Nach einem heftigen Schlagabtausch hat der Bundestag am Donnerstag, 10. November 2022, den Entwurf der Bundesregierung für ein Bürgergeld-Gesetz (20/3873; 20/4360) verabschiedet. In der namentlichen Abstimmung votierten 385 Abgeordnete für den Entwurf in einer vom Ausschuss geänderten Fassung, 261 stimmten dagegen und 33 Parlamentarier enthielten sich. Der Abstimmung lagen eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales (20/4360) und ein Bericht des Haushaltsauschusses gemäß Paragraf 96 der Geschäftsordnung des Bundestages (20/4372) zugrunde.
Während die Koalitionsfraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP der CDU/CSU-Fraktion vorwarfen, mit ihrer Kritik die Grenze üblicher und auch berechtigter Oppositionskritik überschritten zu haben und „Fake News“ zu Sanktionen und Schonvermögen zu verbreiten, kritisierten Union und AfD die Regierung scharf genau wegen dieser Punkte. Die Linke warf der Regierung vor, Hartz IV mit dem Bürgergeld nicht zu überwinden, es bleibe Armut per Gesetz.
Mehrere Oppositionsanträge abgelehnt
Mehrere Oppositionsanträge zu diesem Themenkomplex fanden hingegen keine Mehrheit im Parlament: Ein Antrag der AfD-Fraktion mit dem Titel „Aktivierende Grundsicherung statt bedingungslosem Grundeinkommen – Einführung von Bürgerarbeit“ (20/3943) wurde gegen das Votum der Antragsteller abgelehnt.
Ebenfalls mit den Stimmen aller Fraktionen außer den Antragstellern zurückgewiesen wurden zwei Anträge der Fraktion Die Linke mit den Titeln „Sozialen Arbeitsmarkt ausbauen – 150.000 Langzeitarbeitslose in Erwerbsarbeit bringen“ (20/3901) und „Sanktionen abschaffen – Keine Kürzungen am Existenzminimum vornehmen“ (20/4055). Über einen weiteren Antrag der Linksfraktion mit dem Titel „Regelsätze spürbar erhöhen – 200 Euro mehr gegen Inflation und Armut“ (20/4053) stimmten die Abgeordneten namentlich ab: 35 Parlamentarier votierten für die Vorlage, 641 dagegen, es gab eine Enthaltung.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Mit ihrem Bürgergeld-Gesetz, nach Koalitionsaussagen die größte sozialpolitische Reform seit vielen Jahren, möchte die Ampel-Regierung von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP „Hartz IV hinter sich lassen“. Geplant sind unter anderem eine „Kooperation auf Augenhöhe“ zwischen Arbeitssuchenden und Jobcenter-Mitarbeitern, die Einführung einer zweijährigen Karenzzeit, in der das Vermögen und die Angemessenheit der Wohnung nicht überprüft werden, die Stärkung von Weiterbildung durch finanzielle Anreize. Außerdem soll der Soziale Arbeitsmarkt verstetigt und Sanktionen deutlich abgemildert werden.
Die monatlichen Regelleistungen werden um einen Inflationsausgleich (plus 53 Euro) deutlich angehoben. Abgeschafft werden soll auch der „Vermittlungsvorrang in Arbeit“. Stattdessen sollen Geringqualifizierte auf dem Weg zu einer abgeschlossenen Berufsausbildung unterstützt werden, um ihnen den Zugang zum Fachkräftearbeitsmarkt zu öffnen. Eine umfassende Betreuung soll jenen Leistungsberechtigten helfen, „die aufgrund vielfältiger individueller Probleme besondere Schwierigkeiten haben, Arbeit aufzunehmen“.
Änderungen am Gesetzentwurf
Nachträglich geändert wurden unter anderem Regelungen zur Erstattung der Heizkosten während der Karenzzeit von zwei Jahren zu Beginn des Bürgergeldbezugs: Diese werden nun nicht mehr in tatsächlicher, sondern nur in angemessener Höhe anerkannt. Künftig sollen Leistungsberechtigte nicht mehr nur über eine einfache Erklärung bestätigen, dass ihr Vermögen die Grenzwerte für das Schonvermögen nicht überschreitet, es ist eine Selbstauskunft nötig. Das begleitende Coaching für langzeitarbeitslose Menschen nach Start einer Arbeitsaufnahme wird auf neun Monate erweitert und auf junge Menschen, die eine Ausbildung beginnen, ausgeweitet.
