1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Polizei hätte Amri „frühzeitig von der Straße nehmen können“

Foto von der Gedenkstätte des Terroranschlags am Breitscheidplatz

Der 1. Untersuchungsausschuss befragt Zeugen zur Arbeit der Behörden. (picture-alliance/Pacific Press Agency)

Vor dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) hat der frühere Bundesanwalt Bruno Jost seine Auffassung bekräftigt, dass die Berliner Polizei 2016 den späteren Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri „frühzeitig vor Begehung seines Anschlags von der Straße“ hätte nehmen können. Der umfangreiche Rauschgifthandel, in den Amri mit Kenntnis der Behörden verstrickt war, hätte für einen Haftbefehl eine ausreichende rechtliche Handhabe geboten, sagte Jost in seiner Vernehmung am Donnerstag, 28. Juni 2018, in der von Armin Schuster (CDU/CSU) geleiteten Sitzung. Der heute 69-Jährige hatte als Sonderbeauftragter des Berliner Senats zwischen April und Oktober 2017 Versäumnisse der Behörden im Umgang mit dem späteren Attentäter untersucht und war zu einem vernichtenden Urteil gelangt.

„Handel mit allem, was schwindlig macht“

Der Polizei sei bekannt gewesen, dass Amri spätestens seit Mai 2016 in großem Stil und mit zunehmender Intensität in die Berliner Drogenszene eingestiegen sei. „Er handelte mit allem, was schwindelig macht“, sagte Jost, sowohl mit Haschisch als auch mit Kokain und weiteren Substanzen. 

Amri habe Bestellungen entgegengenommen und in der Art eines Lieferdienstes einzelnen Kunden die Ware auch ins Haus gebracht. Dies gehe aus insgesamt 72 abgehörten Telefonaten hervor, deren Inhalt eine Beamtin des Berliner Landeskriminalamts am 1. November 2016 in einem zehnseitigen Bericht zusammengefasst und diesen im Polizeicomputer abgespeichert hatte. Unmittelbare Konsequenzen hatte der Bericht damals nicht.

„Nichts, was gegen einen Haftbefehl sprach“

Seit der rechtskräftigen Ablehnung seines Asylantrags am 11. Juni 2016 sei der Drogenhandel Amris einzige Einkommensquelle gewesen, sagte Jost. Allein das hätte hinreichenden Anlass geboten, ihn hinter Gitter zu bringen. Es habe in Amris Persönlichkeit nichts gegeben, „was gegen einen Haftbefehl sprach“. Den Behörden sei auch bekannt gewesen, dass Amri mit seinen Drogengeschäften erhebliche Profite erzielte. Jost erwähnte zwei im Sommer 2016 abgehörte Telefonate zwischen Amri und seiner Mutter in Tunesien. Die alte Frau habe sich gerührt und überschwänglich dafür bedankt, dass ihr Sohn ihr bis dahin bereits in mehreren Raten die für tunesische Verhältnisse gewaltige Summe von 1.500 Euro überwiesen habe.

Amri habe in dem Gespräch mit seiner Mutter auch erwähnt, dass er vorhabe, nach Tunesien zurückzukehren und einen Lastwagen zu kaufen, um ein Fuhrunternehmen zu eröffnen. Das erforderliche Kapital, mehrere tausend Euro, habe er bereits beisammen. Aus all dem gehe hervor, dass Amris kriminelle Geschäfte deutlich über der „Unerheblichkeitsschwelle“ gelegen hätten, sagte Jost: „Das war nicht minimales Niveau.“

„Hinweis auf einen Gesamtvermerk der Polizei“

Jost berichtete, er sei in einer frühen Phase seiner Berliner Tätigkeit eher zufällig auf die Dokumente gestoßen, aus denen hervorging, dass die Behörden über Amris Drogenaktivitäten frühzeitig im Bilde waren. Er habe Mitte April 2017 mit zwei Mitarbeitern, die ihm das Land Berlin zur Verfügung gestellt habe, ein Büro in der Senatsinnenverwaltung bezogen und zunächst das vorliegende Material gesichtet. Viel sei das nicht gewesen, darunter eine summarische Chronologie der Bundesbehörden und eine ausführlichere aus Berlin.

In der Berliner Chronologie habe sich ein Hinweis auf einen „Gesamtvermerk“ der Polizei gefunden, den er angefordert habe. Nach einem Monat sei ihm ein zweiseitiges Dokument zugegangen, in dem Amri als harmloser Kleindealer dargestellt worden sein. Es habe sich um eine Kurzfassung des zehnseitigen Originals vom November 2016 gehandelt, in dem von gewerbs- und bandenmäßigen Rauschgifthandel die Rede war, und die bei der Nachsuche im Polizeicomputer ebenfalls ans Licht gekommen sei. In einem Zwischenbericht erhob Jost im Juli 2017 den Vorwurf der Aktenmanipulation im Berliner LKA. 

