Nach jahrelangen Diskussionen über die Organspendenpraxis und vor dem Hintergrund des eklatanten Mangels an Spenderorganen hat der Bundestag am Donnerstag, 16. Januar 2020, die gesetzliche Grundlage geändert. In einer fraktionsoffenen namentlichen Abstimmung stimmten 432 Abgeordnete in dritter Beratung für die sogenannte Entscheidungslösung, die eine Gruppe von 194 Abgeordneten um Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) und Karin Maag (CDU/CSU) vorgeschlagen hatte (19/11087). 200 Abgeordnete stimmten dagegen, es gab 37 Enthaltungen. In zweiter Beratung hatten für diesen Gesetzentwurf zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende zuvor 382 Abgeordnete gestimmt. 261 votierten dagegen, es gab 28 Enthaltungen.
Den konkurrierenden Gesetzentwurf der Gruppe von 226 Abgeordneten um Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU/CSU) und Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) zur Regelung der doppelten Widerspruchslösung im Transplantationsgesetz (19/11096) stimmten in zweiter Beratung 292 Abgeordnete zu, 379 votierten dagegen, es gab drei Enthaltungen. Da dieser Entwurf keine Mehrheit erhalten hatte, entfiel die dritte Beratung und Schlussabstimmung. Der Gesundheitsausschuss hatte empfohlen, im Plenum zu beiden Gesetzentwürfen und zu einem Antrag der AfD (19/11124) einen Beschluss zu fassen (19/16214). Die Reform soll mit Rücksicht auf die notwendigen Vorbereitungen zwei Jahre nach Verkündung des Gesetzes in Kraft treten.
Bundesweites Online-Register geplant
Damit wurde beschlossen, dass die Abgabe einer Erklärung zur Organ- und Gewebespende künftig auch in Ausweisstellen möglich ist. Ferner ist vorgesehen, dass die Hausärzte ihre Patienten regelmäßig zur Eintragung in das zu errichtende Online-Register ermutigen sollten. Bürger sollen die Möglichkeit bekommen, ihre Entscheidung einfach zu dokumentieren, jederzeit zu ändern und zu widerrufen. Dazu soll ein bundesweites Online-Register eingerichtet werden.
Bei der unterlegenen Widerspruchsregelung sollte jeder Bürger als möglicher Organspender gelten, der zu Lebzeiten keinen Widerspruch erklärt hat. Wenn zugleich auch den nächsten Angehörigen kein entgegenstehender Wille (mündlich oder schriftlich) bekannt gewesen wäre, hätte die Organentnahme als zulässig gegolten.
Die beiden Gesetzentwürfe wurden jeweils von Abgeordneten verschiedener Fraktionen unterstützt. Daneben verlangte die AfD-Fraktion in einem Antrag (19/11124) eine sogenannte Vertrauenslösung. Die Abgeordneten forderten, mit der Koordinierung und Vermittlung der Organe eine unabhängige öffentlich-rechtliche Institution zu betreuen, um das aus ihrer Sicht verbreitete Misstrauen in das jetzige System abzubauen. Über den Antrag wurde nach dem Mehrheitsvotum zugunsten der Entscheidungsregelung nicht mehr abgestimmt.
Organentnahme ohne Zustimmung nicht zulässig
In Deutschland gilt bereits seit 2012 die Entscheidungslösung, die nunmehr auch Grundlage der Reform sein soll. Ohne Zustimmung der betreffenden Person zu Lebzeiten ist eine Organentnahme nicht zulässig. In manchen anderen europäischen Ländern, wo die Zahl der Organspender höher ist als in Deutschland, gilt die Widerspruchslösung.
Als ein Grund für die geringere Spendenbereitschaft in Deutschland wird der Organspendenskandal angesehen, der im Sommer 2012 bekannt wurde. An mehreren Kliniken waren Daten manipuliert worden, um Patienten bei der Vergabe von Spenderorganen zu bevorzugen. Seither ging die Zahl der Organspender deutlich zurück. 2017 lag die Zahl der Organspender mit 797 auf dem niedrigsten Stand seit zwanzig Jahren. Laut aktuellen Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) ist die Spendenbereitschaft 2019 mit 932 Spendern und 2.995 postmortal gespendeten Organen wieder leicht rückläufig. Die weitaus meisten Patienten warten auf eine Spenderniere.
