Antrag zu Beschluss gemäß Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 und 7 Grundgesetz
Antrag der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP: Beschluss des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 und 7 des Grundgesetzes (Drucksache 20/4058)
Antrag der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP: Beschluss des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 und 7 des Grundgesetzes (Drucksache 20/4058)
Die Abgeordneten des Bundestages haben einen „Abwehrschirm“ in Höhe von 200 Milliarden Euro beschlossen, um den Folgen der gestiegenen Gas- und Strompreise zu begegnen. Einen entsprechenden Gesetzentwurf der Ampelfraktionen zur Änderung des Stabilisierungsfondsgesetzes zur Reaktivierung und Neuausrichtung des Wirtschaftsstabilisierungsfonds (20/3937) nahm das Parlament am Freitag, 21. Oktober 2022, gegen die Stimmen der Unionsfraktion bei Enthaltung von AfD und Linke an. Zur Abstimmung hatte der Haushaltsausschuss eine Beschlussempfehlung vorgelegt (20/4094).
Keine Mehrheit fand hingegen ein Entschließungsantrag der CDU/CSU zu dem Gesetzentwurf (20/4133). Darin forderte die Unionsfraktion alle vorhandenen Potenziale zur Stärkung der Angebotsseite zu nutzen und zu diesem Zweck unter anderem die drei noch im Betrieb befindlichen Kernkraftwerke mindestens bis zum 31. Dezember 2024 weiter zu betreiben, um das Stromangebot zu erhöhen und den Strompreis zu senken. Für den Antrag stimmten 168 Parlamentarier, 414 votierten dagegen, 61 Abgeordnete enthielten sich der Abstimmung.
Zuvor hatte das Parlament einen Antrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen, der die Überschrift „Beschluss des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 und 7 des Grundgesetzes“ (20/4058) trägt. Damit wurde eine Ausnahme von der Schuldenregel des Grundgesetzes beschlossen, um die vorgesehene Kreditaufnahme zu ermöglichen.
Satz 6 und 7 im Absatz 2 des Artikels 115 besagen: „Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden. Der Beschluss ist mit einem Tilgungsplan zu verbinden.“ Für den Antrag stimmten 390 Abgeordnete, 239 votierten dagegen, 36 Parlamentarier enthielten sich der Abstimmung.
Ebenfalls abgestimmt wurden zwei Anträge der AfD-Fraktion mit dem Titel „Keine neuen Schattenhaushalte begründen“ (20/3944) und der Linksfraktion mit dem Titel „Schuldenbremse für 2023 aussetzen“ (20/3976). Beide Vorlagen wurden mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Für die FDP-Fraktion betonte Otto Fricke, dass die Ampelkoalition mit dem Gesetzentwurf ihr Versprechen einhalte, noch vor dem Winter dafür zu sorgen, dass für die Heizperioden 2022/2023 und 2023/2024 ausreichend Finanzmittel zur Verfügung stehen, um die geplanten Maßnahmen zu finanzieren.
Wie auch andere Redner der Koalitionsfraktion hob Fricke die Änderungen im Haushaltsausschuss hervor, die zu mehr Kontrolle durch das Parlament führen würden. Der Haushaltspolitiker kritisierte, dass die Union sich gegen die Nutzung des Sondervermögens stelle, obwohl sie in der Vergangenheit selbst viele Sondervermögen eingerichtet habe. Er warf der Fraktion zudem vor, keine durchgerechneten Alternativen vorzulegen. Pure und simple Opposition reiche nicht, „dafür ist die Sache zu ernst“, meinte der FDP-Abgeordnete.
Für die CDU/CSU-Fraktion entgegnete Dr. Mathias Middelberg, dass die Koalition noch nichts Konkretes zu den Gas- und Strompreisbremsen und den Unternehmenshilfen vorgelegt habe. „Wir würden gerne rechnen, aber dann müssten wir von Ihnen eine Berechnungsgrundlage kriegen“, kritisierte der Christdemokrat. Ehrlicher wäre es, in diesem Jahr einen Nachtragshaushalt zu verabschieden und die Hilfen für das nächste Jahr im Haushalt 2023 einzustellen und gegebenenfalls erneut eine Ausnahme von der Schuldenregel zu beantragen.
