Europapolitik Migrationskonferenz: Europäische Migrationspolitik braucht Neustart
Die europäische Migrationspolitik braucht einen Neustart. In dieser Einschätzung waren sich die Teilnehmer der Podiumsdiskussion „Gemeinsames Management von Asyl und Migration“ im Rahmen der „Hochrangigen Interparlamentarischen Konferenz über Migration und Asyl in Europa“ am Donnerstag, 19. November 2020, einig. Die EU-Kommission habe daher ein neues Migrations- und Asylpaket vorgeschlagen, sagte Kommissionspräsidentin Dr. Ursula von der Leyen. Kernpunkte dessen: mehr Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern, schnellere und zugleich rechtsichere Asylverfahren und legale Migrationsmöglichkeiten in die EU. Das Vorhaben wurde sowohl vom Präsidenten des Europäischen Parlaments, David-Maria Sassoli, als auch von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble begrüßt. „Hohe Erwartungen“ an den Migrationspakt hat aber auch Prof. Dr. António Vitorino, Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration, wie während der von der Journalistin Shada Islam moderierten Gesprächsrunde deutlich wurde. Ebenso wie Schäuble betonte Vitorino, der Erfolg der geplanten Asylgrenzverfahren werde von der Wirksamkeit der Rückführungen und Wiedereingliederungen derjenigen abhängen, die keinen Anspruch haben, in der EU zu bleiben.
Bundestagspräsident Schäuble betont Pflicht zur Seenotrettung
Bundestagspräsident Schäuble bekannte sich ganz deutlich zur Pflicht der Seenotrettung. „Sonst brauchen wir nicht mehr von europäischen Werten zu sprechen.“ Dies spiele jedoch auch einem kriminellen zynischen Schlepperwesen in die Hände, befand er. „Wir müssen uns als fähig erweisen, die Menschen, die nicht aus Gründen von Flucht und Asyl nach Europa kommen, schnell zurückzubringen und keine falschen Anreize zu setzen“, sagte Schäuble. „Wenn nötig“, so fügte er hinzu, „auch in Zentren außerhalb der Europäischen Union, in denen wir dann aber auch menschenwürdige Lebensbedingungen sicherstellen müssen.“
Benötigt würden schnelle Entscheidungen über die Asylanträge. Das, so Schäuble weiter, sei im Zusammenhang mit dem Türkei-EU-Pakt nicht gut gelungen. Europa sei nicht in der Lage dazu gewesen, abgelehnte Asylbewerber an die Türkei rück zu überstellen. Dies sei aber wichtig, um das Schlepperwesen zu bekämpfen. Künftig sollten Mitgliedstaaten, die sich für derartige schnelle Entscheidungen nicht in der Lage sehen, die Verantwortung dafür der EU übergeben, regte der Bundestagspräsident an.
Von der Leyen: Müssen legale Möglichkeiten zur Migration schaffen
Rasche Verfahren sind auch im Sinne von Kommissionspräsidentin von der Leyen. Wer in der Folge Asyl genießt, müsse willkommen geheißen und erfolgreich integriert werden, forderte sie. Wer aber keinen Anspruch auf internationalen Schutz hat, müsse sich auch wieder zurück nach Hause begeben. Ein weiterer wichtiger Schritt sei eine europaweit abgestimmte Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern. Dazu gehöre es auch, legale Möglichkeiten zur Migration zu schaffen. Mittels Blue Card sollen laut von der Leyen künftig nicht nur Hochqualifizierte sondern auch Niedrigqualifizierte auf legalem Weg nach Europa kommen können.
Sassoli verweist auf gemeinsame Verantwortung Europas
Auf die gemeinsame Verantwortung Europas beim Thema Asyl und Migration verwies der Präsident des Europäischen Parlaments. Dies sei keine italienische, keine griechische, keine zypriotische und auch keine maltesische Frage, betonte Sassoli. Er verwies auch auf die moralische Verpflichtung zur Seenotrettung. Gleichzeitig müssten die europäischen Polizeien besser zusammenarbeiten, um kriminelle Schleuserorganisationen zu bekämpfen. Der Parlamentspräsident sprach sich zudem ebenfalls für die Eröffnung legaler Wege der Migration aus, „auf der Grundlage dessen, was unsere Arbeitsmärkte benötigen“.