Effektivere Organspendenpraxis als Ziel
Der Bundestag hat Anfang 2019 bereits eine Strukturreform bei der Organspende beschlossen. Die Neuregelung zielt darauf ab, mit veränderten Abläufen und Vorschriften die Organspendenpraxis effektiver zu gestalten. So wurde in Entnahmekrankenhäusern die Rolle der Transplantationsbeauftragten gestärkt. Die Kliniken bekommen außerdem mehr Geld für den gesamten Prozessablauf einer Organspende und erhalten einen Zuschlag dafür, dass ihre Infrastruktur besonders in Anspruch genommen wird.
Kleinere Entnahmekliniken erhalten Unterstützung durch einschlägig qualifizierte Fachärzte. Eine Rufbereitschaft sorgt dafür, dass jederzeit Fachmediziner zur Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls (IHA) zur Verfügung stehen, der sogenannte Hirntod ist Voraussetzung für jede postmortale Organspende.
In der abschließenden Beratung meldeten sich zahlreiche Abgeordnete zur Wort und warben für ihre Position, einige schilderten persönliche Erlebnisse. Insgesamt durften 24 Redner jeweils fünf Minuten lang ihre Ansicht darlegen, andere Abgeordneten konnten ihre Reden zu Protokoll geben.
„Eine unbürokratische Regelung fehlt“
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warb in der Schlussdebatte, auch im Namen viele Ärzte, für die doppelte Widerspruchslösung. Jedes Jahr müssten mehr als 1.000 Menschen auf der Warteliste sterben, weil für sie nicht rechtzeitig ein passendes Organ gefunden werde. In Deutschland gebe es halb so viele Organspender wie in den Nachbarländern und das, obwohl die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung mit 85 Prozent groß sei. Noch größer sei mit 98 Prozent die Erwartung der Menschen, im Notfall ein gespendetes Organ anzunehmen.
Es gebe also eine verbreitete Bereitschaft für das Spenden und Nehmen, aber nur rund ein Drittel der Deutschen hätten einen Organspendenausweis. Das Problem sei nicht Organisation, vielmehr fehle eine unbürokratische Regelung, zum Spender zu werden. Mit der Zustimmungslösung werde das Problem nicht zu lösen sein. Wer die Widerspruchslösung ablehne, dürfte aus ethischer Sicht eigentlich auch keine Organe aus Ländern annehmen, wo die Widerspruchslösung schon gelte, argumentierte Lauterbach weiter und fügte hinzu, es gebe keine Pflicht zu spenden, aber eine Pflicht, Nein zu sagten, wenn man nicht spenden wolle. Man könne von Menschen erwarten, dass sie den Mut hätten, Nein zu sagen.
„Eine Spende muss eine Spende bleiben“
Hilde Mattheis (SPD) widersprach und forderte, eine Spende müsse eine Spende bleiben, ein freiwilliger und selbstbestimmter Akt der Menschen. Dies sei die Grundlage für Solidarität. Dass in Spanien mehr Organspenden zur Verfügung stünden, hänge auch strukturellen Fragen zusammen. So würden in Deutschland nicht alle potenziellen Organspender gemeldet. Um die Strukturen in Deutschland zu verbessern, sei bereits eine gesetzliche Änderung verabschiedet worden.
Die Entscheidungsregelung setze darauf, die Bürger gezielt anzusprechen und zu informieren. Wer auf die Trägheit und den Unwillen der Menschen setze, sich mit diesem Thema zu befassen, schaffe kein Vertrauen, warnte Mattheis. Überdies hätten die Angehörigen bei der Widerspruchslösung kein Recht, Nein zu sagen, sie würden zu Zeugen degradiert. Den Menschen dürfe ihre Selbstbestimmung nicht genommen werden.
„Vertrauenslösung statt Widerspruchsregelung“
Redner der AfD warben für ihr Konzept der Vertrauenslösung. Detlev Spangenberg (AfD) sagte, die Widerspruchsregelung gefährde das ohnehin angeschlagene Vertrauen der Bürger in die Organspende noch mehr.
Es gebe Bürger, die auf ihren Organspendenausweis verzichten wollten, falls die Widerspruchsregelung Gesetz würde. Dieses Konzept beinhalte die faktische Enteignung des menschlichen Körpers. Niemand könne zu einer Erklärung gezwungen werden, es sei auch niemand schuld am Leid anderer, folglich könne daraus keine Forderung abgeleitet werden. Es gebe auch kein Recht, über Ängstliche und Zaudernde zu urteilen. Schweigen gelte nicht als Willenserklärung, im Zweifel sei dies ein Nein.
