sind, dass es große Reserven gegenüber hohen Belastungen gibt, gegenüber Erdbeben, gegenüber Überflutungen, und dass diese Anlage insofern mehr als sicher ist. Einem Weiterbetrieb dieser Urananreicherungsanlage steht damit weder rechtlich noch tatsächlich und sicherheitstechnisch irgendetwas im Wege. Diese Einschätzung wird durch ein Rechtsgutachten der rot-grünen Landesregierung aus dem Jahr 2013 bestätigt. Dieses Rechtsgutachten kommt sehr unmissverständlich zu dem Ergebnis, dass der Betrieb der Urananreicherungsanlage in Gronau nach dem Atomgesetz zulässig ist, dass eine rechtssichere Beendigung des Betriebes der Anlage nicht möglich ist, dass es keine juristische Handhabe gibt, die Einstellung des Betriebes anzuordnen. Ich zitiere jetzt einmal aus dem Gutachten, weil es, finde ich, sehr schön zeigt, dass man da auf einem Holzweg ist: Allgemein und als Gesamtergebnis nahezu aller in diesem Gutachten behandelten Fragen ist schließlich nachdrücklich von einem rein politisch motivierten Vorgehen gegen die Urananreicherungsanlage in Gronau bzw. die hierfür erteilten Genehmigungen auf der verwaltungsrechtlichen Ebene abzuraten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit 2013 hat sich an dieser Einschätzung nichts geändert. Wir stehen zu dem Betrieb in Gronau auch weiterhin. Es ist nicht nur so, dass die Beendigung des Betriebs aus Gründen der Rechtssicherheit nicht geht, sondern es geht auch deshalb nicht, weil wir über den Staatsvertrag von Almelo, der natürlich das Ziel hat, dass wir uns mit den Niederlanden und Großbritannien verbünden, um die nukleare Nichtverbreitung sicherzustellen, völkerrechtliche Verpflichtungen eingegangen sind. Ich füge hinzu: Sie wollen ja aus jeglicher Nukleartechnik aussteigen. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob wir dann nach wie vor verlangen könnten, dass Standards, die durch die IAEO kontrolliert werden, auch eingehalten werden. Ich bin eher der Auffassung, dass wir dafür sorgen sollten, mehr Mitspracherechte zu bekommen, dass wir im deutschen Sicherheitsinteresse dafür sorgen sollten, dass beispielsweise das Atomabkommen mit dem Iran eingehalten wird, und dass wir nicht aus jeglicher Nukleartechnik aussteigen, weil wir dann nicht mehr die Möglichkeit der Einflussnahme hätten. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, das Gutachten kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass, sofern Gronau aus rein politisch motivierten Gründen geschlossen werden sollte, umfangreiche Schadensersatzansprüche auf uns zukämen. Der Wert des Unternehmens, Stand 2013, lag bei etwa 10 Milliarden Euro. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es sinnvoll wäre, wenn der Staat diese 10 Milliarden Euro übernähme. Ich bin mir ziemlich sicher – andersherum gesprochen –, dass das nicht sinnvoll ist, sondern dass es sich um ein rein politisch motiviertes Vorgehen handelt. Wir brauchen diese hochqualifizierten Arbeitsplätze in Deutschland. Die Anlage leistet Hervorragendes. Insofern wollen und können wir Ihren Antrag ablehnen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Europaweiten Atomausstieg voranbringen – Euratom-Vertrag reformieren oder aussteigen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8439, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8242 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 9 b. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/11595 mit dem Titel „EU-Förderung von Atomenergie stoppen – Euratom-Vertrag beenden“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Tagesordnungspunkt 9 c. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/11596 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zum Zusatzpunkt 4. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Brennstofflieferungen für belgische Atomkraftwerke stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10934, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/9676 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum weiteren quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung Drucksache 18/11408 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Manuela Schwesig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Ich lege Ihnen heute den Entwurf eines Gesetzes vor, das wichtig und gut für die Familien in unserem Land ist. Wir wollen das vierte Investitionsprogramm auf den Weg bringen, um das Angebot an Kitaplätzen im Land weiter auszubauen, und das ist nötig. Sie alle wissen, dass wir in den letzten Jahren sehr viel dafür getan haben – Kommunen, Länder, Bund gemeinsam –, dass der Rechtsanspruch, nach dem jedes Kind in unserem Land ab einem Jahr eine Kita besuchen kann, wenn es die Eltern wünschen, auch erfüllt wird. Oft werde ich deshalb gefragt, nicht nur vom Finanzminister, auch von anderen: Frau Schwesig, wir haben in den letzten Jahren schon so viel getan, so viele Milliarden da hineingesteckt. Ist es jetzt nicht genug? – Dann sage ich: Nein, das ist nicht genug. Wir müssen das Angebot an Plätzen weiter ausbauen. Warum? Es gibt dafür drei gute Gründe: Erstens. Es werden nach über 15 Jahren endlich wieder mehr Kinder in Deutschland geboren – das ist eine gute Nachricht –, und allein dafür lohnt es sich, weiter zu investieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zweitens. Wir haben eine gesellschaftliche Veränderung. Immer mehr Frauen und Männer wollen sich nicht mehr zwischen Beruf und Familie entscheiden, sondern wollen beides. Deswegen ist auch der Bedarf von Jahr zu Jahr gestiegen. Immer mehr junge Eltern brauchen gute Kitaplätze. Ich finde, auch das ist eine gute Nachricht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Drittens. Besonders im letzten und vorletzten Jahr sind viele Menschen zu uns geflüchtet, darunter viele Kinder. Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit und eine Frage der Menschlichkeit, dass wir ganz klar sagen: Diese Kinder, die zu uns gekommen sind, können am allerwenigsten etwas für das, was in ihren Ländern los ist, sei es Krieg oder Bürgerkrieg. Sie haben sich auch nicht ausgesucht, auf die Flucht zu gehen und gegebenenfalls wohin. Wenn die Kinder zu uns kommen, dann sollen sie genauso gute Chancen haben wie unsere Kinder, hier aufzuwachsen. Dazu zählt ein Kitabesuch, um zum Beispiel frühzeitig die Sprache zu lernen. Ich finde, auch das ist ein guter Grund für einen höheren Kitabedarf. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Darauf, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete, reagieren wir. Sie wissen, wir haben aktuell noch das dritte Investitionsprogramm laufen. Wir wollen aber schon das vierte anschieben. Wir wollen 100 000 neue Kitaplätze in Deutschland schaffen – (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Gemeinsam mit der Union!) nicht nur für Kinder unter drei Jahren, wie das in den letzten drei Programmen üblich war. Mit diesem Gesetz werden wir erstmalig nicht nur Krippenplätze fördern, sondern auch Kindergartenplätze. Das ist die vierte gute Nachricht bei diesem Gesetz. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist deshalb notwendig, weil wir in den letzten Jahren viel für die U-3-Betreuung gemacht haben. Aber die Kinder wollen auch im vierten, fünften und sechsten Lebensjahr den Kindergarten besuchen, und wir müssen aufpassen, dass da nicht Engpässe entstehen. Wir werden für dieses vierte Programm die Beträge im Sondervermögen um 1,1 Milliarden Euro aufstocken. Wir stellen diese Mittel für 2017 bis 2020 für 100 000 neue Plätze zu Verfügung. Es wird aber nicht nur in das Platzangebot investiert, sondern auch in die Qualität. Wir wollen mit den Mitteln auch dafür sorgen, dass in Sport- und Bewegungsräume und in inklusive Kindergärten investiert werden kann. Es ist in meinen Augen sehr wichtig, dass wir auch diese Themen beachten; denn letztendlich geht es nicht um eine Betreuung, sondern wirklich um frühkindliche Bildung. Dafür brauchen wir gute Qualität, und auch das ist mit diesem vierten Investitionsprogramm möglich. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieses vierte Investitionsprogramm steht natürlich nicht für sich allein, sondern es wird von dem Programm „Sprach-Kitas“ flankiert. Sie erinnern sich: Dank Ihrer Unterstützung im Haushaltsausschuss können wir die Anzahl der Sprach-Kitas verdoppeln. Wir können mehr Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas finanzieren. Insbesondere geht es dabei um den Bereich der Sprachförderung, was ganz elementar in der frühkindlichen Bildung ist. Des Weiteren wird das Investitionsprogramm von dem Programm „KitaPlus“ flankiert. Es ist möglich, in über 300 Kitas in unserem Land mehr Randzeiten anzubieten. Das zeigt: Wir investieren im Sinne der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für junge Mütter und auch Väter in Quantität und in Qualität. Das Letzte möchte ich sehr betonen. Es gibt eine aktuelle Studie, die zeigt, dass Väter sagen: Wir wollen, dass Politik dafür sorgt, dass unsere Frauen, aber auch wir Väter Beruf und Familie besser vereinbaren können. Deshalb ist die Investition in Kitas, auch was Randzeiten betrifft, für uns so wichtig. Das sind wichtige Forderungen der Väter, die wir auch gerne unterstützen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, im Jahr 2013 hat der Bund 1,5 Milliarden Euro in die Kindertagesbetreuung investiert. Heute sind es jährlich 2,5 Milliarden Euro. Das ist eine Rekordsumme. Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung. Das ist ein wichtiges Zeichen für die Familien im Land – für diejenigen, die sich mit dem Kinderwunsch beschäftigen, und für diejenigen, die sich längst für Kinder entschieden haben. Wir werden weiter dafür sorgen, dass es bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie Verbesserungen gibt, aber auch dafür, dass mit diesen Investitionen die Bildungschancen für Kinder schon im frühkindlichen Alter steigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich jeder Euro doppelt und dreifach auszahlt. Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung bei diesem Gesetzentwurf. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Norbert Müller für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Jahr 2016 befanden sich etwa 700 000 Kinder im U-3-Bereich in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung. Damit betrug die Betreuungsquote etwa 33 Prozent, wobei etwa jedes vierte Kind in Westdeutschland und mehr als jedes zweite Kind in Ostdeutschland betreut wurden. Trotz eines deutlichen Ausbaus in den letzten Jahren ist dies schlichtweg zu wenig. Wir wissen aus Erhebungen des Deutschen Jugendinstituts, dass mehr als 43 Prozent aller Eltern inzwischen den Wunsch haben, ihre Kinder in Einrichtungen der frühkindlichen Bildung und Betreuung zu bringen. Das heißt, es gibt eine erhebliche Lücke zwischen den vorhandenen Plätzen und dem bestehenden Bedarf. Ich verweise an dieser Stelle nochmals auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes, dass Kitaplätze auf der Grundlage des Rechtsanspruchs so anzubieten sind, dass sie in einer vernünftigen Erreichbarkeit von Wohn- oder Arbeitsort der Eltern verfügbar sind. Ansonsten müssen die Kommunen Strafen zahlen, nämlich für Einkommensausfälle der Eltern, wenn diese ihre Erwerbstätigkeit nicht aufnehmen bzw. dieser nicht nachgehen können, weil die entsprechenden Plätze nicht vorhanden sind. Wir hatten im letzten Jahr trotz des Ausbaus sogar einen Rückgang der Betreuungsquote. Auch darüber muss man sprechen, weil das ein gefährliches Warnsignal ist. Wir haben erfreulicherweise seit 2010 geburtenstarke Jahrgänge. Der Rückgang der Betreuungsquote muss dazu führen, dass der Bund den Status quo nicht fortführt, sondern mehr drauflegt. (Beifall bei der LINKEN) Wer hat den Kitaausbau bezahlt? Ich höre der Ministerin Schwesig immer gerne zu; das alles klingt so schön. In Wahrheit aber hat nicht der Bund den Kitaausbau bezahlt. Der Bund hat den Rechtsanspruch eingeführt. Der war – da sind wir uns einig – überfällig, gut und richtig. Die Kosten für den Ausbau haben aber im Wesentlichen die Länder, die Kommunen und die Eltern getragen. Die Länder und die Kommunen haben jeweils – und das jedes Jahr – 2 Milliarden Euro dafür ausgegeben, die Eltern 1 Milliarde Euro; das sind Zahlen aus Ihrem Ministerium. Die haben den Ausbau im Wesentlichen finanziert – und nicht der Bund, der sich hier relativ billig aus der Verantwortung herausgeschlichen hat. (Beifall bei der LINKEN) So groß die Aufgabe auch ist, die Plätze weiter auszubauen, so groß ist die Erwartungshaltung in Bezug auf den Qualitätsausbau. Dem folgen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf, insbesondere was den Titel angeht. In ihm steht viel über Qualität. Im Gesetzestext steht eigentlich gar nichts mehr über Qualität. Das Einzige, was Sie in Bezug auf verbesserte Qualität mit fördern, ist, dass die Länder und die Kommunen jetzt auch in Ausstattung investieren können. Tische und Stühle in einer Kita haben aber relativ wenig mit Qualität zu tun. Qualität heißt Personal, Personal, Personal, und da lassen Sie Kommunen, Länder und Eltern wieder im Regen stehen. (Beifall bei der LINKEN) Wir als Linke schlagen vor, ein bundesweites Kitaqualitätsgesetz aufzulegen. Ich weiß, dass in den Ländern inzwischen einiges in Bewegung gekommen ist. Wenn Sie sich die Stellungnahme des Bundesrates, die Sie ja gelesen und erwidert haben, anschauen, dann werden Sie feststellen, dass der Bundesrat erstmals fordert, dass es möglich sein soll, die Gelder für den Platzausbau auch in den Qualitätsausbau zu stecken. Das macht auch durchaus Sinn, weil der Ausbau unterschiedlich weit fortgeschritten ist. Die Antwort der Bundesregierung darauf ist, das sei nicht nötig. Wenn wir aber hier über ein Kitaqualitätsgesetz reden, dann sagen Sie: Die Länder wollen das ja gar nicht, weil sie angeblich keine vergleichbaren Standards wollen. – Ich sage Ihnen: Die Länder würden bei einem Kitaqualitätsgesetz mitmachen, wenn der Bund das Geld dazu gibt (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das glaube ich Ihnen!) und nicht wie beim Rechtsanspruch die Qualitätsstandards festlegt und sich am Ende mit wenig Geld aus der Verantwortung stiehlt. Das funktioniert nicht. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Genau! Der Bund zahlt, und die Länder bestimmen! Schauen Sie mal nach Thüringen, Herr Müller!) Kitaqualitätsgesetz heißt: Wir müssen über bundesweite Standards für die Fachkraft-Kind-Relation reden. Was heißt das? Die Fachkraft-Kind-Relation beschreibt, wie viele Kinder auf eine Fachkraft kommen. Wir müssen auch darüber reden, was eigentlich eine Fachkraft ist. Eine Fachkraft ist – das wird durch die Bundesagentur für Arbeit inzwischen vermittelt – keine Fachkraft für die Mittagsbetreuung – Qualifikationsaufwand: 40 Stunden Weiterbildung – und auch kein Kindergartenhelfer, wozu in einigen Ländern ausgebildet wird, schlecht bezahlt und bei weitem nicht so hoch qualifiziert wie der staatlich anerkannte Erzieher. Das ist entscheidend: Wir brauchen staatlich anerkannte Erzieher in den Kitas, und wir brauchen bundesweite Standards für gute Qualität. (Beifall bei der LINKEN) Gute Qualität heißt auch Leitungsfreistellung. Es kann nicht sein, dass die Leitung in einer Kindertageseinrichtung den kompletten Verwaltungsapparat mitstemmt und am Ende diese Kraft eben nicht am Kind ist. Das heißt, wir müssen über Leitungsfreistellungen reden. Das fordert auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, und das war auch eine Forderung bei den Streiks im Bereich der Sozial- und Erziehungsberufe im letzten Jahr. Legen Sie also endlich ein Kitaqualitätsgesetz vor. Beschleunigen Sie den Ausbau, und lassen Sie die Länder, die Kommunen und vor allem die Eltern nicht mehr im Regen stehen, die erst keinen Platz kriegen, und dann, wenn sie einen Platz bekommen, in der Republik auf sehr unterschiedliche Qualitätsstandards stoßen, je nachdem, wie die politischen Verhältnisse in den Ländern sind, und je nachdem, wie die Kassenlage von Ländern und Kommunen ist. Wir brauchen einen Einstieg des Bundes bei der Kitaqualität, und wir brauchen sozusagen einige Kohlen mehr in der Frage des Platzausbaus. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Damit die links regierten Länder über ihre Verhältnisse leben können, Herr Müller!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Müller, wo waren Sie eigentlich die letzten acht Jahre? Was haben Sie eigentlich nicht mitbekommen, als in den Jahren 2005, 2006 und 2007 beim Ausbau der Kindertagesbetreuung und beim Ausbau der Qualität in diesem Land viel passiert ist? Bevor ich allgemein einiges zu dem neuen, wichtigen Programm, das jetzt auf den Weg gebracht wird, sage, komme ich noch einmal auf Ihre Bemerkungen bezüglich eines Qualitätsgesetzes zurück. Darüber diskutieren wir schon lange. Wir haben eine gemeinsame Arbeitsgruppe des zuständigen Ministeriums. Diese arbeitet seit 2016 mit den Ländern zusammen. Es ist nämlich, Herr Müller, eine Gemeinschaftsaufgabe zwischen den Ländern, die bekanntermaßen auch heute wieder ein hohes Interesse an der Debatte haben, weil wir ihnen Geld des Bundes für den Ausbau der Kindertagesbetreuung zur Verfügung stellen. Daran werden wir festhalten. Wir werden aber nicht zu 100 Prozent die Kosten für den Bereich Kindertagesbetreuung übernehmen, und wir werden auch nicht zu 100 Prozent die Kosten für den Ausbau übernehmen. Wir erwarten von den Ländern Unterstützung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Sönke Rix [SPD]) Warum haben wir das gemacht, seit 2005 Frau Merkel Bundeskanzlerin wurde und Frau von der Leyen Familienministerin? Wir wissen: Kindertagesbetreuung ist erstens unter bildungspolitischen Gesichtspunkten wichtig, um den Kindern frühe Bildung und Kreativität beizubringen, zweitens integrationspolitisch, weil Sprache der Schlüssel zur Integration ist, was gerade vor dem Hintergrund, dass jetzt mehr und mehr Kinder in Deutschland leben, die aus fremden Kulturen kommen, die dringend integriert werden müssen, die dringend die Sprache erlernen müssen, wichtig ist, und drittens auch arbeitsmarktpolitisch. Die Frau Ministerin hat es angesprochen: Mehr und mehr Familien wollen frei entscheiden, wie sie ihre Erwerbstätigkeit und ihre Familienzeit einteilen. Das heißt, wir müssen und sollten auch Angebote machen, übrigens auch für die Wirtschaft. Denn die Wirtschaft braucht Fachkräfte, und wer Fachkräfte braucht, muss sie qualifizieren, oder aber auf die Fachkräfte zurückgreifen, die bereits ausgebildet sind und die wieder als Fachkraft arbeiten wollen. Auch deswegen ist das Thema „Ausbau der Kindertagesbetreuung“ wichtig. Man hat ja bei Ihnen gemerkt, Herr Müller, dass Sie hier die Gräte im Fisch oder das Haar in der Suppe suchen. Ob wir nun auf der linken Seite, auf der rechten Seite oder in der Mitte sitzen: Wir sind uns alle einig, was die Bedeutung des Ausbaus der Kindertagesbetreuung angeht. Ob Wirtschaftsvertreter oder Familienpolitiker: Alle zusammen wissen, dass die Entwicklung in den letzten Jahren eine Erfolgsgeschichte war. Es wurden nicht nur 100 000 zusätzliche Betreuungsplätze – das wurde angesprochen – für den U3-Bereich geschaffen, also für den Krippenbereich, sondern auch für den Bereich bis zur Einschulung. 1,126 Milliarden Euro werden in dem mittlerweile vierten Programm vonseiten des Bundes investiert. Ich habe bereits angesprochen, wie wir die Bedeutung der Kindertagesbetreuung sehen. Deswegen will ich noch einen weiteren Punkt ansprechen. Wenn wir von einer gemeinsamen Aufgabe zwischen Bund und Ländern sprechen, die jetzt diskutiert wird und die gemeinsam finanziert werden muss – die finanzielle Absicherung ist auch eine Aufgabe dieser Arbeitsgruppe –, dann müssen wir uns auch mit den Forderungen des Bundesrates beschäftigen. Ich will an dieser Stelle ganz offen sagen: Es gibt drei ganz wesentliche Forderungen des Bundesrates. Eine ist, die Fristen zu verlängern. Ich glaube, dieser werden wir zustimmen können. Wir haben bei den ersten drei Programmen gemerkt, dass die Beantragung und das Verfahren sehr lange dauern. Das heißt, wir sollten mehr Freiheit geben und die Fristen verlängern. Bei den beiden anderen Forderungen werden wir deutlich machen, dass wir sie als problematisch ansehen. Dazu gehört der Wunsch, dass wir als Bund bei gewissen schnellen Ausbauverfahren 100 Prozent der Kosten übernehmen sollen. Dazu sagen wir ganz deutlich: Nein, wir wollen, dass Länder und Kommunen bei ihrer Verantwortung bleiben. Wir brauchen diese neuen Plätze. Angebot schafft Nachfrage. Wir wissen, bei den Drei- bis Fünfjährigen liegen wir bei 95 Prozent Ausbau und 97 Prozent Bedarf. Das heißt, wir haben noch eine kleine Lücke. Deswegen werden wir ganz deutlich sagen: Wenn wir das Geld ausgeben, dann wollen wir, dass neue Kitaplätze geschaffen werden. Das werden wir gegenüber den Ländern auch deutlich machen. Die gestiegene Geburtenzahl, die Zuwanderung von Flüchtlingskindern sind für uns Anlass, diesen Ausbau mit Nachdruck fortzusetzen. Es wurde schon das vierte Programm angesprochen. 3,28 Milliarden Euro wurden bereits vonseiten des Bundes bereitgestellt in den drei Programmen 2008-2013, 2013-2014 und 2015-2018. Noch eine Bemerkung zur Unterstützung der Länder: Eigentlich haben wir gesagt, wir investieren, wir wollen das Investitionsprogramm auf den Weg bringen. Aber wir haben auch gesagt, dass wir die Betriebskosten mittragen: in den ersten Jahren 845 Millionen Euro, jetzt noch einmal 100 Millionen Euro mehr, also fast 1 Milliarde Euro jährlich für eine originäre Aufgabe der Länder. Ich finde, Sie können das nicht abtun, als würde sich der Bund nicht beteiligen. Im Gegenteil: Der Bund beteiligt sich – zu Recht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Sönke Rix [SPD]) Wir wissen um unsere Verantwortung. Wir erwarten aber auch, dass man gemeinsam mit den Ländern schaut, wo die Länder ihrer Aufgabe nachkommen können. Ich habe es gesagt: Der Ausbau der Kindertagesbetreuung ist für Chancengerechtigkeit, für die sprachliche Entwicklung von Kindern und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf entscheidend. Auch das Thema, auf das ich jetzt zu sprechen komme, ist nicht unwichtig. Der Ausbau der Kindertagesbetreuung verringert nämlich das Armutsrisiko der Familien mit Kindern bis zwölf Jahren deutlich, nämlich um rund 7 Prozentpunkte. Ich will Prof. Dr. Holger Bonin zitieren, der in der Anhörung am Montag zur Kinderarmut gesagt hat: Weiterhin demonstrieren die Ergebnisse der Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Leistungen die zentrale Bedeutung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für die Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität von Familien. Unter den untersuchten Leistungen sticht die öffentlich geförderte Kindertagesbetreuung heraus. Sie entfaltet substanziell positive Wirkungen auf alle Kernziele der Familienpolitik. Das bestätigt, dass der Weg richtig war, den wir eingeschlagen haben. Jetzt kommt in diesem Land eine Debatte über die Qualität auf. Wir sagen: Ausbau ist wichtig, Qualität ist wichtig. Ich glaube, außer Bremen erfüllt noch kein Bundesland die Standards. Wenn man sich die Relation Erzieherinnen und Erzieher zu Kindern – es gibt die Vorgabe 1 zu 3 oder 1 zu 4, je nachdem, ob man Bertelsmann oder OECD präferiert – anschaut, dann erkennt man: Die meisten Länder – gerade im Westen – schaffen das noch nicht. Das heißt, wir haben ein Qualitätsproblem, obwohl wir viele Maßnahmen zur Qualitätssteigerung über den Bund finanziert haben. Trotzdem haben wir hier noch ein Defizit. Ich finde, man muss Prioritäten setzen. Geld kann man nur einmal ausgeben. Wenn hinausposaunt wird, dass man die Beiträge abschaffen will, dass es keine Elternbeiträge mehr geben soll, dann muss ich kritisch hinterfragen, ob das die richtige Prioritätensetzung ist. (Zuruf des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]) Dazu möchte ich Folgendes sagen: Einige Länder haben bereits zum Beispiel, weil der Ausbau der Kindertagesbetreuung ihre originäre Verantwortung ist, das Jahr vor der Einschulung kostenfrei gestellt. Andere Länder wie mein Bundesland haben die fünfstündige Grundbetreuung kostenfrei gestellt. Andere Länder haben weniger gemacht. Einige Länder haben höhere Elternbeiträge, andere Länder geringere Elternbeiträge. Und – das ist zentral – einige Länder haben eine sehr kluge soziale Staffelung; denn die Elternbeiträge dürfen nicht dazu führen, dass Kinder gerade aus bildungsfernen Schichten abgehalten werden, die Kindertagesbetreuungsangebote wahrzunehmen. Deswegen bin ich Verfechter der Meinung, dass diejenigen, die mehr verdienen, sich auch in einem gewissen Maße daran beteiligen können. Ich weiß, wir müssen die Eltern – auch jene mit mittlerem Einkommen – entlasten, um ihre Freiheit zu stärken. Aber ich sage eines ganz deutlich: Solange wir den Ausbau nicht abgeschlossen und die Qualitätsstandards nicht erreicht haben, sollten wir die Priorität auf Ausbau und Qualität legen und nicht auf das Thema Beitragsfreiheit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich gönne allen Eltern eine Beitragsentlastung. Aber die Wirklichkeit ist eine andere. Wir reden über einen zweistelligen Milliardenbetrag, den Sie hier aufrufen. Das kann man ja im Wahlkampf gerne machen. Dann muss man aber auch sagen, was man nicht macht. Man muss sich entscheiden und Schwerpunkte setzen. Ich sage ganz deutlich: Dafür vonseiten des Bundes 20, 25 oder 30 Milliarden Euro auszugeben, wäre ein Problem. Mir wäre es lieber, an dem weiterzuarbeiten, was wir schon gemacht haben, nämlich schrittweise Qualitätsprogramme zu entwickeln und die Kitabetreuung in Randzeiten auszubauen. Wir unterstützen – das Thema wurde angesprochen – das Bundesprogramm „KitaPlus: Weil gute Betreuung keine Frage der Uhrzeit ist“ und das Bundesprogramm „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“. Wir wollen lieber gezielt da investieren, wo Bedarfe sind, anstatt etwas mit der Gießkanne auszuschütten. Besserverdienende oder gar Reiche können sich vielleicht mit kleineren Beiträgen an dieser wichtigen gesellschaftspolitischen Aufgabe beteiligen. Ich finde es erstaunlich, dass ich als Christdemokrat jetzt hier solche Positionen vertreten muss; aber anscheinend ist es notwendig, weil man momentan sehr offen und frei Geld ausgeben will, das gar nicht vorhanden ist. Wir erwarten in den nächsten Monaten weitere nette Programmpunkte von Ihnen, und irgendwann machen wir mal eine große Rechnung auf; Kollege Rix freut sich schon darauf. Ob es dann bei einem zweistelligen Milliardenbetrag bleibt, weiß ich nicht. Als Fazit bleibt Folgendes festzuhalten: Seit ungefähr zehn Jahren haben wir eine große Unterstützung der Länder in diesem Bereich gewährleistet, weil die Aufgabe der Kinderbetreuung wichtig ist. Wir haben Qualität und Quantität erhöht. Diese Maßnahmen wirken, die einzelnen Programme wirken. Ich glaube, daran sollten wir weiterarbeiten. Dann komme ich – letzter Punkt – zur Kooperation. Wir werden in diesem Jahr oder im Frühjahr nächsten Jahres sehen, was die gemeinsame Arbeitsgruppe im Hinblick auf eine Qualitätsoffensive und ihre finanzielle Absicherung erarbeitet hat. Ich bin sehr optimistisch, dass man das gut hinbekommt, wenn man kooperativ verhandelt. Aber eines sagen wir ganz deutlich: Wir unterstützen die Länder gerne, aber es hat auch alles seine Grenzen; denn wir haben als Parlament im Bund weitere Aufgaben, die wir angehen müssen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Dr. Franziska Brantner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute hier über die Kleinsten in unserem Land, über die kleinen Kinder. Auch die Fünf- und Sechsjährigen gehören noch zu den kleinen Kindern in unserem Land. Wir wissen, dass diese jungen Jahre für ihre spätere Biografie entscheidend sind. Was Kinder in der Zeit mitbekommen, macht mit Blick auf das, was sie später im Leben anstreben und erreichen können, so viel aus. Wir wissen, dass alle Kinder von guten Kitas profitieren, aber von sehr guten Kitas besonders jene profitieren, die am Anfang ihres Lebens nicht die besten Startchancen haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]) Auch das wurde am Montag in der Anhörung bestätigt. Gute Kitas gibt es nun mal nicht umsonst. Deswegen reden wir hier heute auch über das Geld. Im November 2016 haben Sie, Frau Schwesig, im Rahmen der Vorstellung des Zwischenberichts der Arbeitsgruppe noch 1,7 Milliarden Euro zusätzlich für Kitas angekündigt. Das war eigentlich auch damals schon zu wenig für den Bereich, wenn man ernsthaft einen Ausbau und eine Steigerung der Qualität erreichen will. Aber so viel ist es ja jetzt gar nicht mehr: Was im Gesetz steht, ist die Summe von 1,26 Milliarden Euro. Der Betrag ist geschrumpft. Obwohl es in diesem Haushalt Überschüsse gibt und jetzt 18 Milliarden Euro in die Reserve geschoben werden, haben Sie es nicht geschafft, den richtigen Betrag für die Kinderbetreuung einzustellen. Die Kinder sind die Zukunft, da müssen wir investieren – das erwarten wir von Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir reden jetzt die ganze Zeit darüber, ob wir die Kitas beitragsfrei gestalten. Ich sehe es so: Es besteht noch die Notwendigkeit, die Kinderbetreuung auszubauen, gerade auch deshalb, weil es mehr Kinder gibt – das haben Sie ja selber gesagt –, und wir brauchen eine bessere Qualität, und zwar bundesweit einheitlich. Wenn wir das noch nicht erreicht haben, dann können wir doch nicht darüber hinaus etwas versprechen; denn die Gelder sind jetzt schon geringer, als es notwendig wäre. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen mehr Qualität, mehr Plätze und, ja, in Zukunft vielleicht auch Beitragsfreiheit. Aber die Priorität muss doch auf der Schaffung von Betreuungsplätzen und der Steigerung der Qualität liegen. Denn was hat man davon, wenn ein Platz beitragsfrei ist, der noch gar nicht existiert? Wir müssen doch erst mal die Plätze schaffen und die Qualität sichern, und dann können wir auch gerne über Beitragsfreiheit sprechen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) Einen Punkt, der von den kommunalen Spitzenverbänden angemahnt wurde, möchte ich noch herausgreifen. Sie wollen jetzt, dass die Gelder schon vor Ende des Programms umgeschichtet werden können. Diese Umschichtungsmöglichkeit führt zu Unsicherheit vor Ort, weil nicht mehr klar ist: Stehen uns die Gelder zu oder nicht? Gerade in der Phase des Ausbaus, in der wir Planungssicherheit brauchen, ist es nicht zielführend, die Möglichkeit zu schaffen, die Gelder zu verschieben. Es ist notwendig, dass wir für Sicherheit sorgen. Es ist falsch, dass das geändert werden soll. Man könnte die bisherige Regelung beibehalten. Hier sollten Sie noch einmal nachbessern; wir sind gerne mit dabei. Zum Thema Qualität. Frau Schwesig, als Sie noch Ministerin auf Landesebene waren, haben Sie selber gesagt, dass eine Arbeitsgruppe nur ein „Notnagel“ sein kann; das waren damals Ihre Worte, als 2013 eine entsprechende Arbeitsgruppe zur Qualität eingerichtet wurde. Was haben Sie seither getan? Sie haben eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die immer noch tagt, obwohl wir ein Qualitätsgesetz dringend brauchen, um bundesweit für einheitliche Standards sorgen zu können. Wir reden in unserem Land immer viel über Chancengleichheit, und wir wissen: Gerade die frühkindliche Lebensphase ist entscheidend. Chancengleichheit darf nicht davon abhängen, ob man in einer reichen oder in einer armen Stadt wohnt. Alle Kinder brauchen die gleichen Chancen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Damit unser Vorhaben funktioniert, müssen wir unserer Verantwortung gemeinsam nachkommen. Wir dürfen nicht die eine gegen die andere Bevölkerungsgruppe ausspielen, sondern wir müssen klar sagen: Es geht um die Zukunft, und Zukunft braucht Chancengleichheit. Ohne Qualitätsgesetz und nur mit den derzeit zur Verfügung stehenden Mitteln werden wir das leider nicht erreichen. Wir müssten uns gemeinsam darauf verständigen, für die nächsten Jahre noch etwas Geld draufzulegen. Angesichts der schon angesprochenen 18 Milliarden Euro sage ich: Ganz ehrlich, für die Zukunft muss mehr drin sein. Wir führen derzeit vehement eine Debatte über Rüstungsausgaben in Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Ich wünsche mir, dass wir so eine intensive Debatte auch über die Ausgaben für die Zukunft unserer Kinder führen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir diese Debatte mit einer solchen Vehemenz führen würden, dann wären wir einen Schritt weiter. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Sönke Rix für die SPD. (Beifall bei der SPD) Sönke Rix (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal will ich an den von uns vereinbarten Dreiklang erinnern, der deutlich macht, was wir für die Familien erreichen wollen. Wir wollten erstens die finanzielle Entlastung – das haben wir in mehreren Schritten geschafft, insbesondere für Alleinerziehende –, wir wollten zweitens mehr Zeit für Eltern – das haben wir geschafft, indem wir das Programm Elterngeld Plus geschaffen haben, mit dem wir insbesondere die Partnerschaftlichkeit fördern –, und wir wollten drittens mehr Infrastruktur für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Mittlerweile legen wir mit einem neuen Programm mehrere Milliarden Euro auf den Tisch, damit Länder und Kommunen ihrer Aufgabe, die wir ihnen aufgegeben haben, nachkommen können. Wir haben versprochen, entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen, und wir halten uns an das, was wir versprochen haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Kita ist nicht nur für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wichtig – Kollege Weinberg hat darauf hingewiesen –, sondern sie ist auch deshalb wichtig, weil sie ein Ort der frühkindlichen Bildung ist und kein Aufbewahrungsort. Über die Jahre haben sich die Kitas hervorragend entwickelt. Den Erzieherinnen und Erziehern, die diese Entwicklung so positiv begleitet haben, gebührt unser aller Dank. Sie sind diejenigen, die vor Ort die Arbeit leisten, die wir ihnen mit auf den Weg geben. Auch der qualitative Ausbau der Kindertagesbetreuung gehört dazu. Wir haben im Rahmen des Investitionsprogramms vereinbart, Geld speziell für Bewegungsförderung und für Gesundheitsvorsorge zur Verfügung zu stellen. Wir stellen also auch Mittel für die Steigerung der Qualität bereit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich komme auf das Thema Qualitätsgesetz zu sprechen. Ich bin schon etwas erstaunt, dass meine Vorrednerin die Bundesministerin dafür kritisiert hat, dass es kein Qualitätsgesetz auf Bundesebene gibt, und gefragt hat, was Frau Schwesig da bitte gemacht habe. Dabei gibt es mehr als eine Arbeitsgruppe: Es gibt eine Vereinbarung zwischen allen zuständigen Landesministerinnen und Landesministern und der Bundesregierung. Ein Land ist allerdings nicht dabei. Das ist ein von Schwarz-Grün regiertes Land, nämlich Hessen. (Petra Crone [SPD]: Ehrlich? Hört! Hört!) Mit dem Finger nur auf die Ministerin zu zeigen, aber nicht auf die eigenen Kollegen im Land, so geht das nicht, Frau Brantner. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Lieber Herr Kollege Weinberg und liebe Kollegin Brantner, im Rahmen der Anhörung haben wir auch darüber diskutiert, wie sinnvoll es wäre, den Kitabesuch beitragsfrei zu stellen und dadurch die Eltern zu entlasten. Sie stellen das immer als Gegensatz dar und spielen das in der Diskussion gegeneinander aus. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Geld ist endlich!) – Hören Sie ruhig zu. – Sie sagen immer: Wir wollen erst einmal Mittel in den Ausbau, dann in die Qualität und dann eventuell auch in die Beitragsfreiheit stecken. Natürlich kann man das gegeneinander ausspielen. Wir spielen das auch gegeneinander aus, aber anders: Wir spielen das zum Beispiel gegen Ausgaben aus, die Ihrer Programmatik entsprechen, zum Beispiel gegen die Steuerentlastung, die Sie versprechen. Wieso wollen Sie eigentlich mit der Gießkanne übers Feld ziehen und Steuerentlastungen verteilen, anstatt vor allen Dingen Familien zu entlasten? Beitragsfreiheit ist eine Entlastung von Familien, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das kann man auch gerne einmal gegeneinander ausspielen. (Beifall bei der SPD – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie haben ja nur so geringe Beträge! Sie kriegen ja noch nicht einmal die Qualität finanziert!) Das wäre eine Entlastung. Vielleicht betrachten Sie das einmal vor diesem Hintergrund und handeln dann entsprechend. Es gibt einen weiteren Posten, gegen den man das ausspielen könnte. Ich weiß gar nicht mehr, wie groß die Summe war, die Ihr Staatssekretär im Finanzministerium genannt hat, als es um zusätzliche Mittel für die Bundeswehr ging. Von solchen Summen können wir bei unserem Haushalt nur träumen. Wenn man andere Prioritäten setzen würde, könnte man sagen: Nein, wir brauchen das Geld zusätzlich zur Entlastung von Familien. (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Es wäre schön, wenn ihr im Parlament mal Nein sagen würdet!) Man sollte lieber mehr Geld konkret für die Entlastung von Familien ausgeben, als es mit der Gießkanne zu verteilen. – Sie haben danach gefragt, Herr Weinberg. Ich wollte Ihnen nur die Antwort geben. (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Ihr regiert zusammen! Dann müsst ihr das mal klären!) – Ja, das liegt aber auch an anderen, warum wir noch zusammen regieren. (Heiterkeit bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir bringen ein gutes Programm auf den Weg. Das, was wir hier machen, ist wirklich ein Erfolgsprogramm – und das nach den zahlreichen Entlastungen, die wir den Kommunen insgesamt schon gewährt haben. Ich erinnere an die Verabredungen im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich, aber auch an die mehreren Milliarden, die wir insgesamt in dieser Wahlperiode zur Entlastung der Kommunen bereitgestellt haben. Das ist jetzt das vierte Investitionsprogramm. Wir leisten unseren Beitrag zum Kitaausbau. Darauf können wir stolz sein. Danke schön. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Ingrid Pahlmann das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Stell das mal richtig!) Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich denke, trotz aller Diskussionen ist heute ein richtig guter Tag. Wir beraten in erster Lesung den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum weiteren quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung. Ich finde, dieser Gesetzentwurf sollte spätestens am Ende der Beratungen auf eine ganz breite Zustimmung bei allen stoßen. Seit der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren durch die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen hat sich die Betreuungsquote in diesem Bereich fast verdoppelt: rund 720 000 betreute Kinder im U3-Bereich. Diese Leistung nicht nur des Bundes, sondern auch einiger Länder und vor allem der Kommunen vor Ort muss man einmal anerkennen. Mit der Zurverfügungstellung von zusätzlich 1,126 Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 wollen wir, wie bereits mehrfach gesagt, 100 000 neue Betreuungsplätze schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte deutlich machen, dass wir zum ersten Mal auch die Förderung neuer Plätze für über dreijährige Kinder ermöglichen. Trotz der bereits seit langem hohen Betreuungsquote bei über Dreijährigen stellen wir auch in diesem Bereich einen wachsenden Bedarf fest. Das freut uns, und dem wollen wir Rechnung tragen. Das unterstreicht: Der Bund steht weiterhin zu seiner Verantwortung. Er steht an der Seite der Familien und an der Seite der Alleinerziehenden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Aber der Bund ist nicht alleine verantwortlich. Es ist weiterhin eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen notwendig. Aus dem Rat meiner Heimatstadt Gifhorn weiß ich, wie sehr sich Kommunen oftmals strecken müssen. Sie sind es, die vor Ort den Spagat zwischen den berechtigten Forderungen der Eltern nach einem ausreichenden und qualitativ guten Betreuungsangebot für die Kinder auf der einen Seite und den Bedürfnissen einer zukunftsfähigen Haushaltsführung auf der anderen Seite schaffen müssen. Sie spüren den steigenden Bedarf am allerdeutlichsten und sind dem daraus resultierenden Druck am stärksten ausgesetzt. Wir als Bund machen uns dafür stark, diesen Druck zu lindern. Als Große Koalition haben wir die Kommunen in den letzten Jahren in Milliardenhöhe entlastet. Wir als Union haben unsere Politik für starke Kommunen fortgesetzt; sie liegen uns ganz besonders am Herzen. Man darf ebenso nicht vergessen: Auch die Bundesländer haben in unserer Regierungszeit ungemein davon profitiert. (Beifall bei der CDU/CSU) Da verwundert es umso mehr, was ich nun aus meinem Heimatland Niedersachsen hören muss. Angeblich möchte die rot-grüne Landesregierung die Förderhöhe beim Ausbau der Kinderbetreuung senken. So sollen Krippenplätze statt mit 12 000 nun nur noch mit maximal 9 500 Euro und Plätze in der Kindertagespflege mit nur noch 2 500 Euro statt der bisherigen maximal 4 000 Euro gefördert werden. Diese Befürchtung hat der Niedersächsische Städte- und Gemeindebund in einem Schreiben Anfang März formuliert, und ich muss sagen: Die Landesregierung hat diese Sorge bisher leider noch nicht zerstreuen können. Ich sage Ihnen: Das sorgt für Unverständnis und vor allem für Unruhe in den Kommunen. Und bei mir persönlich stärkt es doch einmal mehr die Sorge, dass erneut mit Bundesgeldern nicht so umgegangen wird, wie wir uns das wünschen. Deshalb habe ich auch Bedenken, zwei der drei Forderungen in der Stellungnahme des Bundesrates zu folgen. So wird erstens vonseiten der Bundesländer gefordert, Steigerungen in der Qualität losgelöst von der Schaffung zusätzlicher Betreuungsplätze über dieses Investitionsprogramm zu fördern. Aber dies widerspricht schlichtweg dem primären Ziel dieses Gesetzes. Es geht hier zunächst einmal um die Schaffung zusätzlicher Betreuungsplätze. Sie haben es angemahnt. Wir brauchen zusätzliche Plätze. Trotzdem wollen wir, wie es ja im Titel des Gesetzes zu lesen ist, qualitätssteigernden Maßnahmen nicht im Wege stehen und sie auch fördern, besonders dann, wenn die Alternative der Wegfall der Betreuungsplätze sein würde. Die Anforderungen und Auflagen an die Einrichtungen sind gestiegen, und zwar beispielsweise bei der Essensversorgung, nicht nur bei der Bewegung. Wenn in diesem Zusammenhang Küchen in den Einrichtungen den neuen Bedingungen angepasst werden müssen, so soll das durchaus möglich sein. (Beifall bei der CDU/CSU) Darüber hinaus haben wir auch schon eine Vielzahl von Förderprogrammen auf den Weg gebracht, die gezielt die Qualität in den Kinderbetreuungseinrichtungen fördern. Ich möchte hier nur kurz das KitaPlus-Programm für erweiterte Öffnungszeiten, das neue Programm zum Kitaeinstieg und die Sprachkitas, für die allein insgesamt rund 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt wurden, nennen. Grundsätzlich aber sollten wir die bestehende Qualität in unseren Kindertageseinrichtungen auch nicht schlechter darstellen, als sie ist. Wir wissen, dass das Fachkräfteniveau und der Betreuungsschlüssel in den Einrichtungen trotz des massiven Ausbaus des Angebotes mindestens auf dem gleichen Niveau geblieben sind. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich finde die Ausweitung der Qualität in der Kinderbetreuung sehr gut, wichtig und richtig. Wir sollten aber hier und heute nicht den zweiten vor dem ersten Schritt machen, sondern uns vielmehr bei gleichbleibend gutem Qualitätsniveau zunächst einmal auf die Deckung des Bedarfs fokussieren, der eindeutig und unbestritten vorhanden ist. Ähnliches gilt in meinen Augen übrigens auch für die Beitragsfreiheit von Kinderbetreuung. Da bin ich bei meinen Kollegen Weinberg und Brantner. Auch ich stehe einer pauschalen Abschaffung der Elternbeiträge kritisch gegenüber, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, da wir uns immer noch darum bemühen, für eine weiter steigende Nachfrage ausreichend Betreuungsplätze zur Verfügung zu stellen, und erst am Anfang des weiten Weges zu beispielsweise flexibleren Öffnungszeiten, mehr Fachkräften und kleineren Gruppen in unseren Betreuungseinrichtungen stehen. Ich halte derzeit Elternbeiträge für eine wichtige Säule der Finanzierung des Angebots, solange sie nicht Einzelne vom Angebot ausschließen. Und um das zu verhindern, Herr Rix, halte ich eine gut durchdachte Sozialstaffelung der Beiträge für zielführend und, wie der Name sagt, im Übrigen auch für deutlich sozial gerechter als eine pauschale Beitragsbefreiung. (Beifall bei der CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: Im ersten Schritt eine bundesweite wäre schon gut!) Wenn es dann aber schon jetzt kostenfreie Kitas geben soll, dann bitte nicht zulasten der Qualität, und das geschieht leider viel zu oft. Wenn es auf dem Rücken der Kommunen ausgetragen wird, trifft es immer die Schwächsten. Aber kurz zurück zu den Forderungen des Bundesrates. Zweitens wünschen sich die Bundesländer, dass eine Bagatellgrenze eingezogen wird. So soll bei einer Förderung bis 1 000 Euro diese vom Bund in voller Höhe getragen werden. Ich bin nun keine Juristin und möchte daher die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit dieser Forderung den Experten überlassen. Ich empfinde aber eine mögliche Kostenteilung bei Einzelmaßnahmen von 90 Prozent für den Bund und 10 Prozent für alle anderen Beteiligten als äußerst fair. Wenn es gelingen kann, mit einem so geringen Beitrag von unter 1 000 Euro einen Platz zu erhalten, sollte es doch nicht an den 1 000 Euro Unterstützung durch das Bundesland scheitern. Über eine Verlängerung der Fristen, wie auch von den Bundesländern gefordert, sollten wir alle im Sinne der Kommunen noch einmal intensiv beraten. Wir wissen um die Herausforderungen, vor denen die kommunalen Verwaltungen zurzeit stehen. Es ist erst drei Bundesländern gelungen, aus dem laufenden Programm Mittel in voller Höhe zu bewilligen, darunter Niedersachsen; jetzt lobe ich einmal mein Heimatland. (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: 47 Prozent in Bayern!) Lieber Paul Lehrieder – ich hoffe, du wirst die Nachricht überstehen –, diesmal war es nicht der Freistaat ganz im Süden unseres Landes. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ja, ja!) Insgesamt liegt uns hier meines Erachtens ein bereits sehr, sehr guter Gesetzentwurf vor. Ich bin auf die Anhörung in der kommenden Woche und auf die weiteren Beratungen gespannt. Ich hoffe, dass wir uns im Sinne unserer Familien, unserer Kinder einigen werden und dieses gute Gesetz auf den Weg bringen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/11408 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Prekäre Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft wirksam bekämpfen Drucksache 18/11597 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Wir warten noch ab, bis die offensichtlich notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionen abgeschlossen sind. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Nicole Gohlke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzten Monat postete eine junge Berliner Nachwuchswissenschaftlerin auf Facebook, sie habe innerhalb der letzten vier Jahre an ein und derselben Hochschule, das heißt bei ein und demselben Arbeitgeber, zehn verschiedene Arbeitsverträge gehabt. Ich halte das für einen riesigen Skandal. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Es ist skandalös, dass das offenbar immer noch möglich ist, obwohl sich die Bundesregierung letztes Jahr endlich dazu durchgerungen hat, das Sonderbefristungsrecht in der Wissenschaft zu reformieren. Dadurch, dass so etwas heute immer noch möglich ist, werden zwei Dinge deutlich: einmal, dass die Große Koalition bei der Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes nicht gut genug gearbeitet hat, und zweitens, dass es die Große Koalition nicht hinkriegt, Rahmenbedingungen für stabile Beschäftigungsverhältnisse und planbare Karrierewege in der Wissenschaft zu schaffen; denn sie weigert sich, Schritte in Richtung einer soliden Grundfinanzierung zu gehen. Das muss aber endlich passieren. Deswegen hat die Linke heute diesen Antrag vorgelegt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Als Hauptproblem kristallisieren sich die schwammigen Formulierungen im überarbeiteten Wissenschaftszeitvertragsgesetz heraus. Jetzt ist zwar endlich festgelegt worden, dass die Befristung von Arbeitsverträgen nur zum Zwecke der eigenen Qualifizierung zulässig ist, gleichzeitig hat sich die Koalition aber geweigert, eindeutig zu definieren, was Qualifizierung eigentlich bedeutet. Das hat sie sogar in die Hände der Arbeitgeber gelegt, die das natürlich in ihrem Sinne nutzen. Das war ja klar. Der zuständige Arbeitskreis der Universitätskanzler zum Beispiel interpretiert die neuen Regelungen jetzt folgendermaßen: Jede Tätigkeit im Wissenschaftsbetrieb fördere ja die wissenschaftliche Qualifizierung der Beschäftigten und reiche daher aus, um eine Befristung zu rechtfertigen. – Die TU Berlin war auch sehr kreativ. Für sie gilt zum Beispiel der Kompetenzerwerb beim Verfassen von Drittmittelanträgen auch als wissenschaftliche Qualifizierung. Das ist doch einfach absurd. Hier muss dringend nachgebessert werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Schreiben Sie mal einen Drittmittelantrag! Das werden Sie gar nicht hinkriegen!) Das nächste Problemfeld ist die familienpolitische Komponente. Auch hier überlässt es die Große Koalition dem Ermessen der Arbeitgeber, ob Arbeitsverträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verlängert werden, wenn sie Kinder betreuen. Auch das hat die Große Koalition ganz bewusst in Kauf genommen. Das geht aber zulasten von Familien, besonders zulasten von Frauen. Auch das gehört schnellstens korrigiert. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch vom wissenschaftsunterstützenden Personal in Verwaltung und Technik – dieses ist aus dem Geltungsbereich des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes herausgenommen – wird uns berichtet, dass sich für viele die Situation kaum verbessert hat. Manche der Kolleginnen und Kollegen werden jetzt nach Ablauf der maximalen Befristungsdauer einfach gar nicht weiterbeschäftigt und verlieren ihren Arbeitsplatz. Das hat auch etwas damit zu tun, dass gerade die Hochschulen zur Einrichtung von Dauerstellen keine oder nur geringe finanzielle Spielräume sehen. (Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Weil Sie so industriefeindlich sind, Frau Kollegin! Das liegt an Ihnen!) Sie dürfen dauerhafte Planstellen zum Beispiel gar nicht aus Projektmitteln des Bundes finanzieren. Es ist ein Problem, wenn sich die laufenden Grundmittel der Hochschulen von der Jahrtausendwende bis 2014 trotz steigender Studierendenzahlen nur um die Hälfte erhöht haben, während die Drittmittel im selben Zeitraum um 150 Prozent gestiegen sind; denn Drittmittel sind das Gegenteil von Planungssicherheit. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Mit Planungssicherheit und Planwirtschaft kennen Sie sich ja aus!) Die Wahrheit ist: Die Situation der Wissenschaft und der Beschäftigten bleibt prekär, solange die Bundesregierung nicht endlich eine Kehrtwende in der Wissenschaftsfinanzierung einleitet. Dafür wäre es allerhöchste Zeit. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das liegt im Zuständigkeitsbereich der Länder, Frau Kollegin!) Für uns Linke ist klar: Wir wollen gute Arbeit, auch in der Wissenschaft. Die Einrichtungen und die Beschäftigten brauchen endlich Verlässlichkeit und Planungssicherheit, und zwar nicht nur für Prestigeprojekte wie Ihre Exzellenzinitiative. Also: Verstetigen Sie den Hochschulpakt, und sagen Sie endlich, wie es mit dem Hochschulbau weitergehen soll! Das sind Sie den Beschäftigten schuldig. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Alexandra Dinges-Dierig das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste auf den Tribünen! Bereits vor einem guten Jahr habe ich an gleicher Stelle gesagt, dass die Zukunft des Wissenschaftsstandortes Deutschland in hohem Maße davon abhängig ist, inwiefern es uns gelingt, die besten Köpfe zu holen oder zu behalten; „behalten“ im Sinne von „halten“. Deshalb spielen gute Bedingungen am Arbeitsplatz – da stimme ich Ihnen zu, Frau Gohlke – eine enorme Rolle. Ich sage an dieser Stelle für die CDU/CSU aber auch ganz klar: Ein Befristungsunwesen, so wie Sie es immer wieder bezeichnen, werden wir mit aller Entschiedenheit bekämpfen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Dann mal los!) Gute Arbeitsbedingungen brauchen zunächst eine ausreichende und verlässliche Grundfinanzierung; auch da sind wir uns einig. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Gut!) Aber jetzt kommt der entscheidende Unterschied zwischen uns. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Aha!) Der entscheidende Unterschied ist: Diese Grundfinanzierung muss verbunden sein mit einer zeitgemäßen Personalstruktur. Beides sind Punkte, für die die Länder verantwortlich sind. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aha! Was nicht alles im Grundgesetz steht!) Die Länder – jetzt gut zuhören! – haben ebenso wie der Bund in den vergangenen Jahren eine recht gute Einnahmesituation gehabt. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Wenn Sie sich einmal die Ausgaben des Bundes für die Hochschulen vom Jahr 2010 bis zum Jahr 2014 anschauen, stellen Sie fest: Sie sind um 56 Prozent gestiegen, (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ui!) die der Länder um 19 Prozent. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Da stimmt doch etwas nicht!) Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Prioritätensetzung für Bildung und Wissenschaft sieht für mich anders aus. (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wow! 19 Prozent Steigerung sind toll, wenn man keine Steuern einnimmt!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bund kann wichtige Rahmenbedingungen setzen. Im Gegensatz zu Ihnen von den Linken reden wir nicht Jahrzehnte über prekäre Arbeitsbedingungen – übrigens ohne auch nur einmal definiert zu haben, was eigentlich gute Arbeitsbedingungen sind, auch nicht gestern Nachmittag auf der Podiumsdiskussion –, sondern wir als CDU/CSU wissen, was gute Arbeitsbedingungen sind. Wir haben sie definiert und wollen sie für alle Beschäftigten im Wissenschaftssystem. Deshalb haben wir analysiert, wie die Situation heute ist, und wir haben gehandelt. Dies sind – da muss ich Ihnen völlig recht geben – die ersten Schritte hin zu einer Veränderung. Was haben wir – nur in den letzten zwölf Monaten – verändert? Ich mache es im Zeitraffer und ganz kurz; denn ich habe nur wenig Redezeit. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr als die Opposition!) Wir haben zuerst ein neues Hochschulstatistikgesetz auf den Weg gebracht. Warum? Wir brauchen Erkenntnisse über die Personalstruktur; sonst können wir keine entsprechenden Maßnahmen aufsetzen. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Wir haben den Ländern die Last der BAföG-Kosten genommen. Das waren immerhin 1,17 Milliarden Euro. Für die Gäste auf der Tribüne, die mit dieser Größenordnung vielleicht nicht viel anfangen können, sage ich: Hätten sie diese Gelder – „hätten“, also Konjunktiv – in die Hochschulen gesteckt, wären das rund 12 000 Stellen gewesen. Wenn wir diese Stellen auf alle Hochschulen verteilt hätten, wären das pro Hochschule im Schnitt 40 unbefristete neue Stellen jährlich gewesen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hätte, hätte!) Damit hätte man etwas anfangen können, wenn man es gewollt hätte. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Es sind auch viele Lehrerinnen- und Lehrerstellen geschaffen worden!) Wir haben das Wissenschaftszeitvertragsgesetz mit Augenmaß novelliert. Wir wollten eindeutig bessere Rahmenbedingungen. Wir wollten, dass sich eine Befristung an der Qualifizierung orientiert; sie muss also angemessen sein. Das müssen die Hochschulen jetzt lernen, und das muss mit den Arbeitnehmern und vor allem zwischen Personalrat und Leitung besprochen werden. Sie und nicht wir müssen es aushandeln. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr richtig! Man muss das Gesetz eben auch einmal lesen!) Wir haben das Tenure-Track-Programm geschaffen, das einen planbaren Einstieg bietet. Wir reden hier über tausend neue unbefristete Stellen, die mit diesem Programm geschaffen werden. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Um diese Stellen zu bekommen, ist ein Personalentwicklungskonzept Pflicht. Das ist das, was wir in Zukunft brauchen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn wir all diese Laufbahnen positiv begleiten wollen, dann brauchen wir noch mehr Sicherheit bezüglich der Erkenntnisse über die Menschen, die dort arbeiten, und die Strukturen. Ich hoffe sehr, dass uns sowohl durch die Erfahrungen mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz als auch durch die neuen Erkenntnisse über die Personalstruktur durch das Hochschulstatistikgesetz Schwachstellen, aber auch die Stärken aufgezeigt werden. Frau Gohlke, das ist ein ganz wichtiger Punkt: Sie sagen, Dauerstellen und Projektmittel gehen nicht. Schauen Sie einmal in die Länder. Ganz viele Hochschulen in den Ländern sind nicht mehr stellengesteuert, sondern budgetgesteuert. Die budgetgesteuerten Hochschulen können sehr wohl Dauerstellen aus Drittmitteln einrichten, weil sie wissen, wie viele Mittel sie im Jahr haben, und weil ein Teil dieser Mittel über die Jahre verlässlich zur Verfügung steht. Sie haben aber völlig recht: Für die stellengesteuerten Hochschulen gilt das nicht. Das ist aber eine Länderaufgabe. Die Länder müssen lernen, anders zu arbeiten. Sie müssen sich heute endlich für die Zukunft und nicht für das Gestern aufstellen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich bin mir sicher, dass das Thema Personal inzwischen überall angekommen ist. Jetzt müssen wir in der Politik Geduld haben. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Die Frage ist, ob die Beschäftigten Geduld haben!) Im Gesetz steht, dass die Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes im Jahr 2020 erfolgt. Das werden wir abwarten. Bis dahin haben wir auch Erkenntnisse zum Hochschulstatistikgesetz. Dann werden wir sehen, ob diesem ersten Schritt ein zweiter Schritt folgt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Kai Gehring. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Groß war zu Beginn dieser Wahlperiode die Einigkeit im Hohen Haus, dass Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler klarere Karriereperspektiven, bessere Arbeitsbedingungen und mehr Familienfreundlichkeit benötigen. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Deshalb haben wir auch viel gemacht!) Das war eine sehr günstige Ausgangslage, um Großes zu bewegen. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Was wir getan haben!) Diese Chance haben Union und SPD verspielt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Irrtum!) Für faire statt prekäre Wissenschaftskarrieren zu sorgen, ist nun mal ein Marathonlauf, aber der Koalition ist schon nach 100 Metern die Puste ausgegangen. (Dr. Karamba Diaby [SPD]: Also, ist ja mutig!) Bessere Bedingungen in der Wissenschaft bleiben auf der Strecke, und das ist schlecht; denn wir dürfen kein Talent vergraulen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Sie sind selber nicht hinterhergekommen!) Kurzatmig ist ihr sogenanntes Nachwuchsprogramm. Bei 1 000 Tenure-Track-Professuren an Universitäten bleiben unklare Perspektiven und wenig Planbarkeit für viel zu viele Alltag. Auch fehlt Ihrem Tenure-Track-Programm eine explizite Förderung von Frauen, während zugleich die Zukunft des Professorinnenprogramms völlig ungewiss ist. Für dauerhafte Karrierewege neben der Professur sorgen Sie nicht, und die Tenure-Track-Professuren sind viel zu wenig lukrativ und attraktiv für viele Universitäten. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Abwarten!) Die Fachhochschulen haben Union und SPD gleich jahrelang vergessen, (Dr. Simone Raatz [SPD]: Das stimmt nicht!) obwohl sie besonders damit zu kämpfen haben, Professorinnen und Professoren zu gewinnen. Ein Nachwuchsprogramm für die FHs gibt es noch nicht. Machen Sie das doch endlich! Wer regiert denn? Fazit: Mit Ihrem Nachwuchsprogramm müssen Sie noch mal ins Trainingslager. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Simone Raatz [SPD]: Liegt so gut wie auf dem Tisch!) Schnappatmung bekomme ich allerdings bei Ihrer Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das möchte ich einmal sehen!) Es fehlt noch eine systematische Untersuchung. Sie kommt erst 2020, also fast am Ende der nächsten Legislaturperiode, (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja, eben! Warum denn nicht früher?) obwohl man schon jetzt weiß – das haben die Anhörungen gezeigt –, dass Ihre Novelle nicht vernünftig wirken kann und viel zu große Hoffnungen damit verbunden werden. Mindestvertragslaufzeiten sind Fehlanzeige, (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Natürlich!) und undefiniert ist zum Beispiel, was unter Qualifizierung zu verstehen ist (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Genau!) und was eine angemessene Befristungsdauer für einen Qualifizierungsschritt sein soll. Damit werden sich noch viele Anwälte und auch findige Personaler in den Chefetagen der Wissenschaft zu beschäftigen haben. Durch solche Schwammigkeiten verfehlen Sie das eigentliche Ziel, einen klaren rechtlichen Rahmen für bessere Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft zu schaffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Beim WissZeitVG hilft weder Trainingslager noch Doping, sondern nur eine Novelle, die klare Mindestvertragslaufzeiten, einen Wegfall der Tarifsperre und eine echte Familienkomponente bringt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]) Gänzlich außer Sichtweite ist das Ziel, die Grundfinanzierung der Hochschulen zu verbessern. Es ist echt problematisch, sich von Pakt zu Pakt zu hangeln; (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: 1,4 Milliarden jedes Jahr! – Gegenruf der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das ist ein alter Hut! Das können Sie nicht vier Jahre lang sagen!) denn das erschwert es den Hochschulen, zusätzliche verlässliche Dauerstellen für Daueraufgaben zu schaffen. Es wird noch besser. Beim neuen Unionspapier schrillen bei mir sämtliche Alarmglocken, weil Sie offensichtlich die Axt an den Hochschulpakt legen wollen. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Richtig!) Wenn Sie das tun, dann reißen Sie mutwillig Löcher in die Finanzierung der Universitäten und vor allem der Fachhochschulen vor Ort. Nicht mit uns! Wir brauchen eine verlässliche Grundfinanzierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Auch künftig wollen viele junge Menschen studieren. Der Studierendenberg wird nicht zum Tal, sondern zu einem Hochplateau. Wir wollen diesen jungen Menschen Freiräume ermöglichen, anstatt sie zu versperren. Deshalb sind und bleiben eine ausreichende Zahl an Studienplätzen und gute Studienbedingungen unser Anspruch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Über 90 Prozent der Verträge in der Wissenschaft – über 90 Prozent! – sind befristet. Über die Hälfte dieser Verträge hat eine unsäglich kurze Laufzeit von unter einem Jahr. (Dr. Simone Raatz [SPD]: „Hatte“, nicht „hat“!) Nur 22 Prozent der Promotionen werden abgeschlossen. Über 10 Prozent der Promovierenden verdienen weniger als 826 Euro im Monat. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aus welchem Jahr sind denn die Zahlen? 2014?) Sie sind also armutsgefährdet. Diese niederschmetternden Zahlen aus dem Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs mahnen: Da müssen wir ran! Dieses Befristungsunwesen muss enden. So können wir mit Talenten für die Wissensgesellschaft jedenfalls nicht umgehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deswegen ist es dringend notwendig, schnell zu weiterführenden Schritten zu kommen. Jetzt stehen ein vernünftiges Wissenschaftszeitvertragsgesetz für mehr Sicherheit an, um gut forschen zu können, ein Personalprogramm für die Fachhochschulen, eine bessere Grundfinanzierung für die Hochschulen und auch mehr Verantwortungsbewusstsein in der Wissenschaft für die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in puncto Personalentwicklung und Karrierewege. Diesen Marathon gilt es zu laufen. Wir sind dazu bereit. Das, was Sie vorgelegt haben, ist wirklich Stückwerk. Das Befristungsunwesen lässt sich damit leider nicht überwinden. Deshalb: Da muss mehr passieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Dr. Simone Raatz für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Simone Raatz (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz der Äußerungen von Frau Gohlke und Herrn Gehring muss ich doch sagen – ich denke, das ist unbestritten –: Wir haben in dieser Legislatur vieles an Verbesserungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs auf den Weg gebracht. Das muss man einmal anerkennen; man sollte nicht immer nur herumnörgeln. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber – das ist richtig –: Jetzt heißt es dranbleiben, insbesondere am Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“. Frau Gohlke, jetzt sollten Sie einmal zuhören; das, was jetzt kommt, hören Sie nicht so oft: Ich möchte Ihnen und den Kolleginnen und Kollegen von der Linken für den Antrag Danke sagen. Ihr Antrag unterstützt nämlich unser Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ in einigen Punkten. Das muss man einmal anerkennen. Es ist schön, dass Sie das präsent halten und uns natürlich damit immer auch den Spiegel vorhalten. Ich gebe Ihnen recht: Es ist wirklich ein Unding, dass heutzutage jede zweite Neueinstellung – nicht in der Wissenschaft, sondern prinzipiell – befristet erfolgt. Das geht nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dazu kommt, dass es in der Forschung – die Zahl haben wir häufig gehört – fast 90 Prozent sind. Außerdem hatten diese befristeten Verträge – „hatten“, nicht „haben“ – häufig eine sehr kurze Laufzeit, und zwar nicht nur an unseren Hochschulen. Ich finde es bedenklich, dass dies auch an unseren außeruniversitären Forschungseinrichtungen so ist. Das ist für mich überhaupt nicht erklärbar. (Beifall der Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] und Nicole Gohlke [DIE LINKE]) Jeder kann hier Beispiele nennen, auch ich. Sie haben das Beispiel genannt, dass jemand zehn befristete Verträge hintereinander bekommen hat. Ich kenne eine junge Wissenschaftlerin, die noch an ihrer Doktorarbeit arbeitet und in dieser Zeit schon 15 verschiedene Arbeitsverträge unterschreiben musste. Von diesen 15 Kurzzeitverträgen hatten manche nur eine Laufzeit von einem Monat. Ich war gestern beim Parlamentarischen Abend der AiF. Mir gegenüber stand ein Wissenschaftler, schon ein gestandener Mann, der mittlerweile schon 50 befristete Arbeitsverträge unterschrieben hatte. Das geht natürlich nicht; das ist klar. Dem haben wir nun einen Riegel vorgeschoben. (Beifall bei der SPD) Jeder von uns kann irgendwelche Beispiele nennen, und wir könnten uns sicherlich gegenseitig mit Zahlen übertrumpfen. Aber das ist nicht das, was wir wollen. Wir wollen mit dieser hohen Zahl an befristeten Verträgen Schluss machen. Diese kurzen Laufzeiten und die fehlenden Karriereperspektiven schrecken insbesondere junge Frauen ab, die ihre berufliche Zukunft dann leider nicht in der Wissenschaft sehen. Ich denke, das können wir uns in der Zukunft definitiv nicht mehr leisten. Auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dies ungerecht und darüber hinaus familien- und gleichstellungsfeindlich. Darum haben wir, wie gesagt, den Missbrauch von Befristungen in dieser Legislatur endlich eingedämmt. Wir haben das Wissenschaftszeitvertragsgesetz novelliert, und ich betone: wir, die Fraktionen von SPD und CDU/CSU. Wir haben das auf den Weg gebracht. In Ihrem Antrag steht, dass es von der Bundesregierung kommt. Die hat es jetzt umgesetzt, aber auf den Weg gebracht haben wir es als Koalitionsfraktionen, und das möchte ich mir auch nicht nehmen lassen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das Gesetz auf den Prüfstand zu stellen und zu novellieren, war nicht leicht; das muss man sagen. Die Mehrheit der Akteure in Wissenschaft und Politik sieht zwar, dass bei den Arbeitsverträgen in der Wissenschaft etwas aus dem Ruder gelaufen ist, trotzdem bleibt es eine Mammutaufgabe, Lösungen zu finden, die allen Beteiligten und Belangen gerecht werden. Ja, Frau Gohlke, und ja, Herr Gehring, auch wir hätten uns an manchen Stellen eine Konkretisierung gewünscht. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen wir mit Rot-Rot-Grün!) Andererseits muss ich sagen: In diesen Einrichtungen arbeiten Leute, die auch einen Kopf auf den Schultern haben und ihn benutzen können. Die wissen, wie wichtig es ist, gutes Personal zu halten, und das kann man heute nur halten mit vernünftigen Arbeitsbedingungen. Darum appellieren wir zum Beispiel auch an die Eigenverantwortung unserer Wissenschaftseinrichtungen. Alles immer vorzugeben, halte ich nicht für den richtigen Weg. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb haben Sie eine Frauenquote beschlossen!) Mit der Reform haben wir das alte Wissenschaftszeitvertragsgesetz vom Kopf auf die Füße gestellt. Wir haben aus einem Befristungsgesetz ein Qualifizierungsgesetz gemacht und die Zeit der willkürlichen Befristungen damit hoffentlich endgültig beendet. Seit einem Jahr ist dieses Gesetz nun in Kraft. Die junge Wissenschaftlerin, von der ich gerade erzählt habe, aber auch viele andere junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben dadurch endlich einen vernünftigen Arbeitsvertrag und damit mehr Planungssicherheit als bisher, und das freut mich erst einmal. Das sollte uns insgesamt erst einmal freuen. Schön wäre gewesen, wenn sich das bereits in den Zahlen des Bundesberichts Wissenschaftlicher Nachwuchs widergespiegelt hätte, doch die aktuellsten Zahlen in diesem Bericht, auf die sich auch Herr Gehring bezogen hat, sind von 2014. Man muss sagen: Damit kann man nichts anfangen. Das ist schade. Wir müssen also im Endeffekt den nächsten Bericht abwarten, um zu sehen, was unser Wissenschaftszeitvertragsgesetz bewirkt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, allein die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu ändern, reicht aber nicht. Für planbare Karrierewege braucht es auch Programme zur besseren Stellenausstattung an der Hochschule. Auch darauf haben meine Vorrednerinnen und Vorredner hingewiesen. So haben wir ein Bund-Länder-Programm für den wissenschaftlichen Nachwuchs auf den Weg gebracht. Für einen Zeitraum von über zehn Jahren haben wir immerhin zusätzliche 1 000 Tenure-Track-Stellen finanziert. Allein für Sachsen sind das 52 zusätzliche Stellen. Das finde ich erst einmal gut. Das ist eine Zahl, mit der man etwas anfangen kann. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Darüber hinaus – das wissen wir, und das muss man nicht dauernd betonen, aber ich sage es an dieser Stelle noch einmal – hat der Bund seit 2015 die komplette Finanzierung des BAföGs übernommen. Damit stehen den Ländern über 1 Milliarde Euro jährlich zur Verfügung. Allein für Sachsen sind das über 80 Millionen Euro. Damit kann man etwas anfangen. Auch damit kann man die Stellensituation verbessern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Und wie geht es jetzt weiter? Sicher nicht mit den unrealistischen und durch nichts begründeten Forderungen Ihres Antrags nach 100 000 zusätzlichen Stellen. Schon aus diesem Grund können wir Ihrem Antrag so nicht zustimmen. Unbestritten ist aber, dass die Grundfinanzierung der Hochschulen nachhaltig verbessert werden muss. Das Aufheben des Kooperationsverbotes im Hochschulbereich gibt jetzt Möglichkeiten, und diese Möglichkeiten sollten wir auch nutzen. Wichtig ist – und darauf hat meine Kollegin schon hingewiesen –, dass Personalplanung oder bestehende Personalentwicklungskonzepte ein verbindliches Förderkriterium bei der Bewilligung von Projektmitteln sein müssen. Finanzielle Einschnitte zeigen dann auf jeden Fall ihre Wirkung. Aber, wie ich schon sagte, allein politische Initiativen verbessern die Personalsituation noch nicht. Was wir darüber hinaus brauchen – und das ist mir ganz wichtig –, sind Präsidentinnen und Präsidenten, Rektorinnen und Rektoren sowie Lehrstuhlinhaber, die sich als gute Arbeitgeber verstehen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) und die auch alles dafür tun, um den wissenschaftlichen Nachwuchs durch eine gute Betreuung zu wissenschaftlichem Erfolg zu führen. Und da haben wir noch sehr viel Luft nach oben. Dazu gehört auch, dass man Perspektiven aufzeigt; entweder innerhalb oder außerhalb der Hochschule. Dazu zählen für mich auch Fachhochschulen oder Stellen in der Wirtschaft. Für einen Wandel ist es auch wichtig, dass wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben, die nicht nur fachlich exzellent sind, sondern sich auch gesellschaftspolitisch engagieren, die eben wissen, wie man sich organisiert und wie man die eigenen Rechte im Endeffekt durchsetzt. Auch hier können wir einmal gucken, welchen Organisationsgrad wir im wissenschaftlichen Mittelbau haben. Der ist sehr gering. Daran liegt es auch. Da müssen die Leute auch einmal selbst für ihre Sache einstehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sich mit Dreimonatsverträgen zu organisieren, ist nicht so leicht!) Denn eines ist gewiss – damit komme ich zum Schluss –: Nur mit motivierten und engagierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern werden wir die Innovationsfähigkeit unseres Landes auch zukünftig sichern. Nur mit unseren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern werden wir einen Beitrag zur Bewältigung der großen globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Energieversorgung oder Digitalisierung leisten. Dazu gehören – das ist klar – gute Arbeitsbedingungen, Planungssicherheit und auch attraktive Karriereoptionen. Danke. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Wolfgang Stefinger (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den Antrag der Linken und seinen Titel liest, (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Geraten Sie in Verzückung!) dann könnte man glatt den Eindruck gewinnen, als stünde es um unser Wissenschaftssystem richtig schlecht. Daher schlage ich vor, dass wir uns einmal die Fakten ansehen. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind auf einem historischen Höchststand. Niemals zuvor wurde in Deutschland so viel in Forschung und Entwicklung investiert. Staat und Wirtschaft haben 2015 erstmals das 3-Prozent-Ziel erreicht. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht jetzt aber um Befristung!) Wir gehören zu den weltweiten Innovationsführern. Nie zuvor gab es übrigens auch mehr Jobs im Bereich Forschung und Entwicklung. Mehr als 600 000 Menschen sind in diesem Bereich tätig. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Über 90 Prozent befristet!) Deutschland hat eine hohe Publikationsintensität und einen Spitzenwert bei der Exzellenzrate wissenschaftlicher Veröffentlichungen, und Deutschland wird auch für ausländische Forscherinnen und Forscher immer attraktiver. Ihr Anteil in den Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen ist in den letzten zehn Jahren erheblich gestiegen. Sie sehen: Unser Wissenschaftssystem steht hervorragend da, und das hat auch mit den richtigen politischen Weichenstellungen der letzten Jahre zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Nun wollen die Linken mit ihrem Antrag die Axt an Grundpfeiler unseres erfolgreichen Wissenschaftssystems legen. (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das Bild hatten wir heute schon einmal!) Der Pakt für Forschung und Innovation – so steht es in Ihrem Antrag – soll abgeschafft werden, und es soll auch keinen Wettbewerb mehr geben. Stattdessen lesen wir von kostenträchtigen Forderungen, verbunden mit dem Ruf nach immer höherer Lastenübernahme durch den Bund. Es ist schon darauf hingewiesen worden: Fast auf den Tag genau vor einem Jahr ist das novellierte Wissenschaftszeitvertragsgesetz in Kraft getreten. Die in Ihrem Antrag genannten Zahlen beinhalten jedoch überwiegend nur Auswertungen bis 2014. Von daher wären Sie gut beraten gewesen, zunächst einmal die Wirkung der beschlossenen Vorhaben und der Gesetzesnovellierung abzuwarten und Kritik auf eine solidere Faktenlage zu stellen. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Also dann erst wieder 2020 etwas anfangen und bis dahin nichts machen?) Und bitte, liebe Linken, suggerieren Sie nicht immer, als würden sich nur die Linken oder auch die Grünen um gute Karriereperspektiven in der Wissenschaft kümmern. Das tun wir nämlich auch. Die Koalition hat bewiesen: Gute Karriereperspektiven für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind uns mindestens genauso wichtig. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie kündigen an! – Gegenruf des Abg. Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir kündigen nicht nur an, wir setzen es um!) Die Koalition hat deswegen einige Initiativen auf den Weg gebracht. Das ist schon angesprochen worden. Mit dem neuen Tenure-Track-Programm zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses wollen wir akademische Karrierepfade planbarer und transparenter machen, die Anziehungskraft unseres Wissenschaftssystems weiter erhöhen, aber auch die Chancengleichheit voranbringen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärken. Wir nehmen dafür auch Geld in die Hand, nämlich über 1 Milliarde Euro. Hier sind auch die Länder gefordert. Ich freue mich darauf, wenn die Linken oder auch die Grünen in ihren Landesregierungen den Beweis erbringen, ob nur geredet wird oder in den Landeshaushalten auch tatsächlich gehandelt wird. Um Fehlentwicklungen in der Befristungspraxis entgegenzuwirken, haben wir – das ist schon angesprochen worden – das Wissenschaftszeitvertragsgesetz novelliert und eine Reform mit Augenmaß umgesetzt. Wir berücksichtigen die berechtigten Interessen der Beschäftigten im Wissenschaftsbetrieb und sichern zugleich die im Wissenschaftssystem unerlässliche Flexibilität und Dynamik. Unsachgemäßen Kurzbefristungen von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die uns natürlich auch ein Dorn im Auge sind, wollen wir mit dem Gesetz einen Riegel vorschieben. Wir werden dann sehen, was die Evaluierung bringt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Pakt für Forschung und Innovation, den Sie in Ihrem Antrag ansprechen und den Sie abschaffen wollen, ist ein großer Erfolg. Er hat sich nämlich bewährt, und er wirkt. Das hat der Monitoringbericht 2016 der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz abermals bestätigt. Mit ihm bekommen die beteiligten Wissenschaftsorganisationen finanzielle Planungssicherheit und verpflichten sich auf bestimmte forschungspolitische Ziele, übrigens auch auf verlässliche Karriereperspektiven. Für die Union ist klar: Wir wollen Leistung und Exzellenz fördern und faire Chancen bieten. Unser Wissenschaftssystem braucht eine gewisse Flexibilität und Dynamik, um Innovationen zu ermöglichen. Weil in den letzten Wochen immer wieder von einem gerechten Bildungssystem gesprochen und in den Medien berichtet wurde, darf ich daran erinnern: Seit 2005 haben sich die Ausgaben des Bildungs- und Forschungsministeriums mehr als verdoppelt. In diesem Jahr stehen dem Bund für Bildung, Wissenschaft und Forschung 17,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Das soll uns mal einer nachmachen! (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Schäuble kann es ja im nächsten Jahr absenken!) Seit Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, wurde massiv in Deutschlands Zukunft investiert, und gleichzeitig wurden keine neuen Schulden gemacht. Das ist gerechte Politik für alle Generationen. (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Künftig wächst nur die Verteidigung!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, lieber Kollege Stefinger. – Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Ich schließe die Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/11597 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie Drucksache 18/11495 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind 25 Minuten für die Aussprache vorgesehen. – Ich höre viel, aber keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Darf ich die Kolleginnen und Kollegen bitten, sich an der SPD zu orientieren? – Dort haben sich alle brav hingesetzt und warten gespannt auf die Debatte. (Matthias Hauer [CDU/CSU]: Das sind auch nur fünf!) Damit eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Michael Meister. Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie – das hört sich zunächst etwas technisch und schwierig an. Das ist allerdings ein Thema, das uns alle betrifft; denn jeder von uns hat schon im Laden oder im Internet bargeldlos gezahlt, ob nun mit einer Debitkarte oder einer Kreditkarte, ob kontaktlos oder mit dem Handy. Genau solche Bezahlvorgänge werden in der Zahlungsdiensterichtlinie rechtlich geregelt und fundamentiert. Wir haben in der digitalen Welt einen massiven Wandel bzw. technologischen Fortschritt zu verzeichnen. Deshalb müssen wir überlegen, wie wir sowohl im Bereich des Zivilrechts als auch im Bereich des Aufsichtsrechts dafür neue, vernünftige Rahmenbedingungen schaffen können. Zum Zivilrecht wird der Kollege Lange aus dem Justizministerium etwas sagen. Ich will mich daher auf die Themen des Aufsichtsrechts konzentrieren. Unser Ziel ist, den Technologiewandel zu ermöglichen und damit neue Marktchancen zu eröffnen, die Sicherheit im Zahlungsverkehr trotz der neuen Entwicklungen sicherzustellen und den Kunden bei dieser Entwicklung so zu schützen, dass er nicht Gefahr läuft, sein Geld zu verlieren. Im Aufsichtsrecht sehen wir deshalb drei Dinge vor. Erstens. Diejenigen, die als Zahlungsdienstleister auftreten, und diejenigen, die mit Kontoinformationen handeln, werden in Zukunft der Finanzaufsicht, der BaFin, unterstellt. Bislang unterstehen diese Dienstleister nicht der Aufsicht. Nun machen wir einen qualitativen Sprung, um die weißen von den nicht weißen Schafen zu trennen und um für Ordnung auf diesem Feld zu sorgen. Zum Zweiten verpflichten wir kontoführende Banken, diesen Dienstleistern in Zukunft Informationen über die Konten verfügbar zu machen. Das heißt, sie müssen einen Zugang ermöglichen, allerdings natürlich nur dann, wenn der Kontoinhaber in diesen Zugang eingewilligt hat und wenn die IT-Sicherheit und der Datenschutz sichergestellt sind – der Datenschutz deshalb, damit die Konteninformationen nicht in falsche Hände gelangen, und die IT-Sicherheit, damit sich kein unbefugter Dritter zu Informationen oder dem Konto selbst Zugang verschaffen kann. Wir glauben, dass durch den Ansatz, diesen Dienstleistern einen Rechtsanspruch auf Zugang zu gewähren, in Deutschland neue Geschäftsmodelle ermöglicht werden und die Kunden, die diese neuen Geschäftsmodelle nutzen, damit am Ende des Tages einen gewissen Mehrwert haben. Für die Sicherheit von Zahlungen werden bei der Authentifizierung des Kunden mindestens zwei Komponenten verlangt. Um das einmal anschaulich zu machen: Wir haben heute sehr oft einen Zahlvorgang, bei dem wir die EC-Karte nutzen und zusätzlich eine Nummer eingeben müssen. Das sind zwei voneinander unabhängige Komponenten. Beim Zahlvorgang im Internet haben wir auch die Karte und eine TAN, die die Unterschrift ersetzt. Diesen Zwei-Komponenten-Vorgang wollen wir für die Sicherheit festschreiben. Das Ganze wird mit einer EU-Verordnung verzahnt, in der dieser Zahlungsvorgang im EU-Raum einheitlich geregelt ist, sodass sich die Bürger jenseits dessen, was wir national umsetzen, darauf verlassen können, dass es einen einheitlichen Ansatz im gesamten EU-Raum gibt. Ich glaube, das ist ein vernünftiger Weg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir versuchen, die Marktchancen und die neuen Technologieentwicklungen auf der einen Seite mit der Sicherheit des Zahlungsverkehrs und dem Kundenschutz auf der anderen Seite in eine ausgewogene und vernünftige Balance zu bringen. Wir haben die Aufgabe, diese Richtlinie bis zum Januar kommenden Jahres umzusetzen. Da könnte man sagen: Na ja, wir könnten eigentlich geruhsam die Bundestagswahl abwarten und dann an die Umsetzung herangehen. – Ich glaube allerdings, wenn man sich den Kalender anschaut, stellt man fest, dass es klug ist, sich dieser Aufgabe noch vor Ende der Legislaturperiode zu stellen. Dazu möchte ich Sie herzlich einladen und hoffe auf gute Beratungen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Meister. – Jetzt stellt sich bei uns hier oben die Frage, ob es neben den weißen und den schwarzen Schafen auch die nicht weißen gibt? Also sind die nicht weißen Schafe schwarze, oder ist da noch irgendetwas zwischen? (Margaret Horb [CDU/CSU]: Die sind noch grün hinter den Ohren!) – Grüne Schafe? Nein! – Aber Sie sehen, wir lauschen interessiert Ihrer Rede. Nächste Rednerin: Susanna Karawanskij für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Sperriger Titel: Zahlungsdiensterichtlinie. Das klingt kompliziert, geht uns aber alle etwas an. Drei Ziele sollen mit diesem Gesetz verfolgt werden: Innovationen im Zahlungsverkehr sollen gefördert, die Sicherheit von Zahlungen soll verbessert und vor allen Dingen sollen die Rechte der Kunden von Zahlungsdienstleistern gestärkt werden. Zentral in der Debatte ist der Datenzugang für Drittanbieter. Geldanbieter müssen ab 2018 Wettbewerbern wie sogenannten FinTechs sowie anderen Zahlungsdienstleistern sämtliche Konteninformationen zugänglich machen und dann entsprechend die Zahlungsaufträge weiterleiten. Das ist gewiss innovativ. Wie sicher und kundenfreundlich das in der Praxis tatsächlich ist, wird sich erst noch erweisen müssen. Die Zahlungsdienstleister, also die kontoführenden Banken, müssen zukünftig zwei bisher gesetzlich nicht regulierten Dienstleistern den Zugang zum Konto gewähren, zum einen den Zahlungsauslösedienstleistern, die eine Erlaubnis benötigen, und zum anderen den Kontoinformationsdienstleistern, die bei der Aufsichtsbehörde registriert werden müssen. In beiden Fällen besteht für die Banken eine gesetzliche Pflicht, den Zugang zum Konto online zu gewährleisten. Wir kennen alle Fälle – vielleicht sind wir sogar selbst schon Opfer davon geworden –, bei denen sich Unbefugte mit immer wieder neuen Tricks Zugang zu Konten verschafft haben. Das wird dann als Phishing, Hacking, Skimming usw. bezeichnet. Die Umsetzung dieses Gesetzes birgt Risiken. Bis heute bestehen genau an der Schnittstelle zu den Kundenkonten zu wenig sichere Standards, bzw. es sind noch keine festgesetzt worden. Dies ist ein erhebliches Risiko für die Konteninhaber. Mit Sicherheitslücken im Onlineverkehr werden wir uns auch weiterhin beschäftigen müssen. Wir müssen auch akribisch auf den Datenschutz schauen. Dazu gehört, dass wir darauf achten, dass Verfahren wie Screen Scraping weiterhin nicht erlaubt sind. Um das kurz zu erklären: Dabei wird zum Beispiel ein Drittanbieter im Account des Verbrauchers selber tätig und löst dabei einen Zahlungsvorgang aus. Damit entsteht so etwas wie eine vorübergehende Identitätsaneignung. Das ist problematisch. Da muss man ganz genau schauen, wie sich das gestaltet, gerade im Bereich des Datenschutzes. Wir müssen auch schauen, dass solche FinTechs, wie ich sie gerade beschrieben habe, nicht so etwas werden wie eine Quengelware, etwas, was wir von den Supermarktkassen kennen. Man muss es sich einmal vorstellen: Dienstleistungsanbieter könnten sensible Daten auslesen oder auswerten; dann meldet sich selbstständig eine App und sagt: Guten Tag, Herr Murmann, ich habe gesehen, Sie haben noch keinen Riester-Vertrag. Wie wäre es denn hiermit? – Wir müssen also aufpassen, dass Kontoinformationsdienstleister nur auf Informationen, die der Nutzer tatsächlich gegeben hat, und auf in diesem Zusammenhang stehende Zahlungsvorgänge zugreifen können. (Beifall bei der LINKEN) Das liest sich auf dem Papier erst einmal ziemlich gut. Laut Text dürfen sensible Zahlungsdaten für keinen anderen als für den vom Nutzer ausdrücklich geforderten Zweck angefordert werden. Es darf auf keine anderen Daten zugegriffen werden, und sie dürfen auch nicht gespeichert werden. Der Zahlungsauslösedienstleister darf nur eine Zahlung des Bankinstituts anstoßen und selber nicht über das Konto verfügen. Besagter Dienstleister darf die Zahlungsdaten der Kunden nicht an Dritte weitergeben. Ich möchte das Augenmerk noch darauf lenken – das ist sozusagen das, was im Gesetzentwurf festgeschrieben ist –, dass diese enge Zweckbindung bestehen bleibt und dass wir hier nur ganz enge Räume schaffen, damit dem Missbrauch vorgebeugt werden kann. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen. Ich hoffe sehr, dass sich folgender positiver Aspekt im Gesetzgebungsverfahren durchsetzt: die geringe Haftungsgrenze für Verbraucher, wenn es um nicht autorisierte Kartenzahlungen geht. Bislang mussten Kunden 150 Euro aus eigener Tasche zahlen. Künftig kann die Bank vom Kontoinhaber höchstens 50 Euro Schadensersatz verlangen. Somit würde den Kunden nicht mehr unterstellt, dass sie grob fahrlässig gehandelt haben, etwa weil sie ihre PIN neben ihrer Bankkarte liegen ließen. Ich hoffe sehr, dass sich im Gesetzgebungsverfahren durchsetzt, dass künftig die Banken den Kunden nicht grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz unterstellen können, sondern dass die Banken ebendiese beweisen müssen. Wir Linken schreiben bei allen notwendigen Innovationen die Sicherheit von Zahlungen und den Verbraucherschutz ganz groß. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin Karawanskij. – Nächster Redner: der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben es bei Bestellungen im Internet sicher schon selbst gemerkt: Die Möglichkeiten, schnell und unkompliziert zu zahlen, sind größer geworden. Vielleicht haben wir uns aber auch schon einmal gefragt, was eigentlich passiert, wenn bei diesen Vorgängen etwas schiefgeht. Wer haftet eigentlich, wenn eine Zahlung ausgelöst wurde, die die betreffende Person gar nicht autorisiert hat? Wer trägt die Beweislast? Das klang gerade eben an. Wie und von wem bekommen wir unser Geld zurück, wenn außer der Bank noch ein sogenannter Zahlungsauslösedienst in den Zahlungsvorgang eingeschaltet war? Dass Verbraucher vor unautorisierten Zahlungen oder Fehlüberweisungen auch in den Fällen, in denen sie auf neue Zahlungsdienste zurückgreifen, geschützt werden, ist von großer Bedeutung; denn die Öffnung des Marktes für neue Dienstleistungen, so wünschenswert sie ist, soll nicht dazu führen, dass neue Risiken auf Verbraucherinnen und Verbraucher abgewälzt werden. Zu dem Thema Zahlungssicherheit hat Ihnen mein Kollege aus dem Bundesfinanzministerium Dr. Meister die aufsichtsrechtlichen Regelungen bereits erläutert. Mit dem zivilrechtlichen Teil des Ihnen nun vorliegenden Gesetzentwurfes gliedern wir die Zahlungsauslösedienste in das bestehende zivilrechtliche Haftungsregime ein. Der Kontoinhaber kann sich bei nicht autorisierten Zahlungen grundsätzlich weiter an sein Kontoinstitut halten, das wiederum – auch das wird in Zukunft rechtssicher geregelt sein – bei dem Zahlungsauslösedienst Regress nehmen kann. Damit wird vermieden, dass Kontoinhaber von einem Zahlungsdienstleister an den anderen verwiesen werden und am Ende leer ausgehen. Das wollen wir nicht. (Beifall bei der SPD) Darüber hinaus, meine Damen und Herren, gibt es weitere wesentliche Verbesserungen für Verbraucherinnen und Verbraucher: Händler und Dienstleister dürfen in Zukunft in vielen Fällen keine Gebühren mehr dafür verlangen, dass ihre Kunden mit SEPA-Überweisung, SEPA-Lastschrift oder einer gängigen Kreditkarte bezahlen. In Deutschland kann man sich eine Lastschrift ohne Angabe von Gründen binnen acht Wochen erstatten lassen. Dieses sogenannte bedingungslose Erstattungsrecht war bislang vertraglich geregelt und hat ganz wesentlich zur Akzeptanz des Lastschriftverfahrens bei uns in Deutschland beigetragen. Es wird jetzt ausdrücklich gesetzlich geregelt und gilt in Zukunft europaweit. Für nicht autorisierte Zahlungen haften Zahler derzeit zwar begrenzt, aber immerhin noch in Höhe von 150 Euro. Dieser Betrag wird nunmehr auf 50 Euro abgesenkt. Weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird der Kunde bei missbräuchlicher Nutzung seiner abhandengekommenen Zahlungskarte besser geschützt. Die Bank muss in Zukunft unterstützende Beweismittel vorlegen, wenn sie behauptet, dass der Kunde den Missbrauch vorsätzlich oder grob fahrlässig ermöglicht hat. Bei Fehlüberweisungen ist es für den Überweisenden oft schwierig, den Geldbetrag zurückzuerhalten. Sein eigener Zahlungsdienstleister muss ihn hierbei unterstützen. Mit dem Gesetzentwurf wird jetzt auch die Bank des Empfängers verpflichtet, die notwendigen Informationen mitzuteilen, damit der Zahler sein Geld zurückerhält. Also, meine Damen und Herren: eine gute Sache – eine gute Sache für Verbraucherinnen und Verbraucher. Deshalb darf auch ich Sie um Unterstützung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung bitten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Christian Lange. – Nächster Redner: Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon angeklungen: Was die Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie beinhaltet, hat eine große Praxisrelevanz. Es gibt ganz viele Details und Hintergründe, mit denen wir uns am liebsten nicht beschäftigen. Wir als Gesetzgeber müssen uns aber sehr intensiv damit beschäftigen, damit es nachher im Alltag möglichst wenig Ärger oder Geldverlust gibt. Das Umsetzungsgesetz ist da im Kern auf dem richtigen Weg. Vieles ist vorgegeben. Es sind auch schon viele Aspekte genannt worden, auf die zu achten ist. Ich will ein Beispiel nehmen, eine Flugbuchung im Internet: Sie suchen Ihre Flugstrecke, vergleichen die Preise, wählen das günstigste Angebot, klicken durch den Buchungsprozess und wollen mit der Kreditkarte bezahlen. Dann gibt es plötzlich einen Aufschlag. Zum Flugpreis kommt noch die Optional Payment Charge dazu. Es wird alles etwas teurer und intransparent. Dann überlegen Sie, ob Sie noch einmal von vorne anfangen. Vielleicht ist dann aber das Angebot plötzlich weg, und der Preis ist nicht mehr derselbe wie vorher. – Es stellt sich also die Frage: Was ist eigentlich das richtige Zahlungsmittel? Viele Verbraucher gehen den einfachen Weg und bleiben auf höheren Kosten als notwendig sitzen. Da für einen guten Rahmen für Verbraucherinnen und Verbraucher zu sorgen, ist richtig und notwendig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Problem beschränkt sich nicht auf Flugbuchungen, sondern das gibt es bei jeder Art von Transaktion. Das ist allerdings nur eine der Neuerungen, die wir jetzt in deutsches Recht umsetzen sollen. Die Richtlinie beinhaltet einen Strauß von Neuerungen, die den gemeinsamen Zahlungsverkehrsraum vorantreiben und Zahlungen für den Verbraucher grenzüberschreitend einfacher und billiger machen. Derzeit betragen die Kosten bei den Verbrauchern für Zahlungen in der Europäischen Union immer noch knapp 130 Milliarden Euro. Da sind also durch die Europäisierung für Verbraucherinnen und Verbraucher richtig viele Vorteile herauszuholen. Gleichzeitig schafft die Richtlinie für bestimmte Innovationen, die sich am Markt etabliert haben, einen Rechtsrahmen, sodass diese nicht länger in einem Graubereich agieren müssen. Das ist wichtig; denn diese neuen Methoden – das ist schon genannt worden – verlangen uns sensible Daten ab. Sogenannte Zahlungsauslösedienste – den meisten in Form der Sofortüberweisung bekannt – werden immer häufiger angeboten und genutzt. Die Händler bekommen eine sofortige Zahlungsgarantie. Der Kunde benötigt weder eine Kreditkarte noch einen anderen Service, sondern nur ein ganz normales Bankkonto. Er muss noch nicht einmal die Homepage seiner Bank besuchen, sondern kann alles über die Händlerseite abwickeln. Das alles ist sehr praktisch. Doch diesen praktischen Möglichkeiten steht eben auch ein Missbrauchspotenzial und – das ist schon angedeutet worden – die Frage gegenüber: Was geschieht denn, wenn etwas schiefgeht? Wer haftet dann? Ist es das Kreditinstitut, der Zahlungsauslösedient oder der Händler? Oder bin ich als Verbraucher letztlich derjenige, an dem die Kosten hängen bleiben? Deswegen ist es notwendig, dass wir jetzt auch bei der Umsetzung in Bezug auf die Details noch einmal darauf achten, dass es gerade nicht die Verbraucherin oder der Verbraucher ist – sie haben häufig die geringste Kenntnis –, welche bzw. welcher nachher die Lasten trägt. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass es bei allen Beteiligten in der Kette immer einen Anreiz gibt, sich für die Lösung einzusetzen, bei der es am wenigsten Missbrauchspotenzial gibt. Das ist nicht ganz trivial; denn heute ist es ja häufig so, dass es für die Anbieter gar keinen Anreiz gibt, das möglichst sicher zu machen, weil sie selber so nachher keinen Schaden haben. Das ist jetzt genau die Linie, die wir finden müssen: Wir müssen für Innovationen offen sein, gleichzeitig den bürokratischen Aufwand gering halten und das Missbrauchspotenzial eindämmen. Darauf werden wir jetzt bei den Diskussionen über die Umsetzung achten. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Gerhard Schick. – Nächster Redner ist Matthias Hauer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Matthias Hauer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beginnen heute mit den Beratungen zur deutschen Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie der EU. Damit stärken wir die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir passen den Rechtsrahmen an den technologischen Fortschritt an. Wir fördern Innovation und sorgen für mehr Sicherheit im Zahlungsverkehr. Dafür werden wir das Aufsichtsrecht und das Zivilrecht ändern. Gerade die Regelungen bzw. Änderungen im Bürgerlichen Gesetzbuch werden für Verbesserungen für Verbraucherinnen und Verbraucher sorgen. Die Details dazu haben gerade die Parlamentarischen Staatssekretäre Herr Dr. Meister und Herr Lange ausgeführt. Wir werden die parlamentarischen Beratungen aber auch dazu nutzen, noch einmal auf die Auswirkungen des Kleinanlegerschutzgesetzes aus dem Jahr 2015 zu sehen. Und wir werden uns die Regelungen zur Finanzierung durch Crowdfunding im Detail anschauen. Dazu gab es eine Evaluierung durch die Bundesregierung. Auch die Ergebnisse daraus werden wir in dieses Gesetz mit einfließen lassen. „Geld ist geprägte Freiheit“. Das sagte der russische Schriftsteller Dostojewski bereits im 19. Jahrhundert. Das Zitat ist, zugegeben, etwas abgegriffen – wie vielleicht auch die eine oder andere Euro-Münze, die Sie heute im Portemonnaie dabei haben. Es stimmt aber noch heute. Dostojewski meinte keine Bitcoins und kein Giralgeld, er meinte Bargeld. Bargeld ist mehr als geprägte Freiheit. Es ist auch gelebter Datenschutz. Jeder soll auch weiterhin frei entscheiden können, ob er lieber bar oder bargeldlos bezahlt. Die Freiheit des Bargeldverkehrs ist uns sehr wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU) Gerade der Onlineeinkauf kommt am bargeldlosen Zahlungsverkehr aber nicht vorbei. Egal ob am Computer, über Smartphone, per App oder auf anderem Wege: Innovative Unternehmen haben für jede Menge technischen Fortschritt gesorgt. Es gibt viele neue Dienstleister, die bisher in einem aufsichtsrechtlichen Graubereich tätig waren. Das ändern wir jetzt. Wir sorgen für eine Aufsicht durch die BaFin. Im Übrigen stärken wir mit dem Gesetz auch den Verbraucherschutz und die Sicherheit bei bargeldlosen Zahlungen. Wer häufig online einkauft oder bucht, kennt den Begriff „Zahlungsmittelentgelt“. Gerade der sorgt für viel Frust bei Kundinnen und Kunden sowie für Zusatzkosten. Herr Dr. Schick von den Grünen hat das gerade am Beispiel einer Flugbuchung deutlich gemacht. Ich nehme einmal das Beispiel einer Bahnkartenbuchung. Wie läuft sie ab? Man sucht sich eine Bahnverbindung heraus und schaut, zu welcher Uhrzeit man fahren möchte. Man durchforstet mehrere Ticketoptionen und sucht sich einen Sitzplatz in einem bestimmten Abteil aus. Man gibt seine persönlichen Daten – den Namen und die Adresse – ein. Und ganz am Ende, nachdem man alles mühsam eingegeben hat, stellt man fest: Wenn man mit einer Kreditkarte bezahlt, wird es teuer. Man wird bei Bahnfahrten mit bis zu 3 Euro zur Kasse gebeten. Bei Flugbuchungen können es – da ergänze ich den Kollegen Dr. Schick gerne – schnell 10 Euro, 20 Euro oder noch mehr werden. Bei Hotelbuchungen oder im Onlinehandel ist das oft ähnlich. Wir machen damit nun Schluss. Bei Zahlungen per Überweisung, per Lastschrift oder mit gängigen Kreditkarten wird es kein Zahlungsmittelentgelt mehr geben. Das führt auch zu mehr Transparenz beim Preisvergleich. (Beifall bei der CDU/CSU – Richard Pitterle [DIE LINKE]: Nur Bares ist Wahres!) – Herr Pitterle, Sie haben das richtig erkannt: Nur Bares ist Wahres. Das ist nur manchmal im Internet etwas schwierig. Mehr Verbraucherschutz schaffen wir aber auch für alle Bankkunden. Die Rückbuchung von Lastschriften wird verbraucherfreundlicher ausgestaltet. Gleiches gilt auch für die Haftung bei nicht autorisierten Zahlungsvorgängen, zum Beispiel beim Kreditkartenmissbrauch. Auch diese Neuregelungen kommen Verbraucherinnen und Verbrauchern zugute. Wir werden die anstehenden Beratungen dazu nutzen, die noch offenen Fragen zu klären. Wir werden uns intensiv austauschen mit Experten, mit den betroffenen Verbänden, mit Verbraucherschützern. Dabei stehen für uns der sichere Zahlungsverkehr, ein hohes Maß an Datenschutz und verbraucherfreundliche Lösungen im Vordergrund. Gleichzeitig wollen wir aber auch Raum lassen für weitere Innovationen im Bereich des Zahlungsverkehrs, für neue kundenorientierte Dienstleistungen und für zusätzliche Arbeitsplätze in diesem Bereich in Deutschland. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Matthias Hauer. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Dr. Jens Zimmermann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Jens Zimmermann (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um die Verwirrung, die mein Vorredner in die Debatte hineingebracht hat, aufzulösen: (Widerspruch bei der CDU/CSU – Matthias Hauer [CDU/CSU]: Ich erkläre Ihnen das gleich noch mal!) Man hätte schon glauben können, wir reden über die Bargeldzahlungsrichtlinie. Das machen wir aber nicht, meine Damen und Herren, sondern wir reden heute über die Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie der EU. Dabei geht es eben nicht um Bargeld, sondern um bargeldlose Überweisungen. (Matthias Hauer [CDU/CSU]: Die SPD zahlt nur bargeldlos!) Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Schritt, den wir hier machen. Das kann ich Ihnen als Digitalpolitiker einerseits und Finanzpolitiker andererseits sagen. Wir haben gerade in diesem Feld eine sehr dynamische Entwicklung. Das Thema FinTech ist angesprochen worden, wobei man da aufpassen muss: Nicht jedes Unternehmen, das irgendetwas mit Internet macht, ist auch gleich ein FinTech. Aber das ist ein anderes Thema. Ich will auf zwei Punkte aus dem Gesetzentwurf eingehen, die meiner Meinung nach sehr wichtig sind. Das Verbot von Aufschlägen, Surcharging genannt – es muss ja heute alles einen britischen oder amerikanischen Namen haben –, ist eben schon angesprochen worden. Hier gibt es ganz klar eine Lücke im Verbraucherschutz, wenn Menschen, die Buchungen vornehmen, egal ob sie jetzt mit der Bahn oder mit dem Flugzeug reisen, darüber getäuscht werden, was dieser Flug oder diese Bahnfahrt eigentlich kostet. Damit machen wir jetzt Schluss. Jeder weiß jetzt: Der Preis, der am Anfang steht, ist auch das, was ich am Ende zahlen muss. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Schritt für den Verbraucherschutz, den wir an dieser Stelle machen. (Beifall bei der SPD – Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das war jetzt aber sehr verwirrend!) Damit kommen wir zum zweiten Teil, dem gesamten Bereich der sogenannten Zahlungsdienste, der Auslösedienste, der Informationsdienste. Im Bereich des Verbraucherschutzes gilt: Geben Sie niemandem Ihre PIN. Und was machen viele Leute heute? Sie geben ihre PIN im Internet auf der Seite eines Drittanbieters ein. Sie machen also genau das, wovor man sie immer gewarnt hat, nämlich fahrlässig diese Geheimzahl herauszugeben. Das Umsetzungsgesetz greift dieses Problem auf. Wir fangen an, diesen Bereich neu zu regeln. Das heißt: Wenn sich ein Anbieter zwischen den Kunden und die Bank setzt, um Zahlungen, zum Beispiel in einem Onlineshop, abzuwickeln, dann muss dieser Anbieter auch reguliert werden, dann muss er die gleichen Sicherheitsanforderungen erfüllen wie eine Bank. Auch das greifen wir in diesem Umsetzungsgesetz auf, meine Damen und Herren. Ich glaube, wir werden in den weiteren Beratungen noch an der einen oder anderen Stelle wie immer ein bisschen herumschrauben. Aber mein Eindruck bis jetzt ist, dass wir da eine sehr gute Vorlage aus den beiden Ministerien bekommen haben und dass wir weit vor dem Januar 2018 zu einem Abschluss kommen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Zimmermann. – Ich schließe die Aussprache, bedanke mich für eine wirklich spannende Debatte – viel gelernt – und wünsche Ihnen gute weitere Verhandlungen im Ausschuss über diesen wichtigen Entwurf. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 18/11495 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine anderweitigen Vorschläge dazu. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Claudia Roth (Augsburg), Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechte indigener Völker stärken durch Ratifikation der ILO-Konvention 169 Drucksachen 18/4688, 18/11569 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an Frank Schwabe für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Frank Schwabe (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Was haben der Protest der Sioux gegen eine Ölpipeline in Dakota in den USA, die Proteste ecuadorianischer indigener Gemeinden gegen chinesische Investitionen, und der Mord an Berta Caceres aus Honduras, die als Angehörige der indigenen Volksgruppe der Lenca gegen ein Staudammprojekt gekämpft hat, gemeinsam? Das sind drei Beispiele dafür, wie die Rechte von mindestens 370 Millionen Indigenen weltweit gefährdet sind und wie sie missachtet werden. Damit das geändert wird, gibt es die ILO-Konvention 169. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Damit es da gar keine Missverständnisse gibt: Die Sozialdemokratische Fraktion ist dafür, dass wir diese Konvention ratifizieren, weil es eigentlich – das werden wir vielleicht in der Debatte hören –, inhaltlich jedenfalls, keine Argumente dagegen gibt. Reisen bildet. Der Deutsche Bundestag hat Ende des Jahres 2015 eine Delegation nach Mexiko und nach Peru entsandt. Der Kollege Tempel war zum Beispiel dabei. Wir haben uns dort intensiv mit der ILO-Konvention 169 auseinandergesetzt. Ich empfehle all denjenigen, die vielleicht noch nicht überzeugt sind, mit den Stiftungen der Parteien zu reden, zum Beispiel mit der Konrad-Adenauer-Stiftung. Diese hat uns sehr nachvollziehbar dargelegt, wie sinnvoll diese ILO-Konvention 169 ist und dass es sinnvoll ist, sie auch in Deutschland zu ratifizieren. Wie schützen wir die Rechte von Indigenen? Wie schützen wir die indigene Lebensweise? Wie schaffen wir es, dass Nachteile, die indigene Völker durch Großinfrastrukturprojekte, durch den Abbau von Rohstoffen haben, ausgeglichen werden? Wie bekommen wir es hin, dass Konflikte um das von vielen Indigenen als heilige Land empfundene Gebiet vernünftig gelöst werden können? Dafür bietet die ILO-Konvention 169 besondere Aushandlungs- und Entscheidungsinstrumente, mit denen man schauen kann, wie man bei solchen Großprojekten, zum Beispiel bei Staudämmen oder Ölpipelines, die Rechte Indigener sichert, wie man einen intelligenten Aushandlungsprozess hinbekommt. Deswegen macht die Ratifizierung jetzt Sinn. Die ILO-Konvention 169 ist das einzige völkerrechtlich verbindliche Dokument, das die Rechte von Indigenen anerkennt. Die UN-Sonderberichterstatterin für die Rechte indigener Völker Victoria Tauli-Corpuz drängt auf eine schnelle Umsetzung. Mittlerweile haben 22 Staaten weltweit die ILO-Konvention 169 ratifiziert, davon drei Staaten der Europäischen Union – die Niederlande, Dänemark und Spanien –, auch Norwegen, ein Nicht-EU-Land, aber ein europäisches Land. Auch Luxemburg ist auf dem Weg. Deswegen ist die Frage, warum Deutschland dies eigentlich nicht tun sollte, gerade vor dem Hintergrund, dass die deutsche Bundesregierung einen Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ verabschiedet hat, in dem diese Konvention genannt wird. Was den Bundestag betrifft, haben wir uns mit dem Thema oft beschäftigt. Es gibt einen Antrag von Rot-Grün, auf den sicherlich gleich noch einmal Bezug genommen wird, aus dem Jahre 2011. Wer den Antrag der Grünen liest, dem kommt vieles bekannt vor – aus dem Antrag von 2011. Wir haben einen ähnlichen Antrag formuliert, haben ihn dem Koalitionspartner schon zugeleitet. Es liegt am Ende an Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen des Koalitionspartners, ob wir im Deutschen Bundestag noch zu einer gemeinsamen Beschlussfassung kommen können. Der Bundesrat hat sich bereits klar positioniert und hat uns bereits im Jahr 2015 aufgefordert, einen solchen Ratifikationsprozess einzuleiten. Ich will aber auch sagen, dass wir Sozialdemokraten uns selbstverständlich an den Koalitionsvertrag gebunden fühlen und am Ende nur gemeinsam mit dem Koalitionspartner – und den Oppositionsfraktionen – zu einer solchen Entscheidung kommen können. Wir Sozialdemokraten – ich sage es noch mal – sind aber entschieden der Meinung, dass wir dem Wunsch des Bundesrates nachkommen und endlich – nach einem wirklich langen und zähen Prozess und zähen Diskussionen hier im Deutschen Bundestag über viele Jahre hinweg – diese Entscheidung treffen sollten. Die Bundesländer haben in ihrer Entschließung deutlich gemacht, dass es indigene Völker im Sinne der ILO-Konvention 169 in Deutschland gar nicht gibt. Das stimmt zweifellos. Dennoch tragen wir besondere Verantwortung für die indigenen Gruppen weltweit – gerade in den Ländern, in denen Menschen von Infrastrukturprojekten betroffen sind, die zum Beispiel von deutschen Unternehmen auf den Weg gebracht werden. So etwas haben wir zum Beispiel in Peru; da geht es um Kupferabbau und anderes. Insofern tragen wir eine besondere Verantwortung. Wir könnten also ein deutliches Zeichen setzen, ein Zeichen der Solidarität mit den indigenen Völkern in der Welt. Die Niederlande haben es gemacht, andere Länder haben es gemacht. Warum sollten wir das nicht können? Wir könnten ein Beispiel geben und unsere Glaubwürdigkeit untermauern. Gerade wenn Gruppen aus den entsprechenden Ländern zu uns kommen oder wir in diese Länder fahren, um dort für Menschenrechte zu werben, täte es unserer Glaubwürdigkeit und unserem Engagement gut, wenn wir sagen könnten: Ja, in Deutschland haben wir diese ILO-Konvention ratifiziert. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frank Schwabe. – Nächste Rednerin: Annette Groth für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Annette Groth (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frank, dann drücke ich doch die Daumen, dass ihr euren Koalitionspartner noch überzeugen könnt, diese wichtige Konvention zu ratifizieren. (Dr. Karamba Diaby [SPD]: Da helfen Sie mal!) Das wäre wirklich ein toller Akt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Macht mal!) Ich finde, es ist schon sehr schändlich, dass sich die Bundesregierung bislang immer geweigert hat, diese so wichtige Konvention zu ratifizieren. Denn es geht, wie schon gesagt, um den unglaublich wichtigen Schutz für indigene Völker. Viele wissen es ja nicht – du hast es gesagt –: 370 Millionen Menschen in 90 Staaten gehören indigenen Völkern an. In ihren Lebensräumen befinden sich mehr als 60 Prozent der weltweit begehrtesten Rohstoffe. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass die Weigerung der Bundesregierung dazu dient, wirtschaftliche Interessen der international agierenden Rohstoffkonzerne vor die Interessen der indigenen Völker zu stellen. Das ILO-Abkommen beinhaltet auch UN-Mindeststandards für die Konsultation indigener Völker, wenn Projekte auf ihrem Land umgesetzt werden sollen. Die Begründung der Bundesregierung für die Nichtratifizierung ist, gelinde gesagt, relativ lächerlich; denn als Grund wird angegeben, dass es auf dem deutschen Staatsgebiet keine indigenen Völker gebe und dass Deutschland daher von dem Abkommen nicht betroffen sei. Darum geht es aber nicht. Die Ratifizierung durch Deutschland würde dem Abkommen international mehr Gewicht verleihen, und die Regierung würde sich gleichzeitig verpflichten, in ihren Außenwirtschaftsbeziehungen die ILO-Konvention zu beachten. Wie gesagt: Dies würde aber die Rohstoffinteressen deutscher Konzerne berühren. Das scheint der eigentliche Hintergrund der Weigerung zu sein. Ich möchte hier zwei Beispiele nennen: Beispiel Amazonas. Durch den exzessiven Anbau von Soja, Mais und Zuckerrohr schrumpft der Amazonas-Regenwald immer schneller. Damit wird immer mehr Lebensraum von indigenen Völkern zerstört. Es entstehen riesige Monokulturen, deren Erträge dann als Futtermittel für die Massentierhaltung in den Staaten der EU oder für Biodiesel eingesetzt werden. Allein für die Massentierhaltung in Deutschland werden mehr als 10 Millionen Hektar Land außerhalb Deutschlands benötigt, um darauf die Futtermittel für die Turboschweine und die Hochleistungskühe zu produzieren. Würde Deutschland die ILO-Konvention ratifizieren, müssten diese Landzerstörung und der Landraub zumindest überprüft werden, wenn wir ihn schon nicht stoppen können. Beispiel Palmölanbau. Etwa 85 Prozent der weltweiten Palmölerträge kommen aus Indonesien und Malaysia. Von dem exzessiven Anbau von Palmöl sind Millionen Indigene betroffen. Für die Produktion des Palmöls werden riesige Urwaldflächen vernichtet und systematisch Menschen vertrieben. In Indonesien allein werden dabei die Menschenrechte von mehr als 45 Millionen Angehörigen indigener Völker verletzt. Das ist ein echter Skandal. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD]) Die ILO-Konvention sorgt für die Einhaltung der Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf kulturelle Selbstbestimmung indigener Völker. Die Bundesregierung sollte nicht nur diese Konvention dem Parlament zur Ratifizierung vorlegen, sondern sie müsste auch das deutsche Recht weiterentwickeln. Indigene Völker sollten ein verbrieftes Recht erhalten, in Deutschland gegen Investitionsentscheidungen vorgehen zu können, und hier Rechtsschutz erhalten, wenn sie den Klageweg beschreiten; das fordern Menschenrechtsorganisationen schon seit vielen Jahren. Damit könnte Deutschland ein positives Signal für eine gerechtere Weltwirtschaft setzen, und die brauchen wir dringend. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin Groth. – Nächste Rednerin: Sylvia Pantel für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Sylvia Pantel (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute beschäftigen wir uns im Bundestag zum wiederholten Male – wie Sie das eben auch gesagt haben – mit dem Thema der Ratifizierung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation zu indigenen Völkern. Als indigene Völker bezeichnet man die Nachfahren der Erstsiedler einer Region. Wir haben eben schon mehrfach gehört, dass es ungefähr 370 Millionen Indigene gibt, die in etwa 90 Staaten leben. Sie machen knapp 5 Prozent der Weltbevölkerung aus. Das ist schon eine beachtliche Zahl. (Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Von den 7 000 Sprachen, die weltweit existieren, werden mehr als 4 000 Sprachen von indigenen Völkern gesprochen. Die internationale Gemeinschaft hat sich den Schutz der Rechte indigener Volksgruppen, ihrer Kultur und ihres Lebensraums zur Aufgabe gemacht, um der Gefahr von Diskriminierung und Ausgrenzung entgegenzuarbeiten. Die Internationale Arbeitsorganisation hat bereits 1989 ein Übereinkommen zum Schutz indigener Völker verabschiedet. Eine mögliche Ratifizierung dieses Übereinkommens, der Konvention 169, wurde seitdem mehrfach geprüft. Bisher haben nur 22 der 187 Mitgliedstaaten der ILO dieses Übereinkommen ratifiziert. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht gut!) Bei den Unterzeichnern handelt es sich hauptsächlich um lateinamerikanische Länder mit einem hohen indigenen Bevölkerungsanteil. Das ist nur konsequent; (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) denn die ILO-Konvention 169 richtet sich eben an Staaten, auf deren Gebieten indigene Bevölkerungsgruppen leben. Das trifft auf Deutschland – wir haben es eben schon festgestellt – nicht zu. Das ist einer der Gründe, warum die Bundesregierung bisher davon Abstand genommen hat, das Übereinkommen zu ratifizieren; aber eben nur einer der Gründe. Bisher haben auch nur vier europäische Staaten – auch das wurde erwähnt – diese Konvention aus Solidaritätsgründen ratifiziert. (Dr. Karamba Diaby [SPD]: Können wir auch machen!) – Liebe Kollegen, Sie kennen doch die Realität. Sie wissen doch, dass selbst die Länder, die ratifiziert haben, die Rechte der indigenen Völker praktisch kaum beachten. (Dr. Karamba Diaby [SPD]: Das ist aber keine Erklärung!) – Es ist keine Erklärung, wie Sie sagen – mag ja sein –, aber es ist ein Beleg dafür, dass die Ratifizierung schlechthin keine Hilfe sein muss. Wir setzen uns anders für die Rechte der indigenen Völker ein. Wir halten es nicht für nötig, die Konvention zu unterzeichnen. Bereits im September 2007 hat die Bundesregierung bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit eindeutiger Mehrheit zusammen mit 143 von 158 Staaten für die Rechte indigener Völker gestimmt. Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin, erlauben Sie eine Frage oder Bemerkung von Herrn Ströbele? Sylvia Pantel (CDU/CSU): Ja. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Ströbele, bitte. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Frau Präsidentin. – Danke, Frau Kollegin, dass Sie die Frage zulassen. – Sie wissen vielleicht, dass in diesen Staaten Lateinamerikas sehr häufig die Rechte indigener Völker in der jeweiligen Verfassung verankert sind, es leider trotzdem mit der Wahrung dieser Rechte häufig nicht weit her ist – häufig, nicht immer natürlich. In diesem Zusammenhang meine Frage: Wir diskutieren heute nicht zum ersten Mal im Deutschen Bundestag über dieses Thema, sondern schon zum x-ten Mal. In Deutschland steht immer ein Diskussionspunkt im Raum – das war schon zur Zeit von Rot-Grün so –: Wir erkennen das nicht an, weil wir die Sorben im Land haben. – Ist Ihnen das bekannt? Teilen Sie die Sorge, dass die Sorben in Deutschland zu viele Rechte bekommen könnten, insbesondere was die von ihnen besiedelten Gebiete betrifft? Sylvia Pantel (CDU/CSU): Nein, diese Sorge teile ich nicht. Wenn Sie meinen Ausführungen bis zum Schluss lauschen, werden Sie eine Antwort auf diese Frage bekommen. Ich möchte meine Rede nicht zerrupfen. Ich werde diesen Aspekt aber behandeln. Wenn Sie danach noch Fragen haben, können Sie diese dann gerne stellen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Schauen wir mal. (Heiterkeit) Sylvia Pantel (CDU/CSU): Ich glaube, Fragen lassen Sie immer zu, oder? Verbindliche Standards zielen darauf ab, die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen zu sichern. Artikel 46 dieser Erklärung zählt die Schutzrechte der Indigenen ausführlich auf. Die große Zahl an Unterzeichnern, zu denen eben auch die Bundesregierung gehört, unterstreicht die besondere Wahrnehmung indigener Völker seitens der internationalen Gemeinschaft und die Wichtigkeit, die ihnen beigemessen wird. Die Bundesregierung setzt sich bei den Vereinten Nationen und in ihrer Zusammenarbeit mit anderen Regierungen permanent für die Verbesserung der Lage indigener Bevölkerungsgruppen ein. Unser Schwerpunkt liegt auf der Wahrung ihrer Rechte zur Kontrolle über ihre Einrichtungen, ihre Lebensweise, ihre wirtschaftliche Entwicklung, ihre Identität, Sprache und Religion. Wir unterstützen die zügige Umsetzung von Verfassungsvorschriften in den betroffenen Ländern sowie die Einbindung in die politischen Prozesse. Die deutsche Entwicklungspolitik ist entlang menschenrechtlicher Standards so ausgerichtet, dass die Stärkung und Unterstützung indigener Völker immer im Blickfeld ist. So fördert das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit über 28 Millionen Euro Projekte, die die Rechte indigener Völker stärken. Die Gesamtsumme der verschiedenen Förderprojekte liegt weitaus höher. Für den Erhalt und Ausbau interkultureller Universitäten Indigener werden über 6 Millionen Euro und für die Stärkung indigener Organisationen in Lateinamerika über 14 Millionen Euro investiert. Außerdem stärken wir indigene Völker in Honduras mit 30 000 Euro. Das heißt, es laufen verschiedene Projekte. Die Zahlen kann man nicht im Einzelnen ausweisen; aber die Bundesregierung macht da eine ganze Menge. Unsere Politik orientiert sich auch an den Leitlinien der Vereinten Nationen von 2011 zu Menschenrechten und Wirtschaft. Die OECD-Leitlinie für verantwortungsvolle Landpolitik ist ebenfalls Grundlage unserer Entwicklungspolitik. Die Liste ist lang. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat 2011 die Achtung der Menschenrechte indigener Völker mit dem Konzept „Menschenrechte in der deutschen Entwicklungspolitik“ ausdrücklich verankert. Zusätzlich unterstützt die Bundesregierung die Überarbeitung der Schutzstandards der Weltbank, um so einen besseren Schutz indigener Bevölkerungsgruppen zu erreichen. 2014 fand im Rahmen der UN-Generalversammlung zum ersten Mal eine Weltkonferenz indigener Völker statt. UN-Mitgliedstaaten und Vertreter indigener Völker nutzten diese Möglichkeit, um auf die Situation indigener Völker aufmerksam zu machen. Die Entwicklungspolitik in unserem Land unterstützt das Ziel der Konferenz, eindeutige Schritte für die Verwirklichung der Rechte indigener Völker einzuleiten. Eine wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung dieser Rechte ist die aktive Mitarbeit der indigenen Völker. All diese erwähnten Projekte der internationalen Gemeinschaft enthalten Rechte, die in wesentlichen Punkten über die ILO-Konvention 169 hinausgehen. Die Grünen – das sagten Sie eben – fordern in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, diese Konvention zu ratifizieren, obwohl sie wissen müssten, dass die Ratifizierung kaum etwas an der Situation der Indigenen vor Ort geändert hat. Bislang wurde diese Konvention von 22 der 187 ILO-Mitgliedstaaten ratifiziert. Allein diese Zahl zeigt, wie wenig davon erwartet wird. Ein Blick auf die Unterzeichnerliste lässt schnell erkennen, dass fast ausschließlich lateinamerikanische Länder die Resolution ratifiziert haben. Dies ist auch verständlich: Diese Konvention richtet sich nämlich in erster Linie an diejenigen Länder, in denen indigene Völker leben. Es leben natürlich auch indigene Völker in Ländern, die diese Konvention nicht ratifiziert haben. In Deutschland – das haben wir eben und auch schon mehrfach gesagt – leben eben keine. (Michael Brand [CDU/CSU]: Die Sorben!) Eine Ratifizierung durch die Bundesregierung wäre nur eine symbolische Geste und würde an der Situation indigener Bevölkerungsgruppen nur wenig ändern. Unserer Regierung geht es aber in erster Linie eben nicht um symbolische Gesten, sondern um konkrete Taten. Deshalb befürworten wir es nach wie vor, wenn die Länder mit indigenen Bevölkerungsgruppen diese Konvention ratifizieren – und eben nicht Deutschland. Die Berücksichtigung der Interessen indigener Völker ist seit Jahren nicht nur fester Bestandteil deutscher Entwicklungspolitik, sondern eben auch der Außen- und Wirtschaftspolitik. Um sich für die Rechte indigener Völker einzusetzen, bedarf es nicht der Ratifizierung. (Beifall des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]) In Deutschland leben Minderheiten, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, wie zum Beispiel die Friesen und Dänen im Norden und die Sorben im Osten sowie die Sinti und Roma im restlichen Gebiet der Bundesrepublik. (Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Schwaben in Berlin! – Heiterkeit) – Manchmal sind die Fähigkeiten der Schwaben gar nicht schlecht. Denn man muss ja gucken, dass man das Geld zusammenhält, damit man es für das Richtige ausgibt. (Heiterkeit) An dieser Stelle möchte ich auf unseren Ansatz der integrativen Minderheitenpolitik hinweisen. Er steht im Gegensatz zu dem segregativen Ansatz der Konvention. Auch aus diesem Grund halten wir die Ratifizierung weder für notwendig noch für sinnvoll. Sie führen das Argument an, Deutschland solle wie beispielsweise die Niederlande die Konvention aus solidarischen Gründen ratifizieren. Diese Möglichkeit hätten Sie – lieber Herr Ströbele, Sie hatten es angedeutet – bereits 1999 bis 2005 gehabt. Auch Sie hatten damals keine Solidarratifikation vorgenommen. (Michael Brand [CDU/CSU]: Innenminister Ströbele, das wäre ja zu schön gewesen!) Wir sind der Ansicht, dass sich die Situation der indigenen Völker durch die Ratifizierung dieser Konvention nicht verbessern würde. Wir erwarten eine Ratifizierung von denjenigen Ländern, in denen indigene Völker angesiedelt sind. Außerdem ist nicht die Ratifizierung, sondern sind die Achtung und die Einhaltung der Rechte der indigenen Völker wichtig. Da die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 durch Deutschland keine direkte Verbesserung bewirken würde, unterstützen wir die Vorgehensweise der Bundesregierung. Die Einhaltung der Rechte dieser Bevölkerungsgruppe ist erstrebenswert. Selbstverständlich unterstützen wir die Rechte der Minderheiten, und das zeigen wir in unserer umfangreichen Entwicklungshilfe und in Taten. (Beifall bei der CDU/CSU) Seit Jahrzehnten setzen wir uns in Deutschland erfolgreich für die Integration von Minderheiten ein. Wir setzen auf Integration und nicht auf Segregation. Deshalb ist der segregative Ansatz der ILO-Konvention aus unserer Sicht nicht erstrebenswert, und wir lehnen eine Ratifizierung ab. (Dr. Karamba Diaby [SPD]: Schade!) Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin Pantel. – Letzter Redner in dieser Debatte: Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen. Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Pantel, mit dem segregativen Ansatz – das ist ein Schmarren. Das ist auch diskutiert worden, und das ist ein absoluter Unsinn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Niemand geht davon aus. Sie sagen ja selbst, dass wir affirmative, positive Programme mit den indigenen Minderheiten machen, und da machen wir eine ganze Menge. Das freut mich, und das unterstützen wir auch, wenn es von der Bundesregierung gemacht wird. Die ILO-Konvention gibt aber Rechte, und das ist etwas ganz anderes. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Sylvia Pantel [CDU/CSU]: Die würdet ihr nicht geben!) Wenn man ein romantisches patriarchalisches oder matriarchalisches Verhältnis zu den Indigenen hat – nicht? 94 grüne Bände von Karl May, Lex Barker und so etwas –, dann sagt man: Es reicht ja, dass wir so gnädig sind und dass wir so viele Programme haben. Hier geht es aber um Rechte der indigenen Völker. Diese Rechte verlangen diese Völker seit der Kolonialisierung, und zwar sowohl der militärischen, der Conquista, als auch der wirtschaftlichen. Diese Völker sind nach wie vor in hohem Maße diskriminiert. Dieses Hohe Haus hat ja schon einmal beschlossen, die Bundesregierung zur Ratifizierung aufzufordern. Das war 2002. In den verschiedenen Wahlperioden mussten dann die unglückseligen Rednerinnen und Redner der SPD immer begründen, warum sie das entweder bei ihren Wirtschaftsministern und Finanzministern – alles SPD-Genossen – oder beim Koalitionspartner nicht durchsetzen konnten. Die Beschreibung, die du gibst, Frank, ist ja völlig richtig; aber es fehlt doch irgendetwas. Karin Roth, Esslingen, fand dazu 2011 bewegende Worte. Dies sei politisch folgerichtig und wichtig. Bis heute betonen Bischöfe gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur, zum Beispiel der brasilianische Kardinal Claudio Hummes heute, dass die Einhaltung der Menschenrechte der indigenen Völker in den Amazonas-Gebieten notwendig ist und dass sie notleidend sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt aber nicht nur diese Fürsprecher. Ich denke an den Bundesrat. Manche Ihrer Rednerinnen und Redner haben sich ja bei anderer Gelegenheit darüber beklagt, dass die Genossen oder Regierungen in den Ländern nicht dabei sind. Jetzt sind sie dabei. Jetzt lässt sich also die Gelegenheit nutzen. Es gibt auch eine Bürgervereinigung bzw. eine Vereinigung von Personen, die den ökologischen Wert, die ökologische Bedeutung der indigenen Völker für uns betonen. Das ist das Klima-Bündnis. Dieses Bündnis verbindet 1 716 europäische Gemeinden mit einer Bevölkerung von 54 Millionen im Sinne des Klimaschutzes. Die Indigenen sind die besten Klimaschützer, die wir haben. Deshalb lohnt es sich, diese nicht nur aus Solidarität zu unterstützen, sondern auch, weil unsere Unternehmen in den indigenen Gebieten dieser Länder arbeiten, zum Beispiel in Cesar in Kolumbien, wo wir garzweilerartig Kohleabbau durch Abnahme fördern. Es gibt Unternehmensverpflichtungen, die dann einzulösen wären. Es gibt Rechte, die auch gegenüber uns wirken könnten. Dieses ökologische Element, dass es keine besseren Verteidiger gegen die Abholzung des Regenwaldes als die indigenen Völker gibt, muss man doch sehen; Sie sehen es leider nicht. In diese Richtung geht die Konvention. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich finde, nachdem wir so oft darüber diskutiert haben und dieses Thema so viele Sonntags-, Montags-, Dienstags-, Mittwochs- und Donnerstagsreden gefüllt hat, sollte man zumindest das ökologische Argument dann doch mal ernst nehmen. Der SPD kann man sagen: Als ihr die Minister gestellt habt, habt ihr es nicht durchbekommen, obwohl ihr mit uns in einer Koalition wart. Als ihr in der Opposition wart, habt ihr mit uns Anträge gestellt. Auch in der jetzigen Koalition bekommt ihr es nicht durch. Ich möchte daran erinnern, dass etwas fehlt. Gestern haben wir alle in diesem Hohen Hause den großen Reden der Präsidenten gelauscht. Das war toll. In allen Reden hat eines vollkommen gefehlt, obwohl der Entwurf für die Entwicklung der Welt sehr umfassend war: die Umwelt. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) Diese brauchen wir aber für unsere Zukunft. Deshalb brauchen Sie die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch die SPD braucht die Grünen. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Aber nicht Schwarz-Grün! Da gibt es auch noch andere Konstellationen!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Tom Koenigs. – Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Rechte indigener Völker stärken durch Ratifikation der ILO-Konvention 169“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11569, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4688 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen gibt es nicht. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 14 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verarbeitung von Fluggastdaten zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/681 (Fluggastdatengesetz – FlugDaG) Drucksache 18/11501 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Günter Krings. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Es hat lange gedauert und großen Einsatzes gerade des deutschen Innenministers, von Thomas de Maizière, bedurft, aber schließlich hat die Europäische Union doch geliefert. Im Mai letzten Jahres ist die europäische Richtlinie über die Verwendung von Fluggastdaten endlich in Kraft getreten. Am Ende hat auch eine Mehrheit des Europäischen Parlaments eingesehen, dass wir die Fluggastdaten aus dem grenzüberschreitenden Luftverkehr dringend brauchen, um Terrorismus und schwere Kriminalität besser, wirksamer bekämpfen zu können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD]) Gestern wurde uns mit dem bestialischen Anschlag vor dem britischen Parlament erneut in Erinnerung gerufen, wie notwendig wirksame Waffen – ich verwende bewusst den Plural; denn nicht ein Instrument ist für alle Probleme geeignet – im Antiterrorkampf sind und dass wir unser Instrumentarium immer entsprechend anpassen müssen, wenn wir Lücken entdecken. In der vergangenen Woche haben wir in Paris zum wiederholten Male gesehen, dass der Flugverkehr und die Flughäfen selbst nach wie vor besonders attraktive Ziele für Terroranschläge abgeben. Vor allem aber nutzen international vernetzte Terrorgruppen und natürlich auch die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität den internationalen Flugverkehr, um ihre dunklen Netzwerke aufzubauen und ihre Anschläge zu planen. Es ist unerlässlich, dass wir die Reisewege von Terrorgefährdern und Kriminellen nachvollziehen können, um diese gefährlichen Netzwerke aufspüren und möglichst zerschlagen zu können. Deshalb ist es gut, dass wir diese Richtlinie haben. Aber natürlich wirkt sie nur, wenn Deutschland als größter EU-Mitgliedstaat sie nun auch zügig in nationales Recht umsetzt und sie damit überhaupt erst wirksam macht. Den Sicherheitsbehörden wird ein neues Instrument an die Hand gegeben, das den bereits bestehenden europaweiten Austausch von Erkenntnissen zu verdächtigen Personen sinnvoll ergänzt. Dieses neue Instrument ermöglicht den Behörden unter anderem, bereits bekannte Personen durch einen Abgleich von Fluggastdaten mit Fahndungsbeständen zu identifizieren, bevor diese Personen die Bundesrepublik Deutschland mit einem Flugzeug verlassen oder hier landen. Erforderliche Maßnahmen können so durch die zuständigen Sicherheitsbehörden rechtzeitig vorbereitet werden. Durch die Auswertung von Fluggastdaten wird es zudem möglich sein, Beweismaterial zusammenzutragen und mögliche Komplizen von Straftätern aufzuspüren. So kann zum Beispiel im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen eine terrorverdächtige Person durch einen Abgleich von Fluggastdaten mit ihren Personalien nachvollzogen werden, ob und wann sie sich in Kriegsgebiete begeben hat, etwa zur Ausbildung oder um dort an Kampfhandlungen teilzunehmen. Zugleich kann nachvollzogen werden, ob andere Personen zur gleichen Zeit die gleichen – möglicherweise sehr ungewöhnlichen – Reiserouten gewählt haben. Meine Damen und Herren, diese Richtlinie beweist zugleich – das ist mir besonders wichtig –, dass sich ein großer Gewinn an Sicherheit durchaus mit einem hohen Datenschutzniveau verknüpfen lässt. In diesem Geiste erfolgt nun auch die Umsetzung in das deutsche Recht. Der Datenschutzbeauftragte des Bundeskriminalamts und die Bundesdatenschutzbeauftragte werden bei der Verarbeitung der Fluggastdaten eine zentrale Rolle spielen. Darüber hinaus enthält der Entwurf verschiedene Verfahrensregeln zum Schutz personenbezogener Daten. Ich will als Beispiel nur die Depersonalisierung von Daten nach einer gewissen Frist, aber auch die vollständige Protokollierung und Dokumentierung der Verarbeitung von Fluggastdaten nennen, durch die das behördliche Handeln nachvollzogen werden kann. Meine Damen und Herren, mit dem Entwurf des Fluggastdatengesetzes werden wir ein wichtiges neues Instrument zur Bekämpfung von Terrorismus und schwerer Kriminalität schaffen. Europa ist in Sicherheitsfragen inzwischen ein wichtiger und starker Akteur geworden. Das begrüße ich ausdrücklich; denn sowohl für den Schutz vor Terror und organisierter Kriminalität als auch für den Datenschutz brauchen wir eine europaweite vertrauensvolle Zusammenarbeit. Für uns ist es wichtig, dass wir die Sicherheitsstandards, die die Europäische Union damit setzt, zügig in nationales Recht umsetzen; denn in Europa darf es keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit geben. (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist übrigens auch der Grund – das darf ich noch ergänzen –, warum wir den Beschlüssen des Europäischen Rates bewusst folgen und diese Fluggastdaten nicht nur bei transkontinentalen Flügen, sondern auch bei Flügen innerhalb Europas verarbeiten. Ich bitte um eine ebenso intensive wie zügige Beratung und Verabschiedung dieses wichtigen Gesetzentwurfes. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Krings. – Nächster Redner: Jan Korte für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jan Korte (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Krings, genau das, was Sie gerade vorgetragen haben, bringt nach unserer Auffassung eben nicht mehr Sicherheit, sondern ist eine Simulation von Sicherheit. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die schrecklichen Anschläge haben gezeigt – das ist eines der Hauptprobleme –, dass ein Großteil der Täter dort aufgewachsen ist, oftmals in kleinkriminellen Milieus; auch in London war es, wie wir heute erfahren mussten, ein britischer Staatsbürger. Das, was Sie hier vorschlagen, ist doch eine Simulation von Sicherheit. Was wir brauchen, sind gut abgestimmte Deradikalisierungsprogramme und Präventionsmaßnahmen auf europäischer Ebene. Das wäre der richtige Weg. (Beifall bei der LINKEN – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Tun wir beides!) Das Problem ist, dass es hier wieder einmal um eine Vorratsdatenspeicherung geht, also um eine anlasslose und lückenlose Datenspeicherung von Fluggastdaten. Auch wenn Sie unsere grundsätzlichen Bedenken dazu nicht teilen, will ich zumindest einen Verfahrensvorschlag machen. Im Jahre 2016 gab es bekanntermaßen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung mit Blick auf die Kommunikationsdaten. Das Urteil – kurz zusammengefasst – war mehr als deutlich: Diese Speicherung war nicht mit der europäischen Grundrechtecharta vereinbar. Wir haben zur Umsetzung der Richtlinie bis 2018 Zeit. Warum können wir denn nicht seriöserweise abwarten, wie das EuGH zu dem PNR-Abkommen zwischen der EU und Kanada urteilen wird? Es wäre doch das Mindeste, das abzuwarten, um auf der sicheren Seite zu sein. Ich kann das nicht verstehen. Das ist unseriöse Politik. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marian Wendt [CDU/CSU]: Warten bis zum nächsten Anschlag!) Zur Grundproblematik des Gesetzentwurfs, den Sie hier heute vorgelegt haben, will ich den Deutschen Richterbund zitieren. Er sagt, wie ich finde, prägnant zusammengefasst: Bei den gesammelten Daten handelt es sich um sensible und umfassende persönliche, finanzielle als auch soziale Informationen der Fluggäste, so dass ein ganz erheblicher Eingriff in die grundrechtlich geschützten Interessen der Betroffenen hinsichtlich ihrer informationellen Selbstbestimmung stattfindet. So sieht es aus. Deswegen lehnen wir das, was heute vorgelegt wird, ab. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen das Ganze doch einmal ganz praktisch weiterdenken. Angesichts der Gefahr des internationalen Terrorismus muss es doch der Grundsatz sein, nicht alle Mittel, die möglich sind, auch voll auszuschöpfen. Der Zweck heiligt doch nicht die Mittel. Wir müssen darüber nachdenken, was passiert ist und was noch passieren kann und müssen uns dabei ganz praktische Fragen stellen. Was ist denn, wenn Terroristen und Gefährder, die etwas planen, gar keine Flugzeuge mehr benutzen, weil sie mitbekommen haben, dass diese am meisten überwacht werden? (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Dann hat es etwas gebracht!) Sie fahren dann mit dem Auto über die Grenze, Kollege Binninger. Was ist in dieser Logik das Nächstbeste? Wird dann in jedes Auto ein Chip installiert, um zu kontrollieren, wann die Bürger der Europäischen Union nach Frankreich oder sonst wohin fahren? Das kann doch nicht die Logik in einer demokratisch verfassten Europäischen Union sein. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Sie sprechen heute zu einem ernsten Thema! Dem wird Ihr Beitrag nicht gerecht!) Was ich nun wirklich für ein sicherheitsrelevantes Problem halte – dazu kommt von Ihnen überhaupt gar nichts –, ist die Situation an deutschen Flughäfen. Ich erinnere nur an die ungenügenden Fluggepäckkontrollen. Bei Tests im Rahmen der Europäischen Union konnte man ganze Handgranaten in die Flugzeuge mitnehmen. Ich frage mich: Was machen Sie da? Wir haben ein wirklich großes Problem, nämlich die Privatisierung von Sicherheitsdienstleistungen. Früher wurde diese Arbeit von top ausgebildeten Bundespolizisten gemacht; nun ist dies an private Sicherheitsdienstleister ausgegliedert worden. Das müssen wir rückgängig machen. Das ist sicherheitsrelevant, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der LINKEN) Ich finde, das, was Europa so verteidigenswert macht, die Freizügigkeit, die Möglichkeit, einen Raum zu haben, der im Großen und Ganzen frei von Überwachung ist, sollten wir in Zeiten der Bedrohung durch den Terrorismus nicht leichtfertig aufgeben. Deswegen glaube ich, dass das, was Sie machen, der völlig falsche Weg ist und ein falsches Zeichen für ein freies Europa. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Jan Korte. – Nächster Redner: Wolfgang Gunkel für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wolfgang Gunkel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst den Hinterbliebenen der Opfer des Londoner Anschlags mein Beileid ausdrücken. Es war erschütternd, zu sehen, wie schnell uns das Thema wieder einholt, was das Erleben und Bekämpfen von Terrorismus angeht. Insofern ist es natürlich schwer, am vorliegenden Gesetzentwurf etwas zu kritisieren. Ich will aber trotzdem einige Schwachstellen aufzeigen. Herr Krings, Sie haben den großen Rahmen vorgegeben und erläutert. Der Kollege Korte hat darauf hingewiesen, dass es auch entscheidend sein kann, hier etwas zurückzustecken. 2004 wurde ein Gesetz beschlossen, nach dem wir mit API-Daten, die von der Bundespolizei erhoben werden, ausgestattet werden. Dieses Personalienpaket reicht nach unserer Auffassung vollkommen aus als Grundlage zur Bekämpfung des Terrorismus. Die Erweiterung der Regelungen ist nach meiner Ansicht sehr großzügig ausgefallen. Beispielsweise verstehe ich nicht, warum man zur Bekämpfung des Terrorismus den Namen der Sachbearbeiterin im Reisebüro benötigt. Aber das ist nur ein Punkt. An und für sich geht es nicht darum, die Speicherfristen anzugreifen oder Ähnliches. Es ist sicher richtig, dass man vor Abflug wissen muss, wer im Flugzeug sitzt und wer unter Umständen als Gefährder angesehen werden kann. Insgesamt hätten wir es gut gefunden, wenn das Ganze etwas weniger komfortabel ausgefallen wäre. An der Umsetzung dieser Richtlinie werden wir aber nicht vorbeikommen. Insofern will ich das an dieser Stelle so stehen lassen. Des Weiteren ist interessant, wie man die Verknüpfung zu den anderen Daten herstellen will. Ich weise hier insbesondere auf das Schengener Informationssystem II hin. Man kann feststellen, dass vier europäische Staaten überhaupt nicht involviert sind, nämlich Rumänien, Bulgarien, Kroatien und Zypern. Das heißt, schon da entstehen erhebliche Sicherheitslücken. Zudem werden die Schengener Informationssysteme mithilfe biometrischer Daten aufgerüstet. Ich frage mich, wie das in der PNR-Gesetzgebung Berücksichtigung findet und wie die Daten abgerufen werden sollen. Diese sich abzeichnenden Sicherheitslücken könnten doch von Bedeutung sein. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Bundespolizei, die nach § 31a des Bundespolizeigesetzes bisher die Daten erhoben hat, Bestandteil dieses neuen Systems wird. Ich war der Auffassung, dass es vielleicht gar nicht so schlecht gewesen wäre, wenn man diese Aufgabe bei der Bundespolizei belassen hätte, anstatt eine neue Behörde damit zu beauftragen, die erst anfangen muss, dieses System aufzubauen. Die Erfahrungen, die die Bundespolizei mit dem Gesetz gemacht hat – das ist entscheidend –, liegen vor. Im Jahr 2015 sind bei 100 000 Flugdaten insgesamt 550 000 Euro an Gebühren für Ordnungswidrigkeiten angefallen. Das bedeutet also, dass bei immerhin 1 100 Flügen, wenn man 500 Euro als Mindeststrafe nimmt, keine Daten übermittelt worden sind. Jetzt hat man sich für das INPOL-System entschieden, was richtig ist; alles andere wäre datenrechtlich noch problematischer gewesen. Das bedeutet also, dass man, wenn man dies verhindern will, sehr stark auf Außenhilfe, nämlich auf die Fluggesellschaften, angewiesen ist. Ich glaube, das ist einer der Punkte, die man noch einmal überdenken muss. Insgesamt gesehen kommt zum Tragen – der Richterbund ist schon zitiert worden; ich will das nicht wiederholen –, dass wir neben dem, was bei SIS II und den anderen Datenschutzsystemen herauskommt, am Ende doch einige Unsicherheiten haben, und die sind natürlich auch für die Folgezeit von Bedeutung. Ich will daran erinnern, dass wir noch eine Anhörung haben werden. Ich weiß, dass dies nicht viel ändern wird. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, bitte!) Das Gesetz kommt so, wie es vorgesehen ist. Das war schon immer so; daran hat sich nicht viel geändert. Es ist aber interessant, zu hören, was die Experten dazu sagen werden. Ich glaube, daraus kann noch die eine oder andere Erkenntnis erwachsen. Vielleicht gelingt es ja, hier noch die eine oder andere Veränderung vorzunehmen. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Eben!) Ich will noch etwas zu den Datenschutzbestimmungen sagen. Wir haben schon einmal kurz darüber gesprochen. Es ist der Hinweis auf die Drittstaatenregelung, die ich noch einmal anführen will. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum BKA-Gesetz gesagt: An Staaten, die menschenrechtswidrige Verhältnisse haben oder die nicht sicherstellen können, dass mit einem erheblichen datenrechtlichen Standard mit den Daten umgegangen wird, sollte nicht übermittelt werden. – Auch das ist eine Frage der Interpretation. Ihr verweist immer auf die §§ 78 bis 80 Datenschutzgesetz, in denen das drinstehen soll. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Steht ja auch drin!) Das ist alles gut und schön; aber bei den Begriffen gibt es Interpretationsmöglichkeiten. So kommt es auf denjenigen an, der entscheidet, wer was übermitteln darf, wer beispielsweise Menschenrechte verletzt oder wer nicht datenrechtliche Standards voraussetzt, wie wir hier in Europa. Wer Daten abgibt, der hat die Kontrolle darüber verloren. Das sind die Punkte, die ich hier noch einmal anführen wollte. Es ist klar, dass wir in der derzeitigen Lage nicht gegen diesen Gesetzentwurf sprechen können. Wir werden ihn natürlich befürworten. So wird die SPD-Fraktion diesem Gesetzentwurf zustimmen. Schönen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Damit habe ich nicht mehr gerechnet!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Wolfgang Gunkel. – Nächster Redner: Dr. Konstantin von Notz für Bündnis 90/Die Grünen. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Jetzt kommt ein Befürworter!) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Unionsfraktion war richtig froh, dass das eben noch ein so gutes Ende genommen hat. Trotzdem: Der Kollege hat viele sehr kritische Dinge aufgezählt. Die von Ihnen umzusetzende Richtlinie, die jetzt mit diesem Umsetzungsgesetz hier aufschlägt, war schon im Europäischen Parlament hochumstritten. Die juristischen Dienste sowohl des Rates der EU als auch des Europäischen Parlaments halten sie bis heute für rechtswidrig, und wir auch. Deswegen sagen wir Nein, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Verdachtsunabhängig werden in Ihrem Entwurf von allen Bürgerinnen und Bürgern, auch von Ihnen, wenn Sie in ein Flugzeug steigen, 60 Datenkategorien gespeichert, darunter sämtliche Kontaktangaben, Sitzplatz, Gepäck bis hin zu den Sachbearbeiterinnen des Reisebüros. Aber natürlich lassen Sie als Große Koalition selbst ein solches Gesetz nicht so, wie es ist, sondern satteln noch einmal anständig drauf; (Zuruf von der CDU/CSU: Zur Sicherheit!) denn während die EU-Richtlinie die Speicherung der Fluggastdaten nur von aus der EU und in die EU gehenden Flügen vorschreibt, planen Sie zusätzlich die Speicherung von Flugdaten innerhalb der EU. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Richtigerweise! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) Sammeln soll diese Massendaten eine beim BKA angesiedelte Zentralstelle. Allein die Errichtung dieser Stelle soll sage und schreibe 78 Millionen Euro kosten. Der laufende Betrieb wird mit mindestens weiteren 65 Millionen Euro pro Jahr veranschlagt. (Zuruf von der CDU/CSU: Sicherheit kostet Geld!) Da kann man nur sagen: Die Umsetzung ist auch vor diesem Hintergrund absurd; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) denn das PNR-Abkommen der EU mit Kanada – das hat der Kollege Korte zu Recht angesprochen – liegt derzeit zur Überprüfung beim EuGH, und es ist sehr wahrscheinlich bei all den Bedenken, die es gibt, dass das Abkommen und damit auch die Richtlinie in vielen Punkten eben nicht mit den Grundrechten der EU und auch nicht mit unserem Grundgesetz vereinbar ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das zeigt, wie übereilt Sie agieren und wie teuer das für uns werden kann. Insgesamt wird hier die Widersprüchlichkeit Ihres Agierens deutlich. Sie tun die Fragen, über die wir reden, gerne als lästigen und nicht mehr zeitgemäßen Datenschutz ab, weil Sie offenbar nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, dass es um den Kernbereich unserer Verfassung geht, um Menschenwürde, Persönlichkeitsrechte und Privatsphäre. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Es hilft niemandem, wenn wir wie gestern zwei Bundespräsidenten gemeinsam beklatschen, einen neuen und einen scheidenden, wenn diese Präsidenten zu Recht fordern, wir müssten gerade jetzt, in diesen schwierigen Zeiten unsere Freiheit, unsere offene Gesellschaft und unseren Rechtsstaat verteidigen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) wenn Sie von der Großen Koalition im Wochentakt verfassungswidrige Gesetzentwürfe vorlegen. Das ist hoch widersprüchlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Im Wochentakt?) Erst letzten Dezember hat der EuGH zum wiederholten Male die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten für ungültig erklärt. In seinem Schlussplädoyer bezeichnet der Generalanwalt das Abkommen als unvereinbar mit EU-Grundrechten. Die massiven Probleme bei dieser Form der Vorratsdatenspeicherung sind evident – Sie wissen das zwar schon alles, aber ich sage es Ihnen noch einmal –: Erstens entstehen unkalkulierbare Risiken, wenn Sie solche riesigen Datenmassen anhäufen; denn man kann sie nicht sicher speichern. Zweitens entstehen höchst problematische sogenannte Chilling-Effekte, die unsere Unbefangenheit und Freiheit, einen Kernwert unserer Gesellschaft, bedrohen. Das sagen nicht nur wir Grünen, das sagen Ihnen auch Verfassungsrichter, aber Sie wollen nicht hören. Sie kennen die Argumente. Sie kennen auch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Dennoch verabreichen Sie unserem Rechtsstaat erneut eine Dosis Gift fortschleichender Präventivüberwachung. Sie konzentrieren sich eben nicht, Herr Kollege Binninger, auf Personen, die verdächtig sind. Das hat sich gestern in London wieder gezeigt. Es war wieder jemand, den man auf dem Zettel hatte. Sie schaffen Datenberge von uns allen, von 80 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern. Deswegen machen wir nicht mit. Ganz herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Konstantin von Notz. – Der letzte Redner in dieser Debatte ist der schon angesprochene Clemens Binninger für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD]) Clemens Binninger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich fürchte, meine Redezeit wird nicht ganz reichen, um all das auszuräumen, was wieder einmal reflexartig in den Raum geworfen wurde. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das waren nur vier Minuten!) Wenn Sie ernsthaft von Gift für den Rechtsstaat sprechen, dann liegen Sie ziemlich daneben, Kollege von Notz. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD] – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie beweisen! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warten wir mal auf das nächste Verfassungsgerichtsurteil!) Aber vielleicht der Reihe nach; dann vergesse ich auch keinen. Kollege Korte, Sie haben recht: Wir müssten einiges für die Deradikalisierung tun. (Beifall des Abg. Frank Tempel [DIE LINKE]) Das gehört zu einem Konzept dazu. Das gilt auch für Gefängnisse, wo neue Radikalisierung stattfindet. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Das ist richtig! Da sind wir uns einig!) Das wird einer der Schwerpunkte sein, die wir angehen müssen. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Da machen wir mit!) Aber selbst wenn wir etwas für die Deradikalisierung tun, heißt das nicht, andere unsichere Flanken nicht zu schließen. Es gehört beides dazu. Das ist der Unterschied. Es geht darum, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Wir tun beides, und deshalb ist es richtig. Kollege von Notz, Sie sagen, wir gingen wieder einmal über die Richtlinie hinaus und erfassten auch Flüge innerhalb von Europa. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Ja, völlig zu Recht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wie kommt man dazu, ernsthaft zu glauben, Terrorverdächtige reisten aus den USA nach Europa oder umgekehrt, aber nicht von Madrid nach Berlin? Mir ist die Sicherheit der Flüge innerhalb von Europa genauso wichtig. Deshalb nehmen wir sie mit auf. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Man kann doch nicht sagen, dass sie uninteressant sind. Kollege Gunkel, deine Sorge war: Was passiert mit den Daten, die wir an Drittstaaten außerhalb der EU übermitteln? Es ist wahr: Das ist eine Entscheidung, die abgewogen werden muss. Aber wir haben zwei Sicherungssysteme: zum einen den Bezug auf das Bundesdatenschutzgesetz, und zum anderen haben wir im gesamten Gesetz ein so hohes Datenschutzniveau eingezogen, dass jede einzelne dieser Übermittlungen an einen Drittstaat außerhalb der EU dem Datenschutzbeauftragten des BKA mitgeteilt werden muss, der das dann noch einmal prüfen kann. Wir haben also zwei Sicherungsebenen eingezogen. Ich sehe an der Stelle wirklich keine Bedenken. Die Debatte über die PNR-Daten bzw. das Fluggastdatenabkommen läuft schon eine gewisse Zeit. Zu Beginn wurde zu Recht kritisiert, dass es sich um weit mehr als 30 Merkmale handelt; sogar Daten zum Essen wurden erhoben. Aber viele Merkmale sind nicht mehr drin. Es gibt jetzt 19 Merkmale – das zwanzigste ist nur ein Folgemerkmal –, die sich fast ausschließlich auf die Reise, den Reisenden, sein Gepäck und seine Mitreisenden beziehen. Das macht auch Sinn; denn wir wollen wissen, wer nach Deutschland kommen will, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit wem ich dahin reise?) bevor eine gefährliche Person die Grenze übertritt und wir dann die Kontrolle verlieren. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es doch überhaupt nicht, Herr Binninger!) Es geht nicht nur um Terrorismusbekämpfung, sondern auch um die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, des Waffenhandels, des Rauschgifthandels und des Menschenhandels. Wir brauchen die entsprechenden Daten, um zu erkennen, wie sich Täter bewegen, und um Netzwerke zu entdecken. Es besteht die Möglichkeit, die Daten mit Mustern abzugleichen. Auf diese Muster hat auch der Datenschutzbeauftragte Zugriff. Sie dürfen nur mit ihm zusammen erstellt werden. So erreichen wir beides: Wir erkennen Netzwerke und gewährleisten gleichzeitig ein hohes Datenschutzniveau. Das ist ein guter Mittelweg. Es gibt keinen Grund, Kollege von Notz, so zu skandalisieren und mit der immer gleichen reflexartigen Behauptung zu argumentieren, die Freiheitsrechte seien massenhaft gefährdet. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen die Gerichte, Herr Binninger!) – Jetzt sage ich, was ich sagen will. – Ich habe Angst, dass Terroristen in ein Flugzeug steigen. Ich werde alles dafür tun, dass das nicht passiert. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, gut!) Das ist meine Sorge. Wir sorgen uns um die Sicherheit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Jeder, der ein Flugzeug besteigt – gerade wir Abgeordnete tun das sehr oft – und irgendwohin fliegt, wird froh sein, zu wissen, dass die Daten der Passagiere, die mit an Bord sind, zuvor von einer Sicherheitsbehörde überprüft wurden, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht der Punkt! Sie wollen sie jahrelang speichern! Darum geht es!) um zu verhindern, dass Kriminelle, Terrorverdächtige oder andere gefährliche Personen mitfliegen. Dafür wird jeder dankbar sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich will auch nicht, dass solche Leute in die S-Bahn steigen!) Angesichts dessen ist die Aussage, die Freiheit sei eingeschränkt, weit hergeholt. Herr von Notz, ich habe Ihren Zuruf nicht gehört. Wenn Sie ihn wiederholen, reagiere ich darauf. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch nicht darum, dass die Leute ihre Angaben machen, wenn sie in ein Flugzeug steigen, sondern es geht darum, dass Sie es jahrelang speichern! Darum geht es!) – Vielen Dank, ich hätte sonst die Sorge um die lange andauernde Speicherung fast vergessen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der Punkt!) – Einen Moment! Nur zuhören! Ich habe bei Ihrem Zuruf extra auf Repeat gedrückt. Jetzt kann ich antworten, und die Präsidentin gibt mir zehn Sekunden mehr Zeit. (Heiterkeit) Wir speichern die Daten offen gerade einmal sechs Monate. Sechs Monate! Dann werden sie entpersonalisiert und anonymisiert. Sie bleiben dann als Blackbox – für niemanden sichtbar – länger gespeichert; fünf Jahre sind es nicht. Aber niemand kann die Daten mehr erkennen. Nur sechs Monate sind die Daten sichtbar. Wenn man dann auf die Blackbox zugreifen will, braucht man eine neue Befugnis, einen konkreten Grund bzw. „Anfasser“. Von einer massenhaften und unkontrollierten Speicherung sind wir jedenfalls weit entfernt. Es ist ein gutes Gesetz, das die Sicherheit verbessert. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich hoffe, dass ihr von der SPD das auch tun werdet. Ihnen, meine Damen und Herren von den Grünen, rate ich es. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Clemens Binninger. – Damit schließe ich die Aussprache. Herr Gunkel, ich wünsche Ihnen eine inspirierende Anhörung. Wir beschließen ja öfter Anhörungen. Diese sollten schon eine Funktion haben. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/11501 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Danke für die lebendige Debatte. Das ist Demokratie. Bleiben Sie dabei! Es geht spannend weiter. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Jürgen Trittin, Katja Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verhandlungen über einen Atomwaffenverbotsvertrag aktiv unterstützen Drucksache 18/11609 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wenn sich die Kollegen entschieden haben, ob sie dabei sein wollen oder nicht, eröffne ich gerne die Aussprache. – Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Rednerin Inge Höger für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Inge Höger (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einem Zitat: Solange nukleare Waffen existieren, besteht ein reales Risiko, dass sie eingesetzt werden, mit Absicht oder durch Zufall. Die Menschheit habe bislang mehrmals sehr viel Glück gehabt, dass es nicht zu einer atomaren Katastrophe gekommen ist. Im Zitat heißt es weiter: Aber können wir uns weiter auf unser Glück verlassen? Diese Aussage stammt von Sebastian Kurz, dem Außenminister Österreichs. Österreich hat sich in den letzten Monaten mit vielen anderen nicht paktgebundenen Staaten für Verhandlungen über ein Verbot von Nuklearwaffen eingesetzt. Bereits nach der Explosion von Atombomben in Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkrieges forderte die UNO im Januar 1946 die Abschaffung von Atomwaffen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trump sieht das anders!) Erst 1968 wurde dann der Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet. Er erlaubt den Atomwaffenmächten, ihre Bomben zu behalten, verpflichtet sie aber zur Abrüstung und die Nichtnuklearwaffenstaaten darauf, keine Nuklearwaffen zu erwerben. Trotz Atomwaffensperrvertrag beharren die offiziellen Atommächte seit Jahrzehnten auf dem Besitz von Nuklearwaffen. Sie widersetzen sich ernsthaften Verbotsverhandlungen. Die letzten Überprüfungskonferenzen über die Nichtverbreitung von Atombomben scheiterten an dieser Haltung. Selbst die vor Jahren beschlossenen Verhandlungen über einen Nahen Osten ohne Massenvernichtungswaffen wurden nicht aufgenommen. Nach wie vor gibt es weltweit über 15 000 Atombomben, und aktuell sollen sie sogar modernisiert werden, auch die nicht weit von meinem Heimatort stationierten US-Atomwaffen in Büchel in der Eifel. Die Zerstörungskraft sowie die katastrophalen humanitären und ökologischen Folgen eines Einsatzes von Nuklearwaffen verbieten es, mit ihnen zu drohen. Trotzdem sind Atomwaffen die einzigen Massenvernichtungswaffen, die noch nicht völkerrechtlich geächtet sind. Dies will eine Initiative von nicht paktgebundenen Staaten ändern. Im vergangenen Jahr hat sich eine überwältigende Mehrheit in der Generalversammlung der Vereinten Nationen für Verbotsverhandlungen ausgesprochen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war gut!) Die Bundesregierung allerdings stimmte zusammen mit den Atommächten Frankreich, Großbritannien, Russland und den USA gegen diese Resolution. (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Es waren aber noch mehr dabei!) Am 27. März beginnen die Verhandlungen, und Deutschland will nicht teilnehmen. Das ist ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Statt ein Verbot von Atomwaffen voranzubringen, droht US-Präsident Trump, das Atomwaffenarsenal der USA auszubauen und noch umfassender zu modernisieren. Daraufhin meinte der CDU-Politiker Kiesewetter, Europa brauche nun einen eigenen Atomschirm. Inzwischen wird in Bild, Spiegel, Zeit und FAZ über eine nukleare Bewaffnung Deutschlands debattiert. Das ist erschreckend. Weder Deutschland noch die Welt brauchen Atombomben. Die Welt muss vielmehr atomwaffenfrei werden. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In Deutschland ist eine Mehrheit der Bevölkerung für ein Verbot von Atomwaffen. Auch die Bundesregierung, Frau Merkel, Herr Gabriel – sie alle reden immer wieder viel von Abrüstung. Nun geht es um konkrete Verhandlungen, und sie wollen nicht dabei sein. Das ist völlig unverständlich. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Begründung für die Nichtteilname ist, eine Atomwaffenkonvention sei nur sinnvoll, wenn alle Atommächte von Anfang an dabei seien. Die Logik erschließt sich nicht. (Zuruf von der LINKEN: Da ist auch keine Logik!) Das Gegenteil ist der Fall. Nur durch Verhandlungen kann man bei der Abrüstung zu einer atomwaffenfreien Welt vorankommen. Auch Bio- und Chemiewaffen sind international geächtet, ohne dass alle von Anfang an dabei waren. Ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag macht auch auf all diejenigen Druck, die ihn nicht gleich unterzeichnen wollen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn die Bundesregierung die Sicherheitsinteressen aller Staaten ernst nimmt, muss sie sich an den Verbotsverhandlungen beteiligen, gerade als NATO-Mitglied. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Inge Höger. – Nächste Rednerin: Dr. Katja Leikert für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen beschäftigen uns heute mit einem gemeinsam formulierten Antrag für eine nuklearwaffenfreie Welt. Sie fordern die Bundesregierung auf, an den Verhandlungen über ein Kernwaffenverbot teilzunehmen. Sie werden wohl keinen hier im Plenum und unter den Zuhörerinnen und Zuhörern finden, der sich nicht wünschen würde, dass es keine Atomwaffen mehr gibt. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss etwas dagegen tun!) – Hören Sie erst einmal zu! – Sie stellen es sich so vor, dass man auf einer Seite Papier zusammen mit ein paar anderen Staaten zusammen aufschreibt, dass Kernwaffen verschwinden und dass wir sie ächten sollen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Wir alle wissen, dass es sich rein um eine Initiative der Nichtkernwaffenstaaten handelt. Das ist ein bisschen so, als wenn sich die Mäuse eines Viertels dazu verabreden, etwas gegen die Katzen zu tun. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Katzen haben keine Atomwaffen!) – Jetzt hören Sie bitte noch einmal kurz zu! Ganz ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich schätze Sie wirklich sehr – ich bin auch im Gespräch mit Einzelnen von Ihnen –, gerade wegen Ihres abrüstungspolitischen Engagements. Ich respektiere das auch und finde gut, dass viele aus friedenspolitischen Ideen heraus und mit viel Idealismus Politik betreiben. Viel von diesem Idealismus teilen wir. Aber gerade weil Sie in Ihren Reihen viel Kenntnis im Bereich Abrüstung und Nichtverbreitung von Atomwaffen haben, bin ich, ehrlich gesagt, regelrecht enttäuscht über diesen Antrag. Ich sage es gleich vorab: Ihr Weg gefährdet aus unserer Sicht alle bisherigen Erfolge der nuklearen Abrüstung. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Nebelkerzen!) Sie kennen genau das klare Ziel der schwarz-roten Koalition: Wir stehen für eine nuklearwaffenfreie Welt. Dieses Ziel ist ausdrücklich auch so im Koalitionsvertrag benannt. Sie wissen genau, dass Deutschland weltweit ein anerkannter und geschätzter Verhandlungspartner für nukleare Abrüstung ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Inge Höger [DIE LINKE]: Sie nimmt ja nicht teil!) Sie wissen auch, dass Deutschland in seiner Rolle als Brückenbauer schon viel erreicht hat. Wenn Sie ganz ehrlich zu sich selbst sind, dann wissen Sie auch, dass Ihr Antrag an vielen Stellen schlichtweg weltfremd ist. Ich möchte Ihnen das gerne erläutern. Erstens. Natürlich können wir uns wünschen, dass die Kernwaffenstaaten, die offiziellen und die inoffiziellen, faktisch gemeinsam zu der Einsicht kommen, dass es für alle besser wäre, wenn sie auf Kernwaffen verzichteten. Die Bereitschaft der Kernwaffenstaaten dazu liegt aber schlichtweg nicht vor. Das ist eine Tatsache, an der wir nicht vorbeikommen. Zweitens. Ihr Antrag ist unrealistisch, nicht nur, weil er die Grundlagen der internationalen Machtverteilung schlichtweg ignoriert, sondern auch, weil die von Ihnen geforderten Verhandlungen aus unserer Sicht das wertvollste Vertragswerk, das wir im Bereich der nuklearen Abrüstung haben, gefährden würden: den internationalen Nichtverbreitungsvertrag. Sie wollen, dass wir am Ende ein Papier haben, auf dem steht – ich habe das schon erklärt –: Wir ächten Atomwaffen. – Darin stünde aber nichts, was mit denjenigen Staaten passieren soll, die kernwaffenfähiges Material schon haben, oder was mit denjenigen Staaten passieren soll, die schon Atomwaffen haben oder ein Programm für die zivile Nutzung von Atomenergie haben. Wer soll das denn alles überprüfen? Sie riskieren, dass sich die Nichtkernwaffenstaaten aus dem Nichtverbreitungsvertrag zurückziehen und dass damit die Kontrollen ihrer Atomanlagen durch die Internationale Atomenergie-Organisation entfallen. Wie wollen wir dann in Zukunft eigentlich noch verhindern, dass nicht die nächsten Staaten nachziehen und heimlich Atomwaffen entwickeln? Es ärgert mich, dass Sie genau wissen, dass wir schon viel weiter sind mit dem bestehenden Regime, und die etablierten Verifikationsmechanismen über Bord werfen wollen. Drittens. Alle Verhandlungen innerhalb des Nichtverbreitungsvertrags haben einen entscheidenden Vorteil – auch das wissen Sie –, dass nämlich beide Seiten verhandeln: die Atomwaffenstaaten und die Nichtatomwaffenstaaten. Das ist aus unserer Sicht absolut essenziell; denn was wir in dieser Welt nicht brauchen können – das ist etwas, was wir alle hier bedauern –, sind ein weiteres Wettrüsten und eine weitere Spaltung in diesem Bereich. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin, erlauben Sie eine Bemerkung oder Zwischenfrage von Dr. Neu? Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): Ja. Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): Frau Dr. Leikert, Ihnen ist bekannt, dass im Jahre 2010 fast alle Fraktionen im Deutschen Bundestag gemeinsam einen Antrag verabschiedet haben, der darauf abzielte, die Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen. Ist Ihnen bekannt, ja? Im Jahre 2012 hat Deutschland im Rahmen des Chicagoer NATO-Gipfels seine Souveränität in der Frage des Abzuges der Nuklearwaffen aus Deutschland an die NATO abgegeben. Ist das Ihrer Auffassung nach ein Beitrag zu einer nuklearwaffenfreien Welt? Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): Vielen Dank für Ihre Frage. Ich stelle gern eine Rückfrage an Sie: Was machen wir hier in Deutschland, wenn wir nicht mehr Teil der NATO sind, wenn wir so tun, als würden wir nicht ein Stück weit von der nuklearen Teilhabe profitieren? (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Eigentlich haben wir hier jetzt keine Dialogveranstaltung. (Heiterkeit) Aber gut, kurze Rückfrage. Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): Nein, das ist okay. Ich mache jetzt einfach weiter, weil ich noch einmal zu diesem Punkt komme. Wir halten den Antrag von Linken und Grünen an dieser Stelle für sinnlos bis gefährlich; ich habe das vorhin schon ausgeführt. Die CDU/CSU-Fraktion setzt vielmehr auf das große Engagement Deutschlands innerhalb des Nichtverbreitungsregimes, das wir aufrechterhalten und ausbauen wollen. Wir verfolgen dabei einen schrittweisen Ansatz, und Sie kennen ihn auch. Ich nenne nur drei Punkte, die uns dabei besonders wichtig sind. Ein Baustein dabei ist Transparenz. Ohne Transparenz mit Blick auf die Atomwaffenarsenale der Atomwaffenstaaten – das ist uns allen, die wir hier sind, bewusst – werden wir keine messbaren Fortschritte erzielen. Deshalb werden wir auch weiterhin innerhalb der Non-Proliferation and Disarmament Initiative – Sie wissen, wie engagiert Deutschland da ist – in den Dialog mit den fünf Atommächten treten. (Zuruf von der LINKEN: Was machen Sie mit Israel?) So haben wir es schon geschafft, mehr Transparenz in Bezug auf die Kernwaffenarsenale der Atomwaffenstaaten zu bekommen. Wir alle sind natürlich noch nicht besonders zufrieden mit den Fortschritten, die dort erzielt wurden, aber wir wollen an dieser Initiative festhalten und sie weiter ausbauen. Zu unserem schrittweisen Ansatz gehört auch, dass wir die Produktion von spaltbarem Material unterbinden wollen. All das erreichen Sie nicht mit Ihrem nuklearen Bann. Hier haben wir eine konkrete Resolution, die Deutschland gemeinsam mit Kanada und den Niederlanden in die UN-Generalversammlung eingebracht hat. Eine Expertengruppe wird mögliche Vertragselemente für einen Fissile Material Cut-off Treaty identifizieren. Wir haben dabei sichergestellt, dass zumindest vier Kernwaffenstaaten eng eingebunden sind. Ich möchte noch ein weiteres Element hervorheben: Deutschland – auch das wissen Sie – setzt sich schon lange dafür ein, dass der Umfassende Nukleare Teststoppvertrag gestärkt und weiter ratifiziert wird. Auch dieses Engagement wollen wir in Zukunft aufrechterhalten. Sie sehen, dass all diese Schritte zu einem klaren Konzept führen. Lassen Sie mich daher feststellen: Solange die machtpolitischen Realitäten – wir können uns andere wünschen – so sind, wie sie sind, solange einzelne Staaten in der Lage sind, immer wieder zu destabilisieren – dazu zählt auch Russland; Sie haben gerade nur über die Modernisierung des amerikanischen Atomwaffenarsenals gesprochen; das ist sehr einseitig –, (Inge Höger [DIE LINKE]: Wenn der eine anfängt, rüsten die anderen nach!) so lange ist es gut für uns, wenn wir eine starke Allianz mit unseren NATO-Partnern bilden. So viel Realitätsbewusstsein muss sein. Deshalb wird die CDU/CSU-Fraktion keinen Antrag unterstützen, mit dem wir uns aus unseren Bündnispflichten – dazu gehört die nukleare Teilhabe – innerhalb der NATO verabschieden. Ich sage es hier ganz deutlich: Ich möchte im Deutschen Bundestag nichts beschließen, was unsere Sicherheit gefährdet. (Beifall bei der CDU/CSU) Gleichzeitig wissen wir, dass die nukleare Abrüstung immer wieder neue Impulse braucht. Wir werden auch weiterhin alles dafür tun, um hier greifbare Erfolge zu erzielen. Was wir dabei aber nicht zulassen werden – das unterscheidet uns von Ihrem Antrag –, ist, dass die hervorragenden bestehenden Verträge und Initiativen zur nuklearen Abrüstung für ein einziges wirkungsloses Blatt Papier geopfert werden. Ich möchte Ihnen aber abschließend eine Brücke bauen und freue mich im Zuge der Beratung über richtig gute Initiativen für eine nuklearwaffenfreie Welt, die wir alle wollen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Katja Leikert. – Nächste Rednerin: Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen. Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Katja Leikert, der Vergleich mit den Mäusen und Katzen ging doch etwas am Kern der Debatte vorbei. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich möchte darauf gerne mit einem Zitat antworten, das so lautet: Der Mensch erfand die Atombombe, doch keine Maus der Welt würde eine Mausefalle konstruieren. Das hat niemand Geringerer als Albert Einstein gesagt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Die beiden größten Atommächte der Welt, Russland und die USA, verfügen über 90 Prozent der weltweiten Nuklearwaffenarsenale. Beide haben ihre vor Jahrzehnten gegebenen Versprechen nicht erfüllt. Statt abzurüsten, werden in Moskau und in Washington gerade gigantische Beträge in die Modernisierung dieser Waffen investiert. Beide Seiten blockieren Fortschritte und stellen mit ihren Taten und Ankündigungen bestehende Abrüstungsvereinbarungen infrage und damit auch auf eine harte Probe. Donald Trump und Wladimir Putin spielen sogar mit der Gefahr eines neuen Wettrüstens. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da ist es doch kein Wunder, dass über 100 Staaten endgültig der Geduldsfaden gerissen ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nicht nur die Zivilgesellschaft streitet für ein Verbot dieser grausamen Waffen, damit sie endlich – wie andere Massenvernichtungswaffen, die biologischen und die chemischen – mit einem internationalen Vertrag geächtet werden. Vielmehr haben 123 Staaten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein klares Zeichen gegen diesen quälenden Stillstand gesetzt und für Verhandlungen über einen Verbotsvertrag gestimmt. Es ist eine überwältigende Mehrheit, und es ist eine historische Entscheidung. Außerdem ist es ein überfälliger und richtiger Schritt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Frau Kollegin Leikert, wenn Sie sich damit auseinandergesetzt hätten, hätten Sie auch festgestellt, dass niemand den Atomwaffensperrvertrag oder Nichtverbreitungsvertrag abschaffen will, sondern es handelt sich um eine Ergänzung und Stärkung der bisherigen Abrüstungsregime. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Was hat dann die schwarz-rote Bundesregierung getan, die ja immer erklärt, sich dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt verpflichtet zu fühlen? Sie hat nicht mit Ja, nicht einmal mit Enthaltung, sondern mit Nein gestimmt. Allein das ist ein abrüstungspolitisches Armutszeugnis. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Es geht ja noch weiter. Die Bundesregierung sagt sogar Nein zur Teilnahme an den Gesprächen. Damit boykottieren Sie diesen historischen Schritt. Das ist eine große Fehlentscheidung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das ist nicht nur mutlos, sondern auch eine Schwächung der Vereinten Nationen und des Multilateralismus. In den schwierigen außenpolitischen Zeiten, in denen wir uns gerade befinden, ist das doch genau das Gegenteil von dem, was diese Welt gerade dringend benötigt. Angesichts der neuen Eiszeit zwischen Russland und den USA braucht es doch jetzt mehr denn je klare, kluge Stimmen der sicherheitspolitischen Vernunft, die für Rüstungskontrolle und Abrüstung streiten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) aber nicht eine Bundesregierung, die ihren guten Ruf und ihre abrüstungspolitische Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wir fordern Sie im gemeinsamen Antrag der Linken und der Grünen auf: Lassen Sie uns zu dem Konsens von 2010 zurückkehren, wo wir gemeinsam – alle Fraktionen in diesem Hohen Haus – den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland gefordert haben! Sorgen wir zusammen dafür, dass ihr Verbleib über die Modernisierung nicht zementiert wird, dass nicht gleichzeitig Millionenbeträge für die Anpassungen am Trägersystem Tornado verwendet und verschwendet werden! Die Bundesregierung muss ganz klar und unmissverständlich diesen finanziell, völkerrechtlich und politisch aberwitzigen Rufen nach europäischen oder gar deutschen Atomwaffen eine Absage erteilen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wir fordern Sie aber vor allem dazu auf, dass die Bundesregierung das längst überfällige Verbot dieser barbarischen Massenvernichtungswaffen nicht weiter behindert und boykottiert, sondern es mit Kraft und Ideen unterstützt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Als Bundesregierung haben Sie in den letzten Jahren immer wieder von einer neuen deutschen Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik gesprochen. Statt sich hier mutlos im Schatten der Nuklearwaffenstaaten wegzuducken, haben Sie hier die Gelegenheit, sie ganz konkret zu übernehmen. Tun Sie es! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Dr. Ute Finckh-Krämer für die sozialdemokratische Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribünen! Ich möchte mich zunächst bei all denen bedanken, die sich Gedanken um nukleare Abrüstung machen und das Ziel, das uns, glaube ich, alle eint – dass diese schrecklichen Waffen irgendwann wieder von der Erde verschwinden –, unterstützen sowie mit uns darüber diskutieren. Auch möchte ich mich bei denen bedanken, die im Augenblick Briefe an Außenminister Gabriel schreiben, in denen sie ihn bitten, sich an den Verhandlungen zu beteiligen, sowie bei denjenigen, die schon über diese Verhandlungen, die jetzt Ende dieses Monats beginnen, hinausschauen und sich überlegen, was es noch alles an guten Gelegenheiten gibt, abrüstungspolitisch aktiv zu werden. (Beifall des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]) In der Resolution 71/258 des UN-Sicherheitsrates, mit der die Verhandlungen über den Ban Treaty, einen Atomwaffenverbotsvertrag, beschlossen wurden, ist auch der Beschluss der UN-Generalversammlung von 2013 bekräftigt worden, ein „high-level meeting … on nuclear disarmament“ durchzuführen. Das hieße wahrscheinlich, dass eine solche Konferenz im September 2018 stattfände und eine Vorbereitungskonferenz im Januar oder Februar. Eine solche High-Level-Konferenz zu Atomwaffen hat es noch nie gegeben. Gestern habe ich deswegen im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ die Vertreterin der Bundesregierung danach gefragt, ob die Bundesregierung sich darauf vorbereitet, an dieser High-Level-Konferenz teilzunehmen. Die Antwort lautete: Ja. Ich finde es einen wichtigen Schritt, dass die Bundesregierung an einem solchen Beschluss, der vor der neuen Eskalation zwischen Russland und den USA oder Russland und der NATO gefasst worden ist, festhält. Ein anderer Punkt, wo es meiner Ansicht nach gute deutsche Aktivitäten gibt, ist die International Partnership for Nuclear Disarmament Verification. Denn wir wissen: Wenn Atomwaffen verboten werden, wird es viel länger als bei den Chemiewaffen dauern, bis sie tatsächlich alle abgerüstet sind. Bei den Chemiewaffen ist der Verbotsvertrag 1997 in Kraft getreten. Man hat damals gehofft, dass man innerhalb von zehn Jahren alle Chemiewaffen der Unterzeichnerstaaten vernichten kann. Im Augenblick ist die Schätzung, dass die Vernichtung der US-amerikanischen Chemiewaffen noch bis 2023 dauert. (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Grund mehr, heute dafür zu stimmen!) Diese International Partnership hat den Vorteil, dass auf Einladung der USA seit 2014 tatsächlich bei fünf Treffen darüber geredet wurde, was denn notwendig ist, um Nuklearwaffen so abrüsten und zerstören zu können, dass dies für die anderen Vertragspartner nachvollziehbar ist. Das ist eine Parallele zum Chemiewaffenabkommen; denn beim Chemiewaffenabkommen wurde ja nicht nur ein Abkommen beschlossen, sondern es wurde auch eine Verifikations- und Überprüfungseinrichtung geschaffen: die Organisation für das Verbot chemischer Waffen. Diese kontrolliert seitdem alle Einrichtungen, die Chemiewaffen vernichten. Aber sie kontrolliert auch Einrichtungen, Firmen und Labore, die mit Substanzen arbeiten, aus denen erneut Chemiewaffen gebaut werden könnten. In dieser Richtung nachzudenken, Tagungen auszurichten, Konferenzen von Fachleuten sind einige der Aktivitäten der Bundesregierung, und darüber bin ich froh. Wir waren am 8. März dieses Jahres als Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ eingeladen, uns zum Ende der fünften derartigen Konferenz, die hier in Berlin stattgefunden hat, von den Arbeitsgruppenleitern dieser Organisation briefen zu lassen, was sie diskutiert und beschlossen haben. Bei diesem Briefing waren ein Kollege von der CDU und ich dabei. Die anderen hatten leider keine Zeit. Bei Inge Höger weiß ich, dass das mit Schwierigkeiten am Mittwochnachmittag in Sitzungswochen zusammenhängt. Da ist die SPD mit fünf Mitgliedern im Menschenrechtsausschuss etwas besser aufgestellt. Insofern: Deutschland ist aktiv im Bereich der nuklearen Abrüstung. Deutschland gehört zu der Gruppe der Freunde des Nichtverbreitungsvertrags und zu den Befürwortern eines Nuklearen Teststoppabkommens. Einige von uns waren vor etwa anderthalb Jahren im Auswärtigen Amt, wo eine Ausstellung zu der Verifikationsorganisation eröffnet wurde, die zu dem noch gar nicht in Kraft befindlichen Nuklearen Teststoppabkommen gehört. Das heißt: Auch in diesem Bereich ist Deutschland aktiv und versucht zum Beispiel zu erreichen, dass die noch fehlenden Annex-B-Staaten das Abkommen unterzeichnen bzw., soweit sie es schon unterzeichnet haben, auch ratifizieren, damit dieses wichtige Rüstungskontrollabkommen in Kraft treten kann, mit dem auch ein Teil der Ziele, die mit dem Ban Treaty verfolgt werden, verwirklicht werden soll, nämlich das Verbot von Atomwaffentests. Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Dr. Neu? Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Ja. Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): Frau Kollegin Finckh-Krämer, Sie haben eine Vielzahl von Maßnahmen und Initiativen dargelegt. Sie haben sich nicht dazu geäußert, wie sich die SPD zu unserem Antrag verhält. Können Sie dazu noch etwas sagen? Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Wir diskutieren den Antrag in erster Lesung, das heißt, es folgt noch eine Ausschussbefassung. So wie er im Augenblick vorliegt, werden wir vermutlich gemeinsam mit der Union mit Nein stimmen. (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE], an die SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Habt ihr gehört?) Aber uns ist wichtig, dass auch ein solcher Antrag zur Diskussion beiträgt. Deswegen habe ich erwähnt, wie wichtig es aus meiner Sicht ist, dass sich zivilgesellschaftliche Gruppen, dass wir uns im Plenum mit dem Antrag, mit dem Vorhaben eines Atomwaffenverbotsvertrags befassen. (Beifall bei der SPD) Ich habe aufgezeigt, was wir mittragen, was das Auswärtige Amt als federführendes Ministerium für Abrüstung und Rüstungskontrolle mitträgt, was zumindest im Geiste dieser Verhandlungen ist. Ich persönlich kann mir vorstellen, dass nach der ersten Verhandlungswoche vielleicht einige der Ängste, die die Kollegin Leikert geschildert hat, nicht mehr ganz so groß sind und dass dann die Frage, wie man mit der zweiten und dritten Verhandlungsrunde umgeht, hier neu diskutiert wird. Ich finde auch wichtig, dass bei der Frage – das hat Frau Höger beschrieben –, bei der sich Russland und die USA im Augenblick ineinander verhaken, nämlich wie man die bilateralen Abrüstungs- oder Rüstungskontrollabkommen im Bereich der nuklearen Waffen aufrechterhält, am Leben erhält, Deutschland wiederum aktiv ist und zum Beispiel in der Deep Cuts Commission, einer trilateralen Kommission mit Wissenschaftlern aus Russland, den USA und Deutschland, diskutiert, wie die zum Teil gefährdeten bilateralen Abkommen wie der INF-Vertrag am Leben erhalten werden können, wie die gegenseitigen Vorwürfe geklärt werden können. Ich weiß von einem Wissenschaftler der Deep Cuts Commission, dass der INF-Vertrag dort aktuell Thema ist und dass es dazu ein Papier geben wird. Ich finde es einen wichtigen Beitrag der Bundesregierung und des Außenministeriums, dass solche Wissenschaftlerkommissionen unterstützt werden. Damit leisten wir einen Beitrag zu dem Ziel, das wir gemeinsam mit denjenigen haben, die aus verständlichen Gründen einen Atomwaffenverbotsvertrag fordern, nämlich das Ziel einer atomwaffenfreien Welt. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kollegin Finckh-Krämer. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/11609 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Europol-Gesetzes Drucksache 18/11502 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Sind Sie damit einverstanden? – Gut.2 Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/11502 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes Drucksache 18/11493 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.3 Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/11493 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch dazu gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung Drucksachen 18/9525, 18/10146, 18/10307 Nr. 7 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/11640 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Auch damit sind Sie einverstanden.4 Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11640, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/9525 und 18/10146 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Dann gibt es keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Ich übergebe und wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe Drucksachen 18/9521, 18/9948, 18/10102 Nr. 13 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/11468 Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Christian Flisek, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christian Flisek (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Gut Ding will manchmal Weile haben, und so ist es auch mit der Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie. Wir haben mit diesem Umsetzungsgesetz und den Änderungen am Berufsrecht der rechtsberatenden Berufe eine EU-Richtlinie umgesetzt, und wir sind jetzt durchaus ein wenig hinterher; die Frist ist eigentlich abgelaufen. Aber das lag mit Sicherheit nicht nur am Parlament; das muss man mal sehr deutlich so sagen. Wir jedenfalls haben diesen ganzen Komplex verschiedener Änderungen in der Koalition sehr ordentlich beraten. Es ist ein durchaus komplexer Katalog von Einzeländerungen, die wir hier abzuarbeiten hatten, und wir haben es uns damit nicht leicht gemacht. Insofern hat das Ganze etwas Zeit in Anspruch genommen. Zuletzt, auf den letzten Metern, ist es zu Verzögerungen gekommen, die zumindest wir als SPD-Fraktion nicht direkt zu verantworten haben. (Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU]: Wir auch nicht!) Aber es ist heute ein guter Tag, weil es überhaupt zu dieser Beratung kommt. Die Reformen – das habe ich bereits gesagt – lösen zahlreiche Probleme im Berufsrecht der rechtsberatenden Berufe. Ich möchte mich in meiner Rede – das sage ich hier gleich zu Beginn – auf einen Bereich konzentrieren, nämlich auf eine Forderung, die vom Deutschen Anwaltverein und von der Bundesrechtsanwaltskammer erhoben worden ist: Es geht um die Fortbildungspflicht für Anwälte allgemein. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und vom Bundesjustizministerium!) Es stand dort ursprünglich mal die Forderung im Raum, dass es eine allgemeine Fortbildungspflicht für Anwälte geben soll (Beifall des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) – sicherlich, man kann nicht gegen Fortbildung sein –, und zwar in dem Sinne, dass sich Anwälte grundsätzlich jedes Jahr fortbilden müssen, zusätzlich zu den bereits bestehenden Fortbildungspflichten, die die meisten Anwälte in diesem Land, zum Beispiel die Fachanwälte, haben. Wir haben diese Satzungsermächtigung, die ursprünglich im Regierungsentwurf vorgesehen war, in der Koalition sehr ernsthaft geprüft, und wir sind entsprechend dem Struck’schen Gesetz zu dem Ergebnis gekommen, dass wir uns dem Vorschlag im Entwurf nicht anschließen werden, sondern uns als Parlamentarier dafür einsetzen, dass diese Satzungsermächtigung gestrichen wird. Ich gebe zu, es gab deswegen Kritik von den Berufsverbänden. Die Kritik von einigen war teilweise sogar sehr schrill; das muss man auch sehr deutlich sagen. Aber ich möchte Ihnen erklären, warum wir der Meinung sind, dass das der richtige Schritt ist. Beim Anwaltsmarkt haben wir es mit einem Markt zu tun, der sich seit vielen Jahren spezialisiert. Es wurde in den letzten Jahren eine Vielzahl von Fachanwaltschaften eingeführt. Jeder, der diesen Bereich einigermaßen kennt, weiß, wie mühsam es mittlerweile ist, einen Fachanwaltstitel zu erwerben und auch zu halten. Wenn Sie mit der Materie vertraut sind, dann wissen Sie, dass man, wenn man Fachanwalt ist, sich mittlerweile jedes Jahr 15 Stunden fortzubilden hat. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wohl das Minimum!) Das ist gut, und das ist richtig, aber wir glauben: Gerade auf einem Anwaltsmarkt, der sich seit Jahren wegen der Fachanwaltschaften so ausdifferenziert, bedarf es nachträglich nicht noch einer allgemeinen Fortbildungspflicht für Anwälte, (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es ja schon! Das steht doch im Gesetz!) die, wenn man der BRAK, der Bundesrechtsanwaltskammer, und dem Anwaltsverein hätte glauben wollen, weitere 10 bis 15 Stunden jedes Jahr in Anspruch genommen hätte. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch nur um die Ausgestaltung!) Wir sind der Überzeugung – Frau Keul, Sie haben gleich die Gelegenheit, in Ihrer Rede darauf hinzuwirken –, dass man die Anwälte auch im Sinne eines Funktionierens des Anwaltsmarktes nicht überfordern darf. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Bei der SPD könnte das vielleicht helfen!) Deswegen sage ich Ihnen sehr deutlich: Ich glaube, dass wir mit einer allgemeinen Fortbildungspflicht weit über das Ziel hinausgeschossen wären. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht doch jetzt schon im Gesetz!) Ich sage Ihnen noch etwas: Wir tun hier immer so, als wenn der Deutsche Anwaltsverein oder die Bundesrechtsanwaltskammer hier völlig uneigennützig agieren würden. Das ist mitnichten der Fall. Wenn man sich die Zahl der zugelassenen Anwälte in Deutschland anschaut und wenn man sich anschaut, wer im Wesentlichen Anbieter solcher Fortbildungsleistungen ist, dann stellt man fest, dass das Fortbildungsinstitute sind, die vom Anwaltsverein oder von der BRAK geführt werden. Wenn Sie die durchschnittlichen Preise eines Tagesseminars hochrechnen, dann stellen Sie fest: Wir reden hier über einen zusätzlichen Markt, den sich die Damen und Herren verschaffen wollten, dessen Umsatz mindestens im dreistelligen Millionenbereich liegt. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wirklich haarsträubend!) Dass das Angebot völlig uneigennützig sei und dass das Angebot sozusagen nur von dem Gedanken der Qualitätssicherung getragen sei, das kann ich, offen gesprochen, nicht glauben. Wir haben in der Koalition intensiv über das Thema debattiert, und wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir eine allgemeine Fortbildungspflicht für Anwälte zum jetzigen Zeitpunkt nicht wollen, weil wir glauben, dass der Anwaltsmarkt derzeit (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steht jetzt schon im Gesetz!) auch im Sinne der rechtssuchenden Kreise, der Verbraucherinnen und Verbraucher, über ausreichende Qualitätssiegel und auch über ausreichende Titel verfügt, die alle mit Fortbildungspflichten behaftet sind, durch die dafür Sorge getragen wird, dass Qualität am Markt existiert und dass transparent nachgefragt werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Na ja! Na ja!) Ich möchte an dieser Stelle noch einmal den Vorschlag der SPD-Fraktion ansprechen. Wir haben durchaus versucht, einen sachgerechten Kompromiss vorzulegen. Wir haben gesagt: Wenn eine solche Fortbildungspflicht eingeführt wird, dann wollen wir dafür sorgen, dass Fachanwaltsfortbildungen anerkannt werden und dass junge Anwälte in den ersten fünf Jahren nicht überfordert werden. All das haben wir vorgeschlagen. Ich muss sagen: Ich fand es schade, dass es vonseiten der Union keine Zustimmung zu unserem Vorschlag gab. Wir hätten uns durchaus vorstellen können, gemeinsam einen Kompromissvorschlag zustande zu bringen, mit dem wir ein Stück weit auf den Anwaltsverein und auf die Bundesrechtsanwaltskammer zugegangen wären. Wir haben von beiden Institutionen das Signal bekommen, dass sie mit unserem Kompromissvorschlag einverstanden sind. Aber das war mit den Kolleginnen und Kollegen der Union leider nicht zu machen. Insofern bleibt es jetzt dabei, dass wir an dieser Stelle keine Regelung mehr haben. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Aber mit uns ginge es!) – Herr Hahn, schauen wir mal. Es dauert ja nicht mehr lange: Am 24. September sind Wahlen. Dann werden wir überlegen, was mit anderen Parteien so möglich ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aber warten wir erst einmal ab, ja? Meine Damen und Herren, das ist aber nicht das Einzige, das wir geregelt haben. Wir haben zum Beispiel auch – und das ist mir persönlich wichtig – bei den Syndikusanwälten dafür gesorgt, dass ihnen für den Zeitraum zwischen Antrag auf Zulassung und Erteilung der Zulassung keine versorgungsrechtlichen Nachteile entstehen. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich möchte zum Schluss noch erwähnen, dass wir dafür gesorgt haben, dass in Zukunft bei Kammerversammlungen bei der Vorstandswahl die Briefwahl obligatorisch ist. Das ist mir ein ganz wichtiger Punkt, weil ich aus einem Kammerbezirk komme, in dem sich viele Tausend Anwälte an dieser Wahl nicht beteiligen. Es geht darum, dafür zu sorgen, dass man nicht zum Zwecke der Wahl zur Versammlung hinfahren muss, sondern sich auch per Briefwahl an einer solchen Wahl beteiligen kann. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Flisek. Christian Flisek (SPD): Ich komme zum Schluss. – Es geht darum, die Legitimation von solchen Wahlen zu stärken. Ich glaube, das ist ein ganz guter Schritt. Was bei der Bundestagswahl gang und gäbe, üblich und möglich ist, das muss in Zukunft auch bei Kammerwahlen möglich sein. Aber wir werden von der Opposition gleich sicherlich hören, warum das alles des Teufels ist. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) Ich bin gespannt, meine Damen und Herren. In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ganz so schlimm ist es gar nicht!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Jörn Wunderlich. (Beifall bei der LINKEN) Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Teufelchen! (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die links oder die rechts? – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also ich kann nicht gemeint sein!) In erster Linie handelt es sich hier um ein begrüßenswertes Vorhaben. Die seit langem geforderten an vielen Stellen sinnvollen Änderungen und die sprachliche Straffung sind ja ganz gut, aber dann hört es auch schon fast auf. Aufgrund meiner knappen Redezeit möchte ich mich hier auf zwei Punkte beschränken, die Herr Flisek schon angesprochen hat. Es geht um die Konkretisierung der anwaltlichen Fortbildung. Dieses Thema ist bislang geregelt in § 43a der Bundesrechtsanwaltsordnung. Dort heißt es: „Der Rechtsanwalt ist verpflichtet, sich fortzubilden.“ Die Fortbildungspflicht besteht also schon. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! – Christian Hirte [CDU/CSU]: Eben!) Jetzt will man den Kammern die Möglichkeit eröffnen, das auszugestalten, Sanktionen zu verhängen und die Briefwahl zu ermöglichen. So war es im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehen. Zu den geplanten Änderungen gehörte auch die Einführung der Pflicht, im Zusammenhang mit der Zulassung Kenntnisse im Anwaltsrecht zu erlangen; auch das war erfreulich. Dies sollte den Verbraucher und letztlich auch den Anwalt schützen und absichern. Man muss sich doch nur einmal den Vergleich mit anderen Berufsgruppen anschauen, mit Ärzten oder Lehrern beispielsweise, für die die Fortbildung auch bindend ist. Und um den Start in die Anwaltstätigkeit nicht zu sehr zu erschweren – das ist schon angesprochen worden –, sollte die Teilnahme an diesen Lehrveranstaltungen auch noch im ersten Jahr nach der Zulassung möglich sein. Jetzt komme ich zum Kernstück der Fortbildungspflicht: Auch die Regelung, dass seitens der Kammer Sanktionen bei Nichtbeachtung der Pflicht verhängt werden können, wäre sinnvoll gewesen. Das Tolle ist, dass der Kollege Flisek von der SPD in der ersten Lesung diese Regelung noch als sinnvoll erachtet hat. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Er hat in der ersten Lesung vor sechs Monaten hier gesagt – ich zitiere aus dem Protokoll –: ... eine Fortbildungspflicht ohne entsprechenden Druck zur tatsächlichen Durchsetzung der Verpflichtung ist inkonsequent. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Das glaube ich jetzt nicht!) Ich weiß gar nicht, was die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition gegen Sanktionen haben. Bei Hartz IV sind Sie doch auch nicht so zimperlich. (Beifall des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) Die Koalition fand die von der Bundesregierung vorgeschlagene Regelung gut, die Opposition findet sie gut, die betroffenen Berufsverbände finden sie gut. Alle wollen das, und trotzdem wird diese Regelung wieder gestrichen. Das soll man mal einem erklären. Ich kann das keinem erklären. (Christian Flisek [SPD]: Ich kann das schon erklären!) – Ja, das meinen Sie, dass Sie das erklären können. (Christian Flisek [SPD]: Das habe ich doch gerade gemacht!) – Das war aber ein untauglicher Versuch – um im Juristendeutsch zu bleiben. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Nachdem bekannt wurde, dass die Koalition die Weiterbildungspflicht aus dem Gesetzentwurf streichen will – sie wurde letztlich auch gestrichen – meldeten sich sowohl die Bundesrechtsanwaltskammer als auch der Deutsche Anwaltsverein und baten darum, diese verpflichtende Fortbildung der Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer zu ermöglichen. Wenn jetzt wieder das Argument kommt, der Vorstand der Bundesrechtsanwaltskammer, die Vorstände aller Kammern seien mangels Teilnahme der Mitglieder an den Vorstandswahlen gar nicht hinreichend legitimiert – solche Argumente habe ich gehört –, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei uns waren es wieder ganz viele!) möchte ich Sie fragen, auf welche Legitimität Sie sich berufen, wenn hier im Parlament Gesetzentwürfe mit 30 Jastimmen verabschiedet werden. (Christian Flisek [SPD]: Au, au, au! – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sollen wir auch Briefwahl machen?) Darüber hinaus sollte die Briefwahl durch jeweiligen Kammerbeschluss und nicht generell eröffnet werden. Gerade durch die unterschiedliche Größe der einzelnen Kammerbezirke – das ist angesprochen worden – sollte diese Entscheidung den einzelnen Kammern im Rahmen ihrer funktionalen Selbstverwaltung vorbehalten bleiben. (Christian Flisek [SPD]: Ein Flickenteppich in Deutschland, oder was?) Nun aber soll die verbindlich vorgesehene Briefwahl in der Form erfolgen können, dass die Briefwahlzettel auch in der Kammerversammlung abgegeben werden können. Tolle Regelung! Gut ist, dass die Koalition mit ihrem Änderungsantrag – so wie auch die Linke – dafür gesorgt hat, dass die Änderung im Rechtsdienstleistungsgesetz dergestalt vorgenommen wird, dass unqualifizierte Rechtsdienstleistungsangebote aus dem Ausland heraus nicht mehr möglich sein sollen. Aber dies allein kann die bestehenden Mängel nicht ausgleichen. Alles in allem wird meine Fraktion daher dieses Gesetz ablehnen, es sei denn, der Änderungsantrag der Grünen findet hier in diesem Hohen Hause Zustimmung. Dann können wir dem Gesetz zustimmen, weil er den alten Rechtsstand wiederherstellte, so wie vom Justizministerium und der Regierung gewollt, von den Beteiligten gewünscht und ursprünglich von allen Parlamentariern hier im Haus auch gewollt. Danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Detlef Seif das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Detlef Seif (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute beraten wir den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ach was!) Die Richtlinie war spätestens zum 18. Januar 2016 in nationales Recht umzusetzen, und das wäre auch unproblematisch möglich gewesen. Man hat sich aber nicht auf die Kernvorschriften beschränkt, sondern diesen Gesetzentwurf mit vielen zusätzlichen Vorschlägen regelrecht überfrachtet. Wenn wir uns das Verfahren angucken, stellen wir fest: Das ist natürlich unvertretbar, und man kann im Interesse der Qualität unserer Arbeit und auch der Schnelligkeit nur dringend empfehlen, dass zukünftig Gesetzentwürfe, die EU-Richtlinien betreffen, im Wesentlichen nur auf diese Themen bezogen sind und nicht im Omnibusverfahren alles total überfrachtet wird. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein Omnibus! Das stand im Entwurf des Justizministers!) Zwei im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehene Vorschläge haben für eine besonders intensive Diskussion gesorgt, auch heute wieder, einerseits die Verpflichtung von Berufsanfängern, sich im Jahr zehn Stunden fortzubilden, und zwar bezogen auf das Berufsrecht, andererseits die Regelung, nach der die Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer, aber auch der Patentanwaltskammer die Befugnis erhalten sollten, durch Satzung die bestehende Fortbildungsverpflichtung zu konkretisieren, verbunden allerdings auch mit der Möglichkeit, die dann gesetzlich geschaffen werden sollte, über die Rüge hinauszugehen und ein Bußgeld von bis zu 2 000 Euro zu verhängen. Diese Regelungsvorschläge lehnt die Unionsfraktion aus guten Gründen ab. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ohne gute Gründe!) Es mag sein, dass Berufsanfängern berufsrechtliche Kenntnisse fehlen. Um diese Kenntnisse zu vermitteln, bedarf es aber keiner Fortbildungsstunden und erst recht keines Gesetzes. Es würde ausreichen, wenn die Berufsanfänger direkt nach der Erstzulassung von der jeweiligen Kammer nachdrücklich durch eine entsprechende Zusammenfassung auf einem Merkblatt informiert würden, wo auf die wichtigsten Vorschriften hingewiesen wird. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer soll das jetzt glauben?) Das sind immerhin studierte Leute, und sie wissen, wie sie auch mit fremder Rechtsmaterie umzugehen haben. Weder das Justizministerium noch die Berufsverbände konnten angebliche Qualitätsmängel der anwaltlichen Tätigkeit belegen. Auch aus einschlägigen Statistiken der Berufshaftpflichtversicherer folgt kein Nachweis für eine Verschlechterung der anwaltlichen Arbeit. Die allermeisten Rechtsanwälte bilden sich in ihrem eigenen Interesse selbst fort. Soweit einige Prozent der 164 000 Rechtsanwälte sich nicht fortbilden, ist fraglich, ob die Einführung von Zwangsstunden zur Fortbildung überhaupt zu einer Verbesserung des Kenntnisstandes dieser Personen führen wird. Entscheidend ist aber: Es ist doch völlig unverhältnismäßig, die anderen Rechtsanwälte, die weit überwiegende Zahl – rund 90 Prozent, rund 140 000 – mit einer derartigen Fortbildungspflicht zu überfrachten, die sanktionsbewehrt ist, sie wie Schuljungen auf die Bank zu schicken. Jetzt kommen wir zur rechtlichen Seite. Es gibt die Wesentlichkeitstheorie, und unter Berücksichtigung dieser Theorie muss der Gesetzgeber wesentliche Regelungen selbst treffen. Wenn wir das wollten, müssten wir als Gesetzgeber die Rahmenbedingungen schon selbst festlegen und können sie nicht über eine Satzungsbefugnis an ein Selbstverwaltungsorgan übertragen. Aber auch im Interesse einer möglichen Interessenkollision wäre es geboten, dann hier ein entsprechendes Gesetz zu machen. Wir reden von einem neuen Markt, bis zu 150 Millionen Euro netto Jahresumsatz, und das Risiko ist groß, dass Vertreter berufsständischer Organisationen ein Interesse daran haben, dass ihre Fortbildungsinstitute am Markt beteiligt werden, und sie die Interessen der Anwaltschaft dabei aus dem Blick verlieren. Meine Damen und Herren, wenn man das Wirken im Gesetzgebungsverfahren sieht, hat man wirklich den Eindruck: Da sind knallharte Lobbyisten unterwegs, und die bestärken diese Einschätzung. (Beifall des Abg. Christian Flisek [SPD]) Einige behaupten, dass die Anwaltschaft selbst die bußgeldbewehrte Fortbildungspflicht wünscht; das haben wir auch gerade wieder gehört. Das ist so aber nicht richtig. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So, jetzt bitte die richtige Entscheidung zitieren!) Selbst in der Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer gehen die Ansichten auseinander. Fragen Sie doch mal die Rechtsanwälte, die sich selbst fortbilden – das sind die allermeisten –, was sie von dem Gesetzesvorschlag halten, und dann lassen Sie die Antwort einmal auf sich wirken. Die Sicherung der Qualität der anwaltlichen Tätigkeit liegt der Unionsfraktion am Herzen. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ach Gott!) Deshalb wird sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach Abschluss dieses gesetzlichen Verfahrens im Rahmen eines Kolloquiums mit Experten darüber austauschen, ob und in welcher Form eine Qualitätsverbesserung erreicht werden kann, (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Irgendwann!) und zwar durch eine maßgeschneiderte Regelung und nicht durch eine pauschale und belastende Vorgabe für alle Rechtsanwälte. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Die nächste Rednerin ist Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gehört: Mit dem Gesetz sollte ursprünglich nicht nur die Berufsanerkennungsrichtlinie umgesetzt werden, sondern darüber hinaus auch das Berufsrecht der Rechtsanwälte modernisiert werden. Dieses zweite Ziel wurde nun gründlich verfehlt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Veränderungen aus dem Parlament heraus wären besser unterblieben. Jetzt ist das Gesetz quasi entkernt, indem es auf Qualitätssicherung und Verbraucherschutz gänzlich verzichtet. Das ist mehr als schade. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Fangen wir trotzdem mit dem kleinen positiven Aspekt an: Der Anwendungsbereich des Rechtsdienstleistungsgesetzes steht künftig auch bei grenzüberschreitender Beratung nicht mehr in Zweifel. Die jetzige Formulierung stellt klar: Der Rechtsuchende oder die Rechtsuchende soll bei einer grenzüberschreitenden Beratung immer dann geschützt sein, wenn Gegenstand der Beratung deutsches Recht ist. Erfreulich ist auch die Einführung der Briefwahl bei den Vorstandswahlen der Rechtsanwaltskammer. Dass die Kammern die Briefwahlen jetzt nicht nur durchführen können, sondern auch müssen, ist allerdings eher skurril. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Diese Entscheidung hätte man den Kammern selbst überlassen können. Die wichtigste Neuerung im Regierungsentwurf war vor allem die Konkretisierung der Fortbildungspflicht für die Anwaltschaft, und zwar durch die Satzungsversammlung, also durch das frei gewählte Anwaltsparlament. Die Fortbildungspflicht dient der Qualitätssicherung für die Verbraucher und der Förderung und Stärkung der anwaltlichen Selbstverwaltung. Dieser Vorschlag wurde auch im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens von allen Experten begrüßt, auch von dem Kollegen Flisek, wie wir gerade gehört haben. Das Gleiche gilt für die Einführung eines Nachweises über Grundkenntnisse im anwaltlichen Berufsrecht. Auch dies ist eine Forderung, die sowohl die Rechtsuchenden als auch die Rechtsanwälte selbst vor Haftungsfallen schützen soll. Deswegen ist es völlig unverständlich, warum diese guten und notwendigen Regelungen ersatzlos aus dem Gesetzentwurf verschwunden sind. Die Erklärungen für diesen Rückschritt sind schwammig und überzeugen nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Eine übermäßige finanzielle und zeitliche Belastung sehe ich durch eine Fortbildungsveranstaltung von zehn Stunden im Jahr eher nicht. Für Berufseinsteiger gibt es in der Regel ohnehin entsprechende Vergünstigungen. Außerdem gab es den sinnvollen Vorschlag, die Fortbildungspflicht in den ersten fünf Jahren nach dem zweiten Staatsexamen zugunsten der Berufsanfänger auszusetzen. Das wäre schon deswegen sinnvoll, weil den frisch Examinierten die Ausbildungsinhalte ohnehin noch präsent sind und die Regelung vor allem die älteren Berufskollegen zur regelmäßigen Fortbildung anhalten sollte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!) Dann hieß es – das haben wir eben auch noch mal gehört –, es ginge in Wahrheit um die Profitinteressen der Fortbildungsveranstalter, zu denen unter anderem auch die Kammern gehören. Das ist nun wirklich ein merkwürdiges Argument: Weil Fortbildung Geld kostet, verzichten wir lieber ganz darauf. Dabei wäre die zusätzliche Nachfrage ohnehin gar nicht so riesig, weil die Fachanwaltsfortbildungen ja auf die allgemeine Fortbildung angerechnet werden sollten. Aus gutem Grund nehmen schon heute die meisten Anwälte an Fachanwaltsfortbildungen teil. Trotzdem wollten Sie das nicht. (Christian Flisek [SPD]: Wer? Wer wollte das nicht? – Gegenruf des Abg. Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Na ihr wolltet das nicht!) Es drängt sich vielmehr ein ganz anderer Grund für die Streichung auf. Angeblich soll es überflüssig und unzumutbar sein, wenn Unternehmensanwälte – so Herr Seif im Ausschuss –, die doch ohnehin jahrelang nur für ihr Unternehmen tätig sind und dort ihr eigenes Spezialgebiet bearbeiten, mit derartigen Fortbildungspflichten belästigt werden. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Nur die Altersvorsorge! – Detlef Seif [CDU/CSU]: Frau Keul, das ist kein Zitat von mir! Das ist falsch!) Da rächt sich jetzt das freundliche Entgegenkommen gegenüber den Syndikusanwälten im letzten Jahr. Als es darum ging, Mitglied im anwaltlichen Versorgungswerk sein zu dürfen, war es allen so wichtig, ihre Arbeit als anwaltliche verstanden zu wissen. (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das ist verkehrt, was Sie da jetzt sagen! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Populismus!) Das hörte allerdings bereits bei der Erkenntnis auf, dass anwaltliche Tätigkeit auch eine Berufshaftpflicht nach sich zieht. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rosinenpickerei!) Auch jetzt will man sich nicht mit weiteren störenden Pflichten belasten. So geht das nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Sie haben das Syndikusgesetz nicht verstanden, Frau Kollegin!) Wer seine anwaltliche Tätigkeit ernst nimmt, muss vorrangig die Interessen der Rechtsuchenden in den Blick nehmen. Außerdem dient konsequente Qualitätssicherung auch den Interessen der Anwaltschaft selbst und der Rechtspflege insgesamt. Wer sich daran nicht beteiligen möchte, sollte auf eine Anwaltszulassung besser verzichten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Diesen entkernten Gesetzentwurf lehnen wir ab. Dem Entwurf Ihres Justizministers hätten wir gerne zugestimmt. Deswegen stellen wir dessen ursprüngliche Vorschläge mit unserem Änderungsantrag hier und heute noch einmal zur Abstimmung. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Sehr vernünftig! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zweite Chance!) Nutzen Sie die Chance! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, wir stimmen für die Heiko-Maas-Sache! – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau, wir stimmen für Heiko Maas! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist er denn?) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion die Chance, diese Debatte abzuschließen. (Beifall bei der CDU/CSU ) Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir stärken Europa, indem wir grenzüberschreitende Vorgänge erleichtern. Dieser Satz gilt auch in der Rechtsberatung. Deswegen ist es richtig, die Möglichkeit zu eröffnen, dass Rechtsanwälte, Patentanwälte und Berufe, die unter das Rechtsdienstleistungsgesetz fallen, grenzüberschreitend agieren können. Das ist nicht zuletzt schon Ausfluss der Dienstleistungsfreiheit. Dabei muss es aber unser Ziel sein, die Qualität unserer juristischen Ausbildung und die Qualität der juristischen Beratung im Land auf einem möglichst hohen Niveau zu halten. Wir haben ein hohes Niveau, und deswegen darf es auch keinen Automatismus geben, nach dem Motto: Wer in einem Land rechtsberatend tätig sein darf, der darf das dann automatisch auch in einem anderen. Wir brauchen Qualität in der Rechtsberatung, und wir brauchen eine Lage, die denjenigen, die diese Beratung in Anspruch nehmen, das Vertrauen gibt: Jawohl, ich bin dort in jedem Falle in guten Händen. – Deswegen ist es richtig, dass dieser Gesetzentwurf nach wie vor darauf abstellt, dass wir eine mindestens gleichwertige Berufsqualifikation brauchen und dass ansonsten eine Eignungsprüfung erforderlich ist. Ich persönlich glaube aber, dass wir für die Beibehaltung des hohen Niveaus der Rechtsberatung, das wir im Land haben, nicht als Grundvoraussetzung eine Fortbildungspflicht für Berufsanfänger im Bereich des Berufsrechts brauchen, (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für die Älteren!) die wir dann auch noch mit einer Sanktionsmöglichkeit versehen. Das ist auch der wesentliche Unterschied zwischen den Formulierungen, wie wir sie heute haben, auch in der Fachanwaltsordnung, wo das ja als Obliegenheit formuliert ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber wenn ich mich an meine Referendarzeit zurückerinnere, dann muss ich feststellen, dass wir weitaus mehr als zehn Stunden Berufsrecht gemacht haben. Wenn wir heute in der Debatte den Eindruck erwecken, dass wir bei neuen Rechtsanwälten unter Umständen nicht bundesweit ein dementsprechend hohes Niveau auf dem Gebiet des Berufsrechts haben, dann müssen wir diese Diskussion eigentlich um die Frage bereichern: Wie gelingt es uns dann, bundesweit schon in der Ausbildung im Bereich der Kenntnisse über das Berufsrecht ein solches Niveau zu etablieren? Im Übrigen glaube ich, dass Fortbildung, Weiterbildung und das Sich-mit-der-Rechtslage-Entwickeln ein originäres Eigeninteresse eines jeden Rechtsanwalts sein muss. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Wenn man sich den heutigen Markt anschaut, dann muss man feststellen: Rechtsanwalt sein ist heute kein Zuckerschlecken mehr, weil der Konkurrenzdruck so groß ist, dass man in dem Moment, in dem man das Eigeninteresse an Fortbildung nicht mehr verfolgt, unter Umständen komplett abgehängt wird. Die Zahlen in diesem Bereich sprechen Bände. Es gibt Zahlen des Soldan Instituts, nach denen sich 90 Prozent aller Rechtsanwälte regelmäßig fortbilden. Deswegen empfinde ich es als völlig verfehlt, wenn in dieser Debatte der Eindruck erweckt wird, dass die Qualität für Bürgerinnen und Bürger schlechter wird, weil wir nicht sanktionsbewehrt eine Fortbildungspflicht etablieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Der Kollege Seif hat es vorhin angesprochen: Auch in der BRAK ist das Stimmungsbild gespalten. Es ist nicht so, dass alle sagen, es gebe nur diesen einen Weg, (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Aber sehr viele!) und ich denke, diesen Eindruck sollten wir in dieser Debatte auch nicht erwecken. Wenn wir auf die besonderen Änderungen im berufsständischen Recht der Rechtsanwälte und in bestimmten Rechtsgebieten zurückblicken, dann stellen wir fest: Es war eigentlich nie ein Problem für die Rechtsanwälte, sich punktgenau auf die neue Rechtslage und die neue Situation vorzubereiten. Erinnern Sie sich nur an die große Änderung im Gebührenrecht. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausgerechnet dieses Beispiel halte ich nicht für gelungen!) Ich glaube, insoweit wird deutlich, dass die Anwälte und Anwältinnen, die wir hier im Land haben, keinen Ansporn in Form eines sanktionsbewehrten Zwangsmittels brauchen. Ich halte die Formulierung, die im Moment auf dem Tisch liegt, für sehr gelungen und möchte deswegen um Ihre Zustimmung werben. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11468, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/9521 und 18/9948 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/11626 vor, über den wir zuerst abstimmen. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau, das ist der Entwurf der Bundesregierung!) Wer stimmt für den Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen? – (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir stimmen für die Bundesregierung! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir stimmen für Heiko Maas! – Gegenruf des Abg. Christian Flisek [SPD]: Das könnt ihr mal öfters tun!) Wer stimmt dagegen? – Das ist die Koalition; das war eindeutig die Mehrheit. – Enthaltungen sehe ich nicht. Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, aufzustehen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen sehe ich nicht. Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften im Bereich des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts Drucksache 18/10714 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/11637 Hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.5 Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11637, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/10714 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte alle, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes Drucksachen 18/10944, 18/11284, 18/11472 Nr. 1.2 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Drucksache 18/11635 Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben werden. – Sie sind damit einverstanden.6 Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11635, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/10944 und 18/11284 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen bei einer Enthaltung aus der Fraktion Die Linke angenommen. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er muss wissen, worum es geht! – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Bei uns darf man frei abstimmen!) Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Innovationskraft von kleinen und mittleren Unternehmen stärken – Anreize für mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung schaffen Drucksache 18/11594 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt natürlich keine schlechte Zeit, um sich über die Unterstützung innovativer Unternehmen zu unterhalten. Es gibt jedoch auch bessere Zeiten als jetzt. Aber wir wollen das heute so nehmen, wie es kommt, und uns um diese Zeit intensiv damit auseinandersetzen, wie wir in Deutschland die Szene der innovativen Unternehmen noch besser unterstützen können. Die innovativen kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland bilden das starke Rückgrat der deutschen Wirtschaft, meine Damen und Herren. Sie sorgen für technologischen Fortschritt in Deutschland und sichern hochqualifizierte Arbeitsplätze. Eine Vielzahl von ihnen gehört zu den sogenannten Hidden Champions, also Weltmarktführern, deren Namen man aber nicht genau kennt. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Alles trotz CDU!) – Lieber Kollege Hahn, du weißt ja, dass wir trotz der PDS in Sachsen hervorragende Fortschritte gemacht haben. Gerade Sachsen ist ja ein Land der innovativen Unternehmen. Insofern kann das so nicht stimmen. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Oh, oh, oh!) Meine Damen und Herren, trotzdem muss man ehrlicherweise sagen: Verschiedene Studien attestieren dem innovativen Mittelstand in den letzten Jahren eine nachlassende Innovationskraft. Wenn man den Studien glauben darf, dann ist es so, dass die Zahl der forschenden Unternehmen in Deutschland seit einigen Jahren stagniert. Die Ausgaben für Innovationen, also für die Forschung, in den kleinen und mittleren Unternehmen, haben sich, gemessen am Umsatz, in den letzten 15 Jahren nahezu halbiert. Auch die Zahl der Gründer wächst schon seit Jahren nicht mehr in Deutschland. Damit ist natürlich der Nachwuchs für zukünftige innovative Unternehmen gefährdet. Deswegen brauchen wir einen frischen Wind in der Szene der innovativen Unternehmen. Genau darauf zielt unser Antrag. Wir haben im Prinzip drei Punkte herausgegriffen – sie sind uns in vielen Diskussionen mit Vertretern innovativer Unternehmen und von Forschungsinstituten immer wieder genannt werden –, die notwendig sind, um hier etwas Bewegung in die ganze Sache zu bringen. Erstens. Die Finanzierung von Innovationen und Start-ups muss erleichtert werden. Das ist ein ständiges Thema; gar keine Frage. Viele Vorschläge liegen auf dem Tisch. Trotzdem muss man deutlich sagen: In den letzten Jahren der Großen Koalition und seitdem Bundeskanzlerin Angela Merkel im Amt ist, also seit 2005, haben sich die Ausgaben für Forschung und Technologie enorm erhöht, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Förderung des innovativen Mittelstandes hat sich nahezu verdoppelt und beträgt jetzt fast 1,6 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist schon ein ziemlich bedeutender Betrag. Hier gibt es zwei Säulen: zum einen das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand und zum anderen die Projektförderung über die Industrielle Gemeinschaftsforschung. Es geht darum, die Finanzierung dieser Programme in den nächsten Jahren zu sichern. Innerhalb der Koalition haben wir vor, die Mittel – sie sind in der mittelfristigen Finanzplanung schon ausgewiesen – für diese Programme deutlich zu steigern. Zweiter Punkt. Die Bildungs- und Forschungskooperation – das halte ich aufgrund meiner eigenen Erfahrung aus der Landespolitik in Sachsen für sehr wichtig – muss weiter forciert werden. Es handelt sich um Kooperationen zwischen Unternehmen und Universitäten, zwischen Unternehmen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, von Unternehmen untereinander. Das ist, glaube ich, für die nächste Zukunft sehr wichtig, obwohl wir auch hier in den letzten Jahren eigentlich deutliche Fortschritte gemacht haben. Wir haben 15 Spitzencluster aus dem Spitzencluster-Wettbewerb – das ist schon sehr gut –, und wir haben immerhin über 400 Netzwerke zum Beispiel aus der BMBF-Innovationsinitiative „Unternehmen Region“. Dritter und letzter Punkt aus unserem Programm ist, die KMUs fit zu machen für die digitale Wirtschaft. Glaubt man den verschiedenen Stimmen aus der Wissenschaft und den verschiedenen Studien, dann ist es angeblich so, dass der Mittelstand die Digitalisierung verschläft. Aus meiner Sicht ist das nicht so. Trotzdem muss hier darauf hingewiesen werden: Wer heute in der Digitalisierung nicht die richtigen Schritte geht, wird es in der Zukunft schwer haben. Deshalb gilt es für uns, das Thema digitale Wirtschaft voranzubringen und die KMUs weiter zu unterstützen. Die Plattform Industrie 4.0 ist hier schon ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Ich bitte Sie ganz herzlich um Zustimmung zu unserem Antrag. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt Thomas Lutze das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Thomas Lutze (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In 34 Punkten listen Sie auf, was man alles machen müsste und machen könnte, wenn man die Stellung von kleinen und mittelständischen Unternehmen in der Bundesrepublik stärken wollte. Und Sie betonen zu Recht, dass der Zugang und die Perspektiven für diese Unternehmen zum Beispiel im Bereich Forschung und Entwicklung verbessert werden müssen. Erlauben Sie mir heute Abend, eine Schulnote zu vergeben; denn man kann resümieren: Schön, dass Sie alles aufgeschrieben haben. Vollständigkeit: Note 1. Was man aber nicht in eine Schulnote pressen kann, ist eine politische Frage. Die Antragsteller, CDU/CSU und SPD, regieren seit dreieinhalb Jahren hier. Sie stellen zusammen eine komfortable Mehrheit. Wenn sie es ernst meinen mit dem Thema, dann muss die Frage erlaubt sein, warum wir heute Abend nur einen Antrag haben und keine entsprechende Gesetzesinitiative. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bei der Lektüre Ihres Antrags bekommt man ein bisschen den Eindruck, dass wir kurz vor der Bundestagswahl – und fast hätten wir es kurz vor Mitternacht gehabt – einen Schaufensterantrag auf der Tagesordnung haben. Ich finde das Thema zu wichtig, Herr Lämmel, als dass wir es hier im Ad-hoc-Verfahren einfach mal so durchwinken. Das ist kein seriöses parlamentarisches Verfahren. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn Sie ernsthaft eine Debatte wollen – und ich glaube, wir liegen bei ganz vielen Einzelfragen gar nicht so weit auseinander –, dann überweisen Sie Ihr Papier in die zuständigen Ausschüsse und lassen Sie uns darüber diskutieren. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aus der Sicht der Linksfraktion ist klar: Kleine und mittelständische Unternehmen sind eine tragende Säule unserer Volkswirtschaft. Millionen Menschen haben über diese Unternehmen ein Einkommen, weil sie zum Beispiel Unternehmer, Teilhaber oder auch Mitarbeiter sind. Im Gegensatz zu den großen privatrechtlichen, aber auch vielen öffentlichen Unternehmen sind ihre Möglichkeiten, Forschung und Entwicklung selbst zu betreiben, aufgrund ihrer Größe meist sehr begrenzt. Sie sind also auf Hilfe von außen, auf Zuschüsse, auf Programme usw. angewiesen. Ich bin nun sehr gespannt, was mit Ihrem Antrag konkret passiert, welche Konsequenzen er für den Rest der Wahlperiode hat und welche Aussagen dann im Wahlkampf getroffen werden. Man muss, glaube ich, kein Prophet sein, um voraussagen zu können: Dieses Thema werden wir in der nächsten Wahlperiode wieder auf der Tagesordnung haben. Ich hoffe, dann mit einer anderen Bundesregierung und einer anderen Mehrheit hier im Haus. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Machen Sie sich keine Hoffnung!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Sabine Poschmann, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sabine Poschmann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Vorab möchte ich etwas zu Herrn Lutze sagen, und zwar: Sie hätten unseren Antrag besser lesen sollen. Dann hätten Sie festgestellt, dass 19 Punkte, der überwiegende Teil unseres Antrags, besagen, was wir befürworten, was wir bisher alles auf die Reihe gekriegt haben und wo wir überall schon etwas für Innovation und den Mittelstand getan haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Na ja!) 15 Punkte besagen dagegen, wo wir noch aufbauen können. Das ist also nicht die Mehrheit. Wir haben schon sehr viel getan in dieser Wahlperiode. Deshalb denke ich, man kann zwar immer noch darüber hinausgehen, aber ich freue mich, dass auch die Linke mit uns diesen Weg geht. Denn wir alle wissen: Unsere Forschungs- und Entwicklungslandschaft genießt weltweit hohes Ansehen. Der jüngsten OECD-Studie zufolge zählt Deutschland zu den fünf führenden Forschungsnationen und hat seine Innovationskraft in den vergangenen Jahren deutlich gesteigert. Die Gesamtinvestitionen für Forschung und Entwicklung haben zuletzt einen Höchstwert von 158 Milliarden Euro erreicht. Wir befinden uns insgesamt also auf einem richtigen Weg. Die eigentlichen Wachstumstreiber sind aber die großen Unternehmen. Während diese ihre F-und-E-Ausgaben kontinuierlich steigern, fällt der Anteil der kleineren Betriebe mit weniger als 500 Mitarbeitern seit Jahren weiter zurück. Wir laufen also Gefahr, dass ein großer Teil des Mittelstandes den Anschluss verliert. Diese Entwicklung müssen wir gerade in Zeiten von Digitalisierung und Internationalisierung stoppen, und wir müssen versuchen, sie umzudrehen. Wir wollen den Pioniergeist kleiner Unternehmen wecken und ihr F-und-E-Potenzial stärken. Genau darauf zielt unser heutiger Antrag ab. Er bietet eine gute Grundlage und ist das Ergebnis vieler Gespräche, die wir seit einem Jahr noch viel intensiver mit allen mittelständischen Akteuren geführt haben. Ein wesentlicher Punkt ist für uns, kleineren Betrieben den Zugang zu Förderprogrammen zu erleichtern. Vieles ist für sie einfach zu kompliziert. Wir brauchen Wege durch den Förderdschungel. Deshalb muss die Projektförderung transparenter und einfacher gestaltet werden. Der Anker ist und bleibt das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, ZIM, mit dem wir technologische Neuerungen auf den Weg bringen. Aber auch hier können wir noch eine Schippe drauflegen, indem wir das Volumen bei ZIM von 543 Millionen Euro auf 700 Millionen Euro erhöhen. Sehr geehrte Damen und Herren, unser gesamtstaatliches Ziel, die F-und-E-Ausgaben auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, haben wir inzwischen erreicht. Das ist ein Erfolg. Wir dürfen jetzt aber nicht stehen bleiben; denn andere Volkswirtschaften haben die 3 Prozent längst hinter sich gelassen. Deshalb möchten wir mit unserem Antrag die Gesamtinvestitionen in Forschung und Entwicklung in Deutschland bis 2025 auf 3,5 Prozent des BIP steigern. Wir Sozialdemokraten sind bereit, noch weiter zu gehen. Die deutsche Förderarchitektur ist auf eine klassische Projektförderung fokussiert. Was wir unserer Meinung nach ebenfalls benötigen, ist eine steuerliche Forschungsförderung. Wenn wir den Entdeckergeist der kleinen Betriebe wecken wollen, brauchen wir eine breite Förderung, die diese auch erreicht. Daher finde ich es sehr bedauerlich, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, unseren Vorschlag für eine steuerliche Forschungsförderung nicht mittragen wollen, (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Aber so sind die! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Man braucht im Haushalt für ZIM nur mehr Mittel zu bewilligen! Ist alles schon da!) erst recht, da Niedersachsen und Bayern ein gutes Konzept vorgelegt haben und nun sogar Bundesfinanzminister Schäuble Sympathien für unseren Vorstoß gezeigt hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vielleicht fehlt für den tatsächlichen Schritt dann doch der Mut. Vielleicht hat es Herr Schäuble nicht ernst gemeint. Die SPD jedenfalls steht bereit, das entsprechende Gesetz mit dem Koalitionspartner noch vor der Sommerpause auf den Weg zu bringen. (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, macht das! – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Geht auch mit uns! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Nicht mit mir!) – Vielleicht nach der Sommerpause. Meine Damen und Herren, Innovationen dürfen nicht am fehlenden Kapital scheitern. Wir begrüßen ausdrücklich, dass die KfW-Bank die Finanzierung von Start-ups deutlich ausweitet. Wir wollen damit sicherstellen, dass jungen, innovativen Unternehmen in allen Entwicklungsphasen ausreichend Kapital zur Verfügung steht. Die aktuellen Gründerzahlen zeigen: Da ist noch Luft. Da geht noch was. Wenn ich von Innovationen spreche, meine ich nicht allein technische Neuerungen. Unser Innovationsverständnis reicht weiter. Wir als SPD-Fraktion beziehen dabei ausdrücklich soziales Unternehmertum ein, das mit neuen Ideen und Geschäftsmodellen die Lebensqualität der Menschen verbessern will. Das können Gutschein-Apps für Flüchtlinge sein oder Projekte wie die Solidarische Landwirtschaft, bei der eine Gruppe von Verbrauchern mit einem Partner in der Landwirtschaft kooperiert. Der Kreativität sind hier – genauso wie in der Technik – keine Grenzen gesetzt. Auch solche Start-ups werden künftig deutlich stärker in den Blick genommen und durch die Öffnung der Programme hoffentlich unterstützt. Sie sind eine wahre Schatztruhe. Je mehr Menschen sich für die Lösung gesellschaftlicher Probleme engagieren, desto größer werden die Auswahl und die Ideenvielfalt. Damit punkten wir gleich mehrfach. Wir stärken privates Unternehmertum, entlasten staatliche Organisationen und stoßen Kooperationen zwischen innovativen Sozialunternehmen und Wohlfahrtsverbänden an. Meine Damen und Herren, der deutsche Mittelstand ist eine Lok für unser Wachstum. Lassen Sie uns die Weichenstellung weiter verbessern, damit die Fahrt noch kraftvoller vorangeht. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Danke schön. – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Dr. Thomas Gambke. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn meine Rede Sie möglicherweise zu anderen Erwartungen verleitet: Wir werden dem Antrag zustimmen. Er enthält eine Reihe aufgelisteter richtiger Punkte. Es gibt kaum etwas, dem wir widersprechen würden. Herr Lämmel, Sie haben sich ein bisschen darüber beschwert, dass wir heute zu relativ später Zeit dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben. Ich bin recht stolz, dass Sie noch da sind. Ich habe mich in den letzten zwei Tagen immer wieder gewehrt, meine Rede zu Protokoll zu geben, eine Rede über einen Antrag, der vor noch nicht einmal 48 Stunden in dieses Parlament eingebracht wurde. Sie schreiben zu Beginn Ihres Antrags richtigerweise: Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft Deutschlands hängt maßgeblich davon ab, wie gut es uns gelingt, innovative Ideen zu verwirklichen. Es geht darum, zukunftsfähige Lösungen für die großen Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Das machen Sie mit einer Protokollrede, wenn es nach Ihnen gegangen wäre? Das machen Sie, wenn es nach Ihnen geht, mit einer Sofortabstimmung? Das machen Sie, ohne uns irgendwelche konkreten Maßnahmen vorzustellen? Ich bin erschüttert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Aber Sie stimmen zu!) Viele von Ihnen, die aus den Fachabteilungen kommen, haben an der Anhörung zu den ERP-Mitteln am letzten Montag teilgenommen. Auf Ihre Frage wurden die mir bekannten und Ihnen wahrscheinlich noch nicht bekannten Zahlen betreffend das Volumen von Venture Capital in Deutschland im Vergleich zu dem in den USA genannt – ich bin versucht, Sie zu fragen, ob Sie mir diese Zahlen nennen können –: 60 Milliarden Dollar in den USA und 800 Millionen Euro bei uns. Das Volumen von Venture Capital in Deutschland macht – bei einem Faktor 10 der beiden Volkswirtschaften – etwa ein Hundertstel des Volumens von Venture Capital in den USA aus. Wenn wir uns mit diesem Thema befassen, müssen wir uns auch – so steht es in Ihrem Koalitionsvertrag – mit Fragen zum Wagniskapital ernsthaft befassen. Was ist daraus geworden? Ist Ihr vorliegender Antrag die Antwort darauf? Aber ich bitte Sie, meine Damen und Herren! Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass Sie, obwohl Sie diese Lücke schon identifiziert haben, gar nichts vorlegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wenn ein Unternehmer ein von der TU München entwickeltes elektrisch angetriebenes und an die Erfordernisse der heutigen Welt angepasstes Auto sieht und sagt, dass er das hier bauen möchte, dann braucht er aber Kapital in einer Größenordnung von 75 Millionen bis 125 Millionen Euro. Solche Summen müssen Sie generieren, wenn Sie solche Projekte angehen. Wir brauchen Antworten darauf, woher wir das private Kapital dafür bekommen, wie die rechtlichen Rahmenbedingungen beschaffen sein müssen und wie der Staat das fördern kann. Aber von Ihnen gibt es keine Antworten auf diese Fragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nun komme ich zum Punkt der steuerlichen Forschungsförderung. Dazu hatten wir einen Gesetzentwurf eingebracht. Dazu gab es eine Anhörung und zahllose Fachgespräche. Daraus haben Sie dann einen Prüfauftrag gemacht. Das ist doch lächerlich! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Alibi!) Entweder wollen Sie es, oder Sie wollen es nicht. Was Sie nun vorgelegt haben, dient nur dazu, im Wahlkampf sagen zu können: Wir kümmern uns. – Aber nichts ist gemacht. Selbst Herr Schäuble – ich habe mich ja gewundert – hat schon zugestimmt, und Sie blockieren das immer noch. Der Ball lag auf dem Elfmeterpunkt. Warum haben Sie ihn nicht versenkt? Ich nenne Ihnen dazu noch ein ganz wesentliches Argument: Es geht nicht um Projektförderung gegen steuerliche Forschungsförderung. Wir kommen bei interdisziplinären, neuen und innovativen Ideen mit der Projektförderung nicht weiter. Wir kommen bei den kleinen und mittleren Unternehmen nicht weiter, hinter denen kein Akademiker steht, sondern ein Fachmann, der möglicherweise noch nicht einmal eine Ingenieurausbildung hat. Dieser bekommt nämlich kein Geld aus den Mitteln für Projektförderung für das, was er an guter Entwicklungsarbeit leistet. Das kann man nur mit der steuerlichen Forschungsförderung erreichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich kann nur noch einmal sagen: Ich bin erschüttert über diesen dünnen Antrag, der inhaltlich zwar nicht falsch ist, der aber vollkommen an der Problemstellung vorbeigeht. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Dr. Stefan Kaufmann. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In seiner unvergessenen „Ruck-Rede“ vor fast genau 20 Jahren formulierte Roman Herzog treffend: „Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal.“ Dies trifft auch für die kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Lande zu. Es ist schicksalhaft für deren erfolgreiches Fortbestehen, dass sie innovativ bleiben, dass sie Schritt halten; denn nur so – das haben wir schon gemeinsam festgestellt, und dem widerspricht auch Herr Gambke nicht – bleiben sie wettbewerbsfähig, und zwar nicht nur national, sondern auch weltweit. Dieser weltweite Wettbewerb ist hart. Der deutlich schnellste Rechner der Welt – „Sonnenweg“, 93 Petaflops – steht nicht in Europa. Er steht auch nicht in den USA. Er steht in China, und dort wurde er im Übrigen auch entwickelt. Mit dem vorliegenden Antrag haben die Koalitionsfraktionen ein, wie ich meine, wirklich gelungenes Portfolio der Innovationsförderung für den Mittelstand seitens des Bundes aufgezeichnet. Gleichzeitig legen wir – Frau Kollegin Poschmann hat es gesagt – der Bundesregierung einen Forderungskatalog vor, mit dem wir weitere Ideen für die weitere Stärkung der Innovationskraft der deutschen KMU formulieren. Denn: Wir sind gut, aber wir müssen noch besser werden. Woran genau lässt sich dies nun festmachen? Das EFI-Gutachten, auf das wir Bezug nehmen, wurde genannt. Dort wurde festgestellt, dass nur rund 42 Prozent der KMU im Zeitraum von 2013 bis 2015 Innovationsaktivitäten aufwiesen. Damit sind die deutschen KMU im europäischen Vergleich zwar führend, aber die Innovationsintensität – Herr Kollege Lämmel hat es gesagt –, also die Innovationsausgaben in Relation zum Gesamtumsatz, ist rückläufig, sie sank nämlich von 1,7 Prozent im Jahr 2006 auf 1,5 Prozent im Jahr 2015. Was sind die Gründe? Was sind die sogenannten Innovationshemmnisse? Was hindert die KMU daran, Innovationsaktivitäten zu entfalten? (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Die CDU!) Hier liefert das EFI-Gutachten einige interessante Antworten. Es sind ganz allgemein zu hohe Innovationskosten, ein zu hohes wirtschaftliches Risiko, außerdem ein Mangel an geeignetem Fachpersonal – auch das ist ein wichtiger Punkt – sowie an internen Finanzierungsquellen. Genau bei diesen Punkten setzen wir mit unserem Antrag an. Wir beschreiben ein ganzes Bündel von Maßnahmen des BMWi und BMBF vor allem im Bereich der Fachkräftesicherung, aber auch, Kollege Gambke, im Bereich der Innovationsfinanzierung, um die Innovationshemmnisse weiter abzubauen. Ich möchte einige Beispiele kurz nennen. Vor allem unsere Hightech-Strategie hat wichtige Impulse gesetzt und die Rahmenbedingungen für Innovationen entgegen Ihren Unkenrufen hier in den letzten Jahren deutlich verbessert. (Beifall bei der CDU/CSU) Im Bereich des BMBF wurde die KMU-Förderung um immerhin 30 Prozent auf nunmehr 320 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt. Im Bildungsbereich bringen wir die Digitalisierung vor allem auch in der beruflichen Bildung voran und sorgen dafür, dass der künftige Fachkräftebedarf gesichert werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich darf an dieser Stelle das im letzten Jahr von Ministerin Johanna Wanka vorgestellte Zehn-Punkte-Programm „Vorfahrt für den Mittelstand“ ausdrücklich loben. Darin hat das BMBF die Förderpolitik für mehr Innovationen bei KMU neu aufgestellt. Mit dem Programm werden neue Ideen, Anwendungsmöglichkeiten und Geschäftsmodelle gefördert und eine weite Verbreitung von Forschungsergebnissen und Modelllösungen unter den KMU vorangetrieben. Hier setzen wir auf niederschwellige Angebote und vor allem auch auf die Hebelwirkung von Netzwerken – auch das hat Kollege Lämmel schon angesprochen –, insbesondere auf Partnerschaften von KMU mit regionalen Hochschulen oder auch mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Meine Damen und Herren, für die Zukunft braucht es aber weitere, noch größere Anstrengungen. Deshalb sprechen wir uns ganz klar für das 3,5-Prozent-Ziel aus und für ein effizientes Modell zur steuerlichen F-und-E-Förderung. Herr Gambke, wir sind noch nicht ganz am Ziel der Diskussion; aber wir sind ein weites Stück vorangekommen. Wenn der entscheidende Schritt nicht mehr in dieser Legislatur kommt, dann kommt er auf jeden Fall in der nächsten. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Aber dann ohne euch!) Dafür steht die Union. Für erfolgversprechende Start-ups – auch das wurde genannt; ein ganz wichtiges Thema – werden wir zusätzliche Möglichkeiten zur Mobilisierung von Wagniskapital schaffen. Auch da sind wir dran. Insbesondere hinsichtlich der Seed-Phase sind wir uns weitgehend einig, dass es vor allem dort noch Probleme gibt. Wenn uns dies alles gelingt – da bin ich sehr zuversichtlich –, dann muss uns auch um das Schicksal unserer KMU und damit um die künftige Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft insgesamt nicht bange sein. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache 18/11594 mit dem Titel „Innovationskraft von kleinen und mittleren Unternehmen stärken – Anreize für mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung schaffen“. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Abstimmung in der Sache. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Überweisung zur Federführung an den Ausschuss für Wirtschaft und Energie und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, an den Haushaltsausschuss sowie an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragte Überweisung? – Das sind die Grünen und die Linke. Wer stimmt dagegen? – Das sind die CDU/CSU und die SPD. Wer enthält sich? – Keiner. Damit ist der Antrag auf Ausschussüberweisung abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 18/11594 in der Sache. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Netzentgeltstruktur (Netzentgeltmodernisierungsgesetz) Drucksache 18/11528 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Die Reden hierzu sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.7 Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/11528 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Deutschen Wetterdienst Drucksache 18/11533 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss Digitale Agenda Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.8 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/11533 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe dazu keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitungen und zur Änderung anderer Vorschriften Drucksache 18/11488 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.9 Die Fraktionen haben vereinbart, dass der Gesetzentwurf auf Drucksache 18/11488 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden soll. – Ich sehe auch hierzu keine anderen Vorschläge. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß § 56a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung (TA) Synthetische Biologie – Die nächste Stufe der Bio- und Gentechnologie Drucksache 18/7216 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Stephan Albani, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Stephan Albani (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Einige haben ja noch bis heute Abend durchgehalten. – Wissenschaftlicher Fortschritt birgt Risiken. Darüber sind wir uns alle im Klaren. Dennoch ist der Umgang damit sehr unterschiedlich. Den Umgang mit Neuerungen in den eigenen vier Wänden oder im Verkehrsbereich kann man durchaus als weitestgehend entspannt bezeichnen. Hier sind wir neugierig und vertrauen uns schon mal eher, aber immer zugleich auch zögerlich neuen Flugzeugen oder rückwärts einparkenden Assistenzsystemen an. Ganz anders ist dies im Bereich der Gentechnologie oder eben der Synthetischen Biologie. Diese macht Angst, oftmals aber unter Ausblendung der Fakten. Die verheerenden Zukunftsszenarien von Bioterrorismus, Designermenschen und Menschen, die beim Gottspielen scheitern, sind Stoff für Kinofilme. Glücklicherweise stellte Bischof Karl Lehmann bereits 1996 fest, dass Gentechnik kein Teufelswerk sein muss. Der vorliegende TAB-Bericht verschafft uns wichtige Klarheit darüber, was Synthetische Biologie ist und was nicht. Die im Bericht enthaltenen Anwendungsfelder verdeutlichen, welche enormen Chancen für unser Land aus diesem rasant wachsenden Forschungsfeld entstehen können. So bietet sich vor allem in der Medizin bedeutendes Innovationspotenzial. Kurz- und langfristig kann die Synthetische Biologie zu neuen Entwicklungen bei molekularbiologisch basierten Diagnose- und Therapieverfahren, der Impfstoffentwicklung sowie der Krebsbehandlung führen – exakt also den Gesundheitsforschungsfeldern, auf denen unser Land heute und auch in Zukunft eine Führungsrolle einnimmt und einnehmen soll. Das Beispiel zeigt, wie wichtig es aus politischer Sicht ist, diese Chancen zu fördern – ganz im Sinne von Weizsäckers Dreisatz: Die Technik von heute ist das Brot von morgen. Die Wissenschaft von heute ist die Technik von morgen. Dabei stellen Experten immer wieder fest, dass die Finanzierung von Biotech-Start-ups und der Zugang zu Risikokapital bei uns durchaus ausbaufähig sind. Der Bericht stellt fest, dass das BMBF in den vergangenen 20 Jahren eine sehr aktive Rolle bei der Unterstützung von Unternehmensgründungen in der Biotechnologie gespielt hat. Auch wir haben seitens der Unionsfraktion immer wieder für öffentliches und privates Risikokapital gekämpft – durchaus mit Erfolg. Dennoch fehlt es in der Branche an den nötigen Mitteln. Medizinische Forschung ist kostenintensiv, stark reguliert und langwierig. Kapitalgeber für Biotechgründungen brauchen einen langen Atem. Das kann sich auszahlen, wie zum Beispiel große Biotechunternehmen aus den USA belegen. So ist der 1987 gegründete Biotechriese Gilead Sciences heute 80 Milliarden Euro wert. Der fünf Jahre später gegründete deutsche Branchenprimus MorphoSys ist mit 1,6 Milliarden Euro lediglich 2 Prozent davon wert. Doch nicht nur Wirtschaft und Arbeitsmarkt, vielmehr auch die Menschen profitieren in diesem Bereich von der Synthetischen Biologie. Es gibt bereits vielversprechende Ansätze in der Heilung schwerer Erbkrankheiten wie der Mukoviszidose oder im Bereich der personalisierten Krebsbehandlung. Auch die Möglichkeiten im Bereich der Wirkstoffforschung sind vor dem Hintergrund weltweit zunehmender Resistenzen von großer Bedeutung. Vieles davon sind zunächst kühne Visionen. Nur wenn wir uns als Gesellschaft dieser Chancen annehmen, können wir diese Realität werden lassen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dafür braucht es jedoch gesellschaftliche Akzeptanz für diese Forschung. Einseitig gefärbte Darstellung, Skandalisierungen oder eine Art Postfaktendebatte, wie wir sie in diesem Hause vor kurzem schon einmal hatten, wären eher verheerend. Wir brauchen kulturelles Startkapital für diese Forschung und für die Diskussion in der Gesellschaft. Auch hier kann und muss die Politik eine wichtige Anschubfinanzierung leisten. Wir brauchen eine gute sowie sachliche Informationsgrundlage. Der TAB-Bericht im Auftrag dieses Hauses ist hier ein wichtiger, ein erster Schritt in diese Richtung. Wichtig ist aber auch, dass wir die Menschen von Betroffenen zu Beteiligten und Wissenden machen. Den Dialog kann die Politik einleiten und moderieren – und das bitte sachbezogen. Mir geht es nicht darum, die Synthetische Biologie einseitig positiv darzustellen. Ich will aber dazu beitragen, dass das Gleichgewicht zwischen Risiko- und Chancenbeurteilung wiederhergestellt wird. Wenn wir den Menschen aber zeigen, dass die Forschung aus unserer Welt eine bessere und gesündere macht, sorgen wir für Akzeptanz. Denn auch Hoffnung steuert unser Verhalten. So ergab eine Umfrage im vergangenen Jahr, dass die große Mehrheit ihre medizinischen Daten für neue, personalisierte Therapieansätze zur Verfügung stellen würde. Datenschutz und Medizinforschung schließen sich aber nicht gegenseitig aus. Man kann beides zum Wohle der Menschen in Einklang miteinander bringen. Das wird auch unsere Aufgabe bei der Synthetischen Biologie sein – mit Wissen und Ruhe und stets sachbezogen. Denn wenn wir das nicht tun: Gute Nacht! Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächster hat jetzt Ralph Lenkert für die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Ralph Lenkert (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Niemand kann die komplexe Entwicklung in Wissenschaft, Forschung und Technologie überschauen. Hätten Sie vor zehn Jahren die Möglichkeit von Smartphones erahnt? Und hätten Sie erahnt, dass Wikipedia für viele zum mobilen Brockhaus wird? Warum hole ich so weit aus? Zur Debatte steht ein Bericht über die Technikfolgenabschätzung bei Synthetischer Biologie. Deren Möglichkeiten und Chancen werden von den Beratern des Bundestages im Büro für Technikfolgen-Abschätzung, dem TAB, dargestellt. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft dagegen lassen sich nur erahnen. Worum geht es? Ich zitiere aus der Definition für Synthetische Biologie: Mit Synthetischer Biologie wird die Herstellung von am Reißbrett entworfenen und konstruierten Zellen und Organismen bezeichnet. Charakteristische Forschungsansätze sind die Herstellung kompletter synthetischer Genome, die Konstruktion sogenannter Minimalzellen sowie der Einsatz nichtnatürlicher Zellen. Die technischen Methoden dafür sind bereits entwickelt und werden unter dem Begriff „Gene Editing“ zusammengefasst. Schon heute kann man Gene – auch komplett in mehrzelligen bzw. vielzelligen Organismen – gezielt austauschen oder verändern. Vielleicht wird man so in wenigen Jahren Aids, Krebs oder Erbkrankheiten heilen. Aber vielleicht designen manche Eltern ihr Wunschbaby, indem sie Größe, Haar- und Augenfarbe sowie weitere Merkmale bestimmen. Vielleicht kann man dann Fleisch ohne Tierhaltung produzieren. Und vielleicht werden auch neue Pflanzen und Tiere kreiert. Wenn Sie dies als reine Science-Fiction abtun, dann lesen Sie die TAB-Berichte 164, 168 oder 169, welche die vorhandenen Möglichkeiten beschreiben. Die Labortechnik für viele synthetische Biologieverfahren – wie beispielsweise „Gene Editing“ – ist preiswert. Für ein paar 1 000 Dollar können Sie diese erwerben – frei käuflich. Synthetische Biologie hat zwei Seiten. Positives sehen wir zum Beispiel in der Medizin, wenn bisher unheilbare Krankheiten behandelt werden können und wenn Insulin für Patienten verträglicher und ohne Leid für Schweine aus genveränderten Bakterien gewonnen werden kann. Die Risiken aber sind groß, sei es, weil Tausende von Do-it-yourself-Biohackern in Hinterzimmern und Garagen an Technik für Genmanipulation – und damit an Genveränderungen – arbeiten und eventuell ungewollt Unfälle passieren, sei es, wenn Geheimdienste, Armeen und Terroristen weltweit diese Möglichkeiten als Kampfmittel einsetzen wollen, oder sei es, wenn skrupellose Geschäftemacher diese Techniken rücksichtslos zur Profitsteigerung einsetzen. Wenn ich all dies betrachte, glaube ich, dass Verbote nicht durchsetzbar sind. Also schlage ich vor, Synthetische Biologie bestmöglich zu regulieren. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für Synthetische Biologie ist das Gentechnikgesetz anzuwenden. Gentechnik in der Landwirtschaft bleibt verboten. Der Verkauf, Handel und Besitz von Anlagen und Geräten für „Gene Editing“-Verfahren sind – wie Waffenhandel und Waffenbesitz – zu regulieren. Patente auf Lebewesen werden nicht erteilt. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir stehen erst am Anfang einer Debatte über eine sich rasant entwickelnde Technik. Lassen Sie uns die Chancen erhalten und die Risiken minimieren. Danke. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Da die Kollegen René Röspel und Dr. Philipp Lengsfeld aufgrund von Erkrankungen ihre Reden zu Protokoll gegeben haben10, hat jetzt nur noch der Kollege Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen, die Gelegenheit, das Wort zu ergreifen und die Debatte zu beschließen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt „nur“? – Sven Volmering [CDU/CSU]: Da haben wir den ganzen Tag drauf gewartet! – Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Das muss jetzt aber auch die Rede des Tages werden!) Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Kaum eine andere technologische Entwicklung hat Wissenschaft und Medien in den letzten Jahren so stark bewegt wie die Entdeckung der Genschere, CRISPR/Cas und andere Ansätze der neuen Gentechnik. Der Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung zur Synthetischen Biologie gibt uns als Bundestag und damit auch der Gesellschaft hierzu wichtiges Rüstzeug an die Hand. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Albani, ich weiß nicht, ob Sie den Bericht wirklich durchgeschaut haben. (Sven Volmering [CDU/CSU]: Ja! Hat er!) Zur Not empfehle ich auch den TAB-Fokus. Auch das hilft. (Sven Volmering [CDU/CSU]: Den hat er auch gelesen!) Noch ist es kaum möglich, die tatsächlichen Potenziale und den Nutzen dieser Technologien realistisch einzuschätzen, auch weil sie auf sehr vielen Gebieten einsetzbar scheinen, von Medizin über Rohstoffherstellung bis hin zur Pflanzenzüchtung. Die mit der Technik in Verbindung gebrachten Erwartungen sind nicht nur hoch, sondern gehen leider oft auch am wissenschaftlichen Stand auf erstaunlich naive Weise vorbei. (Sven Volmering [CDU/CSU]: Wieso das denn?) So lautete eine Schlagzeile dieser Woche in der Berliner Morgenpost „Können Superpflanzen den Hunger besiegen?“. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Welternährung ist eben nicht in erster Linie eine Mengenfrage. Das hat bereits der TAB-Bericht von 2011 zum Thema Welternährung deutlich gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schon bei der klassischen Gentechnik wurde alles Mögliche versprochen. Heute wissen wir: Die Versprechen haben sich nicht bewahrheitet. Gentech-Pflanzen haben eben keine höheren Erträge gebracht, der Pestizideinsatz ist gestiegen statt gesunken, und trockenheits- und salztolerante Sorten gibt es zwar längst, aber sie stammen nicht aus dem Genlabor. Gerade bei der Trockenheitstoleranz, eine der Schlüsseleigenschaften für Zukunftsfragen des Pflanzenbaus, liegt das auf der Hand; denn da wird durch ein äußerst komplexes Zusammenspiel vieler Gene diese Eigenschaft bestimmt. Genau da kommen CRISPR/Cas und Co. eben auch an ihre Grenzen. Wir dürfen uns nicht von verlockenden vermeintlichen Potenzialen dazu verleiten lassen, für einen neuen Technologiezweig aus reiner Innovationsbegeisterung auf eine Regulierung zu verzichten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]) Wir müssen gewährleisten, dass Gemeinwohlinteressen und ethische Grundsätze gewahrt bleiben. Der TAB-Bericht, aber auch weitere Gutachten machen deutlich, dass es sich beim Genome Editing um gentechnische Ansätze handelt, auch im juristischen Sinne. Deshalb ist für uns klar: Auch neue Gentechnik ist Gentechnik und muss genauso reguliert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn in Lebensmitteln Gentechnik drinsteckt, muss auch Gentechnik draufstehen, und wenn der Eingriff per se nicht nachweisbar ist, müssen wir auf einem anderen Weg für Rückverfolgbarkeit sorgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir reden hier über mächtige Instrumente. Man kann damit wenig, aber man kann damit auch sehr viel am Erbgut verändern, und das viel schneller und billiger als bisher. Und deshalb ist es ganz klar: Auch bei der neuen Gentechnik handelt es sich um eine Risikotechnologie, bei der viele Sicherheitsfragen nicht geklärt sind. Das gilt besonders für Bereiche, wo geneditierte, lebensfähige Organismen in die Umwelt entlassen werden. Das Vorsorgeprinzip gebietet es eben, einen angemessenen Regulierungsrahmen für den Umgang mit den neuen Technologien sicherzustellen, und dazu gehören auch die Zulassungsverfahren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wie der TAB-Bericht zeigt, werfen die neuen Gentechnikmethoden neue oder verschärfte Risikofragen auf: Wollen wir alles zulassen, was technisch möglich ist, auch Eingriffe in die menschliche Keimbahn? Welche Folgen hätte der Einsatz der Gene-Drive-Technologie, bei der gezielt genetisch veränderte Sequenzen zur Weiterverbreitung in freilebenden Populationen ausgebracht werden? Können wir die Gefahren geplanter Ausrottung tatsächlich ökologisch verantworten? Können wir alle Auswirkungen vorhersehen? Selbst die Leopoldina warnt vor den Risiken. Und wie gehen wir damit um, dass Do-it-yourself-Biologen spielend leicht im Garagenlabor neue Gentechnikorganismen erschaffen können? Das zeigt uns: Laissez faire kann keine Option sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte. Wer Akzeptanz für Genome Editing will, etwa im medizinischen Bereich, der muss auch dafür sorgen, dass diese Debatte stattfindet, und darf nicht die neue Gentechnik den Menschen durch die Hintertür aufzwingen. Deshalb ist es falsch – mein letzter Satz –, dass die Bundesregierung im Entwurf des Gentechnikgesetzes die neue Gentechnik unter dem Radar der Regulierung durchwinken will und damit vollendete Tatsachen schafft. Das ist der falsche Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deshalb sollte auch die Bundesregierung den TAB-Bericht dringend lesen. Danke schön und gute Nacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit ist die Aussprache beendet. Wir kommen zur Abstimmung. Zwischen den Fraktionen wurde vereinbart, die Vorlage auf Drucksache 18/7216 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuss) – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Innovativer Staat – Potenziale einer digitalen Verwaltung nutzen und elektronische Verwaltungsdienstleistungen ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dieter Janecek, Dr. Konstantin von Notz, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stillstand beim E-Government beheben – Für einen innovativen Staat und eine moderne Verwaltung Drucksachen 18/9788, 18/9056, 18/10865 Hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben werden. – Sie sind einverstanden. Dann ist das so beschlossen.11 Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschuss auf Drucksache 18/10865. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/9788 mit dem Titel „Innovativer Staat – Potenziale einer digitalen Verwaltung nutzen und elektronische Verwaltungsdienstleistungen ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/9056 mit dem Titel „Stillstand beim E-Government beheben – Für einen innovativen Staat und eine moderne Verwaltung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 24. März 2017, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend. (Schluss: 22.23 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Albsteiger, Katrin CDU/CSU 23.03.2017 Barthle, Norbert CDU/CSU 23.03.2017 Binder, Karin DIE LINKE 23.03.2017 Bülow, Marco SPD 23.03.2017 Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 23.03.2017 Funk, Alexander CDU/CSU 23.03.2017 Gabriel, Sigmar SPD 23.03.2017 Groneberg, Gabriele SPD 23.03.2017 Gysi, Dr. Gregor DIE LINKE 23.03.2017 Hajek, Rainer CDU/CSU 23.03.2017 Heller, Uda CDU/CSU 23.03.2017 Jelpke, Ulla DIE LINKE 23.03.2017 Klein, Volkmar CDU/CSU 23.03.2017 Kudla, Bettina CDU/CSU 23.03.2017 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 23.03.2017 Möhring, Cornelia DIE LINKE 23.03.2017 Mosblech, Volker CDU/CSU 23.03.2017 Müntefering, Michelle SPD 23.03.2017 Pfeiffer, Dr. Joachim CDU/CSU 23.03.2017 Post, Florian SPD 23.03.2017 Pronold, Florian SPD 23.03.2017 Rüthrich, Susann * SPD 23.03.2017 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 23.03.2017 Schlecht, Michael DIE LINKE 23.03.2017 Schmidt (Ühlingen), Gabriele CDU/CSU 23.03.2017 Schmidt, Dr. Frithjof BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 23.03.2017 Schwarzelühr-Sutter, Rita SPD 23.03.2017 Stauche, Carola CDU/CSU 23.03.2017 Strebl, Matthäus CDU/CSU 23.03.2017 Tank, Azize DIE LINKE 23.03.2017 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 23.03.2017 Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE 23.03.2017 Wöllert, Birgit DIE LINKE 23.03.2017 *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Thomas Feist, Michael Kretschmer, Yvonne Magwas, Maria Michalk und Marco Wanderwitz (alle CDU/CSU) zu der Abstimmung über den von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 3) Wir können dem Gesetz zur Fortentwicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle (StandAG) nicht zustimmen. Obwohl in der Schlussberatung des federführenden Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Zugeständnisse seitens des Bundesumweltministeriums hinsichtlich der Forschungsreaktoren des Forschungszentrums Rossendorf gemacht wurden, bleibt ein endgültiges Exportverbot Teil des Standortauswahlgesetzes. Der Freistaat Sachsen trägt vorerst als einziges Bundesland weiter die Lasten für die Zwischenlagerung der Kernbrennstoffe aus dem DDR-Reaktor. Die im Protokoll des Umweltausschusses vom 22. März 2017 getroffene Verabredung, Gespräche seitens des Bundes mit dem Freistaat Sachsen über mögliche Kompensationsleistungen zu führen, sind unverzüglich einzuleiten. Weitaus schwerer wiegt jedoch die unzureichende Formulierung hinsichtlich der Sicherungsvorschriften in § 21. Die vorgesehene Regelung hindert die Weiterentwicklung des Bergbaus im Freistaat Sachsen. In einigen Gebieten mit zu betrachtendem Wirtsgestein wurden in den vergangenen Jahren bergbauliche Erkundungen durchgeführt, die zur Genehmigung anstünden. Diese werden nun erheblich beeinträchtigt. Für den Fall, dass einzelne Gebiete oberirdisch erkundet werden, ist dort von einer langjährigen Veränderungssperre auszugehen. Leider konnte sich nicht auf eine klarstellende Formulierung geeinigt werden, die bestehende oder beantragte Bergbauvorhaben von einer Veränderungssperre ausnimmt. Dies betrifft in erster Linie ländlich geprägte Regionen im Freistaat Sachsen. Deren Zukunftsfähigkeit hängt besonders von Arbeitsplätzen ab. Eine mittelfristige Unterbrechung der laufenden Projekte würde einem Abbruch des jeweiligen Vorhabens gleichkommen. Das ist nicht akzeptabel. Anlage 3 Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstimmung über den von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 3) Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit der heutigen Abstimmung wird das Standortauswahlgesetz (StandAG) von 2013 novelliert – dabei liegen Ergebnisse der mehrjährigen Arbeit der „Atommüll-Kommission“ – Kommission zur Lagerung hoch radioaktiver Abfälle/Endlagerkommission – zugrunde. Mir ist ein echter Neubeginn bei der Suche nach einem bestmöglichen Aufbewahrungsort in Deutschland für den hochradioaktiven Atommüll wichtig. Und unter Umständen wird es am Ende nur der „am wenigsten ungeeignete“ Standort. Als Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen aus dem Wahlkreis Lüneburg-Lüchow-Dannenberg kenne ich die über 40jährige Geschichte der bisherigen verfehlten Atommüllpolitik in Deutschland nur zu gut. Gerade der Missstand, dass Gorleben 1977 nicht durch ein wissenschaftsbasiertes vergleichendes Verfahren für die Erkundung als Atommüll-Endlager ausgewählt wurde, ist der Hauptgrund für den heutigen neuen Anlauf. Auch mir ist es ein besonders dringliches Anliegen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, sondern aus ihnen zu lernen. Deswegen erwarte ich eine transparente, und an wissenschaftlichen Kriterien orientierte Suche als „selbsthinterfragendes und lernendes Verfahren“ und mit größtmöglicher Bürgerbeteiligung von Anfang an. Zur heutigen Abstimmung im Bundestag: Im Vergleich zum Kabinettsbeschluss der Bundesregierung – Dezember 2016 – wurden bereits bis zur parlamentarischen Einbringung des Gesetzentwurfs der Bundestagsfraktionen zur ersten Lesung – Februar 2017 – mehrere Verbesserungen und Klarstellungen am Text erreicht. Das geschah insbesondere auf Drängen der grünen Bundestagsfraktion. So wurden zum Beispiel die Stellung des Partizipationsbeauftragten sowie die Aufgabenbeschreibung des Nationalen Begleitgremiums (NBG) erweitert und konkretisiert. Und es wurde korrigiert, dass die Aufgabe des Bundesamtes für kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE), zu Ausnahmen nach § 21 Stellung zu nehmen, nicht erst Monate später in Kraft tritt als der Rest des Gesetzes. Auch enthält das Gesetz durch den von Bündnis 90/Die Grünen, SPD und CDU/CSU eingebrachten Änderungsantrag jetzt erneut mehrere deutliche Verbesserungen im Vergleich zum Stand des Gesetzestextes von der ersten Lesung im Februar. Diese Verbesserungen wurden vor allem von Bündnis 90/Die Grünen in die Verhandlungen zwischen den Bundestagsfraktionen erfolgreich eingebracht und wurden von Sachverständigen in der Expertenanhörung im Umweltausschuss des Bundestags bestätigt. Beispielsweise hat die Inanspruchnahme des Rechtsschutzes nach § 17 und § 19 nun aufschiebende Wirkung im Verfahren. Besonders wichtig ist mir das zügige Inkrafttreten der Sicherung potenzieller Atommüll-Endlager-Standorte in ganz Deutschland – Stichwort „bundesweite Veränderungssperre“. Damit sollen Anträge auf Rohstoffabbau oder andere Bohrungen nicht genehmigt werden, solange sich ein Gebiet noch im Suchverfahren befindet. Mit den in § 21 aufgenommenen Schutzvorkehrungen wird nun erstmals ein Großteil der bundesweit vorhandenen Wirtsgesteine vor schädigendem Zugriff geschützt. Eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Status quo, denn bisher galt die Veränderungssperre ausschließlich für Gorleben. Die Sicherung potenzieller Standorte ist für mich eine ganz zentrale Grundvoraussetzung für ein faires Verfahren, damit es im letzten Schritt der Endlagersuche überhaupt mehrere unbeschädigte Standorte in den verschiedenen Wirtsgesteinen gibt, die untertägig erkundet und miteinander verglichen werden können. Dafür habe ich mich seit Jahren eingesetzt. Ein Gesetz oder ein Verfahren kann geändert werden. Rücksprünge sind hier möglich. Doch wenn die Geologie einmal irreversibel geschädigt wurde, dann steht der entsprechende Standort für die sichere Lagerung des Atommülls über 1 Million Jahre nicht mehr zu Verfügung. Deswegen ist es so wichtig, dass potenzielle Standorte nicht für andere kurzfristige Interessen genutzt werden, sondern die Option erhalten bleibt, tatsächlich einen geeigneten Ort für den Atommüll zu finden. Zwar wurden von den Bundestagsfraktionen die möglichen Ausnahmen in § 21 Absatz 2 für untertägige Nutzung – im Vergleich zum Gesetzentwurf der Bundesregierung – weiter eingeschränkt, aber aus meiner Sicht gehen die Ausnahmen noch zu weit. Eine ganz entscheidende Verbesserung ist, dass nun das BfE laut § 21 nicht nur eine Stellungnahme zu möglichen Ausnahmen bei Anträgen auf untertägige Nutzung abgeben wird, sondern in vielen Fällen sogar ein Vetorecht hat. Diesen Punkt hatte ich während der Expertenanhörung im Umweltausschuss angesprochen. Ich erwarte hierdurch einen recht weitgehenden Schutz für potenzielle Endlagerstandorte. Insgesamt gibt es somit im Vergleich zur bisherigen Gesetzeslage im StandAG einige Verbesserungen. Durch die Umsetzung der Ergebnisse der Atommüll-Kommission wird die neue Rechtslage insgesamt besser sein, als wenn das StandAG von 2013 weiterhin unverändert in Kraft wäre. Zu diesen Verbesserungen gehört zum Beispiel auch der Rechtsschutz für Bürgerinnen und Bürger und Grundeigentümerinnen und Grundeigentümer. Hierfür hatten sich in der Atommüll-Kommission sowohl die Vertreter und Vertreterinnen von Bündnis 90/Die Grünen als auch der Vertreter des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) eingesetzt. Meine Kritik am heute abzustimmenden Gesetz, unter anderem: Für ein vergleichendes wissenschaftliches Verfahren sollten immer mindestens zwei Standorte pro Wirtsgestein – Ton, Salz, Kristallin – mit der gleichen Erkenntnistiefe erkundet werden. Dieses aus meiner Sicht ganz zentrale Prinzip wurde bedauerlicherweise nicht im Gesetz festgeschrieben. Hierzu gab es schon in der Atommüll-Kommission leider keine Einigung. Laut § 8 sei die Rolle des Nationalen Begleitgremiums (NBG) die „vermittelnde und unabhängige Begleitung“, Zweck ist, „Vertrauen in die Verfahrensdurchführung zu ermöglichen“. Relevant dafür, dass das NBG diese Aufgabe auch erfüllen kann, sind ausreichende finanzielle Mittel, breite Befugnisse und echte Unabhängigkeit. Diese Rahmenbedingungen und Rechte des NBG können nur in eingeschränktem Maße gesetzlich verankert werden. Jedoch erwarte ich von allen Bundestagsfraktionen ein klares Bekenntnis hierzu – auch hinsichtlich der zukünftigen Haushaltsberatungen. § 22 wurde nach der Anhörung konkretisiert und hier deutlich gemacht, dass Erkundungsmaßnahmen so geplant und durchgeführt werden müssen, „dass der einschlusswirksame Gebirgsbereich nur in dem für den erforderlichen Informationsgewinn unvermeidlichen Ausmaß verritzt und seine Integrität nicht gefährdet wird“. Doch auch in der neuen Fassung des Gesetzes soll eine Schädigung eines Standortes, die möglicherweise durch die Erkundung entstanden ist, nicht sofort zum Ausschluss dieses Standortes führen, selbst wenn dadurch negative Einflüsse auf den Spannungszustand oder die Permeabilität des Gebirges entstanden sind. Stattdessen soll erst bei der vorläufigen Sicherheitsuntersuchung geprüft werden, ob ein sicherer Einschluss trotz dieser Folgen sichergestellt werden kann. Das führt dazu, dass unter Umständen ein nicht geeigneter Standort länger im Verfahren bleibt als nötig. Und dies ist aus meiner Sicht nicht zielführend. Nach sorgfältiger Abwägung all dieser Punkte werde ich mich bei der Abstimmung zum Gesetz enthalten. Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Mit der Verabschiedung des Standortauswahlgesetzes (StandAG) im Sommer 2013 haben Bund und Länder gemeinsam die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Suche nach einem Endlager für Wärme entwickelnde hochradioaktive Abfälle auf eine neue Grundlage zu stellen. Auch die auf Basis dieses Gesetzes einberufene Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ und ihr am 28. Juni 2016 beschlossener Abschlussbericht mit den Empfehlungen für ein neues Endlagersuchverfahren waren zentrale Meilensteine für einen zukunftsweisenden Konsens, den ich grundsätzlich mittrage. Dieser Konsens kann in meinen Augen zu einer möglichen Befriedung eines jahrzehntelangen und die gesamte Gesellschaft beschäftigenden Konflikts beitragen. Als Abgeordnete des Wahlkreises mit dem stillgelegten Kernkraftwerk Grafenrheinfeld sehe ich es auch als wichtig an, der Region mit dem Gesetz hinsichtlich der Endlagerung der hochradioaktiven Abfälle eine Perspektive zu geben. Nicht zuletzt war für mich ausschlaggebend, dass durch die Festlegung, das Endlager in allen drei Wirtsgesteinen zu suchen, der Standort Gorleben weiterhin Teil der Endlagersuche sein wird. Dies sind die Hauptgründe meiner Zustimmung zum StandAG-Fortentwicklungsgesetz. Kritisch sehe ich die im Gesetz vorgesehene Gleichrangigkeit verschiedener Endlagerkonzepte in den Wirtsgesteinen Steinsalz, Ton- und Kristallingestein. Dies habe ich auch während der parlamentarischen Beratungen zum Ausdruck gebracht. Nach dem internationalen Stand von Wissenschaft und Technik kann in Steinsalz, Ton- und wohl auch in Kristallingestein ein sicheres Endlager für hochradioaktive Abfälle für eine Million Jahre realisiert werden. Kristallingestein ist jedoch im Gegensatz zu Steinsalz und Tongestein meist geklüftet. Deshalb müssen dann geotechnische und technische Barrieren – Streckenverfüllung aus Bentonit (Ton) plus Endlagerbehälter – die Isolation der Abfälle für den langen Betrachtungszeitraum gewährleisten. Das Konzept des einschlusswirksamen Gebirgsbereichs (ewG), bei welchem die Geologie die Hauptlasst der Isolation der Abfälle von der Biosphäre trägt, ist dann nicht zu realisieren. Der vorliegende Gesetzentwurf legt für die künftige Endlagersuche den hohen Anspruch der „bestmöglichen Sicherheit“ mit einem Vergleich von Standorten fest. Vor diesem Hintergrund gibt es einen maßgeblichen Unterschied zwischen dem ewG- und dem Kristallinkonzept: Im ewG-Konzept beruhen die Aussagen der Langzeitsicherheit maßgeblich auf der Geologie, welche viel robuster für 1 Million Jahre zu prognostizieren ist als für Konzepte mit geotechnischen und technischen Barrieren. Ich bin mir sicher, dass vor dem Hintergrund der „bestmöglichen Sicherheit“ nur ein Endlagerstandort mit dem Konzept des einschlusswirksamen Gebirgsbereiches (ewG) sich am Ende des Endlagersuchverfahrens durchsetzen wird bzw. kein Endlagerkonzept mit maßgeblichen technischen oder geotechnischen Barrieren in Deutschland zum Einsatz kommen wird. Letztendlich wird dies dann aber nur die Durchführung des Verfahrens erbringen. Aufgrund der Klarstellung im Gesetzentwurf, dass – bei einem Behälterkonzept deutlich höhere Anforderungen an die Langzeitintegrität des Behälters zu stellen sind, – der Nachweis des sicheren Einschlusses der Radionuklide für eine Million Jahre im Vergleich zu anderen Standorten mit dem Anspruch der „bestmöglichen Sicherheit“ geführt werden muss, – der Bund nach Verabschiedung des „Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung der kerntechnischen Entsorgung“ entsprechend dem Verursacherprinzip die Rückstellungen der Energieversorgungsunternehmen für die atomare Zwischen- und Endlagerung übertragen bekommen hat und im Gegenzug nun für diese Aufgabe voll organisatorisch und finanziell verantwortlich ist und – aufgrund der überragenden politischen Bedeutung des überfraktionellen Konsenses stimme ich dem Gesetz dennoch zu. Dies tue ich insbesondere auch für die Bürgerinnen und Bürgern im Landkreis Schweinfurt, die ein Recht auf eine verlässliche Perspektive durch eine mittelfristige Endlagerlösung haben. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Europol-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 16) Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Wie kürzlich bekannt wurde, hat es Mitte Januar in Spanien einen Schlag gegen einen riesigen Waffenhändlerring gegeben, bei dem mehr als 10 000 Waffen sichergestellt und fünf beteiligte Personen festgenommen werden konnten. Nach Presseberichten war man dem Händlerring im Rahmen der Ermittlungen zum Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel im Jahr 2014 auf die Spur gekommen. Unterstützt wurden diese Ermittlungen durch Europol. Dies zeigt, wie wichtig Europol bei der Verbrechensbekämpfung in der EU heutzutage ist. Mit der Verabschiedung der neuen Europolverordnung im Mai vergangenen Jahres haben das Europaparlament und der Rat dafür gesorgt, dass die Agentur noch schlagkräftiger agieren kann. Bei der Erweiterung der Rechte von Europol wurde aber nicht nur die Frage der künftigen Schlagkraft, sondern auch des Datenschutzes und der parlamentarischen Kontrolle berücksichtigt. So hat der europäische Datenschutzbeauftrage erweiterte Kontrollrechte gegenüber Europol erhalten, und auch eine parlamentarische Kontrolle ist nun vorgesehen. Diese wird zukünftig durch ein gemeinsames Gremium der nationalen Parlamente und des europäischen Parlaments ausgeübt. An der genauen Ausgestaltung dieser neuen und meines Erachtens zukunftsweisenden Zusammenarbeit der europäischen und nationalen Ebene wird derzeit fieberhaft unter Beteiligung aller europäischen Parlamente gearbeitet. Ich hoffe, dass wir bis zum Wirksamwerden der neuen Europol-Verordnung Anfang Mai hier Vollzug melden können. Um Europol die neuen Aufgaben zu ermöglichen, ist aber auch auf Ebene der Mitgliedstaaten die Umsetzung der neuen Verordnung in nationales Recht nötig. Mit dem nun vorliegenden ersten Gesetz zur Änderung des Europolgesetzes wird diese Umsetzungsarbeit vom Bundestag in Angriff genommen. Einer der wesentlichen Punkte der Änderungen, die auf EU-Ebene vorgenommen wurden ist, dass zukünftig der Kreis der Polizeibehörden, die Vollzugriff auf die Daten von Europol bekommen können, erweitert wird. In Deutschland soll der Bundespolizei, dem Zollfahndungsdienst und den Polizeibehörden der Länder dieser Zugriff auf das Europolsystem und seine Datenbanken gewährt werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Frage der technischen Umsetzung. Diese erfolgt im Gegensatz zum bisherigen Ansatz des Europolratsbeschlusses technikneutral. Es wird also auf bestimmte Verarbeitungszwecke abgestellt und nicht auf bestimmte technische Systeme. Dies führt innerhalb des Europolsystems zum einen zu mehr Flexibilität, und zum anderen kann das System besser an zukünftige technische Entwicklung angepasst werden. Mit den nun zu beschließenden gesetzlichen Änderungen wird die polizeiliche Arbeitsebene zukünftig Zugriff auf wichtige Erkenntnisse von Europol haben. Dies wird dazu beitragen, die tägliche Polizeiarbeit schneller, erfolgreicher und effizienter zu machen. Gerade in der heutigen Zeit, in der Verbrechen und Verbrecher an Staatsgrenzen nicht mehr Halt machen – wie der eingangs erwähnte erfolgreiche Schlag gegen einen Waffenhändlerring in Spanien zeigt –, ist die effektive und schnelle Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in der EU von entscheidender Bedeutung, um den Bürgerinnen und Bürgern die Sicherheit zu bieten, die sie von ihrem Staat erwarten. Da die neue europäische Verordnung am 1. Mai dieses Jahres in Kraft treten wird, wäre es wichtig, dass wir die parlamentarischen Beratungen zügig abschließen. Damit wäre gewährleistet, dass Deutschland direkt zum Start am reformierten Europolsystem teilnehmen kann. Sowohl vonseiten der Bundesländer als auch vonseiten der Bundesbeauftragten für den Datenschutz wurde kein Widerstand gegen das vorliegende Gesetz geäußert. Dies ist erfreulich und sollte dazu beitragen, dass wir nun anstehende Beratungen schnell abschließen. Packen wir’s an, wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern zeigen, dass Europa für uns alle einen Mehrwert hat, gerade wenn es um die Sicherheit von uns allen geht. Susanne Mittag (SPD): Kriminalität ist ein weltweites Phänomen. Es macht vor keinen Grenzen Halt, ganz im Gegenteil: Kriminelle nutzen Grenzen, um sich der Verfolgung über Staatsgrenzen hinweg zu entziehen. Sie nutzen unterschiedliche Strafverfolgungs- und Ermittlungssysteme gezielt aus. Die organisierte Kriminalität handelt mit allem Illegalen, mit dem sich viel Geld verdienen lässt: Menschen, Drogen, Waffen, Kunstgegenständen aus Raubgrabungen. Hochwertige Fahrzeuge stehen gerade hoch im Kurs. Oder es sind mobile Banden, die Wohnungseinbrüche begehen oder alte Menschen mit dem sogenannten Enkeltrick betrügen. Sie schlagen mal in Holland, mal entlang der A2 zu, um sich dann weiter in den Osten zu bewegen; ein großer Teil ist in drei Ländern unterwegs. Deshalb ist es vollkommen richtig und wichtig, dass auch die Polizeien sich besser international vernetzen. Innerhalb der Europäischen Union wurde dafür schon 1999 das Europäische Polizeiamt mit Sitz in Den Haag gegründet. Europol, wie das Polizeiamt auch kurz genannt wird, hilft den nationalen – also auch deutschen – Strafverfolgungsbehörden bei der Bekämpfung schwerer internationaler Kriminalität und von Terrorismus. Beides gehört mehr und mehr zusammen. Aber zum Beispiel auch Subventionsbetrug, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehören jetzt zu den Aufgabengebieten von Europol. Europol fungiert als Knotenpunkt für den Informationsaustausch zwischen den nationalen Polizeien zu kriminellen Aktivitäten innerhalb der EU und erstellt gemeinsame Ermittlungsgruppen. Aber Europol dient nicht nur zur Informationsverteilung, sondern bereitet aus den zur Verfügung gestellten Daten Analysen zu unterschiedlichen Kriminalitätsbereichen auf. In Den Haag ist also ein Kompetenzzentrum mit aus den Mitgliedstaaten entsandten Polizisten entstanden. Hier können durch die internationale Vernetzung ganzheitliche Analysen unterschiedlicher Phänomenbereiche erarbeitet und den Polizeibehörden zur Verfügung gestellt werden: zum Ermitteln, Verhaften und Werte-Sichern. Beispielhaft für solch eine Analyse möchte ich hier nur kurz den SOCTA-Bericht 2017, der Anfang des Monats erschienen ist, nennen. In diesem Bericht beleuchtet Europol die schwere und organisierte Kriminalität in Europa. In der EU werden derzeit rund 5 000 bekannte Gruppen der OK in Ermittlungen überprüft. Eine OK-Gruppe besteht dabei aus drei und mehr Personen, die über eine bestimmte Zeitspanne zusammenarbeitet, um Gewinne aus Straftaten zu erzielen. Rund 76 Prozent dieser Gruppen haben sechs und mehr Mitglieder, sind meist hierarchisch organisiert und arbeiten nur bedingt deliktsbezogen, das heißt umgangssprachlich: klauen, was bestellt wird. Vor allem die Bereiche des illegalen Warenhandels im Internet, Drogen, Menschenschmuggel und Menschenhandel sowie organisierte Eigentumsdelikte sind Hauptbetätigungsfelder der OK. Die organisierte Kriminalität gefährdet aber nicht nur mit ihren Taten die Sicherheit in unserer Gesellschaft, und zwar alle, Arm und Reich, nein, Terroristen nehmen gerne Dienstleistungen von OK-Gruppen, wie zum Beispiel den Menschenschmuggel, Dokumentenfälschungen oder illegalen Waffenhandel, in Anspruch, um so möglichst unter dem Radar der Sicherheitsbehörden einreisen zu können bzw. ihre Taten vorzubereiten. Um auch hier wirkungsvoll ansetzen zu können, brauchen wir eine verbesserte internationale Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden. Dafür brauchen wir ein gut aufgestelltes Europäisches Polizeiamt Europol und einen modernen Rechtsrahmen, in dem Europol agieren kann. Das ist die sogenannte Europol-Verordnung. Die Verordnung, die im Mai vergangenen Jahres vom Europäischen Parlament und vom Rat beschlossen wurde, war ein hartes Stück Arbeit für die Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlamentes. Auch der Bundestag hat sich eingehend damit befasst. Die zehn Verhandlungsrunden im Trilog zeugen davon, dass hier sehr ausdauernd an sinnvollen Lösungen gearbeitet wurde. Ich denke, es hat sich gelohnt. Europol hat nun eine parlamentarische Kontrolle, bestehend aus Vertretern der nationalen Parlamente und dem zuständigen LIBE- Ausschuss im EP, erhalten. Das ist wichtig. Denn durch eine starke parlamentarische Kontrolle entsteht auch die Legitimität und Akzeptanz in den einzelnen Ländern, die eine EU-Polizeibehörde für ihre Arbeit braucht. Nun ist die Verordnung beschlossen und tritt am 1. Mai 2018 in Kraft. Wir müssen jetzt kleinere, zuweilen eher redaktionelle Änderungen an unserem Europol-Gesetz vornehmen, um es an die Verordnung anzupassen. Endlich sollen auch die Bundespolizei, der Zollfahndungsdienst und die Länderpolizeien direkten Zugriff auf operative Analysedateien bei Europol erhalten. Oftmals müssen die Erkenntnisse schnell erlangt werden. Der veraltete „Dienstweg“ wurde mit der Europol-Verordnung modifiziert. Wo mit Daten, besonders mit so sensiblen wie Personendaten gearbeitet wird, muss es eine aktuelle und rechtssichere Datenschutzsystematik geben. Deshalb wurde auch der Europäische Datenschutzbeauftragte, der zuständig für die Kontrolle von Europol ist, darauf festgelegt, dass er mit den nationalen Kontrollbehörden für den Datenschutz eng zusammenarbeiten muss. Hierfür wurde nach zähem Ringen der Beirat für die Zusammenarbeit gegründet, der sich aus je einem Vertreter der Kontrollbehörden der Mitgliedstaaten und dem Europäischen Beauftragten für den Datenschutz zusammensetzt. Die spannende Frage bei Kontrollen ist aber doch immer: Wer benennt denn den Kontrolleur? Eigentlich logisch, dass im Entwurf das Ernennungsrecht des deutschen Vertreters bei der Beauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit liegt. Wo sonst? Die sogenannte BfDI ist ja auch in Deutschland die unabhängige Kontrollinstanz im Bereich des Datenschutzes. Deshalb ist es gut, diese Systematik auch beim Beirat für die Zusammenarbeit für Europol beizubehalten. Insgesamt halte ich den Entwurf für einen wichtigen Schritt zur Bekämpfung der OK und bin gespannt auf die parlamentarischen Beratungen. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung will das Europol-Gesetz umschreiben, um es an die veränderte europäische Rechtslage anzupassen. Anlass ist die im vorigen Jahr erfolgte Ersetzung des früheren Europol-Ratsbeschlusses durch die Europol-Verordnung, die jetzt ihren Niederschlag in einem deutschen Gesetz finden soll. Die Linke wird diesem Gesetz die Zustimmung verweigern, genau wie es unsere Schwesterfraktion im Europarlament gemacht hat. Denn die Europol-Verordnung ist ein Schritt auf dem Weg zu einer Art Super-Polizeibehörde, die immer mehr Kompetenzen erhält, ohne dass die Kontrollbefugnisse von Parlamenten und Datenschützern damit Schritt halten. Die Bürgerrechte, insbesondere das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, bleiben dabei auf der Strecke. Sicherlich ist die Koordination europäischer Polizeibehörden wichtig, damit sich Kriminelle nicht einfach dem Zugriff entziehen können, indem sie sich in ein anderes Mitgliedsland absetzen. Es muss aber klare Zuständigkeiten und Kontrollbefugnisse geben, und daran mangelt es leider. Europol hat in den letzten Jahren erheblich aufgerüstet. Die Behörde verfügt jetzt beispielsweise über eine sogenannte Meldestelle für Internetinhalte, die gewaltverherrlichende Seiten aufspüren und ihre Löschung veranlassen soll. Die Kriterien dafür bleiben, wie so vieles bei Europol, im Unklaren. So geht diese Meldestelle mittlerweile auch gegen Facebook-Gruppen professioneller Schleusernetzwerke vor, was letztlich dazu führen wird, dass die Fluchtwege noch gefährlicher werden. Sie darf zudem von privaten Konzernen wie Google, Facebook, Twitter usw. die Nutzerdaten anfordern und so einen gigantischen Datenberg anhäufen. Unklar bleibt auch, was genau das von Europol Anfang 2016 eingerichtete Europäische Zentrum für Terrorismusbekämpfung macht. Europol-Direktor Rob Wainwright bezeichnete das Zentrum im Januar 2017 als „Meilenstein im Kampf gegen den Terrorismus“; der Informationsaustausch zwischen den europäischen Polizeibehörden habe erheblich zugenommen. – Das glaube ich gerne, aber ich kann darin nicht nur einen Vorteil sehen, sondern ich sehe auch eine Bedrohung für die Bürgerrechte, wenn es keine effektive Kontrolle darüber gibt, welche Art von Daten hier auf welcher Grundlage ausgetauscht werden. Deswegen ist es äußerst bedenklich, wenn die Europol-Verordnung festschreibt, dass die nationalen Polizeibehörden Europol „alle nötigen Informationen“ für die Terrorbekämpfung zukommen lassen sollen. Dem Gesetz zufolge sollen die Polizeibehörden der Bundesländer selbst Europol zuarbeiten und auch von dort Daten abrufen können. Da muss doch wenigstens geklärt sein: Wer definiert, was Terrorbekämpfung ist, wer definiert, was die nötigen Informationen sind, und – nicht zuletzt – wer prüft nach, was mit diesen Informationen passiert und an wen sie schlussendlich weitergegeben werden? Das alles ist völlig unklar. Europol wird zur Blackbox, die für niemanden kontrollierbar ist. Das gilt noch mehr für den angestrebten Datenaustausch mit Geheimdiensten. In mehreren Mitgliedstaaten gibt es schon eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Polizei- und Geheimdienstbehörden, in Deutschland etwa im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum und dem Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum. Voriges Jahr schlug die Europäische Kommission nun vor, ebenfalls ein „Drehkreuz für den Informationsaustausch“ zwischen europäischen Polizei- und Geheimdienstbehörden einzurichten, wobei Europol wiederum eine zentrale Rolle erhalten soll. Die Linke lehnt diese gemeinsamen Zentren in Deutschland ab, weil sie das Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten unterlaufen. Sie ermöglichen es Polizeibehörden, an Informationen zu gelangen, an die sie nach eigenem Recht gar nicht gelangen könnten, und umgekehrt. Dieses Prinzip darf nicht auch noch auf die ganze EU ausgedehnt werden. Denn natürlich operieren diese Zentren quasi in einem rechtsfreien Raum und sind weder durch nationale Parlamente zu kontrollieren noch durch das Europaparlament. Auf diese Weise könnten etwa deutsche Polizei- und Geheimdienstbehörden die Beschränkungen des Informationsaustauschs, die ihnen deutsches Recht auferlegt, klammheimlich und unbemerkt hintergehen. Die Entwicklung von Europol geht damit in die falsche Richtung. Internationaler polizeilicher Datenaustausch muss konkret dem Kampf gegen Kriminalität dienen und darf nicht zum Selbstzweck werden. Er muss zudem einer parlamentarischen und soweit wie möglich auch öffentlichen Kontrolle unterliegen. Dieser enge Rahmen wird hier eindeutig verlassen. Die Zweckbindung erhobener Daten, der Respekt vor der informationellen Selbstbestimmung, das Prinzip der Trennung polizeilicher und geheimdienstlicher Arbeit, all das wird für hinfällig erklärt. Europol wird Schritt für Schritt zum unkontrollierbaren Datenkraken aufgebaut. Das gibt den Einwohnerinnen und Einwohnern der Europäischen Union nicht mehr Sicherheit, sondern es nimmt ihnen Freiheitsrechte. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vorliegende Gesetzentwurf reagiert auf die im Mai 2016 beschlossene neue Verordnung 2016/794 des Europäischen Parlaments und des Rates zu Europol und beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die nach der Verordnung zwingend vorgegebenen nationalen Regelungen zu schaffen. Europol hat dabei weiterhin in erster Linie die Aufgabe, die Tätigkeit der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zu stärken sowie deren Zusammenarbeit bei der Prävention und Bekämpfung von organisierter Kriminalität, Terrorismus und anderen Formen schwerer Kriminalität zu unterstützen. Dabei steht die eigene Datenverarbeitung durch Europol sowie die Weitergabe von Informationen und Analysen an nationale Behörden im Zentrum. Ein wesentlicher Punkt dabei ist aber, dass die Abfragen nationaler Behörden künftig nicht mehr durch das jeweilige Verbindungsbüro, sondern direkt durch die jeweilige nationale Polizeibehörde erfolgen sollen. Ein solcher Schritt war ja zu erwarten. Ob dadurch aber eine bessere Nutzung der Systeme durch die Mitgliedstaaten erreicht wird, wird man erst in der Praxis sehen können. Neu ist aber auch, dass nationalen Behörden dabei nun auch der Zugang zu Daten eröffnet wird, die bei Europol bisher nur zu Analysezwecken verarbeitet werden. In diesem Zusammenhang besonders wichtig ist daher, dass der europäische Gesetzgeber dem Thema Datenschutz erhebliches Gewicht beimisst. So wurde ein ganz neues Kapitel der Verordnung allein den Datenschutzgarantien gewidmet. Die Verordnung nimmt außerdem stärker alle Kriminalitätsformen in den Blick, die durch die Nutzung des Internets erleichtert, gefördert oder begangen werden, und die Herausforderungen, die sich daraus für die polizeiliche Arbeit ergeben. In diesem Zusammenhang definiert die Verordnung eine völlig neue Aufgabe: Europol soll zukünftig in Kontakt zu privaten Anbietern von Onlinediensten treten, damit diese auf freiwilliger Basis die Vereinbarkeit bestimmter Inhalte mit ihren jeweiligen Geschäftsbedingungen überprüfen und gegebenenfalls Inhalte oder Links löschen. Die Regelung müssen wir uns sehr genau anschauen, da hier eine Datenweitergabe von einer nationalen Polizeibehörde – also beispielsweise der Bundespolizei – an Europol und von Europol an den privaten Betreiber eines Onlinedienstes – also beispielsweise Facebook – erfolgt, und das ist nach meiner Einschätzung etwas, das ein nationaler Gesetzgeber explizit regeln sollte. Immerhin wird hier eine private Stelle in die Erfüllung öffentlicher Aufgaben einbezogen. Die dadurch ausgelösten Restriktionen können durchaus grundrechtsrelevant sein oder Grundrechtseingriffen jedenfalls sehr nahe kommen. Der vorliegende Gesetzentwurf greift diese Fragen jedoch nicht auf. Geeignete nationale Regeln wären hier aber besonders wichtig, um ein rechtsstaatliches Verfahren sicherzustellen. Immerhin ist davon auszugehen, dass die Folge der Übermittlung polizeilicher Daten in aller Regel eine Löschung oder Sperrung sein wird, wobei auch die Auswirkungen auf den Rechtsweg beziehungsweise den Rechtsschutz der Betroffenen sehr schwer wiegen können. Vor allem ist es aber eine Grundsatzentscheidung, wie Private in die Erfüllung von Sicherheitsaufgaben eingebunden werden sollen. Ich verweise hier nur auf die Diskussion, die wir gerade zur Erweiterung der privaten Videoüberwachung führen. In der Anhörung zu dem entsprechenden Gesetzentwurf wurde vonseiten der Sachverständigen schließlich auch auf die engen datenschutzrechtlichen Grenzen hingewiesen. Aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit, aber auch im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit wäre es im Übrigen dringend angezeigt, weitere Regelungen in den Gesetzentwurf aufzunehmen. Wesentliche Ansätze hinsichtlich der Frage der Zweckbindung polizeilicher Daten hat zum Beispiel die Anhörung zum BKA-Gesetz geliefert, die man auch hier aufgreifen könnte. Dazu ist es jedoch notwendig, Anhörungen nicht nur durchzuführen, sondern die Stellungnahmen der Experten auch tatsächlich in das Gesetzgebungsverfahren einfließen zu lassen. Und auch das zeigt der vorliegende Gesetzentwurf deutlich: Europol braucht schon allein aufgrund der Masse an polizeilichen Daten, die dort zukünftig zusammenlaufen sollen, eine bessere parlamentarische Kontrolle. Als nationales Parlament sollten wir daher unseren gesamten Einfluss geltend machen, das zu gewährleisten. Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: In der Sicherheitsarchitektur der Europäischen Union nimmt Europol mittlerweile eine zentrale Rolle beim gemeinsamen Informationsaustausch und der Zusammenarbeit der Polizeibehörden der Mitgliedstaaten ein. Am Sitz von Europol in Den Haag arbeiten mittlerweile über 1 000 Personen. Der Haushalt von Europol beträgt mehr als 100 Millionen Euro im Jahr. Insbesondere im Bereich der Terrorismusbekämpfung hat Europol in den vergangenen zwei Jahren bedeutende Fortschritte erzielt. Hervorzuheben sind etwa die Einrichtung eines Europäischen Zentrums zur Terrorismusbekämpfung und die EU-Internet-Meldestelle. Ein weiterer bedeutender Baustein in dieser Entwicklung war im Mai vergangenen Jahres die Verabschiedung einer neuen Rechtsgrundlage für Europol. Durch die neue Europol-Verordnung (EU) 2016/794 werden die Arbeitsfähigkeit von Europol gestärkt und die bestehenden hohen Schutzstandards gewahrt. Lassen Sie mich nur drei Beispiele herausgreifen: Die Zuständigkeit von Europol wird auf weitere Kriminalitätsformen erstreckt, darunter der sexuelle Missbrauch von Kindern, schwerer Diebstahl sowie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Europol erhält mehr Flexibilität bei der Ausgestaltung seiner IT-Strukturen, indem technikneutral auf bestimmte Verarbeitungszwecke abgestellt wird, anstatt einzelne IT-Systeme durchzuregeln. Schließlich wird der Informationsaustausch mit den Mitgliedstaaten, mit Drittparteien und in eng umgrenzten Fällen auch privaten Parteien erweitert. Zugleich sind die datenschutzrechtlichen Vorkehrungen bei Europol ausgeweitet worden. Der Europäische Datenschutzbeauftragte erhält erweiterte Befugnisse und kann insbesondere Anordnungen und Untersagungen mit Blick auf Verarbeitungsvorgänge aussprechen. Zudem ist erstmals bei einer EU-Agentur eine parlamentarische Kontrolle durch das Europäische Parlament unter Beteiligung der nationalen Parlamente vorgesehen. Gegenstand des vorliegenden Gesetzentwurfs ist die Anpassung der Vorschriften des Europol-Gesetzes an die neue Europol-Verordnung. Die Verweise im Europol-Gesetz auf den Europol-Ratsbeschluss sollen an die entsprechenden Vorschriften der Europol-Verordnung angepasst werden. Soweit im Europol-Gesetz einzelne IT-Systeme von Europol, wie das Europol-Informationssystem, genannt oder vorausgesetzt werden, soll eine Anpassung an die neue zweckorientierte Verarbeitung nach der Europol-Verordnung erfolgen. Die Europol-Verordnung räumt den Mitgliedstaaten einen erweiterten Zugang zu Analysedaten bei Europol ein. Bislang erhalten die Mitgliedstaaten die sie betreffenden Analyseberichte. Nunmehr sind die Mitgliedstaaten befugt, auf thematische und strategische Analysedaten und im Treffer/Kein-Treffer-Verfahren auch auf operative Analysedaten zuzugreifen. Der Gesetzentwurf sieht insoweit vor, den Zugang den Behörden einzuräumen, welche derzeit bereits das Europol-Informationssystem nutzen. Durch den Wechsel der Datenschutzaufsicht bei Europol hin zum Europäischen Datenschutzbeauftragten bedarf es einer Anpassung der Entsendung von Vertretern der nationalen Datenschutzaufsicht in die entsprechenden Gremien. Ferner sollen die Vorschriften zur Erstattungspflicht bei Schäden aus widerrechtlicher Datenverarbeitung angepasst werden. Die Ausgestaltung der eben erwähnten parlamentarischen Kontrolle von Europol unter Beteiligung der nationalen Parlamente überlässt die Europol-Verordnung zuständigkeitshalber der interparlamentarischen Verständigung. Im weiteren Verfahren im Bundestag soll rechtsförmlich eine Anpassung der Verweise an den Entwurf eines Gesetzes zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes erfolgen. Hierfür hat sich auch der Bundesrat ausgesprochen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 17) Norbert Schindler (CDU/CSU): Wir befassen uns heute erstmalig mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Energiesteuer- und Stromsteuergesetzes, die zwingend notwendig ist, um Vorgaben des Rechts der Europäischen Union in nationales Recht umzusetzen. Darüber müssen auch Entscheidungen der EU-Kommission und des EuGH in die Regelungen des Energiesteuer- und Stromsteuergesetzes eingearbeitet werden. In erster Linie dient das Gesetz jedoch der Umsetzung des Auftrages des Deutschen Bundestages aus dem Sommer 2015, die Steuerbegünstigungen für gasförmige Kraftstoffe – Erdgas und Autogas –, die Ende des Jahres 2018 auslaufen, zu überprüfen, mit dem Ziel, diese zu verlängern. Dies ist mit dem Gesetzentwurf auch zum Teil gelungen. Ich bin sehr froh, dass es der Bundesregierung gelungen ist, den Gesetzentwurf nach fast einem Jahr Ressortabstimmung endlich in den Deutschen Bundestag eingebracht zu haben. Denn dieser schafft endlich Rechts- und Planungssicherheit im nationalen Recht und enthält teilweise gute, schlanke Lösungen, die wir im Energiesteuerrecht nicht immer gewohnt waren und sind. Den inhaltlichen Schwerpunkt bilden Maßnahmen, um nationale Steuerbegünstigungen im Energie- und Stromsteuerbereich an das im Jahr 2014 novellierte EU-Beihilferecht und die EU-Energiesteuer-Richtlinie anzupassen. Für den Bereich der Elektromobilität wird das Stromsteuergesetz so angepasst, dass Befreiungen und Ermäßigungen insbesondere für den öffentlichen Nahverkehr zukünftig möglich sein werden. Des Weiteren werden bisherige Ausnahmen – die als Beihilfe problematisch sein können – abgebaut, zum Beispiel bei KWK-Anlagen oder beim sogenannten Herstellerprivileg, jedoch ist die ursprünglich vorgesehene Entflechtung von KWK-Ausnahmen und EEG-Förderung durch Einführung der sogenannten Kumulierungshöchstgrenze nicht mehr Bestandteil des Gesetzentwurfs. Andererseits müssen jetzt die Fördertatbestände im Energiesteuerrecht auf die Fördertatbestände des EEG bzw. KWK oder anderer Förderungen von Bund, Ländern und Kommunen einzeln aufeinander justiert werden, um den europarechtlichen Anforderungen entsprechen zu können. Der Gesetzentwurf enthält zudem Verfahrensvereinfachungen und Regelungen zum Abbau der Bürokratie und schafft die Ermächtigungsgrundlage für eine elektronische Kommunikation zwischen den Wirtschaftsbeteiligten und der Verwaltung im Energie- und Stromsteuerbereich. Hoffen wir, dass diese dann auch reibungslos funktioniert. Doch dazu später. Wie zuvor angesprochen, ist zudem eine Verlängerung der Steuerbegünstigung für als Kraftstoff verwendetes Erdgas (CNG/ LNG) über das Jahr 2018 bis Ende 2026 – abschmelzend ab 2024 – enthalten. Damit ist ein Teil der Forderungen des von den Koalitionsfraktionen initiierten Antrags vom Sommer 2015 umgesetzt worden, auch dank Unterstützung von Bundesminister Dobrindt, dessen Ressort die Steuerausfälle übernimmt. Über den anderen Teil des Antrages – Verlängerung der Steuerbegünstigung für Autogas (LPG) – ist noch zu debattieren. Sowohl im Koalitionsvertrag als auch im Antrag der Koalitionsfraktionen haben wir uns für eine Verlängerung über 2018 hinaus ausgesprochen. Die Argumente für und wider sind schon vielfach ausgetauscht. Ich möchte hier aber nochmals drei Fakten besonders herausstellen: Erstens. Auch bei dem schon jetzt im Gesetz vorgesehenen Normalsteuersatz – ohne Steuerermäßigung – bleibt der Einsatz von Autogas gegenüber anderen Energieträgern im Kraftfahrzeugbereich weiter vorteilhaft. Zweitens. Im Gegensatz zu Erdgas wird Autogas schon seit vielen Jahren steuerlich gefördert. Dies spiegelt sich auch im Tankstellennetz wider, das bei Erdgas in dieser Größenordnung nicht existiert und erst noch aufgebaut werden muss. Drittens. Autogas ist mehr oder weniger ein Abfallprodukt aus den Raffinerien, das meines Erachtens durchaus zu einem niedrigeren Preis angeboten werden könnte; hier sehe ich auch die Hersteller in der Pflicht. Eine Steueranpassung könnte von diesen zum Teil abgefedert werden. Trotzdem wäre ein abrupter Ausstieg aus der Förderung kein gutes Signal für die Wirtschaftsbeteiligten, seien es LPG-Autobesitzer, Umrüstbetriebe, Tankstellenpächter oder die Mineralölindustrie. Deshalb werden wir in den weiteren Beratungen abwägen müssen, was wir diesen abverlangen können und wie wir andererseits die Einnahmen aus der Energiesteuer verstetigen können. Ich plädiere hier offen für eine stufenweise Abschmelzung der Steuervergünstigungen. Durch die Gesetzesnovelle entfallen zudem eine Vielzahl von Einzelgenehmigungsanträgen bei der KOM, zum Beispiel bei der Steuerentlastung für Betriebe der Land- und Forstwirtschaft. So kann die Praxis der teilweisen Steuererstattung für „Agrardiesel“ und „Bioagrardiesel“ bis zum Auslaufen der Freistellungsanzeige bei der KOM weitergeführt werden. Auch hierzu muss ich noch ins Detail gehen. Kritisch betrachtet werden muss die Streichung des § 60 EnergStG: Die Streichung ist europarechtlichen Bedenken geschuldet, da die Regelung nur für mittelständische Unternehmen zur Anwendung kommt und damit selektiv wirkt – Beihilfe. Auf den Inhalt möchte ich gar nicht eingehen; ich teile die Bedenken nicht und setze mich für eine Beibehaltung dieser Regelung ein. Weitere Kritikpunkte am ansonsten gelungenen Gesetzentwurf: Einige Regelungen sind nach EU-Recht nicht zwingend und schießen somit über das Ziel der Eins-zu-eins-Umsetzung der Energiesteuerrichtlinie hinaus. Andere berechtigte Forderungen, wie die Gleichstellung der Industriegaseproduktion mit anderem produzierenden Gewerbe, werden nicht berücksichtigt. Auch hier halte ich Nachbesserungen für notwendig. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Bundesfinanzministerium bei der Anpassung des Energie- und Stromsteuergesetzes an neues EU-Recht und an die Rechtsprechung nunmehr fast durchgängig vernünftige und praktikable Lösungen gefunden hat. Auch wenn dabei teilweise die so beliebte Einzelfallgerechtigkeit leidet, so teile ich die Priorität des Gesetzentwurfes: möglichst viel Bürokratieabbau, auch im Verhältnis zur KOM. Die bisher dauernd notwendigen Notifizierungen bei der KOM, beim Agrardiesel beispielsweise ein Riesenaufwand für ein halbes Kalenderjahr bis 30. Juni 2017, entfallen, und so haben wir hoffentlich für ein paar Jahre Rechtssicherheit und Klarheit im Verwaltungshandeln. Bürokratieabbau im Verhältnis zur EU darf aber nicht zu weiterem Bürokratieaufbau bei den Bürgern führen. Wenn im Vorgriff auf dieses Gesetz nun für die Beantragung der Steuerrückerstattung für Agrardiesel zu den schon bestehenden und schwer zu verstehenden Antragsformularen drei neue eingeführt werden, so widerspricht dies dem Sinn des Gesetzes. Deshalb, liebes BMF, liebe Generalzolldirektion: Geht in euch und schafft auch im Verhältnis zu den Antragstellern den schlanken Staat. Dass es uns mithilfe von Bundesminister Schmidt gelungen ist, die Steuerermäßigung für Biodiesel zur Verwendung in der Landwirtschaft beizubehalten, freut mich als Landwirt und Vertreter der Biokraftstoffbranche ganz besonders, da in diesem Bereich unsere Landwirte gleichzeitig Hersteller und Verwender sind. So kann eine kleine, regionale Kreislaufwirtschaft aussehen, die die landwirtschaftlichen Betriebe stärkt. Abschließend wünsche ich uns gute Beratungen des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes, mit einem Ergebnis, mit dem sowohl der Fiskus als auch die von der Besteuerung Betroffenen gut leben können. Wir Parlamentarier gehen jetzt die Fragestellungen an, und seien Sie gewiss, auch bei diesem Gesetzentwurf gilt das „erste Struck’sche Gesetz“: „Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie es eingebracht worden ist.“ Christian Petry (SPD): „Was lange währt, wird endlich gut!“ – Mit diesen Worten kann man den Werdegang des vorliegenden Gesetzentwurfs zur Änderung des Stromsteuer- und Energiesteuergesetzes treffend zusammenfassen. Ursprünglicher Kern dieser Gesetzesinitiative war die im Koalitionsvertrag von SPD und Union festgelegte Verlängerung der energiesteuerrechtlichen Ausnahmetatbestände für Erdgas und Autogas. Nun wurde der Koalitionsvertrag bekanntlich schon im Jahr 2013 ausgehandelt. Dass wir erst kurz vor dem Ende der Legislaturperiode dieses Vorhaben umsetzen, ist schade. Schließlich hat der Deutsche Bundestag bereits im Sommer 2015 die Bundesregierung zur Vorlage eines entsprechenden Gesetzentwurfs aufgefordert. Nach einer langwierigen Ressortabstimmung liegt nun also der Entwurf vor und wir starten mit dem parlamentarischen Verfahren. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich einige Punkte loben, die sich vom ersten Referentenentwurf bis zum Kabinettsbeschluss geändert haben. Eine wesentliche Änderung betrifft das zunächst im Entwurf enthaltene allgemeine Kumulierungsverbot von Steuerbegünstigungen mit anderen Beihilfen. Hier hat das Bundeswirtschaftsministerium hart verhandelt und schlussendlich eine Streichung dieses Kumulierungsverbots bewirkt. Darüber hinaus wurde im Rahmen der Ressortabstimmung die vom BMF geplante Streichung der Steuerentlastung für die Stromerzeugung in kleinen Anlagen nicht übernommen. Das ist ein wichtiger Erfolg des Bundeswirtschaftsministeriums. Die ursprünglich geplante Neufassung des § 9 StromStG wird im aktuellen Gesetzesvorhaben nicht weiterverfolgt. Neben diesen positiven Punkten möchte ich aber auch auf ein großes Manko des Gesetzentwurfs hinweisen: Der Entwurf der Bundesregierung enthält einen klaren Verstoß gegen den Koalitionsvertrag. Im Koalitionsvertrag haben wir uns schließlich auf eine Weiterförderung von Erdgas und Autogas verständigt. Der Regierungsentwurf nimmt das Autogas jedoch komplett von der Weiterförderung aus. Es ist daher nicht überraschend, dass ich an dieser Stelle das oft zitierte Struck’sche Gesetz bemühe: „Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie es eingebracht worden ist.“ Es gibt gute Gründe dafür, sowohl das Erdgas als auch das Autogas über das Jahr 2018 hinaus weiter zu fördern. Eine Schlüsselrolle bei der Reduzierung der Treibhausgasemissionen kommt dem Verkehrssektor zu. Dabei spielen Erdgas und Autogas eine entscheidende Rolle: Beide Kraftstoffe emittieren im Vergleich zu fossilen Benzin-Kraftstoffen deutlich weniger CO2. Dabei gibt es aktuell circa 500 000 Pkw in Deutschland, die mit Autogas betrieben werden, beim Erdgas sind es etwa 80 000 Fahrzeuge. Beide Kraftstoffe sind damit noch eine Nischentechnologie, die es auch weiterhin zu fördern gilt. Für mich geht es dabei auch um das Einhalten politischer Versprechen. Die Halter der 500 000 Autogas-Pkw haben sich darauf verlassen, dass das Autogas auch über 2018 hinaus gefördert wird. Ich finde es in diesem Zusammenhang übrigens richtig, zwischen Erdgas und Autogas zu differenzieren. Beim Erdgas gibt es eine regenerative Komponente, und die Marktdurchdringung ist noch deutlich schwächer als beim Autogas. Dies sollten wir bei einer Verlängerung der steuerlichen Ausnahmetatbestände berücksichtigen. Über genaue Förderzeiträume werden wir im anstehenden parlamentarischen Verfahren in Ruhe beraten. Auch weitere Punkte im Energie- und Stromsteuerrecht, die vom Gesetzentwurf betroffen sind, werden wir uns anschauen und dort, wo nötig, ändern. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen im Finanzausschuss. Glück auf! Andreas Rimkus (SPD): Ich spreche ja regelmäßig vor Ihnen zum Thema Reduktion von Emissionen im Verkehr. Auch der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet Maßnahmen, die wichtige Meilensteine auf dem Weg zur Energiewende im Verkehr sind. Die Klimaziele sind klar: Bis 2050 wollen wir eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 80 bis 95 Prozent gegenüber 1990 erreichen. Sektorenübergreifend sollen CO2-Emissionen bis 2020 um mindestens 40 Prozent gesenkt werden. Dies schaffen wir jedoch nur, wenn wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien vorankommen und die Energieeffizienz steigern. Um diese Ziele jedoch zu erreichen, müssen wir auch im Verkehrssektor besser werden. Der von Barbara Hendricks vorgelegte Klimaschutzplan gibt uns klare Hausaufgaben. Er mahnt uns, im Verkehrsbereich 10 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente einzusparen. Das setzt uns unter enormen Handlungsdruck, doch diese Herausforderung nehme ich gerne an. Mit diesem Gesetz bekennen wir uns zu den genannten Zielen und wollen die Steuerbegünstigung für Erdgas (CNG/LNG) über das Jahr 2018 hinaus verlängern. So soll nach dem aktuellen Entwurf eine Verlängerung bis Ende 2026 beschlossen werden, wobei die Begünstigung ab 2024 schrittweise verringert werden soll. Ausgenommen von der Verlängerung ist nach dem Kabinettsentwurf Autogas. Hierzu wird es noch weitere Beratungen geben, da sich die Koalitionsfraktionen im Koalitionsvertrag und auch der Bundestag in einem Antrag auf eine Verlängerung sowohl von Erd- als auch Flüssiggas verständigt haben. Dies schließt die Laufzeit und die Höhe der Steuervergünstigung ein. Kern unserer Politik sollte es sein, vor allen Dingen die Technologien zu fördern, die im Zuge der Kraftstoffwende – hin zu erneuerbaren Kraftstoffen, wie EE-Strom, EE-Wasserstoff oder EE-Gas – Integrationsmöglichkeiten bieten. Deshalb ist es auch folgerichtig, wenn wir Autogas, das vor allen Dingen auch hilft, die NOx-Werte in unseren Städten zu reduzieren, über 2018 hinaus fördern. Erfreulich ist, dass wir bei Autogas schon eine gute Marktdurchdringung haben, die bereits jetzt auf unseren Straßen hilft, Emissionen zu reduzieren. Mit überschaubaren Kosten zur Umrüstung bietet Autogas die Möglichkeit für Menschen, die sonst nicht das nötige Kleingeld haben, sich neue, emissionsarme Technologien anzuschaffen, ihren Beitrag zur Energiewende zu leisten. Daneben sieht der Gesetzentwurf vor, Steuerbegünstigungen bei der Energie- und Stromsteuer an das EU-Beihilferecht und die EU-Energiesteuerrichtlinie anzupassen. Auch bei der Förderung des ökologischen ÖPNV setzen wir Akzente und stellen Elektrofahrzeuge, die im öffentlichen Personennahverkehr eingesetzt werden, künftig steuerlich mit Oberleitungsomnibussen und Schienenbahnen gleich. Ich finde, das klingt nach einem Strauß guter Nachrichten, und glaube, dass wir damit den Weg in die richtige Richtung einschlagen. Herbert Behrens (DIE LINKE): Die Automobilindustrie bringt Autos auf den Markt, die erheblich dreckiger sind als angegeben. Es wird getrickst und getäuscht, um Marktanteile und Profite zu sichern. Die Menschen werden gesundheitlich geschädigt, die Umwelt verdreckt, und die Arbeitsplätze werden durch diese Unternehmenspolitik gefährdet. Der Abgasskandal, der nicht allein ein Diesel-Abgasskandal ist, hat noch einmal deutlich gemacht: Fossile Brennstoffe und saubere Autos passen nicht zusammen. Wir brauchen deshalb eine Verkehrswende, die ökologisch ist und die sozial gerecht ist. Im Straßenverkehr müssen wir wegkommen von Kraftstoffen, die Menschen und Umwelt belasten. Das geht nicht von heute auf morgen. Wir brauchen Zwischenschritte, ohne das Ziel, den vollständigen Verzicht auf fossile Kraftstoffe, aus den Augen zu verlieren. Erdgasbetriebene Fahrzeuge stoßen erheblich weniger Schadstoffe aus als benzin- oder insbesondere dieselbetriebene Fahrzeuge. Da ist es sinnvoll, mit Steuerermäßigungen Erdgas als Kraftstoff zu fördern. Aber es sind nicht nur Erdgasautos, sondern auch Fahrzeuge mit Autogas, die weniger Stickoxide, weniger Feinstaub und weniger CO2 ausstoßen. Darum ist es überhaupt nicht nachvollziehbar, dass die jetzige Förderung von Autogas als Kraftstoff 2018 auslaufen soll. Erstens. Es gibt einen Beschluss des Deutschen Bundestages von 2015, der die Bundesregierung auffordert, die Steuerermäßigung für verflüssigtes Erdgas und für Flüssiggas über 2018 hinaus zu verlängern. Zweitens. Es steht sogar im Koalitionsvertrag, dass die Große Koalition die Verlängerung der Steuerermäßigung von Erdgas und Flüssiggas als Kraftstoff will. In diesem Tagen wird ja viel vom Koalitionsvertrag gesprochen, der selbst dann eingehalten werden muss, wenn eine offenkundig EU-rechtswidrige Ausländer-Maut beschlossen werden soll. Aber im Unterschied zum Maut-Gesetz kann man den vorgelegten Gesetzentwurf zur Energiesteuer verbessern. Drittens. In einer Studie des ifeu – Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg – für das Finanzministerium heißt es, bis 2030 wird der Anteil der Autogasfahrzeuge von heute etwa 500 000 auf etwa 700 000 steigen. Bei Erdgasfahrzeugen soll es eine Steigerung geben von 100 000 auf 600 000. Nicht nachvollziehbar, zumindest nicht umweltpolitisch nachvollziehbar, ist die Ungleichbehandlung von Erdgas- und Autogasfahrzeugen, weil viertens Erdgas einen geringeren Marktanteil und eine schlechtere Tankstelleninfrastruktur hat, so die ifeu-Studie. Autogas kann man an 19 Tankstellen pro 1 000 km2 tanken, Erdgas bei 2,5 pro 1 000 km2. Und das Vertrauen in eine positive Erdgasautoentwicklung ist nicht sehr verbreitet. Der niedersächsische Energieversorger EWE zum Beispiel hat sich aus der Kaufprämie für Erdgasautos zurückgezogen ebenso wie die Stadtwerke in meiner Stadt Osterholz-Scharmbeck, die zusätzlich auch die einzige Erdgastankstelle in der Kreisstadt mit 30 000 Einwohnern zum Ende des Jahres schließen wird. Heiß debattiert wird heute über Fahrverbote für Diesel und blaue Plaketten für Innenstädte, wo die Menschen unter Feinstaub und Stickoxiden leiden. Und da will ich jetzt mal den Verkehrsminister Dobrindt lobend zitieren. Er sagte der Berliner Zeitung im Juli 2016: „Es ist nicht wirkungsvoll, Autos mit Verboten zu belegen, die ein- oder zweimal im Monat in die Stadt fahren. Wo wir ran müssen, sind Fahrzeuge, die sich ständig im Straßenverkehr befinden, etwas Taxis, Busse, Behördenfahrzeuge.“ Diese müssten baldmöglichst auf alternative Antriebe umgestellt werden. Das diene der Reduzierung von Stickoxiden deutlich mehr als Einfahrverbote. Um noch einmal eins deutlich zu machen: Die Förderung von Erdgas und Autogas ist eine Zwischenlösung. Aber sie kann eine schnell wirksame Zwischenlösung sein, die technisch auch durch Umrüstung von Fahrzeugen verwirklicht werden kann und die dringend nötig ist. Der Finanzminister will jedoch möglich billig davonkommen, ohne sich um die gefährlichen Schadstoffbelastungen insbesondere in den Städten zu kümmern. Nicht nur Rauchen gefährdet die Gesundheit, auch Umweltpolitik aus dem Finanzministerium schadet der Gesundheit. Darum die Forderung der Linken an die Bundesregierung: erstens den vorliegenden Entwurf zur Änderung des Energiegesetzes überarbeiten; zweitens bei der Überarbeitung auf keinen Fall den Finanzminister für umweltrelevante Fragen zuständig machen; drittens den Koalitionsvertrag einhalten und Erdgas und Autogas als Brückentechnologie bei Kraftstoffen weitgehend gleich behandeln. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Große Koalition hat wieder einmal die Chance vergeben, Deutschland auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts einzustellen. Denn beim Energie- und Stromsteuergesetz hat sie es versäumt, die wichtige Verknüpfung von Wirtschafts- und Umweltpolitik herzustellen. Die zweite Novelle des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes soll in erster Linie die nationalen Steuerbegünstigungen an das im Jahr 2014 novellierte EU-Beihilferecht und die EU-Energiesteuerrichtlinie anpassen. In der Förderlogik der Großen Koalition geht es wieder nur um die Subvention bestimmter Energiequellen. Man lässt die Gutachter aufeinander losgehen und stellvertretend streiten. Dabei gerät das grundlegende Versäumnis der Bundesregierung aus dem Blick: Nötig wäre ein grundlegender Wechsel zu einer konsistenten Besteuerung nach ökologischen Kriterien. Anstatt zukunftsorientierte Wirtschafts- und Umweltpolitik zu machen, begnügt sich die Bundesregierung mit Klientelpolitik. Die Diskussion um die Fortführung der Steuererleichterungen für Erd- und Flüssiggas (Autogas) gerade im Kraftstoffbereich ist dabei symptomatisch. Es hat den Anschein, als fände sich die Bundesregierung im Dickicht ihres eigenen Förderdschungels selbst nicht mehr zurecht. Unbestritten ist, dass insbesondere Neuwagen mit Erdgasantrieb im Vergleich mit ihren Schwestermodellen sehr gute Umwelteigenschaften aufweisen. So stoßen Erdgasautos bis zu einem Viertel weniger CO2 aus als vergleichbare Benzinmodelle. Dabei agiert die Koalition aber auch politisch nicht besonders geschickt. Im Koalitionsvertrag kündigt sie erst eine Verlängerung der Steuerermäßigungen für Erd- und Flüssiggas an. Jetzt, fast vier Jahre später, macht sie etwas anderes: Die Regierung lässt die Förderung von Flüssiggas bis 2018 auslaufen, wohingegen Erdgas befristet und abschmelzend bis Ende 2026 weitergefördert werden soll – all das, während in Dieselkraftstoff, den größten Luftverschmutzer in den Städten, mit rund 8 Milliarden Euro jährlich ein Vielfaches an Subventionen gepumpt wird. Das ist nicht nur un-logisch, sondern auch un-ökologisch und das zeigt: Der großen Koalition fehlt bei der Energiebesteuerung jeder Kompass. Im Gesamtkontext dieser Förderpolitik aber allein über den Klimavorteil von Erdgas oder Flüssiggas zu diskutieren, reicht einfach nicht aus. Im Bereich der Industrieausnahmeregelungen und umweltschädlichen Subventionen lässt sich die Liste weiter fortsetzen: Neben den jährlich 8 Milliarden Euro für Dieselsubventionen gibt es eine ganze Reihe anderer Millionensubventionen, zum Beispiel für den Luftverkehr, und die fortdauernde Subventionierung von schweren Dienstwagen. Um eines ganz klar zu machen: Die unterschiedlichen und nicht nachvollziehbaren Steuersätze und -begünstigungen aller Kraftstoffarten sind nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen eine Energiebesteuerung, die sich konsequent nach CO2-Ausstoß und Energiegehalt ausrichtet, nicht noch mehr widersprüchliche und umweltschädliche Besteuerung. Ohne dass wir die strukturellen Marktverzerrungen und falschen Preissignale angehen, werden wir die Lage nie in den Griff bekommen. Denn machen wir uns nichts vor: Solange Diesel im Verhältnis zum Ökostrom weiter so günstig ist, wird kein Strom getankt. Und wenn Heizöl so günstig bleibt, gibt es wenig Anreiz, Gebäude energieeffizient zu modernisieren. Mit einer konsequenten Besteuerung nach Energiewert und CO2-Ausstoß wären die Klimaschutzziele von Paris vielleicht noch zu schaffen. Und das würde auch nicht die deutsche Wettbewerbsfähigkeit schädigen – wie gerne behauptet wird. Denn anders als häufig vermutet ist der Anteil der Umweltsteuern an den Gesamtsteuereinnahmen in Deutschland nicht besonders hoch. Er liegt nur noch bei unterdurchschnittlichen 9 Prozent, sodass die OECD Deutschland empfiehlt, Steuervergünstigungen für umweltschädliche Aktivitäten abzuschaffen und Mehreinnahmen durch wirkungsvollere Umweltsteuern zu erzielen. Deshalb sage ich: Wir brauchen einen neuen Ansatz. Wir Grünen fordern seit langem eine Energiebesteuerung nach CO2-Ausstoß und Energiewert – ganz konsequent, unabhängig von Technologie, Verursacher oder Energieträger. In diesem Modell würden vermutlich Erdgas oder andere Energieträger mit Klimavorteil einen relativen Preisvorteil haben. Das wäre eine bessere Förderung als die Steuermillionen, die jetzt hineinfließen. Konsequent nach Energiewert und CO2 besteuern – das fordert übrigens auch die EU-Kommission seit langem. Das zeigt erneut: Die Große Koalition spricht zwar gerne von Energiewende, aber ihr fehlen Mut und Konzepte, sie umzusetzen. Dies hätten der politische Auftrag und auch der eigene Anspruch der Bundesregierung sein müssen. Wir sehen sehr wohl, dass es bei der Novellierung einige Versuche gibt, die umweltschädlichen Subventionen abzubauen und ökologisch umzusteuern. Aber der Versuch bleibt zu zaghaft und zu widersprüchlich. Damit ist die historische Herausforderung des Klimawandels nicht zu bewältigen. Mehr als eine Enthaltung können Sie dafür von der grünen Fraktion nicht erwarten. Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Ich freue mich, Ihnen heute den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes vorstellen zu dürfen. Es handelt sich um einen wichtigen Gesetzentwurf. Wichtig alleine schon daher, weil es um den Bereich der Energie- und Stromsteuer geht, der mit rund 47,1 Milliarden Euro Steuereinnahmen und über 7 Milliarden Steuerentlastungen einen essenziellen Beitrag zum Bundeshaushalt leistet. Der Gesetzentwurf sieht diverse Änderungen im Energie- und Stromsteuerrecht vor. Geschuldet ist dies dem Umstand, dass die Bundesregierung gleich mehrfach „in der Pflicht“ steht. Neben der Umsetzung eines Gesetzgebungsauftrags des Deutschen Bundestages geht es vornehmlich um Anpassungen der Steuerbegünstigungen an das Recht der Europäischen Union aber auch an neuere technologische Entwicklungen. Die wesentlichen Vorgaben stammen aus dem in 2014 novellierten EU-Beihilferecht, der Energiesteuerrichtlinie sowie Gerichtsentscheidungen des Europäischen Gerichtshofes: Lassen Sie mich die zentralen Änderungen in Kürze darstellen. Erstens: Umsetzung von EU-Recht. Unter anderem werden die Regelungen für die Begünstigung hocheffizienter KWK-Anlagen beihilferechtskonform ausgestaltet. Ferner wird das sogenannte Herstellerprivileg zurückgeführt auf den Umfang der nach der Energiesteuerrichtlinie obligatorisch vorgesehenen Steuerbegünstigung für selbst hergestellte Energieerzeugnisse. Schließlich sieht der Gesetzentwurf – im Einklang mit der Energiesteuerrichtlinie – eine neue Steuerbegünstigung für Elektro- und sogenannte Plug-in-Hybridfahrzeuge vor, die im öffentlichen Personennahverkehr eingesetzt werden. Damit werden Elektro- und Plug-in-Hybridbusse mit dem bereits geförderten Schienenverkehr gleichgestellt; der technologischen Entwicklung im Verkehrssektor wird Rechnung getragen. Zweitens: die elektronische Kommunikation. Der Gesetzentwurf enthält die Ermächtigungen für eine elektronische Kommunikation zwischen den Wirtschaftsbeteiligten und der Verwaltung im Energie- und Stromsteuerbereich, die die Abläufe im Besteuerungsverfahren weiter vereinfachen werden und das derzeit laufende Projekt zur Modernisierung der IT-Unterstützung für die Verbrauchsteuern (MoeVe) flankieren. Drittens: Verlängerung der Steuerbegünstigung für Erdgas. Die Steuerbegünstigung für Erdgas als Kraftstoff (CNG und LNG) wird über das Jahr 2018 hinaus verlängert – und das bis 2026 (sukzessive verringert ab 2024). Die Steuerbegünstigung für Flüssiggas/Autogas (LPG) wird nach Ende 2018 hingegen nicht fortgeführt. Mit Beschluss vom 2. Juli 2015 hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur Verlängerung der Steuerbegünstigung einschließlich valider Gegenfinanzierung auf Grundlage der Ergebnisse des Forschungsvorhabens zur Entwicklung der Energiesteuereinnahmen im Kraftstoffsektor vorzulegen. Das entsprechende Gutachten, welches ich Ihnen im Dezember 2015 übermittelt habe, sieht keinen fachlichen Bedarf für eine weitere Förderung von Autogas. Laut dem Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu) bietet vielmehr Erdgas als Kraftstoff mehr strategische Optionen für erneuerbare Energien und gewährleistet einen deutlichen Beitrag zum Klimaschutz. Wegen des derzeit noch geringeren Marktanteils und schlechterer Tankstelleninfrastruktur gegenüber Autogas besteht überdies noch ein größerer Förderbedarf. Hohes Potenzial wird auch bei Erdgas in verflüssigter Form (LNG) gesehen. Vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt wegen der fehlenden, aber notwendigen Gegenfinanzierung sieht der Gesetzentwurf keine Verlängerung der Steuerbegünstigung auch für Autogas vor. Die Nutzung von Autogas als alternativer Kraftstoff wird jedoch attraktiv bleiben, da die Besteuerung bei Autogas, auch ohne zusätzliche steuerliche Förderung, weiterhin geringer sein wird als bei Benzin und Diesel. Das sukzessive Auslaufen der Steuerbegünstigung für Erdgas ab 2024 schafft ausreichend Planungssicherheit, sendet zugleich aber ein klares Signal, dass die Steuerbegünstigung – auch wegen der insgesamt zu erwartenden sinkenden Einnahmen im Kraftstoffsektor – nicht unbegrenzt fortgeführt wird. Dies trägt dem erklärten Ziel des Subventionsabbaus Rechnung. Der vierte und letzte Punkt fällt aus der Reihe, weil er gerade keine im Gesetzentwurf vorgesehene Änderung betrifft, sondern im Gegenteil der Status quo beibehalten wird. Es geht um die Steuerbefreiungen für Strom aus erneuerbaren Energieträgern und aus sogenannten Kleinanlagen mit einer elektrischen Nennleistung bis zu 2 MW (§ 9 Absatz 1 Nummer 1 und Nummer 3 StromStG). Die Bundesregierung hat – nach intensiven Beratungen – beschlossen, die gegenwärtigen Steuerbefreiungen des § 9 StromStG unverändert zu lassen, sie aber zur Schaffung von Rechtssicherheit für die betreffenden Wirtschaftsteilnehmer parallel mit den beihilferelevanten Tatbeständen des Gesetzentwurfes der Europäischen Kommission zur beihilferechtlichen Prüfung vorzulegen. Dies ist bereits geschehen, und die Kommission hat ihre Prüfung begonnen – mit derzeit noch offenem Ergebnis. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung (Tagesordnungspunkt 18) Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Das Strafrecht verfolgt drei Zielsetzungen: Da ist einmal Strafe, Schuld und Sühne als vordringliches Ziel. Daneben hat aber das Strafrecht auch die General- und die Spezialprävention im Blick und eben auch den Opferschutz. Ich freue mich, dass das vorliegende Gesetz gerade auf die letzten beiden Punkte einen Schwerpunkt legt. Präventiv setzt das Gesetz an, da ein Geld- bzw. Vermögenszuwachs meist die Hauptmotivation eines Täters ist. Deshalb ist es naheliegend, das Signal auszusenden: „Das nehmen wir dir!“ Es gilt der Satz: „Wer Straftaten bekämpfen will, der muss den Profit aus Straftaten bekämpfen.“ Das vorliegende Gesetz setzt genau dort an: Das Recht der Vermögensabschöpfung wird grundlegend vereinfacht, und wir schließen nicht vertretbare Systemlücken. So wird die bisherige Beschränkung des Anwendungsbereichs auf gewerbsmäßige und bandenmäßige Begehung aufgehoben. Zudem soll eine Einziehung zukünftig auch dann möglich sein, wenn klar ist, dass ein Gegenstand aus einer rechtswidrigen Tat stammt, aber eine Verurteilung nicht möglich ist. Lassen Sie mich auch noch einiges zum Opferschutz ausführen: Bisher konnte die Strafjustiz zwar im Wege der Rückgewinnungshilfe Gegenstände sichern. Der Anspruch musste jedoch zivilrechtlich später durch das Opfer geltend gemacht werden. Das kostete Geld bzw. Zeit, und es galt das Prinzip „Wer zuerst kommt, der mahlt zuerst“. Nun erfolgt im Rahmen der Strafvollstreckung zunächst die Sicherstellung, nach Rechtskraft des Urteils die Verwertung und am Ende die Auskehrung des Erlöses an das Opfer. Das ist unkomplizierter, vor allem aber kostenfrei für das Opfer. Wir gewährleisten so die Gleichbehandlung aller Geschädigten und kommen gegebenenfalls zu einer Quotenregelung wie in der Insolvenzordnung für den Fall, dass beim Täter kein ausreichendes Vermögen mehr vorhanden ist. Das ist echter Opferschutz! Ich kann die Gegenargumente nicht einmal im Ansatz nachvollziehen. Wenn da behauptet wird, das Adhäsionsverfahren sei ein ausreichendes Instrument, dann müsste der Praktiker eigentlich wissen, dass das ein stumpfes Schwert ist. Denn es wird in der Praxis von Richtern regelmäßig gemieden, weil die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche erhebliche Mehrarbeit verursacht. Diese soll hier durch ein schlankeres und effizienteres Verfahren gerade vermieden werden. Damit glaube ich auch nicht an eine Mehrbelastung der Justiz. Wenn man allerdings so argumentiert, dann müsste man ehrlicherweise auch die Entlastung auf dem Zivilrechtsweg ausleuchten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehen also: Insgesamt ein sehr gelungenes Gesetz, weshalb ich um Ihre Zustimmung bitte. Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Als Union sagen wir ganz klar: Verbrechen dürfen sich nicht lohnen. – Dies erfordert nicht nur mit ausreichenden Befugnissen und Ressourcen ausgestattete Polizei- und Ermittlungsbehörden. Auch Strafgesetze müssen so ausgestaltet sein, dass sie eine gezielte Bekämpfung von Straftaten ermöglichen und auch die Folgen von Straftaten in den Blick nehmen. Der Vermögensabschöpfung kommt dabei eine ganz zentrale Rolle zu, um Vermögenswerte aus strafbaren Handlungen schnell, wirksam und umfassend dem Täter wieder zu entziehen. Das ist in mehrfacher Hinsicht wichtig: Erstens schwindet so der Anreiz für die Begehung der Tat. Zweitens wird der finanzielle Boden dafür entzogen, auch in Zukunft Straftaten begehen zu können – insbesondere im Bereich des Terrorismus und der organisierten Kriminalität ist dies ein zentraler Gesichtspunkt. Heute scheitert eine erfolgreiche Vermögensabschöpfung in der Praxis allerdings häufig an der außerordentlich komplexen und unübersichtlichen Rechtsmaterie. Das wollen wir als Union ändern. Die Reform der Vermögensabschöpfung war für uns daher ein wichtiges und dringendes Vorhaben, das wir im Koalitionsvertrag verankert haben. Dies setzen wir mit dem vorliegenden Gesetz nun um. Ziel ist es, das Abschöpfungsverfahren effektiver und einfacher zu gestalten und die Rechtsposition von Opfern zu verbessern. Dazu bedarf es einer Vielzahl an Neuregelungen, die straf-, zivil- und insolvenzrechtliche Aspekte besser miteinander verzahnen und für die Praxis handhabbar machen. Dabei schließen wir Abschöpfungslücken, indem etwa die bisherigen Beschränkungen bei der erweiterten Einziehung aufgehoben werden. Aktuell kann sie nur in Bezug auf bestimmte Straftatbestände angeordnet werden. Wird etwa im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen Bandendiebstahls Bargeld gefunden, das aus einer anderen Straftat stammt, so kann dies eingezogen werden – bei Ermittlungen wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls hingegen nicht. Diese Differenzierung – sogar innerhalb eines Qualifikationstatbestands – ist nicht nachvollziehbar. Das gleichen wir an. Ob ein Vermögenswert aus der einen oder der anderen rechtswidrigen Tat herrührt, darf keinen Unterschied machen. Insofern ist es gut, dass zukünftig jede rechtswidrige Tat ausreicht, um die erweiterte Einziehung eines Vermögensgegenstandes anzuordnen, wenn das Gericht davon überzeugt ist, dass er aus einer anderen rechtswidrigen Tat stammt. Das ist ein wichtiger Beitrag für eine effektive Verbrechensbekämpfung – genauso wie die umfassende Neuregelung der selbstständigen Einziehung: Derzeit ist es so, dass grundsätzlich keine Möglichkeit besteht, Vermögenswerte einzuziehen, wenn rechtliche Gründe wie Strafklageverbrauch entgegenstehen. Gleiches gilt, wenn kein Zweifel daran besteht, dass das Geld aus einer rechtswidrigen Straftat herrührt, aber eine konkrete Straftat nicht nachgewiesen werden kann, aus der der Vermögensgegenstand stammt. Die Möglichkeit der selbstständigen Anordnung beschränkt sich bislang auf Fälle, bei denen der persönlichen Verfolgung des Täters ein tatsächliches Hindernis entgegensteht, die materielle Strafbarkeit der Tat aber unberührt bleibt – etwa wenn der Täter ins Ausland geflüchtet ist. Das ist im höchsten Maße unbefriedigend und genau das Gegenteil einer effektiven Strafverfolgung. Dies ändern wir nun: Künftig besteht nicht nur die Möglichkeit, Vermögensgegenstände selbstständig einzuziehen, wenn etwa prozessuale Hindernisse wie Strafklageverbrauch bestehen. Auch bei deliktisch erlangtem Vermögen unklarer Herkunft – unabhängig vom Nachweis einer konkreten rechtswidrigen Tat – ist die selbstständige Einziehung möglich. Kritiker wenden ein, dass die selbstständige Einziehung nicht mit der Eigentumsgarantie aus Artikel 14 Grundgesetz vereinbar sei und im Widerspruch zur Unschuldsvermutung stünde. Diese Bedenken haben wir sehr ernst genommen. In der Abwägung sehe ich jedoch nicht, dass diese Kritik durchgreift: Auf der einen Seite stehen im Interesse der Sicherheit aller Menschen eine effektive Strafverfolgung, der Opferschutz und das Ziel, die finanziellen Quellen organisierter Kriminalität und des Terrorismus auszutrocknen. Auf der anderen Seite stehen die Rechte der Beschuldigten. Vor diesem Hintergrund sind an die selbstständige Einziehung bereits hohe rechtsstaatliche Anforderungen zu stellen. Diesen wird unser Gesetz gerecht: – So ist die selbstständige Einziehung unabhängig vom Nachweis einer konkreten rechtswidrigen Tat nur im Zusammenhang mit Delikten aus dem Bereich des Terrorismus oder der organisierten Kriminalität zulässig wie etwa der Bildung krimineller und terroristischer Vereinigungen oder des gewerbs- oder bandenmäßigen Menschenhandels. Mit dem Änderungsantrag haben wir die Katalogdaten unter anderem um die Zuhälterei wie auch die gewerbs- und bandenmäßige Steuerhehlerei ergänzt, die typischerweise im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität stehen. – Zudem ist die selbstständige Einziehung nur unter der Voraussetzung der uneingeschränkten richterlichen Überzeugung zulässig, dass der Vermögenswert aus einer rechtswidrigen Tat herrührt. Das Gericht kann sich dabei „insbesondere auf ein grobes Missverhältnis zwischen dem Wert des Gegenstands und den rechtmäßigen Einkünften des Betroffenen“ stützen. Auch die Unschuldsvermutung ist nicht tangiert, da die Vermögensabschöpfung keinen Strafcharakter hat. Sie ist auf den Vermögenswert, also die Sache, und nicht auf die Person bezogen. Den Opferschutz stärken wir zum Beispiel auch darüber, dass wir ersatzlos die gesetzliche Regelung in § 73 Absatz 1 Satz 2 streichen, nach der die Vermögensabschöpfung versagt wird, wenn dem Opfer Ersatzansprüche gegen den Täter zustehen – bekannt als „Totengräber des Verfalls“. Das ist ein unhaltbarer Zustand, weil damit das Opfer – insbesondere im Bereich der Vermögensdelikte – mit allen prozessualen Risiken alleine gelassen wird. Künftig kann der Staat dem Opfer mit dem Mittel des Strafrechts auch in diesen Fällen zur Seite stehen. Neben einem staatlichen Entschädigungsverfahren stärken wir den Opferschutz zudem durch eine bessere Verzahnung mit insolvenzrechtlichen Vorschriften: Nicht immer wird am Ende eines Strafverfahrens das Vermögen eines Täters ausreichen, um sämtliche Schäden auszugleichen. Insofern ist es richtig, dass das Gesetz auch schon vor einer Verurteilung Sicherungsmöglichkeiten bietet. Nur so kann verhindert werden, dass Gelder zulasten von Opfern verschoben werden. Mit dem Änderungsantrag erreichen wir insofern weitere Verbesserungen und führen die Möglichkeit ein, dass die Staatsanwaltschaften aus eigenem Recht einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellen können. Zu beachten ist jedoch, dass die wirtschaftliche Stellung eines Unternehmers, insbesondere eines Selbstständigen, durch einen Insolvenzantrag erheblich beeinträchtigt werden und nicht zuletzt die Existenz bedrohen kann – gerade zu einem Zeitpunkt, zu dem noch die Unschuldsvermutung gilt. Insofern ist das Sicherungsinteresse des Staates mit den Belastungen etwa für ein Unternehmen im Einzelfall sorgfältig abzuwägen. Das muss die Staatsanwaltschaft bei der Antragstellung berücksichtigen. Mit dem Gesetz schließen wir erfolgreich Abschöpfungslücken, vereinfachen die Einziehung deliktisch erlangter Vermögenswerte, erleichtern deren vorläufige Sicherstellung und stärken die Rechtsposition von Tatopfern. Es ist ein gutes Gesetz, ich bitte daher um Ihre Zustimmung. Dr. Johannes Fechner (SPD): Ich freue mich sehr, dass wir heute nach intensiven Beratungen das Gesetz zur Vermögensabschöpfung beschließen können. Damit schaffen wir ein wichtiges Instrument, um Opfer einfacher zu entschädigen, vor allem aber, um Gewinne aus Verbrechen abzuschöpfen, damit der vielzitierte, aber eben auch absolut richtige Grundsatz gilt: Verbrechen darf sich nicht auszahlen. Schon das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Sinne geurteilt und festgehalten, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Gerechtigkeit und in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung Schaden nehmen kann, wenn Straftäter deliktisch erlangte Vermögensvorteile dauerhaft behalten dürfen. Und deutlich führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass das Vertrauen der Bürger in die Justiz Schaden nehmen kann: Die Duldung strafrechtswidriger Vermögensanlagen durch den Staat kann den Eindruck hervorrufen, dass sich kriminelles Verhalten auszahlt. Daraus ergibt sich für uns die Pflicht, das rechtsstaatlich Mögliche zu unternehmen, um Straftätern die Gewinne aus ihren Verbrechen zu nehmen. Genau diesem Ziel dient der vorliegende Gesetzentwurf zur Vermögensabschöpfung. Ich möchte mich auf die wichtigsten Änderungen beschränken: Wichtig ist, dass die Vermögensabschöpfung zum Regelfall wird. Leider wird allzu oft, etwa bei komplizierten Fällen aus der Wirtschaftskriminalität, trotz erheblicher Schäden auf die Vermögensabschöpfung im Sinne eines schnellen Verfahrensabschlusses verzichtet. Dies führt dann weiter dazu, dass gerade hohe Schäden nicht ausgeglichen werden und – viel schlimmer noch – dass hohe Beträge aus der kriminellen Tätigkeit beim Täter verbleiben. Dies schwächt, wie ich finde, in ganz erheblichem Maße das Vertrauen in unseren Rechtsstaat. Und deshalb ist es eine wichtige Maßnahme, dass zukünftig die Vermögensabschöpfung zum Regelfall wird. Die Gerichte können dabei die Entscheidung über die Vermögensabschöpfung vom Strafprozess abtrennen und in einem Nachverfahren treffen. Bei geringen Schäden kann das Gericht von Vermögensabschöpfung absehen. Und es ist sogar möglich, dass die Vermögensabschöpfung auch nachgeholt werden kann, etwa wenn sich erst später nachträglich entdecktes Vermögen bei einem im Zeitpunkt des Strafverfahrens scheinbar mittellosen Täter zeigt. Eine zweite wichtige Neuerung besteht darin, dass zukünftig die Vermögensabschöpfung bei allen Straftaten möglich ist. Bislang war dies im Wesentlichen auf den sogenannten Gewerbestrich und bandenmäßige Taten beschränkt. Die Reform wird dabei das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren und die Hauptverhandlung erleichtern und vereinfachen. Dazu trägt insbesondere bei, dass die Entscheidung über die Vermögensabschöpfung in der Hauptverhandlung abgetrennt und später auch nachgeholt werden kann. Nicht nötig sind zukünftig auch die bislang nötigen aufwendigen Beweisfeststellungen zu einer möglichen Entreicherung des Angeklagten. Und wir stellen klar, dass so das Bruttoprinzip gilt. Bislang war in der Rechtsprechung nicht klar, was tatsächlich abgeschöpft werden kann bzw. was der Straftäter gegenrechnen darf. Mit unserer Regelung tragen wir Sorge für Klarheit in der Strafrechtspraxis. Und es wird für die Opfer wesentlich einfacher werden, eine Entschädigung zu erlangen. Das Windhundrennen wird der Vergangenheit angehören, vielmehr gewährleistet diese Reform, dass alle Verletzten und alle Opfer gleichmäßig und gerecht entschädigt werden. Insbesondere müssen Opfer keinen Vollstreckungstitel mehr gegen den Täter erstreiten, weil die Entschädigung im Zuge des Strafvollstreckungsverfahrens oder im Insolvenzverfahren erfolgen kann, was für die Opfer einfacher, schneller und kostengünstiger ist. Die bedeutendste Verbesserung der Rechtslage ist aber, dass bei organisierter Kriminalität und Terrorismus zukünftig Vermögen unklarer Herkunft eingezogen werden kann. Wenn etwa eine Person an einem Flughafen in einer Kontrolle mit 100 000 Euro Bargeld erwischt wird und das Gericht dann durch weitere Indizien zur Überzeugung gelangt, dass Geldwäsche vorliegt oder die Person als Kurier einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung tätig ist, dann kann das Geld eingezogen werden, ohne dass dem Täter eine konkrete Straftat nachgewiesen werden muss. Ausreichend ist, dass das Gericht davon überzeugt ist, dass der Vermögensgegenstand aus irgendeiner Straftat herrührt. Damit schließen wir eine große Lücke in der Einziehung von Taterträgen, und dadurch werden den Opfern ganz erhebliche Summen zur Schadenswiedergutmachung zur Verfügung stehen. In den Gesetzesberatungen haben wir, wie ich finde, noch die wichtige Klarstellung vorgenommen, dass nämlich auch für Altfälle das neue Recht gelten soll. Die Strafjustiz wird so davor bewahrt, dass es möglicherweise jahrelang ein Nebeneinander von alten nach neuem Recht gibt. Ab Inkrafttreten des Gesetzes sind ausschließlich die neuen Vorschriften anzuwenden. Mit dieser Neuregelung zur Vermögensabschöpfung leisten wir einen enorm wichtigen Beitrag zur Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus. Durch dieses Gesetz verlieren Straftäter Beute, und die Opfer werden schnell entschädigt. Stimmen wir also diesem guten Gesetz zu. Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Bei dem vorliegenden Gesetz geht es nach wie vor – vereinfacht ausgedrückt – um die Frage, wie der vermögensrechtliche Schaden aus einer Straftat dem Geschädigten wieder zugeführt werden kann. In Fällen, in denen der Betroffene nicht ermittelt werden kann, soll der Vermögensvorteil aus der Straftat trotzdem nicht beim Täter verbleiben. Denn nach wie vor gilt: Verbrechen soll sich nicht lohnen. – Klingt erstmal gut. Aber wie soll es umgesetzt werden? Was soll letztlich dem Täter wieder weggenommen werden? Alles durch die Tat Erlangte oder doch nur ein Teil? Die Regierung hat dazu ausgeführt, dass es im Kern dabei um die bislang strittige Frage ginge, ob und – gegebenenfalls – in welchem Umfang Aufwendungen des Täters berücksichtigt werden sollten. Der neuen Regelung läge folgender Rechtsgedanke zugrunde: Was in Verbotenes investiert wird, ist unwiederbringlich verloren. Im Übrigen müssen Aufwendungen hingegen berücksichtigt werden. Damit sei eine umfassende Abschöpfung gewährleistet. Die Frage ist, ob es da nicht sinnvoll ist, bei der Vermögensabschöpfung einen Straftatenkatalog für die Taten einzuführen, bei denen richtige Gewinne gemacht werden. Denn so logisch es auf den ersten Blick erscheint, alle Straftaten in die Gewinnabschöpfung einzubeziehen, um eine umfassende Gewinnabschöpfung zu gewährleisten, sehe ich doch in der Praxis Schwierigkeiten. Ich denke nur an Beförderungserschleichung – das sogenannte Schwarzfahren –, Ladendiebstahl, an Kleinstkriminalität eben. In all diesen Fällen die Vermögensabschöpfung zu prüfen, ohne die Justiz über Gebühr zu belasten – das schafft man personell einfach nicht mehr. So sieht es ja auch der Deutsche Richterbund, der in seiner Stellungnahme ausgeführt hat, dass der Mehraufwand mit dem vorhandenen Personal nicht ausgeglichen werden kann. Diese Annahme entbehre jeder Grundlage. Ich möchte einmal den Deutschen Richterbund aus seiner Stellungnahme zitieren: „Eine erfolgreiche und gerechte Opferentschädigung setzt neben der Aufklärung der Schuld- und Straffrage die eingehende Klärung zivilrechtlicher Positionen im Strafverfahren voraus. Dadurch ist zu besorgen, dass mit dieser zusätzlichen Belastung durch aufwendige Nebenentscheidungen die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege in ihrem Kernbereich Schaden erleidet, da die Strafgerichte schon heute angesichts knapper personeller Ressourcen an der Grenze der Belastbarkeit arbeiten.“ Vor zwei Wochen hat die Regierung noch bekräftigt, dass der Staat von Verfassungs wegen gehalten ist, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann. Ich bin der Überzeugung, dass dieses Gesetz dem Durchbruch der Gerechtigkeit nicht dient. Nicht nur wegen der Belastung der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Ich finde, gerade im Bereich der Wirtschaftskriminalität und bei Firmendreiecksverhältnissen ist der Vermögensabschöpfung ein Riegel vorgeschoben. Ich möchte versuchen, dies an einem Beispiel zu erklären. Ein Industriekonzern erwirtschaftet durch betrügerische Geschäfte 500 Millionen Euro. Diese investiert er in ein Tochterunternehmen, welches legale Geschäfte betreibt, jedoch (leider) keinen Gewinn, sondern Verluste macht. Nach zwei Jahren wird das Tochterunternehmen aufgelöst, die investierten 500 Millionen sind bis auf den Verkaufserlös von 200 Millionen weg. Diese werden für Abfindungen der Manger verbraucht. Der Betrug fliegt auf. Die Geschäftsführer werden verurteilt. Das zu Unrecht erlangte Vermögen soll abgeschöpft werden. Nun kann der Mutterkonzern die Investitionen von den ergaunerten 500 Millionen abziehen, wozu unter anderem alle mit dem Tochterunternehmen verbundenen Kosten zählen. So auch etwa die Gehälter und Abfindungen der Manager etc. Dies kann der Ladendieb und der Schwarzfahrer nicht. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt. Aber es galt ja schon früher der Grundsatz: Die kleinen Diebe hängt man, die großen lässt man laufen. – Mich würde schon interessieren, welcher Konzern bei diesem Gesetzentwurf Pate gestanden hat. Nach wie vor bestehen auch nach der Änderung durch die Koalition Bedenken hinsichtlich der Einbeziehung der Erben in die Vermögensabschöpfung. Hier wird zu sehr in das entsprechend Artikel 14 GG geschützte Eigentum eingegriffen. Alles in allem bleibt zu konstatieren: Das Gesetz wird seinem Ziel nicht gerecht, es begünstigt das Großkapital und belastet Gerichte und Staatsanwaltschaften über Gebühr, ohne für einen personellen Ausgleich zu sorgen oder entsprechende Regelungen zu treffen, und ist verfassungsmäßig zumindest bedenklich. Die Linke lehnt solch ein Gesetz ab. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gestern im Rechtsausschuss habe ich schon versucht, die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition davon zu überzeugen, dass die von ihnen hier vorgeschlagenen Neuregelungen der Vermögensabschöpfung nicht praxistauglich, sondern viel zu kompliziert sind. Vor allem werden sie nicht dazu führen, Opfer von Straftaten rasch und problemlos zu entschädigen. Das Vorhaben, die strafrechtliche Vermögensabschöpfung zu reformieren, begrüßen wir grundsätzlich. Das geltende Recht ist unübersichtlich, schwer anwendbar und fehleranfällig. Die Gerichte wenden es deshalb äußerst zurückhaltend und selten an. Deshalb muss vieles geändert werden. Opfer von Straftaten müssen in der Tat schneller und einfacher ihr Geld oder ihr Eigentum – Auto, Fahrrad, die goldene Uhr; das, was ihnen durch eine Straftat entzogen wurde – zurückerhalten oder Ersatz dafür. Und Verbrechen dürfen sich nicht materiell lohnen. Darüber sind wir uns einig. Die Reformvorschläge, die Sie mit diesem Gesetz vorlegen, tragen wir jedoch nicht mit. Ich gestehe zu, dass diese Rechtsmaterie äußerst komplex und schwierig, die Neuregelung daher eine große Herausforderung ist. Nach der ersten Runde hier im Plenum hatten Sie angeboten, wir sollten nochmals über die einzelnen Änderungen reden. Aber es fand erst einmal nur eine Anhörung statt. Kundige Sachverständige, auch aus der Praxis, Vertreter der Staatsanwaltschaft, Richter, Anwälte fanden lobende Worte für Ihr Projekt, zeigten aber auch Schwächen Ihres Entwurfs deutlich auf. Das war im November letzten Jahres. Umso erstaunter war ich, dass Sie angebotene Berichterstattergespräche nicht annahmen und das Gesetz nun nahezu unverändert zur Verabschiedung vorlegen. Um daran doch noch etwas zu ändern, hat die Fraktion der Grünen gestern im Rechtsausschuss einen Entschließungsantrag eingebracht – zu finden in Beschlussempfehlung und Bericht auf Bundestagsdrucksache 18/11640 –, den die Regierungsfraktionen leider abgelehnt haben. Dieser benennt unsere grundsätzlichen Bedenken zu dem Vorhaben und stützt sich dabei auch auf die Einlassungen der Praktiker. Er enthält aber auch Vorschläge für die notwendigsten Änderungen. Wir bezweifeln stark, dass durch die Vorschläge der Bundesregierung Geschädigte von Straftaten wirklich schneller und einfacher entschädigt werden können. Zwar sollen nun den Tatgeschädigten der Gang zum Zivilgericht und damit weitere Kosten erspart bleiben. Häufig werden sie aber unzumutbar lange auf die Herausgabe des Genommenen oder eine Entschädigung warten müssen. Die Strafjustiz arbeitet langsam. Bis zum rechtskräftigen Urteil können Jahre vergehen. Vorher gibt es in der Regel nichts. Dabei kann das Abwarten-Müssen auf das Strafurteil existenzbedrohend sein. Deshalb haben wir vorgeschlagen, in den Vorschriften §§ 73 ff. StGB-E in Verbindung mit § 459h StPO-E zu verankern, dass, sofern Geschädigte parallel den zivilrechtlichen Weg beschreiten, dieser prioritär ist und eben nicht die Rechtskraft des strafrechtlichen Urteils abgewartet werden muss. So besteht für den Geschädigten jedenfalls die Möglichkeit, schneller entschädigt zu werden. Vorrangig sollten auch etwaige freiwillige Vereinbarungen zur Schadensregulierung mit dem Beschuldigen gelten. Diese haben daran häufig Interesse, weil sie dann auf ein milderes Urteil hoffen. Die neuen Regelungen zur erweiterten Einziehung (§ 73a StGB-E), der selbstständigen Einziehung (§ 76a Absatz 1 StGB-E) sowie der Einziehung von Vermögen unklarer Herkunft (§ 76a Absatz 4 StGB-E) halten wir sogar für verfassungsrechtlich sehr problematisch. Das Institut der erweiterten Einziehung beispielsweise soll danach auf alle Straftatbestände – auch Kleinkriminalität – ausgedehnt werden und nicht mehr, wie jetzt, beschränkt sein auf Taten mit Bezug zur organisierten Kriminalität und auf banden- und gewerbsmäßig begangene Taten. Und das, obwohl eine Verurteilung wegen dieser „anderen rechtswidrigen Taten“ nicht erfolgt ist. Außerdem soll nun möglich sein, in einem laufenden Verfahren, „Vermögen unklarer Herkunft unabhängig vom Nachweis einer konkreten [anderen] rechtswidrigen Tat (selbstständig) einzuziehen, wenn das Gericht davon überzeugt ist, dass der sichergestellte Gegenstand aus (irgend-)einer rechtswidrigen Tat herrührt. Es ist nicht erforderlich, dass die Tat im Einzelnen festgestellt wird“. Maßgaben für die Einschätzung des Gerichts, ob der Gegenstand aus einer rechtswidrigen Tat herrührt, sind unter anderem „ein grobes Missverhältnis zwischen dem Wert des Gegenstandes und den rechtmäßigen Einkünften des Betroffenen“ und „sonstige persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse des Betroffenen“. Diese Regelung, die zu einer faktischen Beweislastumkehr zulasten des Betroffenen führt und gegen die Unschuldsvermutung verstößt, wird zu Recht heftig kritisiert. Es ist richtig, dass bestimmte Fallkonstellationen bisher in der Praxis zu unbefriedigenden Ergebnissen führen. Ein Beispiel: das geklaute Fahrrad wird im Keller des Diebes aufgefunden, daneben aber noch ein Geldkoffer mit 500 000 Euro. Da § 242 StGB (Diebstahl) nicht auf § 73d StGB (erweiterter Verfall) verweist, kann das Geld aus dem Koffer nach geltendem Recht nicht eingezogen werden. Das versteht erst einmal keiner. Trotzdem kann es nicht sein, dass die Bundesregierung versucht, solches dolose Vermögen oder Vermögen unklarer Herkunft auf Grundlage verfassungswidriger Gesetze einzuziehen. Zu guter Gesetzgebung gehört, rechtsstaatlich einwandfreie Lösungen zu erarbeiten. Wenn wir anfangen – gerade im Strafrecht – rote Linien zu überschreiten, dann ist das gefährlich. Das Austesten der Verfassungsmäßigkeit einer Regelung und bewusstes Anheimstellen der Verfassungsrechtsprechung ist das Gegenteil guter Gesetzgebung. Ein „Meilenstein“, wie die Neuregelungen zur erweiterten und selbstständigen Einziehung im Rechtsausschuss von Vertretern der Großen Koalition bezeichnet wurden, sind sie also mitnichten. Bedenken ergeben sich auch hinsichtlich des Vorschlags in § 73d Absatz 1 Satz 1 StGB-E. Die vorgesehene Abzugsregelung wurde von verschiedenen Seiten als faktische Abkehr vom Bruttoprinzip beurteilt. Dazu wurden wir insbesondere von Vertretern der Richterschaft angeschrieben. Es wäre doch möglich gewesen, den Vorschlag in § 73d StGB Absatz 1 StGB-E dahin gehend zu überarbeiten, dass eine Abkehr vom sogenannten Bruttoprinzip ausgeschlossen und aktuell bestehende Abschöpfungsmöglichkeiten nicht nachteilig beschränkt werden. Hinzu kommt, dass bei den geplanten Änderungen der Insolvenzordnung das Parlament einhellig das sogenannte Fiskusprivileg abgelehnt hat. Hier in diesem Gesetzentwurf taucht es nun wieder auf. Ist der Täter insolvent, soll der Staat vorrangig auf sein noch vorhandenes Restvermögen zugreifen können. Die noch zu verteilende Masse wird dadurch für den Rest der Geschädigten geschmälert. Das ist nicht vereinbar mit dem Ziel des Gesetzes – der verbesserten Entschädigung der Verletzten. Nein, die höchst komplizierten Neuregelungen zur Vermögenseinziehung sind nicht praxistauglich. Die bereits jetzt schon überlasteten Strafverfolgungsbehörden und Gerichte erhalten Steine statt Brot. Wenn das Gesetz, so wie vorgesehen, konsequent angewandt wird, werden die ohnehin viel kritisierten langen Verfahren noch viel länger dauern. Ein großer Apparat zur Feststellung der Einziehungsgüter, ihrer Einziehung, Aufbewahrung, Verwaltung und Verteilung muss im Bereich der Staatsanwaltschaften aufgebaut werden. Ich fürchte, das neue Gesetz wird genauso wenig von der Praxis angewandt werden wie das bisher geltende. In zwei Jahren kann der Rechtsausschuss des Bundestags noch einmal Strafrichter, Staatsanwälte und Rechtspfleger einladen und sich berichten lassen, warum das wieder nicht klappt mit der Verkürzung der Strafverfahren und der raschen Opferentschädigung. Sie werden dann feststellen, dass sich Verbrechen immer noch lohnen. Leider. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften im Bereich des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts (Tagesordnungspunkt 20) Dr. Silke Launert (CDU/CSU): In einer globalisierten Welt sehen wir uns immer häufiger mit grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten konfrontiert. Das internationale Privat- und Zivilverfahrensrecht gewinnt damit zunehmend an Bedeutung. Auf EU-Ebene und durch diverse internationale Übereinkommen wurden in der Vergangenheit bereits zahlreiche Instrumente geschaffen, um den Menschen bei Streitigkeiten mit Auslandsbezug die Möglichkeit zu geben, ihr Recht einzufordern und durchzusetzen. Wie es aber so ist mit dem Recht: Es tun sich immer wieder Lücken oder auch Rechtsunsicherheiten auf, die uns durch die Rechtspraxis oder auch den Europäischen Gerichtshof aufgezeigt werden. Man kann bei den Gesetzgebungsverfahren eben nicht alles vorab im Blick haben. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, über den wir heute abschließend beraten, wollen wir daher eine Reihe von Vorschriften, die Fälle mit Auslandsbezug regeln, ändern und an den aktuellen Stand anpassen. Konkret geht es darum, Klarstellungen zu schaffen, Präzisierungen vorzunehmen und Gesetzeslücken zu schließen. Im Einzelnen enthält der Entwurf zunächst vor allem technische Änderungen verschiedener Gesetze im Bereich der Auslandszustellung von Schriftstücken, des Europäischen Mahnverfahrens und des Verfahrens zum Eintreiben geringfügiger Forderungen. So stellen wir beispielsweise im Rahmen der Auslandszustellung klar, dass die grenzüberschreitende Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen abschließend durch die entsprechende europäische Verordnung geregelt ist. In diesem Zusammenhang führen wir auch eine gesetzliche Klarstellung ein, dass für ein fiktives Zustellungsverfahren, wie es die deutsche Zivilprozessordnung in § 184 kennt, bei der Auslandszustellung kein Raum ist. Damit sorgen wir für mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bei den Beteiligten, wenn es um gerichtliche Auseinandersetzungen mit Auslandsbezug geht. Weitere Anpassungen betreffen die Frist für die Klagezustellung im Ausland und die Einspruchsfrist gegen ein Versäumnisurteil, welches im Ausland zugestellt wurde. Damit tragen wir dem Umstand Rechnung, dass in diesen Konstellationen typischerweise mit längeren Postlaufzeiten gerechnet werden muss. Zudem überarbeiten wir die Vorschriften über die Durchführung der Verordnung zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens. Insbesondere wird ein gesonderter Rechtsbehelf eingeführt, mit dem der Antragsgegner die Aufhebung des Europäischen Zahlungsbefehls beantragen kann, wenn ihm dieser nicht oder nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde. Knackpunkt bei diesem Gesetzentwurf war sicherlich die Frage, ob wir unsere Rechtshilfe in Zivilsachen für „pre-trial discovery of documents“-Ersuchen durch US-amerikanische Gerichte öffnen. Diese Möglichkeit besteht im Rahmen der Umsetzung des Haager Beweisaufnahmeübereinkommens. Deutschland hatte hiervon zunächst keinen Gebrauch gemacht, und mit der heutigen abschließenden Beratung soll es auch dabei bleiben. Eine entsprechende Änderung wurde aus dem vorliegenden Gesetzentwurf herausgenommen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Änderung auf Drängen der Union gestrichen wurde. Anders als im deutschen Recht, wo der Beibringungsgrundsatz gilt, wird der Sachverhalt im amerikanischen Rechtssystem im Wege eines gerichtlichen Vorverfahrens der Parteien ermittelt. Solche Ausforschungsbeweise sind dem deutschen Prozessrecht aber fremd, und das soll auch so bleiben. Denn würde der Ausforschungsbeweis Einzug halten, würden vor allem deutsche Unternehmen mit Sitz in den USA erheblichen Risiken ausgesetzt werden. Selbst wenn Klagen nicht begründet wären, könnten sie verpflichtet werden, Dokumente in großem Umfang herauszugeben. Das wäre mit erheblichen Kosten und Aufwand verbunden und würde den Datenschutz der Betroffenen erheblich schwächen. In Deutschland wird der Datenschutz immer noch großgeschrieben. Nicht zuletzt deswegen werden wir unsere Unternehmen weiterhin bei der Herausgabe von Dokumenten in Zivil-/Handelsverfahren in den USA schützen. Die Idee, den Ausforschungsbeweis ins deutsche Recht zu übernehmen, war auch verbunden mit der Hoffnung, dass die USA im Gegenzug ebenfalls weitere Vorschriften des Haager Beweisaufnahmeübereinkommens anwenden. Davon ist aber nicht zu auszugehen, weswegen wir erst recht keinen Anlass sehen, unsere Rechtshilfe für „pre-trial discovery“-Ersuchen zu öffnen. Was das internationale Privatrecht angeht, werden wir heute eine wichtige Lücke schließen: Bislang waren die Voraussetzungen und Wirkungen einer Stellvertretung aufgrund einer Vollmacht bei grenzüberschreitendem Sachverhalt nur durch die Rechtsprechung und Literatur herausgearbeitet worden. Das werden wir nun ändern: In einem neuen Artikel 8 EGBGB werden künftig die auf eine gewillkürte Stellvertretung anwendbaren Kollisionsnormen präzise festgeschrieben, um den Rechtsanwendern klare Regelungen an die Hand zu geben. Abschließend möchte ich festhalten: Auch wenn das vorliegende Gesetz zunächst sehr technisch erscheint, stellt es doch einen weiteren wichtigen Baustein dar, um für mehr Klarheit und Sicherheit im internationalen Rechtsverkehr zu sorgen und so den Lebensalltag der Bürgerinnen und Bürger weiter zu erleichtern. Und erfreulicherweise waren wir uns da auch ausnahmsweise fraktionsübergreifend einig. Sebastian Steineke (CDU/CSU): Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet in erster Linie die Klarstellung einzelner Vorschriften, weil sich aufgrund des internationalen Zivilverfahrensrechts Änderungs- und Präzisionsbedarf ergeben hat. Hintergrund hierfür sind vor allem die Entwicklungen aus der Rechtspraxis und der Rechtsprechung, insbesondere der des Europäischen Gerichtshofes. Weiterhin war aufgrund der Änderung der EU-Verordnung zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen eine Anpassung zivilprozessualer Vorschriften notwendig. Zuletzt schließen wir mit einer Regelung zur gewillkürten Stellvertretung eine Rechtslücke, die bisher in der Praxis nur aufgrund von Richterrecht Anwendung finden konnte. Trotz vieler kleinteiliger Regelungsinhalte dieses Gesetzentwurfs, die augenscheinlich unproblematisch sind, gab es einen zentralen Punkt, den wir als Union sehr kritisch gesehen haben. Und dies war der im Gesetzentwurf der Bundesregierung enthaltene § 14 des Ausführungsgesetzes zum Haager Übereinkommen über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- und Handelssachen und des Haager Übereinkommens über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- und Handelssachen. Der Entwurf sah vor, eine Erledigung von Rechtshilfeersuchen aus dem Ausland unter bestimmten Voraussetzungen zu ermöglichen, wenn das Ersuchen ein Verfahren nach Artikel 23 des Übereinkommens zum Gegenstand hat. Lassen Sie mich das nachfolgend etwas näher erläutern. Bei Verfahren nach Artikel 23 des Haager Übereinkommens handelt es sich um Verfahren, bei denen der Vertragsstaat, in unserem Fall die Bundesrepublik Deutschland, bei der Unterzeichnung, bei der Ratifikation oder beim Beitritt erklärt hat, dass er Rechtshilfeersuchen nicht erledigt, die ein Verfahren zum Gegenstand haben, das in den Rechtskreisen des Common Law unter der Bezeichnung „pre-trial discovery of documents“ bekannt ist. In erster Linie geht der Blick dabei auf Verfahren vor US-amerikanischen Gerichten. Hier ist es üblich, dass Prozessbeteiligte in Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung in einem förmlichen Beweisverfahren die Beweismittel offenlegen, auf die sie sich später berufen wollen. Deutschland hat hier aus gutem Grund eine entsprechende Erklärung zu dem Übereinkommen abgegeben, die verhindert, dass dies bei uns möglich ist. Dies ist unserem Recht völlig fremd. Der Gesetzentwurf wollte die Erledigung solcher Rechtshilfeersuchen nun aber ohne Not zulassen, wenn das Herausgabeverlangen nicht gegen wesentliche deutsche Rechtsgrundsätze verstößt, die vorzulegenden Dokumente genau bezeichnet werden und von grundlegender Bedeutung für das Verfahren sind und die Dokumente sich im Besitz einer am Verfahren beteiligten Partei befinden. Auch wenn sich innerhalb dieser Voraussetzungen immer noch einige, vor allem aber auch unbestimmte Hürden befinden, wäre eine solche Regelung aus unserer Sicht ein Einfallstor zu weiteren Ausforschungsmöglichkeiten gegen eine Prozesspartei und auch gegen Dritte. Deutsche Unternehmen, die in den Vereinigten Staaten tätig sind, wären als betroffene Partei oder gegebenenfalls als Dritte erheblichen Risiken ausgesetzt, zum Beispiel bezüglich der Kosten, die mit der Dokumentenherausgabe verbunden sein würden sowie bei datenschutz- und arbeitsrechtlichen Problemen. Solche Ausforschungsbeweise sind mit dem deutschen Prozessrecht nicht vereinbar und dürfen auch nicht über den internationalen Rechtsverkehr Einzug halten. Die Hoffnung des Bundesjustizministeriums bestand darin, US-amerikanische Gerichte dazu zu bringen, das Haager Übereinkommen anzuwenden, was in der Praxis bislang so gut wie gar nicht der Fall ist. Dies hätte sich durch den vorgesehenen Artikel 14 jedoch in keiner Weise geändert. Selbst der US Supreme Court sieht das Haager Übereinkommen nur als fakultative Ergänzung für die Erlangung von Beweismaterial aus dem Ausland. In Deutschland ist es hingegen verbindlich. Schon diese Auffassung des höchsten amerikanischen Gerichts zeigt, wie die Anwendungspraxis in den Vereinigten Staaten aussieht. Wir empfehlen stattdessen zunächst eine entsprechende Evaluierung zu den Auswirkungen einer solchen möglichen Änderung, insbesondere unter Berücksichtigung der Erfahrungen von Frankreich, Dänemark, Finnland, den Niederlanden und Schweden. Ich freue mich, dass wir mit dem Koalitionspartner hier schnell eine Einigung erzielen und einen entsprechenden gemeinsamen Änderungsantrag auf den Weg bringen konnten. Damit erweisen wir den deutschen Unternehmen, die mittlerweile in einer beachtlichen Zahl auf dem internationalen Markt tätig sind, einen großen Dienst. Dies kann man in dieser Deutlichkeit ruhig mal betonen. Im Ausschuss haben alle Fraktionen dieses Hauses zugestimmt. Daher bitte ich auch hier um Ihre Zustimmung zu dem Gesetzentwurf in der Fassung unseres Änderungsantrags. Sonja Steffen (SPD): Der vorliegende Gesetzentwurf befasst sich mit Änderungen im Bereich des internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht. Beim internationalen Privatrecht (IPR) handelt es sich um die Gesamtheit der Rechtssätze des nationalen Rechts, die festlegen, welche von mehreren möglichen internationalen Privatrechtsordnungen in einem Kollisionsfall angewandt werden. Das IPR regelt private Sachverhalte also nicht unmittelbar, sondern durch Verweise, die die jeweils anzuwendende Rechtsordnung festlegen. In Deutschland finden sich die Regelungen zum IPR im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch, dem EGBGB. Das internationale Zivilverfahrensrecht widmet sich unter anderem der internationalen Zuständigkeit, der Gerichtsbarkeit und den Besonderheiten von Verfahren mit Auslandsbezug. Das IZVR ist überwiegend in der Zivilprozessordnung und internationalen Abkommen geregelt. Konkret beinhaltet der vorliegende Gesetzentwurf in den Artikeln 1, 2, 4 und 6 notwendige und unproblematische Änderungen der ZPO, des Einführungsgesetzes des Gerichtsverfassungsgesetzes, des Internationalen Familienrechtsverfahrensgesetzes sowie Folgeänderungen. Im Bereich der ZPO werden insbesondere die Vorschriften über die Auslandszustellung präziser gefasst und Anpassungen an geltendes EU-Recht vorgenommen. Aufgrund einer EuGH-Entscheidung wird ein spezieller Rechtsbehelf im Rahmen des Europäischen Mahnverfahrens eingeführt. Weitere Vorschriften der ZPO wurden redaktionell an Veränderungen einer EU-Verordnung angepasst. Auch wurde eine Konzentrationsermächtigung für die Länder in europäischen Verfahren für geringfügige Forderungen geschaffen. Weiterhin soll eine Änderung des Internationalen Familienrechtsverfahrensgesetz die Befugnisse des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz beim automatisierten Abruf von Meldedaten erweitern. Es handelt sich also neben redaktionellen Änderungen vor allem um Regelungen, die eine stärkere Systematisierung und Kompetenzbündelung zum Ziel haben. Artikel 5 des Gesetzentwurfs soll die gewillkürte Stellvertretung, also die reguläre rechtsgeschäftliche Stellvertretung im Sinne der §§ 164 ff. BGB, im Fall des Auslandsbezugs eines Rechtsgeschäfts regeln. Durch den neu einzuführenden Artikel 8 EGBGB soll eine Gesetzeslücke geschlossen werden. So beruhte das anwendbare Recht bis dato auf Richterrecht, was die Einzelfallanwendung unnötig verkomplizierte. Auf der Grundlage dieses Richterrechts hat der Deutsche Rat für Internationales Privatrecht einen Entwurf verfasst, der die durch Rechtsprechung und Literatur herausgearbeiteten und praktizierten, ungeschriebenen Kollisionsnormen zur gewillkürten Stellvertretung rechtlich fixiert. Dieser liegt nun diesem Gesetzentwurf zugrunde. So enthält die Norm unterschiedliche Fallgruppen: Grundsätzlich soll die Wahl der Rechtsordnung, also die Rechtswahl, bei der Bevollmächtigung vorrangig sein. Dies entspricht dem Gedanken der Privatautonomie der Vertragsparteien. Fehlt es an einer solchen Rechtswahl, knüpft die Regelung in erster Linie an den Ort an, an dem von der Vollmacht Gebrauch gemacht wird. Ausnahmsweise kann bei der Bevollmächtigung eines Unternehmers oder eines Arbeitnehmers sowie der Unkenntnis des Dritten über den Gebrauchsort an den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Bevollmächtigten oder des Bevollmächtigenden angeknüpft werden. Der Gesetzentwurf regelt also abschließend und für jedermann ersichtlich, wann welche Rechtsordnung im Bereich der gewillkürten Stellvertretung mit Auslandsbezug zu gelten hat. Diskutiert wurde dabei auch ein spezielles Formerfordernis der Rechtswahlvereinbarung. Mit gutem Grund hat man die konkrete Formbedürftigkeit jedoch abgelehnt. Schließlich gilt auch in diesem Rahmen die Formvorschrift des Artikel 11 EGBGB. Ein Rechtsgeschäft ist damit immer dann formgültig, wenn es die Formerfordernisse des Rechts, das auf das seinen Gegenstand bildende Rechtsverhältnis anzuwenden ist, oder des Rechts des Staates erfüllt, in dem es vorgenommen wird. Artikel 3 des Gesetzentwurfs sieht zwei Änderungen des Gesetzes zur Ausführung des Haager Übereinkommens vom 15. November 1965 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen und des Haager Übereinkommens vom 18. März 1970 über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom 22. Dezember 1977 (HZÜ/HBÜ) vor. Sinnvoll ist die im ersten Teil genannte Kompetenzbündelungen bei Spezialgerichten. Schließlich verlangen diese sehr speziellen Fälle kundige und erfahrene Richter. Ursprünglich befand sich in dem Gesetzentwurf auch eine Regelung für zukünftige Beweisaufnahmeersuchen. In der Sache ging es um die sogenannte „pre-trial discovery of documents“. Diese sollte zukünftig, unter strengen Voraussetzungen, ermöglicht werden. Bei der „pre-trial discovery of documents“ – übersetzt: vorprozessuale Dokumentenherausgabe – handelt es sich um die im angloamerikanischen Recht vorgesehene Möglichkeit, bereits vor der Verhandlung zur Sache die möglichen Wissensträger der Gegenseite intensiv zu befragen und Einsicht in die Dokumentenlage der Gegenseite zu nehmen. Aus deutscher Sicht wird dadurch eine unzulässige Ausforschung der Gegenseite ermöglicht. Eine Gesetzesnovellierung wurde vom BMJV angeregt, weil US-amerikanische Gerichte begannen, ihr Prozessrecht entgegen den Wertungen des Haager Übereinkommens extraterritorial anzuwenden. Zwar war der Gesetzentwurf des BMJV diesbezüglich sehr differenziert und hatte ein höheres Maß an Beklagtenschutz deutscher Parteien in den USA zum Ziel. Doch haben wir uns als Beteiligte der Koalition mit dem BMJV vernünftigerweise darauf verständigt, erst einmal die Reaktion US-amerikanischer Gerichte auf gleichgerichtete Regelungen in anderen europäischen Staaten (zum Beispiel in Frankreich oder den Niederlanden) abzuwarten. Schließlich kann es sich hier um datenschutzrechtlich höchst brisante Dokumente handeln. So haben die Verbände wiederholt zu verstehen gegeben, dass eine Gesetzesneufassung mit erheblichen Risiken für deutsche Prozessparteien in den USA verbunden sein könnte. Hier gilt es also bedächtig vorzugehen. Der Praxistest in den anderen europäischen Ländern wird zeigen, ob es hier zukünftig einer Regelung bedarf oder nicht. In der Gesamtbetrachtung handelt es sich also um einen sehr ausgewogenen Gesetzentwurf. Neben redaktionellen Änderungen, Kompetenzbündelungen und einer stärkeren Systematisierung vorhandener Regelungen wird vor allem ein höheres Maß an Rechtsklarheit geschaffen. Dabei werden Gesetzeslücken geschlossen und notwendige Konkretisierungen und Anpassungen an geltendes EU-Recht vorgenommen. Dabei wurden viele Impulse aus Rechtsprechung und Rechtspraxis aufgegriffen und umgesetzt. Gerade bei der Regelung zur gewillkürten Stellvertretung bei Rechtsgeschäften mit Auslandsbezug wurden Forderungen aus Wissenschaft und Praxis sorgfältig umgesetzt, was zu einem erhöhten Maß an Rechtssicherheit in derartigen Fällen führen wird. Zu loben ist vor allem die gelungene Abstimmung zwischen dem BMJV, den beteiligten Abgeordneten, den Ländern, den Verbänden und der Wissenschaft. Damit handelt es sich bei dem vorliegenden Entwurf um einen richtigen und wichtigen Beitrag im internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht, der auf breiter Zustimmung beruht und von mir und der Fraktion der SPD nur zu begrüßen ist. Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Wir diskutieren heute hier abschließend über einen Gesetzentwurf zur Änderung von Vorschriften im Bereich des internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts. Die Linke wird – das kann ich vorab schon zusichern – diesem Gesetz ihre Zustimmung geben. Auch wenn wir im Detail durchaus Kritik haben, bedeuten die Änderungen, Präzisierungen und Ergänzungen von Vorschriften des internationalen Zivilverfahrensrechts für die Bürgerinnen und Bürger Verbesserungen, zu ihrem guten Recht kommen zu können. Zwei Beispiele dafür: Stellen Sie sich vor, Sie verkaufen über ein Onlineverkaufsportal eine Ware an einen Interessenten aus Dänemark, Holland, Schweden. Sie werden sich über das Internet einig. Sie versenden die Ware, erhalten aber kein Geld. Auf Ihre mahnenden EMails gibt es keine Antwort. Sie müssen sich an ein Gericht wenden, um Ihr Geld einzuklagen. Dies war bisher ein umständliches und für viele Verbraucherinnen und Verbraucher schwer nachvollziehbares Verfahren. Oft musste man zum Landgericht gehen – für viele mit weiten Wegen verbunden. Ein Richter konnte entscheiden, dass er nicht zuständig ist, sondern ein anderer Richter – eine sogenannte gewillkürte Stellvertretung. Dies wird jetzt geändert und für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbarer gestaltet, indem Gerichte bereits auf der Ebene von Amtsgerichten – also in meinem Wahlkreis wäre das zum Beispiel in Oranienburg möglich – zu zuständigen Gerichten erklärt werden. Durch die Möglichkeit, ein Amtsgericht mehrerer Amtsgerichtsbezirke zum zuständigen Gericht zu erklären, hat dieses die Möglichkeit, sich auf das jeweilige Rechtsgebiet zu spezialisieren und damit wirkungsvoll, schneller und effizienter im Sinne von Verbraucherinnen und Verbrauchern Recht zu sprechen. Zweites Beispiel: Ein Paar – sie Deutsche, er US-Amerikaner – haben ein gemeinsames Kind. Sie sind aber nicht verheiratet. Es kommt zu Konflikten, sie wollen das Kind aber nicht darunter leiden lassen und einigen sich auf Umgangsmöglichkeiten für die einzelnen Elternteile. Plötzlich fällt dem Vater ein: Ich fahre mit dem Kind in die Staaten und bleibe dort dauerhaft; soll doch die Mutter sehen, wie sie künftig zu ihrem Umgangsrecht kommt. Die USA sind ein weites Land und haben Regionen, die hin und wieder auch mal ohne Internet sind. Der gewöhnliche Aufenthaltsort des Kindes kann sich verlaufen. Die Mutter wartet und wartet, sie schreibt eine EMail nach der anderen – keine Reaktion von ihrem ehemaligen Lebensgefährten. Ihr bleibt nur der Rechtsweg. Bisher ein sehr kompliziertes Verfahren, zu dem sie in die Staaten fahren musste, dort einen Anwalt nehmen, Übersetzungsleistungen beibringen usw. Jetzt wird das Internationale Familienrechtsverfahrensgesetz so geändert, dass die zentrale Behörde im automatisierten Abrufverfahren Daten abrufen kann, wie zum Beispiel derzeitige Staatsangehörigkeiten, frühere Anschriften, gekennzeichnet nach Haupt- und Nebenwohnungen, sowie das Einzugs- und Auszugsdatum. Dadurch könnte die Mutter von Deutschland aus und deutlich schneller und unkomplizierter als bisher an Informationen über den gewöhnlichen Aufenthaltsort ihres Kindes herankommen. Ich weiß, dies ändert alles noch gar nichts an einer ganzen Reihe von Rechtsproblemen, mit denen Bürgerinnen und Bürger ebenfalls konfrontiert sein können. Und die Regelungen betreffen, wie gesagt, nur den Bereich des internationalen Privat- und Zivilrechts. Aber es sind Schritte in die richtige Richtung. Außerdem werden Lücken im internationalen Privatrecht geschlossen. Auch im internationalen Zivilverfahrensrecht gab es in mehrfacher Hinsicht Klarstellungs- und Änderungsbedarf, einschließlich der Rechtshilfe und des internationalen Familienverfahrensrechts. Darüber hinaus hat die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu Rechtsunsicherheiten für die Rechtspraxis geführt. Der bestehende Rechtshilfeverkehr mit den USA ist um weitere Möglichkeiten ergänzt worden. All dies ist im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und wird von der Linken unterstützt. Allerdings können wir der Bundesregierung eine wichtige Kritik nicht ersparen: Im ursprünglichen Gesetzentwurf haben Sie ohne Not das im deutschen Zivilverfahrensrecht geltende Ausforschungsverbot im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr, insbesondere im Verhältnis zu den USA, aufgegeben, ohne dass dem greifbare Vorteile gegenübergestanden hätten. Es bedurfte erst wieder erheblichen Protestes aus der Zivilgesellschaft und eines Änderungsantrages im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens, um diese Absicht zu vereiteln. Dies ermöglicht uns die Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf in geänderter Fassung. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute hier beraten, sollen einige Vorschriften im Bereich des internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts geändert oder klargestellt werden. Es ist ein kleiner Rundumschlag, der Regelungen in der Zivilprozessordnung, den Einführungsgesetzen zum BGB, dem Gerichtsverfassungsgesetz und dem Familienrechtsverfahrensgesetz betrifft. Das Vorhaben greift verschiedene Entwicklungen aus Rechtsprechung und Praxis auf und ist im Interesse der Rechtsklarheit zu begrüßen. In der ZPO werden insbesondere die Vorschriften über die Auslandszustellung präzisiert. Bei geringfügigen Forderungen wird für europäische Verfahren eine Zuständigkeitskonzentration ermöglicht. Im Europäischen Mahnverfahren soll bei Nichtzustellung des Europäischen Zahlungsbefehls ein Rechtsbehelf eingeführt werden. Ins Kollisionsrecht des EGBGB wird eine Regelung zum anwendbaren Recht bei Stellvertretung aufgenommen. So wird der Rechtswahl des Vollmachtgebers Vorrang eingeräumt und Regelungen für Fälle getroffen, wenn keine Rechtswahl erfolgt ist. Dies entspricht den bisher in der Praxis angewandten Kriterien. Im Internationalen Familienrechtsverfahrensgesetz werden die Möglichkeiten zum Abrufen von Meldedaten durch das Bundesamt für Justiz erweitert. Das Bundesamt für Justiz ist zum Beispiel zuständig für die Rückführung von entführten Kindern. Die im automatisierten Verfahren abrufbaren Daten sollen zur Ermittlung des Aufenthaltes eines Kindes um Staatsangehörigkeit und frühere Anschriften ergänzt werden. Im parlamentarischen Verfahren ist glücklicherweise die rechtspolitisch fragwürdige Erweiterung der Rechtshilfemöglichkeiten nach dem Haager Übereinkommen über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- und Handelssachen entfallen, die ursprünglich im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehen war. In Deutschland gilt zwar auch bisher schon dieses Haager Übereinkommen, doch die Bundesrepublik Deutschland hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, einen Vorbehalt gegen die Vorgaben zur Dokumentenherausgabe einzulegen. Rechtshilfeersuchen, die das im Common Law verbreitete „pre-trial discovery“-Verfahren zum Gegenstand haben, werden entsprechend dem Vorbehalt nicht erledigt. Ursprünglich war von der Bundesregierung vorgesehen, dass auf Rechtshilfeersuchen beispielsweise aus den USA unter bestimmten Voraussetzungen Dokumente herausgegeben werden sollten, wenn die Beweisaufnahme im „pre-trial discovery“-Verfahren stattfindet, also in einem bei uns nicht vorhandenen Beweisermittlungsverfahren zwischen Klageerhebung und Hauptverhandlung. Das steht im Gegensatz zur Grundmaxime des deutschen Zivilprozessrechts, wonach – als Ausprägung des Beibringungsgrundsatzes – die Ausforschung der Gegenseite unzulässig ist. Dieser Grundsatz sollte nicht ohne Not durchbrochen werden. Zugegebenermaßen ist auch die aktuelle Rechtslage etwas unbefriedigend. Nachdem deutsche Gerichte Rechtshilfeersuchen aus den USA, die auf Dokumentenherausgabe im Rahmen der „pre-trial discovery“ gerichtet waren, abgelehnt hatten, begannen US-Gerichte, ihr eigenes Zivilverfahrensrecht extraterritorial anzuwenden. Wird die Vorlage von Dokumenten unter Berufung auf das deutsche Recht verweigert, drohen der deutschen Partei im US-Verfahren prozessuale Nachteile. Der vom Vorbehalt zum Haager Übereinkommen intendierte Schutz der deutschen Prozesspartei läuft dann leer. Dass aber eine – mit rechtlichen Hürden versehene – Anwendung der Regelung des Haager Übereinkommens über die Dokumentenherausgabe zum Ziel führen würde, ist zweifelhaft. Denn auch wenn der Weg der grenzüberschreitenden Beweisaufnahme „pre-trial“ über das Ausführungsgesetz zum Haager Übereinkommen eröffnet wäre, würde dies nur einen zusätzlichen Weg für die US-Gerichte bedeuten, nicht den bisher gegangen Weg – die Anwendung des eigenen Verfahrensrechts – ausschließen. Im Ergebnis wäre also nichts gewonnen, wenn die USA weiterhin auf die Anwendung ihres eigenen, weitergehenden Rechtes setzen würde. Und wenn die Erreichung des Ziels eines Gesetzes so unsicher ist, sollten wir dafür keine nationalen prozessrechtlichen Grundsätze über Bord werfen. Die Bundesregierung tut also gut daran, wenn sie zunächst die Auswirkungen auf die US-Praxis in anderen Vertragsstaaten des Haager Übereinkommens untersucht, die bereits das Verfahren der Dokumentenherausgabe über das Übereinkommen zulassen. Nur wenn dort positive Erfahrungen festgestellt werden, lohnt es sich überhaupt, hier über eine begrenzte Öffnung des deutschen Verfahrensrechts zu diskutieren, um die aktuelle US-Praxis abzuwehren. Gesetzesänderungen müssen auf einer ausreichenden Faktenanalyse basieren. Diesen Grundsatz hat die Koalition hier letztlich beherzigt – die ursprünglich vom Bundesjustizministerium vorgesehene Fassung des Regierungsentwurfes wurde entsprechend geändert. Ich wünschte nur, die Koalition würde auch bei anderen Bereichen die Faktenlage auswerten, bevor sie Gesetze ändert oder beschließt. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes (Tagesordnungspunkt 21) Kordula Kovac (CDU/CSU): Manchen von Ihnen mag es aufgefallen sein: Bei den verschiedenen Festakten anlässlich der Bundesversammlung wurde überwiegend deutscher Wein serviert. Zu meiner großen Freude sogar auch Wein aus meiner Heimat Südbaden. Das war nicht immer so und ist letztendlich auch ein Verdienst der Arbeit des Parlamentarischen Weinforums. Dieses wurde nämlich im Jahr 2003 auf überparteiliche Initiative hin gegründet in dem Bestreben, dass bei Veranstaltungen des Deutschen Bundestages auch deutscher Wein bzw. deutscher Winzersekt ausgeschenkt wird. Kann natürlich sein, dass das jetzt dem ein oder anderen der „Mulitkulti-Fraktion“ gegen den Strich geht, aber: Deutscher Wein braucht schließlich den Vergleich zur ausländischen Konkurrenz nicht zu scheuen. Damit dies auch in Zukunft so bleibt, muss die Politik hin und wieder die Rahmenbedingungen der Weinbranche in Deutschland überprüfen und gegebenenfalls anpassen. Genau dies tun wir mit dem vorliegenden Gesetz. Zwar mag der Titel des Gesetzes etwas schwerfällig über die Lippen kommen, die konkreten Beschlüsse sind aber vor allem durch Vereinfachung von Verwaltung und Verfahren und dem Vorbeugen von möglichen Marktstörungen geprägt. Erlauben Sie mir, die wichtigsten Punkte zusammenzufassen: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die Bundesländer ermächtigt, durch Rechtsverordnungen sowohl Schutzgemeinschaften zur Verwaltung der Lastenhefte als auch Branchenverbände auf ihrem Hoheitsgebiet zu erlauben. Durch die nun erlaubte Einführung von Schutzgemeinschaften vereinfachen wir die Verwaltung von herkunftsgeschützten Weinen, da hierdurch die Anträge zur Änderung der Produktspezifikationen einer geschützten Ursprungsbezeichnung oder einer geschützten geografischen Angabe nicht mehr einzeln durch die Erzeuger, sondern durch die jeweilige Schutzgemeinschaft vorbereitet und gestellt werden kann. Die genaue Ausgestaltung der Struktur der Schutzgemeinschaften soll durch eine Rechtsverordnung der Bundesländer geregelt werden. Gleichzeitig gewährleisten wir aber bundeseinheitlich eine hinreichende Repräsentativität für das entsprechende Gebiet, indem die Schutzgemeinschaft nur anerkannt werden kann, wenn sie durch mindestens zwei Drittel der Erzeuger des jeweiligen Anbaugebiets vertreten ist und auf sie zusätzlich zwei Drittel der Weinerzeugung entfallen. Durch das Aufheben des bisherigen Verbots der Branchenverbände im Weinbau entsprechen wir dem Wunsch der Bundesländer, ihren spezifischen regionalen Besonderheiten Rechnung tragen zu können. Mit der dementsprechend notwendigen Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes ermöglichen wir erstmals, dass durch die vielzähligen Fördermöglichkeiten und Funktionen von Branchenverbänden Synergien zwischen Weinbauverbänden, Gebietsweinwerbung und Schutzverbänden ermöglicht werden. Zukünftige Marktstörungen verhindern wir durch eine Länderermächtigung zur Festsetzung eines Hektarhöchstbetrages von bis zu 200 Hektoliter/Hektar für Weine ohne Herkunftsbezeichnung, insbesondere für Flächen außerhalb der Anbau- und Landweingebiete. Außerdem schreibt das Gesetz bundeseinheitlich 200 Hektoliter/Hektar vor, sollten die Länder nicht durch eine eigene Rechtsverordnung aktiv werden. Einem zukünftigen Überangebot kommen wir zuvor, indem die Begrenzung von Neuanpflanzungen auf 0,3 Prozent der bepflanzten Gesamtfläche auf drei weitere Jahre bis 2020 ausgeweitet wird. Durch die Kombination dieser beiden Anbauhöchstgrenzen vermeiden wir einen bundesweiten Flickenteppich und verhindern, dass der Weinsektor durch eine Mehrmenge von bis zu 9 Millionen Liter Wein pro Jahr belastet wird. Eine solche Menge würde bei einer Neubepflanzung von 1 Prozent der Rebflächen in Deutschland, wie sie die EU erlaubt, zusätzlich auf den Weinmarkt drängen, wenn wir auf nationaler Ebene die 0,3 Prozent-Begrenzung nicht fortsetzten. Durch die Einbeziehung der Stadtstaaten in den Vorwegabzug, also die Erlaubnis der 5-Hektar-Neubepflanzung, entsprechen wir den Interessen dieser Bundesländer, ohne dass der Markt hierdurch signifikant gestört wird. Last, but not least: Mit der Anhebung der Bagatellgrenze von 5 auf 10 Ar reduzieren wir nicht nur die Zahl der abgabepflichtigen Betriebe, sondern verringern auch den Verwaltungsaufwand. Die finanziellen Einbußen dieser Maßnahme entsprechen gerade mal 1,34 Prozent und können dementsprechend vernachlässigt werden. Kurzum vereinfacht dieses Gesetz somit, um es noch einmal zu wiederholen, die Verwaltung und beugt Marktstörungen vor. Auf rund 100 000 Hektar Rebfläche werden in Deutschland durchschnittlich 9,5 Millionen Hektoliter Wein pro Jahr erzeugt. Insgesamt konsumieren die Deutschen im Jahr rund 20 Millionen Hektoliter Wein. 13 Millionen Hektoliter davon sind allerdings ausländische Erzeugnisse. Deutschland ist damit der größte Weinimporteur der Welt. Helfen Sie mit, dass deutsche Winzerinnen und Winzer auch auf dem einheimischen Weinmarkt konkurrenzfähig bleiben und stimmen Sie diesem Gesetz zu. Marlene Mortler (CDU/CSU): Die Krise in der Milchwirtschaft hat es uns im letzten Jahr schmerzlich vor Augen geführt: Wenn wir den Branchen in der Landwirtschaft keine Eigenverantwortung zugestehen, können sie nicht angemessen auf Marktschwankungen und -krisen reagieren. Was die Milchbranche angeht, hat der Deutsche Bundestag bereits 2016 eine gangbare Lösung gefunden: Seitdem können sich unter anderem Branchenverbände freiwillig zusammentun, um zeitlich befristet die Rohmilchproduktion zu regulieren. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf eröffnen wir nun den Ländern die Möglichkeit, der Weinbranche ähnliche gestalterische Freiheiten zu übertragen. Wir wollen sie – genauso wie die gesamte Landwirtschaft – fit für den internationalen Wettbewerb und damit für die Zukunft machen. Der Weinsektor ist, wie kaum eine andere Branche in der Landwirtschaft, aufs Engste mit seinen Anbauregionen verwoben. Diesen besonderen Gegebenheiten müssen wir Rechnung tragen. Die Länder sollen daher künftig selbst für ihr Territorium entscheiden können, ob sie Branchenverbände anerkennen. Dies soll durch eine Bundesverordnung ganz oder teilweise an die Landesregierungen delegiert werden. Für Weine, die ohne Herkunftsbezeichnung vermarktet werden, können zudem Hektarhöchsterträge festgelegt werden. Damit wirken wir Marktverzerrungen entgegen. Bereits jetzt ist in der Novelle des Weingesetzes vorgesehen, in den Jahren 2018 und 2019 die Neuanpflanzungen auf 0,3 Prozent der Gesamtrebfläche zu begrenzen. Damit erreichen wir mehr Preisstabilität. Vor allem in der Neuregelung für den Zusammenschluss von Branchenverbänden sehe ich große Vorteile, auch für uns in Bayern: Über reine Marktanpassungsstrategien hinaus sind es in erster Linie Synergieeffekte, die Branchenverbände attraktiv machen. Der Verwaltungsaufwand, um beispielweise EU-Förderungen zu beantragen, kann geteilt und damit für einzelne Betriebe verringert werden. Gemeinsame Absatz- und Marketingstrategien ermöglichen eine optimale Ausrichtung auf den Markt. Angebote können gebündelt und gemeinsame Werbemaßnahmen auf den Weg gebracht werden. Jede Branche hat darüber hinaus ihre berechtigten Interessen, die sie gegenüber Wirtschaft, Gesellschaft und Politik vertreten möchte und muss. Wer mit einer Stimme für alle oder zumindest viele spricht, kann seine Anliegen natürlich wesentlich besser durchsetzen als ein Einzelkämpfer. Das zeigt ein Blick in die romanischen Weinbauländer: Die Champagne und Südtirol sind erfolgreiche Beispiele für die Einrichtung von Branchenverbänden. Unsere Landwirte bewegen sich heute in globalisierten Märkten. Dadurch sind einerseits Handelshemmnisse weggefallen und Absatzmärkte dazugekommen. Andererseits müssen sich unsere Bäuerinnen und Bauern sowie auch alle anderen international tätigen Branchen einer wesentlich breiteren Konkurrenz stellen als früher. Derzeit haben wir in Deutschland einen Anteil von ausländischen Weinen von rund 56 Prozent. Wir sind weltweit Weinimportland Nummer eins. Das zeigt, welch große Vielfalt auf dem deutschen Markt herrscht. Gleichzeitig ist der Weinexport gesunken. Unsere eigenen Weinerzeugnisse stehen unter einem erheblichen Marktdruck. Schlimmer noch: Es herrscht ein regelrechter Verdrängungswettbewerb. Zwei Drittel aller Weine im Lebensmitteleinzelhandel und Discount werden für 1,99 Euro verkauft – ein Preis, zu dem in Deutschland schwer qualitätsbewusster Weinbau betrieben werden kann. Branchenverbände können hierfür die ideale Antwort sein. Sie schärfen und profilieren eine Herkunft als Marke. Und sie bieten die Möglichkeit, sich von der internationalen Konkurrenz abzuheben. Unserem Ziel, auf Klasse anstatt auf Masse zu setzen, kommen wir dadurch einen guten Schritt näher. Wir wissen dank vieler praktischer Erkenntnisse, dass Kooperationen innerhalb einer Branche oder sogar von mehreren Branchen gerade in der Landwirtschaft erfolgversprechend sind. Zum Beispiel ist es auch Zuckerrübenbauern möglich, dass sie sich zusammenschließen, um Preisverhandlungen mit der Industrie zu führen. Um der schwierigen Marktlage und dem unaufhaltsamen Strukturwandel zu trotzen, schaffen sich unsere Bäuerinnen und Bauern immer häufiger mehrere Standbeine. Sie wandeln damit oft zwischen den „Branchenwelten“. Nehmen Sie nur das Konzept „Ferien auf dem Bauernhof“. Es vereint die Landwirtschaft mit der Tourismuswirtschaft. Mit einem schönen Beispiel aus meiner Heimat möchte ich aufzeigen, dass und wie solche integrativen Strategien zu einer Erfolgsgeschichte werden können: In Franken reden wir seit zehn Jahren nicht mehr übereinander, sondern miteinander. Hier verbindet sich edler Genuss mit dem Tourismus. Dies wird im ganzheitlichen Weintourismuskonzept „Franken – Wein.Schöner.Land“ vereint und verdeutlicht. Die Bayerische Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau, die Tourismusverbände in Franken und die Gebietsweinwerbung Franken haben sich zusammengeschlossen und mit Zertifizierungskriterien Maßstäbe für Exzellenz und Genuss gesetzt. Wir Bayern, insbesondere wir Franken, wollen endlich die offensichtlichen Vorteile von Branchenverbänden nutzen und wettbewerbsbedingte Risiken für den einzelnen Betrieb reduzieren. Mit der Neuregelung des Weingesetzes legen wir die Grundlage für alle Beteiligten, damit sie zielgerichtet und vor allem effizient zusammenarbeiten können. Wir institutionalisieren ihre Kooperation und heben so bereits existierende Zusammenschlüsse im Weinsektor auf eine neue Ebene. Wein gehört zu unserer Kultur und ist identitätsstiftend für Regionen wie mein Frankenland. Als Drogenbeauftragte der Bundesregierung ist mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig: Ein Genuss ist Wein nur, wenn er in Maßen getrunken wird. – Es würde dem edlen Getränk und der Arbeit unserer Winzerinnen und Winzer nicht gerecht werden, wenn er achtlos und in ungesunden Mengen missbräuchlich konsumiert wird. Und in der Schwangerschaft und Stillzeit, aber auch am Lenkrad und am Arbeitsplatz müssen grundsätzlich 0,0 Promille gelten. Ich werbe für einen verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol insgesamt und für die Wertschätzung derjenigen, die unseren hervorragenden Wein in harter Handarbeit produzieren. Gustav Herzog (SPD): Passend zum Ende der ProWein in Düsseldorf beraten wir heute abschließend die zehnte Änderung des Weingesetzes. Im Sommer 2015 haben wir die neunte Änderung beschlossen und schon damals war absehbar, dass wir 2017 die zehnte und voraussichtlich schon im kommenden Jahr die nächste Gesetzesänderung haben werden. Gleich nach der Bundestagswahl im September werden wir uns also an die Arbeit für eine größere Reform machen. Ich bin in diesen Tagen ganz zuversichtlich, dass ich dann auch wieder in Regierungsverantwortung mit dabei sein werde. In gewohnter Manier konnten wir uns als Berichterstatter im Parlamentarischen Weinforum auf die wesentlichen Dinge informell einigen. Ich bin immer wieder dankbar für dieses überfraktionelle Gremium, in dem wir uns seit mehreren Wahlperioden nicht nur im Vorfeld auf eine Gesetzesänderung verständigen können. An dieser Stelle meinen herzlichen Dank an die Kollegin und die Kollegen für die gute Zusammenarbeit in dieser Wahlperiode. Verständigt hatten wir uns zunächst einvernehmlich auf drei Punkte. Die Verlängerung des 0,3-Prozent-Zuwachses bei den Neuanpflanzungen bis 2018, eine Ausweitung der Höchstertragsregelung auf alle Anbauflächen und die Einrichtung einer institutionellen Organisation zur Betreuung der Lastenhefte für herkunftsgeschützte Weine, also Weine mit geschützter Ursprungsbezeichnung und mit geografisch geschützten Angaben. Der Bundesrat hat darüber hinaus weitere Vorschläge gemacht, welche die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung aufgegriffen hat. Nach intensiven, zum Teil kontroversen Beratungen wollen wir diese nun mit umsetzen. Doch wie so oft gilt auch hier das Struck’sche Gesetz: Nichts verlässt das Parlament, wie es hineingekommen ist. – Daher freue ich mich auf die Zustimmung der Opposition zu dem Änderungsantrag der Koalition, der die Vorschläge von Bundesrat und Bundesregierung in modifizierter Form umsetzt. Dazu gehört die Ausweitung der 0,3-Prozent-Regel bis 2020, um mehr Rechtssicherheit für alle Beteiligten und mehr Ruhe bei der Antragstellung herzustellen. Weiterhin wollen bestimmte Anbaugebiete Branchenverbände für den Wein einrichten. Wir ändern also auch das Marktstrukturgesetz und ermächtigen die Bundesregierung, den Landesregierungen zu erlauben, solche Verbände auch für die Weinbranche einzurichten. Als dritter Zusatzpunkt wird die Beitragserhebung für die Weinwerbung vereinfacht. Zum einen heben wir die Bagatellregelung von 5 auf 10 Ar an. Das bedeutet, dass gut 300 Hektar Klein- und Kleinstflächen aus der Beitragserhebung herausfallen. Dadurch entstehen dem Weinfonds Einnahmeverluste in Höhe von etwa 22 000 Euro. Gleichzeitig schränken wir die Beitragspflicht dahin gehend ein, dass nur bestockte Rebflächen erhoben werden. Das wiederum bedeutet Beitragsverluste für den Weinfonds in Höhe von etwa 125 000 Euro. In der Summe gehen also der Weinwerbung rund 150 000 Euro im Jahr verloren. Dieses spezielle Thema werden wir aber im Rahmen des elften Änderungsgesetzes erneut aufgreifen und intensiv beraten müssen. Besonderen Beratungsbedarf benötigte die Frage nach der inneren Organisation der sogenannten Schutzgemeinschaften zur Verwaltung der Lastenhefte herkunftsgeschützter Weine. Wir sehen die unterschiedlichen Erwartungshaltungen an dieser Regelung bei den Ländern, den Verbänden und den einzelnen Erzeugern bzw. Kellereien. Den meiner Meinung gut abgewogenen Kompromiss werden wir in der gelebten Praxis genau beobachten und gegebenenfalls nachschärfen müssen. Die Gelegenheit dazu liegt, wie bereits erwähnt, mit dem elften Änderungsgesetz in greifbarer Nähe. Hierzu wird für die SPD-Bundestagsfraktion auch gehören, den Anteil der deutschen Weinwerbung an dem Stützungsprogramm spürbar anzuheben, um damit insbesondere das Auslandsmarketing zu verstärken. Mit dieser Gesetzesänderung setzen wir den Weg einer sehr praxisorientierten, behutsamen Weinbaupolitik fort. Die SPD-Fraktion wird daher gerne zustimmen. Roland Claus (DIE LINKE): Es gibt nicht viele politische Sachverhalte hier im Hohen Hause, bei denen man sich so gut überfraktionell einigen kann wie beim Wein. Aus diesem Grunde wird die Fraktion Die Linke auch in diesem Jahr der Weingesetz-Novelle zustimmen. Als Vertreter der beiden ostdeutschen Weinbauregionen Saale/Unstrut in Sachsen-Anhalt und Thüringen und Meißen an der Elbe in Sachsen habe ich mich zunächst – das will ich hier nicht verhehlen – nach wie vor für eine Zuwachsmöglichkeit von 0,5 Prozent (gleich 500 Hektar) der Rebflächen eingesetzt. Nun ist es wieder bei den 0,3 Prozent geblieben. Entsprechend der Festlegung für die Jahre 2016 und 2017 sollen nun auch für die Jahre 2018 und 2019 Neuanpflanzungen auf 0,3 Prozent der deutschen Rebflächen begrenzt werden. Die Anpassungen korrigieren redaktionelle Unsauberkeiten und aktualisieren die Quote, um den Preis für vor allem herkunftsgeschützte Weine zu stabilisieren. Gerade für uns Linke ist es spannend, wie die Bundesregierung beim Weinbau wacker verteidigt, was sie bei der Milch zum Leid der Erzeugerinnen und Erzeuger aufgab: Eine staatliche Mengenregulierung zur Sicherung der regionalen Produktion und der Preisstabilität. Auch wenn wir die Schizophrenie nicht nachvollziehen können, teilen wir dennoch das Vorhaben dieses Gesetzentwurfs. Positiv daran zu bewerten ist, dass damit versucht werden soll, den Weinmarkt weiterhin dauerhaft zu stabilisieren. Des Weiteren wird somit auch der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie entsprochen – welches ebenso vom Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung des Deutschen Bundestages getragen wird. In Bezug auf die Festlegungen der Schutzgemeinschaften hoffen wir als Fraktion Die Linke, dass unserem Ansinnen nach Abbau von Bürokratie Rechnung getragen wird und nicht diesen unseren Forderungen zuwidergelaufen wird. Nichtsdestotrotz freue ich mich, auch in meiner Funktion als Mitglied des Parlamentarischen Weinforums, dass wir auch in diesem Jahr wieder so lange verhandelt haben, bis ein einvernehmlicher Kompromiss zustande gekommen ist. Dafür möchte ich mich bei der Mit-Berichterstatterin und den Mit-Berichterstattern wie auch bei den Mitgliedern im Parlamentarischen Weinforum herzlich bedanken. Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Weinbau ist für zahlreiche ländliche Regionen ein bedeutender Wirtschaftszweig. Er stärkt die regionale Wertschöpfung und schafft Arbeitsplätze auf dem Land. So sind rund 17 000 Menschen insgesamt im Weinbau beschäftigt, viele davon in Winzerfamilien-Betrieben. Wir sehen in den letzten Jahrzehnten gute Entwicklungen, die dafür gesorgt haben oder dazu beitragen, dass unsere Winzerinnen und Winzer Preise erzielen, von denen sie auch leben können. Zum einen haben wir eine Qualitätsoffensive erlebt: Junge Winzerinnen und Winzer konzentrieren sich auf die Produktion von Qualitätswein und nehmen dafür weniger Ertrag in Kauf; sie bauen weniger Wein besser aus, und nehmen ihre Standorte und Sorten ernst. Deutscher Wein wird deshalb inzwischen weltweit geschätzt – und erzielt entsprechend gute Preise. Zur Qualitätsoffensive zählt auch der boomende Ökoweinbau: Auch hier machen sich immer mehr Winzerinnen und Winzer auf den Weg, konsequent ökologisch und qualitätsorientiert zu wirtschaften. Und der Weinbau wird zunehmend zu einem bedeutenden Tourismusfaktor: Seit Jahren erfreut sich der Weintourismus wachsender Beliebtheit. Besucherinnen und Besucher schätzen die Kulturlandschaften mit ihren Weinbergen, Terrassen und Trockenmauern und genießen die besondere Lebensqualität, die wir mit Wein verbinden und die die Regionen seit Hunderten von Jahren prägen. Und auch das ist mit dem Qualitätsweinbau verbunden: Die Steillagen und alten Wingerte lassen sich eben nicht mit Massenertrag erhalten, sondern erfordern – allein schon aufgrund ihrer Lage und geringen Größen – eine Fokussierung auf Qualität, die dann auch die entsprechend damit verbundene, oft noch manuelle Arbeit entlohnen kann. Die Qualität des Weins und seine Einbettung ist also der entscheidende Faktor für die regionale Wertschöpfung. Unsere Aufgabe in der Politik ist es, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass der Weinbau auch weiterhin diese wichtigen Aufgaben in den Regionen erfüllen kann. Für uns gilt also der einfache Grundsatz: Klasse statt Masse. So können wir dazu beitragen, die Weinpreise stabil zu halten und unseren Winzerinnen und Winzern den Rücken zu stärken. Mit der heute vorliegenden zehnten Änderung des deutschen Weingesetzes gehen wir diesen Schritt entschlossen weiter. Denn auch für Landwein wird ein bundeseinheitlicher Hektarhöchstertrag festgesetzt, sodass nicht mehr beliebig viel Wein auf einer bestimmten Fläche produziert werden kann. Das ist ein wichtiger Schritt Richtung stabiler Weinpreise. Vor knapp zwei Jahren hat sich der Bundestag mit der Frage beschäftigt, wie wir mit dem Auslaufen des europaweiten Anbaustopps für Reben umgehen sollen. Hätten wir nicht eine bundeseinheitliche strengere Regelung gefunden, hätte die Rebfläche jährlich um 1 Prozent ausgeweitet werden dürfen. Nach längeren Verhandlungen hier im Bundestag und mit den weinbauenden Ländern haben wir einen guten Mittelweg gefunden: der Einschränkung der Neubepflanzungen auf 0,3 Prozent im Qualitätsweinbau. Heute steht die Fortschreibung dieser Einschränkung zur Abstimmung. Vor dem Hintergrund der niedrigen Fassweinpreise an einem sensiblen Markt ist es wichtig, dass wir hier eine Regelung treffen, die für unsere Winzerbetriebe Klarheit und Planbarkeit bedeutet. Mit der Fortschreibung bis einschließlich 2020 schaffen wir das auch über den Wahlperiodenwechsel hinaus. Das findet unsere ausdrückliche Zustimmung. Wir müssen auch ein besonderes Augenmerk auf den Strukturwandel der Winzerbetriebe legen. Um die Vielfalt der Betriebe und ihrer Produkte zu erhalten und auch jungen Menschen eine Perspektive im Weinbau zu geben, gilt es, kleinere Betriebe nicht zusätzlich zu belasten. Das bedeutet auch: weniger bürokratische Anforderungen für diejenigen, die den guten Wein anbauen und produzieren. Die in der vorliegenden zehnten Änderung des Weingesetzes vorgesehene Anhebung der Bagatellgrenze für die abgabepflichtigen Betriebe stärkt kleinen Betrieben und Betrieben im Nebenerwerb den Rücken. Und das ist gut so. Wichtig ist jetzt ein starkes gemeinsames Signal in diese Richtung aus dem Bundestag. So erhalten wir unseren Grundsatz „Klasse statt Masse“ unsere Kulturlandschaften und wirtschaftlichen Potenziale in ländlichen Regionen. Wir stimmen dem Gesetzentwurf zur Änderung des Weingesetzes deshalb zu. Über die heute beschlossenen Regelungen hinaus müssen wir aber auch an anderen Stellen dafür sorgen, dass unsere Weinbaubetriebe unter guten Rahmenbedingungen wirtschaften können. Insbesondere der Steillagen- und Terrassenweinbau prägt vielerorts in Deutschland die Kulturlandschaften und trägt wesentlich zur Schönheit der Regionen bei. Zwar bringen diese Lagen herausragende Weine hervor, aber der vielfache Bearbeitungsaufwand gegenüber flachen Lagen stellt den Fortbestand von Steillagen und Weinterrassen betriebswirtschaftlich trotz guter Preise zunehmend infrage. Oft wirtschaften auf den schwierigen Lagen auch Nebenerwerbs- und Hobbywinzer, die zwar nicht auf hohe Erträge angewiesen sind. Aber es ist auch darauf zu achten, dass noch ausreichend Haupterwerbsbetriebe vor Ort sind, die die nötigen Maschinen haben, um Lohnarbeiten in den Weinbergen auszuführen. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass die Haupterwerbsbetriebe wirksam unterstützt werden und nötige Investitionen tätigen können. In den Ländern wurden dazu gute Programme eingerichtet, sowohl, was die Förderung der Steillagenbewirtschaftung betrifft, wie auch die Schaffung von Investitionshilfen. Für die Erhaltung des Kulturerbes Weinbau braucht es aber auch weitere Ideen, die in die ländlichen Regionen eingebunden sind – und die nur finanziert werden können, wenn wir die Förderung für den ländlichen Raum und für Regionalmarketing und Zusammenarbeit in der Wertschöpfungskette von Anbau bis Tourismus und Gastronomie weiter stärken. Für die ökologisch wirtschaftenden Betriebe, die derzeit 8 Prozent der Anbaufläche ausmachen, und all diejenigen, die sich für eine Umstellung interessieren und die jahrelange Umstellung mit Mehraufwand ohne Mehrpreis auf sich nehmen wollen, braucht es planbare Bewirtschaftungsbedingungen. Dazu zählt zuvörderst eine stabile EU-Rechtsgrundlage. Die Betriebe müssen sich darauf verlassen können, dass die Bundesregierung keiner Revision der Öko-Verordnung zustimmt, die den ökologischen Weinbau unmöglich macht. Und die Betriebe, die sich seit Jahren auf den Weg gemacht haben, und mit sehr viel weniger oder keinem Einsatz von Kupfer mehr arbeiten wollen, brauchen für den Übergangszeitraum, bis andere Methoden zur Verfügung stehen, die Rechtssicherheit, weiterhin Kaliumphosphonat einsetzen zu können, ohne dass sie danach wieder in die Umstellung gehen müssen, und nicht eine chaotische Situation ohne Rechtssicherheit wie im letzten Jahr, das aufgrund der nassen Witterung fatal für den Ökoweinbau war. Da hat sich auf Kosten der Ökowinzer gerächt, dass Minister Schmidt die Forschung in alternativen Pflanzenschutz sträflich vernachlässigt hat. Um den ökologischen Weinbau mittel- und langfristig zu unterstützen, braucht es endlich ernsthafte Anstrengungen und entsprechende finanzielle Mittel für die Forschung an alternativen Pflanzenschutzmaßnahmen und die Züchtung von weiteren pilzresistenten Sorten. Solange es keine Alternativen gibt, fordern wir die Bundesregierung auf, sich bei der EU konsequent für die Prüfung einer zeitlich und mengenmäßig begrenzten Zulassung von Kaliumphosphonat im Ökoweinbau einzusetzen. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Netzentgeltstruktur (Netzentgeltmodernisierungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 23) Thomas Bareiß (CDU/CSU): Die Energiewende hat unsere Erzeugungslandschaft massiv gewandelt: Wo es früher einige wenige Hundert Erzeugungseinheiten nahe der großen Verbrauchszentren gab, gibt es heute bereits 1,5 Millionen dezentrale Anlagen weit verteilt über unser Land. Das hat Folgen: Mit zunehmendem Ausbau der erneuerbaren Energien ist ein Ausbau der Stromnetze dringend erforderlich. Der dezentral erzeugte Strom, vor allem aus dem Norden, muss in die Verbrauchszentren im Westen und Süden Deutschlands transportiert werden. Am Netzausbau führt kein Weg vorbei. Bis zum Jahr 2025 müssen daher fast 10 000 Kilometer Übertragungsnetz um- und ausgebaut werden. Investitionen von bis zu 50 Milliarden Euro sind erforderlich. Hinzu kommt ein enormer Investitionsbedarf in den Verteilernetzen. Das alles finanzieren die Stromverbraucher über die Netzentgelte, die durch den enormen Investitionsbedarf weiter ansteigen werden. Deshalb ist es richtig, dass wir die Netzentgeltstruktur modernisieren und auch die Verteilung der Kosten diskutieren. Das Netzentgeltmodernisierungsgesetz ist ein erster Schritt in diese Richtung. Kern des vorliegenden Gesetzes ist die Abschaffung der sogenannten vermiedenen Netzentgelte. Das sind Bonuszahlungen der Netzbetreiber an Erzeugungsanlagen, die vermeintlich Netzausbau einsparen, weil sie sich nahe am Verbrauch befinden. Vermiedene Netzentgelte werden sowohl an konventionelle und Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen (KWK) als auch an erneuerbare Erzeugungsanlagen gezahlt. Die Betreiber der erneuerbaren Energien erhalten den Bonus nicht direkt, sondern dieser fließt auf das allgemeine EEG-Konto. Die Betreiber von erneuerbaren Erzeugungsanlagen haben also durch das System der vermiedenen Netzentgelte weder Vor- noch Nachteile. Die von der Bundesregierung vorgesehene schrittweise Abschaffung der vermiedenen Netzentgelte für alle Anlagen muss jedoch im Rahmen der Gesetzesberatungen gründlich geprüft werden. Hier sehen wir noch Änderungsbedarf. Die Annahme, dass volatile erneuerbare Einspeiser Netzausbau vermeiden, ist längst überholt. Im Gegenteil: Sie verursachen den Netzausbau. Deshalb ist die Streichung der vermiedenen Netzentgelte für volatile erneuerbare Energien richtig. Dadurch würden die Netzentgelte direkt um 500 Millionen Euro entlastet, ohne dabei die Finanzierung der erneuerbaren Anlagen zu gefährden. Bei den steuerbaren Anlagen hingegen bedarf es einer differenzierten Betrachtung. Denn steuerbare Anlagen, insbesondere KWK-Anlagen, können systemdienlich wirken und damit wirklich Netze entlasten. Vermiedene Netzentgelte sind zudem Teil der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung von KWK. Eine Streichung würde daher die Existenz vieler Anlagen bedrohen. Damit würden wir die Perspektive, die wir für die KWK in mühsamen Verhandlungen bei der letzten Gesetzesnovelle errungen haben, zunichtemachen. Wir werden daher auf Änderungen im Sinne von steuerbaren Anlagen drängen. Das eigentliche Topthema dieses Gesetzesvorhabens ist die Vereinheitlichung der Übertragungsnetzentgelte, auch wenn sie nicht Bestandteil des Gesetzentwurfs ist. Hintergrund für die Forderung ist das Auseinanderfallen der Netzentgelte in den Regelzonen der vier Übertragungsnetzbetreiber. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass dies kein Ost-West-Problem ist. Bayern oder Niedersachsen sind beispielsweise genauso von höheren Netzentgelten betroffen wie die neuen Bundesländer. Mit zunehmendem Ausbau der erneuerbaren Energien steigen der Netzausbaubedarf sowie die Netzmanagementmaßnahmen zum Erhalt der Stabilität im Übertragungsnetz. Damit kommt es zu einer zunehmenden Spreizung der Netzentgelte zwischen den vier Übertragungsnetzbetreibern, auch wenn manche Bestandteile der Übertragungsnetzentgelte, wie Erdkabel und Offshore-Anbindung, bereits heute bundeseinheitlich gewälzt werden. Das spüren vor allem große Stromverbraucher wie zum Beispiel die Industrie. Eine Vereinheitlichung ist lediglich eine Kostenverteilung und keine Kostenbegrenzung. Ohne Kompromisse wird es immer Verlierer geben. Daher sollten wir sachlich nach einem tragfähigen Kompromiss für alle Seiten suchen, auch wenn dies nicht einfach wird. Statt uns wieder einmal auf Verteilungsdebatten zu fokussieren, sollten wir an die Wurzeln des Problems gehen. Wir brauchen einen schnelleren Ausbau unserer Netze. Dieser muss dringend umgesetzt werden. Zu oft haben Länder wie Niedersachsen den Netzausbau in der Vergangenheit blockiert. Das muss ein Ende haben. Auch die erneuerbaren Energien müssen in Zukunft netzverträglicher ausgebaut werden. Dezentrale Stromerzeugungsanlagen müssen zukünftig einen deutlich stärkeren Beitrag an den Kosten der Netzinfrastruktur tragen. Grundsätzlich muss gelten: Erneuerbare Energien können nur dann ausgebaut werden, wenn der Strom auch abtransportiert werden kann. Nur so kann die Energiewende wirklich gerechter werden. Jens Koeppen (CDU/CSU): Im Koalitionsvertrag haben sich die regierungstragenden Parteien auf eine faire Verteilung der energiewendebedingten Netzausbaukosten verständigt. Ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag: „Wir werden das System der Netzentgelte daraufhin überprüfen, ob es den Anforderungen der Energiewende gerecht wird. Die Koalition wird das System der Netzentgelte auf eine faire Lastenverteilung bei der Finanzierung der Netzinfrastruktur überprüfen.“ Nun kann man sicherlich in Nuancen zu anderen Einschätzungen kommen, was eine faire Lastenverteilung ist. Man kann aber nicht, wie mit dem vorgelegten Gesetzentwurf geschehen, ernsthaft zu der Einschätzung kommen, dass alles okay ist, wenn die Menschen in Ostdeutschland deutlich überproportional belastet sind und jede weitere Beteiligung an den Netzkosten im Bereich der Übertragungsnetze den Stromkunden in Nordrhein-Westfalen nicht zumutbar ist. Es gab einen anderen, früheren Gesetzentwurf aus dem BMWi, der die Problematik der Kostenverteilung ernsthaft aufgegriffen hat. Jetzt allerdings gibt es diesen Entwurf, für den Minister Gabriel noch zuständig war, der ganz klar dem SPD-Wahlkampf in NRW geschuldet ist und der keinen Lösungsansatz mehr beinhaltet. Die versprochene Festlegung auf bundeseinheitliche Übertragungsnetzentgelte wurde diesem Wahlkampf skrupellos geopfert. Wenn die Netzentgelte neu geordnet werden, gibt es unter den Stromkunden Gewinner und Verlierer. Es findet eine Umverteilung statt. Aber – das ist ganz wichtig festzuhalten – diese Umverteilung hat nicht das Ziel, den Menschen und den Unternehmern in Nordrhein-Westfalen ungerechtfertigterweise zusätzliche Kosten aufzubürden, sondern die Kosten endlich – nach 17 Jahren EEG – im gesamten Bundesgebiet fair zu verteilen und nicht hauptsächlich den Stromzahlern im Osten Deutschlands aufzubürden. Die Energiewende ist ein gesamtdeutsches Projekt, und damit sind die Kosten gesamtdeutsch zu tragen. Wer die Stromerzeugung umbauen will, muss auch in der Lage sein, die Kosten dafür zu tragen. Die Energiewende hat nun mal ihren Preis, und das ist auch lange bekannt. Man kann nicht immer ehrgeizigere Ziele zum Umbau der Energieversorgung formulieren und sich dann wegducken, wenn es darum geht, über die faire Finanzierung zu sprechen. Die Energiewende darf nicht nur ein politisches Projekt sein, sondern sie muss von der gesamten Gesellschaft getragen werden. Ich halte es für einen riesengroßen Fehler, dass man im Bereich der Energiewende seit nun fast zwei Jahrzehnten versucht, alles schönzureden, was die erneuerbaren Energien betrifft. Die wirklichen Kosten der Energiewende, die Folgen der Eingriffe in die Natur und das Landschaftsbild, die Folgen auf die Versorgungssicherheit – bei der zunehmenden Abhängigkeit von Gas aus unsicheren Drittstaaten –, die fehlende Akzeptanz und die Sorgen der Bürger mit den zu geringen Abständen von Windrädern zur Wohnbebauung und andere Fragestellungen werden schlichtweg negiert, beschönigt, und jeder ernsthaften Debatte wird ausgewichen. Dass die Reaktion aus NRW auf den ursprünglichen Referentenentwurf dieses Gesetzes einem Hilferuf gleichkommt, sollte uns aber Anlass zum Innehalten sein. NRW argumentiert: Unseren Unternehmen können wir die zusätzlichen Kosten nicht zumuten, das vernichtet Arbeitsplätze bei uns in NRW. – Die Auswirkungen auf den Osten Deutschlands und auf die künftige Beschäftigungs- und Wettbewerbssituation sind gravierend, und man nimmt eine Deindustrialisierung Ostdeutschlands billigend in Kauf. Es trifft zu, dass in den neuen Bundesländern ein geringerer Teil der Beschäftigten in der Industrie arbeitet. Aber diese Arbeitsplätze einfach aufs Spiel zu setzen, weil in NRW eine Wahl stattfindet, ist weder solidarisch noch zukunftsorientiert. Diese Entsolidarisierung dürfen wir nicht zulassen. Deshalb kämpfen die CDU-Bundestagsabgeordneten der ostdeutschen Landesgruppen auch konsequent dafür, dass die Kosten der Übertragungsnetze bundesweit umgelegt werden. Sonst besteht die Gefahr, dass die Kostenfrage die Menschen zunehmend gegen die Energiewende aufbringt. Wenn wir uns die Kostenunterschiede für die Stromnetznutzung zwischen Ostdeutschland und Netzgebieten in Nordrhein-Westfalen anschauen, wird die schon heute bestehende Dramatik deutlich. Aus der Wissenschaft und der Praxis liegen uns klare Zahlen vor. Beispielsweise zahlt eine Bäckerei in Brandenburg für ihren Strom Netzkosten in Höhe von 8 000 Euro, eine vergleichbare Backerei in NRW hat für die gleiche Strommenge Netzkosten von weniger als 3 000 Euro. Diese Unterschiede sind energiewendebedingt, und diese Preisunterschiede sind insbesondere für energieintensive Unternehmen ruinös und mittlerweile wettbewerbsverzerrend. Bei Erd- und Seekabeln – die eher weniger in Ostdeutschland vorgesehen sind – haben wir uns für eine bundesweite Wälzung der Kosten entschieden. Was hier vernünftig ist und was die Menschen in Ostdeutschland auch mittragen, soll für Freileitungen nicht gelten? Das ist in den neuen Bundesländern schwer zu erklären. Der Osten Deutschlands hat nicht nur deutlich höhere Netzkosten zu tragen, auch ein Großteil der Windräder steht dort. Die Akzeptanzprobleme werden stark unterschätzt. Mitnichten ist es zudem so, dass durch die erneuerbaren Energien enorme Wertschöpfungsketten entstanden sind und die Gewerbeeinnahmen in den Ostkommunen sprudeln. Es sind Arbeitsplätze entstanden, aber diese sind in ganz Deutschland entstanden und nicht unbedingt dort, wo die erneuerbaren Anlagen hauptsächlich errichtet wurden. Wenn uns die Kosten der Energiewende zu hoch sind und wir sie den Stromkunden in Nordrhein-Westfalen nicht zumuten können, dann kann diese Einschätzung durchaus schlüssig sein. Aber dann können wir diese hohen Kosten auch den Stromkunden in anderen Teilen Deutschlands nicht zumuten. Dann führt uns die Analyse dorthin, dass wir für die Energiewende ein Moratorium brauchen, um die Vorhaben insgesamt neu zu bewerten. Ich hoffe, wir werden im Rahmen der nun anstehenden Diskussionen uns auf eine faire Entgeltsystematik einigen und endlich die hohen finanziellen Lasten für die Stromkunden in Ostdeutschland auf Gesamtdeutschland aufteilen. Johann Saathoff (SPD): Für die heutige erste Lesung des Netzentgeltmodernisierungsgesetzes möchte ich ein Bild nutzen, das ich schon mehrmals hier am Pult genutzt habe, wenn es um die Energiewende ging. Es ist das Bild des Balles, den man auf der Fingerspitze balanciert. Man muss stets nachjustieren, damit er nicht herunterfällt. Und so ist es auch bei der Energiewende. Seit der letzten Bundestagswahl gab es zwei EEG-Novellen nebst kleineren Korrekturen, das Strommarktgesetz, das Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende, eineinhalb KWK-Novellen und den Vorrang für Erdkabel bei Gleichstromleitungen. Immer wieder haben wir nachgesteuert, weil es Bedarf dazu gab. Wat nich greit of bleiht, dat geiht torügg’ – Stillstand ist Rückschritt, ist hier das Motto. Und wir können schon heute absehen, dass uns viele dieser Themen in nicht allzu ferner Zukunft wieder beschäftigen werden. Mit dem vorliegenden Gesetz, dem NEMOG, wie es abgekürzt so schön heißt, steuern wir wieder etwas nach. Zum einen geht es im NEMOG um die Abschaffung der vermiedenen Netzentgelte. Ich gebe zu: Zu verstehen, was die vermiedenen Netzentgelte sind, hat bei mir etwas gedauert. Zu erklären, was die vermiedenen Netzentgelte sind und was der Sinn dahinter ist, überlasse ich gern meinen Nachrednern. Klar ist aber: Die vermiedenen Netzentgelte dienen nicht mehr dem Zweck, mit dem sie geboren wurden. Und sie spielen bei erneuerbaren Anlagen eine untergeordnete Rolle; denn sie werden in der 20jährigen Zeit der Vergütungszahlung nicht an die Betreiber ausgezahlt, sondern fließen direkt ins EEG-Konto. Deshalb hat ein Wegfallen der VNE hier überschaubare Folgen. Ganz anders ist das bei Erzeugern, die nicht auf Sonne oder Wind basieren. Hier sind die VNE ein wichtiger Teil der Vergütung. Und genau deshalb stellt sich für meine Fraktion an diesem Punkt im Kabinettsbeschluss noch eine ganze Reihe von Fragen, die wir in den parlamentarischen Beratungen klären wollen. Das gilt sowohl für das Abschmelzen wie auch für das Einfrieren der vermiedenen Netzentgelte. Denn immerhin gestehen wir der KWK bei der Erreichung unserer Klimaziele eine wichtige Rolle zu, die wir gerade erst mit einer KWK-Novelle untermauert haben. Wenn wir jetzt über eine Abschaffung der VNE reden und keine überzeugende Alternative anbieten, sendet das in meinen Augen völlig falsche Signale. Und da für dieses Jahr ohnehin eine große Evaluierung der KWK geplant ist, sollten wir an diesem Punkt besser nichts überstürzen. Auf der Stromrechnung eines Normalbürgers finden sich 6 bis 7 Cent an Netzentgelten pro Kilowattstunde. Das kann variieren, denn das hängt auch von den Gegebenheiten im örtlichen Verteilnetz ab. Durch eine Abschaffung der vermiedenen Netzentgelte würden die Netzentgelte aber in jedem Fall sinken, weil die vermiedenen Netzentgelte über die Netzentgelte finanziert werden. Wenn wir über eine Vereinheitlichung der Netzentgelte auf Übertragungsebene sprechen, geht es nicht um die gesamten 6 bis 7 Cent, sondern um nur rund ein Viertel davon, denn die Netzentgelte setzen sich aus den Kosten auf den unterschiedlichen Ebenen des Stromnetzes zusammen. Die Netzentgelte auf Übertragungsebene sind vor allem für industrielle Großverbraucher bedeutsam. Hier schlagen die zum Teil erheblichen Erhöhungen der Übertragungsnetzbetreiber dieses Jahr voll durch. Die Klagen über Standortnachteile aufgrund hoher Netzentgelte gerade in den neuen Bundesländern kann ich schon ein Stück weit nachvollziehen. Deshalb hat sich ja auch der Bundesrat für eine Vereinheitlichung ausgesprochen. Wir werden also auch diesen Punkt noch zu beraten haben. Man muss sich eben immer vor Augen führen: Die Energiewende ist ein mindestens gesamtdeutsches Projekt mit generationenübergreifender Bedeutung. Deshalb ist es auch folgerichtig, dass die Kosten der Energiewende auf möglichst viele Schultern verteilt werden. Im Fall der Netzentgelte auf Übertragungsebene ist das momentan eben noch nicht so. Der Zuschnitt der vier Regelzonen in Deutschland ist nun mal so, dass nur zwei der vier ÜNB Nord- und Ostsee abdecken. Der Strom der Offshorewindkraft wird aber ganz sicher in ganz Deutschland benötigt; es scheint also nicht gerecht, dass nur Einwohner aus zwei Regelzonen für die Offshorenetzanschüsse zahlen. Im Agrarausschuss des Deutschen Bundestages ist eines meiner Hauptthemen die Politik für die ländlichen Räume. Ländliche Räume sind da, wo wenig Menschen leben. Den existierenden Unterschied zwischen Stadt und Land können Sie auch an Netzentgelten ablesen. Der Anteil der ländlichen Räume in den Regelzonen der Übertragungsnetzbetreiber ist ungleich verteilt. Die Energiewende findet in den ländlichen Räumen statt. Naturgemäß sind die Netzentgelte dort höher. Aber es gibt auch Vorteile. Ich komme aus einem solchen ländlichen Raum. Die Energiewende hat der strukturschwachen Region Ostfriesland enorm geholfen. Wir haben dadurch viel Wertschöpfung generiert. Ich bin stolz darauf, dass wir bei der weiteren Ausgestaltung der Energiewende voranschreiten. Die Kluft zwischen Ballungsgebieten und ländlichen Regionen wollen wir zum Beispiel dadurch verringern, dass wir es ermöglichen, dass die Energiewende ein Stück weit in den urbanen Zentren stattfinden kann. Wie Sie wissen, läuft innerhalb der Bundesregierung gerade der Abstimmungsprozess für ein Mieterstromgesetz. Wir wollen, dass auch Menschen ohne das eigene Dach über dem Kopf mehr Anteil an der Energiewende haben sollen als über die Zahlung der EEG-Umlage. Durch diese gerechtere Verteilung des Nutzens der Energiewende steuern wir ebenfalls nach, halten also den Ball auf der Fingerspitze. Und da ich gerade bei Gerechtigkeit bin: In der kommenden Legislaturperiode werden wir auch über eine gerechtere Verteilung der Lasten der Energiewende sprechen. Dieses Thema beschäftigt uns schon seit einigen Monaten, und ich bin mir sicher, dass sich in der nächsten Periode dort etwas bewegen wird. Das wird dann einhergehen mit einer Reform der Netzentgelte; denn die Finanzierungsfragen lassen sich kaum davon trennen. Wenn wir zum Beispiel an die Sektorkopplung denken, gibt es große Überschneidungen. Ich möchte aber noch auf einen anderen zentralen Punkt eingehen, der direkten Einfluss auf die Netzentgelte hat. Ein wesentlicher Treiber der ausbaubegrenzenden Maßnahmen des EEG 2017 waren die Kosten des Netzengpassmanagements. Durch den Netzausbau werden diese Kosten irgendwann nicht mehr anfallen. Der Netzausbau ist wichtig, und er muss zügig voranschreiten, obwohl ich gerade beim größten ÜNB noch ein gewisses Optimierungspotenzial sehe. Aber wir müssen auch über Maßnahmen sprechen, die uns in den nächsten zehn Jahren ein Entlastungspotenzial bieten. Es geht also um innovative Maßnahmen beim Netzbetrieb, durch die der geplante Netzausbau keinesfalls infrage gestellt werden soll, die aber alles in allem höhere Übertragungsraten liefern, um im digitalen Jargon eine Anleihe zu nehmen. Es gibt dort eine ganze Reihe vielversprechender Ansätze. Diese wollen wir uns in den nächsten Monaten genauer anschauen, auf ihr Potenzial prüfen und gegebenenfalls auch schnellstmöglich umsetzen. Jetzt beraten wir aber erst mal das NEMOG. Ich freue mich darauf. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Das ist schon ein starkes Stück, was sich die Koalition mit diesem Gesetzentwurf leistet. Wir alle kennen den Referentenentwurf aus dem Ministerium, der war gar nicht so schlecht. Und dann streicht das Ministerium aus dem Entwurf den wichtigsten und auch noch vernünftigen Punkt der Angleichung der Netzentgelte für die Übertragungsnetze. Sie hätten konsequenterweise auch gleich den Titel des Gesetzes ändern sollen; denn das, was hier jetzt übrig ist, ist ein Gesetz zur Abschaffung der vermiedenen Netzentgelte. Und nicht mal in dem kümmerlichen Rest nehmen Sie von der Koalition die Realitäten wahr und zeigen so, wie wenig Sie vom Umbau des Energiesystems für eine echte Energiewende mit 100 Prozent erneuerbarer Energie verstehen. Ich fange von vorn an. Erstens. Ich erinnere an die Plenardebatte zu unserem Antrag zu bundeseinheitlichen Netzentgelten. Da sprach der Kollege Dirk Becker von der SPD, bezogen auf das Problem der immer größeren Spanne bei den Netzentgelten, die zwischen 4 Cent in Düsseldorf und 10 Cent im Havelland betragen, ich zitiere: „Das Problem ist angekommen, es steht auf der Agenda der Großen Koalition, und wir werden es entsprechend lösen.“ Das war im November 2014. Mit Hinweis auf ihren Koalitionsvertrag hat die Große Koalition mehrfach angekündigt, das Problem anzugehen. Jetzt sind zweieinhalb Jahre vergangen, ihre Regierungszeit läuft ab, und das Problem besteht noch immer. Die Koalition hat sich erpressen lassen oder will im Hinblick auf die Wahlen Rücksicht auf bestimmte Regionen nehmen, in denen die Angleichung der Netzentgelte zu leichten Erhöhungen führen würde. Dabei ist ihr die unsoziale Benachteiligung der ländlichen Räume der Bundesrepublik wurscht. Die Koalition hat versagt. Zweitens. Mit der Abschaffung der vermiedenen Netzentgelte meint die Koalition, einen großen Kostentreiber der Netzentgelte auszuschalten. Vermiedene Netzentgelte sind eine Prämie für dezentrale Stromerzeugungsanlagen, weil sie theoretisch den Strom dort erzeugen, wo er gebraucht wird, und damit die Netze entlasten. Dezentrale Stromerzeugungsanlagen sind Solar- und Windanlagen und auch Blockkraftwerke, die Heizwärme und Strom gleichzeitig erzeugen – KWK genannt. Doch statt zielgenau Wildwuchs bei den vermiedenen Netzentgelten zu entfernen, übt sich die Koalition im Kahlschlag. Einerseits erkennen wir natürlich an, dass die vermiedenen Netzentgelte für Solar- und Windkraftanlagen inzwischen nicht mehr zeitgemäß sind. In diesem Zusammenhang lohnt es sich auch, einmal darüber nachzudenken, die Netzentgeltabrechnung nicht mehr ausschließlich nach verbrauchten Kilowattstunden vorzunehmen, sondern auch die bereitgestellte Anschlussleistung einzubeziehen. Diese Vorschläge sind Ihnen von der Koalition seit Jahren bekannt, aber auf darauf möchte ich jetzt nicht näher eingehen. Denn mit ihrem Kahlschlag-Gesetzentwurf will die Koalition andererseits auch die vermiedenen Netzentgelte für die Kraft-Wärme-Kopplung aufheben. Das wiederum schadet der Energiewende. Ich will Ihnen das erläutern: Die KWK-Anlagen sind das Rückgrat der Energiewende. Ich muss Ihnen das so deutlich sagen, weil es ganz offensichtlich ist, dass ein großer Teil der Koalition das nicht verstanden hat oder nicht verstehen will. Denken Sie einmal ein paar Jahre weiter. Dann stellen Sie sich die Frage, wodurch bei Ihrem geplanten 80-Prozent-Anteil von erneuerbarem Strom bei Dunkelheit und Windstille die notwendige Leistung, die gesicherte Leistung im Stromsystem bereitgestellt werden soll. Wollen Sie dann teure zentrale Ersatzkraftwerke vorhalten? Das ist volkswirtschaftlich die teuerste Lösung; das lehnt die Linke ab. Denken Sie lieber wie wir an KWK-Anlagen. Die haben schon heute eine installierte Leistung von über 30 Gigawatt. Diese KWK können, wenn sie über Heizpatronen auch Überschussstrom im Wärmebereich nutzen und netzdienlich Strom erzeugen, Netze entlasten und Netzausbau reduzieren. Deshalb verdienen sie es auch weiterhin, für real vermiedene Netzkosten entschädigt zu werden und weiterhin vermiedene Netzentgelte zu erhalten. Aber die KWK wird von Ihnen allenthalben stiefmütterlich behandelt. Es ist nicht verwunderlich, dass insbesondere Stadtwerke mit mittleren KWK-Anlagen zu Recht beklagen, dass ihre KWKs am Rande der Unwirtschaftlichkeit stehen. Die Förderpolitik der Großen Koalition, aber auch der vorherigen Bundesregierung aus Union und FDP ist durchweg darauf ausgerichtet, jegliche Infrastruktur, die einer dezentralen Energiewende dienlich wäre, vielleicht sogar noch von kommunalen Unternehmen betrieben werden könnte, zu verhindern. Wir lehnen den Gesetzentwurf ab, und zwar nicht nur wegen der vom Ex-SPD-Wirtschaftsminister Gabriel aus dem Gesetzentwurf herausgestrichenen Vereinheitlichung der Übertragungsnetzentgelte, sondern auch wegen des Anschlags auf die KWK-Anlagen, die für die Energiewende unverzichtbar sind. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu Netzentgelten trägt seinen Namen völlig zu Unrecht. Von wegen Netzentgeltmodernisierung! Von den angekündigten tiefgreifenden Reformen bei den Netzentgelten ist nur ein Torso übrig geblieben. Das ist keine Reform und nicht einmal ein Reförmchen. Die Flexibilisierung der Stromabnahme bleibt auf der Strecke, und auch eine längst überfällige Regelung zu einheitlichen Übertragungsnetzentgelten ist aus dem Gesetzentwurf wieder rausgeflogen. Geblieben ist nur die Abschaffung der vermiedenen Netzentgelte – und das, ohne eine notwendige Kompensation für die Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) zu schaffen. Das bringt uns bei Netzentgelten und einer verursachergerechten Finanzierung des Netzes kaum weiter und konterkariert alle Bemühungen, die KWK als Beitrag zum Klimaschutz endlich im notwendigen Umfang auszubauen. Und das ist schon irre, was Sie da mit der KWK machen. Bei der letzten KWKG-Novelle war eine der Begründungen, warum Vergütungssätze gerade für die kleine, dezentrale KWK nicht angepasst werden, dass die über Einnahmen aus vermiedenen Netznutzungsentgelten verfügen. Genau die streichen Sie jetzt. Das passt zu Ihrem jahrelangen Kreuzzug gegen die dezentrale KWK, die zwar für Sonntagsreden beim Klimaschutz im Energiesektor gut ist, aber immer dann, wenn es konkret wird, ausgebremst wird. Eine Reform des Netzentgeltsystems müsste eine Flexibilisierung von Erzeugung und Verbrauch und eine gerechte Verteilung der Kosten bewirken. Das wäre Netzentgeltmodernisierung. Was wir brauchen, ist ein Netzentgeltsystem, das die richtigen Anreize für eine flexible Abnahme und Systemdienlichkeit setzt, um das Netz entscheidend zu entlasten. Nur so könnte Netzausbau vermieden und könnten unnötige Redispatchkosten eingespart werden. Das heutige System aber setzt keinerlei Anreize für eine flexible Stromabnahme. Im Gegenteil. Ungerechtfertigte Netzentgeltprivilegien müssen endlich abgeschafft werden. Private Stromkunden haben über die Netzentgelte in den letzten vier Jahren Milliarden Industriesubventionen bezahlt, ohne dass es dafür eine Gegenleistung gab. Im Gegenteil: Die Belastung und damit die Kosten des Stromnetzes wurden durch Netzentgeltermäßigungen zum Teil sogar noch höher. Mit rund 6 bis 8 Cent pro Kilowattstunde machen die Netzentgelte inzwischen ein Viertel des Strompreises für private Verbraucher aus. Große Teile der Industrie, aber auch Golfplätze und Ähnliches zahlen deutlich geringere Stromnetzentgelte als private Verbraucher. Seit der Einführung wird diese Subvention immer damit gerechtfertigt, dass die Unternehmen durch „atypisches Nutzungsverhalten“ das Stromnetz entlasten. Das aber ist nicht richtig: Durch die Netzprivilegien wird das Stromnetz teilweise sogar be- statt entlastet. In der jetzigen Fassung nutzt das NEMOG niemanden. Es ist lediglich ein weiterer Knüppel, der den KWK-Betreibern zwischen die Beine geworfen wird. Dem wird sich die grüne Bundestagsfraktion entgegenstellen und im Rahmen der Beratungen entsprechende grundlegende Änderungen einfordern. So sehen wir es als erforderlich an, dass der Gesetzentwurf grundlegend überarbeitet wird. Wir Grüne fordern, dass die Streichung der vermiedenen Netzentgelte zwingend an eine vollständige Kompensation für die KWK-Anlagen gekoppelt wird. Ungerechte Netzentgeltprivilegien müssen endlich abgeschafft werden. Die Netzentgelte müssen endlich so ausgestaltet werden, dass sie echte Flexibilitätsanreize für eine systemdienliche Abnahme schaffen, damit das Netz entlastet wird. Wir hoffen, dass sich die Große Koalition bei den Beratungen über dieses Gesetz noch einen Ruck gibt und das reinschreibt. Sonst können wir am Ende festhalten, dass diese Koalition im Hinblick auf die seit Jahren überfällige Reform der Netzentgelte nichts auf die Kette gebracht hat. Das aber ist ein weiterer Bremsklotz für eine erfolgreiche und kostengünstige Energiewende. Das hinterlassen Sie – wie so vieles – der nächsten Bundesregierung, und wir haben wertvolle Jahre durch die großkoalitionäre Selbstblockade verloren. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Deutschen Wetterdienst (Tagesordnungspunkt 24) Günter Lach (CDU/CSU): Der Blick der meisten Menschen am Morgen eines jeden Tages gilt dem Wetter. Denn es gibt kaum einen Bereich unseres Lebens, der nicht durch das Wetter und das Klima beeinflusst wird. Dies gilt für Nutzer aus Land- und Forstwirtschaft, Bauwesen, Gesundheitswesen genauso wie für den Bereich Verkehr, Wasserwirtschaft mit Hochwasserschutz, Umwelt, Naturschutz und Wissenschaft. Mit diesen vielfältigen Informationen versorgt uns der Deutsche Wetterdienst (DWD) zuverlässig bereits seit 1952. Neben dieser Kernaufgabe hält der DWD viele weitere meteorologische Dienstleistungen für uns bereit. Er ist als nationaler meteorologischer Dienst der Bundesrepublik Deutschland mit seinen Wetter- und Klimainformationen im Rahmen der Daseinsvorsorge tätig. Der DWD versorgt uns mit Wissenswertem rund um das Wetter und ist für die meteorologische Sicherung der Luft- und Seeschifffahrt zuständig. In seiner Verantwortlichkeit liegt auch eine der wichtigsten Aufgaben des DWD: die Herausgabe von amtlichen Warnung vor meteorologischen Ereignissen und Wettererscheinungen. Die extremen Wetterlagen der letzten Jahre machen deutlich, dass diese Arbeit des DWD von besonderer Bedeutung ist. Dies gilt insbesondere für unsere moderne Gesellschaft, in der die Verwundbarkeit weltweit vernetzter Verkehrswege und wichtiger Infrastrukturen durch Wettererscheinungen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen können. Nun hat die Bundesregierung eine Novelle des DWD-Gesetzes vorgelegt. Darin werden die Aufgaben des DWD modernisiert und die Verbreitung von meteorologischen Informationen zur Sicherung von Verkehrswegen und wichtigen Infrastrukturen ermöglicht. Wichtige Umwelt- und Klimabeobachtungsaufgaben werden nun in den Aufgabenkatalog mit aufgenommen. Das Hauptziel des Gesetzentwurfes ist die Möglichkeit, eine Abgabe von meteorologischen Dienstleistungen und Produkten entgeltfrei zu ermöglichen. Als nationaler Wetterdienst erfasst, bewertet und überwacht der DWD die physikalischen und chemischen Prozesse in unserer Atmosphäre. Als meteorologischer Ansprechpartner in Deutschland für alle Fragen zum Wetter und Klima bietet er eine reichhaltige Palette von Dienstleistungen für die Allgemeinheit an und betreibt das nationale Klimaarchiv. Mit der Erfassung der wissenschaftlichen Daten und seiner Forschungsarbeit ist der DWD außerdem Teil eines weltumspannenden Netzes der Meteorologie und vertritt die Bundesrepublik Deutschland in zahlreichen nationalen und internationalen Gremien. Mit hohem technischem Aufwand fließen verschiedenste Informationen vom Wettersatelliten und Wetterballon bis zur automatischen Messboje auf dem Atlantik zusammen und werden verarbeitet. Diese hochwertigen Geodaten und Leistungen sollen durch den Gesetzentwurf nun entgeltfrei im Geoportal bereitgestellt werden. Damit werden Informationen des Öffentlichen Dienstes einer breiten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzung zugeführt. Dienstleister können diese hochwertigen Daten für neue Geschäftsfelder verwenden und entscheidende Zukunftstechnologien entwickeln. Für viele kleine und mittelständische Unternehmen werden neue Geschäftsmodelle so erst wirtschaftlich, da keine Beschaffungskosten oder Nutzungslizenzen mehr zu beachten sind. Die bereits etablierten Geschäftsmodelle werden kostengünstiger und können beispielsweise durch die Kombination von klimatologischen und meteorologischen Daten mit anderen Informationen auf neue Geschäftsfelder – auch mit internationaler Perspektive – weiterentwickelt werden. Damit folgt der Gesetzentwurf der Bundesregierung einer Forderung aus der Digitalen Agenda der Bundesregierung, die Rahmenbedingungen für einen effektiven und dauerhaften Zugang zu öffentlich finanzierten Daten zu verbessern. Des Weiteren erfolgt mit der vorgesehenen Gesetzesänderung auch eine Modernisierung des Aufgabenkatalogs des Deutschen Wetterdienstes. Der Aspekt der Klima- und Umweltbeobachtung wird ausdrücklich genannt und somit auch beim DWD-Gesetz seiner gesellschaftlichen Bedeutung gemäß dokumentiert. Die klimatologischen Dienste mit der langfristigen Wetterbeobachtungen unterstützen Wissenschaft, Forschung und Politik bei ihren Bemühungen, den Klimawandel aufzuhalten. Wichtigste Aufgabe des Deutschen Wetterdienstes ist und bleibt die Bereitstellung von Wetter- und Klimainformationen für die Allgemeinheit im Sinne der Daseinsvorsorge. Wir wollen, dass die Daten und das Wissen der Behörde uneingeschränkt zum Schutz von Gesellschaft, Umwelt und Gesundheit eingesetzt werden können. Mit seinen detaillierten Wetterinformationen gibt der DWD rechtzeitig Warnungen vor bedrohlichen Wetterlagen. Damit unterstützt er maßgeblich die Arbeit unserer Katastrophenschutzbehörden. Wie verletzlich unsere moderne Gesellschaft ist, in der Verkehrswege und auch die Infrastruktur für Kommunikation und Energie eng vernetzt sind, hat sich bereits in der Vergangenheit gezeigt. Denken wir zum Beispiel zurück an das Jahr 2007, in dem der Orkan Kyrill mit Windböen von fast 200 km/h Spitzengeschwindigkeit Deutschland traf. Hier hatte der DWD schon Tage vorher Warnungen vor dem schweren Orkantief herausgegeben und die Öffentlichkeit über die Medien informiert. Über die speziellen Wetterwarnsysteme waren Katastrophenschützer, Polizei, Feuerwehr und Technisches Hilfswerk gut vorbereitet. Die schlimmsten Verwüstungen durch diese zerstörerische Kraft des Orkans konnten so verhindert werden. Oder auch die Starkniederschlagsereignisse, die zu Hochwasser an Elbe und Donau im August 2002 und Mai/Juni 2013 führten, sowie die Sturzfluten im Mai/Juni 2016. Die Bedeutung von Wetter- und Klimaereignissen hat sich auch bei Luftverfrachtungen wie durch den Vulkanausbruch des Eyjafjallajökull auf Island im April 2010 gezeigt. Umso wichtiger sind die frühzeitigen Warnungen des Deutschen Wetterdienstes. Dazu gehören auch beispielsweise die hohen Schneefälle, Nassschneefälle und Stürme, die zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen im November 2005 zu Vereisung und Bruch von Stromleitungen mit tagelangem Stromausfall führten. Damit Bürgerinnen und Bürger die Warnungen des DWD besser verstehen und nachvollziehen können ist es unerlässlich, dass sie sich jederzeit ein qualifiziertes Bild von der Wetterlage machen können. Das ist nur möglich, wenn Karten, Radarfilme und Vorhersagen jederzeit einsehbar sind. Klar ist dabei eines: Der Deutsche Wetterdienst wird dabei selbst nicht zum Marktteilnehmer und steht auch nicht in Konkurrenz zu privaten Wetterdienstleistern. Das werden wir uns im laufenden Gesetzgebungsverfahren auch genau ansehen. Der Gesetzentwurf ist insgesamt zu begrüßen. Denn er modernisiert die Aufgaben des Deutschen Wetterdienstes. So wird die Allgemeinheit mit wichtigen Wetterwarnungen sowie umwelt- und klimaschutzrelevanten Informationen versorgt. Darüber hinaus erhält die Privatwirtschaft nun entgeltfreien Zugriff auf Daten und Produkten aus der Arbeit der Behörde. Mit seinen Leistungen sorgt der DWD jeden Tag dafür, dass unsere Städte und Gemeinden auf bestmögliche Weise über bevorstehende mögliche Gefahrensituationen durch Wetterlagen vorbereitet sind. Daher brauchen wir die Arbeit des nationalen Wetterdienstes. Arno Klare (SPD): Das Wetter ist wichtig. Fast jeder hat eine oder mehrere Wetter-Apps auf seinem Smartphone. Damit ist man jederzeit bestens informiert, ob man den Schirm mitnehmen sollte oder ihn zu Hause lassen kann, ob die dicke oder dünne Jacke vom Haken genommen wird oder die Grillparty am kommenden Wochenende stattfinden kann. Doch es geht um mehr: Je größer der Anteil volatiler Energie im Netz ist, desto exakter – ja, fast auf die Minute genau – müssen wir wissen, wo und vor allem in welcher Stärke der Wind weht. Man kann die Kraftwerke, die angesichts einer Flaute zugeschaltet werden müssen, nicht wie ein häusliches Elektrozusatzöfchen anknipsen; es braucht Vorlauf von Stunden, besser von einem Tag. Die meteorologischen Daten müssen exakt sein, regional spezifisch und valide. Das alles organisiert seit Jahrzehnten der Deutsche Wetterdienst, kurz DWD. Der DWD hat die gesetzliche Aufgabe, die Bevölkerung vor Unwettern zu warnen. Das gehört zweifelsohne zur Daseinsvorsorge. Seit einiger Zeit gibt es beim DWD den Geschäftsbereich KU, gleich Klima – und Umwelt. Dazu gehören die wichtigen Unterabteilungen Klima- und Umweltberatung, Klimaüberwachung sowie die beiden Felder Agrar- und Hydrometeorologie. Insofern ist es konsequent, das DWD-Gesetz dem ohnehin vollzogenen erweiterten Aufgabenspektrum anzupassen. Das geschieht erkennbar: An vielen Stellen im Gesetz steht jetzt der Begriff „Klima“. Dass die Aufgabenerweiterung im Gesetz kodifiziert wird, ist zu begrüßen. Strittig ist allein § 6 Absatz 2a. Hier haben sowohl die privatrechtlichen Wetterdienstleister als auch – in der Folge dieser Kritik – der Bundesrat Bedenken angemeldet. In der Tat sollte der § 6 Absatz 2a noch einmal kritisch hinterfragt werden. Hier geht es, um es konkret zu machen, um die semantische Wirkungsreichweite des Begriffs „Leistungen“. Sind damit endnutzerfähige Produkte gemeint oder lediglich Rohdaten? Der Minister hat auf eine so lautende Frage hier im Plenum geantwortet, dass der DWD nicht plane, endnutzerfähige Produkte auf den Markt zu bringen, die über die definierten Aufgaben hinausgingen. Es wird im parlamentarischen Diskurs darüber zu sprechen sein, wie diese richtige Position mit mehr Klarheit als bisher im Gesetz formuliert werden muss. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Der Deutsche Wetterdienst (DWD) ist als Dienstleister und Warndienst vor eventuell katastrophalen Wetterereignissen Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge und deshalb eine zu Recht steuerfinanzierte Institution des Bundes. Der Wetterprognosemarkt hat sich in den vergangenen Jahren vielfältig entwickelt, insbesondere was Onlinewetterdienstleister angeht. Somit unterzieht sich selbst die Wettervorhersage heute häufig den Mechanismen der Marktwirtschaft. Fast alle der derzeit auf dem Markt tätigen Wetterdienstleister haben eines gemeinsam: Sie beziehen Ausgangsdaten für ihre Prognosen und Wetterprodukte vom DWD. Vor wenigen Jahren forderten private Wetterprognostiker deshalb sehr häufig, der DWD solle seine Daten kostenfrei zur Verfügung stellen. Man argumentierte mit Wettbewerbsnachteilen der privaten Wetterprognoseersteller. Mit dem Gesetz über den Deutschen Wetterdienst ist bislang klargestellt, dass der DWD als Institution des öffentlichen Rechts seine Daten nicht kostenlos an private Firmen zur gewinnbringenden Verwertung weitergeben darf. Daten, die mit einer kostspieligen, steuerfinanzierten Infrastruktur ermittelt wurden, werden zu Recht nicht kostenlos an private Wetterdienstleister abgegeben. Und trotzdem entwickelte sich ein erfolgreicher privater Wetterprognosemarkt in der heutigen Vielfalt. Dabei gibt es im umkämpften Markt der Wetterdienstleister nur eine Chance: mit Qualität und Genauigkeit zu bestehen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stehen wir nun vor der Situation, dass dieselben Wetterunternehmen, die vor Jahren laut nach kostenlosen Daten riefen, heute die kostenlose Verfügbarkeit von Wetterdaten für die Allgemeinheit verhindern wollen, und zwar wiederum mit dem Argument der Wettbewerbsverzerrung. Das kann man nur als scheinheilig bezeichnen, und es ist ganz klar für die Linke, dass eine Institution des öffentlichen Rechts natürlich selbst als Wetterdienstleister mit einer kostenlosen Wetterapp für die Bevölkerung auf dem Markt erscheinen können muss. Erstens bezahlte die Bevölkerung ja die Erhebung der Daten bereits. Das Angebot des DWD ist nicht kostenlos und wird es auch nach diesem Gesetz nicht sein. Die Menschen zahlen dafür Steuern. Und zweitens ist der Schutz vor Wetterereignissen ein Bestandteil der Daseinsvorsorge. Die Linke begrüßt diesen Gesetzentwurf daher. Wir sehen das Argument der Wettbewerbsverzerrung nicht; denn letztendlich hat jedes Unternehmen, ob es privater oder öffentlich-rechtlicher Natur ist, sich weiterhin den Qualitätsansprüchen der Nutzerinnen und Nutzer der Angebote zu stellen. Die meteorologische Prognostik liefert auch heute keine eineindeutigen Ergebnisse. Das liegt in der Natur der Sache, denn Wetter ist ein chaotischer Prozess und deterministisch niemals komplett zu erfassen. Prognosen werden sich immer unterscheiden, je nachdem, welche numerischen Verfahren und welche Gewichtung der Eingangsparameter vorgenommen werden. Letztendlich sind Wetterprognosen aber nicht nur eine Frage der zur Verfügung stehenden Rechnerkapazität, sondern auch eine Frage der Messnetzdichte, der Datenqualität, aber auch der Interpretation der numerischen Modellierung. Es gibt hier genügend Spielraum, mit denen private Wetterdienstleister sich gegenüber dem DWD behaupten können. Und da kommen wir zu einem wesentlichen Aspekt, weshalb es ausdrücklich zu begrüßen ist, wenn der DWD selbst am Marktgeschehen der Wetterdienstleister teilnimmt: Die Klima- und Wetterprognostik ist unentbehrlich. Der Bundesrepublik steht im zivilen Bereich dafür nur der DWD verlässlich zur Verfügung. Als Wetterdienstleister wird er nun dem Druck ausgesetzt, jenseits der klassischen Forschung seine eigene Vorhersagemethodik noch intensiver als bisher immer wieder zu validieren. Das wird letztendlich zu steigender Qualität der Prognosen führen, was wiederum allen zugutekommt. Die Voraussetzung ist allerdings, dass der DWD in Zukunft ausreichend finanziert wird und in die Lage versetzt wird, sein Messnetz weiter zu verdichten. Die Linke fordert, die Regierungspolitik des Stellenabbaus und der Stellenbefristungen auch beim DWD zu beenden, die derzeit in der öffentlich finanzierten Forschung leider gang und gäbe ist. Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In Zeiten zunehmender Wetterextreme ist der Deutsche Wetterdienst eine wertvolle Einrichtung, um die Bevölkerung vor Gefahren durch Stürme, Überschwemmungen oder Hitzewellen zu warnen und damit Menschenleben zu retten. Die klimatologischen Arbeiten, die durch den Gesetzentwurf gestärkt werden sollen, sind wichtige Grundlagen, um die Klimakatastrophe doch noch abzuwenden. Wir begrüßen deshalb grundsätzlich, dass die Bundesregierung die längst überfällige Öffnung der Wetter- und Klimadaten des Deutschen Wetterdienstes angeht. Bislang zählt Deutschland nämlich zu den Schlusslichtern bei der Öffnung der öffentlichen Datenbestände. Bis heute wurde das von der Bundesregierung angekündigte Open-Data-Gesetz nicht eingebracht. Auch der Beitritt zur Open Government Partnership ist immer noch nicht vollzogen. Beim Thema E-Government kommt die Bundesregierung nicht voran. Die kostenfreie Bereitstellung von Daten, die im öffentlichen Sektor anfallen, kann innovative Geschäftsmodelle ermöglichen und die junge und dynamische Digitalwirtschaft antreiben. Das gilt auch für die Daten des Deutschen Wetterdienstes, die eine wertvolle Ressource für innovative Start-ups darstellen und zum Wachstum in der Digitalbranche beitragen können, auf das Deutschland nicht verzichten kann. Auch ehrenamtliche Projekte und solche mit sozialer, ökologischer oder gemeinwohlorientierter Motivation profitieren von kostenfreien Daten und bereichern das Informationsangebot weiter. Doch obwohl der Gesetzentwurf eine Tür öffnet, um die digitale Wirtschaft zu stärken, droht er gleichzeitig andere Türen zuzuschlagen. Künftig soll es dem Deutschen Wetterdienst erlaubt sein, eigene Apps anzubieten, die nicht alleine vor Unwettern und anderen Gefahren warnen, sondern alle Informationen, beispielsweise in Form von Wetterberichten, kostenlos und werbefrei zur Verfügung stellen. Was zunächst nach einer vernünftigen Initiative klingt, entpuppt sich jedoch als bedenklicher Eingriff in einen funktionierenden Markt von wetterbasierten Dienstleistungen. Die Entwicklung und Verbesserung privater Informationsangebote könnte erschwert werden oder gar gänzlich ausbleiben, wenn der App-Markt durch einen staatlichen Anbieter dominiert würde, der durch seine staatliche Finanzierung einen eindeutigen Wettbewerbsvorteil genießt. Private Anbieter, die sich durch Werbung oder andere Einnahmen selbst finanzieren müssen, könnten ins Hintertreffen geraten. Deshalb sollte der Deutsche Wetterdienst nicht als Konkurrent zu den bestehenden Anbietern auftreten. Stattdessen sollte er die vorhandenen Wetterinformationen ausschließlich als Rohdaten allen Anbietern gleichermaßen zur Verfügung stellen und somit die Qualität von Wetterinformationsangeboten insgesamt verbessern. Die Bereitstellung von Rohdaten entspräche auch viel eher den Grundsätzen von Open Data. Sein eigenes Angebot sollte der Deutsche Wetterdienst wiederum auf die Leistungen beschränken, für die der Staat eine originäre Zuständigkeit besitzt – also beispielsweise die Warnung vor Unwettern und anderen Gefahren. Genau diese Beschränkung wird der Aufgabe des Wetterdienstes gerecht, die öffentliche Sicherheit und den Katastrophenschutz zu stärken. Schon heute befindet sich der Deutsche Wetterdienst durch seine eigenen Angebote in einer rechtlichen Grauzone. Die Bundesregierung hätte die Änderung des Gesetzes über den Deutschen Wetterdienst zum Anlass nehmen müssen, um die bestehende Praxis prüfen zu lassen. Die Bundesregierung muss die von vielen Seiten vorgetragenen Bedenken zur Vereinbarkeit des Gesetzentwurfs mit dem europäischen Wettbewerbsrecht ernst nehmen. Deshalb hätte die Bundesregierung den Gesetzentwurf bei der EU-Kommission notifizieren lassen müssen, um auf die schon heute bestehenden Bedenken gegenüber dem Aufgabenspektrum des Deutschen Wetterdienstes einzugehen. Ich möchte die Beratung des Gesetzentwurfes zum Abschluss nutzen, um darüber hinaus auf die Erhebung der Wetter- und Klimadaten einzugehen: Heute beobachten an etlichen Wetterstationen hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Wetter und sorgen damit für verlässliche Datengrundlagen. Bis 2021 plant der Deutsche Wetterdienst die Wetterbeobachtung vollständig zu automatisieren. Wir haben Zweifel, ob durch die Automatisierung eine vergleichbare Messgenauigkeit insbesondere für die langfristigen Klimareihen gesichert werden kann. Diese sind ein wichtiger Beitrag zur internationalen Klimaforschung. Der Deutsche Wetterdienst kann zum Beispiel Schneehöhen, Schnee-Wasser-Äquivalent und Bedeckungsgrad derzeit technisch noch nicht vollautomatisiert erfassen. Aus unserer Sicht besteht hier erheblicher Gesprächs- und Klärungsbedarf hinsichtlich der Strategie des Deutschen Wetterdienstes. Dorothee Bär, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Wir nehmen heute einen weiteren wichtigen Meilenstein zu mehr Open Data in Deutschland und machen den Weg frei für einen offenen Zugang zu Millionen an Wetter-Klimadaten – mit dem ersten Änderungsgesetz unseres Gesetzes zum Deutschen Wetterdienst, kurz DWD-Gesetz. Das Gesetz ist in seiner jetzigen Fassung auf dem Stand von 1998 und bedarf daher dringend einer Anpassung an aktuelle Entwicklungen wie die Globalisierung, den Klimawandel und insbesondere die Digitalisierung. Fest steht: Daten sind der zentrale Rohstoff der Digitalisierung. Jede digitale Wertschöpfung braucht Daten. – Wir werben daher seit Beginn der Wahlperiode dafür, dass wir Big Data als Chance begreifen – und in Deutschland eine neue Datenkultur entwickeln: Weg von der Datensparsamkeit als Übermaßstab hin zum kreativen und sicheren Datenreichtum. Der Staat verfügt über einen enormen Datenschatz – und steht damit in einer besonderen Verantwortung. Unser Grundsatz muss deshalb lauten: Public data is open data. – Alle nicht personenbezogenen Daten, die der Staat erhebt, müssen offen zur Verfügung stehen, um digitale Wertschöpfung zu ermöglichen. Das ist übrigens auch ein Ziel unserer Digitalen Agenda, wo wir uns vorgenommen haben, die Rahmenbedingungen für einen effektiven und dauerhaften Zugang zu öffentlich finanzierten Daten zu verbessern. Wir arbeiten dafür in allen Bereichen: – Wir haben eine Mobility Cloud, die mCLOUD, gestartet, mit der wir Millionen an Mobilitäts-, Geo- und Wetterdaten offen zur Verfügung stellen. – Wir veranstalten Hackathons, unsere BMVI-Data-Runs, bei denen Programmierer und Entwickler aus unseren Daten in 24 Stunden Innovationen entstehen lassen. – Und wir haben jetzt das DWD-Gesetz auf den Weg gebracht. Konkret regeln wir: Erstens. Wir schaffen die Voraussetzungen, damit der DWD in Zukunft Millionen an Klima- und Wetterdaten kostenfrei zur Verfügung stellen kann. Bislang durfte der DWD einen Teil seiner Daten, hochwertige Daten, per Gesetz nur gegen eine Gebühr zur Verfügung stellen. Damit verbunden sind im Bundeshaushalt Mindereinnahmen von voraussichtlich 3,5 Millionen Euro pro Jahr, die durch Einsparungen bzw. Umschichtungen im Einzelplan 12 ausgeglichen werden. Zweitens. Wir modernisieren den Katalog der Aufgaben des DWD und ergänzen ihn um die ausdrückliche Nennung der meteorologischen Sicherung der Verkehrswege und kritischen Infrastrukturen (bisher nur Luft- und Seefahrt) sowie der Klimatologie, deren Bedeutung insbesondere im Zusammenhang mit dem Klimaschutz zugenommen hat. Drittens. Wir stärken die Zusammenarbeit der Behörden im Bereich Katastrophen-, Bevölkerungs- und Umweltschutz und beziehen neben den Ländern erstmals auch die Gemeinden und Gemeindeverbände mit ein. Kurz: Mit diesem Gesetz öffnen wir einen wirklich einzigartigen Datenschatz. Der DWD verfügt heute über eines der größten Rechenzentren Europas – und über Milliarden an historischen wie aktuellen Klima- und Wetterdaten mit einer unglaublichen Bandbreite. Ich nenne nur ein paar Beispiele: Luft- und Bodentemperatur, Niederschlagshöhe, Luftfeuchtigkeit und Luftdruck, Verdunstung, Bodenfeuchte und Frosteindringungstiefe, Windgeschwindigkeit und Windrichtung, solare Sonneneinstrahlung, Sonnenscheindauer und Wolkenbedeckung, weitere zahlreiche phänologische und geologische Daten. Diese Daten des DWD finden bereits heute Anwendung in den unterschiedlichsten Bereichen: von der Schifffahrt und Luftfahrt über die Land- und Forstwirtschaft, bis hin zur Energiewirtschaft und Bauwirtschaft. Jeder Wirtschaftszweig und jeder Bürger ist von Wetter und Klima betroffen. Damit ist die offene Bereitstellung dieser Daten im Zeitalter der intelligenten Vernetzung absolut unverzichtbar – und eine Grundvoraussetzung für eine Vielzahl an digitalen Innovationen: – Automatisiertes und vernetztes Fahren: Fahrzeug kennt Wetterprognose, integriert diese Informationen in die Routenplanung, bekommt in Echtzeit Warnmeldungen und kann somit frühzeitig reagieren. – Smart Home: Haus stimmt sein Energiekonzept selbstständig auf Wetter und Klima ab und teilt sein Wissen mit den Bewohnern. – Digitales Planen und Bauen: Integration von meteorologischen Daten in digitale Modelle und die Cloud, wodurch zahlreiche Risiken vermindert, Kosten reduziert, das Controlling optimiert und die Umsetzung effizient gestaltet werden kann. – Katastrophenschutz: Bevölkerung wird über digitale Anwendungen in Echtzeit über Gefahren und Gefährdungspotenziale informiert. Um es ganz klar zu sagen: Von diesem Gesetz profitieren alle: Bevölkerung, Wissenschaft und Wirtschaft – auch die bereits etablierten privaten Wetterdienste, die auf der Grundlage der vom DWD in Zukunft frei zur Verfügung gestellten Daten kostengünstig weitere Innovationen entwickeln können. Ich bitte daher um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitungen und zur Änderung anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 25) Dr. Roy Kühne (CDU/CSU): Mit dem Gesetz zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitungen und zur Änderung anderer Vorschriften werden fachlich und rechtlich notwendige Änderungen der betroffenen Vorschriften vorgenommen. Wir möchten unter anderem die Möglichkeiten bieten, die Entwicklung und Herstellung von Arzneimitteln für neuartige Therapien nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichten zu können. Aktuelle technische Entwicklungen müssen mindestens genauso in die Verfahrensweisen einfließen können. Durch die neuen Regelungen ermöglichen wir diese notwendigen Anpassungen. Das Gesetz fokussiert sich unter anderem auf die Hämoglobie- und Gewebevigilanzverfahren, die entsprechenden Register und Forschungsbereiche. Hämophilie, auch als Bluterkrankheit bekannt, ist eine erbbedingte Erkrankung, bei der die Blutgerinnung gestört ist. Hierunter werden verschiedene Formen (unter anderem Hämophilie A, B und C, Willebrand-Syndrom) unterschieden. Seit 2009 werden therapierelevante Daten dieser Patienten im deutschen Hämophilieregister gesammelt. In dieser Online-Datenbank werden die Krankheitsverläufe der Patienten sowie deren jährlicher Verbrauch von Gerinnungspräparaten registriert. Dies ermöglicht den behandelnden Ärzten einen komfortablen Zugriff auf deren Daten und eine langfristige Dokumentation. Das Hämo- und Gewebevigilanzverfahren wurde von der Europäischen Union als Überwachungssystem der gesamten Bluttransfusionskette eingeführt. Dabei werden unerwünschte Folgen registriert, die bei der Verabreichung von Blutprodukten auftreten können. Diese Transfusionsreaktionen unterstehen der Meldepflicht gegenüber dem Paul-Ehrlich-Institut. An der Kette sind verschiedenste Berufsgruppen beteiligt: Der Hersteller garantiert nach den Qualitätsbestimmungen eine einwandfreie Produktauslieferung, der Lieferant berücksichtigt eine produktspezifische Lieferung, der Arzt berücksichtigt die Indikation für die Transfusion, und das ärztliche Personal achtet auf die fehlerfreie Gabe des Blutproduktes. Fehler passieren, Fehler sind menschlich, aber Fehler dürfen sich eben nicht wiederholen: Deshalb unterliegen sie schon jetzt einem engen Meldungs- und Analyseprozess, an dem wir festhalten. Gleichzeitig erweitern wir aber die Vorschriften zur Gewebevigilanz um die Faktoren der Regelungen zur Gewebezubereitung. Durch diese und durch die rechtlichen und fachlichen Anpassungen schaffen wir eine deutliche Vereinfachung der Vorschriften zur Hämo- und Gewebevigilanz. Das Gesetz wird auch besonders im Bereich der Genehmigungsverfahren für ATMPs (Advanced therapy medicinal products/Arzneimittel für neuartige Therapien) Neuerungen mit sich bringen, indem wir die Definition des Begriffs der „nicht routinemäßigen Herstellung“ anpassen. Die bisherigen Erfahrungen machen diese Änderungen notwendig. Der Bereich der Arzneimittel für neuartige Therapien verdient eine genauere Betrachtung: Deren Forschung und Entwicklung hat in den vergangenen Jahren enorm an Fahrt