Parlament

Experten: Verfassungs­gefüge befindet sich in stän­digem Wandel

Abbildung des Kopfes des Bundesadlers im Plenarsaal des Bundestages

Wissenschaftler und Parlamentarier haben jüngst über aktuelle Forschung und Lösungsansätze auf einem „Konvent zur Zukunft der Parlamente“ diskutiert. (DBT/Studio Kohlmeier)

Politische Streitfragen übergeben Abgeordnete des Bundestages immer wieder dem Bundesverfassungsgericht zur rechtlichen Prüfung. Gesetzesinitiativen gehen zu einem beträchtlichen Teil von der Bundesregierung aus, statt vom Parlament. Und externe Expertise nimmt im Gesetzgebungsverfahren einen immer höheren Stellenwert ein. Die neuen Medien, selbstbewusste Bürger sowie die Fülle komplexer, globaler Themen und Trends – all diese Faktoren stellen für das Parlament eine wachsende Herausforderung dar. Zudem leidet in Zeiten einer übermächtigen großen Koalition die Debattenkultur.

Machtverlust des Bundestages?

Immer mehr Bereiche scheinen dem gestalterischen Zugriff des Parlaments zu entgleiten, ja überlässt das Parlament, ob notgedrungen oder bereitwillig, konkurrierenden Akteuren der Exekutive und der Rechtsprechung, Fachleuten oder einer sich rasant verändernden Medienwelt und Öffentlichkeit. Wird der Handlungsspielraum des Parlaments enger? Verliert der Bundestag innerhalb des Verfassungssystems an Macht?

Wissenschaftler der Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer haben eine Reihe von Herausforderungen für den Parlamentarismus und die Arbeit des Deutschen Bundestages ausgemacht, die diesen Trend bestätigen. Ihre aktuellen Forschungen und Lösungsansätze diskutierten sie jüngst auf einem „Konvent zur Zukunft der Parlamente“ in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundestag. Hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Themen und Thesen der zweitägigen Veranstaltung.

Die Verfassung muss laufend weiterentwickelt werden

„Seit 1949 leben wir in einer sehr gut funktionierenden parlamentarischen Demokratie, einer außerdem international vielfach beneideten politischen Ordnung“, erinnerte Prof. Dr. Joachim Wieland, Rektor der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, stellte aber gleichzeitig fest: „Wir müssen immer wieder prüfen, ob der geltende verfassungsmäßige Rahmen noch zeitgemäß ist.“

Wieland unterstrich dabei die besondere Stellung des Parlaments im politischen System der Bundesrepublik, da es – im Unterschied zu allen anderen Verfassungsorganen – seine Macht entsprechend Artikel 20 des Grundgesetzes („Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“) durch Wahl direkt von den Bürgern ableitet.

Spannungen im Machtgefüge

Das Verfassungsgefüge befindet sich in ständigem Wandel. Zu den Veränderungen in dem ursprünglich erdachten System des institutionellen Gleichgewichts gehört laut Wieland eine schleichende Machtverschiebung, weg vom Bundestag, hin zu Regierung und Bundesverfassungsgericht. Angetrieben wird diese Entwicklung einerseits durch die Politik selbst, und andererseits durch die Leistungsfähigkeit und das hohe Ansehen des Gerichts.

Die Experten sind sich einig, dass das Parlament seine Rolle im Verfassungssystem nicht so optimal ausfüllt, wie es dem Gedanken der Verfassung entsprechen würde. Wer eigentlich trifft also die politischen Entscheidungen im Land, lautete eine Arbeitsfrage der Tagung.

Über 90 Prozent der Gesetzesvorhaben von der Regierung

Vor allem in Zeiten einer großen Koalition gehen wesentliche politische Impulse und ein Großteil der gesetzgeberischen Arbeit von der Regierung und ihrer übergroßen Mehrheit im Parlament aus. So initiiert die Bundesregierung über 90 Prozent der Gesetzesvorhaben. Ebenso fällen die Regierungspartner auf Parteiebene im Koalitionsausschuss wesentliche politische Entscheidungen, die sie dann im Parlament lediglich formal umsetzen.