„Tabuthema Sterblichkeit“
Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung Prof. Dr. Claudia Schmidtke (CDU/CSU) merkte an, dass die Debatte durch das Tabuthema Sterblichkeit belastet werde. So schmerze es die Menschen auch, wenn den Toten ein Schaden zugefügt werde. Jedoch seien auch allen klar, dass jeder Mensch mit seinem Tod andere Menschenleben retten könne, seit die Transplantationsmedizin diese Chancen eröffne.
Somit müsse abgewogen werden zwischen der Unverletzlichkeit des Leichnams und der Rettung von Leben. In fast ganz Europa gelte die Widerspruchsregelung, alles christliche Nationen. Mit lediglich minimalen Veränderungen sei keine spürbare Verbesserung zu erreichen. Die Patienten hofften inständig auf eine klare Veränderung, wobei die Entscheidung jedes Einzelnen auch künftig respektiert werde.
„Das mildeste Mittel wählen“
Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock wies wie andere Redner auch auf das gemeinsame Ansinnen der Abgeordneten hin, Leben zu retten. Diese Intention eine beide Konzepte. Die Debatten darüber hätten verdeutlicht, dass Leben und Tod vielfältig seien und es nicht nur eine Sichtweise auf die Organspende gebe, sondern viele Perspektiven.
Die Entscheidungsregelung wahre dabei das Selbstbestimmungsrecht der Menschen, das im Grundgesetz verankert sei. Es müsse das mildeste Mittel gewählt werden, um an das Ziel zu kommen. Das Ziel sei nicht, den Status quo zu verteidigen, vielmehr solle den Bürgern geholfen werden, sich registrieren zu lassen. In das geplante Online-Register könne sich jeder mit seiner Entscheidung eintragen lassen. Baerbock betonte: „Der Mensch gehört nicht dem Staat.“
„Entscheidungsfreiheit wird nicht eingeschränkt“
Auch Dr. Hermann Otto Solms (FDP) bekräftigte: „Wir streiten nicht über das Ziel, sondern über den Weg.“ Es gehe darum, die Situation der Menschen, die auf ein Organ warten, zu verbessern, dies sei überfällig. Er habe sich seine Entscheidung nicht leicht gemacht, sei aber zu dem Schluss gekommen, dass mit der Widerspruchsregelung die Selbstbestimmung nicht infrage gestellt werde. Die Bürger könnten künftig von ihrem Recht auf Widerspruch Gebrauch machen.
Das Konzept setze eben nicht auf die Trägheit der Menschen, sondern ermutige sie, sich aktiv damit zu befassen. Damit werde die persönliche Entscheidungsfreiheit nicht eingeschränkt. Die Entscheidungsregelung sei dagegen unzulänglich, zumal die Vorstellung, mit Mitarbeitern der Bürgerämter über den extrem persönlichen Bereich der Organspende sprechen zu sollen, lebensfremd sei.
„Schweigen nicht als Zustimmung werten“
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) erinnerte an die Dringlichkeit des Themas, denn es gehe bei Spendern und Empfängern um ganz individuelle Schicksale. Sie selbst habe einen Organspendenausweis und wolle sich freiwillig und selbstbestimmt entscheiden. Viele Menschen fühlten sich nicht ausreichend informiert, um eine Entscheidung von solcher Tragweite zu treffen. Womöglich seien in der Vergangenheit die falschen Informationen geliefert worden. Daher komme den Hausärzten bei der Aufklärung eine entscheidende Rolle zu.
Schweigen könne jedoch nicht als Zustimmung gewertet werden, damit würde der gesellschaftliche Konsens missachtet. Dass in anderen Ländern mehr Organe gespendet würden, hänge auch damit zusammen, dass dort als medizinische Voraussetzung teilweise der Herztod gelte und nicht wie in Deutschland der Hirntod. Auch manche Mediziner hätten ein schlechtes Gefühl, wenn sie nicht wüssten, ob hinter einer Organspende ein erklärter Wille stehe.