Die Hinzuverdienstregeln für Schüler und Studierende werden angepasst: Bis zu drei Monate nach Schulabschluss sollen die großzügigeren Regeln für Minijob-Verdienste nun gelten, außerdem werden die Freibeträge dynamisiert. Von den Änderungen beim Vermittlungsvorrang sollen nicht nur berufsbezogene Weiterbildungen, sondern berufliche Weiterbildungen allgemein betroffen sein. Die Koalitionsfraktionen hatten über den Änderungsantrag hinaus in zahlreichen Protokollerklärungen Formulierungen für Nachbesserungen bei Durchführungsfragen an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales formuliert.
Minister: Dauerhafte Arbeit statt Hilfstätigkeiten
In der Debatte verteidigte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) das Bürgergeld: „Wir schaffen die Chance, dass Menschen nicht in Hilfstätigkeiten vermittelt werden müssen, sondern einen dauerhaften Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen. Wir bauen überflüssige Bürokratie in den Jobcentern ab, damit diese sich wieder auf das Wesentliche, Vermittlung und Beratung, konzentrieren können.“
Der Union warf er unlogisches Argumentieren vor, wenn sie einerseits behaupte, Arbeit lohne sich wegen des Bürgergeldes nicht mehr, gleichzeitig aber nur die Regelsätze erhöhen wolle.
CDU/CSU: Koalition verweigert sachliche Debatte
Hermann Gröhe (CDU/CSU) warf der Koalition vor, „jede sachliche Debatte über die Webfehler des Gesetzes“ zu verweigern und kritische Stimmen aus den Kommunen, die das Gesetz umsetzen müssen, einfach zu ignorieren. So werde es schwierig, in der Länderkammer eine Zustimmung zu dem Gesetz zu bekommen.
Er verwahrte sich gegen den Vorwurf, die Union verzögere die so wichtige Regelsatzerhöhung zum ersten Januar 2023, wenn sie dem Gesetz nicht zustimme. „Sie haben die Gelegenheit, mit uns ins Gespräch zu kommen, verstreichen lassen.“
Grüne: Friedrich Merz schürt Sozialneid
Britta Haßelmann (Bündnis 90/Die Grünen) griff die Unionsfraktion und dabei insbesondere deren Chef scharf an. „Friedrich Merz schürt Sozialneid ohne Ende, aber hier im Parlament kneift er heute.“ Man könne nicht erwarten, dass jemand, der im Privatjet zu Partys fliege, die Situation einer Alleinerziehenden mit wenig Geld nachvollziehen könne. „Aber was ich erwarte, ist Respekt vor der Lebenslage eines jeden Menschen und den haben Sie nicht.“
Das Bürgergeld sei viel mehr als die Regelsatzerhöhung. Es sei eine Reform des Arbeitsmarktes, denn es setze auf Qualifizierung und Weiterbildung, und das helfe den Firmen angesichts des Fachkräftemangels.
AfD nennt Bürgergeld „Beleidigung des Sozialstaats“
Norbert Kleinwächter (AfD) befürwortete wie alle Abgeordneten die Regelsatzerhöhung, ansonsten ließ er aber kein gutes Haar am Bürgergeld. „Es hilft nicht denen, die arbeiten und Leistung zeigen wollen, sondern jenen, die nicht arbeiten wollen.“
Ein Risiko müsse ein Bürgergeld-Bezieher nicht eingehen, kritisierte er und meinte damit vor allem die großzügigeren Regeln zum Schonvermögen in der Karenzzeit und die veränderte Sanktionspraxis. Das gesellschaftliche Grundprinzip des Geben und Nehmens werde ausgehebelt, deshalb sei das Bürgergeld „eine Beleidigung des Sozialstaats“.
FDP wirft Union Verbreitung von Fake News vor
Johannes Vogel (FDP) betonte: „Demokratie lebt vom Wettstreit der Argumente und die Opposition soll deshalb natürlich die Koalition kritisieren. Aber es macht einen zentralen Unterschied, ob man ein alternatives politisches Urteil fällt oder ob man alternative Fakten erfindet.“
Zu denen gehöre unter anderem die Behauptung von Friedrich Merz, mit dem Bürgergeld werde eine sechsmonatige sanktionsfreie Karenzzeit eingeführt. „Das ist schlicht nicht wahr. Es gibt keine sanktionsfreie Zeit im Bürgergeld! Wer etwas anderes behauptet, verbreitet Fake News.“ Völlig schizophren werde es, wenn die Union behaupte, Arbeit lohne sich nicht mehr. „Das ist in jedem einzelnen Fall falsch.“
Linke: Milliardenvermögen gegen Schonvermögen
Dr. Dietmar Bartsch (Die Linke) sagte: „Das, was die Bürger aktuell erleben, ist nicht anders zu bezeichnen als ein Schmierentheater.“ Die Wirtschaftsweisen hätten angesichts der Krise zurecht höhere Steuern für Vermögende verlangt, aber die Union lehne dies ab und spiele stattdessen Geringverdiener gegen Arbeitslose aus.
