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3. Untersuchungsausschuss


Mutmaßungen über ein Tätersextett statt Tätertrio beim NSU

Gestohlene Pistole der Polizistin Kiesewetter

Die gestohlene Pistole der ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter (dpa)

Bestand die rechte Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) nicht aus einem Trio, sondern womöglich aus einem Sextett an Tätern? Dieser Frage ging am Donnerstag, 20. Oktober 2016, der 3. Untersuchungsausschuss (NSU II) des Bundestages unter Vorsitz von Clemens Binninger (CDU/CSU) nach. 

Dazu befragte der Ausschuss mit den Zeugen Wolfgang Fink und Klaus Brand zwei Beamte des Landeskriminalamts Baden-Württemberg, die im Fall der durch den NSU ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter ermittelt hatten. Kiesewetter und ihr Kollege Martin Arnold waren am 25. April 2007 in ihrem Dienstwagen, den sie auf einem Parkplatz in Heilbronn geparkt hatten, mutmaßlich von den NSU-Mitgliedern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos überfallen worden.

Rätselhafter Mord an Michèle Kiesewetter

Die Täter schossen den zwei Polizisten aus kurzer Distanz in den Kopf und raubten anschließend unter anderem die Dienstwaffen der beiden Beamten. Kiesewetter war sofort tot, sie ist das wohl letzte Opfer in der NSU-Mordserie. Arnold überlebte den Angriff schwer verletzt. Der NSU wird beschuldigt, insgesamt zehn Menschen ermordet zu haben, darunter neben der Polizistin Kiesewetter neun türkisch- und griechischstämmige Kleinunternehmer. Außerdem werden dem NSU 15 Banküberfälle und drei Sprengstoffanschläge zur Last gelegt.

Besonders um den Mordfall Kiesewetter ranken sich weiterhin viele Rätsel. Nach wie vor gibt es keinen unmittelbaren Augenzeugen von der Tat. Mehrere Zeugen wollen aber bis zu sechs Tatverdächtige gesehen haben, die zum Teil blutverschmiert waren und Hals über Kopf vom Tatort geflüchtet sind. Für die Auswertung der Zeugenbefragung war damals der Zeuge Brand zuständig. Er hatte den Fall 2009 übernommen, nachdem bekannt geworden war, dass die Polizei aufgrund einer verunreinigten DNA-Spur jahrelang einer falschen Fährte nachgejagt hatte. In den Medien wurde die Ermittlungspanne als „Heilbronner Phantom“ bekannt.

„Glaubwürdige Zeugen“ 

Im Zentrum der Untersuchungen des NSU-Ausschusses steht unter anderem die Frage, ob Kiesewetter tatsächlich ein Zufallsopfer war oder ob die Täter nicht doch gezielt zuschlugen. Hierfür gingen die Abgeordneten mit dem Zeugen Brand noch einmal detailliert fünf Zeugenaussagen durch und versuchten den Tathergang zu rekonstruieren.

Die Zeugen seien alle glaubwürdig gewesen, auch wenn sie sich zum Teil erst Jahre später gemeldet hätten und in einigen zentralen Punkten – wie etwa bei der Beschreibung der Fluchtfahrzeuge und Täter – widersprochen hätten, sagte Brand. Das bestätige im Übrigen auch eine psychologische Beurteilung einiger Zeugen, ergänzte der Ausschussvorsitzende Binninger.

Motive für die Tat bis heute im Dunkeln

Füge man die Zeugenaussagen zusammen, komme man allerdings auf sechs Täter, sagte Brand. Auch wenn er sich dazu nicht explizit äußerte, scheint er weiterhin an dieser Hypothese festzuhalten. Auch der Ausschuss geht mittlerweile davon aus, dass die Haupttäter Böhnhardt und Mundlos wahrscheinlich mehrere Komplizen bei dem Mord in Heilbronn hatten. Die Generalbundesanwaltschaft, die die Anklage im NSU-Prozess in München führt, geht dagegen weiterhin von den lediglich zwei Tätern aus.