„Misere der mangelnden Organspenden überwinden“
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) warb dafür, einen großen Schritt zu gehen, um die Misere der mangelnden Organspenden zu überwinden. Von den Bürgern könne eine Entscheidung verlangt werden. Sobald jemand persönlich betroffen sei, werde eine Spende fast immer angenommen.
Wenn dies aber der Normalfall sei, müsse auch die Spendenbereitschaft der Normalfall sein. Zudem sei es einfach, seinen Widerspruch deutlich zu machen, etwa im Gespräch mit Familienmitgliedern.
„Vertrauen in die Solidarität setzen“
Kathrin Vogler (Die Linke) warnte hingegen vor allzu weit gehenden Ansprüchen an die Menschen, um die Zahl der Organspender zu erhöhen. Es müsse sich unzweifelhaft etwas ändern, die Widerspruchsregelung sei aber der falsche Weg. In ihrem Freundeskreis sei eine Frau, die eine neue Niere brauche, selbst zur Organspende bereit sei, aber nicht zu einer Entscheidung genötigt werden wolle.
Die Widerspruchsregelung beinhalte keine Garantie für mehr Spender, sondern könne Ängste noch verstärken. Es sei besser, auf Vertrauen in die Solidarität zu setzen und nicht ein Verhalten anzuordnen. Viele Menschen kämen im Übrigen gar nicht an die nötigen Informationen, um Widerspruch einzulegen, etwa Obdachlose oder psychisch Kranke. Es sei besser, Gelegenheiten für positive Entscheidungen zu schaffen.
„Bewusste Entscheidung ein hohes Gut“
Dr. Robby Schlund (AfD) sagte, die Freiheit der bewussten Entscheidung sei ein hohes Gut, das es immer wieder zu verteidigen gelte. Die Widerspruchsregelung sei absolut inakzeptabel und ein Eingriff in die freiheitlichen Grundrechte der Bürger. Hier solle die Selbstverantwortung durch eine Fremdverantwortung des Staates ersetzt werden. Das werde die Probleme nicht lösen, sondern noch verschärfen.
Viele Menschen würden dann aus Trotz ihren Widerspruch einlegen, obwohl sie eigentlich nicht gegen die Organspende seien. Und wer einmal die Entscheidung getroffen habe, werde sie vermutlich nicht wieder ändern. Statt dessen sollte das Vertrauen in die Institutionen der Organspende wiederhergestellt werden.
„Zulässig und verhältnismäßig“
Von einer Entscheidung mit großer Tragweite sprach auch Thomas Oppermann (SPD) und lenkte den Blick auf die schwerkranken Menschen und deren Angehörige, die mit der Abstimmung große Hoffnungen verbänden. Er könne das Unbehagen verstehen, das mit der Frage nach dem eigenen Tod verbunden sei. Die Widerspruchsregelung beeinträchtige jedoch nicht das Selbstbestimmungsrecht der Menschen, sondern sorge im Gegenteil für die Nutzung des Selbstbestimmungsrechts.
Wer kein Spender sein wolle, könne dies einfach dokumentieren. Dies sei kein Verstoß gegen Grundrechte, sondern zulässig und verhältnismäßig. Der Ausnahmecharakter der Organspende sei das Problem, die Widerspruchsregelung mache daraus den Normalfall. So könne aus einem Paradigmenwechsel ein Einstellungswechsel werden.
„Kultur der Organspende“
Als letzter Redner warb auch Minister Jens Spahn (CDU/CSU) für die doppelte Widerspruchsregelung und hob heraus, dass ungeachtet der Entscheidung des Parlaments eine intensive gesellschaftliche Debatte über Organspenden in Gang gekommen sei. Dies zeige den Betroffenen, dass sie nicht vergessen würden und ihr Leid gesehen werde. Spahn räumte ein, das von ihm vertretene Konzept sei kein Allheilmittel, keine Wunderwaffe und werde nicht alle Problem lösen. Auch das in beiden Konzepten vorgesehen Online-Register werde nicht alle Problem lösen. Nötig sei eine Kombination mehrerer Initiativen.
Die Widerspruchslösung befördere eine Kultur der Organspende. Dabei gehe es auch um die Selbstbestimmung und Freiheit der schwer kranken Patienten. Spahn erinnerte daran, dass er selbst früher Anhänger der Entscheidungslösung gewesen sei, aber gesehen habe, dass sich damit die dramatische Lage nicht ändere. (pk/16.01.2020)