Europapolitik Forderung nach Sanktionen als Reaktion auf Präsidentenwahl in Belarus
Für den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell ist der Fall völlig klar: „Wir erkennen das behauptete Ergebnis der Präsidentenwahl in Belarus nicht an“, sagte der Vizepräsident der Europäischen Kommission am Freitag, 4. September 2020, während der Interparlamentarischen Konferenz für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (IPC GASP/GSVP). Es seien weder freie noch faire Wahlen gewesen, so Borrell. Lukaschenko sei also nicht der legitime Präsident von Belarus. Der berechtigte Wunsch der Bevölkerung von Belarus nach Wandel sei brutal zurückgewiesen worden, sagte er und betonte: „Wir unterstützen die demokratischen Bestrebungen des belarussischen Volkes.“
Exilregierung mit Swetlana Tischanowskaja als Präsidentin?
Doch einigen Parlamentariern geht das nicht weit genug. Reinhold Lopatka, Vorsitzender des Europaausschusses in österreichischen Nationalrat, forderte beispielsweise während dem von David McAllister, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments, moderierten ersten Teil der Videokonferenz „Neuwahlen unter internationaler Aufsicht“. Andere Abgeordnete, wie etwa Jacek Protasiewicz, Mitglied des EU-Ausschusses des polnischen Parlamentes, zeigten sich zufrieden mit der ersten Reaktion der EU auf die Wahl, verlangten jedoch Sanktionen gegen Belarus.
Audronius Ažubalis, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Parlamentes von Litauen, ging mit seiner Forderung noch weiter. Statt erneut zu wählen, müsse die EU die Kandidatin der Opposition, Swetlana Tischanowskaja, die die klare Gewinnerin der Wahl sei, als Präsidentin anerkennen. So könne eine Exilregierung gebildet werden, die ein alternatives Machtzentrum zu Diktator Lukaschenko darstelle, schlug der litauische Parlamentarier vor.
Borrell: EU-Kommission hat keine Kompetenz, eine Regierung anzuerkennen
Der EU-Außenbeauftragte zeigte sich deutlich zurückhaltender. Die Kommission konzentriere sich auf Sanktionen gegen einzelne Vertreter des Regimes, um nicht die Bevölkerung zu bestrafen, sagte er. Hinsichtlich der Anerkennung von Swetlana Tischanowskaja als Präsidentin, erklärte sich der Kommissions-Vize für nicht zuständig. Die EU-Kommission habe keine Kompetenz, eine Regierung offiziell anzuerkennen oder nicht anzuerkennen. Dies, so Borrell, müssten die Mitgliedstaaten tun.
Belarus, das wurde während des ersten Teils der Konferenz deutlich, ist nicht die einzige außenpolitische Baustelle Borrells. Beleg dafür war allein schon die Tatsache, dass der EU-Außenbeauftragte den Abgeordneten nicht etwa aus Brüssel sondern aus der ägyptischen Hauptstadt Kairo zugeschaltet war. Nach Gesprächen mit Vertretern der ägyptischen Regierung und der Arabischen Liga werde er weiter nach Libyen reisen, kündigte Borrell an. Dort bleibe die Lage trotz Waffenstilstand kompliziert, die Regierung übe ihre Macht nicht voll aus.
Problematische Situation im Mittelmeer
Problematisch sei auch die Situation im Mittelmeer. Die Türkei, die sich immer weiter weg bewege von den europäischen Werten, handle im östlichen Mittelmeerraum „gegen die Interessen einiger EU-Staaten“, sagte Borrell. Wenn sich griechische und türkische Militärschiffe gegenüberstehen, sei das eine besorgniserregende Lage. Die EU-Kommission, so betonte er auf Nachfrage einiger Abgeordneter, trete der Türkei gegenüber klar und deutlich auf. „Wir wollen einen ausgeglichenen Ansatz“, sagte Borrell. Sanktionen seien sicherlich eine Möglichkeit. Aber auch hier gelte: Diese müssen durch die Mitgliedstaaten im Europäischen Rat beschlossen werden. Die Kommission, so ihr Vizepräsident, wolle die Spannungen mit der Türkei zurückfahren und den Dialog fortsetzen.