Die Dominanz der übergroßen Regierungsmehrheit in der 18. Wahlperiode im Parlament bereitet auch Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert Sorgen, der für einen Gedankenaustausch zu der Tagung stieß. Eine der wesentlichen Gefahren für den Bundestag bestehe darin, lediglich zu einer Hilfstruppe der Regierung zu werden und darüber die wichtigste Aufgabe zu vernachlässigen, nämlich die Regierung zu kontrollieren, sagte er. Diese Aufgabe komme im Übrigen nicht nur der Opposition zu, sondern gehöre zum Selbstverständnis eines jeden Abgeordneten, gerade in Zeiten einer Großen Koalition. Andererseits müsse die Parlamentsmehrheit der Regierung das Regieren ermöglichen. „Die Mehrheit muss die Regierungsarbeit konstruktiv begleiten. Die meisten Abgeordneten gehen aber heute in diesem Rollenverständnis zu stark auf“, sagte der Bundestagspräsident.

Ansgar Heveling (CDU/CSU), Vorsitzender des Innenausschusses und Gastgeber der Tagung, unterstrich den Eindruck, dass die Dinge in Bewegung seien: „Die Zusammenarbeit von Parlament und Regierung bedarf einer ständigen Neujustierung“, so der Politiker.

Politischer Handlungsdruck stärkt die Exekutive

Wie akuter politischer Handlungsdruck zu einer Stärkung der Exekutive auf Kosten des Parlaments beitragen kann, illustrierte Prof. Dr. Constanze Janda am Beispiel der Flüchtlingskrise. So waren in der 18. Wahlperiode angesichts der Flüchtlingsströme etwa 40 Gesetzentwürfe zur Verschärfung des Asylrechts auf den Weg gebracht, und beim Bundeskanzleramt die Stabsstelle Flüchtlinge eingerichtet worden. „Wir schaffen das“ wurde zum Mantra der Verantwortlichen und zum geflügelten Wort, der überwiegende Teil der Gesetzesvorhaben zu diesem Thema ging auf die Bundesregierung zurück. Aber nicht nur angesichts von Krisensituationen und neuen Handlungsfeldern gerät das Parlament nach Ansicht der Verfassungsjuristen und Verwaltungsexperten gegenüber der Exekutive ins Hintertreffen. So ist es bei internationalen Verträgen gängige Praxis, dass die Verträge von der Regierung ausgehandelt und dem Parlament schließlich zur Ratifizierung vorgelegt werden.

Es ist eine Frage, die das Selbstverständnis des Parlaments und seine Funktion als Verfassungsorgan betrifft, inwieweit die Volksvertretung die Dinge in solchen Bereichen mitgestalten, anstatt lediglich über vorgefertigte Inhalte abstimmen will. Wie sehr unser parlamentarisches System von der Exekutive bestimmt wird, betonte auch Ansgar Heveling: „Die Regierung ist immer in der Vorhand.“ Ihrer Analyse schickten die Speyerer Wissenschaftler die Aufforderung an die Abgeordneten hinterher, der Bundestag solle sich die relevanten Fragestellungen in Staat und Gesellschaft, in denen gesetzlicher Regelungsbedarf besteht, offensiver zu eigen zu machen. „Die herausgehobene Stellung des Parlaments bedeutet, dass das Parlament diese Rolle auch annehmen muss“, sagte Wieland.

Konkurrenz durch das Bundesverfassungsgericht

Neben der Regierung ist das Bundesverfassungsgericht der zweite mächtige Mitspieler des Parlaments im Verfassungsgefüge. Die Karlsruher Richter zeigen der gesetzgeberischen Tätigkeit des Bundestages immer mal wieder die Grenzen auf – sei es aus eigener Initiative, oder, weil die Politik ihre Entscheidungen rechtlich prüfen lassen will. „Es gibt Gesetze, über deren Gültigkeit nur noch durch Prüfung in Karlsruhe entschieden wird“, sagte Wieland.

Äußert sich das Bundesverfassungsgericht zu einem Gesetzesvorhaben oder korrigiert dieses gar, dann hat es als oberster Wächter über die grundlegenden staatlichen Spielregeln das letzte Wort – das Parlament als höchstes, direkt durch den Wählerwillen legitimiertes Verfassungsorgan hingegen nur das vorletzte. Ist das zu viel Macht für das Bundesverfassungsgericht? Wo wird juristisches Gebiet verlassen und politisches betreten? Wo ist die Grenze zu einem Staat der Richter?

