Parlament

Eröffnungsrede „Politik und Religion. Über Reformation, Restauration und Innovation“ zu den Wormser Religionsgesprächen

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
verehrte Repräsentanten der Religionsgemeinschaften,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem rheinland-pfälzischen Landtag,
aus dem Wormser Stadtrat, meine Damen und Herren!

Ich bedanke mich sehr für die freundliche Einladung zu dieser wichtigen Veranstaltung und für die liebenswürdige Begrüßung. An der Absicht, die Wormser Religionsgespräche neu zu entdecken und wiederzubeleben und damit an eine ebenso schöne wie schwierige Tradition aus dem 16. Jahrhundert anzuknüpfen, beteilige ich mich gerne, denn ich teile die Überzeugung, dass heute, in Zeiten der Globalisierung, am Beginn des 21. Jahrhunderts, für Religionsgespräche sicher nicht weniger Bedarf besteht, als in Zeiten der Reformation.

Unsere Gegenwart neigt dazu, sich selbst für fortschrittlicher zu halten als die Vergangenheit. Tatsächlich können wir heute, wie auch früher bereits, immer wieder die Beobachtung machen, dass nicht alles innovativ ist, was sich als fortschrittlich ausgibt, dass auch nicht jede Innovation zu Reformationen führt, dass manche Reformation in der Restauration stecken bleibt, bevor Innovationen und Reformen überhaupt ihre volle Wirkung haben entfalten können. Mit anderen Worten, im wirklichen Leben ist alles meist noch eine Spur komplizierter als in den Theorien, die sich mit der Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt, wie sie denn sein sollte, gerne auseinandersetzen.

Das Jahresthema der Lutherdekade auf dem Weg zum 500. Jahrestag der Reformation lautet „Toleranz“. Auf den ersten Blick scheint dieses Thema nicht besonders schwierig. Fast jeder hat eine Vorstellung davon, was Toleranz bedeutet, und teilt die Einsicht, dass Toleranz geboten oder, wie man zu sagen pflegt, zu üben ist. Aber in der Lebenswirklichkeit ist es bei diesem Thema ganz offenkundig komplizierter. Jede konkrete Situation ist anders, die beteiligten Personen, die Sachverhalte und die wechselseitigen Erwartungen. Ruft man bei Google den Begriff „Toleranz“ auf, werden dort weit über zehn Millionen Ergebnisse angezeigt. Das ist, wie ich glaube, allein schon ein starker Hinweis darauf, dass weder der Begriff unmissverständlich ist – schon gar nicht eindeutig –, noch die damit verbundenen Sachverhalte. Für die Auswahl des Themas „Toleranz“ im Rahmen der Lutherdekade gibt es mindestens zwei gute Gründe: Der eine ganz beachtliche Grund ist der, dass der lateinische Begriff „tolerantia“ von Martin Luther als „Toleranz“ in die deutsche Sprache übertragen und eingeführt worden ist. Der andere, wie ich glaube noch beachtlichere Grund, ist die historische Erfahrung.

Toleranz ist nicht das herausragende Merkmal der Religions- und der Kirchengeschichte, weder vor der Reformation noch danach. Die dunklen Schatten oft brutaler Intoleranz begleiten die Religionsgeschichte und die Kirchengeschichte durch die Jahrhunderte: Inquisition, Hexenprozesse, Ketzerverbrennungen, Glaubenskriege. Auch die Entdeckung der Freiheit des Christenmenschen, zweifellos eine der großen Innovationen und Errungenschaften der Reformation, hat damals keineswegs zugleich auch Glaubensfreiheit gemeint und schon gar nicht akzeptiert.

Auch Martin Luther ist insofern ein mittelalterlich geprägter Mensch gewesen, der sich nicht vorstellen konnte, dass unterschiedliche Wahrheits- und Glaubensvorstellungen nebeneinander bestehen können. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 mit der Vereinbarung, dass der Glaube gelten solle, der vom jeweiligen Herrscherhaus eines Gebietes übernommen wurde, war eine friedensstiftende Maßnahme lediglich unter der zutiefst intoleranten Voraus-setzung, dass in einem Staatsgebiet nicht verschiedene Glaubensweisen neben-einander leben und ausgeübt werden können.

Religion, meine Damen und Herren, das zeigt die Geschichte all zu deutlich – übrigens nicht nur in Europa, aber eben auch in Europa –, Religionen haben ein ambivalentes Verhältnis zur Toleranz. In der Lehre vermitteln sie Toleranz, in der Praxis verweigern sie diese, nicht immer, aber leider häufig, nach innen wie nach außen. Erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert, die ihre wesentlichen Einsichten, um nicht wieder Innovationen zu sagen, gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen durchsetzen musste, wurde die Freiheit des Christen-menschen als individuelle Freiheit des Bürgers im Staat, gegenüber dem Staat und auch gegenüber den Kirchen und Religionsgemeinschaften reklamiert und durchgesetzt.