Abweichung von festen Umverteilungsquoten umstritten
Trotz vieler Übereinstimmungen – einige Punkte der geplanten Neuregelung bergen noch Zündstoff für Streitigkeiten in sich. So beispielsweise das von der EU-Kommission geplante Abweichen von festen Umverteilungsquoten. Vorgesehen ist ein System flexibler Beiträge der Mitgliedstaaten. Diese reichen von der Umverteilung von Asylbewerbern aus dem Land der ersten Einreise bis hin zur Übernahme der Rückführung von Personen ohne Aufenthaltsrecht oder auch verschiedene Formen der operativen Unterstützung. Schäuble hält das für sinnvoll. Die verbindliche Verteilungsquote war aus seiner Sicht ein von Anfang an zum Scheitern verurteilter Versuch, zu europäischer Solidarität zu gelangen. Dabei sei zu wenig berücksichtigt worden, „dass jedes unserer Mitgliedsländer doch sehr eigene Erfahrungen und einen sehr eigenen gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund hat, den wir respektieren müssen“, sagte er. „Wenn alle akzeptieren, dass dies eine gemeinschaftliche Aufgabe ist, können die Beiträge der einzelnen Mitgliedstaaten durchaus flexibler sein“, befand er.
Der italienische Abgeordnete Pietro Lorefice machte im Rahmen der Fragerunde hingegen deutlich, dass es aus seiner Sicht besser sei, am Prinzip einer verpflichtenden Umverteilung innerhalb der EU festzuhalten und die Erstaufnahmestaaten stärker solidarisch zu unterstützen. Derzeit würden diese mit ihrer Verantwortung allein gelassen. Sassoli äußerte Verständnis für diese Position. Für das Europäische Parlament sei es das Ziel, zu einer verpflichtenden Umverteilung zurückzukehren, sagte er.
Aus Sicht der spanischen Abgeordneten Ana Botella sind die geplanten Solidaritätsmaßnahmen für die Erstaufnahmeländer sehr diffus. Die EU-Kommission konzentriere sich auf fünf Mitgliedsstaaten. Damit könne der Pakt das Ungleichgewicht zwischen Verantwortung und Solidarität noch verschärfen, „weil er nicht realistisch ist“, warnte sie. Von der Leyen sah das anders. Es gebe durchaus ein gutes Gleichgewicht, so die Kommissionspräsidentin. Die Forderung nach Solidarität sei obligatorisch. Kein Mitgliedstaat könne darüber entscheiden, ob man Solidarität üben will oder nicht, machte sie deutlich. Die Mitgliedstaaten könnten aber wählen, „wie sie das tun“.
Statt Notlösungen dauerhafte Lösung bei Migration und Asyl
Die maltesische Europaabgeordnete Roberta Metsola forderte, von Notlösungen zu einer dauerhaften Lösung bei Migration und Asyl zu gelangen. Mit den Themen müsse umgegangen werden, ohne dem Populismus zu verfallen und einzelne Gruppe zu Sündenböcken zu machen, sagte die EP-Vize-Präsidentin.
Der deutsche Europaparlamentarier Jan-Christoph Oetjen sagte, der Pakt sehe – vor allem mit Blick auf schnellere Asylverfahren - auf den ersten Blick gut aus. Es müsse aber gewährleistet sein, dass die Mitgliedstaaten genug Ressourcen für die Umsetzung bereitstellen. Außerdem braucht es aus seiner Sicht klare Regelungen für die Arbeitsmigration.
Aus Sicht der österreichischen Europaparlamentarierin Bettina Vollath hat Europa aus der Flüchtlingskrise 2015 „nichts gelernt“. Seit Jahren lasse man sich von denjenigen leiten, die gar kein Interesse an einer praktikablen solidarischen Lösung „auf Basis unserer europäischen Werte“ hätten. Die „verheerenden Folgen“ dieser Politik seien das Massensterben im Mittelmeer, Gewalt, Elend und illegale Push-Backs an den Außengrenzen.
Anne Spiegel (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerin für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz des Landes Rheinland-Pfalz, und Vertreterin des Bundesrates, forderte eine deutliche Ausweitung humanitärer Aufnahmeprogramme. Gebraucht würden auch legale Zugänge für niedrigqualifizierte Personen aus Drittstaaten.
Schäuble und Sassoli ziehen positives Fazit der Konferenz
Der Präsident des Europäischen Parlaments, David-Maria Sassoli zog ein positives Fazit. Die „Hochrangige Interparlamentarische Konferenz über Migration und Asyl in Europa“ sei ein Erfolg gewesen. Zugleich hoffe er, dass die Konferenz nur ein Ausgangspunkt für eine weitere verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten bei den wichtigen Themen Migration und Asyl ist.