Zumindest stelle es ein Problem für ein selbstbewusstes Parlament wie den Bundestag dar, dass ihm Grenzen durch ein anderes Organ gesetzt werden, war sich Konvents-Runde einig. Es gebe zudem zu denken, dass ein nur indirekt demokratisch legitimiertes Verfassungsorgan Bundestagsbeschlüsse aufheben oder gar für verfassungswidrig erklären kann. Die Verfassungsrichter werden in Deutschland zu je 50 Prozent von Bundestag und Bundesrat gewählt.

Angesichts dieser institutionellen Machtverschiebung mahnte Wieland: „Der Bundestag darf nicht zu viel Gestaltungsmacht an Exekutive und Jurisdiktion abgeben.“ Er erinnerte aber auch daran, dass das Gericht anderen Organen nicht nur Grenzen setzt, sondern den Bundestag auch gestärkt habe, beispielsweise beim Beschluss zur Parlamentsarmee. Und er forderte den Bundestag auf, seinen politischen Gestaltungsauftrag in die Hand zu nehmen. „Nicht sämtliche Gerichtsentscheidungen seit den Gründungsjahren der Bundesrepublik sind für alle Zeiten in Stein gemeißelt.“

Hausgemachte strukturelle Probleme

Als weitere strukturelle Probleme für die Parlamente identifizierte der Konvent die starke Rolle der Parteien, Fraktionen und Koalitionen, insbesondere wenn diese besonders große Mehrheiten auf sich vereinigen, wie bei Bildung einer Großen Koalition. Welches Gewicht hat dann noch der einzelne Abgeordnete?

Auch die Problematik der langjährigen Profi-Politiker wurde angesprochen, die als „Berufspolitiker“ an Ansehen eingebüßt haben und somit auch keine geeigneten Botschafter des Parlamentarismus sein können. Allerdings: Newcomer und Quereinsteiger, die unverbrauchter wirken und in der Öffentlichkeit vielleicht besser ankommen, benötigen zunächst viel Zeit, um sich einzuarbeiten, was den Betrieb verlangsamt und das Parlament dadurch ebenso an Gestaltungsmacht einbüßen lässt.

Evaluierungsressourcen erhalten und vergrößern

Und schließlich sei es problematisch, dass der Bundestag sich bei seiner gesetzgeberischen Arbeit immer mehr auf externe Experten stütze, ja dass sich eine gar ein Trend dazu abzeichne, Expertise eins zu eins von Experten übernehmen. Dies sei der falsche Weg und dürfe nicht überhand nehmen, so die Teilnehmer der Runde. Der Bundestag müsse seine eigenen Evaluierungsressourcen erhalten und sogar noch vergrößern.

Das unterstrich Prof. Dr. Gisela Färber anhand der bereits jahrzehntealten in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft geführten Debatten über die demographische Entwicklung. Der Bereich stehe beispielhaft dafür, wie schwierig Prognosen seien, wie sehr sich auch Fachleute irren können, und wie vorsichtig man sein sollte, deren Expertise eins zu eins zu übernehmen, mahnte Färber. So hätten deren Katastrophenszenarien bereits in eine Bundestagsdrucksache von 1986 Eingang gefunden – eingetreten aber sei die Katastrophe nicht.

Schwächt direkte Demokratie den Parlamentarismus?

Inwieweit auch Elemente direkter Demokratie das Handlungsfeld der Parlamente einengen können, gehörte ebenfalls zu den intensiv diskutierten Fragen der Speyerer Wissenschaftler und ihrer Tagungsgäste.

Eine immer aktivere Bürgergesellschaft, angetrieben durch Digitalisierung und neue Medien, erachtet es mittlerweile als selbstverständlich, auf direktem, schnellem Weg per Referendum über alle möglichen Fragen des Gemeinwesens abzustimmen – und damit in Konkurrenz zum gewählten, repräsentativen Gesetzgeber zu treten. Auch Regierungen befragen gerne die Bürger. Die Bandbreite der Themen reicht vom Bau eines Schwimmbades oder einer Umgehungsstraße bis hin zu der Frage, ob ein Land in der EU bleiben oder die Gemeinschaft verlassen soll.

