Der Streit über eine Wahlrechtsreform zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl bei künftigen Bundestagswahlen hat am Freitag, 3. Juli 2020, zu einem neuerlichen Schlagabtausch im Parlament geführt. Den Abgeordneten lag dazu neben einem Antrag der AfD-Fraktion (19/20602) ein Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat (19/20149 neu) zu seinen Beratungen über einen gemeinsamen Gesetzentwurf von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vom vergangenen November für eine entsprechende Änderung des Bundeswahlgesetzes (19/14672) vor. Danach hat der Ausschuss nach einer Sachverständigen-Anhörung vom 25. Mai dieses Jahres seine Beratungen über die Vorlage am 17. Juni vertagt. Am 1. Juli hatte der Innenausschuss die Beratung des Drei-Fraktionen-Entwurfs mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD erneut vertagt. Die ursprünglich für den 3. Juli vorgesehene Abstimmung über den Drei -Fraktionen-Entwurf hatte der Bundestag daraufhin von der Tagesordnung abgesetzt.
Geschäftsordnungsantrag abgelehnt
Die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen, Britta Haßelmann, hatte in der Debatte den Antrag zur Geschäftsordnung gestellt und ihn damit begründet, es gebe keinen Grund, den Gesetzentwurf heute nicht zur Abstimmung zu bringen. „Sie können sich keinen schlanken Fuß machen“, rief sie den Koalitionsfraktionen zu und beantragte den Eintritt in die zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs.
Der Bundestag lehnte in namentlicher Abstimmung jedoch den sofortigen Eintritt in die zweite Beratung des Gesetzentwurfs von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (19/14672) ab. 261 Abgeordnete votierten für den Antrag, 367 dagegen, es gab sieben Enthaltungen. Ziel des Gesetzentwurfs der drei Fraktionen ist eine Verkleinerung des Bundestages bei künftigen Wahlen.
Zweidrittelmehrheit nicht erreicht
Die Geschäftsordnung des Bundestages ermöglicht in Paragraf 80 Absatz 2, dass der Bundestag auf Antrag einer Fraktion (oder fünf Prozent der Abgeordneten) mit einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder beschließen kann, ohne Ausschussüberweisung in die zweite Beratung eines Gesetzentwurfs einzutreten.
Der Gesetzentwurf war zwar an den Innenausschuss überwiesen, die Beratung dort aber nicht mit einem Votum abgeschlossen worden. Die namentliche Abstimmung ergab, dass die erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht erreicht wurde und der Eintritt in die zweite und dritte Beratung somit abgelehnt war.
Bericht des Innenausschusses zum Beratungsstand
Weil die Abstimmung im federführenden Innenausschuss nicht zustande kam, hatte der Ausschuss dem Plenum einen Bericht nach Paragraf 62 der Geschäftsordnung des Bundestages zum bisherigen Verlauf der Beratungen des Gesetzentwurfs (19/20149 neu) vorgelegt, der Gegenstand der Aussprache war.
Nach Paragraf 62 der Geschäftsordnung kann eine Fraktion (oder fünf Prozent der Abgeordneten) verlangen, dass zehn Wochen nach der Überweisung einer Vorlage vom Plenum an die Ausschüsse der federführende Ausschuss dem Bundestag über den Stand der Beratungen berichtet. Wenn die Antragsteller dies verlangen, muss der Bericht im Plenum erörtert werden.
Gesetzentwurf von FDP, Linke und Grünen
Nach dem Gesetzentwurf der drei Fraktionen (19/14672) soll das System der personalisierten Verhältniswahl beibehalten, aber die Zahl der sogenannten Überhangmandate „und somit auch die Zahl der durch sie erforderlich werdenden Ausgleichsmandate“ deutlich reduziert werden. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate erhält als ihr nach dem Verhältnis der Zweitstimmen zustehen würden, und ziehen Ausgleichsmandate für andere Parteien nach sich.
Um die Entstehung von Überhangmandaten möglichst zu vermeiden, soll das Verhältnis von Listen- und Direktmandaten nach dem Willen der drei Fraktionen zugunsten der Listenmandate auf etwa 60 zu 40 verändert werden. Dazu soll die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 verringert, die Gesamtsitzzahl dagegen von 598 auf 630 erhöht werden. Zudem soll dem Gesetzentwurf zufolge „eine Vorabverteilung von Sitzen auf die Parteien in den Ländern“ entfallen, da auch dieses sogenannte Sitzkontingentverfahren „zu unnötigem Ausgleichsbedarf für andere Parteien“ führe.
Mit dem Gesetzentwurf werde die Gefahr eines übermäßigen Ansteigens der Sitzzahl über die Sollgröße hinaus „insgesamt deutlich reduziert“, schreiben die drei Fraktionen in der Begründung. Damit werde die Größe des Bundestages „konstanter und vorhersehbarer“.
CDU/CSU will 280 statt 299 Wahlkreise
In der Debatte warb Ansgar Heveling (CDU/CSU) für den Unionsvorschlag, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 zu senken und sieben Überhangmandate nicht mehr auszugleichen. Damit würden die Lasten nicht einseitig verteilt, auf föderale Bedürfnisse Rücksicht genommen und ein „für alle tragbare Anpassung des Wahlrechts angestrebt“.