Über die Hypothese eines Täter-Sextetts sind die Ermittler allerdings nie hinausgekommen. Genauso bleiben die Motive für die Tat bis heute im Dunkeln. Vieles spreche dafür, dass die Täter durchaus gezielt Polizisten ermorden wollten, sagte Brand. Er sei aber ebenso davon überzeugt, dass Kiesewetter und Arnold Zufallsopfer waren.

740.000 Datensätze erfasst

Gründe dafür führte er gleich mehrere an: Der Parkplatz, wo Kiesewetter erschossen wurde, ist ein beliebter Pausenplatz der örtlichen Polizei. Zudem war Kiesewetter nur zufällig dort. Sie hielt sich überhaupt nur im Rahmen eines Sondereinsatzes in Heilbronn auf und hatte erst wenige Tage zuvor die Einsatzschicht mit einem Kollegen getauscht.

Vor Brand hatte der Ausschuss bereits den Zeugen Fink befragt, der unter anderem mit der Auswertung der örtlichen Mobilfunkzellen rund um den Tatort befasst war. 740.000 Datensätze seien damals erfasst worden, davon seien 540.000 Datensätze in die Ermittlungen eingeflossen, stellte Fink fest.

Kein entscheidender Durchbruch bei den Mordermittlungen

Die riesige Datenmenge umfasse jedes Telefonat und jede SMS, die um den Tatzeitpunkt herum in dem untersuchten Funkzellenbereich abgesendet oder empfangen worden seien. Laut Fink ergab die Auswertung zwar zahlreiche Hinweise, aber keinen entscheidenden Durchbruch bei den Mordermittlungen. Eine Kommunikation der Täter per Handy habe man nicht entdecken können.

Der Grund dafür könne sein, mutmaßte der Obmann Armin Schuster (CDU/CSU), das man bei der Datenanalyse stets nur vom Szenario einer spontanen Tat ausgegangen sei. „Sie haben jetzt jahrelang erfolglos mit der These ,Zufallstat' ermittelt und ich frage, wurde das Szenario ,geplante Tat' ebenso professionell geprüft?“, hakte Schuster nach.

Weitere Versäumnisse

Fink bestätigte, dass das nicht der Fall gewesen sei und dass man dann wahrscheinlich andere Parameter abgefragt hätte. Man habe zunächst nur nach Nummern von aktenkundigen Straftätern gesucht. Auch habe man die Verbindungsdaten vom Nachmittag nicht mit denen vom Vormittag abgeglichen. Es sei durchaus nicht auszuschließen, dass die Täter den Tatort am Vormittag ausgekundschaftet und dann am Nachmittag zugeschlagen haben, äußerte Obfrau Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen). Solche möglichen Kreuzverbindungen habe man aber nie geprüft.

Der Vorsitzende Binninger stellte zudem weitere Versäumnisse fest. So habe Kiesewetter kurz vor Ihrem Tod sieben SMS erhalten. Als Absender sei jedes Mal die SMS-Zentrale des Netzbetreibers vermerkt. Dieser Umstand sei äußerst ungewöhnlich und bis heute nicht zufriedenstellend aufgeklärt worden. Zudem habe man nach dem 4. November 2011, nachdem der NSU enttarnt worden war, die Datensätze zwar noch einmal mit den Handynummern von Böhnhardt, Mundlos und Beate Zschäpe abgeglichen, nicht aber mit den zahlreichen anderen Verdächtigen im NSU-Verbrechenskomplex. Der Ausschuss fordert nun – wie schon bei den offenen DNA-Spuren der NSU-Mordfälle – eine Generalrevision der Funkzellenauswertung.

Polizeiliche Ermittlungsarbeit „grob mangelhaft“ 

Die polizeiliche Ermittlungsarbeit zum Personenumfeld des NSU in Baden-Württemberg ist nach dem einhelligen Urteil des Ausschusses grob mangelhaft gewesen. Zudem erhoben Binninger wie auch die Obleute Petra Pau (Die Linke) und Irene Mihalic schwerwiegende Vorwürfe gegen das baden-württembergische Innenministerium.

