Parlament

Vor 60 Jahren: Bundestag beschließt die Rentenreform

Auszahlung der Rente auf dem Hauptpostamt Bonn. Rentenzahlung 1957

Rentenauszahlung im Bonner Hauptpostamt 1957 (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Vor sechzig Jahren, am 21. Januar 1957, beschloss der Bundestag nach einem viertägigen Redemarathon mit großer Mehrheit die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. Der dritten Lesung, die sich über 15 Stunden erstreckte, war eine drei Tage währende zweite Lesung vorangegangen. Einen Monat zuvor, am 21. Dezember 1956, hatte der sozialpolitische Ausschuss des Bundestages nach 42 Sitzungstagen in insgesamt 190 Stunden seine Arbeit am Reformpaket beendet.

Die Reform wurde mit den Stimmen der Regierungskoalition von CDU/CSU, der Freien Volkspartei (FVP), dem Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) und der oppositionellen SPD gegen die Stimmen der FDP angenommen. Neben Bundeswirtschaftsminister Prof. Dr. Ludwig Erhard enthielt sich auch die überwiegende Zahl der Abgeordneten der ebenfalls der Regierungskoalition angehörenden Deutschen Partei (DP).

60 bis 80 D-Mark für den Durchschnittsrentner

Das Gesetz über die Neuregelung der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten sollte den Lebensstandard von Millionen Rentnern heben. Sie hatten vom beginnenden Wirtschaftswunder bis dahin kaum profitiert. Mitte der 1950er-Jahre lag das mittlere Monatsgehalt bei etwa 350 D-Mark. Ein Durchschnittsrentner musste mit 60 bis 80 D-Mark über die Runden kommen.

Nachdem man die Wirtschaft gefördert, Steuerermäßigungen beschlossen und Milliarden für die Aufrüstung ausgegeben habe, sollten „die alten Leute an der Hebung des Lebensstandards teilnehmen“, hatte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer in der Kabinettssitzung am 17. Oktober 1956 erklärt. Gleichzeitig wollte er so seiner Partei den Sieg bei der bevorstehenden Bundestagswahl 1957 sichern.

Rente als echte Lohnersatzleistung

Mit der Reform wurde die gesetzliche Altersvorsorge auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Die Renten sollten nicht mehr, wie im bisherigen bismarckschen Rentensystem, selbst angespart werden und nur einen Zuschuss gegen Altersarmut darstellen, sondern eine echte Lohnersatzleistung sein. Inflation und Krieg hatten den Kapitalstock der Rentenversicherung zweimal weitgehend vernichtet. Der Aufbau neuer Ersparnisse hätte zu lange gedauert um die Kriegsgeneration angemessen zu versorgen.

Grundlegend für das neue Rentenrecht war deshalb die Idee des „Generationenvertrages“, wonach die Jüngeren mit ihren Beiträgen während ihres Arbeitslebens die früher erworbenen Rentenansprüche der Alten finanzieren. Gleichzeitig wurde die Höhe der Rentenansprüche an die Entwicklung der Löhne und Gehälter gebunden (sogenannte Dynamisierung der Rente).

Widerstand gegen den „Schreiber-Plan“ 

Den entscheidenden Anstoß zu dieser Rentenreform hatte die Ausarbeitung „Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft“ des Wirtschafts- und Sozialdozenten der Universität Bonn und Geschäftsführers des Bundes Katholischer Unternehmer Wilfried Schreiber gegeben.

Adenauer selbst hatte sich für den „Schreiber-Plan“ stark gemacht und gegen den beharrlichen Widerstand seiner beiden wichtigsten Kabinettsmitglieder, Finanzminister Fritz Schäffer (CSU) und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard durchgesetzt, dass der Generationenvertrag und die Dynamisierung der Renten zur wesentlichen Grundlage der Rentengesetzgebung wurden. Zeitungen berichteten sogar von einem „Rentenkrieg“ zwischen dem Bundeskanzler und seinem Wirtschaftsminister, der seine Kritik an der Reform auch immer wieder öffentlich äußerte.

