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Kultur und Geschichte

„Die sitzen aber unbequem“

Das Namenschildchen von Angela Merkel ist ganz schön angekratzt. Im „Archiv der Abgeordneten“ ist sie eine von allen Abgeordneten des Bundestages bis 1999 und des ehemaligen Reichstages bis 1933, denen der Künstler Christian Boltanski ein begehbares Denkmal gesetzt hat. Neben den Urvätern der Bundesrepublik wie Konrad Adenauer und spätere Bundeskanzler ist jeder Volksvertreter als blecherne Archivkiste verewigt. Bewusst eng und spärlich beleuchtet ist diese begehbare Installation, und an diesem Nachmittag drängen sich die 25 Besucher der Kunst- und Architekturführung aus besonderem Grund darin.

Der Vater auf der Blechkiste

„Such doch mal deinen Vater“, rufen einige dem freundlichen Mann zu. Er sagt nichts dazu, läuft aber das Archiv im Keller des Reichstagsgebäudes ab, sein Blick schweift längst über die vielen Namenskisten vom Boden bis zur Decke. Bald fangen alle 25 Besucher der Gruppe an, auch die Vertreterin des Besucherdienstes, und suchen nach „Bremm, Klaus“. Abgeordneter von 1969 bis 1976 im Bundestag, damals noch Bonn.

Schließlich findet der Sohn seinen Vater. Kunst hat eine besondere Begegnung mit dem Beruf des Vaters möglich gemacht. „Ich bin bewusst nicht Politiker geworden“, sagt der Sohn heute, „ich habe erfahren, was das für die Familie bedeute.“ Lothar Bremm ist Organist und Musiklehrer geworden. An diesem Samstag besucht er mit seinen Freunden aus der Grundschulzeit den Sitz des heutigen Parlamentes.

Moselwinzerin als russische Ikone

Die ehemaligen Schüler des Jahrgangs 1955 sind aus Zell an der Mosel. Im Clubraum der Abgeordneten, den die Moselaner an diesem Tag zu sehen bekommen, hängt ein ikonenhaftes Bild einer Kolchosebäuerin mit Reben. Die Winzer unter ihnen rufen gleich: „Da ist ja eine Zeller Winzerin.“

Die Besucherführerin des Bundestages, Katja Reissner, muss über die flotten Sprüche auch lachen und erklärt sogleich das russische Kunstwerk im Detail, das als eines von vier künstlerischen Beiträgen der ehemaligen Siegermächte fest installiert ist.

Beeindruckt von der Größe und Modernität des Gebäudes sagt ein Klassenkamerad, der heute am Rhein lebt: „In der Region sah man den Umzug des Parlamentes damals nicht ein. In Bonn haben wir gedacht, das muss ja nicht sein. Aber wenn man hier das sieht, weiß man, es war richtig.“

Staatstragende Stimmung

Katja Reissner stimmt ihre Führungen immer auf die jeweilige Gruppe ab. Gemäß der aktuellen Interessenlage führt sie sie nun hinter die Kulissen des parlamentarischen Betriebes. Die Besucher sehen die Lobby, wo Volksvertreter auf Interessensvertreter stoßen, passieren die Tische, wo die Namenslisten zum Eintragen an Sitzungstagen liegen, und erfahren, wozu die zweifarbigen Lämpchen auf den Uhren im ganzen Haus gut sind.

Schließlich blicken sie ehrfurchtsvoll auf die Rückseite des 2,5 Tonnen schweren Bundesadlers im Plenarsaal. Spätestens im Plenarsaal sind sie gänzlich von einer staatstragenden Stimmung angesteckt. Vorlaute Bemerkungen werden höchstens geflüstert.

„Drin sieht es noch mal anders aus“

Die Frage, wo die Bundeskanzlerin sitzt, kommt fast immer. Wer rechts vor dem Adler sitzt, muss Katja Reissner auch meistens erklären. „Alles kennt man vom Fernsehen, doch drin sieht es noch mal anders aus“, sagt eine Besucherin.