Die Finanzierungsmethode der Koalition sei hingegen „maximal unsolide“ und ein „schlichtes Umgehungsmanöver“, damit der Bundesfinanzminister 2023 sagen könne, er halte 2023 die Schuldenbremse sein. „Es ist Schwachsinn, was Sie machen“, befand Middelberg.
Für die SPD-Fraktion retournierte Dr. Matthias Miersch den Vorwurf des Christdemokraten. Die Unionsfraktion verweigere sich nämlich, die Grundvoraussetzung zu schaffen, „dass wir die Bevölkerung und die Unternehmen in diesem Land schützen“. Das Gesetz sei die Grundbedingung für die Erstattung der Abschlagszahlungen im Dezember, die Unternehmenshilfen ab Januar 2023 und für die Deckelung der Preis ab März 2023, führte der Sozialdemokrat aus.
Mit Blick auf die Ausgestaltung von Gas- und Strompreisbremsen kündigte Miersch an, dass seine Fraktion unter anderem klären wolle, ob es für die geplant ab März 2023 gedeckelten Preise eine Möglichkeit der Rückwirkung beziehungsweise weiterer Abschlagszahlungen geben könnte. Auch eine Obergrenze bei der Gaspreisbremse aus Gerechtigkeitsgründen erwähnte Miersch als Möglichkeit.
Für die AfD-Fraktion warf Albrecht Glaser der Bundesregierung vor, durch ihre Energiepolitik eine „Anschlag auf den Staat“ verübt zu haben. Es sei ein „extraordinäres Versagen“, meinte Glaser mit Verweis auf die Bedeutung russischer Gas- und Ölimporte für die deutsche Versorgung. Glaser verwies – wie auch die Union – auf die Kritik des Bundesrechnungshofes. Der Hof hatte in einem Bericht haushalts- und verfassungsrechtliche Bedenken geäußert.
Die Koalitionäre „behandeln die Schuldenbremse genauso wie die EU-Staaten den Stabilitäts- und Wachstumspakt“, kritisierte Glaser. Er forderte eine neue Energiepolitik unter Einbeziehung der Kernkraft, das empfehle auch Greta, sagte der Abgeordnete. Die Bundesregierung richte sich „in Traumland“ ein, doch die Krisen würden kommen. „Sie werde dafür politisch bezahlen“, sagte Glaser.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen betonte Dr. Sebastian Schäfer, dass man bei der stark nach innen gerichteten Debatte nicht den Kontext vergessen dürfe, nämlich darum, dass Putin und seine Truppen den „Terror-Krieg“ auch in dieser Woche immer weiter eskalierten. Mit den 200 Milliarden Euro werde ein klares Zeichen gesetzt, „dass wir der russischen Aggression trotzen“, sagte der Grünen-Abgeordnete.
Mit Verweis auf die Verhandlungsergebnisse der Nacht zu einem EU-weiten Gaspreisdeckel, sagte Schäfer, dass der Erhalt von Wohlstand und die wirtschaftliche Entwicklung eine europäische Frage seien. „Entscheidend bleibt, dass Putins Kalkulation nicht aufgeht und die EU solidarisch und geschlossen bleibt“, sagte der Grünen-Abgeordnete.
Für die Fraktion Die Linke warf Dr. Gesine Lötzsch der Bunderegierung vor, eine Frage nicht zu beantworten: „Wer soll eigentlich die gigantische Strom- und Gasrechnung bezahlen?“ Lötzsch forderte, „Krisengewinnler“ wie Strom- und Rüstungskonzerne durch eine Übergewinnsteuer heranzuziehen. Die Linken-Haushaltspolitikerin warb zudem grundsätzlich für eine flexiblere Regelung zur staatlichen Kreditaufnahme: „Der Fuß muss dauerhaft von der Schuldenbremse!“
Lötzsch kritisierte, dass die Koalition stattdessen auf eine Sondervermögen setze. „Sie wollen uns die Katze im Sack verkaufen – und das können wir nicht akzeptieren.“ Sie forderte, die Schuldenbremse für 2023 auszusetzen, dann könne man das vernünftig finanzieren. „Wir sind für Vernunft statt Ideologie – schließen Sie sich uns an“, sagte Lötzsch.