„Hier liegt ein wahrlich tragischer Irrtum vor“

Der Vater der Sozialen Marktwirtschaft sah in der Rentenreform eine gefährliche Entwicklung zum Versorgungsstaat. „Die Blindheit und intellektuelle Fahrlässigkeit, mit der wir auf den Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat zusteuern, kann nur zu unserem Unheil ausschlagen. Hier liegt ein wahrlich tragischer Irrtum vor, denn man will nicht erkennen, dass wirtschaftlicher Fortschritt und leistungsmäßig fundierter Wohlstand mit einem System umfassender kollektiver Sicherheit auf Dauer gänzlich unvereinbar sind.“

Finanzminister Schäffer verfolgte im Gegensatz zu dem von Adenauer unterstützten Ziel, die Rente vom „Zuschuss zum Lebensunterhalt“ zum „Lohnersatz“ zu machen, die Absicht, die Bedürftigkeit zum Maßstab zu machen. Auch wollte er erreichen, dass der damals schon für die Jahre 1965 bis 1980 prognostizierte „Rentenberg“ in den Rechnungen berücksichtigt würde. Gemeinsam kritisierten Erhard wie Schäffer vor allem die automatische Ankopplung der Renten an die Löhne, da automatische Einkommenserhöhungen Inflation bedeuten würden.

Teilhabe am „echten Produktivitätszuwachs“

Rentner sollten deshalb nur an dem „echten Produktivitätszuwachs“ teilhaben. Die Einführung einer dynamisierten Rente in Verbindung mit einem Umlageverfahren, ohne Kapitaldeckung, hielten beide auch deshalb für gefährlich, weil sie eine konstant wachsende Bevölkerungszahl voraussetzte. „Kinder kriegen die Leute immer“ soll Adenauer gegen diese Bedenken vorgebracht haben.

In der Debatte zur Einbringung des Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag am 27. Juni 1956 erläuterte Bundesarbeitsminister Anton Storch die Reform: Die neue Rentenformel gehe von dem Gedanken aus, dass das Einkommen des Einzelnen seinen Beitrag zur Erstellung des Sozialprodukts der jeweiligen Periode zum Ausdruck bringe.

„Stärkung und Wiederherstellung der Würde des Alters“

Die Sicherstellung des einmal erworbenen Lebensstandards sei nicht ein Akt der Barmherzigkeit seitens der jeweils Erwerbstätigen oder gar des Staates, sondern die Erfüllung einer geschuldeten Pflicht und der Ausdruck einer von den Umständen begründeten Solidarität zwischen den Generationen. Die Menschen sollten mit dem Bewusstsein aus dem Arbeitsleben ausscheiden, den Lebensunterhalt selbst verdient zu haben, erklärte der Minister.

Es sei für den Versicherten wertvoll, die rechnungsmäßige Beziehung zwischen seinem Beitragsaufkommen und der Rentenleistung klar zu übersehen. Hierin liege für die Versicherten auch die Sicherheit, dass der Rechtsanspruch auf Rente unangefochten bleibt, sodass hier niemals eine Bedürftigkeitsprüfung eingeschaltet werden könne. Das würde zur Stärkung und Wiederherstellung der Würde des Alters im Rahmen der Gesamtgesellschaft beitragen. Auch die Versicherten würde eine Beitragshöhe als gerecht empfinden, die eine auskömmliche Rente verspreche und finanziere.

Dreitägige zweite Lesung

Kaum eine Gesetzesvorlage hatte das Interesse der Öffentlichkeit in einem solchen Maß beansprucht. Dem wichtigsten innenpolitischen Vorhaben der Regierung war, wie es die Presse nannte, eine regelrechte „Rentenschlacht“ vorangegangen. Drei Tage dauerte die ursprünglich auf zwei Tage angesetzte zweite Lesung, in der es nicht nur um die Diskussion zahlreicher Details ging, sondern, wie der CDU-Abgeordnete Peter Horn kritisierte, „das, was sich in diesem Hause seit dem vergangenen Mittwoch an Diskussionen abgespielt hat“. Und das sei nicht ausschließlich eine rein auf die Sache abgestellte Diskussion gewesen.

Der Vorsitzende des Fraktionsarbeitskreises für Sozialfragen erinnerte sich dabei eventuell an die Diskussion um die Frage, wem wohl der größere Anteil an dieser Reform zu verdanken sei – die von Union und SPD so ausgiebig debattiert worden war.

Lapsus bei der Abstimmung

Selbst der Kanzler sah sich in dieser Frage genötigt das Wort zu ergreifen: „Dr. Schreiber hat den Ihnen bekannten Vorschlag gemacht. Der Vorschlag ist dann in dem Sozialausschuss des Kabinetts unter meinem Vorsitz diskutiert worden. In dieser Sitzung des Sozialausschusses des Kabinetts ist nach langer Überlegung schließlich mit Zustimmung des Herrn Dr. Schreiber diese sogenannte Produktivitätsrente so herausgekommen, wie sie Ihnen heute vorgelegt wird.“

Auch die Details der in den Beratungen des Bundestages in zwei Gesetze — nach Arbeitern und Angestellten getrennt — zerlegte Rentenreform und zahlreichen Änderungsanträgen verstanden wohl nur noch die Experten des zuständigen sozialpolitischen Ausschusses. Und nicht einmal die, wie eine Abstimmungspanne bei der Unionsfraktion am letzten Tag der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs zeigte — sehr zur Verwunderung des Ausschusssachverständigen der SPD, Prof. Dr. Ernst Schellenberg, und anderer Mitglieder seiner Fraktion. Ganz gegen ihre Gewohnheit hatten die Unionspolitiker für einen Änderungsantrag der sozialdemokratischen Fraktion gestimmt. Ein Lapsus, der in der dritten Lesung durch einen Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion wieder korrigiert wurde.