Hans-Georg Schmitz, der den Besuch für seine ehemaligen Mitschüler organisiert hat, wundert sich über die Hocker der Stenografen: „Die sitzen aber unbequem.“

Der Bundestag ist ein Arbeitsparlament

Weil der Plenarsaal nicht immer voll ist, denken viele, die Abgeordneten würden gar nicht arbeiten. Auch dieses Vorurteil räumt die Besucherführerin überzeugend aus.

Denn der Bundestag ist ein Arbeitsparlament, die Abgeordneten arbeiten vor allem in Fachausschüssen an den Gesetzentwürfen und in den Fraktionen an konkreten politischen Vorhaben.

Das Lächeln der „Fat Chicken

Im Nordeingang warten bereits zwei Engländer mit ihrer englischsprachigen Führerin auf weitere angemeldete Besucher. Doch der Rest der Gruppe hat sich offenbar in Berlin verlaufen. So bleiben sie unter sich und haben viel Zeit für viele Fragen.

Das Wort „Stilbereinigung“ möchte Eve Sadler aus Manchester ganz genau verstehen. Die 30-Jährige ist mir ihrem Bruder Andrew hier. Vor der Reise haben sie sich erkundigt, was sie unbedingt in Berlin besichtigen müssen. Und das Reichstagsgebäude gehört zu den Orten in Berlin „where you have to go“, wo man hingehen muss.

Graffitis, Stuckarbeiten, Heizungsschacht

Fasziniert von der Architektur ihres Landsmannes Sir Norman Foster, der das Transparenzprinzip der bundesdeutschen Demokratie mit Stein, Stahl, Glas und vielen Ideen umgesetzt hat, staunen sie über die bewusst sichtbar gemachten Spuren der Vergangenheit - über die russischen „Graffitis“, die Stuckarbeiten an der Decke und den Heizungsschacht im Keller.

Das ist das Gegenteil von besagter „Stilbereinigung“, einem Dogma der Nachkriegsarchitektur, um alle Spuren der Vergangenheit zu beseitigen. Der Umgang des Architekten mit der „fetten Henne“, wie das Wappentier im Bonner Plenarsaal auch genannt wird, belustigt die Besucher aus Großbritannien. Auf der Rückseite der „Fat Chicken“, so weist die Führerin hin, hat er einen schlankeren, weniger ernsten Adler angebracht.

Foto vor der Kanzlertür

Für die Besucher stehen an diesem Samstag viele Türen offen - die zur Abgeordnetenlobby, zum Clubraum, zu den Fraktionsräumen, sogar zum Andachtsraum. Eine Tür bleibt verschlossen, ist aber dennoch beliebtes Fotomotiv: Angela Merkels Büro im Bundestag.

Da entfährt der englischen Besucherin ein ehrliches „Wow“. Der Bruder soll schnell ein Foto von ihr vor dem „Chancellor’s Room“ schießen. Die große Schwester ist politisch sehr interessiert und wundert sich über die ruhige „Government question time“, die Befragung der Bundesregierung. Im englischen Parlament seien die Gemüter hitziger, sagt sie.

An die Geschichte angestöpselt

Jede Besichtungstour endet auf der Kuppel. An diesem Nachmittag verweilt Vu Duc Huy auf dem Aufgang nach oben und sieht sich die vier Türme des Reichstagsgebäudes an. Er ist ein Junge von zwölf Jahren und trägt Kopfhörer. Der Audioguide vom Bundestag ist angestöpselt.

Interessiert hört der Berliner Schüler mit vietnamesischen Eltern der wechselvollen Geschichte des Gebäudes zu, die so eng mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft ist wie kein anderes.

Gastgeber für Besucher aus aller Welt

Er scheint das in diesem Moment zu spüren. Er sagt, gerade erst habe er gelernt, „dass Berlin in vier Sektoren geteilt war und das Reichstagsgebäude mal abgebrannt ist“. Die Mutter hatte die Idee, ihre beiden Söhne zum Parlament zu bringen.

Am späten Nachmittag ist das Parlamentsgebäude immer noch ziemlich belebt. An einem von 52 Wochenenden, an denen die Politik nur eine Nebenrolle spielt und der Besucherdienst des Bundestages Besuchern aus aller Welt ein bestens organisierter Gastgeber ist. (sq)

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