Die Einsicht der Aufklärung in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der damit verbundenen Wahrheitsfrage hat Demokratie nötig und möglich gemacht. Ihre Folge war die Trennung von Politik und Religion in zwei eigenständige Verantwortungsbereiche. Das spätere, in unserer heutigen Gegen-wart relativ weit verbreitete Missverständnis, beide Bereiche sollten oder dürften möglichst nichts miteinander zu tun haben, ist freilich ein nicht geringerer Irrtum als die jahrhundertealte Vorstellung, das Eine dürfe von dem Anderen gar nicht unterschieden werden.

Ich bin gebeten worden, heute Abend zu dem Generalthema Ihrer Veranstaltung einige Bemerkungen beizusteuern, die das besondere Verhältnis von Politik und Religion betreffen. Es gibt einfachere Themen, wenngleich ich Ihnen gar nicht die Erleichterung unterschlagen will, über ein Thema zu reden, von dem ich mindestens von der einen Hälfte zu wissen glaube wovon ich rede, wenn ich Ihnen Einsichten vortrage, die mir in diesem Zusammenhang bedeutsam erscheinen.

Vielleicht ist die Generalfrage, die über den beiden Stichworten Politik und Religion, jedenfalls unter den heutigen Bedingungen des 21. Jahrhunderts steht, so zu formulieren: „Wie viel Religion erträgt eine moderne, aufgeklärte und liberale Gesellschaft?“ Und mit dieser Frage ist, jedenfalls nach meinem Verständnis, sofort eine zweite Frage verbunden, nämlich: „Wie viel Religion braucht eine demokratisch verfasste Gesellschaft?“ Beide Fragen beantworten sich nicht von selbst. Sie sind, wie ich glaube, aber auch nicht unabhängig voneinander zu beantworten. Ich will dazu ein paar Hinweise geben und bitte um Nachsicht, wenn das ein bisschen Zeit in Anspruch nimmt und am Ende dennoch natürlich unvollständig bleibt. Das eine wie das andere Thema ist unerschöpflich.

Meine erste Bemerkung zum Thema „Politik und Religion“ lautet: Politik und Religion sind zwei unterschiedliche, bedeutende, formell oder informell mächtige, rechtlich oder faktisch bindende Geltungsansprüche gegenüber einer Gesellschaft und ihren Mitgliedern. Das ist, wie ich glaube, ihre wichtigste Gemeinsamkeit. Sie reklamieren einen Geltungsanspruch, sie wollen Verbindlichkeiten begründen – gegebenenfalls auch durchsetzen, förmlich oder informell. Jedenfalls wollen sie mehr sein als ein Beitrag zum Dialog, der Geltungsanspruch geht in beiden Fällen deutlich darüber hinaus. Er ist mehr oder weniger ausdrücklich von Geltungsansprüchen geprägt. Allein aus diesem Grund können Politik und Religion einander nicht gleichgültig sein, aber sie sind ganz offenkundig nicht dasselbe. Die Unterschiede zwischen den jeweiligen Gestaltungsansprüchen sind nicht weniger bedeutsam als die Gemeinsamkeiten. Und wenn ich die Geltungsansprüche als die wichtigste Gemeinsamkeit von Politik und Religion beschrieben habe, dann will ich gleich den aus meiner Sicht wichtigsten Unterschied hinzufügen: Religionen handeln von Wahrheiten, Politik handelt von Interessen – das eine ist so zentral wie das andere und beides offenkundig grundverschieden.

Zu den Ergebnissen unserer aufgeklärten Zivilisation gehört – zweitens –die Einsicht, die ich vorhin schon kurz genannt habe – dass es eine abschließende Beantwortung der Wahrheitsfrage nicht gibt, dass wir zu einer solchen, schon gar allgemeinverbindlichen Beantwortung nicht in der Lage sind. Diese Einsicht macht Politik nötig und Demokratie möglich. Auf der Basis absoluter Wahrheitsansprüche ist Demokratie, als Legitimation von Normen durch Verfahrensregeln, nämlich gar nicht möglich: Über Wahrheiten lässt sich nicht abstimmen, Wahrheiten sind nicht mehrheitsfähig und Interessen sind nicht wahrheitsfähig. Und weil Interessen nicht wahrheitsfähig sind, entschließt sich die Demokratie, die verbindliche Entscheidung nicht über Wahrheitsansprüche zu begründen, sondern durch eine Verfahrensregel: Gelten soll das, was die Mehrheit für richtig hält. Somit gilt es, auch wenn es nicht wahr ist. Und es gilt nicht solange, wie es wahr ist, sondern solange, wie nicht eine neue Mehrheit etwas anderes beschließt. Wahrheitsansprüche sind mit einem demokratisch verfassten System prinzipiell unvereinbar. Wer für das, was er selbst für richtig hält, einen Wahrheitsanspruch erhebt, kann und muss sich gleichwohl den Mehrheitsentscheidungen unterwerfen. Und umgekehrt, wer sich bei der Verfolgung seiner eigenen Interessen Mehrheitsentscheidungen unterwirft, hat logischerweise vorausgesetzt, dass seine Interessen nicht mehr und nicht weniger wahr oder richtig sind als andere auch und dass die Verbindlichkeit einer Entscheidung sich nicht aus dem vermeintlichen Nachweis der Überlegenheit der eigenen Meinung oder des eigenen Interesses ergibt, sondern aus dem simplen Umstand, dass eine Mehrheit sich diese Meinung oder dieses Interesse zu eigenen gemacht hat.