„Das Milliardenvermögen von Superreichen schützen und das Schonvermögen von Menschen, die jahrelang gearbeitet haben, infrage stellen. Das ist unwürdig.“ Die Regierung kritisierte er dafür, mit dem Bürgergeld Armut per Gesetz keineswegs abzuschaffen.
SPD: Antwort auf den Fachkräftemangel
Dr. Martin Rosemann (SPD) betonte: „Das Bürgergeld ist mit seinem Fokus auf Qualifizierung und Weiterbildung die Antwort auf den Fachkräftemangel.“ Das habe die Union offenbar immer noch nicht verstanden und führe stattdessen lieber die Debatten von vor 20 Jahren weiter. „Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass sich der Arbeitsmarkt geändert hat“, sagte er in deren Richtung.
„Wir setzen auf zielgenaue Vermittlung in Arbeit, entlasten die Jobcenter von Bürokratie und statten sie auch entsprechend aus“, sagte Rosemann unter Bezug auf die Kritik zur Arbeitsbelastung dort.
Kritik des Bundesrates am Bürgergeld
Der Bundesrat hatte die Pläne der Bundesregierung in seiner Ende Oktober beschlossenen Stellungnahme (20/4226) als unzureichend kritisiert. Darin heißt es unter anderem, im Gesetzentwurf sei die große Gruppe der erwerbstätigen Leistungsbeziehenden, die über Einkommen verfügt und deren Sozialleistungen deshalb teilweise reduziert werden, nur unzureichend berücksichtigt worden. „Der Schnellschuss zur Anpassung der Hinzuverdienstregelung bei Erwerbseinkommen von 520 Euro bis 1.000 Euro wirkt dabei wenig durchdacht und wird weder den betroffenen Leistungsbeziehenden noch dem Anliegen der Länder gerecht“, so die Länderkammer. Um erwerbsfähige Leistungsbeziehende dauerhaft und nachhaltig aus dem SGB II-Leistungsbezug zu führen, müssten die Regelungen zum Hinzuverdienst umfassend gemäß den Eckpunkten der Länder auf den Prüfstand gestellt werden. Außerdem wollen die Länder an einer Beteiligung bei der Umsetzung der Änderungen der Anpassungsregelungen für die Einkommensanrechnung durch den Bund festhalten.
In ihrer Stellungnahme kritisierten sie darüber hinaus die Regelungen zur Freistellung der Altersvorsorge bei der Vermögensanrechnung und zur Karenzzeit. Eine zwingende Festlegung als Altersvorsorge solle weiterhin Voraussetzung für die Berücksichtigung als Schonvermögen sein, heißt es darin. Daher solle an der bestehenden gesetzlichen Regelung in vereinfachter Form festgehalten werden, zumal damit sichergestellt sei, dass es sich um Versicherungsverträge handelt, die tatsächlich der Altersvorsorge dienen. Es müsse ferner gesetzgeberisch sichergestellt werden, dass die Einführung der zeitlich begrenzten Karenzzeit nicht zu einer dauerhaften Berücksichtigung der tatsächlichen Bedarfe führt, weil die Träger während der Karenzzeit die Zusicherung ohne Prüfung der Bedarfe erteilen müssen, so der Bundesrat.
Antrag der AfD
Die AfD-Fraktion forderte eine aktivierende Grundsicherung in Form einer sogenannten Bürgerarbeit. In ihrem Antrag schrieb sie: „Wer sich nicht selbst helfen kann, dem stellt der Staat Unterstützungsleistungen zur Verfügung, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein langfristiger Transferbezug muss jedoch in einer Welt begrenzter Ressourcen die Ausnahme bleiben.“ Die Bundesregierung wurde aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II (Bürgergeld) für volljährige erwerbsfähige Leistungsbezieher nach einer Karenzzeit von sechs Monaten grundsätzlich an die Teilnahme an der „Bürgerarbeit“ mit 15 Wochenstunden geknüpft werden, soweit nicht bereits eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit mindestens 20 Wochenstunden besteht.