aufgenommen. Im Bereich der regenerativen Medizin, aber auch zur Ausrottung von Erbkrankheiten und in der Bekämpfung von Krebs, die Hoffnungen, die in ATMPs gesteckt werden, sind groß. Um die anspruchsvolle Entwicklung solcher Arzneimittel ermöglichen zu können, sind optimale Zulassungsverfahren und eine enge regulatorische Betreuung notwendig. Gentherapeutika, somatische Zelltherapeutika und biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte eröffnen neue Wege für die Behandlung von Funktionsstörungen und Krankheiten. Lassen Sie mich kurz darauf eingehen, worum es sich bei den einzelnen Produktgruppen der biologischen Arzneimittel zur Anwendung im oder am Menschen handelt: Gentherapeutika kommen beispielsweise in der Behandlung von kritischer Ischämie oder der unteren Extremitäten zum Einsatz. Genetisch modifizierte Bakterienstämme finden in der Behandlung von Morbus Parkinson Anwendung, Wachstumsfaktoren bei sekundären Lymphödemen nach der Behandlung von Brustkrebs. Der Einsatz von rekombinanten Nukleinsäuren ist vielfältig. Somatische Zelltherapeutika kommen zum Beispiel im Bereich der Leberzelltherapie, in der Therapie bei Ovarialkarzinomen oder zur Behandlung von Diabetes zum Einsatz. Sie bestehen teilweise aus Zellen oder Geweben, die substanziell bearbeitet worden sind bzw. einen neuartigen oder gar anderweitigen Nutzen für den Empfänger aufweisen. Biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte dienen dem direkten Ersatz von Körperzellen, Knochenmark und anderen Körperbestandteilen. Berichtet wird insbesondere über Hautersatzprodukte, die bei schweren oder umfangreichen Verbrennungen zum Einsatz kommen. Auch der Einsatz im Bereich der Knochenmarkimplantationen und Knorpelmasse ist hinlänglich bekannt. Biotechnologisch bearbeitete Zellen oder Gewebe sind umfangreich einsetzbar und – relativ betrachtet – weitgehend erforscht. Biologische Arzneimittel, die zur Heilung von Krankheiten beim Menschen eingesetzt werden, oder Krankheiten bzw. den Ausbruch von Krankheiten verhüten, sind demnach biologische Arzneimittel, ebenso wie diese, die im oder am menschlichen Körper verwendet werden können und eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung erzielen. Der Schutz der öffentlichen Gesundheit findet im Bereich der Forschung, der Herstellung und des Vertriebs besondere Anwendung. Gleichzeitig muss gewährleistet sein, dass diese Arzneimittelprodukte, ebenso wie kombinierte ATMPs, die Vorteile des freien Warenverkehrs in der Europäischen Union und weitere Wettbewerbsvorteile auch im außereuropäischen Raum genießen können. Harmonisierte Vorschriften sind daher schon in der Vergangenheit implementiert worden, daran können wir nun anknüpfen. Deutschland steht, insbesondere mit dem Paul-Ehrlich-Institut, national wie international sehr gut da. Um die Wettbewerbsfähigkeit auch künftig zu erhalten, die Forschung voranzutreiben, wissenschaftliche Erkenntnisse noch direkter in die Entwicklung einfließen zu lassen und damit die Versorgung zukünftig zu sichern, ist der aufgezeigte Weg notwendig. Bei diesem richtigen Schritt werden die Erfahrungen aus den Ländern und des Paul-Ehrlich-Instituts eingebunden und bestehende Hindernisse konkret abgebaut. Ich freue mich, dass die Kommunikation gut funktioniert. Wir alle sollten uns ein Beispiel an der guten Verzahnung zwischen Praxis und Gesetzgeber nehmen. Hier zeigt sich, welches Potenzial entsteht, wenn Akteure zusammenarbeiten. Ich danke dem Bundesministerium für Gesundheit für diesen Aufschlag und freue mich über die weitere Beratung in unserer Fraktion und mit dem Parlament. Emmi Zeulner (CDU/CSU): Wir beraten heute den Entwurf des Gesetzes zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitungen und zur Änderung anderer Vorschriften. Doch was versteht man überhaupt unter „Blut- und Gewebezubereitungen“ genau, und was sind die aufgeführten „Arzneimittel für neuartige Therapien“? Um die Änderungen und deren Notwendigkeit zu verstehen, muss man meiner Ansicht nach hier ansetzen. Erst danach möchte ich darauf eingehen, warum die Änderungen notwendig sind und wie genau die Verbesserungen aussehen. Lassen Sie mich gleich zu Beginn die Beispiele nennen, die den Inhalt des Gesetzes für alle greifbarer machen: Augenhornhäutchen, Gefäße, Herzklappen, Haut und Knorpelgewebe – das alles sind klassische Gewebezubereitungen. Also Arzneimittel, die menschliches Gewebe im Sinne des Transplantationsgesetzes enthalten oder aus solchen hergestellt werden. Organe sind somit nicht erfasst. Neben den genannten klassischen Beispielen werden von dem Gesetz auch die sogenannten „Arzneimittel für neuartige Therapien“ erfasst, sofern als Ausgangsstoff menschliches Gewerbe verwendet wurde. Das sind beispielsweise Gen- und Zelltherapeutika und biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte. Etwas greifbarer wird dies, wenn man sich vorstellt, dass hier Therapien entwickelt werden, die es ermöglichen, mit einem Virus eine bestimmte Geninformation zur Heilung auf eine Zelle zu übertragen. Diese Entwicklungen bringen ganz neue Heilungschancen mit sich und unterliegen der dauernden Forschung und Weiterentwicklung, um eben irgendwann keine „neuartige“, sondern eine bewährte Therapie zu werden. Genau hier liegt auch die Notwendigkeit für die Anpassung der gesetzlichen Vorschriften. Zum einen haben sich die wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse so stark weiterentwickelt, dass eine Anpassung unerlässlich ist, um die neuen Erkenntnisse in die Therapie mit aufzunehmen und dem Patienten die beste Versorgung zukommen zu lassen. Denn wir sind uns alle einig, dass genau das das Ziel der Forschung sein muss: dem Patienten zu helfen und neue, wirksame Therapien zu entwickeln. Zum anderen – und das ist sehr wertvoll und zeichnet gerade das Handeln unseres Ministeriums aus – wurden die gesammelten Erfahrungen der mit dem Vollzug direkt betrauten Länder und des Paul-Ehrlich-Instituts ernst- und die Anregungen der Praxis mit in das Gesetz aufgenommen. Es wird nicht an den tatsächlichen Bedürfnissen der Beteiligten vorbei gehandelt, sondern deren Erkenntnisse fließen unmittelbar mit in das Gesetz ein. Womit wir auch schon bei den drei großen Verbesserungen wären, die wir durch das Gesetz erreichen wollen: Erstens nehmen wir uns des dringenden Problems der Lieferengpässe bei den Gewebezubereitungen an: Wir sorgen dafür, dass die Versorgung der Patienten mit Gewebe- und Stammzellenzubereitungen aus dem EU-Ausland bei Versorgungsengpässen erleichtert wird. Indem wir in § 21a Absatz 9 Arzneimittelgesetz den § 73 Absatz 3a mit aufnehmen, bauen wir Hemmnisse in Notsituationen ab, schaffen Abhilfe, wo sie dringend gebraucht wird, und erhalten dennoch unsere hohen Standards, indem wir die Rahmenbedingungen für eine Versorgung aus dem EU-Ausland genau im Gesetz festschreiben und die Standards auch hier hoch ansetzen. Diese Öffnung ist im Sinne der Betroffenen und ein wichtiger Schritt hin zu mehr Versorgungssicherheit in diesem Bereich. Zweitens sorgen wir auch gerade in dem komplizierten Genehmigungsverfahren für die Arzneimittel für neuartige Therapien für deutliche Erleichterungen. Denn durch die Befassung mit gentechnisch veränderten Organismen musste nicht nur das Paul-Ehrlich-Institut als Bundesoberbehörde für Gewebezubereitungen, sondern auch das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit miteinbezogen werden. Das heißt, die Antragsteller mussten zwei Genehmigungen bei zwei Behörden beantragen und zwei Verfahren koordinieren, die voneinander abhängig waren. Dieses Verfahren galt es zu entschlacken und effizienter zu gestalten. Die Kritik, die hier vor allem aus der Praxis kam, wird in dem vorliegenden Entwurf aufgenommen, und es wird eine Lösung geschaffen: Die Genehmigungen sollen nun alleine vom Paul-Ehrlich-Institut erteilt werden können. Das entlastet die Antragsteller, ohne dass die Sicherheit des Inverkehrbringens hierdurch beeinträchtigt wird. Drittens stellen wir das Hämophilieregister, welches bisher nur ein rein klinisches Register war, nun auf rechtlich sichere Beine und verankern es im Transfusionsgesetz. In diesem Zusammenhang führen wir die Meldepflicht für die behandelnden Ärzte ein, sodass mit Einwilligung der Patienten die pseudonymisierten Behandlungs- und Diagnosedaten, unter Wahrung des hohen Datenschutzniveaus, an das Register übermittelt werden. Das sorgt für mehr Transparenz, schafft die Grundlagen für eine bessere Forschung und liefert letztlich eine detaillierte Entscheidungsgrundlage für die optimale Behandlung und Versorgung von Patienten. Zusammenfassend führen die Verbesserungen zu einer besseren Versorgung durch den Einsatz neuer Therapien und vor allem zu einer besseren Versorgungssicherheit für die betroffenen Patienten. Gleichzeitig schaffen wir Erleichterungen im Verfahren und setzen mit dem Register die rechtliche Grundlage für die so notwendige Grundlagenforschung in diesem Bereich. Vielen Dank an das Gesundheitsministerium für die gute Arbeit. Hilde Mattheis (SPD): Das Gesetz zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitungen und zur Änderung anderer Vorschriften beinhaltet zum großen Teil technische und rechtlich notwendige Änderungen. Sie betreffen zum einen eine Verfahrensvereinfachung für die Zulassung von Arzneimitteln für neuartige Therapien, sogenannte ATMP. Es gibt auf dem deutschen Markt ATMP, die aus gentechnisch veränderten Organismen – GVO oder aus einer Kombination von GVO – bestehen bzw. solche enthalten. Derartige Arzneimittel mussten bisher an zwei Stellen beantragt werden, nämlich beim Paul-Ehrlich-Institut und zusätzlich aufgrund der GVO auch beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL). Dies wird nun vereinfacht, sodass nur noch ein Antrag beim Paul-Ehrlich-Institut nötig ist. Wenn hier eine Genehmigung erteilt wird, geschieht das im Benehmen mit dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Wir werden zum anderen weitere Vorschriften im Arzneimittelgesetz ändern und anpassen, die allesamt darauf zielen, ein stringenteres und vereinfachteres Verfahren zur Zulassung von ATMP zu ermöglichen. Dazu zählen unter anderem die Anpassung der Definition der „nicht routinemäßigen Herstellung“, die in § 4b Arzneimittelgesetz aufgeführt wird, sowie eine genaue Aufstellung der Unterlagen, die für eine Genehmigung eingereicht werden müssen. Für die Zulassung von Arzneimitteln für neuartige Therapien werden wir zudem einen Ausnahmetatbestand in der Verordnung über radioaktive und mit ionisierenden Strahlen behandelte Arzneimittel einfügen, da ATMP sehr häufig mit ionisierenden Strahlen behandelt werden, aber hierfür bisher ein Verkehrsverbot bestand. Hier gibt es keine sachlichen Gründe. Daher ändern wir das. Den zweiten Schwerpunkt im Gesetz bilden Maßnahmen zur besseren Behandlung von Hämophiliepatientinnen und -patienten. Hämophilie ist eine Erbkrankheit, bei der das Blut nicht oder nur sehr langsam gerinnt und bei der bei besonders schweren Fällen spontane Blutungen auch ohne sichtbare Wunden auftreten können. Daher können auch einfache Unfälle für diese Menschen lebensbedrohlich werden, da die Wunde nicht verheilen kann. Nach Angaben des Hämophiliezentrums in München leiden circa 10 000 Menschen in Deutschland an Hämophilie. Ein Register für Hämophilie existiert seit 2008 und wird vom Paul-Ehrlich-Institut gemeinsam mit Patientenorganisationen und der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung unterhalten und weiterentwickelt. Im Deutschen Hämophilieregister sollten zunächst nur pseudonymisierte und medizinische Daten erfasst werden. Geplant sind auch Erfassungen von Nebenwirkungen, Gelenkstatus, Komplikationen, Infektionen, Genotyp, Todesursache und anderem, um noch umfassendere wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen. Im Blut- und Gewebegesetz wird nun geregelt, dass das Hämophilieregister als klinisches Register rechtlich im Transfusionsgesetz verankert wird. Zudem wird eine Verpflichtung zur Meldung von hämophiliebehandelnden ärztlichen Personen an das Register geschaffen. Neben diesen Kerninhalten wollen wir als Gesetzgeber weitere offene Punkte regeln, die sich im Laufe der Legislatur ergeben haben oder die in bisherigen Reformen in der Wahlperiode nicht behandelt werden konnten. Von weiteren beabsichtigten Änderungen möchte ich hier die geplanten Qualitätskriterien erwähnen, die wir im Rahmen des Krankenhausstrukturgesetzes eingeführt haben. Hier braucht es Präzisierungen vonseiten des Bundesgesetzgebers, da sich die Bundesländer und der Gemeinsame Bundesausschuss nicht auf Qualitätsindikatoren und die Frage von Stichprobenprüfungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkasse einigen konnten. Hier ist es wichtig, dass klare Anforderungen vonseiten des Bundesgesetzgebers an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gerichtet werden, um die Qualitätsindikatoren im Krankenhausbereich rechtssicher umzusetzen. Die Frage nach der Bewertung der Qualität von Krankenhausleistungen war einer der zentralen Bausteine in der Krankenhausreform 2015. Es ist klar, dass wir Neuland betreten. Daher ist eine Präzisierung im Nachhinein richtig, um etwaige Fehler auszuschließen. Des Weiteren streben wir eine Vereinheitlichung der Regelungen zur Darlehensaufnahme bei Banken für den Unterhalt bzw. für Investitionen bei krankenkasseneigenen Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern und Arztpraxen an. In Deutschland unterhalten einige Krankenkassen einige wenige Eigeneinrichtungen, das heißt ein Krankenhaus oder eine Praxis, welche direkt von der Kasse geführt werden. Da die gesetzlichen Krankenkassen zu Recht einer besonderen Finanzierungsordnung unterliegen, dürfen sie keine Darlehen aufnehmen. Krankenkassen müssen ihre gesetzlichen Aufgaben grundsätzlich mit ihren Mitgliedsbeiträgen und sonstigen Einnahmen aus dem Gesundheitsfonds erfüllen. Daran soll auch nicht gerüttelt werden. Allerdings verbietet diese Regelung den Kassen als Betreibern eines Krankenhauses gleichzeitig, anfallende Investitionsmaßnahmen über ein Darlehen zu zahlen, was angesichts der oftmals hohen Summen für Investitionen nicht einfach ist. Alle anderen Einrichtungen, egal ob von der öffentlichen Hand oder von privaten Betreibern geführt, haben diese Möglichkeit. Wir wollen die Darlehensaufnahme daher in diesem speziellen Bereich auf Antrag ermöglichen. Die Aufsichtsbehörden müssen die Darlehensaufnahme prüfen und genehmigen und daher darauf achten, dass diese den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entspricht. Auch im Bereich Pflege wollen wir die beschlossenen Reformen, die Pflegestärkungsgesetze, mit diesem Gesetz genauer ausdefinieren. Wir haben im Pflegestärkungsgesetz II eine fachlich unabhängige Expertenkommission beauftragt, bis 2020 Personalbemessungsstandards sowohl in stationären als auch in ambulanten Pflegeeinrichtungen zu erarbeiten. Im Zuge der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs kann es sinnvoll sein, in einzelnen Pflegeeinrichtungen modellhafte Erprobungen vorzunehmen. Diese können dabei helfen, den durchschnittlichen Versorgungsaufwand, der bei pflegerischen Maßnahmen entsteht, zu dokumentieren und daraus ableitend den notwendigen Personalschlüssel zu errechnen. Für diese Fälle können die Pflegekassen Geld aus dem Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung nehmen, der speziell für die Durchführung wissenschaftlicher Expertisen und der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung eingerichtet wurde. Von den Landesrahmenverträgen, die üblicherweise Personalbedarf, Vergütung und Ähnliches zwischen Kassen und Leistungserbringern regeln, kann in diesem Fall abgewichen werden. Ich möchte hier noch ein für uns als SPD sehr wichtiges Thema ansprechen, welches wir im Gesetz anbringen wollen. Es handelt sich um die Stiftung Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen. Diese Stiftung wurde infolge des sogenannten Blutspendeskandals eingerichtet. Während der 80er-Jahre infizierten sich weltweit mehrere Tausend Menschen aufgrund kontaminierter Blutprodukte mit HIV. In Deutschland waren es mehr als 1 500 Menschen. Dieser Skandal wurde erst 1993 mithilfe eines Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages aufgearbeitet und in Folge mit dem HIV-Hilfegesetz die erwähnte Stiftung Humanitäre Hilfe gegründet. Sie soll – so der Stiftungszweck – „aus humanitären und sozialen Gründen und unabhängig von bisher erbrachten Entschädigungs- und sozialen Leistungen an Personen, die durch Blutprodukte unmittelbar oder mittelbar mit dem Human Immunodeficiency Virus (HIV) oder infolge davon an Aids erkrankt sind, und an deren unterhaltsberechtigte Angehörige finanzielle Hilfe“ leisten. Die Stifter sind der Bund, die Länder, das DRK und mehrere Pharmaunternehmen. Allerdings ist im HIV-Hilfegesetz unter § 14 geregelt: „Die Stiftung wird aufgehoben, wenn der Stiftungszweck erfüllt ist oder die Mittel für die finanzielle Hilfe erschöpft sind.“ Im Jahr 1994 dachten die Stiftungsgründer aufgrund des damaligen medizinischen Wissens nicht daran, dass HIV-Infizierte und AIDS-Kranke sehr viel länger leben als das damals angesetzte Vermögen. Glücklicherweise ist der medizinische Fortschritt in diesem Bereich so rasant, dass diese Menschen heute eine ähnlich hohe Lebenserwartung wie jeder andere Mensch auch haben. Der letzte Halbsatz im HIV-Hilfegesetz führt aber dazu, dass inzwischen jährlich die Weiterführung der Stiftung im Bundeshaushalt durch zusätzliches Geld beschlossen werden muss und damit bei den Betroffenen jedes Jahr große Unsicherheit besteht, ob sie weiterhin Geld aus der Stiftung beziehen können. Die Briefe und Anrufe der Betroffenen werden einige Kolleginnen und Kollegen kennen. Ich halte es für unzumutbar, dass Patientinnen und Patienten und deren Familien in ständiger Unsicherheit leben müssen und von Jahr zu Jahr wieder darauf hoffen, dass der Gesetzgeber sich abermals entschließt, die Stiftung weiterzuführen. Diese Unsicherheit müssen wir beenden. Schon bei den Haushaltsberatungen zum vergangenen Bundeshaushalt hatten wir als SPD-Fraktion angekündigt, dass möglichst noch in dieser Wahlperiode die dauerhafte Einrichtung der Stiftung beschlossen werden muss. Das heißt, die Stiftung wird erst dann aufgehoben, wenn der Stiftungszweck erfüllt ist. Jede Patientin und jeder Patient soll bis zu seinem Lebensende Geld aus der Stiftung erhalten; denn der Schaden, der diesen Menschen entstanden ist, verjährt nicht. Wir werden daher im anstehenden Gesetzgebungsverfahren diesen Punkt mit unserem Koalitionspartner und der Opposition diskutieren und hoffen, dass wir hier im Sinne der Patientinnen und Patienten zu einer geschlossenen Position kommen können. Sie sehen also, dass mit diesem Gesetz zwar sehr technische, aber eben dennoch relevante Änderungen angestrebt werden, die für betroffene Patientinnen und Patienten bzw. in dem relevanten Gesundheitssektor wichtig sind. Ich lade daher alle Kolleginnen und Kollegen ein, auch zum Abschluss der Wahlperiode konstruktiv und zielorientiert dieses Gesetz zu diskutieren. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf will die Bundesregierung noch kurz vor Toresschluss gleich eine Reihe unterschiedlicher Sachverhalte regeln. Das macht es natürlich schwierig, in vier Minuten die ganze Bandbreite anzusprechen. Aber man merkt schon, dass im Ministerium gerade unter Zeitdruck gearbeitet wird: Auf die Schnelle sind der Bundesregierung einige Schnitzer passiert, die im Beratungsverlauf noch korrigiert werden müssten. An mehreren Stellen finden sich unzulängliche Begriffsbestimmungen, fehlende Differenzierungen, uneinheitliche Sprachregelungen und zum Teil inkonsistente Regelungen zu Genehmigungsverfahren. Auch wundert es mich, warum die Bundesregierung Blutstammzellen in Deutschland anders als in der EU unterschiedlichen Qualitätsanforderungen unterwerfen will, je nachdem ob sie aus dem Knochenmark oder der Nabelschnur stammen. Kann mir da mal jemand den Sinn erklären? Eine wissenschaftliche Auswertung der zur Verfügung stehenden Daten für angeborene Blutungskrankheiten ist sinnvoll und wird von uns unterstützt. Aber es bringt für die Betroffenen keinerlei Nutzen, wenn das bereits existierende Hämophilieregister künftig allein beim Paul-Ehrlich-Institut liegt und die Betroffenenorganisationen nicht mehr beteiligt sind. Stattdessen sollte die Bundesregierung ein schlüssiges Konzept für die Datengewinnung und vor allem für die Auswertung der im DHR gesammelten Daten vorlegen. Aber das leistet ihr Entwurf nicht. Insbesondere bereitet in der Praxis große Sorge, dass die Regelungen zu Blut- und Gewebezubereitungen über das Transplantationsgesetz, das Transfusionsgesetz und das Arzneimittelgesetz verteilt sind. Dass dies insbesondere bei Keimzellen zu einer großen Unübersichtlichkeit führt, beklagen Praktiker und Juristen. Sie sehen da große Probleme und rechtlichen Klärungsbedarf. Zudem gibt es gerade bei der Reproduktionsmedizin jede Menge offener Fragen. Bei Keimzellspenden und nicht zuletzt Embryonenspenden im Ausland kommt es auch für Kinder, die in Deutschland aufwachsen oder geboren werden, zu vielen ungeklärten familienrechtlichen Fragen. Einer Klärung geht die Bundesregierung wie beim Samenspenderegister auch mit diesem Gesetz wieder aus dem Weg – abermals eine vertane Chance. Kommen wir zu den Änderungen bei der Pflegeberatung: Im Gesetzentwurf erklärt die Bundesregierung, es sollen „technische Anpassungen und Änderungen der Regelungen zu den Modellvorhaben zur kommunalen Beratung im ... SGB XI“ vorgenommen werden. Das klingt harmlos und irgendwie unspektakulär. Was Sie aber genau vorhaben, betrachten wir durchaus kritisch. Sie wollen die Möglichkeit schaffen, dass Kommunen, die Modellprojekte zur Pflegeberatung durchführen, besser auf lange gewachsene Strukturen und die Kompetenz der Pflegekassen zurückgreifen können. So sollen Kommunen künftig darauf verzichten können, die Pflegeberatung in eigenen Beratungsstellen durchzuführen, wozu sie diese Bundesregierung erst im letzten Jahr mit dem Pflegestärkungsgesetz III verpflichtet hatte – und zwar unabhängig vom Vorhandensein anderer Möglichkeiten. Das hört sich ja zunächst mal vernünftig an. Aber was gar nicht geht, ist, dass Sie die Qualitätsstandards für die Pflegeberatung aufweichen wollen und dass die Kommunen das so eingesparte Geld behalten dürfen. Denn erstens brauchen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bestmögliche Beratung und nicht irgendwelche. Und zweitens gehört dieses Geld den Pflegeversicherten, nicht der öffentlichen Hand. Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie die Finger von der Beratungsqualität, und sorgen Sie dafür, dass die Beiträge der Pflegeversicherten wirklich in der Pflege ankommen. Sonst werden wir diesem Gesetz nicht zustimmen können. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode legt die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor, der die Transparenz und Qualitätssicherung im Bereich der Gewebemedizin in Deutschland verbessern soll. Die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen sind grundsätzlich sinnvoll und zu begrüßen. Leider wurde die noch im Referentenentwurf enthaltene Genehmigungspflicht der BÄK-Richtlinien zur Blutspende und Transfusion wieder gestrichen. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Interessant wird der Gesetzentwurf aber erst, wenn man sich ansieht, was die Bundesregierung alles nicht regelt. Wie beim letzten Mal gehen die im Gesetz vorgeschlagenen Änderungen auf EU-Vorgaben zurück. Und wie beim letzten Mal lässt die Bundesregierung die Gelegenheit verstreichen, die Mängel, die es in der Gewebemedizin in Deutschland gibt, zu beheben. Es ist nämlich mitnichten alles im grünen Bereich, wie auch der zweite Bericht der Bundesregierung zur Versorgungssituation mit Gewebeprodukten in Deutschland gezeigt hat. Die Zahl der Gewebeeinrichtungen in Deutschland steigt kontinuierlich. Aber rund ein Fünftel der Einrichtungen kommt ihren gesetzlichen Meldepflichten nicht nach, trotz Nachfassens durch das Paul-Ehrlich-Institut und Verständigung der zuständigen Landesbehörden. Offensichtlich ist es um die Bereitschaft zur Transparenz und Kooperation bei manchen Einrichtungen ebenso schlecht bestellt wie um die wirksame Kontrolle durch die Behörden. Zudem sind viele der gemeldeten Zahlen, insbesondere im Bereich der muskuloskelettalen Gewebe und Hautgewebe, nach eigenen Aussagen der Bundesregierung unplausibel. Es werden viel mehr dieser Gewebe in Deutschland transplantiert und exportiert als entnommen. Der Überschuss lässt sich nicht mit Restbeständen aus den Vorjahren erklären. Es bleibt also bei einem großen Fragezeichen, wo diese Gewebe eigentlich herkommen. Hier muss das Ministerium Transparenz herstellen. Der Bericht der Bundesregierung hat zudem gezeigt, dass es in Deutschland – ähnlich wie bei Organspenden – einen Mangel an bestimmten Geweben gibt, sodass manche Patientinnen und Patienten nicht oder nur mit erheblicher Verspätung ein Transplantat erhalten. In erster Linie betrifft dies Augenhornhäute und Herzklappen. Transparenz gibt es bei der Verteilung aber weiterhin nicht. Es gibt weder – wie bei der Organspende – öffentliche Vorgaben, nach welchen Kriterien diese sogenannten Mangelgewebe verteilt werden. Noch führen die Einrichtungen und Kliniken (bis auf eine Ausnahme) Wartelisten. So bleibt es weiterhin dem Ermessen der Akteure überlassen, wer ein Transplantat erhält. Wir haben schon seinerzeit im Zuge der Erarbeitung des Gewebegesetzes transparente Verteilungskriterien und ein Wartelistensystem für solche Mangelgewebe gefordert. Die Bundesärztekammer ebenfalls. Angesichts zu erwartender gerichtlicher Auseinandersetzungen muss hier dringend nachgebessert werden, Herr Bundesgesundheitsminister. Ich frage mich, warum die Bundesregierung in regelmäßigen Abständen einen Bericht zur Analyse der Gewebemedizin in Deutschland erstellt, wenn dort aufgezeigte Mängel stur ignoriert werden. Diese Berichte dienen doch dazu, im Bedarfsfall nachzusteuern. Die Bundesregierung hingegen gibt an, sie sehe ihre Aufgabe vorrangig darin, die Netzwerkbildung und Kommunikation der Gewebeeinrichtungen untereinander zu fördern. Das wird die eben dargestellten Probleme aber kaum beheben. Und noch in einem anderen Bereich bleibt die Koalitionsregierung untätig: Der diskriminierende Pauschalausschluss von homo- und bisexuellen Männern von der Blutspende wird weiterhin nicht aufgehoben. – Noch im letzten Jahr hatte Minister Gröhe sich offen für eine Lockerung des pauschalen Verbots gezeigt, wenn durch geeignete Testverfahren eine Ansteckung der Empfänger mit Infektionskrankheiten ausgeschlossen werden kann. Danach kam – nichts. Und mit der Streichung der Genehmigungsbedürftigkeit der Blutspende-Richtlinien würde sich das Ministerium zugleich jeglichen Einflusses darauf entledigen, dass dieser diskriminierende Ausschluss irgendwann entfällt. Die Koalition wird voraussichtlich als eine Art Kehraus der Gesundheitsgesetzgebung noch eine Menge fachfremder Änderungsanträge zu Gesundheitsthemen anhängen, die sie unbedingt auf den letzten Metern noch regeln will, wie beispielsweise zur Pflege im Krankenhaus. Sie haben also noch genug Zeit, auch im Bereich der Gewebemedizin im Interesse der Patientinnen und Patienten noch mal nachzubessern, genauso, wie Änderungsvorschläge einzubringen, die die Rolle der Kommunen in der Pflege stärken, beispielsweise durch wirkliche Steuerungs- und Planungskompetenzen in der Pflege – wenn schon nicht grundsätzlich, dann doch wenigstens in den spärlich wenigen Modellvorhaben, die die Koalition eingeführt hat. Nutzen Sie diese Chance endlich, damit es nicht nur bei den eher dürren pflegepolitischen Regelungen des Entwurfs bleibt. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56a der Geschäftsordnung: Technikfolgenabschätzung (TA) Synthetische Biologie – Die nächste Stufe der Bio- und Gentechnologie (Tagesordnungspunkt 26) Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU): Als „nächste Stufe der Gentechnologie“ wird die Synthetische Biologie bezeichnet: Ihr Ansatz geht weiter, als dies bislang möglich war; ihre Methoden und Verfahren zielen auf einen Umbau natürlicher Organismen ab, bis hin zur Schaffung kompletter künstlicher „biologischer“ Systeme. Die „Synbio“ ist in den letzten Jahren Gegenstand einer kaum überschaubaren Zahl von Studien und Stellungnahmen geworden. In der Öffentlichkeit und zivilgesellschaftlichen Organisationen ist das Thema jedoch kaum präsent aufgrund der geringen praktischen, wenngleich hohen gesellschaftlichen Relevanz. Der Arbeitsbericht des Büros für Technikfolgenabschätzung (TAB) soll dies im Auftrag des Ausschusses für Bildung, Forschung und – eben auch – Technikfolgenabschätzung ändern. Er untersucht neben naturwissenschaftlich-technologischen Aspekten insbesondere Fragen der Ethik, der Sicherheit, des geistigen Eigentums, der Regulierung und der Risiken. Damit kommt das TAB seinem Auftrag nach, uns Abgeordnete wissenschaftlich eingehend zu beraten, Einschätzungen abzugeben und Handlungsempfehlungen aufzuzeigen. An dieser Stelle möchte ich mich als Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion für die gute Zusammenarbeit bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des TAB bedanken, insbesondere den Leitern des Berliner Büros, Herrn Dr. Revermann und Herrn Dr. Sauter, unter dessen Federführung auch der diskutierte Bericht entstand. In Anerkennung der Arbeit des TAB haben wir jüngst erstmals seit dessen Gründung 1990 die Mittel signifikant erhöht. Der fraktionsübergreifend befürwortete Aufwuchs im Bundeshaushalt 2017 beträgt 25 Prozent, womit das gesamte Haus seine Anerkennung ausgedrückt hat. Welche Empfehlungen gibt uns nun der Bericht? Aufgrund der wachsenden Möglichkeiten von gezielten molekularbiologischen Veränderungen an Organismen ist mit vielfältigen Anwendungen zu rechnen. Nach einer Konzentration auf Mikroorganismen für die industrielle und medizinische Nutzung hat sich der Fokus jüngst auf Genveränderungen bei Pflanzen und Tieren verlagert. Dies verdeutlicht, dass öffentliche Debatten über die verantwortungsvolle Weiterentwicklung und auch rechtliche Regulierung der Gentechnik auf internationaler und nationaler Ebene notwendig werden. Potenziale und Risiken der Synbio gilt es abzuwägen und ergebnisoffene ethische Debatten zu führen. Hierfür ist der federführende Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung prädestiniert. Ich plädiere für eine entsprechende Überweisung des TAB-Berichtes. René Röspel (SPD): Der Arbeitsbericht „Synthetische Biologie – Die nächste Stufe der Bio- und Gentechnologie“, den das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag bereits Ende 2015 vorlegte und um den es uns heute geht, hat nicht an Aktualität verloren. Neue Verfahren wie CRISPR-Cas9, die wohl bekannteste Methode des sogenannten Genome Editing, versprechen präzise Eingriffe zur kontrollierten Veränderung im Erbgut, die effizienter als die bisher verfügbaren Methoden seien. Dadurch werden unter Umständen ganz neue Dimensionen für die molekularbiologische Grundlagenforschung eröffnet. Als „Paradebeispiel“ für die Anwendungspotenziale der neuen Technologien wird die Züchtung mehltauresistenten Weizens angeführt – ein Unterfangen, das in Pre-CRISPR-Zeiten als beinahe aussichtslos galt. Mehltau, ein verbreiteter Pilz, war und ist ein großes Problem für die Landwirtschaft, da er in der Regel zu hohen Ertragsausfällen führt. Gehören solche Schwierigkeiten dank der Synthetischen Biologie nun bald gänzlich der Vergangenheit an? Ohne diese Frage abschließend beantworten zu können, mahne ich zur Vorsicht und Zurückhaltung – noch stehen ganz andere und nicht minder wichtige Fragen im Zentrum der Debatte: (Sicherheits-)politische, rechtliche und ethische Fragen, die mit der Synthetischen Biologie verbunden sind, werden auf allen Ebenen kontrovers diskutiert. Besonders interessant an den geführten Debatten finde ich die Ausgangsfragestellungen, die ihnen in der Regel zugrunde liegt und die ich wie folgt zusammenfassen würde: Synbio, was ist das eigentlich? Soll da „Leben“ zusammengebaut werden, wie einige das als Vision nennen? Handelt es sich dabei um etwas strukturell so Neues, dass wir mit unseren bisherigen Kategorien und Fragestellungen nicht mehr weiterkommen, oder können wir an diese anknüpfen und müssen sie nur weiterentwickeln? Der TAB-Bericht nimmt eine Basisunterscheidung vor, die Synbio im engeren Sinne als „Herstellung von »am Reißbrett« entworfenen und de novo konstruierten Zellen oder Organismen (oder auch von zellfreien biologischen bzw. biochemischen Systemen)“ definiert, und im weiteren Sinne als „Sammelbegriff aller aktuell verfolgten, zunehmend informationsbasierten und meist anwendungsorientierten Ansätze der molekularbiologischen Veränderung bekannter Organismen.“ Dass sich die Debatte zum Großteil auch nach wie vor auf einer solchen Metaebene befindet, zeigt zum einen, wie komplex das ist, was wir unter Synthetischer Biologie verstehen, und zum anderen, dass wir einfach noch nicht genau wissen, was die neuen Technologien alles könnten und zu welchem Preis. Der vorliegende TAB-Bericht bestätigt dies in weiten Teilen. Ich halte eine zurückhaltend differenzierende Haltung in Zeiten reißerischer Schlagzeilen auch aus dem Wissenschaftsbetrieb für angebracht. Während die ersten schon davon sprechen, den „Rotstift Gottes“ gefunden zu haben, und behaupten, dadurch gehörten Zika-Mücken eher morgen als übermorgen der Vergangenheit an, mahnen viele Forscherinnen und Forscher zur Vorsicht. All dies erinnert stark an all die „Heilsversprechen“ der Gentechnikdebatte, die leider bis heute in den meisten Fällen nicht eingelöst werden konnten. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, das Büro für Technikfolgenabschätzung wieder einmal ausdrücklich zu loben und mich herzlich zu bedanken. Denn es reiht sich mit seiner Abhandlung nicht einfach in den wachsenden Hype ein, sondern nähert sich dem Thema nüchtern und analytisch. Nur so kann gute Technikfolgenabschätzung gelingen. Bei allen bestehenden Unklarheiten ist allerdings auch gewiss, dass sich die Forschungspolitik des Themas annehmen muss. Die im Arbeitsbericht des TAB dargestellten Potenziale der Synthetischen Biologie sind beeindruckend. Unter anderem für die Landwirtschaft und Pflanzenzüchtung, die chemische Produktion und Energiegewinnung, die Umweltsensorik und -sanierung sowie die Medizin sind Anwendungsmöglichkeiten denkbar. Ohne jegliche Fortschrittsfeindlichkeit müssen wir uns nun fragen, zu welchem Preis diese Potenziale ausgehoben werden können. Erneut ergeben sich Parallelen zu vergangenen bzw. immer noch andauernden Debatten über die Gentechnik oder die Nanotechnologie. Wir sollten nun auf dem, was wir aus diesen großen Diskussionen – hoffentlich – gelernt haben, aufbauen. Das heißt in meinen Augen vor allem, dass wir anstehende – ethische – Risikodebatten – denn diese sind in meinen Augen stets die relevantesten – von vornherein langfristig und ressortübergreifend gestalten und echte Beteiligungsmöglichkeiten für alle relevanten Akteure sicherstellen. Wie das funktionieren kann, deutete das Fachgespräch des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zur Synthetischen Biologie vom September 2016 an. Hier tauschten sich unter anderem Biologinnen, Philosophinnen, Unternehmerinnen, Biohackerinnen und Behördenvertreterinnen konstruktiv über die Thematik aus. Dabei wurde schnell deutlich, dass es bei der Synbio um mehr als eine potenzielle Schlüsseltechnologie der Bioökonomie geht. So wurden Dual-Use-Problematiken genauso problematisiert, wie die Frage, ob unsere Gentechnikdefinition die Synbio überhaupt angemessen erfassen kann. Wir müssen uns ferner vom Gedanken trennen, dass es die Synthetische Biologie und das „genome editing“ gebe. Dahinter verbirgt sich nämlich eine Vielzahl von Methoden, die jeweils einer eigenständigen Bewertung bedürfen. In einer großen und gut besuchten Diskussionsveranstaltung, die der deutsche Ethikrat gemeinsam mit der DFG und Leopoldina im Februar diesen Jahres ausrichtete, fragten sich Landwirtinnen, Juristinnen, Ethikerinnen und andere ebenfalls, ob wir eine neue Gentechnikdefinition benötigen und, wenn ja, welche Anforderungen an eine solche zu stellen seien. Angesichts dieser interdisziplinären Ansätze und der fundierten Debatten, die aktuell in Deutschland geführt werden, bin ich zuversichtlich, dass wir auf einem guten Wege sind. Ich bin da ganz beim TAB, wenn es unterstreicht, dass sich gerade die Entwicklung von gesellschaftlich potenziell umstrittenen Technologien, wie der Synbio, an der Lösung konkreter Probleme orientieren sollte. Am Ende dieses Prozesses muss eine kluge, nachhaltige und ethisch verantwortbare Regulierung stehen. Das TAB führt uns hierzu einmal mehr auf den richtigen Pfad. Ganz unabhängig von diesen politischen Erwägungen finde ich die Entwicklungen im Bereich der synthetischen Biologie übrigens unglaublich spannend. Ich bin sicher nicht der einzige, der die Entdeckung der CRISPR/Cas9-Methode durch die Emmanuelle Charpentier, die übrigens hier in Berlin forscht, sowie Jennifer Doudna aus dem Jahre 2013 für höchst nobelpreisverdächtig hält. Auch als Biologe freue ich mich auf anregende Debatten, die wir in diesem Hause dazu noch führen werden. Einen grundsätzlichen Unterschied zur bisherigen Gentechnologie erkenne ich noch nicht, sodass ich politischen Handlungsbedarf derzeit nicht sehe. Aber wir befinden uns mitten in der Diskussion, und wir sollten die Entwicklung weiterhin aufmerksam verfolgen. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Innovativer Staat – Potenziale einer digitalen Verwaltung nutzen und elektronische Verwaltungsdienstleistungen ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dieter Janecek, Dr. Konstantin von Notz, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stillstand beim E-Government beheben – Für einen innovativen Staat und eine moderne Verwaltung (Tagesordnungspunkt 27) Michael Frieser (CDU/CSU): Die Digitalisierung ist eines der zentralen Themen unserer Zeit. Vor allem wird es derzeit im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, Arbeitszeitmodelle sowie Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf diskutiert. Digitalisierung ist aber in besonderer Weise eine große Chance für den ländlichen Raum. In den letzten Jahren gab es einen verstärkten Zuzug in die Städte. Es wurde von Landflucht und Entleerung der Räume gesprochen. Doch die Binnenmigration verändert sich. Der ländliche Raum ist durchaus mit positiven Bildern verbunden, wie unter anderem auch die Erfolge von Magazinen, die sich dem Landleben widmen, zeigen. Und der ländliche Raum bietet bezahlbaren und verfügbaren Wohnraum, bietet also das, was in Städten zunehmend fehlt und besonders für junge Familien ein Problem darstellt. Abgesehen von den allgemeinen Chancen der Digitalisierung durch neue Arbeitszeitmodelle, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, ergeben sich wichtige Impulse für den ländlichen Raum durch die mögliche Vermeidung von Fahrtwegen. In einem entscheidenden Punkt liegen wir jedoch noch zurück. Das betrifft Deutschland im Allgemeinen, stellt aber vor allem auf dem Land einen besonderen Nachteil dar: der schleppende Ausbau von E-Government-Angeboten in seiner Fülle. Und genau hier setzt der diskutierte Antrag der Regierungsfraktionen zu einem innovativen Staat an. Dass Deutschland hier allein dem Nachbarn Österreich zehn Jahre hinterherhinkt, ist bekannt, von Musterländern wie Estland ganz zu schweigen. Doch es ist nichts verloren, und die ersten richtigen Schritte wurden bereits getan. Mit der Einführung der eID ist eine wichtige Voraussetzung erfüllt. Dies gilt es auszubauen, nicht nur für Bürger, sondern auch für Unternehmen, Verbände und Behörden, sodass eine einheitliche Authentifizierung über alle Ebenen hinweg möglich ist. Dies ist eine der Grundvoraussetzungen für die Nutzung der Potenziale, die in einem Ausbau der digitalen Verwaltung und der elektronischen Dienstleistungen bestehen. Genau dies sind die notwendigen Ergänzungen für das Attraktivitätsangebot im ländlichen Raum. Große Distanzen, beispielsweise zu Behörden, stellen für die Menschen vor Ort ein Hindernis dar. Das gilt nicht nur für den Weg, sondern auch den damit verbundenen zeitlichen Zusatzaufwand, zumal die bereits heute möglichen Dienstleistungen zeigen, dass die Aufträge deutlich schneller ausgeführt werden können. Als Beispiel sei die Beantragung eines polizeilichen Führungszeugnisses genannt. Gehen Sie wie gewohnt zum Amt, müssen Sie mit einer Bearbeitungsdauer von etwa zwei Wochen rechnen; lösen Sie den Auftrag online aus, haben Sie das Zeugnis in der Regel innerhalb der nächsten drei Werktage. Dies ist ein deutlicher Fortschritt und zeigt, welches Potenzial die digitale Verwaltung und elektronische Dienstleistungen bieten. Bauen wir dies aus, kann vor allem der ländliche Raum davon profitieren und das Lebens- und Wohnumfeld stabilisiert und attraktiver gestaltet werden. CDU und CSU haben das Potenzial erkannt und bringen den Ausbau des innovativen, digitalen Staates voran. Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Ich freue mich, dass wir heute den Antrag „Innovativer Staat“ der Koalitionsfraktionen nach den Beratungen in den Ausschüssen endgültig verabschieden können. Denn die Zeit drängt: Wie ich schon in meiner ersten Rede zu diesem Thema ausgeführt habe, ist das Angebot von digitalen Verwaltungsdienstleistungen in Deutschland erschreckend gering. Dies trifft auch auf die Nutzerzahlen zu; denn wo kaum Leistungen angeboten werden, können auch keine Nutzer für das Angebot gewonnen werden. Deutschland liegt damit im europäischen Vergleich im unteren Mittelfeld. Gerade unsere Nachbarn Schweiz und Österreich sind hier deutlich besser aufgestellt. Diesen Rückstand müssen wir unbedingt aufholen, denn es sollte unser Anspruch sein, auch im Bereich der Digitalisierung von Verwaltungsdienstleistungen im europäischen Vergleich im Spitzenfeld zu stehen. Wie viel Nachholbedarf wir in Deutschland haben und welchen Nerv wir mit diesem Antrag getroffen haben, hat sich mir auch nach unserer letzten Plenardebatte gezeigt. Ich habe Anrufe und Zuschriften von einigen Bürgern und einer Reihe von Unternehmen erhalten, die sich darüber gefreut haben, dass wir das Thema der Digitalisierung unserer Verwaltung endlich angehen wollen. Nicht zuletzt deshalb meine ich, dass Bürger und Unternehmen bessere, nutzerfreundliche und deutlich ausgebaute digitale Verwaltungsangebote sehr begrüßen würden. Deshalb ist es unverzichtbar, dass der Bund nun das Tempo bei der Verwaltungsdigitalisierung erhöht. Erste Anzeichen für eine solche Tempoverschärfung sind bereits zu beobachten. Vor kurzem hat sich der Deutsche Bundestag in erster Lesung mit dem Gesetz zur Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen befasst. Teil dieses umfangreichen Gesetzespakets, das bekanntlich auch mehrere Grundgesetzänderungen umfasst, ist auch das Onlinezugangsgesetz, das alle Behörden von Bund, Ländern und Kommunen dazu verpflichtet, ihre Verwaltungsleistungen bis Ende 2022 auch elektronisch zur Verfügung zu stellen. Dazu sollen alle bestehenden Portale mit digitalen Verwaltungsdienstleistungen der verschiedenen Ebenen zu einem Portalverbund zusammengeführt und damit den Bürgern und Unternehmen zugänglich gemacht werden. Mithilfe eines einzurichtenden Nutzerkontos können Bürger und Unternehmen sich über Verwaltungsdienstleistungen informieren und dann die entsprechenden Angebote in Anspruch nehmen. Mich freut hierbei besonders, dass die Bundesregierung ein lebenslagengestütztes Verfahren anbietet, das heißt, die Verwaltungsdienstleistungen werden an den Bedürfnissen der Nutzer ausgerichtet und nicht an den Strukturen der Verwaltung. Außerdem sollen alle Dienstleistungen aus einer Hand angeboten werden – die Verwaltungsstrukturen von Bund und Ländern sind im Hintergrund und für die Nutzer nicht zu erkennen. Ich finde, dass die Bundesregierung mit dem Vorschlag, einen Portalverbund einzurichten, schon einen sehr großen Schritt in die Richtung gemacht hat, die wir mit unserem Antrag vorgeben wollen. Das Gesetz ist sicherlich ambitioniert, allerdings haben wir auch einen großen Rückstand aufzuholen. Ich hoffe, dass die Bundesregierung, inspiriert von unserem Antrag, nun weitere Gesetzesvorhaben dieser Art folgen lassen wird. Denn der Bund muss Vorreiter für die übrigen Ebenen sein. Die deutsche Verwaltung gilt nach wie vor weltweit häufig als Vorbild. Damit das so bleiben kann, müssen wir unsere Verwaltungsstrukturen unbedingt an das 21. Jahrhundert anpassen. Mit diesem Antrag hat der Bundestag seinen Beitrag dazu geleistet. Saskia Esken (SPD): Was macht eine moderne und effiziente öffentliche Verwaltung aus? Meines Erachtens entscheidet sich diese Frage beim alltäglichen Umgang der Verwaltung mit den Bürgerinnen und Bürgern. Eine moderne und effiziente öffentliche Verwaltung begreift sich als Dienstleister. Als Nutzer erwarten wir heute, dass wir unsere Behördengänge online und mobil erledigen können. Und wir wollen uns darauf verlassen können, dass die zum Teil sehr sensiblen Daten, die wir mit der Behörde teilen, nicht in unbefugte Hände geraten. Gemessen an diesen Erwartungen muss die deutsche Verwaltung noch einiges nachholen. Das sagen uns auch diverse Studien und internationale Vergleiche zum Thema EGovernment. Egal welche Studie wir heranziehen, sie alle kommen zu einem einhelligen Urteil: Die Angebote der digitalen Verwaltung in Deutschland sind dürftig – in Anzahl und Qualität, aber auch in ihrer Nutzung, also in der Akzeptanz. So belegt Deutschland zum Beispiel beim gerade erschienenen „Digital Economy and Society Index 2017“ der Europäischen Kommission den elften Rang. Damit befinden wir uns im gesicherten Mittelfeld; nicht gerade eine Traumplatzierung! Die Autoren der Studie schreiben, die größte Herausforderung für die deutsche Verwaltung bestehe darin, die Online-Interaktion zwischen Behörden und Bürgern zu verbessern. Nur 19 Prozent der Deutschen nutzten der Studie nach EGovernment-Dienste. Diese kurze Ausführung zeigt, dass die Politik im Bereich EGovernment noch viel zu tun hat. Zwar haben wir mit dem im Jahr 2013 in Kraft getretenen EGovernment-Gesetz und mit dem in dieser Legislatur beschlossenen Programm „Digitale Verwaltung 2020“ einige Schritte getan; deren Umsetzung geht jedoch quälend langsam und nicht konsequent genug voran. Ich bin deshalb dankbar, dass wir uns mit unserem Koalitionspartner auf den vorliegenden Antrag zum EGovernment geeinigt haben. Ein wichtiger Bestandteil ist das Bürgerkonto, über das die Nutzer sicher mit der Verwaltung kommunizieren können. Als eindeutige Identifikation beim Zugriff auf das Bürgerkonto dient die elektronische ID des neuen Personalausweises. Bei allen neu ausgestellten Personalausweisen soll die eID deshalb – anders als bisher – voreingestellt sein und nur auf Wunsch abgeschaltet werden. Opt-out statt opt-in also. Ein weiteres wichtiges Anliegen unseres Antrags wird in der Fachwelt als Open Government und Open Data diskutiert. Hier geht es um die Offenheit und Transparenz staatlichen Handelns sowie um den freien Zugang zu den Daten der Verwaltung. Der zuvor zitierte „Digital Economy and Society Index“ stellt fest, dass in Deutschland im Bereich Open Data „kein Wachstum zu verzeichnen“ sei. Im Antrag fordern wir die Offenlegung von Verwaltungsdaten, und zwar nicht auf Antrag, sondern proaktiv, in einheitlichen und maschinenlesbaren Formaten und unter freien Lizenzen. Es ist zu begrüßen, dass die Regierung noch in dieser Legislatur ein solches Open-Data-Gesetz in Form einer Änderung des EGovernment-Gesetzes vorlegen wird. Wie ich bereits erwähnte, ist das Vertrauen der Nutzer in die Sicherheit von Daten und Kommunikation von zentraler Bedeutung bei der Frage, ob und in welchem Umfang die EGovernment-Angebote der Verwaltung von der Bevölkerung benutzt werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Verwaltung den Bürgerinnen und Bürgern sichere, durchgängig oder, wie man sagt: Ende-zu-Ende verschlüsselte Kommunikationswege zur Verfügung stellt. Nicht nur die Unternehmen der kritischen Infrastruktur, auch die digitale Verwaltung ist durch cyberkriminelle Angriffe in ihrer Funktions- und Handlungsfähigkeit hoch gefährdet und muss sich deshalb besonders schützen. Sie muss deshalb, auch das ist Gegenstand unseres Antrags, beim Umgang mit solchen Angriffen, beim Einsatz von IT-Sicherheitstechnik und bei der Anwendung von IT-Sicherheitsverfahren eine Vorreiterrolle spielen. Vom digitalen Staat, von der digitalen Verwaltung sind wir in Deutschland noch weit entfernt. Mit dem vorliegenden Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, den eingeschlagenen Weg gemeinsam mit Ländern und Kommunen weiter zu beschreiten, damit Deutschland in Zukunft auch bei Rankings zum EGovernment einen Spitzenplatz belegen kann. Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): Informationstechnische Systeme haben das Verhältnis von Staat, Bürger und Wirtschaft grundlegend verändert. Daten sind die neue Währung der digitalisierten Welt. Unsere Rechtsordnung ist davon nicht unberührt geblieben, denn wir haben auf das Dreiecksverhältnis zwischen Bürger, Staat und Wirtschaft reagiert und reagieren müssen. Zwischen Bürgern und Staat ist grundrechtlich im Sinne von Abwehrrechten des Bürgers gegen den Staat seit der Entscheidung des BVerfG mit der Kreation eines Grundrechts auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme längst ein Anknüpfungspunkt geschaffen. Zwischen Bürgern als Verbrauchern und Wirtschaft scheint dies nicht zu gelten oder einfach mit dem Setzen eines digitalen Häkchens unter eine – ausgedruckt zig Seiten umfassende – Erklärung erledigt zu sein. Man könnte fast sagen, der Bürger hätte es nicht erledigt, sondern sich einiger Schutzmechanismen entledigt. In diesem System ein ganzheitliches Angebot von digitaler Verwaltungsdienstleistung anzulegen, ist eine Herausforderung – und im Mindestmaß jedoch ein Werk, das mit kleinen Schritten voranzugehen scheint. Bund und Länder haben mit Artikel 91c GG eine notwendige Grundlage für die Zusammenarbeit geschaffen, die in den Vertrag zur Errichtung des IT-Planungsrates mündete. Der große Wurf gelang damit jedoch nicht. Die Vergabe der öffentlichen Hand für IT-Ausstattung und interoperable Systeme sind immer noch weit weg von der Harmonisierung. Hier müssen wir dringend zu wirksameren Instrumenten greifen und mehr Verbindlichkeit herstellen. Die Zaghaftigkeit im IT-Bereich korrespondiert mit einem Weniger an Staat in der digitalen Lebensrealität der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Ein Attest für gesetzgeberische Zaghaftigkeit war daher, dass sich das BVerfG 2008 genötigt sah, ein Grundrecht zu entwickeln: „Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“. Und acht Jahre später, am 17. August 2016, titelt die FAZ – immer noch – mit einem prominent platzierten ganzseitigen Artikel: „Wir brauchen ein Digitalgesetz!“ Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir mit diesem Antrag die Strategie der Bundesregierung gesetzgeberisch fordern. Die Wirtschaft hat es erkannt, den Komfort durch elektronische Dienste gewinnbringend einzusetzen. Nutzerdaten, elektronische Zahlungsmethoden und in Algorithmen verschwindende Suchbegriffe der Nutzer werden zu einer Dienstleistung verschmolzen, die das Leben vereinfacht. Die Standardisierung dieser Prozesse führte zu einer Evolution, die das Nutzerverhalten antizipierte. Diese Lebenswirklichkeit der Menschen müssen wir als Staat aufnehmen. Staatliche Dienstleistungen müssen komfortabel, sicher und zeitgemäß werden – vom Personalausweis bis zur Verwaltungsdienstleistung. Dieser Gleichschritt aus Komfort, Sicherheit und Zeitgemäßheit ist aber vermutlich nicht weniger als der berühmte Versuch der Quadratur des Kreises. Wir bewegen uns stets auf dem schmalen Grad zwischen einem gesunden und tolerablen Verhältnis aus Praktikabilität, Datensicherheit und Datenschutz der Bürgerinnen und Bürger. Gänzlich auflösen werden wir diesen Antagonismus wohl nie, sodass wir hier stets und immer wieder aufs Neue mit wachem Auge und Fingerspitzengefühl rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, aber auch – wo nötig – begrenzen müssen. Insgesamt besteht bei der Verbindung, Verschlüsselung und der Art und Weise der Übermittlung von Daten zwischen Verwaltung und Bürgern noch Handlungsbedarf. Allerdings hat hier die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme einen exzellenten Maßstab für den Gesetzgeber und die Verwaltung gesetzt, den es beim künftigen gesetzgeberischen Tätigwerden zu beachten gilt. Dennoch gilt für uns die Grundüberzeugung: Die Beschleunigung der Entwicklung einer digitalen und modernen Verwaltung ist notwendig und muss zügig vorangetrieben werden. Bei diesem Vorhaben konnten auch durchaus schon Erfolge erzielt werden. So ist mit Blick auf die Mitteilung der Kommission zum EU-EGovernment-Aktionsplan 2016-2020 bei der elektronischen Vergabe und in der elektronischen Rechnungsstellung im Binnenmarkt bereits sehr viel erreicht worden. Allerdings werden diese Erfolge andererseits wieder durch unzureichende Ausstattung mit technisch geeigneter EDV konterkariert, weil mit der aktuell verwendeten Technik eine rechtssichere Vergabe derzeit noch unmöglich ist. Ich glaube, der Schlüssel liegt hier in einem Vergaberecht, das die Interoperabilität der Systeme in Bund, Ländern und Gemeinden sicherstellt, die derzeit durch die – grundsätzlich richtige – Verwaltungs- und Organisationsautonomie verhindert wird. Notwendig ist daher auch ein Staatsvertrag, der Schnittstellen für den Abruf zentraler Datensätze bei gleichzeitiger Wahrung eines gemeinsam mit den Landesdatenschutzbeauftragten zu erarbeitenden Datenschutzkodexes verbindlich festlegt, um wenigstens die 60 wichtigsten Verwaltungsdienstleistungen für Bund und Länder in einer einheitlichen Maske anbieten zu können. Der unter Beachtung des Datenschutzes notwendige zentrale Zugriff auf Datensätze durch Bund und Länder hat sich beim Ende des letzten Jahres verabschiedeten Luftsicherheitsgesetz gezeigt, mit dem durch digitale Verwaltung die Effizienz, aber auch die Sicherheit erhöht worden ist. Allerdings ist die Digitalisierung kein Selbstzweck. Politische Vorhaben müssen sich stets am Wohle der Bürgerinnen und Bürger ausrichten. Dieser Topos bedeutet für mich hier im Konkreten zweierlei: Einerseits soll das Vorantreiben der Digitalisierung in der Verwaltung nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden. Ein Mehr an Digitalisierung darf nicht zu einem Weniger an Beschäftigten und entsprechenden Einsparungen in der Verwaltung führen. Es mag sinnvoll erscheinen, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, um Pensionierungs- und Rentenwellen abzufedern. Es darf aber nicht passieren, dass wir als Staat in unserem Einflussbereich die Menschen massenhaft auf die Straße setzen. Und andererseits gilt: Um allen Menschen gleichen Zugang zu Verwaltungsdienstleistungen zu garantieren, muss auch auf diejenigen Rücksicht genommen werden, die aus ökonomischen oder technischen Gründen EGovernment-Angebote nicht nutzen könnten. Denn eine digitale Verwaltung soll Vorteile für die Bürgerinnen und Bürger schaffen und den Komfort im Alltag erhöhen, aber niemanden ausgrenzen! Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Was EGovernment und die Digitalisierung der Verwaltung angeht, ist Deutschland leider weit im Hintertreffen. Und daran hat sich in den vergangenen Jahren auch wenig geändert. Wie kommt das? Schaut man sich den Antrag der Koalition an, könnte man auf den Gedanken kommen, es müsse wohl daran liegen, dass bisher nicht genügend wohlklingende Zielvorstellungen aufgeschrieben wurden. Allein, gerade daran fehlt es nicht. Bei den Zielen werden wir uns wohl alle schnell einig: die leicht zugängliche Möglichkeit für alle, Anliegen gegenüber der Verwaltung auch elektronisch zu erledigen; eine leistungsfähige Verwaltung, die nicht mehr so viel Zeit mit dem Bewältigen von Medienbrüchen verbringt; ein hohes Niveau der IT-Sicherheit, insbesondere um persönliche Daten zu schützen; und mehr Transparenz staatlichen Handelns. Nur wenigen Dingen, die in dem vorliegenden Antrag stehen, lässt sich direkt widersprechen. Es fehlt ihm aber an Konzepten und an konkreten Vorgaben. Die erfolgreiche Einführung von EGovernment erfordert finanziellen und personellen Einsatz, wobei wir insbesondere die Kommunen nicht auf sich allein gestellt lassen können. Sie erfordert einen Ansatz, der die Perspektive der Beschäftigten und ihre Mitbestimmungsrechte ernst nimmt. Sie erfordert ganz allgemein die Bereitschaft, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Und von alldem ist hier wenig zu lesen. Sie halten beispielsweise immer noch am gescheiterten Projekt De-Mail fest, statt auf existierende Standards der Verschlüsselung zu setzen. Überhaupt ist das Vorgehen der Bundesregierung hier zwiespältig: Einerseits will man verschlüsselte Kommunikation stärken, andererseits wendet man beträchtliche Mittel auf, um Wege zu finden, sie zu umgehen. Sicherheitslücken sollen also sowohl geschlossen als auch ausgenutzt werden. Die Cybersicherheitsstrategie der Bundesregierung adelt das zur „Krypto-Strategie“; strategisch ist daran aber nichts. Sie bekennen sich – mal wieder – zu Open Data. Sie hätten in den letzten Jahren jede Gelegenheit gehabt, hierfür den rechtlichen Rahmen zu schaffen. Während in immer mehr Bundesländern das Informationsfreiheitsrecht hin zu Transparenzgesetzen weiterentwickelt wird, warten wir nun hier auf ein Open-Data-Gesetz, das absehbar immer noch keine durchsetzbare Pflicht zur Veröffentlichung von Daten vorsehen wird. Sie wollen den IT-Planungsrat stärken. Aber gerade kürzlich erst hat die Bundesregierung den Entwurf eines Onlinezugangsgesetzes vorgelegt, das dem Bund neue Kompetenzen gibt und die Rolle des Planungsrats eher beschränken wird. Ihrem gesamten Antrag fehlt es an einer klaren Linie und an eigenen Konzepten. Ihn hier zu verabschieden, wird kein einziges EGovernment-Projekt einen Schritt voranbringen. Der Antrag der Grünen benennt die Probleme weit deutlicher und stellt auch eine ganze Reihe richtiger Forderungen auf, denen wir zustimmen können. Auch er spart aber einen wichtigen Punkt aus. Es ist richtig, dass mit der Digitalisierung der Verwaltung große Effizienzgewinne zu erwarten sind; Sie zitieren die 34 Prozent aus der Studie des Normenkontrollrats. Aber wem soll dieser Gewinn zugutekommen? Wenn Sie das als „ökonomisches Einsparpotential“ bezeichnen, zielen Sie am Ende womöglich auf Personalabbau. Bei der Digitalisierung der Verwaltung auf den sogenannten „schlanken Staat“ zuzusteuern, vergibt aber ihre echten Chancen und gefährdet auch die bei diesem Thema so notwendige Akzeptanz. Aus unserer Sicht müssen Effizienzgewinne in die Stärkung der öffentlichen Verwaltung gehen, damit diese die ihr anvertrauten Aufgaben im Sinne der Menschen gut erfüllen kann. Wenn wir das hinkriegen, können wir vielleicht in einigen Jahren einmal über dieses Thema reden, ohne eine so schlechte Bilanz ziehen zu müssen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ob EPerso, De-Mail und ELENA, ob die Gesundheitskarte oder das Informationstechnikzentrum Bund – die Liste an chronisch problembehafteten IT-Großprojekten des Bundes ist schon lang, aber offenbar immer noch verlängerbar: In unschöner Regelmäßigkeit wird erst großtrabend angekündigt, um dann bei den absehbaren Mühen der Ebene umso schmallippiger kommentiert ein Prestigevorhaben nach dem anderen in den Sand zu setzen. Denn meist ist man schlichtweg zu sehr am eigentlichen Bedarf vorbei, bleibt ohne Koordination, Standards und Durchgängigkeit zu unpraktisch und unbekannt, wenn nicht gar unauffindbar. Bei fehlender Marktentwicklung sind die Angebote auch noch zu teuer und technisch anfällig sowie ohne effektiven Datenschutz wenig vertrauenswürdig. Akten werden nur selten vollständig und systematisch elektronisch geführt. Open Source und offene Standards spielen kaum eine Rolle, ja werden teils zurückgesetzt, während bei der Beschaffung proprietärer Produkte und Beratungsleistungen die Gefahr wächst, von kommerziellen Marktführern an der Nase herumgeführt zu werden. Entsprechend eindeutig fallen Vergleichsstatistiken aus: Die Bundesrepublik Deutschland verliert im EU-Digitalisierungsindex den Anschluss, der Normenkontrollrat beklagt länger schon, dass es de facto kaum Angebote gibt – die daher auch nur von wenigen angenommen werden. Die Nutzungszahlen von Online-Verwaltungsdiensten in Deutschland bleiben weit hinter Ländern wie Österreich, Schweiz oder Schweden zurück, und es sieht eher noch nach einer weiteren Rückentwicklung denn einer wirklichen Aufholjagd aus. In ihrem Antrag räumt die Große Koalition immerhin ungewohnt offenherzig die Bilanz des eigenen Scheiterns ein: Es drohe „der Verlust der technologischen Souveränität“ – nun das könnte damit zusammenhängen, wie unsouverän diese Bundesregierung digitalpolitisch seit Jahren unterwegs ist. Angesichts dieser Ausgangslage ziehen Sie in manchem – wie bei der Bedeutung von Open Data – sogar ansatzweise die richtigen Schlüsse, freilich nur auf dem Antragspapier. Denn wie so oft in den enttäuschenden Jahren Ihrer „Digitalen Agenda“ folgen den hehren Worten selten und nur unentschlossen die richtigen Taten. Wenn man nicht gar mit einer Verschlimmbesserung um die Ecke kommt, doch dazu später. Dabei hat eine Enquete-Kommission dieses Hauses in der vergangenen Legislaturperiode fraktionsübergreifend in einer tiefgehenden Grundlagenarbeit umfangreiche und konkrete Handlungsempfehlungen vorgelegt, und auch in den vergangenen Jahren hat sich der Deutsche Bundestag intensiv mit diesen Fragen beschäftigt. Hier besteht ja eigentlich Konsens, dass die Digitalisierung unserer Verwaltung gerade mit Blick auf die demografische Entwicklung sowie den ländlichen Raum, aber auch auf gestiegene Ansprüche an Beteiligung und Transparenz enorme Chancen bietet. Das großes Synergie- und Einsparpotenzial für unsere Verwaltung mitsamt entsprechender Entwicklungsanreize für die Wirtschaft spielen also auch, aber keineswegs ausschließlich eine Rolle, wie manche Fehlfokussierung in dieser Diskussion glauben ließe. Doch Sie bekommen leider das Kunststück fertig, die Enquete-Empfehlungen entgegen Ihrer überraschend schonungslosen Problemerfassung auch nur mit einem Wort zu erwähnen – vielleicht weil es dann bei der folgerichtigen Problemlösung in eigener Regierungsverantwortung allzu konkret würde. So warten wir weiterhin auf eine kohärente, entschlossen verfolgte Strategie, um die offensichtlichen Potenziale von Open- und EGovernment endlich zu heben. Nach beinahe vier Jahren schwarz-roten Kompetenzgerangels bräuchte es eine ressortübergreifende Zusammenarbeit mitsamt einer zugstarken Koordinierung durch eine/n Beauftragte/n der Bundesregierung. Mit Beratungsbüros könnte der Bund frühzeitig Länder und Kommunen bei der Implementierung entsprechender Angebote unterstützen. Für alle wesentlichen Verwaltungsverfahren bedarf es der engen Abstimmung im föderalen Gefüge mithilfe des IT-Planungsrats. Statt immer neuer, aber aussichtsloser Leuchtturm-Vorhaben, sollte man vielleicht erst einmal von unabhängiger Seite beleuchten lassen, warum die eigenen IT-Projekte der vergangenen Jahren so spektakulär scheiterten, und dann fortlaufend die eigenen Reformbemühungen in Zweijahresschritten evaluieren. Doch schon jetzt sollte über einige, seit langem etablierte Grundsätze Einigkeit bestehen: Ein bisschen Schriftformverzicht wird es kaum richten: Vielmehr brauchen wir umfassend eine Vorrangigkeit digitaler Verfahren und Verwaltungsleistungen, wobei konsequent auf die Barrierefreiheit zu achten ist und zugleich immer auch eine gleichwertige Alternative bestehen muss, zumal solange diese Bundesregierung ebenso wenig eine wirkliche Strategie für eine flächendeckende Breitbandversorgung hat wie für die digitale Partizipation marginalisierter Gesellschaftsgruppen. Ohne das Benutzervertrauen, dass ein Angebot technisch sicher und dabei der Datenschutz gewährleistet ist, werden IT-Projekte wieder so ruhmlos enden wie De-Mail, EPerso oder ELENA. Hier bedarf es effektiver Methoden wie der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sowie den neuesten Standards bei der Daten- und IT-Sicherheit. Dass die Bundesregierung bei der aktuellen Umsetzung der europäischen NIS-Richtlinie weiterhin die eigene Verwaltung pauschal von den Sicherheitsanforderungen an kritische Infrastrukturen ausnehmen will, dürfte da eher nicht als vertrauensbildende Maßnahme durchgehen. Nicht zuletzt müssen Best-Practice-Beispiele Schule machen können. So zersplittert die öffentliche IT-Landschaft auch ist und so viele Probleme auf allen Ebenen zweifelsohne bestehen: Immer wieder gibt es im Kleinen und gerade auch in den Kommunen erfreuliche Vorreiter. Der IT-Planungsrat hat in seiner langjährigen Bottom-up-Strategie immer wieder eine bessere Koordinierung angemahnt. Angesichts der vielen gescheiterten Bundesprojekte verwundert es da nun umso mehr, wie schnell, stark und von oben herab mit einer weiteren Grundgesetzänderung und dem Onlinezugangsgesetz zentralisiert werden soll. Anstatt endlich mal wenigstens ein IT-Projekt auf Bundesebene zu wuppen, haben Sie nichts Besseres zu tun, als ans Grundgesetz zu gehen. So sinnvoll hier eine stärkere Koordinierung auch ist, solange Sie sich nicht endlich an die ja seit langem bekannten Problemursachen und entsprechenden Lösungsansätze machen, wird es mit dem EGovernment unter dieser Großen Koalition nichts mehr werden. 1)  Anlagen 2 und 3 2)  Anlage 4 3)  Anlage 5 4)  Anlage 6 5)  Anlage 7 6)  Anlage 8 7)  Anlage 9 8)  Anlage 10 9)  Anlage 11 10)  Anlage 12 11)  Anlage 13 --------------- ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 225. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 23. März 2017 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 225. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 23. März 2017 III Plenarprotokoll 18/225