Die sogenannte Ermittlungsgruppe „EG Umfeld“ des Landeskriminalamts (LKA), die 2013 vom ehemaligen Landesinnenminister Reinhold Gall (SPD) eingesetzt worden war, sei ein reiner „Papiertiger“ gewesen, urteilten die Abgeordneten. Die EG Umfeld sei schlichtweg nicht mit den nötigen Befugnissen ausgestattet worden, um die Bezüge des NSU nach Baden-Württemberg umfassend aufklären zu können.

Rund 500 Spuren zum NSU erneut untersucht

Schon länger befasst sich der Ausschuss mit der Frage, ob es womöglich ein bisher unbekanntes Unterstützernetzwerk des NSU in Baden-Württemberg gab. Nachweislich pflegte der NSU in dem Bundesland zahlreiche Bekanntschaften und reiste regelmäßig dorthin. Die NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos sollen außerdem im April 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn erschossen haben. Dieser mutmaßlich letzte Mord des Terrortrios wirft bis heute viele Fragen auf und ist einer der mysteriösesten Fälle im NSU-Verbrechenskomplex.

Als Zeugin befragte der Ausschuss unter anderem die ehemalige Leiterin der „EG Umfeld“, Heike Hißlinger. Hißlinger und ihre Kollegen ermittelten ein Jahr lang mit großem Aufwand nach möglichen NSU-Komplizen. Zeitweilig waren 40 Beamten für die EG im Einsatz, rund 500 Spuren zum NSU wurden erneut untersucht.

Konkrete Unterstützungshandlung nicht nachweisbar

Das Ergebnis war allerdings ernüchternd. Zwar wurden insgesamt 52 Personen identifiziert, die sowohl einen Bezug zum NSU als auch nach Baden-Württemberg hatten. Eine konkrete Unterstützungshandlung konnte aber keinem dieser Kontakte nachgewiesen werden. Auch neue Hinweise auf ein mögliches Unterstützernetzwerk oder aber dem NSU ähnliche Gruppierungen konnten die Ermittler in ihrem Abschlussbericht von 2014 nicht präsentieren.

Fragen hatte der Ausschuss insbesondere zu mehreren engen Bekanntschaften des NSU in Ludwigsburg. Laut einer Zeugin seien Böhnhardt, Mundlos und Beate Zschäpe zwischen 1993 und 1996 regelmäßig in Ludwigsburg aufgetaucht, um etwa an Rechtsrock-Konzerten oder Saufgelagen im Keller eines gemeinsamen Freundes teilzunehmen, teilte Hißlinger mit. Neu waren diese Informationen nicht.

Enges Vertrauensverhältnis zu Ludwigsburger Neonazis

Anderen Quellen zufolge haben die Besuche sogar noch bis ins Jahr 2001 stattgefunden, als der NSU bereits drei Jahre lang untergetaucht war und seine ersten Morde begangen hatte. Wahrscheinlich scheint auch, dass die Ludwigsburger Bekanntschaften in die Taten eingeweiht waren und den NSU zumindest passiv deckten. Warum das Trio ein so enges Vertrauensverhältnis zu den Ludwigsburger Neonazis hatte, konnte Hißlinger wiederum nicht beantworten.

Auch über mögliche Verbindungen des NSU zu anderen rassistischen Gruppierungen wie dem Ku-Klux-Klan (KKK) konnte Hißlinger nichts Neues erzählen. Im Zuge ihrer Ermittlungen hatte die EG Umfeld gleich mehrere KKK-Ableger in Baden-Württemberg aufgedeckt, zu deren Mitgliedern auch fünf Polizeibeamte des LKA gehörten. Einer dieser Polizisten war der Gruppenleiter der später ermordeten Michèle Kiesewetter.