Fehlende Bereitschaft, Souveränität an Brüssel abzugeben
Über das Thema „Wege zur Verteidigungsunion – Strategische Neuausrichtung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU“ diskutierten die Teilnehmer der IPC im zweiten Teil der Videokonferenz, der von Dietmar Nietan, SPD-Bundestagsabgeordneter und Leiter der deutschen Delegation bei der IPC, moderiert wurde. Die Politikwissenschaftlerin Dr. Ronja Kempin von der Stiftung Wissenschaft und Politik kritisierte in ihrem Impulsreferat die aktuellen Bemühungen zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU als „nicht ausreichend“. Die Souveränität bei der Verteidigung europäischer Interesse dürfe nicht nur konzeptionell gedacht sondern müsse „endlich dringend umgesetzt werden“, forderte Kempin. Auf dem Papier, so räumte sie ein, sei viel erreicht worden, beispielsweise der europäische Verteidigungsfonds. Der Blick in die politische Praxis zeige aber, „dass die Umsetzung der Maßnahmen weiterhin krankt“. Noch immer seien die Mitgliedstaaten kaum bereit, im Politikfeld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Souveränität an Brüssel abzugeben. Aufgabe der Abgeordneten der nationalen Parlamente müsse es sein, ihre Regierung dazu zu drängen, forderte Kempin.
Halbleere und halbvolle Gläser
Während mehrere Parlamentarier der Zustandsbeschreibung der Politikwissenschaftlerin mehr oder weniger zustimmten, nahm Charles Fries als Vertreter des Europäischen Auswärtigen Dienstes eine andere Bewertung vor. Kempin sehe das Glas als halbleer an, er hingegen als halbvoll, sagte Fries und verwies auf erreichte konkrete Fortschritte in den vergangenen Jahren. Er denke dabei an die Pesco (Permanent Structured Cooperation), die 46 Projekte umfasst und auf 20 Verpflichtungen beruht, mit denen sich alle beteiligten Mitgliedsstaaten rechtlich bindend darauf geeinigt haben, beispielsweise bei der Planung und Entwicklung von Fähigkeiten enger zu kooperieren. Fries zählte zudem den europäischen Verteidigungsfond und die europäische Friedensfazilität auf. Allein der Verteidigungsfonds zur Kofinanzierung von Rüstungsprojekten mit sieben Milliarden Euro sei ein historischer Durchbruch, befand er.
Mehr parlamentarische Kontrolle nötig
„Die Realität sieht weniger rosig aus“, entgegnete die Europaabgeordnete Nathalie Loiseau. Enttäuscht sei sie über das im Rat getroffene Abkommen über die europäische Friedensfazilität. Es reiche nicht, in Sonntagsreden, über die Souveränität Europas zu sprechen, wenn nicht die benötigten Mittel zur Verfügung gestellt würden. Der Europäische Rat erkläre schon seit Jahren, dass Verteidigungspolitik in die Kompetenz der Mitgliedstaaten gehöre und das Europäische Parlament sich dort raushalten solle. Dabei brauche es mehr parlamentarische Kontrolle, sagte Loiseau und forderte das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente dazu auf, sich stärker einzubringen.
Dass nicht alle Europäer die Idee einer europäischen Armee verfolgen, machte Bastiaan van Apeldoorn, Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuss des Senats der Niederlande, deutlich. Nach seiner Einschätzung lehne eine Mehrheit in seinem Heimatland – unter der Bevölkerung und auch im Parteienspektrum - das ab. Daher folge er nicht dem Vorschlag, die Regierung zu ermutigen, die Souveränität noch weiter auf die EU zu übertragen, machte van Apeldoorn deutlich. (hau/04.09.2020)