Diese prinzipielle Unvereinbarkeit von zwei ganz unterschiedlichen Legitima-tionsmechanismen verbindlicher Entscheidungen von Geltungsansprüchen hat zur Folge, dass eine funktionierende Demokratie auf der sauberen Trennung von Politik und Religion beruhen muss. Und um es noch eine Spur komplizierter zu sagen: Diese Trennung von Politik und Religion würde es ohne die religiös vermittelte Überzeugung von der Unantastbarkeit der Menschenwürde, dem Freiheitsanspruch des Menschen und seinem Recht auf Selbstbestimmung gar nicht geben. Historisch wie praktisch ist der Sinnzusammenhang zwischen Politik und religiösen Überzeugungen ebenso offensichtlich wie die Trennung zwischen beiden: sie ist eine unverzichtbare Voraussetzung für die Funktions-fähigkeit einer demokratischen Ordnung.

Dritte Bemerkung: Wenn wir uns mit Blick auf die eigene Gesellschaft, auf die Vergangenheit unserer Gesellschaft, aber auch mit Blick auf andere Gesellschaften in und außerhalb Europas umsehen und die Frage beantworten wollen: „Was stiftet eigentlich den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft?“, dann ist, glaube ich, der Befund ziemlich übersichtlich: Der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft wird durch Kultur gestiftet. Kultur, nicht verstanden als „Kunst und Kultur“, sondern als die Summe aller Erfahrungen, die eine Gesellschaft mit sich selbst gemacht hat, der gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Sprache, der gemeinsamen Überzeugungen, die über Generationen gewachsen sind und von einer Generation zur anderen weitervermittelt werden. Dieses Mindestmaß an Gemeinsamkeiten, das die unterschiedlichen Menschen einer Gesellschaft miteinander verbindet, stiftet ihren inneren Zusammenhalt. Und wenn diese kulturelle Verbindung verloren geht, geht der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft verloren. Er kann nicht durch Wirtschaft gestiftet werden, ganz sicher nicht durch Geld und nicht einmal durch Politik. Das, was eine Gesellschaft im Inneren zusammenhält, sind Überzeugungen, Orientierungen, Erfahrungen, von deren Richtigkeit die Menschen in einer Gesellschaft, jedenfalls dem Grunde nach, gemeinsam überzeugt sind. Und solange sie diese Überzeugung teilen, hält der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft, wenn diese Überzeugung verloren geht, erodiert der innere Zusammenhalt.

Viele von Ihnen werden einen berühmten Satz eines früheren Richters am Bundesverfassungsgericht kennen, der in diesem Zusammenhang fast schon zu Tode zitiert worden ist, meistens allerdings auch nur ein Satz, obwohl das, was dann nicht mehr zitiert wird, eigentlich noch spannender ist. Der oft zitierte Satz von Wolfgang Böckenförde lautet: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Er beruht auf Überzeugungen, die er selber nicht stiften kann, aber ohne die er seine Geschäftsgrundlage verliert“. Das ist genau der logische Zusammenhang, den Jürgen Habermas in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels wieder aufgenommen hat, wenn er als jemand, der sich selbst ausdrücklich als „religiös unmusikalischen“ Menschen charakterisiert, auf die überragende Bedeutung von Religionen auch und gerade in modernen säkularisierten Gesellschaften verwiesen hat. Der Staat, gerade der demokratische, freiheitlich säkulare Staat, lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Und Böckenförde fügt hinzu: „Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürger gewährt von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, dass heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und des autoritativen Gebots, zu garantieren versuchen ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und auf säkularisierter Ebene in den Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

Das ist der kühne Versuch, in wenigen Sätzen fünfhundert Jahre Religions- und Zivilisationsgeschichte zusammenzufassen, wobei ich Sie bitten möchte, nicht die ohnehin hinreichend komplizierte Formulierung im Gedächtnis zu behalten, sondern wenn es geht zwei Hinweise, von denen der eine, wie mir scheint, unverändert richtig und von zentraler Bedeutung ist und der andere auf seinen Realitätsgehalt neu überprüft werden muss. Unverändert richtig ist: Auch und gerade der moderne Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann, und die entweder durch die Kultur einer Gesellschaft geschaffen sind und aufrecht erhalten bleiben – oder eben verloren gehen. Und der zweite, auf seinen Wirklichkeitsgehalt neu zu untersuchende Hinweis bezieht sich auf die Homogenität der Gesellschaft, von der vermutlich viele von Ihnen den Eindruck haben, dass es sie längst nicht mehr gibt. Ich finde den Hinweis auf die Heterogenität der Gesellschaft, in der wir leben, auch plausibler als den Hinweis auf die Homogenität dieser Gesellschaft.