Mit einem „Abwehrschirm“ in Höhe von 200 Milliarden Euro will die Bundesregierung den Folgen der gestiegenen Gas- und Strompreise begegnen. Finanziert werden sollen die Maßnahmen über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds, wie es in ihrem Gesetzentwurf (20/3937) heißt. Das Sondervermögen des Bundes, das zuletzt zur Krisenbewältigung während der Corona-Pandemie aktiviert worden war, soll laut Entwurf mit einer entsprechenden Kreditermächtigung für dieses Jahr ausgestattet werden und um Regelungen zur Finanzierung der Maßnahmen ergänzt werden.
Zu den Maßnahmen gehören eine „Gaspreisbremse“, eine „Strompreisbremse“ sowie Hilfen für aufgrund der Krise in Schwierigkeiten geratene Unternehmen. Diese Unterstützungsmaßnahmen sollen auch über die Kreditanstalt für Wiederaufbau abgewickelt werden können. Die Maßnahmen sollen bis zum 30. Juni 2024 möglich sein. Die Kreditaufnahme durch das Sondervermögen ist auf die Nettokreditaufnahme des Bundes gemäß der Schuldenregel des Grundgesetzes in Artikel 115 anzurechnen.
Auf Antrag der Koalitionsfraktionen ergänzte der Haushaltsausschuss den von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Gesetzentwurf. Mit den Änderungen wird unter anderem im Wirtschaftsplan des Wirtschaftsstabilisierungsfonds eine qualifizierte Sperre für die wesentlichen Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen festgeschrieben, die vom Haushaltsausschuss aufgehoben werden muss.
Zudem wird die Berichtspflicht von einem ein- auf einen halbjährigen Turnus verkürzt. Weitere Änderungen im Stabilisierungsfondsgesetz sowie im Energiesicherungsgesetz dienen dazu, ungewollte Körperschafts- und Grunderwerbsteuerzahlungen in Verbindungen mit Maßnahmen aus dem Fonds zu vermeiden.
Die AfD-Fraktion wandte sich in ihrem Antrag (20/3944) gegen die Pläne der Bundesregierung, die Maßnahmen zur Bekämpfung der steigenden Gas- und Strompreise über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds zu finanzieren. Sie forderte stattdessen, keine weiteren Schattenhaushalte zu begründen und stattdessen alle Einnahmen und Ausgaben in den Kernhaushalt einzustellen.
Wie die Fraktion ausführte, plane die Koalition, im ersten Jahr ihrer Regierungszeit 500 Milliarden Euro neue Schulden zu machen. „Fast drei Viertel davon wird nicht im Kernhaushalt veranschlagt, sondern ist in sogenannten Sondervermögen zu finden“, kritisierte die Fraktion und schrieb von einem durchsichtigen Manöver, „mit dem die echte Neuverschuldung in den nächsten Jahren verschleiert werden soll“. Der Kernhaushalt bilde somit „einen immer kleineren Teil der Wirklichkeit ab“. Die Grundsätze von Haushaltswahrheit, Haushaltsklarheit und Fälligkeit würden „schlicht ignoriert“ werden.
Die Schuldenbremse sollte nach Auffassung der Fraktion Die Linke auch 2023 ausgesetzt werden. Das forderte die Fraktion in einem Antrag (20/3976). Aufgrund der Auswirkungen der anhaltenden Inflation, der damit einhergehenden Belastungen für große Teile der Bevölkerung sowie von Industrie und Wirtschaft und der zu erwartenden dramatischen sozialen Folgen bedarf es staatlicher Maßnahmen in erheblichem Umfang„, so die Begründung.
Wie die Fraktion ferner ausführte, müsse die Schuldenbremse des Grundgesetzes solange ausgesetzt werden, bis es eine Mehrheit für ihre Abschaffung gebe, “um weiteren Schaden vom Land und seinen Menschen abzuwenden„. (vom/scr/21.10.2022)