„Nette und ordentliche Angelegenheit“

Zur Begründung des Änderungsantrages erklärte Peter Horn, selbst Mitglied des sozialpolitischen Ausschusses: Wenn aufgrund einer gewissen Unruhe im letzten Teil der Beratungen und Abstimmungen der zweiten Lesung nicht alle Aufrufe verständlich gewesen seien, könne es auch schon einmal vorkommen, dass ein Lapsus passiere. In diesem Falle sei es so, dass „ein erheblicher Teil meiner Freunde, darunter auch ich, aus Irrtum — weil wir der Meinung waren, der Herr Präsident ließe bereits über den Paragraphen in der Ausschussfassung abstimmen — für den Änderungsantrag der sozialdemokratischen Fraktion gestimmt hat“.

Und weiter: „Sie lachen darüber, meine Damen und Herren. Aber es ist doch eine durchaus nette und ordentliche Angelegenheit, wenn man so einen Irrtum auch offen eingesteht. Dann hat man auch die Verpflichtung der Wiedergutmachung, und die wollen wir jetzt durch unseren Änderungsantrag leisten.“

„Viele Mängel und Ungerechtigkeiten“

Trotz heftiger Auseinandersetzungen im Verlaufe der viertägigen Diskussion stimmten die Sozialdemokraten, die, anders als nun umgesetzt, unter anderem für eine Einbeziehung aller Berufstätigen in die Rentenversicherung eingetreten waren, am Ende für das Reformpaket.

Der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer erklärte für seine Fraktion im Bundestag: „Die jetzt zur Schlussabstimmung stehenden Gesetze enthalten leider viele Mängel und Ungerechtigkeiten. Dennoch werden sie die Lebenslage der alten und berufsunfähigen Menschen in unserem Volk verbessern. Die sozialdemokratische Fraktion wird deshalb den Gesetzen ihre Zustimmung geben.“

„Vor Experimenten hüten“

Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erklärte ihr Vorsitzender Dr. Heinrich Krone: Das Ja zur Rentenreform sei eine tiefgreifende und für den sozialen Neuaufbau unseres Volkes bedeutsame Entscheidung. Gleichzeitig appellierte er an die Abgeordneten: „Ohne die Stabilität der Wirtschaft bedeutet jede Sozialreform auf die Dauer eine Bedrohung der sozialen Sicherheit. Wo die Sozialpolitik den Boden wirtschaftlicher Sicherheit verlässt, geht jede Sozialreform einen gefährlichen Weg. Wir haben alle Ursache, uns auch auf diesem Gebiet vor Experimenten zu hüten.“

Vor Experimenten hüten, wollte sich auch die FDP in dem sie einem unvollkommenen Gesetz, das in Bälde Abänderungen und Ergänzungen notwendig mache, von vornherein nicht zustimmte. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dr. Max Becker betonte: „Wir Freien Demokraten waren und sind gewillt, den Rentnern nachdrücklich zu helfen. Wir sehen uns jedoch nicht in der Lage, diesem, dem früheren guten Ruf der deutschen Sozialversicherung in der Welt abträglichen Gesetz unsere Zustimmung zu geben.“

32 Gegenstimmen, zehn Enthaltungen

Am Ende sprachen sich von 439 Abgeordneten 397 für die Reform aus. Mit Nein stimmten 32 Abgeordnete, zehn enthielten sich der Stimme. Von den 16 Berliner Abgeordneten stimmte lediglich die FDP-Abgeordnete Dr. Dr. h.c. Marie-Elisabeth Lüders gegen das Reformpaket. Nachdem am 8. Februar 1957 auch der Bundesrat der Rentenreform zugestimmt hatte, trat die Rentenreform rückwirkend zum 1. Januar in Kraft und bescherte den Rentnern, einen Einkommenszuwachs von durchschnittlich über 60 Prozent.

Adenauers Kalkül ging auf. Die Rentenerhöhung führte für die Unionsparteien zum Wahlerfolg. Bei der Wahl zum dritten Deutschen Bundestag am 15. September 1957 erzielten die Unionsparteien zum ersten und bislang einzigen Mal die absolute Mehrheit der Stimmen. (klz/16.01.2017)

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