Nun wird, das ist meine vierte Bemerkung, in diesem Zusammenhang immer wieder, auch zu Recht, darauf hingewiesen: Der innere Zusammenhalt unserer Gesellschaft, eigentlich jeder modernen demokratisch verfassten Gesellschaft, werde nicht durch kulturell gewachsene Überzeugungen gestiftet, sondern durch die Verfassung. Die Verfassung formuliere das, was in einer Gesellschaft Geltung beansprucht und dieser Geltungsanspruch gelte für alle und jeden, unabhängig davon, ob er am Entstehen dieser Überzeugung beteiligt war oder nicht, unabhängig davon, ob ihm dies besonders vorteilhaft oder eher schwierig oder lästig erscheint. Jedenfalls komme es in einer modernen Gesellschaft nicht auf kulturelle und schon gar nicht auf religiöse Überzeugungen an, sondern ausschließlich auf die rechtlich formulierten, für alle verbindlichen, gegebenenfalls auch einklagbaren Geltungsansprüche einer Verfassung. Das ist, wie ich glaube, zwar nicht ganz falsch, aber noch weniger ganz richtig, denn bei dieser Beobachtung wird unterschlagen, was denn eigentlich in Verfassungen formuliert wird: Verfassungen sind die groben Orientierungen, die in einer Gesellschaft prinzipielle Geltung beanspruchen und an denen sich, jedenfalls nach unserem Verfassungsverständnis, auch die einzelnen gesetzlichen Regelungen zu orientieren haben. Das, was in einer Verfassung formuliert wird, sind eben genau die tragenden Überzeugungen, die in einer Gesellschaft Geltung gewonnen haben. Verfassungen sind nie Ersatz für, sondern immer Ausdruck der kulturellen Überzeugungen, die in einer Gesellschaft Geltung beanspruchen. Ich kenne keine Verfassung in der Welt, die sich anders verstehen ließe als in genau diesem Zusammenhang, und deswegen ist der Zusammenhang zwischen Politik und Religion, zwischen Verfassung und Kultur nirgendwo enger als genau hier: Verfassungen formulieren das, was eine Gesellschaft an Erfahrungen mit sich selbst gemacht hat, die Schlussfolgerungen, die sie daraus gezogen hat und die grundsätzlichen Geltungsansprüche, die sie nicht nur für eine Wahlperiode, sondern prinzipiell gesichert sehen möchte. Das Grundgesetz ist für diese allgemeine Beobachtung, die wie mir scheint fast ausnahmslos für alle Verfassungen gilt, ein besonders schönes Beispiel. Das Grundgesetz ist ein hoch ideologischer, tief religiös geprägter Text, mit einer Reihe normativer Ansprüche für die Gestaltung einer modernen Gesellschaft. Bereits das in der Präambel reklamierte Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen muss nicht in einer Verfassung stehen, steht aber in unserer Verfassung und der erste – nach Übereinstimmung aller Verfassungsexegeten auch oberste – Satz unserer Verfassung lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt“. Das gibt aber nicht einen empirisch gesicherten Sachverhalt wieder, sondern, wenn überhaupt, leitet er aus der gegenteiligen empirischen Erfahrung einen Geltungsanspruch her, der sich, wenn es sein muss, auch gegen die Wirklichkeit stemmt. Würde die Verfassung Erfahrungssätze formulieren wollen, müsste dieser Satz lauten: „Die Würde des Menschen ist antastbar.“ Nirgendwo ist dieser Nachweis gründlicher geführt worden als auf deutschem Boden, von einem deutschen Staat. Und weil die Wirklichkeit so ist, erhebt die Verfassung den umgekehrten Geltungsanspruch. Der ist aber nicht vom Himmel gefallen, oder vielleicht eben doch, er muss ja irgendwo herkommen und – er kommt natürlich auch irgendwo her: Er ist die Formulierung einer jahrhundertealten Überzeugung, die sich ohne den Zusammenhang der kulturellen und religiösen Traditionen dieses Landes und dieses Kontinentes überhaupt nicht verstehen lässt. Und er legt von daher, völlig unabhängig von der Frage, ob jemand sich selbst als einen religiös orientierten Menschen versteht, die Schlussfolgerung nahe, die Jürgen Habermas ausdrücklich zieht: Unabhängig von eigenen religiösen Überzeugungen muss ein so verfasster Staat ein vitales Interesse an der Lebendigkeit dieser Quellen haben, weil er ohne diesen Kontext die Voraussetzungen verliert, auf denen er beruht und die er selbst gar nicht schaffen kann.