Mindestens eine Kontaktperson ein gewaltbereiter Neonazi

Auch der im NSU-Komplex bereits oft genannte V-Mann Thomas Richter alias „Corelli“ gehörte zeitweilig einem der Klans an. Verbindungen dieser Gruppen zum NSU konnte die EG Umfeld trotz allem nicht finden. Als Leiterin der EG habe sie zwar den Auftrag gegeben, alle bekannten Klanmitglieder noch einmal zum NSU zu befragen, gab Hißlinger an. Ob das auch im Falle der fünf Kollegen geschehen sei, habe sie dann aber nicht mehr eigens nachgeprüft.

Angesichts der jüngsten Vorkommnisse im bayerischen Georgensgmünd, wo am 19. Oktober 2016 ein rechtsextremer „Reichsbürger“ einen Polizisten erschossen hatte, fragten die Ausschussmitglieder nach möglichen Waffenbeschaffern für den NSU in Baden-Württemberg. Dazu habe die EG Umfeld nicht ermittelt, antwortete Hißlinger. Der EG-Abschlussbericht hält aber fest: Mindestens bei einer Kontaktperson handelt es sich um einen gewaltbereiten Neonazi, der Waffen hortet.

Offene Fragen zum Thema Waffenhandel im NSU-Umfeld

Was denn mit dieser Erkenntnis gemacht wurde, wollte die Abgeordnete Pau wissen. Hißlingers Antwort: Die Information sei zwar an die zuständige Waffenbehörde weitergeleitet worden, diese sei aber zu dem Ergebnis gekommen, dass es keine Möglichkeit gebe, dem Mann seinen Waffenschein zu entziehen.

Pau zeigte sich entsetzt: Was müsse denn noch alles passieren, damit einer solchen Person die Waffen weggenommen werden könnten. Beim Thema Waffenhandel im NSU-Umfeld gebe es durchaus noch offene Fragen, gab Hißlinger zu. Weitere Ermittlungen dazu führe aktuell das LKA in enger Absprache mit dem Bundeskriminalamt (BKA). Ein Ergebnis stehe allerdings noch aus.

Fragen zu Kontaktpersonen des NSU

Zufrieden zeigte sich Hißlinger im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit dem baden-württembergischen Verfassungsschutz (LfV). Die Kommunikation zwischen den beiden Behörden – und insbesondere mit der Abteilung „Rechtsextremismus“ – sei sehr kooperativ verlaufen. Das bestätigte auch der zuständige LfV-Mitarbeiter C.O., der im Anschluss als Zeuge vernommen wurde.

Die stellvertretende Ausschussvorsitzende Susann Rüthrich und Obmann Uli Grötsch (beide SPD) befragten C.O. detailliert zu einzelnen Kontaktpersonen des NSU. Der Zeuge konnte lediglich feststellen, was zuvor schon die Zeugin Hißlinger konstatiert hatte: Keine der Landesbehörden wusste vor 2011 vom NSU und seinen Bezügen nach Baden-Württemberg.

„Eine EG Umfeld 2.0 wäre jetzt die wichtigste Entscheidung“

Obmann Armin Schuster (CDU/CSU) wollte von C.O. wissen, warum der NSU in Baden-Württemberg so viele Kontakte wie in kein anderes Bundesland hatte und warum das nicht früher aufgefallen sei. „Leider können wir keinen Grund nennen“, antwortete der Zeuge. Dieses ernüchternde Fazit veranlasste Schuster zu der Aussage: „Eine EG Umfeld 2.0 wäre jetzt die wichtigste Entscheidung, die man in Baden-Württemberg treffen könnte.“

Der 3. Untersuchungsausschuss soll offene Fragen zur Arbeit der staatlichen Behörden bei den Ermittlungen im Umfeld der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) klären und Handlungsempfehlungen erarbeiten. (fza/21.10.2016)

Liste der geladenen Zeugen

  • Heike Hißlinger, Landeskriminalamt Baden-Württemberg
  • C.O., Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg
  • Wolfgang Fink, Landeskriminalamt Baden-Württemberg
  • Klaus Brand, Landeskriminalamt Baden-Württemberg

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