Ende 2015 erstmals mit Amri befasst

Das Bundeskriminalamt (BKA) hat sich erstmals Ende 2015, ein Jahr vor dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz, im Zuge von Ermittlungen gegen eine mutmaßliche radikalislamische Terrorzelle in Deutschland mit dem späteren Attentäter Anis Amri befasst, wie die damalige BKA-Verbindungsbeamtin in Rom, Frauke Schlembach, als Zeugin aussagte. Schlembach war von Mai 2015 bis Mai 2018 in der italienischen Hauptstadt zuständig für Kontakte und Informationsaustausch mit den dortigen Polizeibehörden. In dieser Funktion leitete sie am 23. Dezember 2015 eine Anfrage des BKA zur Person Amris an die Italiener weiter.

Der gebürtige Tunesier Amri hatte zwischen Oktober 2011 und Mai 2015 wegen Brandstiftung, Gewaltdelikten und Diebstahls in italienischer Haft gesessen. Er hatte in der Flüchtlingsunterkunft, in der der nach seiner Einreise untergebracht war, nicht-muslimische Mitbewohner verprügelt und schließlich Feuer gelegt. Nach Darstellung der italienischen Behörden verhielt sich Amri auch hinter Gittern extrem aggressiv und terrorisierte seine Mitgefangenen. Er habe deswegen sogar in ein anderes Gefängnis verlegt werden müssen.

„Amri in Italien ein unerwünschter Ausländer“

Nach Verbüßung der Haftstrafe sei er zunächst in Abschiebegewahrsam genommen, nach 30 Tagen aber wieder freigelassen worden, weil die tunesischen Behörden innerhalb dieser Frist keine Passersatzpapiere für ihn bereitstellten. Die Italiener markierten Amri im Schengen-Informations-System (SIS) als unerwünschten Ausländer, der an der EU-Außengrenze zurückzuweisen sei. Im Juli 2015 reiste Amri nach Deutschland ein.

Die Anfrage, die das BKA fünf Monate später an die italienischen Sicherheitsbehörden richtete, stand im Zusammenhang mit einem „Gefahrenabwehr-Vorgang“ unter dem Decknamen „Lacrima“. Die Operation richtete sich gegen eine Gruppe von Verdächtigen mit Verbindungen nach Italien, die konkreten Hinweisen zufolge in Deutschland einen Anschlag vorbereiteten. Amri tauchte in diesem Umfeld als Kontaktperson der Terrorzelle auf. Dass sein Hauptansprechpartner der 2013 nach Syrien ausgereiste deutsche IS-Terrorist Denis Cuspert gewesen sei, konnte die Zeugin nicht bestätigen.

„Eine minder wichtige Kontaktperson“

Der Personalie Amri sei damals, Ende 2015, in ihren Augen keine besondere Bedeutung zugekommen, berichtet sie. Der Mann sei eine minder wichtige Kontaktperson zu einer Gruppe gewesen, sich im Visier polizeilicher Ermittlungen befunden habe. Der Informationsaustausch über mutmaßliche radikalislamische Terroristen habe einen Großteil ihres Berufsalltags in Rom in Anspruch genommen, sagte Schlembach. 

Sie habe im Durchschnitt alle zwei Wochen einen solchen Fall zu bearbeiten gehabt, sagte Schlembach. Einen „Fall Amri“ habe es für sie erst nach dem Attentat auf dem Breitscheidplatz im Dezember 2016 gegeben. Sie sei gerade auf der Rückreise von Basel nach Rom gewesen, als sie den Namen im Radio gehört habe, und habe sich sofort erinnert.

„Bearbeitungsdauer nicht ungewöhnlich“

Es dauerte damals dreieinhalb Monate, bis am 4. April 2016 beim BKA die Antwort aus Italien vorlag. Eine solche Bearbeitungsdauer sei „nicht ungewöhnlich“ gewesen, sagte die Zeugin, wenn sie sie auch nicht als „normal“ bezeichnen wollte. In der Regel habe sie sich unerledigte Vorgänge alle zwei Monate vorlegen lassen. Das BKA habe damals aber keinen Anlass gesehen, die Angelegenheit mit besonderem Nachdruck zu behandeln.

Ein weiteres Mal habe sie am 2. Mai 2016 eine Anfrage zur Person Amris an die italienische Polizei weitergeleitet. Damals habe das Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen wissen wollen, ob der Mann bei seiner Einreise nach Italien einen tunesischen Ausweis mitführte. (wid/29.06.2018)

Liste der geladenen Zeugen

  • Bruno Jost, Bundesanwalt a. D.
  • Peter Mutter, Bundeskriminalamt
  • Frauke Schlembach, Bundeskriminalamt

Marginalspalte