Nun würde ich noch ein ergänzendes Argument vortragen wollen, das Jürgen Habermas immer wieder nach der von Ihnen, Herr Oberbürgermeister, zitierten Rede in Frankfurt bei der Verleihung des Friedenspreises vorgetragen hat und in dem es um die andere Seite der gleichen Beobachtung geht: dass der säkulare, freiheitliche, weltanschaulich neutrale Staat ein Interesse an Weltanschauungen haben muss und dass er ganz gewiss die religiöse Betätigung nicht behindern darf, sondern selber ein Interesse an den Quellen haben muss, aus denen sich dieses kulturelle Selbstverständnis speist. „Allerdings“, so Habermas, „muss der Staat, der demokratisch verfasste Staat, die Anerkennung des Prinzips der weltan-schaulich neutralen Herrschaftsausübung erwarten. Jeder muss wissen und akzeptieren, dass jenseits der institutionellen Schwelle, die die Öffentlichkeit von Parlamenten, Gerichten, Ministerien und Verwaltungen trennt, nur säkulare Gründe zählen.“ Mit anderen Worten: Die Behauptung, „dies ist wahr“, reicht als Argument für die rechtsverbindliche Durchsetzung eines Geltungsanspruchs im demokratischen Verfassungsstaat nicht aus.

Selbst wenn Sie oder ich von der Wahrheit eines bestimmten Satzes fest überzeugt sind und deswegen natürlich alle subjektive Legitimation haben, an dieser Überzeugung festzuhalten – der Wahrheitsanspruch begründet den Geltungsanspruch nicht, jedenfalls nicht im politischen Kontext. Wir unternehmen, wenn Sie so wollen, eine gewisse intellektuelle Akrobatik, die wir uns in der Konstruktion eines demokratisch verfassten, säkularen Staates zumuten, der auf dieser Trennung von Staat und Religion besteht, obwohl er diese Trennung ganz wesentlich religiösen Überzeugungen verdankt.

Nun will ich, gerade weil dies so ist, in meiner fünften Bemerkung das Missverständnis möglichst ausräumen, das weitverbreitet ist: Die Säkularisierung und der Verlust religiöser Orientierungen, möglicherweise gar die Preisgabe religiöser Überzeugungen, sei der unvermeidliche Preis der Moderne. Das halte ich zum einen aus den eben genannten – historischen und systematischen – Gründen für offenkundig falsch. Es ist zum anderen aber offenkundig auch empirisch falsch. Weltweit sind die Religionen nie aus der Politik verschwunden. Wir erleben im Gegenteil gerade am Beginn des 21. Jahrhunderts eine erstaunliche weltweite Revitalisierung der Bedeutung von Religionen im öffentlichen Raum. Interessanterweise fast überall außerhalb Europas stärker als in Europa, was vielleicht das Missverständnis erklärt, das bei uns weit verbreitet ist, anderswo aber auf schlichtes Unverständnis stößt, dass nämlich in modernen Gesellschaften Religionen keine Bedeutung mehr hätten. Wir erleben sogar eine bemerkenswerte, teilweise erschreckende Instrumentalisierung und Politisierung von Religion mit fundamentalistischen Ansprüchen. Wir haben es heute also, etwas idealtypisch gesprochen, mindestens mit zwei sehr unterschiedlichen Formen von Religiosität in Zeiten der Globalisierung zu tun. Das eine ist die persönliche Religiosität im Rahmen gesicherter, rechtstaatlicher Demokratie, als ein geschützter Raum persönlicher Entfaltung. Und das andere ist die politisierte Religion mit fundamentalistischen Machtansprüchen, die inzwischen eine bemerkenswerte globale Entfaltung erreicht hat. Und wenn wir jetzt mehr Zeit hätten, als ich Ihnen, jedenfalls in einem solchen Vortrag, zumuten darf und will, müsste man jetzt über das, wie ich es empfinde, Dilemma der demokratischen Öffnung in arabischen Staaten sprechen, die vor genau dem Problem stehen, dass die Überwindung autoritärer Regime, gerade bei religiös geprägten Bevölkerungsteilen, einen Gestaltungsanspruch nach sich zieht, der mit dem Liberalisierungs- und Demokratisierungsversprechen dieses Aufbruchs strukturell unvereinbar ist. Weswegen die Frage jedenfalls heute nicht zu beantworten ist, ob das, was wir etwas voreilig arabischer Frühling genannt haben, zu einem strahlenden Sommer führt oder einem frühen Herbst, vielleicht auch einem bitteren Winter. Jedenfalls liegt in dieser Verbindung von zwei sich unmittelbar im Wege stehenden Veränderungs-, Gestaltungs- und Geltungsansprüchen eine riesige Brisanz, die zu bewältigen eine enorme Aufgabe darstellt.