Auch werde damit gewährleistet, dass Bundestagsabgeordnete für alle Bürger „erfahrbar bleiben“. Ferner trügen nicht ausgeglichene Überhangmandate, die in „einem engen Rahmen“ zulässig seien, „erheblich mit dazu bei, dass der Bundestag nicht weiter wächst“.
AfD: Zahl der Direktmandate begrenzen
Albrecht Glaser (AfD) stellte in Frage, dass für die Wahl 2021 noch Wahlkreise neu eingeteilt werden könnten. Schließlich könnten bereits seit dem 25. Juni die Kandidatenausstellungen erfolgen. Eine Lösung des Problems gebe es nur, „wenn man das Leitprinzip der Verhältniswahl über das Prinzip der partiellen Mehrheitswahl stellt“.
Überhangmandate dürften „gar nicht entstehen, dann gibt es auch kein Problem mit Ausgleichsmandaten“. Dazu gebe es nur den Weg der Begrenzung der Direktmandate auf die Zahl, die jeder Partei nach dem Verhältniswahlergebnis zusteht.
SPD hält an 299 Wahlkreisen fest
Carsten Schneider (SPD) verwies darauf, dass seiner Fraktion der Reformvorschlag ihres Koalitionspartners CDU/CSU bislang nicht schriftlich vorliege. Die SPD-Fraktion halte für die Bundestagswahl 2021 an der bisherigen Zahl von 299 Wahlkreisen fest und wolle auch keine Bundestagswahl, bei der durch Überhangmandate „der Wählerwillen nicht abgebildet wird“.
Zugleich sei sie für eine Begrenzung des Parlaments auf maximal 690 Abgeordnete, wobei gegebenenfalls die Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis nicht in den Bundestag einziehen würden. Für die Wahl 2025 soll dann eine Kommission Reformvorschläge erarbeiten.
FDP: Vorschlag der Unionsfraktion nicht akzeptabel
Konstantin Kuhle (FDP) unterstrich, dass der Unionsvorschlag mit der Ablehnung einer Wahlkreisreduzierung durch die SPD „vom Tisch“ sei. Damit sei der Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen „der einzige heute beschlussfähige Vorschlag“.
Der Vorschlag der CDU/CSU, sieben Überhangmandate nicht auszugleichen, bedeute, dass der nächste Bundestag „nicht das Wahlergebnis repräsentieren soll“. Dies sei „für die demokratische Opposition in diesem Haus nicht akzeptabel“.
Linke: Absichtliche Begünstigung von CDU und CSU
Friedrich Straetmanns (Die Linke) warf der Unionsfraktion vor, dass ihr „fadenscheiniges Vorgehen“ bei der Wahlrechtsreform von „mehr als einem Jahr Untätigkeit, sturer Blockadehaltung und blindem Aktionismus auf dem allerletzten Drücker“ geprägt sei.
Zugleich wertete er es als „erkennbar verfassungswidrig“, sieben Überhangmandate nicht auszugleichen. Was die Unionsfraktion damit vorhabe, sei eine „absichtliche Begünstigung“ von CDU und CSU. Dabei werde Die Linke nicht mitmachen.
Grüne: Trauerspiel von Union und SPD
Britta Haßelmann (Bündnis 90/Die Grünen) sagte, der Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen treffe „alle Parteien proportional gleich“, sei gerecht und verfassungsgemäß. Sie kritisierte zugleich, dass Union und SPD ein „Trauerspiel“ aufführten.
Seit 2013 befasse sich der Bundestag bereits ergebnislos mit der Frage einer Wahlrechtsreform, doch spreche die Union nun von Beratungsbedarf und die SPD davon, eine neue Wahlrechtskommission einzusetzen. Auch habe sie „nicht ansatzweise den Eindruck“, dass sich Union und SPD nach der Sommerpause im September einigen wollten.
Antrag der AfD überwiesen
Die AfD-Fraktion fordert in ihrem Antrag (19/20602) die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der bei Erhalt der derzeitigen Wahlkreise das Prinzip der personalisierten Verhältniswahl beibehält und gewährleistet, dass die gesetzlich festgelegte Regelgröße des Bundestags von 598 Abgeordneten nicht überschritten wird. Der Antrag wurde zur federführenden Beratung an den Innenausschuss überwiesen.
Dazu soll der Gesetzentwurf dem Antrag zufolge sicherstellen, „dass eine Partei in einem Bundesland höchstens so viele Direktmandate erhält, wie es dem Zweitstimmenanteil der Partei in dem Land entspricht“. Beibehalten werden soll nach dem Willen der Fraktion, „dass für den Fall, dass einer Partei durch den Zweitstimmenanteil mehr Mandate zustehen, als sie Direktmandate errungen hat, diese über den Zugriff auf die Landesliste besetzt werden“. Ferner soll der Gesetzentwurf dem Antrag zufolge dem Wähler „mehrere Zweitstimmen zur Verfügung“ stellen, „um einzelne Bewerber zu kennzeichnen und damit direkten Einfluss zu nehmen auf die Reihenfolge der Bewerber auf der Landesliste“. (sto/03.07.2020)