Die Erfahrungen mit Volksabstimmungen sind in den einzelnen Ländern ganz unterschiedlich. So sind Volksentscheide in der Schweiz als Teil des nationalen Verfassungsrechts fester Bestandteil der politischen Kultur. In Deutschland gibt es Volksabstimmungen auf kommunaler und Landesebene. Und immer wieder wird gefordert, Referenden auch auf Bundesebene einzuführen.

Bedeutet diese direkte Kommunikation zwischen Bürgern und Regierung, an den gewählten Abgeordneten vorbei, nicht eine Schwächung des Parlamentarismus, fragte sich die Expertenrunde, ohne auf die Vor- und Nachteile von Referenden zur Entscheidung von Sachfragen an sich einzugehen.

Prof. Dr. Hermann Hill, Inhaber des Lehrstuhls für Verwaltungswissenschaft und Öffentliches Recht an der Uni Speyer, schlug vor allem im Blick auf die Bundesebene vor, lieber bestehende Instrumente der Bürgerbeteiligung wie das Petitionsrecht und Möglichkeiten der Online-Partizipation auszubauen.

Die Gefahr populistischen Missbrauchs sei bei Volksbefragungen zu hoch. Ihre Initiatoren suggerierten allzu oft, die Bürger könnten mit ihrer Stimme auch in komplexen Sachfragen schnell eine einfache Lösung herbeiführen. Der meist zeitaufwendige Prozess der Kompromissfindung im Parlament, der zum Wesen der Demokratie gehöre, werde durch Elemente direkter Bürgerbeteiligung ausgehebelt, ja die parlamentarische Form der Demokratie ein Stück weit delegitimiert.

Allgemeine Beschleunigung, Digitalisierung, große Problemlagen

In schwieriges Fahrwasser ist die Traditionsinstitution Parlament nach Einschätzung der Speyerer Wissenschaftler auch durch eine allgemeine Beschleunigung, angefacht durch die Digitalisierung, und durch eine Vielzahl gleichzeitig auftretender, teils neuer, großer Problemlagen geraten, die entsprechendes Knowhow und rasches Handeln erfordern. Beispiele dafür sind das Phänomen der Falschnachrichten oder die Flüchtlingskrise.

Hermann Hill arbeitete in seinem Konferenzbeitrag heraus, wie sehr sich der Parlamentsbetrieb heute zwischen Gestalten-wollen und Getrieben-sein abspielt, und die neuen Themen Auswirkungen auf Form und Performance der Parlamentsarbeit haben. Bürger wie Entscheidungsträger sähen sich mit einer nie dagewesenen Informationsfülle und Komplexität der Zusammenhänge konfrontiert. Bislang gültige Gewissheiten würden überrollt von einer Fülle schwer zu kalkulierender Trends und Ereignisse. Die verbreitete These von der Überforderung der Institutionen treffe durchaus zu.

Digitalisierung wirkt auf Gesellschaft und Politik ein

Wie sich die Digitalisierung auf die Gesellschaft und Politik auswirkt, darauf ging auch Norbert Lammert ein. Insbesondere die Nutzung der sozialen Medien würde die politische Urteilsbildung der Gesellschaft stark verändern, eine Entwicklung, die man jetzt schon in der jungen Generation beobachten könne – und dies nicht ohne Sorge. Eine komplett andere Art der Mediennutzung habe sich im Zuge der Internetnutzung als Unterhaltungs- und Nachrichtenquelle eingestellt. Vor allem junge Nutzer wendeten sich einem völlig anderen Spektrum an Themen zu, als sie die klassischen, analogen Medien anböten, darunter eine Fülle ungeprüfter Nachrichten. Jeder richte sich so mit Gleichgesinnten seinen selbstreferentiellen Raum ein, schaffe sich seine eigene Realität.

Es stelle sich die Frage, so Hill, inwieweit das Parlament seinen Platz als zentraler Ort der politischen Debatte und Entscheidung inmitten der Gesellschaft und im Mittelpunkt des Staates in dem Umfeld der neuen Medien und veränderter Wahrnehmungsgewohnheiten werde behaupten können.