Ich glaube, als meine sechste Bemerkung, dass wir es gegenwärtig, was das Verhältnis von Politik und Religion betrifft, mit zwei großen ähnlich weit verbreiteten Missverständnissen zu tun haben: Das eine ist die Anmaßung, religiöse Glaubensüberzeugungen für unmittelbar geltendes Recht zu nehmen und im wörtlichen wie im übertragenen Sinne zu exekutieren. Einen Anspruch, den wir nicht nur in beachtlichen Teilen der Welt, im Selbstverständnis religiös sich verstehender Staaten und ihrer Regime beobachten können, sondern den wir auch in der eigenen multikulturell gewordenen Gesellschaft mit unterschiedlichen Geltungsansprüchen von Vertretern dieser oder jener religiösen Gruppierung immer wieder beobachten können – das Missverständnis über das Verhältnis von Politik und Religion. Das andere Missverständnis ist die Arroganz, freundlicher formuliert, die Leichtfertigkeit, religiöse Überzeugungen für überholt, belanglos oder irrelevant zu erklären. Das zweite Missverständnis ist kaum weniger gefährlich als der erste. Es ist in unseren Breitengeraden aber weiter verbreitet als der erste und nicht wenige, auch manche namenhaften deutsche Intellektuelle haben sich in der guten Absicht der Zurückweisung des ersten Irrtums an der Verbreitung des zweiten Irrtums tatkräftig beteiligt. Religion ist aber nicht belanglos und schon gar nicht irrelevant. Aus der richtigen Zurückweisung fundamentalistischer Überzeugungen und Gestaltungsansprüche darf eben nicht geschlussfolgert werden auf die Irrelevanz von religiösen Überzeugungen, zumal, wie vorhin erläutert, gerade auch der liberale Staat auf religiöse Bezüge und Begründungen nicht verzichten kann und darf.

Wenn Sie noch einen Augenblick Geduld haben, würde ich gerne noch einige Sätze zum Verhältnis von Glaube und Kirche sagen, obwohl ich mich spätestens damit auf ein Gelände begebe, von dem ich selbst nicht behaupte, ich sei von überlegenem Sachverstand und könne ex cathedra erläutern, wie es wirklich ist. Ich möchte Ihnen aber einige Eindrücke wiedergeben, die ich als teilnehmender Beobachter und praktizierender Christ über die auch nicht einfache Beziehung zwischen Religion und Kirche gesammelt habe – und auch über das damit verbundene Verhältnis von Kirchen und Politik.

Ich beginne mit dem statistischen Hinweis, den ich vorhin bereits angedeutet habe, als es um die von Böckenförde reklamierte Homogenität unserer Gesell-schaft ging und unserem, vermutlich gemeinsamen, Eindruck, dass es damit wohl vorbei ist. Auch statistisch gibt es dafür manchen Hinweis: In Deutschland gehören heute zwar noch gut zwei Drittel der Menschen einer Religionsgemeinschaft an, aber ein Drittel eben keiner und von den zwei Dritteln, die einer Religionsgemeinschaft angehören, gehören keine 60 Prozent mehr den beiden großen christlichen Religionsgemeinschaften an. Was wiederum bedeutet, dass, bezogen auf die gesamte in Deutschland lebende Bevölkerung, deutlich weniger als die Hälfte einer christlichen Religionsgemeinschaft angehört. Die andere oder mehr als die Hälfte gehört anderen oder keinen Religionsgemeinschaften an. Wobei ich glaube, dass Sie, Herr Steinacker, in ihrem außerordentlich klugen Einleitungsbeitrag zum Programmheft, den wie ich finde zutreffenden Hinweis gegeben haben, dass wir auch heute Formen von missionarischem Atheismus beobachten können, die mit ähnlich fundamentalistischer Gebärde auftreten, wie manche Religionsgemeinschaft. Jedenfalls kann von einer Homogenität der Gesellschaft mit Blick auf religiöse Orientierungen ganz gewiss keine Rede sein. Die Heterogenität hat deutlich zugenommen, die Homogenität abgenommen. Nun gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, auch aus jüngerer Zeit, die die Glaubensüberzeugung und ihre Verbreitung in unserer Gesellschaft zum Gegenstand haben und mir fällt auf, dass diese Untersuchungen sehr unterschiedlich wahrgenommen und gelesen werden. Das, was an Zustimmungen und Ablehnungen, Zurückhaltungen, Distan-zierungen zu klassischen Glaubensüberzeugungen beschrieben wird, betrachten die einen als den Nachweis einer massiven Erosion von Glaubensüberzeugungen, während die anderen sagen, es gäbe doch, gerade wenn man die statistische Entwicklung einer immer geringeren Anzahl der einer Religion angehörender Menschen betrachtet, noch eine erstaunlich beständige Stabilität von Glaubensüberzeugungen. Für beides gibt es in der Tat Belege. Ich will Sie da auch gar nicht mit Einzelheiten belästigen, ich will nur darauf aufmerksam machen, dass ich es auffällig finde, dass in einer Gesellschaft, die sich rein statistisch gesehen mit Blick auf religiöse Bindungen so signifikant verändert hat wie die bundesdeutsche Gesellschaft in den letzten sechzig Jahren, es, gerade in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren, nach wie vor eine überragende Akzeptanz der Bedeutung religiöser Werte im Allgemeinen und der christlicher Werteüberzeugungen im Besonderen gibt. Und dass auch und gerade Menschen, die von sich selbst erklären, dass sie keine oder nur eine geringe religiöse Bindung haben, mit Blick auf Wertvorstellungen die Unverzichtbarkeit gerade derjenigen religiösen Werte bestätigen, von denen sie selber sagen: „Och, für mich persönlich nicht unbedingt so entscheidend, aber muss schon sein.“ Hochinteressant! Und noch interessanter finde ich, dass mit dieser zur statistischen Entwicklung konträr verlaufenden stabilen Überzeugung von der Bedeutung religiöser Werte eine dramatisch zurückgehende Kirchenbindung einhergeht. Nicht nur unter denjenigen, die für sich erklären, Religion habe für sie keine besondere persönliche Bedeutung, sondern auch und gerade unter denjenigen, die erklären, dass dies für sie eine hohe Bedeutung habe. Gerade diese erklären immer mehr, dass die Zugehörigkeit zu einer Kirche für sie nur eine geringe Bedeutung habe. Mit anderen Worten: Wir leben in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft mit einem immer geringeren Anteil von religiös gebundenen Menschen, von denen wiederum die allermeisten aber erklären, dass religiöse Orientierungen für sie von erheblicher Bedeutung seien und von denen nur noch eine Minderheit über eine ausgeprägte Kirchenbindung verfügt.

Welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind, werde ich jetzt nicht beantworten. Ich will nur noch auf eine interessante Parallele aufmerksam machen, von der ich wieder etwas mehr verstehe als von dem Thema, auf das ich mich gerade leichtsinniger Weise begeben habe. Wir haben nämlich in der Politik einen ganz ähnlichen Befund: Es gibt ganz sicher kein rückläufiges Interesse an Politik, wir haben im Gegenteil sogar ein deutlich messbares, zumindest reklamiertes, erweitertes Beteiligungsbedürfnis der Menschen an möglichst allem und jedem. Im kommunalen Bereich ist es ganz offensichtlich: die Anzahl von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden hat in den letzten zehn Jahren dramatisch zugenommen, und viele halten für den einzigen wesentlichen Mangel des Grundgesetzes, dass es die Möglichkeit von Plebisziten auf Bundesebene nicht vorsehe und damit nicht die Möglichkeit bestünde, über den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan, über die Abschaltung von Kernkraftwerken oder den Bau von Flughäfen durch Volksentscheide zu befinden. Von einem rückläufigen Interesse an Politik kann also ganz sicher keine Rede sein, die meisten Menschen behaupten mindestens, sie wollten an politischen Entscheidungsprozessen möglichst selbst beteiligt werden. Dass sich das dann übrigens, wenn es konkret wird, erstaunlich ausdünnt und dass bei genauem Hinsehen das reklamierte allgemeine Interesse an Beteiligung sich im konkreten Sachverhalt auf das Interesse von Interessenten reduziert, die an bestimmten Entscheidungen, meistens an der Verhinderung beabsichtigter Entscheidungen, besonders interessiert sind, muss ich jetzt gar nicht vertiefen, gehört jedoch zu der Lebenswirklichkeit, die Ihnen allen hinreichend vertraut ist. Gleichzeitig ist aber nicht nur die Attraktivität, sondern vor allem das Vertrauen in politische Institutionen dramatisch zurückgegangen.

Die Politik macht insofern eine ganz ähnlich Erfahrung wie die Kirchen: dass nämlich ihre jeweilige „Kundschaft“ die Relevanz des Produktes ausdrücklich bestätigt, aber mit den, um im Wirtschaftsbild zu bleiben, Handelsorganisationen möglichst wenig zu tun haben will. Parlamente, Regierungen, Verfassungsinstitutionen, insbesondere Parteien, haben ein dramatisch niedriges Ansehen, wobei mich nicht wirklich tröstet, dass dies kein exklusiver Befund ist für die Politik, sondern ein genereller gesellschaftlicher Befund. Nennen Sie mir nur einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von einem massiven Vertrauensverlust betroffen wäre – es gibt fast keinen, ausgenommen vielleicht die Feuerwehr.

Der Punkt, um den es mir hier geht, ist, dass nach meinem Eindruck auf die dramatisch zurückgegangene Bindungsbereitschaft von Menschen, die sich für Politik beziehungsweise für Religion interessieren, beide Bereiche, die Kirchen wie die Politik, reflexhaft reagieren. Die Parteien in der Weise, dass sie als Erklärung eine sogenannte Politikverdrossenheit ausgeben und die Kirchen einen Glaubensverlust. Ich finde beides entschieden zu preiswert und ich glaube, beides stimmt so nicht. Es ist eine bequeme Erklärung für ein entweder nicht lösbares oder jedenfalls von den unmittelbar Zuständigen nicht lösbares Problem, weil es scheinbar außerhalb der eigenen Zuständigkeit liegt. Anders formuliert: Ich habe weder den Eindruck, dass wir es bei ruhiger, nüchterner Betrachtung in Deutschland mit Politikverdrossenheit zu tun haben noch mit Glaubensverlust. Folglich müssen sich diejenigen, die Politik organisieren und diejenigen, die die Religion organisieren, mit der Frage beschäftigen, warum Menschen, die sich für Politik interessieren, kein Interesse an Parteien haben und Menschen, die Religion wichtig finden, Kirchen uninteressant finden. Ich habe dazu ein bemerkenswertes Zitat gefunden: „Der eine Rock des Herren ist zerrissen zwischen den streitenden Parteien, die eine Kirche auseinander geteilt in die vielen Kirchen, deren jede mehr oder minder intensiv in Anspruch nimmt, allein im Recht zu sein. Und so ist die Kirche für viele heute zum Haupthindernis des Glaubens geworden. Sie vermögen nur noch das menschliche Machtstreben, das kleinliche Theater derer in ihr zu sehen, die mit ihrer Behauptung, das amtliche Christentum zu verwalten, dem wahren Geist des Christentums am meisten im Wege zu stehen scheinen.“ Das Zitat stammt von Josef Ratzinger. Da war er jedoch noch nicht Papst! Wie ich überhaupt immer wieder die Erfahrung mache, dass bei der Lektüre bedeutender Leute vor allem die Schriften lohnen, die sie vor der Übernahme ihrer hohen Ämter verfasst haben. Dieses Zitat jedenfalls stammt aus seinem zweifellos bedeutenden Buch „Einführung in das Christentum“ und macht das Problem klar, das ich meine und von dem ich glaube, dass wir uns damit nüchtern auseinandersetzen müssen.