Außerdem sollte eine „Sachleistungs-Debitkarte“ für volljährige erwerbsfähige Grundsicherungsempfänger eingeführt werden, mit der als Alternative zu der Gewährung von Barmitteln die Leistungsgewährung in bestimmten Fällen – wie etwa der Verweigerung der „Bürgerarbeit“ – unbar über die Debitkarte erfolgt. Die Erreichbarkeit für volljährige erwerbsfähige Leistungsbezieher soll „unmissverständlich so geregelt werden, dass die Leistungsbezieher sich grundsätzlich im zeit- und ortsnahen Bereich im Inland aufzuhalten haben“, forderte die AfD-Fraktion.
Erster Antrag der Linksfraktion
Die Linksfraktion forderte einen starken Ausbau des Sozialen Arbeitsmarktes, um 150.000 Langzeitarbeitslosen eine Perspektive zu bieten (20/3901). Die Abgeordneten werfen der Bundesregierung vor, sich mit der Einführung des Bürgergeldes „stillschweigend vom Ziel der Großen Koalition, 150.000 langzeitarbeitslosen Menschen mittels einer geförderten Arbeit mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen“, zu verabschieden. Eine einfache Verstetigung des Programms „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“, wie es das Bürgergeld-Gesetz vorsehe, reiche nicht aus, kritisieren sie.
Die Linke forderte deshalb von der Bundesregierung unter anderem, das Programm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ weiterzuentwickeln, um 150.000 Menschen bis 2025 darin zu integrieren. Zudem sollte ein mehrjähriger Modellversuch eingerichtet werden, um zu untersuchen, welche individuellen Teilhabeeffekte und regionalwirtschaftlichen Folgen es hat, wenn die individuelle Förderhöchstdauer von fünf Jahren für bestimmte Zielgruppen gestrichen werden kann, etwa bei einer Prognoseentscheidung, dass nach Ende der Förderung die geförderte Person erneut arbeitslos würde.
Zweiter Antrag der Linksfraktion
Die Regelsätze sollten spürbar um 200 Euro erhöht werden, um ihre Wirkung gegen Inflation und Armut zu entfalten, verlangte die Linksfraktion in ihrem zweiten Antrag (20/4053). Das Bürgergeld werde seinem Namen nicht gerecht, sondern bleibe buchstäblich ein Armutszeugnis. Die Verbesserungen beim Bürgergeld gingen an den meisten langjährigen Betroffenen vorbei, denn sie hätten weder große Wohnungen noch Vermögen, kritisieren die Abgeordneten.
Sie forderten deshalb von der Bundesregierung, Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Regelbedarfe nach den Sozialgesetzbüchern II und XII (Zweites und Zwölftes Sozialgesetzbuch) sowie dem Regelbedarfsermittlungsgesetz vorzulegen. In diesen sollten die Regelbedarfe für alle Altersstufen auf Grundlage einer neuen Ermittlungs- und jährlichen Fortschreibungsmethodik zum 1. Januar 2024 neu berechnet werden. Dabei sollten Leistungsberechtigte und ihre Interessenvertretungen sowie Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wohlfahrts- und Sozialverbänden sowie von Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen beteiligt werden. Es muss nach Ansicht der Linken sichergestellt werden, dass der Ernährungsanteil eine gesunderhaltende Ernährung für alle möglich macht. Für die Zwischenzeit sollten die Regelbedarfe durch Zuschläge (bis zu 200 Euro) ergänzt werden.
Dritter Antrag der Linksfraktion
Schließlich verlangte die Fraktion Die Linke auch noch die Abschaffung von Sanktionen in der Grundsicherung (20/4055). Sie wirft der Bundesregierung in Bezug auf die Einführung eines Bürgergelds eine schönfärberische Sprache vor, denn „die sogenannten Leistungsminderungen beim Bürgergeld bezwecken gerade eine Sanktionierung; und bei der sogenannten Vertrauenszeit handelt es sich nicht um Vertrauen, sondern eher um eine Bewährungszeit“.
Die Linke verlangte deshalb, dass Leistungsminderungen im SGB II (Zweites Sozialgesetzbuch) und Leistungseinschränkungen im SGB XII (Zwölftes Sozialgesetzbuch) gestrichen werden und ein Unterschreiten des Existenzminimums gesetzlich ausgeschlossen wird. (che/hau/10.11.2022)