Um nicht an Legitimität einzubüßen, ob durch schwindende mediale Präsenz oder durch sinkende Wahlbeteiligung, müsse der Bundestag mit guten Argumenten in die Offensive gehen und den Wert parlamentarischer Kommunikation und Entscheidung herausstellen. Zu den Argumenten für das Parlament gehörten die Bündelung der politischen Debatte an einem Ort, die Behandlung der Themen durch professionelle, gewählte Repräsentanten, ein transparentes Ringen um die besten Argumente und Lösungen, und die abgestufte Willensbildung und Entscheidung des parlamentarischen Prozesses.

Experten schlagen „Gesetze auf Vorrat“ vor

Um dem Problem der Beschleunigung zu entkommen, brachte die Diskussionsrunde „Gesetze auf Vorrat“ als eine Lösung ins Spiel. So könne die Politik für bestimmte Großthemen Grundsatzentscheidungen und grundlegende Mechanismen „auf Vorrat“ schaffen. Ein dazu passendes, plötzlich auftretendes Problem wie der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen ist dann ein quantitatives Problem für die Verwaltung, träfe aber die Politik nicht völlig unvorbereitet.

Gegenüber der Digitalisierung gelte es, den Informationsaustausch zwischen Politik und Bürgern zu verbessern, beispielsweise mit einer digitalen Plattform. Eine ganze Reihe unterschiedlicher Maßnahmen sei zudem vorstellbar, um die noch vielfach im Analogen feststeckende Welt des Parlaments mit der digitalen Umgebung der Gesellschaft besser zu verknüpfen. Hill schlug unter anderem vor, den Prozess der Gesetzgebung und die vom Bundestag verabschiedeten Gesetze grafisch darzustellen. Eine solche Visualisierung könne zu einem besseren Verständnis der oft komplexen Materie beitragen. Und um die Qualität und Glaubwürdigkeit von Parlamentsdebatten zu verbessern, sei ein begleitender Faktencheck denkbar.

Europäisierung und Globalisierung der Rechtsordnung

In zahlreichen Themenfeldern, die die einzelstaatlichen Handlungsmöglichkeiten übersteigen und besser im Verbund gelöst werden können, ist heute eine gemeinsame europäische Politik vorgesehen. Nationale Regeln werden dazu vereinheitlicht und durch europäische abgelöst. Die Mitgliedstaaten haben bereits zahlreiche Kompetenzen an die EU übertragen; für viele Themen gelten geteilte Zuständigkeiten.

„Gemeinsame Gesetzgebung auf europäischer Ebene ist in vielen Bereichen alternativlos“ stellte Janda fest und illustrierte dies am Beispiel der Flüchtlingskrise – einer Aufgabe, die gemeinsames Handeln erfordere, von der gemeinsamen EU-Grenzsicherung bis zu einer solidarischen Asylpolitik, die einheitliche Aufnahmebedingungen und Schutzstandards gewährleistet. „Während der Flüchtlingskrise ist Bewegung ins Asylrecht gekommen“, sagte Janda. EU-Richtlinien und Verordnungen sind auf den Weg gebracht worden. So mache es absolut Sinn, sich auf eine gemeinsame Liste sicherer Herkunftsländer zu einigen.

Gewinn und Verlust von Handlungsmacht

Der Gewinn an internationaler politischer Handlungsmacht im Verbund der EU geht mit einem Verlust nationaler Gestaltungsmöglichkeiten einher, gab Janda zu bedenken. Und auch für die mitgliedstaatlichen Parlamente ist der Handlungsspielraum innerhalb einer europäisierten Rechtsordnung enger geworden, fallen doch viele Gegenstände aus ihrem Zuständigkeitsbereich heraus.

In dem Ringen der Institutionen um die Positionsbestimmung gehe es für den Deutschen Bundestag darum, „die Balance zu finden zwischen der Sicherung seiner Mitwirkungsrechte als nationales Parlament einerseits und der Nicht-Gefährdung der europäischen Integration andererseits“, sagte die Wissenschaftlerin.