Nach der vormittäglichen Podiumsdiskussion mit der EU-Kommissionspräsidentin Dr. Ursula von der Leyen, EP-Präsident Sassoli, Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble und dem Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration, Prof. Dr. António Vitorino hatten sich am Nachmittag drei Arbeitsgruppen zu jeweils 90-minütigen Beratungen über unterschiedliche Themenschwerpunkte zusammengefunden. „Verhältnis zwischen Solidarität und Verantwortung beim Management von Migration und Asyl“ lautet das Thema der Arbeitsgruppe 1, über deren Ergebnisse die Ko-Vorsitzende Andrea Lindholz (CSU), Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestages, informierte. Trotz großer Unterschiede in den Perspektiven und Erfahrungen der Vertreter aus den einzelnen Mitgliedstaaten sei ein großes Interesse daran zu erkennen gewesen, den Stillstand der letzten Jahre zu beenden und gemeinsam zu Lösungen zu gelangen, sagte Lindholz. „Wir sind von der Dringlichkeit substanzieller Fortschritte in den Verhandlungen überzeugt.“ Alle Reformbemühungen müssten sich aber am Maßstab der Grundrechte messen lassen. Auch stünden Humanität und Respekt für die Schutzsuchenden „nicht zur Disposition“.
Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten fair und klar verteilen
„Von vielen mitgetragen“ worden sei, dass es bei dem Management der Migration auch ein gewisses Maß an verpflichtender europäischer Solidarität brauche. Dies müsse noch näher definiert werden. Die Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten müssten zudem fair und klar verteilt werden. Entscheidend, so Lindholz sei es, die Antragsverfahren an den Grenzen vor der Einreise in die EU „rechtskonform aber auch praktikabel“ auszugestalten. Falsche Anreize für eine „Sekundärwanderung“ in nicht zuständige Mitgliedstaaten müssten beseitig werden. Antworten brauche es auch in der Frage der Rückführungen abgelehnter Asylbewerber. „Unsere Politik ist nur glaubwürdig, wenn wir den Menschen, die Schutz brauchen, diesen bieten, und die Menschen ohne Schutzanspruch wieder zurückführen“, sagte die CSU-Politikerin.
Mit Afrika in der Frage der Migration zusammenarbeiten
Die Europaparlamentarierin Marie Arena sprach über die Arbeit des zweiten Panels, das sich dem Thema „Externe Dimension – Partnerschaften mit Drittstaaten“ gestellt hatte. Dabei sei deutlich geworden, dass die EU mit dem Nachbarkontinent Afrika nicht nur wirtschaftlich und entwicklungspolitisch, sondern auch in der Frage der Migration zusammenarbeiten müsse. Benötigt werde ein partnerschaftlicher Ansatz, gestützt auf Vertrauen. Amira El Fadil, Kommissarin für soziale Angelegenheiten bei der Afrikanischen Union, habe darauf hingewiesen, dass die Corona-Pandemie auch Folgen auf die Migration haben werde, sagte Arena. Ziel müsse es ein, legale Wege zu schaffen und gegen Schmuggler und Schleuser vorzugehen.
Weitergehende Maßnahmen zur Integration
Der portugiesische Abgeordnete Luís Capoulas Santos sprach über die Erkenntnisse der dritten Arbeitsgruppe, die den Schwerpunkt „Legale Migration und Integration“ hatte. Hier habe Einigkeit darüber geherrscht, dass die Arbeitsmigration möglich sein müsse, „um Lücken auf unseren Arbeitsmärkten zu füllen“. Wichtig seien auch weitergehende Maßnahmen zur Integration. Dazu gebe es einen Vorschlag für einen legislativen Rahmen, der 2021 fertig sein soll. Unter anderen gehöre die Blue-Card-Richtlinie dazu, sagte Capoulas Santos.
Schäuble: Eine wirkliche europäische Aufgabe
Bundestagspräsident Schäuble machte in seinen Schlussworten deutlich, dass der Bereich der Flüchtlinge jener sei, „der am allermeisten nach einer gemeinsamen europäischen Regelung ruft“. Es handle sich dabei um eine wirkliche europäische Aufgabe, „die wir aber auch lösen können“, zeigte er sich überzeugt. Der Bundestagspräsident betonte auch die Rolle der Parlamente dabei. Angesichts der unterschiedlichen, teil widerstrebenden Strömungen innerhalb der EU müssten die Parlamentarier die Transmissionsriemen sein, die den Bürger/-innen erklären, „dass wir diese Aufgabe haben, weil Europa sonst keine gute Zukunft haben kann“. Eine perfekte Lösung gebe es nicht, räumte er ein. Nur mit einem größeren Maß an Bereitschaft, diese Aufgabe zu meistern, werde es aber in Europa die Möglichkeit geben, auch zukünftig in Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftlichem Wohlstand und sozialer Sicherheit zu leben. (hau/19.11.2020)