Dass wir längst nicht mehr in einer homogenen, sondern in einer heterogenen, multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft leben, bedarf, glaube ich, keiner statistischen Beweisführung mehr, auch dass nichts für die Vermutung spricht, dass dies nur ein Übergangszustand sei, der sich in absehbarer Zeit zugunsten von Uniformität oder Homogenität wieder korrigieren ließe. Und weil das so ist, wird die Frage umso bedeutender: Wie kann eigentlich in einer immer heterogeneren Gesellschaft mit teils nicht mehr, teils weniger, teils ausgeprägten aber unterschiedlichen religiösen Orientierungen, Einheit gestiftet werden? Denn zu den gesicherten Erfahrungsgeschichten der Menschheit gehört eben auch, dass ohne ein Mindestmaß von Einheit Vielfalt nicht zu ertragen ist. Zu glauben, der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft ließe sich umso einfacher sichern, je mehr möglich ist und je weniger verbindlich, gehört zu den gelegentlich gepflegten, aber nicht wirklichkeitsnahen Illusionen.

Das führt mich zum Schluss noch einmal zu dem Hinweis auf die überragende Notwendigkeit von Toleranz, die deswegen mit vollem Recht das zentrale Thema hoffentlich nicht nur dieses Jahres der Lutherdekade auf dem Weg zum 500. Jahrestag der Reformation ist. Wo beginnt Toleranz und wo hört sie auf? Toleranz beginnt immer mit der Erfahrung des Anderen, des anderen Menschen, der anderen Überzeugungen, der anderen Veranlagungen, der anderen Interessen, der anderen Auffassungen und Meinungen, der anderen Ziele und Bedürfnisse. Toleranz ist mehr als Kenntnis, ist auch mehr als Kenntnisnahme, dass etwas so ist, wie es ist. Sie muss auch mehr sein als die Duldung des Anderen, als die stille Resignation, dass es sich auch ohnehin nicht verändern oder vermeiden lasse. Toleranz ist die Akzeptanz des Anderen, die Bereitschaft zu verstehen, warum etwas so ist, wie es ist, sich darauf einzulassen und es möglich sein zu lassen. Nicht alles was sich als Toleranz ausgibt, genügt höheren Ansprüchen. Toleranz ist aber auch deswegen eine besonders anspruchsvolle Haltung, weil sie leicht zur Legitimation von Rücksichtslosigkeiten werden kann, aber natürlich nicht werden darf. Toleranz ist nicht immer und überall weise, sie kann auch dumm sein, blind, bequem, leichtfertig, gefährlich, manchmal lebensgefährlich. Deshalb ist es im Namen der Toleranz erlaubt und manchmal dringend geboten, Intoleranz nicht zu tolerieren. Heute, in Zeiten der Globalisierung, ist der Dialog der Religionen und Kulturen der Welt ähnlich wichtig und ähnlich schwierig, wie die Begegnung der Christen unterschiedlicher Konfessionen nach der Reformation, zumal die Religion, im Unterschied zur Politik, auf Wahrheitsansprüche nicht verzichten will und kann. Bei dem bedeutenden islamischen Mystiker Rumi habe ich einen Satz gefunden, der in einer kaum überbietbaren Prägnanz verdeutlicht, worum es geht bei dieser gemeinsamen Aufgabe von Christen, Juden, Moslems, Hinduisten, Buddhisten in der Welt von heute, im notwendigen Dialog der Gläubigen wie der Ungläubigen miteinander: „Draußen, hinter den Ideen von rechtem und falschem Tun kommt ein Acker. Wir treffen uns dort. Das ist die ganze Aufgabe. Aber um diese Aufgabe zu erledigen bedarf es zweier Voraussetzungen: Erstens muss man sich treffen wollen und zweitens muss man den Acker tatsächlich bearbeiten.“ Man muss sich treffen. Man muss tatsächlich arbeiten. Und man muss es wollen.

Vielen Dank für Ihre Geduld!
Prof. Dr. Norbert Lammert
Präsident des Deutschen Bundestages

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