Seit eineinhalb Jahrhunderten bereits vollziehe sich in Deutschland, aber auch auf europäischer und globaler Ebene, ein Trend hin zur Harmonisierung der Rechtsordnungen, weg vom Kleinteiligen hin zu größeren Zusammenhängen, getrieben von wirtschaftlichen Gründen und Effizienzgesichtspunkten. Dieser „Drang nach oben“ betreffe sämtliche Rechtsgebiete und schreite weiter fort, vom Handels- über das Straf- bis hin zum Steuerrecht. Das auf EU-Ebene verankerte Subsidiaritätsprinzip sei dabei nur ein schwaches Gegengewicht.

Völkerrecht verselbständigt sich

Was die Entwicklung des Völkerrechts für die Arbeit der nationalen Parlamente bedeutet, damit befasste sich Prof. Dr. Wolfgang Weiß, Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht in Speyer. Zahlreiche Themen würden mittlerweile auf globaler Ebene behandelt, ein Großteil der Regelungstätigkeit habe sich dorthin verlagert, neue Rechtsschichten und Regelungsstrukturen seien entstanden. „Die Bewältigung der damit einhergehenden Herausforderungen für die Parlamentsarbeit steht aber erst am Anfang“, sagte der Wissenschaftler, und machte Vorschläge, wie die nationale Rechtsordnung, besonders das Parlament, mit den Rückwirkungen dieser Form der Globalisierung umgehen könnte.

In den letzten Jahrzehnten habe man nicht nur eine „erhebliche Verselbständigung von Entscheidungsstrukturen auf internationaler Ebene“ beobachten können, die „sich von tradierten nationalen Entscheidungs- und Mitwirkungsmustern abgelöst“ hätten und dabei „auf Gegenstände innerstaatlicher Rechtssetzung ausgreifen.“ Es komme hinzu, dass vor allem die umfassend praktizierte vorläufige Anwendung völkerrechtlicher Verträge die exekutive Ebene der Staaten weiter gestärkt habe. „Die Dynamisierung völkerrechtlicher Rechtsentstehung liegt in ihrer Hand.“ Regierungen verhandeln und schließen Verträge, untereinander und im Rahmen von internationalen Organisationen. Im Parlament werden diese fertigen Verträge dann ratifiziert. Weiß mahnte angesichts dieser Entwicklung Korrekturen an.

Verlust parlamentarischer Entscheidungsräume

Indem die Regierung sich derart an der Schöpfung neuen Rechts beteilige, habe sie gegenüber dem Parlament eine Grenze überschritten, da internationale Regelsetzung sehr wohl Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung habe. Das Parlament als Gesetzgeber werde nur unzureichend beteiligt und verliere seine Entscheidungshoheit, Öffentlichkeitsfunktion und Kontrolle über Inhalte der Rechtsetzung. „Der exekutive Vorrang im Auswärtigen kann einen Übergriff in die Rechtssetzungsfunktion des Parlaments nicht rechtfertigen“, argumentiert Weiß. Das folge aus Artikel 59 II des Grundgesetzes, der die Kontroll-, Öffentlichkeits- und Rechtssetzungsfunktion des Bundestages festschreibt. „Die Exekutive muss ihre Funktionsgrenzen beachten.“

Der Verlust parlamentarischer Entscheidungsräume lasse sich allerdings kompensieren durch die Stärkung anderer parlamentarischer Funktionen, nämlich der Öffentlichkeits- und Kontrollfunktion, schlug Weiß als Lösung vor, um das Parlament wieder stärker ins Spiel zu bringen. Das verlange allerdings eine fortlaufende und intensive Information des Parlaments durch die Bundesregierung. Die bessere Begleitung, Öffentlichkeit und Kontrolle internationaler Regelgebung und Rechtssetzung müsse dabei das gemeinsame Ziel von Parlament und Regierung sein.

Außerdem müsse es dem Parlament zustehen, der Regierung Maßgaben für ihre Mitwirkung in neuen internationalen Strukturen zu machen. Und schließlich müsse das Parlament auch die Beendigung einer vorläufigen Anwendung internationaler Abkommen jederzeit durchsetzen können.

Auf die Form und die Performance kommt es an

Auch auf dem Gebiet der Öffentlichkeitsarbeit gilt es für die Parlamente, nicht an den nötigen Ressourcen zu sparen, mahnten mehrere Konferenz-Beiträge. Gerade eine Institution wie der Deutsche Bundestag müsse in zeitgemäßer Form über das Geschehen im Parlament berichten, befinde sie sich doch im digitalen Zeitalter mehr denn je in einem scharfen Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Wieland sprach von einer Bringschuld des Parlaments und forderte, die Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages, gerade auch im Onlinebereich, weiter auszubauen, um die Arbeit des Parlaments den Bürgern noch näher zu bringen. „Das Parlament muss sich in der Öffentlichkeit noch interessanter machen.“

Gleichzeitig müsse auch das Geschehen an sich im Parlament nachvollziehbarer und interessanter werden. Auf diese Weise ließen sich zahlreiche Menschen zurückgewinnen, die sich vom Politikbetrieb abgewendet hätten. Eine immer weiter sinkende Wahlbeteiligung nage schließlich an der Legitimation. Als Negativbild, das sich bei vielen Bürgern eingebrannt habe, und das es unbedingt zu vermeiden gelte, wurde auch in dieser Runde das verbreitete und immer wiederholte Bild vom fast leeren Plenarsaal genannt. Es müsse außerdem vermittelt werden, dass der Großteil der Arbeit der Abgeordneten in den Fachausschüssen und in deren Wahlkreisen anfalle, an Orten also, die nicht so sehr im Scheinwerferlicht der Medien stehen.

Verbesserung der Debattenkultur

Verbesserungswürdig sei auch die Debattenkultur, die Kunst der argumentativen Rede und Gegenrede nach festen Regeln, im deutschen Parlament, ja in Deutschland insgesamt. Heveling schlug vor, den Parlamentsbetrieb spannender zu machen, indem auch der Bundestag nach britischem Vorbild eine öffentlichkeitswirksame „Prime Ministers Question Time“ einführe.

An die rhetorische Tradition der britischen Politik, wie sie in der Fragestunde des Premierministers ihren Ausdruck findet, werde man in Deutschland aber wohl nicht heranreichen. „Fragestunden können wir Deutschen nicht, da sind andere besser“, sagte Bundestagspräsident Lammert selbstkritisch. In diesem Punkt habe der Bundestag Nachholbedarf und könne von anderen Ländern lernen.

Im Bundestag werde häufig zu viel geredet und zu wenig debattiert. Der Präsident schlug vor, dass die Abgeordneten Redebeiträge künftig direkt von ihrem Platz aus, und dabei möglichst in freier Rede halten – statt frontal vom Pult aus etwas vorzutragen. Jetzt sei es doch so: Auf dem Weg zum Pult, mit dem Manuskript in der Hand, mutierten die Politiker zu einer Art Festredner und ließen das Vorbereitete auf die Zuhörer los anstatt direkt und kreativ auf ihre Mitredner einzugehen.

Lammert optimistisch für Parlamentarismus in Deutschland

Insgesamt seien die Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Parlamentarismus allerdings hierzulande so gut wie nirgendwo sonst, lobte Norbert Lammert das Werk der deutschen Verfassungsväter, und hob das System der checks and balances hervor, also der wechselseitigen Kontrolle und Verflechtung der Verfassungsorgane. „Die Balancierung der Verfassungsorgane ist uns in Deutschland besser gelungen als in irgendeinem anderen Land“, so der Präsident. Auch in diesem gut geregelten System komme es natürlich immer wieder zu Spannungen. Und selbstverständlich sei die Versuchung auf Seiten aller Organe groß, im eigenen Gestaltungseifer die Grenzen der Verfassung zu testen, ob beim Bundestag, Bundesverfassungsgericht oder seitens der Bundesregierung.

Der Bundestagspräsident zeigte sich jedoch optimistisch, dass der Bundestag den Herausforderungen, die sich dem Parlamentarismus stellen, erfolgreich begegnen werde. Wissenschaftliche Foren wie der Speyer Konvent lieferten dabei wertvollen Input, um die Debatte zu strukturieren und Lösungen zu erarbeiten. Der Speyer Konvent in Berlin stellt ein neues Format dar, in dem grundlegende staats- und verfassungspolitische Fragen behandelt werden. Die Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer wird von allen Ländern und dem Bund getragen. Sie ist im Bereich von Lehre, Forschung und Weiterbildung tätig. (ll/28.08.2017) 

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