Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 206. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2016 Inhalt: Würdigung des Vizepräsidenten Peter Hintze 20487 A Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeordneten Dr. Heinz Riesenhuber 20488 A Wahl des Herrn Prof. Dr. Rainer Eckert als Mitglied des Wissenschaftlichen Beratungsgremiums gemäß § 39 a des Stasiunterlagengesetzes 20488 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 20488 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 19, 35 a und 31 20489 A Nachträgliche Ausschussüberweisung 20489 B Tagesordnungspunkt 3: a)   – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) Drucksachen 18/9522, 18/9954, 18/10102 Nr. 16, 18/10523 20489 C – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10526 20489 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Das Teilhaberecht menschenrechtskonform gestalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit dem Bundesteilhabegesetz volle Teilhabe ermöglichen Drucksachen 18/10014, 18/9672, 18/10523 20489 D Andrea Nahles, Bundesministerin BMAS 20489 D Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) 20491 A Karl Schiewerling (CDU/CSU) 20492 D Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20494 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) 20494 D Kerstin Tack (SPD) 20495 C Katja Mast (SPD) 20496 D Katrin Werner (DIE LINKE) 20498 B Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) 20499 B Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20500 C Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) 20501 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) 20502 A Thomas Stritzl (CDU/CSU) 20502 C Dr. Carola Reimann (SPD) 20503 D Uwe Schummer (CDU/CSU) 20504 C Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20505 A Kerstin Tack (SPD) 20506 B Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU) 20507 D Jutta Eckenbach (CDU/CSU) 20508 D Tagesordnungspunkt 4: a)   – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III) Drucksachen 18/9518, 18/9959, 18/10102 Nr. 19, 18/10510 20510 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10511 20510 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah gestalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Pflege vor Ort gestalten – Bessere Bedingungen für eine nutzerorientierte Versorgung schaffen Drucksachen 18/8725, 18/9668, 18/10510 20510 C Ingrid Fischbach, Parl. Staatssekretärin BMG 20510 C Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) 20512 B Dr. Karl Lauterbach (SPD) 20513 C Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20514 D Maria Michalk (CDU/CSU) 20516 B Pia Zimmermann (DIE LINKE) 20518 A Hilde Mattheis (SPD) 20519 C Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20520 D Erwin Rüddel (CDU/CSU) 20521 D Mechthild Rawert (SPD) 20523 A Erich Irlstorfer (CDU/CSU) 20524 C Heike Baehrens (SPD) 20525 C Tino Sorge (CDU/CSU) 20526 C Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zeit für einen Kurswechsel – Rentenniveau deutlich anheben Drucksache 18/10471 20528 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rentenniveau anheben – Für eine gute, lebensstandardsichernde Rente Drucksachen 18/6878, 18/10517 20528 D Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) 20528 D Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) 20530 D Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) 20531 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20533 C Katja Mast (SPD) 20535 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20536 A Stephan Stracke (CDU/CSU) 20537 B Dr. Martin Rosemann (SPD) 20538 C Jana Schimke (CDU/CSU) 20540 A Ralf Kapschack (SPD) 20542 A Kerstin Griese (SPD) 20543 A Tagesordnungspunkt 35: b) Antrag der Abgeordneten Özcan Mutlu, Tabea Rößner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die digitale Welt verstehen und mitgestalten – Lernen und Lehren digitalisieren Drucksache 18/6203 20544 B c) Antrag der Abgeordneten Özcan Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bildungseinrichtungen fit für die digitale Gesellschaft und die Zukunft machen Drucksache 18/10474 20544 C Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundeswaldgesetzes Drucksache 18/10456 20544 C b) Antrag der Abgeordneten Peter Meiwald, Oliver Krischer, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Minamata-Konvention zu Quecksilber unverzüglich ratifizieren Drucksache 18/7657 20544 D c) Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Beate Walter-Rosenheimer, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nachhaltigkeit im politischen Prozess verankern Drucksache 18/10475 20544 D d) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Erster Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen des Conterganstiftungsgesetzes sowie über die gegebenenfalls notwendige Weiterentwicklung dieser Vorschriften Drucksache 18/8780 20544 D Tagesordnungspunkt 36: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einbeziehung der Bundespolizei in den Anwendungsbereich des Bundesgebührengesetzes Drucksachen 18/9759, 18/10276 20545 A b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/55/EU über die elektronische Rechnungsstellung im öffentlichen Auftragswesen Drucksachen 18/9945, 18/10287 20545 B c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versorgungsrücklagegesetzes und weiterer dienstrechtlicher Vorschriften Drucksachen 18/9532, 18/9834, 18/10512 20545 C d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 7. April 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über den grenzüberschreitenden Einsatz von Luftfahrzeugen zur Ergänzung des Abkommens vom 9. Oktober 1997 über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden in den Grenzgebieten Drucksachen 18/9988, 18/10492 20546 A e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Freiheit für Mumia Abu-Jamal Drucksachen 18/4722, 18/7349 20546 B f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Antibiotika-Resistenzen vermindern – Erfolgreichen Weg bei Antibiotikaminimierung in der Human- und Tiermedizin gemeinsam weitergehen Drucksachen 18/9789, 18/10308 20546 B g)–l) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 382, 383, 384, 385, 386 und 387 zu Petitionen Drucksachen 18/10421, 18/10422, 18/10423, 18/10424, 18/10425 und 18/10426 20546 C Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung Drucksachen 18/10353, 18/10482 20547 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung Drucksache 18/10469 20547 B Hubertus Heil (Peine) (SPD) 20547 C Hubertus Zdebel (DIE LINKE) 20548 D Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) 20549 C Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20550 D Dr. Nina Scheer (SPD) 20551 D Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) 20552 D Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20554 A Tagesordnungspunkt 7: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften Drucksachen 18/9986, 18/10348, 18/10444 Nr. 1.7, 18/10495 20554 C – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10504 20554 D Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) 20554 D Richard Pitterle (DIE LINKE) 20556 A Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) 20557 A Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20558 C Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) 20559 C Matthias Ilgen (SPD) 20560 B Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) 20561 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Parteiensponsoring regeln Drucksache 18/10476 20563 A Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20563 A Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) 20564 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20566 A Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) 20566 B Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) 20566 C Gabriele Fograscher (SPD) 20567 C Michael Frieser (CDU/CSU) 20568 D Dietmar Nietan (SPD) 20569 D Barbara Woltmann (CDU/CSU) 20571 B Tagesordnungspunkt 9: a)   – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes Drucksachen 18/9985, 18/10351, 18/10444 Nr. 1.9, 18/10521 20572 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10522 20572 C b)   – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch Drucksachen 18/9984, 18/10349, 18/10444 Nr. 1.8, 18/10519 20572 C – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10520 20572 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Existenzminimum verlässlich absichern, gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen Drucksachen 18/10250, 18/10519 20572 D Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekretärin BMAS 20572 D Katja Kipping (DIE LINKE) 20573 C Jana Schimke (CDU/CSU) 20574 C Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 20575 B Daniela Kolbe (SPD) 20576 C Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) 20577 C Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD) 20578 D Tobias Zech (CDU/CSU) 20580 A Namentliche Abstimmung 20581 C Ergebnis 20587 C Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Wahl von Betriebsräten erleichtern und die betriebliche Interessenvertretung sicherstellen – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Katja Keul, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräte braucht das Land Drucksachen 18/5327, 18/2750, 18/7595 20581 D Bernd Rützel (SPD) 20582 A Jutta Krellmann (DIE LINKE) 20583 A Wilfried Oellers (CDU/CSU) 20584 A Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20586 A Markus Paschke (SPD) 20589 D Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) 20591 A Tagesordnungspunkt 32: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am NATO-geführten Einsatz Resolute Support für die Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte in Afghanistan Drucksache 18/10347 20592 B Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg 20592 B Heike Hänsel (DIE LINKE) 20593 C Michael Roth, Staatsminister AA 20594 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20596 C Jürgen Hardt (CDU/CSU) 20597 C Florian Hahn (CDU/CSU) 20598 C Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesetzliche Grundlage für Angehörigenschmerzensgeld schaffen Drucksachen 18/5099, 18/10076 20599 C Dr. Johannes Fechner (SPD) 20599 D Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) 20600 C Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU) 20601 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20602 D Dr. Matthias Bartke (SPD) 20604 A Alexander Hoffmann (CDU/CSU) 20604 D Tagesordnungspunkt 13: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes Drucksachen 18/9466, 18/10496 20605 D Ingrid Pahlmann (CDU/CSU) 20606 A Birgit Menz (DIE LINKE) 20607 A Johann Saathoff (SPD) 20607 D Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20609 B Kordula Kovac (CDU/CSU) 20610 C Namentliche Abstimmung 20611 D Ergebnis 20614 C Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Wolfgang Gehrcke, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Türkei-Politik neu ausrichten Drucksache 18/10472 20612 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) 20612 A Dr. Andreas Nick (CDU/CSU) 20613 A Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20617 A Dr. Dorothee Schlegel (SPD) 20618 B Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) 20619 C Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20619 D Alexander Radwan (CDU/CSU) 20620 A Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu der Verordnung der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen: Verordnung zur Förderung der Transparenz auf dem Telekommunikationsmarkt (TK-Transparenzverordnung – TKTransparenzV) Drucksachen 18/8804, 18/8934 Nr. 2, 18/10508 20621 B Tagesordnungspunkt 16: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland voranbringen Drucksachen 18/6341, 18/10296 20621 C b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches Drucksachen 18/8621, 18/10509 20621 C Tagesordnungspunkt 17: a)   – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen Drucksachen 18/9536, 18/9956, 18/10102 Nr. 17, 18/10506 20622 A – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10507 20622 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit Transparenz Steuervermeidung multinationaler Unternehmen eindämmen – Country-by-Country-Reporting einführen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Steuerschlupflöcher schließen – Gewinnverlagerung durch Lizenzzahlungen einschränken Drucksachen 18/2617, 18/9043, 18/10506 20622 B Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusiver Hochschulen fördern Drucksache 18/9127 20622 D Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zur Vergabe von Wegenutzungsrechten zur leitungsgebundenen Energieversorgung Drucksachen 18/8184, 18/10503 20623 A Tagesordnungspunkt 21: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch Drucksachen 18/10211, 18/10518 20623 B Anette Kramme, Parl. Staatssekretärin BMAS 20623 C Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) 20624 A Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) 20625 A Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 20625 D Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD) 20626 D Tobias Zech (CDU/CSU) 20627 D Tagesordnungspunkt 22: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Luftsicherheitsgesetzes Drucksachen 18/9752, 18/9833, 18/10493 20629 B Tagesordnungspunkt 23: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung Drucksachen 18/9983, 18/10263, 18/10444 Nr. 1.4, 18/10470 20629 C Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) 20629 D Richard Pitterle (DIE LINKE) 20631 A Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU) 20631 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20633 A Alexander Hoffmann (CDU/CSU) 20634 A Tagesordnungspunkt 24: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes Drucksachen 18/9440, 18/10440 20635 A – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10441 20635 B Dorothee Bär, Parl. Staatssekretärin BMVI 20635 B Herbert Behrens (DIE LINKE) 20636 C Sebastian Hartmann (SPD) 20637 C Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20639 B Thomas Jarzombek (CDU/CSU) 20640 C Tagesordnungspunkt 25: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA-Neuordnungsgesetz – FMSANeuOG) Drucksachen 18/9530, 18/9955, 18/10307 Nr. 1, 18/10501 20642 A Tagesordnungspunkt 26: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Erlass und zur Änderung marktordnungsrechtlicher Vorschriften sowie zur Änderung des Einkommensteuergesetzes Drucksachen 18/10237, 18/10468 20642 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10502 20642 B Tagesordnungspunkt 27: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Energiestatistikgesetzes (EnStatG) Drucksache 18/10350 20642 C Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbereitung eines registergestützten Zensus einschließlich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2021 (Zensusvorbereitungsgesetz 2021 – ZensVorbG 2021) Drucksachen 18/10458, 18/10484 20642 D Tagesordnungspunkt 29: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes Drucksache 18/10455 20643 A Nächste Sitzung 20643 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 20645 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Ekin Deligöz, Katharina Dröge, Harald Ebner, Kai Gehring, Bärbel Höhn, Katja Keul, Sven-Christian Kindler, Maria Klein-Schmeink, Sylvia Kotting-Uhl, Monika Lazar, Dr. Tobias Lindner, Peter Meiwald, Beate Müller-Gemmeke, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Dr. Julia Verlinden und Beate Walter-Rosenheimer (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) (Tagesordnungspunkt 3 a) 20645 C Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) zu der Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III) (Tagesordnungspunkt 4 a) 20646 B Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen: Verordnung zur Förderung der Transparenz auf dem Telekommunikationsmarkt (TK-Transparenzverordnung – TKTransparenzV) (Tagesordnungspunkt 15) 20646 C Hansjörg Durz (CDU/CSU) 20646 D Klaus Barthel (SPD) 20648 A Thomas Lutze (DIE LINKE) 20650 C Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20650 D Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland voranbringen – des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches (Tagesordnungspunkt 16 a und b) 20651 C Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) 20651 C Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) 20652 C Dirk Wiese (SPD) 20653 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) 20654 A Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20655 A Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit Transparenz Steuervermeidung multinationaler Unternehmen eindämmen – Country-by-Country-Reporting einführen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Steuerschlupflöcher schließen – Gewinnverlagerung durch Lizenzzahlungen einschränken (Tagesordnungspunkt 17 a und b) 20656 A Markus Koob (CDU/CSU) 20656 B Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) 20657 A Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) 20658 A Richard Pitterle (DIE LINKE) 20660 A Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20660 C Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusiver Hochschulen fördern (Tagesordnungspunkt 18) 20662 D Xaver Jung (CDU/CSU) 20662 D Uwe Schummer (CDU/CSU) 20663 C Oliver Kaczmarek (SPD) 20664 C Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) 20665 C Nicole Gohlke (DIE LINKE) 20667 A Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20667 C Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zur Vergabe von Wegenutzungsrechten zur leitungsgebundenen Energieversorgung (Tagesordnungspunkt 20) 20668 C Ingbert Liebing (CDU/CSU) 20668 C Johann Saathoff (SPD) 20669 C Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) 20670 D Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20672 A Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Luftsicherheitsgesetzes (Tagesordnungspunkt 22) 20672 C Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) 20672 D Peter Wichtel (CDU/CSU) 20673 C Susanne Mittag (SPD) 20674 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) 20675 C Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20676 C Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA-Neuordnungsgesetz – FMSANeuOG) (Tagesordnungspunkt 25) 20677 A Dr. André Berghegger (CDU/CSU) 20677 A Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) 20677 D Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) 20678 D Roland Claus (DIE LINKE) 20680 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20680 D Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Erlass und zur Änderung marktordnungsrechtlicher Vorschriften sowie zur Änderung des Einkommensteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 26) 20681 B Kees de Vries (CDU/CSU) 20681 C Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) 20681 D Karin Binder (DIE LINKE) 20682 D Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20683 D Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Energiestatistikgesetzes (EnStatG) (Tagesordnungspunkt 27) 20684 C Thomas Bareiß (CDU/CSU) 20684 C Florian Post (SPD) 20685 D Johann Saathoff (SPD) 20686 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) 20687 A Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20687 C Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbereitung eines registergestützten Zensus einschließlich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2021 (Zensusvorbereitungsgesetz 2021 – ZensVorbG 2021) (Tagesordnungspunkt 28) 20688 B Michael Frieser (CDU/CSU) 20688 B Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU) 20688 D Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) 20689 C Jan Korte (DIE LINKE) 20690 B Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20691 A Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes (Tagesordnungspunkt 29) 20692 A Oswin Veith (CDU/CSU) 20692 A Gabriele Fograscher (SPD) 20693 A Martina Renner (DIE LINKE) 20693 D Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 20694 B Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär BMI 20694 D 206. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2016 Beginn: 10.02 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Bleiben Sie bitte von Ihren Plätzen erhoben. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Am vergangenen Samstag ist nach langer, schwerer Krankheit unser Kollege und Vizepräsident Peter Hintze gestorben. Mit ihm verlieren wir einen der erfahrensten und angesehensten Politiker, der unser Land über drei Jahrzehnte mitgestaltet hat, einen Parlamentarier mit Leib und Seele – und viele von uns einen einfühlsamen Zuhörer, klugen Ratgeber und guten Freund. „Eine still prägende Gestalt der Republik“, hat man ihn in einem Nachruf genannt. Es hätte ihm gefallen, und es ist nicht übertrieben. Geboren in Bad Honnef, wurde Peter Hintze nach dem Studium der Theologie zunächst Pfarrer in Königswinter; einer größeren Öffentlichkeit wurde er bereits in den 1980er-Jahren bekannt, als der damalige Bundesminister für Jugend und Familie, Heiner Geißler, ihn zum Bundesbeauftragten für den Zivildienst berief. Peter Hintze bekleidete in seiner politischen Laufbahn zahlreiche Ämter in Partei, Regierung und Parlament, unter anderem als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Familie und Jugend, später acht Jahre im Bundeswirtschaftsministerium, dazu auch als Koordinator der Bundesregierung für Luft- und Raumfahrt. Diesem Haus gehörte er über ein Vierteljahrhundert an; 1990 wurde er erstmals in den Bundestag gewählt – in das erste gesamtdeutsche Parlament. In seiner ersten Rede zur damaligen Hauptstadtdebatte beschwor er den weiteren Bau Europas als vorrangige Aufgabe. Dies blieb eines seiner zentralen Anliegen, das er später auch als langjähriger Vizepräsident der Europäischen Volkspartei und der Christlich Demokratischen Internationale nachhaltig vertrat. Es ist schön, dass dieses europäische Engagement heute Morgen auch in der Anwesenheit des Präsidenten der Assemblée nationale, Claude Bartolone, zum Ausdruck kommt und gewürdigt wird. Die Wahl Peter Hintzes zum Vizepräsidenten des Bundestages zu Beginn dieser Legislaturperiode war Ausdruck der hohen Wertschätzung, die er unter Kolleginnen und Kollegen über die Fraktionsgrenzen hinweg genoss. Seine bemerkenswerten Fähigkeiten, ausgleichend zu wirken und Brücken zwischen unterschiedlichen Auffassungen und Interessen zu bauen, wurden nun einer breiteren Öffentlichkeit bewusst, in der viele ihn vor allem als Generalsekretär der CDU in den 1990er-Jahren in Erinnerung hatten – ein eher polarisierendes Amt, in dem er auch zuzuspitzen wusste und durchaus gerne die Kontroverse gesucht hat: mal mit und mal ohne rote Socken. Peter Hintze war ein Mann mit Überzeugungen, der das offene Wort ebenso pflegte wie seinen rheinländischen Humor mit der Begabung zur Selbstironie. Wichtigster Maßstab seiner politischen Arbeit war – in seinen eigenen Worten – die Freiheit des Menschen, verstanden als Autonomie der Person. „Die Selbstbestimmung ist der Kern der Menschenwürde“, betonte er immer wieder. Darauf pochte er vor allem in seinen stark beachteten Redebeiträgen zu den großen ethischen Debatten innerhalb wie außerhalb des Parlaments über Grundsatzfragen, die den Beginn und das Ende des Lebens betreffen. Hier meldete er sich als theologisch versierter und religiös geprägter, aber liberal argumentierender Mensch regelmäßig zu Wort, zuletzt und unvergessen zu den angemessenen rechtlichen Rahmenbedingungen der Sterbebegleitung. Peter Hintze hatte eine ausgeprägte Liebe zum Leben. Und wie nur wenige andere Politiker hat er sich intensiv mit dem Sterben beschäftigt. Dass die Antworten bei dieser existenziellen Frage zwischen Leben und Tod unterschiedlich ausfallen können, gehörte für ihn „zur evangelischen Freiheit“. Streitbar war er, der gläubige Christ, eben auch in seinem Glauben und im Umgang mit seiner Kirche. „Zwei zentrale Gebote tragen unsere Werteordnung“, rief er uns im vergangenen Jahr in dieser denkwürdigen Debatte in Erinnerung: „das Gebot der Menschenwürde und das Gebot der Nächstenliebe“. Auch wenn er so aus seinem christlichen Grundverständnis heraus argumentierte, stellte er – abweichend von der Haltung der Kirchen – aus seiner Sicht klar – Zitat –: „Leiden im Sterben ist sinnlos!“ Auch als er selbst längst sterbenskrank war, hat er dieses Schicksal mit bewundernswerter Haltung ertragen, wie all diejenigen berichten können, die bis zuletzt, bis in die letzten Wochen und Tage hinein, mit ihm Kontakt hatten: ohne jede erkennbare Verbitterung. Freundschaft, Loyalität und Treue bedeuteten Peter Hintze viel – in der Politik genauso wie im richtigen Leben. Das zeichnete ihn als Mensch aus. Und das wird vielen von uns ebenso in Erinnerung bleiben wie die Lebensleistung eines Politikers, der seinem Land gedient hat und dabei stets mit Nachdruck auch für die europäische Idee und die notwendige Zusammenarbeit eingetreten ist. Der Politiker wie der Mensch Peter Hintze wird uns fehlen. Wir trauern mit der Familie und wünschen seiner Frau, seinem Sohn und allen Angehörigen in dieser schweren Zeit Kraft und Trost. Ich danke Ihnen. (Die Anwesenden nehmen Platz) Bevor wir in die Tagesordnung unserer heutigen Plenarsitzung eintreten, möchte ich dem Kollegen Heinz Riesenhuber zu seinem heutigen 81. Geburtstag gratulieren (Beifall) und alles Gute für ein Lebensjahr wünschen, das sich von vielen anderen, die ihm vorausgegangen sind, deutlich unterscheiden wird und bei dem wir uns an den Gedanken gewöhnen müssen, dass deutscher Parlamentarismus irgendwann auch ohne Heinz Riesenhuber stattfinden muss. (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh!) – Das hört sich fast an wie ein Antrag auf Verfassungsänderung, der aber noch der Schriftform und förmlicher Verfahren bedürfte. Dann müssen wir noch ein Mitglied des wissenschaftlichen Beratungsgremiums gemäß § 39a des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wählen. Die SPD-Fraktion schlägt vor, für den ausgeschiedenen Professor Dr. Klaus-Dietmar Henke für den Rest der Amtszeit Herrn Professor Dr. Rainer Eckert als Mitglied des Beratungsgremiums zu berufen. Stimmen Sie dem zu? – Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist Herr Professor Eckert als Mitglied des wissenschaftlichen Beratungsgremiums gewählt. Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aktuelle Lage in Aleppo und Syrien (siehe 205. Sitzung) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 35) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundeswaldgesetzes Drucksache 18/10456 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Meiwald, Oliver Krischer, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Minamata-Konvention zu Quecksilber unverzüglich ratifizieren Drucksache 18/7657 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Beate Walter-Rosenheimer, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nachhaltigkeit im politischen Prozess verankern Drucksache 18/10475 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur d) Unterrichtung durch die Bundesregierung Erster Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen des Conterganstiftungsgesetzes sowie über die gegebenenfalls notwendige Weiterentwicklung dieser Vorschriften Drucksache 18/8780 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung Drucksache 18/10469 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Parteiensponsoring regeln Drucksache 18/10476 Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 19 – hier geht es um die abschließende Beratung des Entwurfes eines Gesetzes zur verbesserten Durchsetzung des Anspruchs der Urheber und ausübenden Künstler auf angemessene Vergütung – und 35 a – auch hier eine erste Beratung des Gesetzentwurfs zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen – werden abgesetzt. Des Weiteren soll auch der Tagesordnungspunkt 31 abgesetzt werden – hier geht es um Beschlussempfehlungen zum Thema Bahnpolitik – und stattdessen der Tagesordnungspunkt 8 – hier geht es um einen Antrag mit dem Titel „Familien stärken – Kinder fördern“ – mit einer Debattendauer von nunmehr 77 Minuten aufgerufen werden. Die Tagesordnungspunkte 11 – hier geht es um den NATO-Beitritt Montenegros – und 32 – hier geht es um die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan – tauschen unter Beibehaltung der dafür vorgesehenen Debattenzeiten ihre Plätze. Schließlich mache ich Sie noch auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam, die Sie sicherlich längst registriert und hoffentlich auch längst gebilligt haben: Der am 10. November 2016 (199. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen Drucksache 18/10207 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss Digitale Agenda Der guten Ordnung halber frage ich, ob jemand Einwände hat. – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Dann kommen wir jetzt zu unseren Tagesordnungspunkten 3 a und 3 b: a)   – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) Drucksachen 18/9522, 18/9954, 18/10102 Nr. 16 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Drucksache 18/10523 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10526 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Das Teilhaberecht menschenrechtskonform gestalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit dem Bundesteilhabegesetz volle Teilhabe ermöglichen Drucksachen 18/10014, 18/9672, 18/10523 Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Einwände sind nicht erkennbar. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Bundesministerin Andrea Nahles. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Weniger behindern, mehr möglich machen: Das ist der Kern des Bundesteilhabegesetzes. Dieses neue Sozialgesetzbuch IX steht damit in einer Reihe wichtiger politischer Wegmarken auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft. Begonnen haben wir in Deutschland diesen Weg vor mehr als 20 Jahren. 1994 haben wir das Verbot der Benachteiligung von Behinderten in unserer Verfassung festgeschrieben. 2001 ist das SGB IX in Kraft getreten. Seit 2009 gilt die UN-Behindertenrechtskonvention auch bei uns. Heute gehen wir auf diesem Weg den nächsten Schritt. Das ist ein großer, ein mutiger Schritt; denn es ist nichts Geringeres als ein Systemwechsel. Wir führen die Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe heraus und bringen sie – gesetzestechnisch – an die richtige Stelle als Leistungsrecht in das SGB IX. Auf unserem Weg haben wir viel erlebt: Zweifel, Kritik, gezielte Desinformation, auch Enttäuschung und Zorn, ebenso jedoch Zuspruch und Ermunterung. Ein anspruchsvoller politischer Prozess ist daraus geworden. Nun liegt das neue SGB IX vor uns. Es ist im Prozess noch einmal besser geworden. Wir haben noch einmal zusätzliche Finanzmittel erstritten. Darüber freue ich mich sehr. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lassen Sie mich an drei Punkten verdeutlichen, was das Bundesteilhabegesetz ist und was wir erreicht haben: Erstens. Wir vereinfachen die Verwaltung für die Bürgerinnen und Bürger: ein Leistungsantrag, wo bisher viele nötig waren. Die Leistungen werden aus einer Hand erbracht. Entscheidend ist die Unterstützung für die Menschen mit Behinderung und nicht etwa, was der einzelne Träger dem anderen zu sagen hat. Das müssen diese nun untereinander klären, aber nicht mehr auf dem Rücken der Betroffenen. Das ist wirklich ein großer Fortschritt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der zweite wichtige Punkt ist: Bei der Eingliederungshilfe werden Einkommen und Vermögen von Ehe- und Lebenspartnern künftig nicht mehr herangezogen. Diese lebensfremde Regelung wurde von vielen schlicht als Heiratshindernis empfunden. Das schaffen wir nun ab. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch die Freigrenzen für eigenes Einkommen und Vermögen werden um ein Vielfaches angehoben, damit es sich lohnt, eine Arbeit aufzunehmen. Der Schonbetrag für Vermögen in der Sozialhilfe wird ebenfalls erhöht. Das ist ein wichtiges Ergebnis, das die Bundestagsfraktionen in den Verhandlungen noch erzielen konnten. Die dritte wichtige Verbesserung sind neue Chancen auf Arbeit vor allem auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Wir wollen mit dem Budget für Arbeit Arbeitgeber dafür gewinnen, sich für Menschen mit Behinderung zu entscheiden. Das tun noch immer zu wenige. 39 000 Unternehmen in Deutschland beschäftigen niemanden mit Behinderung. Das darf nicht so bleiben. Wir gehen nun den Weg mit dem Budget für Arbeit. Einige Bundesländer wie mein Heimatland Rheinland-Pfalz haben das schon ausprobiert. Es besteht aber für die Betroffenen die Möglichkeit, in die Werkstatt zurückzukehren, wenn es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht klappt. Wir machen daraus keine ideologische Frage. Wir schaffen vielmehr eine praktische Regelung, die den Betroffenen helfen soll, den notwendigen Mut aufzubringen, um den angeblichen Schonbereich der Werkstätten zu verlassen. (Beifall bei der SPD) Das sind nur drei Meilensteine auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft. Ein großes Thema in der Debatte war auch die Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und Pflege. Da möchte ich mich bei den Kollegen aus dem Gesundheitsbereich bedanken, insbesondere bei Minister Gröhe; denn hierzu mussten wir viele Sachen miteinander klären. Hierzu haben auch die Länder im Bundesrat einen guten Vorschlag eingebracht. Für Menschen mit Behinderung sollte die Hilfe zur Pflege über die Eingliederungshilfe erbracht werden. Wir nennen das Lebenslagenansatz. Ich freue mich, dass das so gelungen ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin froh, dass die Verhandlungen diese Lösung erbracht haben. Es war nicht immer einfach, aus den vielschichtigen und – das muss ich ehrlich zugeben – teilweise völlig gegensätzlichen Interessenlagen einigungsfähige Positionen zu entwickeln. Wir haben uns dafür sehr viel Zeit genommen. Über ein Jahr bevor das Gesetz überhaupt auf den Weg kam, haben wir einen Dialog mit allen Beteiligten, mit Kommunen und Ländern, geführt und Interessen abgeglichen. Es ist wichtig, dass wir an dieser Stelle sagen, dass es auch Interessenkonflikte gibt und dass diese ein Stück weit bleiben werden. Dass wir in Zukunft auf dem Weg, den wir heute mit einem guten Fundament versehen, noch viele Baustellen haben werden, ist klar. Aber das schmälert nicht den großen Fortschritt, den wir heute auf den Weg bringen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte mich bei allen bedanken, auch bei den Kritikern, die sich in sehr deutlicher Form zu Wort gemeldet haben. Ich möchte an dieser Stelle sagen: Ich sehe das als Fortschritt an. Früher war Behinderung etwas – ich habe eine behinderte Tante –, das versteckt wurde. Die Familie hat sich dafür mehr oder weniger geschämt. Da war eine ganz andere Haltung. Wir und die Betroffenen selber haben uns langsam aus dieser Haltung herausgearbeitet. Wenn die Betroffenen sich heute laut in diesen Prozess einbringen, dann ist das doch gut. Das ist genau das, was wir wollen. Ich habe mich gelegentlich darüber geärgert, wie ich mich auch über andere ärgere. Jetzt sind wir aber auch da ein Stück weit in der ganz normalen Auseinandersetzung, und das ist auch richtig so. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ein solches Gesetz, das wir über Jahre erarbeitet haben, macht man nicht allein. Ich möchte ausdrücklich meinem Haus, Abteilung V, danken und besonders Gabriele Lösekrug-Möller, meiner Parlamentarischen Staatssekretärin, die die Begabung hat, die mir manchmal abgeht, nämlich ausgleichend zu wirken. In diesem Sinne vielen Dank. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Auch die Beteiligungskultur in diesem Gesetzgebungsverfahren, dieser intensive Dialog, ist etwas Besonderes und, wie ich finde, Vorbildliches, was wir auch in anderen Gesetzgebungsverfahren gebrauchen können. Das wird auch weitergehen. Die neuen Regelungen der Eingliederungshilfe werden erst am 1. Januar 2020 in Kraft treten. Die Regelungen zum leistungsberechtigten Personenkreis, die zu vielen Sorgen geführt haben, führen wir erst ab dem 1. Januar 2023 ein. Bis dahin wollen wir miteinander erproben und gemeinsam lernen. Ich bin mir sicher, dass sich viele der jetzigen Ängste auf der Strecke, so hoffe ich, positiv auflösen werden. Da bin ich ganz zuversichtlich. Aber diese Zeit nehmen wir uns; denn wir wollen die Leute mitnehmen. Wir wollen den Menschen die Ängste nehmen. Deshalb haben wir eine längere Einleitungsphase bei diesem Gesetz. Wenn wir feststellen, dass es noch besser geht, dann müssen wir das eben machen. So geht gute Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, so kommen wir weiter bei der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. Denn das ist es, was unser Herzensanliegen ist. Das ist heute mit einem neuen Gesetz auf einem guten Weg. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Kollege Dr. Dietmar Bartsch das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, die Sie sich die Debatte jetzt bei Phoenix live anschauen! Frau Nahles, Sie haben eben dargelegt, welche historischen Etappen es beim Bundesteilhabegesetz gab. In besonderer Weise war natürlich die UN-Behindertenrechtskonvention ein Einschnitt, weil diese die Schaffung eines modernen Teilhaberechts für Menschen mit Behinderungen verlangt. Diese Konvention – daran will ich erinnern – ist seit 2009 geltendes Recht in Deutschland. Die Herstellung von gleichberechtigter Teilhabe am beruflichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben der Gesellschaft ist eine menschenrechtliche Verpflichtung. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie haben sich in Ihrem Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, ein modernes Teilhabegesetz zu schaffen, das aus dem derzeitigen Fürsorgesystem herausführt und den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention entspricht. Wir hatten an Ihrem Koalitionsvertrag extrem viel zu kritisieren, an dieser Stelle aber ausdrücklich nichts; denn das ist ein hoher Anspruch. Das ist sehr vernünftig, und wir als Linke hatten die Hoffnung gehabt, dass Sie diesen Anspruch umsetzen. Ich will auch klar und deutlich sagen: Ja, es gibt in dem Gesetz Verbesserungen. Es ist gut, dass Sie eine unabhängige Teilhabeberatung und einen Anspruch auf Assistenz für Eltern von Kindern mit Behinderungen einführen. Es ist gut, dass Sie das Entgelt in Werkstätten für behinderte Menschen erhöhen. Ja, es ist gut, dass Sie die Schwerbehindertenvertretungen und die Werkstatträte stärken und Frauenbeauftragte in Werkstätten einführen. Es ist auch gut, dass das Budget für Arbeit endlich festgeschrieben wird. Das alles ist gut. Aber, Frau Nahles, Sie haben eben davon gesprochen, dass das ein großer Schritt ist und dass es ein paar Baustellen gibt. Es gibt Großbaustellen bei dem, was Sie vorlegen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Gesetz verdient den Namen Bundesteilhabegesetz nicht, weil die uneingeschränkte und gleiche gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen eben nicht erreicht wird. Von einer Herauslösung aus dem Fürsorgesystem kann nicht die Rede sein, das wäre aber der Kern eines solchen Gesetzes. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die Unterhaltspflicht von Eltern für volljährige Kinder, die Leistungen aus der Eingliederungshilfe beziehen, soll erhalten bleiben. Sie ändern nichts an der Möglichkeit, Betroffene in Heime zu zwingen, wenn die Kosten für die Unterstützung zu Hause zu hoch sind. Sie schaffen die Möglichkeit, Menschen zu zwingen, ihre Assistenz mit anderen zu teilen, und verhindern damit eine selbstbestimmte gesellschaftliche Teilhabe. (Dr. Carola Reimann [SPD]: Das stimmt doch nicht! Das ist alles nicht wahr!) Auch in Zukunft wird das Einkommen und Vermögen von Menschen angerechnet, wenn sie Teilhabeleistungen erhalten, auch wenn hier Verbesserungen erreicht wurden. Auch in Zukunft werden nicht alle Menschen, die Unterstützung brauchen, diese auch bekommen. Auch in Zukunft wird es keine deutliche Verbesserung für Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geben. Sie schränken die Rechte von Menschen mit Behinderung ein, und zwar aus Kostengründen, weil Sie Kosten sparen wollen. Dieses ganze Gesetz diskutieren Sie immer unter dem Substantiv „Kostendeckelung“. Damit sparen Sie substanziell an Menschenrechten. Das ist der Kern. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Kerstin Griese [SPD]: Es gibt doch mehr Geld! – Katja Mast [SPD]: 800 Millionen Euro mehr pro Jahr!) – Da helfen auch die 800 Millionen Euro nichts, die Sie jetzt mehr ausgeben wollen, mit denen Sie sich rühmen. Dieses Geld verschwindet zum großen Teil im System. (Kerstin Griese [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! – Zuruf von der SPD: Experte Dietmar Bartsch redet! – Kerstin Tack [SPD]: Ahnungslos!) Aber anstatt die Kritik der Betroffenen – darüber haben wir eben geredet – wirklich ernst zu nehmen und sie zu nutzen, haben Sie sie doch lange ignoriert. Sie haben ja sogar unterstellt, dass sich die Betroffenen von der Opposition instrumentalisieren lassen. (Kerstin Tack [SPD]: Wer hat Ihnen denn das erzählt?) Danke für das Kompliment an Linke und Grüne. Aber trauen Sie uns wirklich zu, massenhaft Leute bei Wind, Wetter und Eiseskälte auf die Straße zu bringen, sie zu veranlassen, sich 22 Stunden anzuketten oder in die Spree zu springen? Das kriegen Grüne und Linke wirklich nicht hin. Nein, das Problem ist: Die Menschen gehen auf die Straße, weil sie sich betrogen fühlen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) weil Sie ihre Rechte beschneiden, weil Sie zu wenig zuhören. Das ist der Kern. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Letztlich ist es doch so, dass Sie prioritär aus Kostengründen entscheiden. Das hat eben nichts mit Menschenrechten, nichts mit Selbstbestimmung und letztlich auch nichts mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu tun. (Dr. Carola Reimann [SPD]: Frechheit!) Mit den eingebrachten Änderungsanträgen zum Gesetz, die wir heute auch diskutieren, haben die Regierungsfraktionen Union und SPD einige der Härten des Gesetzes abgemildert, und sie haben große Scherben, die Frau Nahles hinterlassen hat, jetzt eingesammelt. Es waren ja Gott sei Dank die Regierungsfraktionen, die hier noch Veränderungen erzielt haben. – Und Sie haben damit letztlich dem enormen Druck der Proteste von Betroffenen nachgegeben. Das ist doch der Kern: Außerparlamentarisches Engagement lohnt sich, das kann man an den Veränderungen sehen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das gehört doch zur Demokratie dazu! Das ist doch normal! Für Sie vielleicht nicht!) Ich kann nur feststellen, dass es selten Gesetze gegeben hat, zu denen es so viele Briefe und Stellungnahmen gab. Es ist eben kein Zufall, dass sowohl ich als Fraktionsvorsitzender als auch meine Kollegin Katrin Göring-Eckardt dazu reden werden. Es ist eben ein Thema, das viele, die hier auch zusehen, bewegt. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Dann sollten Sie aber etwas davon verstehen, wenn Sie hier reden! – Katja Mast [SPD]: Lassen Sie mal Ihren Ministerpräsidenten hier reden!) Große Verbesserungen für die jetzige Situation von Betroffenen haben aber auch die Regierungsparteien leider nicht geschaffen. Sie leisten es sich, die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu beschneiden, einfach weil es Ihnen zu teuer ist – und das in einem der reichsten Länder der Erde. Was sollen andere Länder, die sich auch an die Konvention zu halten haben, darüber denken? Was die Kosten betrifft, möchte ich festhalten, dass das letztlich eine Milchmädchenrechnung ist. Denken Sie doch auch einmal an die Kosten, die entstehen, wenn immer mehr Menschen aufgrund von Isolation und Ausgrenzung depressiv und psychisch krank werden. Sie haben im Übrigen auch einen Schaden für die Demokratie angerichtet. (Katja Mast [SPD]: Unverschämtheit!) Frau Nahles, warum sollte nach dem Gesetz der eine oder andere noch glauben, dass hier Vertrauen da ist? Das haben Sie letztlich gründlich vermasselt. (Beifall bei der LINKEN – Katja Mast [SPD]: Herr Bartsch, Sie haben überhaupt nicht das Gesetz gelesen!) Eines ist festzustellen: Sie haben Ihren Koalitionsvertrag nicht realisiert. Das ist der Kern. Der Anspruch des Koalitionsvertrages wird mit diesem Gesetz nicht realisiert. Setzen Sie den um! Es muss Weiteres folgen, und zwar möglichst schnell. Eigentlich müssten Sie das Gesetz überarbeiten, damit es wirklich der UN-Behindertenrechtskonvention entspricht. Eigentlich sollten Sie das in dieser Legislatur machen. Wenn nicht, müssen wir das in der nächsten angehen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Karl Schiewerling für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Karl Schiewerling (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung das Bundesteilhabegesetz. Um es deutlich zu sagen: Damit setzt die Große Koalition ein weiteres wichtiges sozialpolitisches Versprechen aus ihrem Koalitionsvertrag um. Wir modernisieren im Sinne der Betroffenen die Behindertenpolitik, ermöglichen gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung und setzen die UN-Behindertenrechtskonvention weiter um. Bevor ich im Detail auf den Gesetzentwurf und die Änderungen eingehe, die sich im parlamentarischen Verfahren ergeben haben, möchte ich die Möglichkeit nutzen, um auf einige grundsätzliche Dinge in der Behindertenpolitik hinzuweisen. Es ist guter parlamentarischer Brauch über alle Parteigrenzen hinweg, dass die Debatten über die Behindertenpolitik nicht dazu genutzt werden, Lebenssituationen zu skandalisieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vielmehr sollten die Gemeinsamkeiten betont werden: Alle in diesem Haus – alle – wollen, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigter Teil unserer Gesellschaft sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Seit 2009 bin ich Sprecher der Union für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Selten habe ich erlebt, dass ein Gesetzgebungsverfahren derart intensiv durch Zuschriften, Anrufe, Stellungnahmen und kritische Äußerungen begleitet wurde. Ich halte dies für ein gutes Zeichen, zeigt es doch, mit welchem Selbstverständnis sich Menschen mit Behinderung für ihre Interessen einsetzen und sie gegenüber der Politik vertreten. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigt auch, wie schlecht das Gesetz gemacht ist!) Im parlamentarischen Verfahren konnten viele, aber nicht alle Forderungen voll umgesetzt werden. Es war unsere Aufgabe als Politik, die divergierenden Interessen zum Ausgleich zu bringen und sie zu einem Gesetz zusammenzuführen. Dies war mühsam; ich bin aber sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Das Bundesteilhabegesetz wird nicht das letzte Gesetz sein. Wir werden auch in Zukunft weiter Stück für Stück wie bei den anderen Solzialgesetzbüchern auch an Verbesserungen für die Menschen arbeiten. Mein Dank gilt ausdrücklich der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Lösekrug-Möller für die von der Ministerin bereits gewürdigte moderierende, ausgleichende und auf eine gemeinsame Zielrichtung hin ausgerichtete Arbeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Mein Dank gilt auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarbeitsministeriums, ausdrücklich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktionen sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Abgeordnetenbüros. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, wer ist eigentlich von den zu beschließenden Neuregelungen betroffen? In Deutschland leben etwa 7,5 Millionen Menschen mit Behinderungen; 700 000 beziehen Eingliederungshilfe. Die Lebenssituation der Menschen ist höchst unterschiedlich; es ist keine homogene Gruppe. Die Menschen sind unterschiedlich betroffen, und sie alle hatten ihre Erwartungen an dieses Gesetz. Mit dem Bundesteilhabegesetz führen wir die Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe heraus und integrieren sie in das Neunte Buch Sozialgesetzbuch. Damit gehen Verbesserungen für die knapp 700 000 Leistungsberechtigten einher. Entgegen vielen Befürchtungen wird der Zugang zur Eingliederungshilfe nicht eingeschränkt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass er nicht ausgeweitet werden soll. Es bleibt daher zunächst bei der geltenden Rechtslage. Bis 2023 werden neue Zugangskriterien konkretisiert. Hierauf haben wir uns in der Koalition verständigt. Zudem wird es deutliche Verbesserungen bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen für diejenigen geben, die arbeiten. Ab 2020 wird das Einkommen bis 30 000 Euro frei sein. Wer mehr verdient, leistet einen Eigenbeitrag zu seinen Fachleistungen. Das Vermögen wird bis zu 50 000 Euro anrechnungsfrei bleiben. Damit ist ein wichtiges Anliegen der Union umgesetzt: (Kerstin Tack [SPD]: Und auch der SPD!) Wir wollten nämlich, dass dieses Mitanrechnen des Einkommens des Partners beendet wird; denn es war faktisch ein Heiratsverbot. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Mit dem Gesetz eröffnen wir den Leistungsberechtigten mehr Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Wer aus der Werkstatt auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln möchte, kann zukünftig bundesweit vom Budget für Arbeit profitieren. Dabei erhalten Arbeitgeber unbefristet einen Lohnkostenzuschuss von bis zu 75 Prozent. Für die rund 300 000 Beschäftigten in den Werkstätten verdoppeln wir das Arbeitsförderungsgeld auf zukünftig 52 Euro. Zudem wird der Vermögensfreibetrag für Menschen, die nicht erwerbsfähig sind und Leistungen der Sozialhilfe beziehen, von derzeit 2 600 Euro auf 5 000 Euro angehoben. Hiervon profitieren zum Beispiel Bezieher der Blindenhilfe, aber auch alle anderen Bezieher von Sozialhilfe. Mein Dank gilt an dieser Stelle ausdrücklich dem Bundesfinanzminister und den Haushaltspolitikern, die uns in diesem Anliegen mit zusätzlichem Geld unterstützt haben; sonst wäre das nicht möglich gewesen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, wir haben auch die Situation von Schwerbehinderten in Betrieben im Blick. Wir werden die Anhörungsrechte und damit auch die Rolle der Schwerbehindertenvertreter insgesamt stärken. Neben der Teilhabe am Arbeitsleben hat das selbstbestimmte Wohnen von Menschen mit Behinderungen im parlamentarischen Verfahren eine wichtige Rolle gespielt. Wir haben die vorgetragenen Sorgen und die Wünsche mit Blick auf ihre Rechte sehr ernst genommen. Im Rahmen der Angemessenheit und Zumutbarkeit soll jeder entscheiden können, wie bzw. mit wem er leben möchte. Die entsprechenden Regelungen haben wir deutlich geschärft. Es war der Union wichtig, dass außerhalb stationärer Einrichtungen den Wünschen der Betroffenen bei der gemeinsamen Inanspruchnahme von Assistenzleistungen besondere Bedeutung beigemessen wird. (Zuruf der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Gemeint sind solche Assistenzleistungen, die die unmittelbare Privatsphäre der Berechtigten betreffen. Meine Damen und Herren, ich danke an dieser Stelle auch dem Bundesgesundheitsminister sehr herzlich. Er hat bei der sehr komplizierten Frage der Verbindung von Eingliederungshilfe und neuem Pflegestärkungsgesetz mit dem neuen Pflegebegriff sehr konstruktiv mitgewirkt. Ohne ihn wäre dieses Gesetz nicht möglich gewesen. In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat der Autor das Bundesteilhabegesetz mit der Elbphilharmonie in Hamburg verglichen. Beide Projekte seien wesentlich teurer als zunächst geplant. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverschämtheit!) Ich empfinde dies – anders, als es der Autor gemeint hat – als Kompliment. Ja, die zusätzlichen Leistungen kosten Geld – keine Frage. Aber wir tun das für die Menschen mit Behinderungen und für die Betroffenen. Die Elbphilharmonie ist bereits jetzt, kurz nach der Fertigstellung, zu einem Wahrzeichen Hamburgs mit Strahlkraft über Deutschland hinaus geworden. Im Sinne der Betroffenen wäre ich froh, wenn sie in ein paar Jahren, wenn das Gesetz richtig greift, ähnlich positiv über das Gesetz sprechen würden. Am Ende zählt das Ergebnis, und da können wir sehr zufrieden sein. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Katrin Göring-Eckardt. Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was war die Aufgabe? Die Aufgabe war die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention. Und dabei verhält es sich ungefähr so, als ob die Aufgabe gewesen wäre, ein Haus zu bauen, und am Ende ist es nur eine Garage geworden. Aber alle loben sich dafür, dass sie das geschafft haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Behindertenrechtskonvention wird erst noch umgesetzt werden müssen. Frau Nahles, bei vielen behinderten Menschen war mit diesem Gesetzentwurf die Erwartung verbunden, dass sich in ihrem Leben im Sinne der Behindertenrechtskonvention wirklich etwas verbessert. Diese Erwartung haben Sie übrigens auch geschürt und vorangetrieben, weil Sie so viele beteiligt haben. Umso größer war dann die Enttäuschung, dass genau das nicht gelungen ist, sondern höchstens kleine Schritte in diese Richtung gegangen worden sind, (Katja Mast [SPD]: Also Beteiligung ist schlecht?) kleine Schritte in Richtung Teilhabe, die für uns alle ganz selbstverständlich ist, die wir alle ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen. Meine Damen und Herren, dieses Gesetz sagt noch nichts aus über mehr Autonomie, sagt noch nichts aus über mehr Selbstbestimmung und sagt noch nichts aus über ein freieres Leben. Deswegen ist es höchstens ein erster Schritt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was Sie ursprünglich als Vorschlag der Bundesregierung präsentiert haben, war sogar das Gegenteil. Um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen, sind Menschen mit Behinderungen in die Spree gesprungen. Sie haben vor dem Brandenburger Tor und anderswo protestiert und demonstriert. Warum? Weil ihnen das Leben mit Ihrem ursprünglichen Entwurf nicht leichter, sondern schwerer gemacht worden wäre – frei nach dem Motto: Wir wissen schon, was gut für euch ist. – Das ist aber genau das Gegenteil von Selbstbestimmung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Leben im Heim gegen den Willen der Gehandicapten, das Poolen von Leistungen, die Absage an Teilhabe in der Freizeit – das alles waren feste Bestandteile Ihres Entwurfes, den Sie als Verbesserung feiern wollten. Ich kann es nicht verstehen, und ich werde es nicht verstehen, wie Sie mit dieser Haltung an dieses Gesetz herangehen konnten. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Göring-Eckhardt, darf ich Sie kurz unterbrechen? – Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wolff? Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr gern. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bitte schön, Frau Kollegin Wolff. Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Vielen Dank, Frau Kollegin Göring-Eckardt. – Sind Sie bereit, anzuerkennen – und damit Ihre Aussage zurückzunehmen –, dass wir mit dem Gesetzentwurf etwas für die betroffenen Menschen getan haben? Es ist so, wie die Frau Ministerin gesagt hat: Schon ein Jahr nachdem diese Koalition ins Arbeiten kam, haben wir einen ganz breiten Beteiligungsprozess (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nichts eingehalten!) mit Betroffenen, Verbänden, Kommunen, (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann fragen Sie mal die Betroffenen!) mit allen begonnen, das heißt miteinander und nicht übereinander geredet. Lassen Sie mich die Anmerkung noch machen: Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass die Opposition sich hier an irgendwelchen ursprünglichen Referentenentwürfen abarbeitet, (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein!) anstatt anzuerkennen, dass Parlament und Ministerium hier in einzigartiger Weise zusammengearbeitet haben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Wolff, nein, ich habe mich nicht an Referentenentwürfen abgearbeitet, sondern ich habe mich gerade abgearbeitet, wenn Sie das so ausdrücken wollen, an dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung, Ihre Bundesregierung, hier eingebracht hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Katja Mast [SPD]) In diesem Gesetzentwurf, Frau Wolff, steht alles das, was ich gerade gesagt habe. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: 68 Änderungsanträge! – Katja Mast [SPD]: Selbst Ihre Fraktion hat den Änderungsanträgen zugestimmt!) Ein Punkt ärgert mich wirklich. Ich kann es nicht verstehen, wieso Sozialdemokraten Menschen zwingen wollen, im Heim zu wohnen. Ich kann das nicht verstehen, weil „selbstbestimmt“ anders aussieht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Kerstin Tack [SPD]: Wie kommen Sie denn darauf? – Katja Mast [SPD]: Unverschämtheit! – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Das nehmen Sie jetzt zurück!) – Ich bin noch nicht fertig. – Ich will ausdrücklich etwas anerkennen. Ich habe das gerade auch getan. Wenn Sie zugehört hätten und nicht so selbstgerecht gewesen wären, (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Selbstgerecht sind Sie!) dann wäre Ihnen das klar geworden. Ich wollte Ihren Beteiligungsprozess ausdrücklich anerkennen. Der Beteiligungsprozess war lang, und er war ausführlich. Ich fand es gut, dass Sie ihn gemacht haben. Es war ausdrücklich gut. Die Frage ist nur: Was ist dabei eigentlich herausgekommen? Die Menschen, die nach diesem Beteiligungsprozess demonstriert haben, haben doch deswegen demonstriert, weil sie darüber enttäuscht gewesen sind, dass keine der vernünftigen Forderungen, die sie in all diesen Runden, in all diesen Gesprächen auf die Tagesordnung gebracht haben, auch umgesetzt worden ist. (Katja Mast [SPD]: Keine Antwort auf ihre Frage!) Beteiligung ist doch nicht eine Beschäftigungsveranstaltung, sondern Beteiligung heißt, dass wirklich etwas dabei herauskommt, Frau Wolff, und genau darum geht es doch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Göring-Eckardt, Sie sind so gut in Fahrt: Gestatten Sie auch noch eine Zwischenfrage der Kollegin Kerstin Tack? Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber gern. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bitte schön. Kerstin Tack (SPD): Frau Kollegin, Sie haben sich über – angebliche – Zwangsmaßnahmen geäußert, die Sie aus dem Gesetz herausgelesen haben. Würden Sie uns bitte im Detail erläutern, was Sie mit „Zwangsmaßnahmen“ meinen? Würden Sie auch erläutern, was das aus Ihrer Sicht – als Veränderung gegenüber dem heute geltenden Gesetz – auslösen soll? Würden Sie das bitte noch einmal im Detail erklären? Was meinen Sie, wenn Sie von „Zwangsmaßnahmen“ reden? Bitte sagen Sie uns, wie aus Ihrer Sicht die heutige Praxis ist und wo die Verschärfung ist, die der Gesetzgeber vornimmt. Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich hätte das in meiner Rede noch gesagt, aber so spare ich ein bisschen Redezeit; das ist auch gut. Worum geht es denn? – Ich wäre noch zu den Verbesserungen gekommen. Das mache ich gern noch. (Zurufe von der SPD: Ah! – Katja Mast [SPD]: Jetzt haben Sie mehr Redezeit dafür!) – Jetzt habe ich mehr Redezeit. Das ist doch super. Genau. – Es geht darum, dass Leistungen gepoolt werden müssen, dass man sich mit anderen absprechen muss, (Kerstin Tack [SPD]: Muss man nicht!) dass man nicht selber entscheiden kann, welche Leistungen man in Anspruch nimmt, und es geht um die Tatsache – das sage ich noch einmal ausdrücklich –, dass Sie dafür sorgen wollen, dass es immer einen Kostenvorbehalt beim Umzug ins Heim gibt. Das ist so geblieben. Ich will Ihnen einen Fall erzählen. Eine Frau, die uns geschrieben hat, Marita, mit 18 Jahren querschnittsgelähmt, wurde sehr lange – das ist übrigens etwas ganz Typisches – von ihrer Mutter betreut. Dann konnte die Mutter diese Betreuung nicht mehr leisten. Daraufhin hat sich Marita überlegt: Wie mache ich es jetzt, dass ich weiter am Leben teilhaben kann? – Was hat sie gemacht? Sie ist in eine andere Stadt gezogen, dorthin, wo sie Freunde hat, wo sie Bekannte hat, wo sie andere Verwandte hat. Dort konnte sie eine ganze Weile weiter am Leben teilhaben. Was passierte dann? Dann kam der Kostenträger und hat gesagt: Es wäre zwar jetzt subjektiv hart für sie, (Katja Mast [SPD]: Altes Recht!) aber bedauerlicherweise müsse man ihr jetzt sagen, dass die Kosten nicht mehr tragbar sind und dass sie deswegen bitte schön in ein Heim zieht. (Katja Mast [SPD]: Können Sie sagen, was sich mit dem Recht ändert, das wir jetzt schaffen?) Deswegen sage ich Ihnen: Genau das ist altes Recht. Genau das verändern Sie mit diesem Gesetz nicht. (Kerstin Tack [SPD]: Das ist leider falsch! – Katja Mast [SPD]: Sie haben keine Ahnung von Änderungsanträgen!) Deswegen bedauere ich es besonders, dass es nicht gelungen ist, diese Verbesserung hinzubekommen, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Insofern sage ich Ihnen: Hier sind wir noch lange nicht bei einer echten Umsetzung der Behindertenrechtskonvention. Aber ich will jetzt gerne über die Verbesserungen reden; darauf warten Sie ja schon. Ich bin sehr froh, dass es in dem Prozess gelungen ist – unter Beteiligung der Länder, auch unserer Beteiligung –, dass zum Beispiel Menschen mit Sinnesbehinderungen jetzt wieder Leistungen erhalten können. Das muss man sich einmal vorstellen: Menschen, die zum Beispiel blind oder taub sind, konnten nach Ihrem ursprünglichen Vorschlag die Leistungen nicht mehr bekommen. Das ist immer noch nicht gut. Julia Probst, die vielleicht besser bekannt ist als „@EinAugenschmaus“, hat heute Morgen gesagt: In Zukunft entscheidet eine Sachbearbeiterin darüber, ob ich teilhaben kann. – Liebe Julia Probst, Sie haben es auf den Punkt gebracht. Ich sage in Gebärdensprache: Danke für diese klare Aussage. Die Verbesserungen, die wir in diesem Prozess hinbekommen haben, haben auch damit zu tun, dass es da draußen eine engagierte Community gibt, dass es Leute gibt, die nicht aufgehört haben, uns vorzuleben, was für sie Selbstbestimmung bedeutet. Die Initiative „Nicht mein Gesetz“ oder Raul Krauthausens Heimexperiment können Sie sich einmal anschauen. Er hat sich einmal einweisen lassen und war, undercover, fünf Tage in einem Pflegeheim. Da gibt es keine Intimsphäre mehr. Da kann man als selbstbestimmter erwachsener Mensch nicht sagen: Ich will essen, wenn ich essen kann. Deswegen sage ich Ihnen: Wir sind bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention noch lange nicht da, wo wir hin müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Selbstbestimmung sieht anders aus. Ich will noch einen Punkt hinzufügen, den Sie ja erlebt haben, nämlich das bürgerschaftliche Engagement. (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ihr Beteiligungsprozess hat gezeigt, dass viele Menschen mit Handicap bereit sind, sich in die Gesellschaft einzubringen, und zwar nicht nur, wenn es, wie in diesem Fall, um ihre eigenen Interessen geht. Nach Ihrem Gesetz werden sie zukünftig eben genau dafür keine Unterstützung und Assistenz bekommen, sondern sie müssen Freunde und Verwandte fragen. Jetzt stellen wir uns das einmal in unserem Alltag vor. Wenn ich mich ehrenamtlich zum Beispiel im Fußballverein engagieren will, dann muss ich immer jemanden finden, der mich hinfährt. Das macht man mit Kindern – ganz aufopferungsvoll – eine ganze Weile. Aber natürlich werden Menschen mit Behinderungen das nicht dauernd von ihren Freunden und Bekannten einfordern können. Es ist falsch, es ist grundfalsch für die Demokratie, dass wir sagen: Diese Gruppe ist uns nicht so wichtig. Die wollen wir aus dem bürgerschaftlichen Engagement ausschließen. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Wer sagt das denn?) Auch deswegen sage ich Ihnen: Dieses Gesetz ist ein Anfang. Mehr nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unsere Vorstellungen bleiben anders. Trotzdem bin ich über die Verbesserungen froh. Das will ich ausdrücklich sagen. Ich danke Ihnen als Koalitionsfraktionen dafür, dass Sie diese Beratungen ernsthaft weitergeführt und den Gesetzentwurf verändert haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deswegen sage ich Ihnen auch: Wir haben es geschafft, deutliche substanzielle Verbesserungen hinzubekommen. Deswegen werden wir in den Bundesländern, in denen wir die Möglichkeit dazu haben, alle Spielräume dieses Gesetzes ausschöpfen. Das wird so sein. Aber wir werden vor allem die weitere Umsetzung und Durchsetzung der Behindertenrechtskonvention in unserem Land weiter auf die Tagesordnung setzen. Die Menschen, die selbstverständlich Teilhabe verdient haben, haben unser Engagement verdient. Sie haben verdient, dass wir ihnen sagen: Ihr seid selbstbestimmt, nicht wir wissen, was gut für euch ist. Sie haben verdient, dass sie selbstverständlich gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft sind. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Katja Mast. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Katja Mast (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute werden wir mit dem Bundesteilhabegesetz die größte Sozialreform seit Inkrafttreten des SGB IX vor 15 Jahren verabschieden. Ich will zu meiner Vorrednerin, Frau Göring-Eckardt, zwei Dinge sagen. Erstens finde ich es unredlich, wenn Sie den Hauptteil Ihrer Redezeit darauf verwenden, wie das bestehende Gesetz die Dinge regelt, und nicht darauf eingehen, was wir an Verbesserungen auf den Weg bringen oder was für ein Gesetz wir heute überhaupt verabschieden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Zweitens will ich Ihren Ministerpräsidenten aus Baden-Württemberg zitieren, der eine Politik der Beteiligung macht (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!) und der immer wieder Wert darauf legt, dass es eine „Politik des Gehörtwerdens“, aber nicht des Erhörtwerdens ist. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht, dass man gar nichts macht, Frau Mast!) Und Sie suggerieren: Wenn man mit Menschen spricht, übernimmt man automatisch ihre Interessen. – Das ist falsch; das tut der Demokratie nicht gut, und das tut uns allen hier nicht gut. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das Bundesteilhabegesetz ist ein kompliziertes Gesetz; es ist kein einfaches Gesetz. Und, ja, es betrifft das Leben vieler Menschen mit Behinderung und ihrer Familien. Wir machen ihr Leben besser. Wir sorgen für einen Perspektivwechsel, weg vom Fürsorgesystem der Sozialhilfe, hin zum Teilhabesystem mit Nachsorgeausgleich im SGB IX. Das wollen wir als Koalition gemeinsam. (Beifall bei der SPD) Ich will etwas zu Dietmar Bartsch sagen, der hier als Fraktionsvorsitzender geredet hat, aber leider gehen musste, was ich wirklich bedauere. Wer austeilt, muss auch bis zum Schluss zuhören. Nur dann nimmt man die Menschen mit Behinderung ernst. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich will sagen: Dieses Gesetz ist kein Spargesetz. Wir nehmen 800 Millionen Euro Jahr für Jahr in die Hand, um das Leben der Menschen mit Behinderung und ihrer Familien zu verbessern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Ute Bertram [CDU/CSU]) Da verschwindet, anders als Dietmar Bartsch suggeriert hat, kein Euro im System, sondern wir sorgen für echte Verbesserungen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Ich möchte gern anhand dreier Punkte diese Verbesserungen darstellen: Erstens. Wir führen das Budget für Arbeit ein; Andrea Nahles hat dazu alles ausgeführt. Das hilft den Menschen in den Werkstätten beim Schritt in den ersten Arbeitsmarkt. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 300 000 in den Werkstätten! 300 000!) Sie können in den Schutz zurückkehren, wenn es nicht klappt. Zweitens. Teilhabe an Bildung ist mir besonders wichtig, weil sie Aufstieg bedeutet, auch für die Menschen mit Behinderung. Wir regeln künftig den Übergang auf die weiterführende Schule, wir regeln, dass nach dem Bachelor der Masterstudiengang folgen kann, und wir regeln berufliche Weiterbildungen für Menschen mit Behinderung. In Zeiten der Digitalisierung ist das nicht trivial, Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tino Sorge [CDU/CSU]) Drittens. Dadurch, dass mehr vom Einkommen und Vermögen behalten werden kann, aber vor allen Dingen, weil das Partnereinkommen nicht mehr bei den Leistungen angerechnet werden kann, (Beifall bei der SPD) können Menschen mit Behinderung ohne Zwang heiraten, und das ist gut für sie. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bernd Rützel [SPD]: Jawohl, genau! Sehr gut!) Ich will noch einmal betonen: Niemand will mit diesem Gesetz Leistungseinschränkungen oder -ausdehnungen erreichen – niemand in diesem Haus, niemand in der Koalition. Wir haben gemeinsam beschlossen, auf die große Kritik einzugehen: Die einen, diejenigen, die die Eingliederungshilfe bezahlen müssen, sagten, das Gesetz führe zu einer Leistungsausdehnung; die anderen, die Menschen mit Behinderung, sagten, es handele sich um eine Leistungseinschränkung. Deshalb haben wir gesagt: Wir nehmen den § 99 noch einmal mutig in die Hand und werden dafür sorgen, dass die neuen Zugangskriterien bei der Eingliederungshilfe nach einer Überprüfung erst 2023 in Kraft treten, und diese neuen Zugangskriterien müssen noch einmal durch Bundestag und Bundesrat. – Auch das war den Bundesländern wichtig. Ich glaube, es ist ein wichtiges Zeichen für alle Beteiligten, dass wir beim Zugang zur Eingliederungshilfe – gut Ding will Weile haben – Ruhe hineinbringen. (Beifall bei der SPD) Zum Schluss kommend, will ich sagen: Ich finde es gut, dass sich die Menschen mit Behinderung im Prozess zum Bundesteilhabegesetz zu Beteiligten und Akteuren in der Politik weiterentwickelt haben. Es war gut, dass wir gespürt haben, sie wollen bestimmte Dinge nicht; es war gut, dass sie ihre Interessen vertreten haben. Sie sind mitten in der Gesellschaft; da gehören sie hin. Aber es ist auch gut, dass wir mit unseren Änderungsanträgen dokumentieren: Parlamentarismus, Demokratie und Föderalismus funktionieren. Wir nehmen nicht nur die Punkte der Menschen mit Behinderung auf, sondern auch all das, was wir von den Experten in den Anhörungen im Prozess gemeinsam gelernt haben. Ich will sagen: Es war ein guter Prozess zwischen den Koalitionsfraktionen, in dem es gelungen ist, zehn Monate vor einer Bundestagswahl 68 substanzielle Änderungsanträge zusammen hinzubekommen. Das ist nicht trivial, das ist eine Riesenleistung in unserer Demokratie. (Thomas Oppermann [SPD]: Ja! Finde ich auch!) Ich bin allen Beteiligten, allen Abgeordneten, Andrea Nahles und Gabriele Lösekrug-Möller dankbar für diesen hervorragenden Prozess. Ich will auch sagen: Ich bin den Bundesländern dankbar dafür, dass sie den Prozess gut begleitet haben. Das brauchen wir. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Und ich wäre jetzt dankbar, wenn Sie zum Schluss kommen, Frau Kollegin Mast. Katja Mast (SPD): Vielen Dank. – Denn die Menschen mit Behinderung gehören mitten in unsere Gesellschaft. Dieses Gesetz verbessert ihr Leben substanziell. Dieses Gesetz ist nicht nur ein Meilenstein. Mit diesem Gesetz legen wir viele Meilensteine in Richtung Teilhabe mitten in der Gesellschaft. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin! Katja Mast (SPD): Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Nächste Rednerin ist Katrin Werner, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Katrin Werner (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Vielleicht vorab, Frau Mast: Dietmar Bartsch hat geredet – und ich bin ihm dankbar dafür –, und auch die Fraktionsvorsitzende der Grünen hat geredet. Sie haben so noch einmal die Wichtigkeit dieser Debatte betont. (Kerstin Tack [SPD]: So wichtig ist es ihm gerade! So wichtig ist es ihm!) – Er hat sich persönlich entschuldigt. Er musste zu einem Treffen mit dem Netzwerk Kinderarmut. Das ist auch ein wichtiges Thema. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kommen wir zur Debatte. Die Verbesserungen im Gesetz wurden von beiden Oppositionsfraktionen erwähnt. Sie legen in einem Großteil Ihrer jetzigen Redebeiträgen wie wahrscheinlich auch in Ihren zukünftigen Redebeiträgen das Augenmerk auf diese Verbesserungen, nämlich auf die 68 Änderungsanträge, durch die der schlechte Entwurf aus dem Ministerium Nahles verbessert wurde. Dazu sage ich: Die Verbesserungen wurden aufgrund des Protestes von betroffenen Menschen mit Behinderungen, von Verbänden und Organisationen angegangen. Ich möchte den Menschen, die sich eingesetzt haben, ganz klar Danke sagen; der Protest wurde ja erwähnt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich, damit Sie es verstehen, einfach etwas zum Kern der Debatte sagen. Sie haben versprochen, ein Bundesteilhabegesetz auf den Tisch zu legen, das im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention geschrieben wird. Aber die Grundvoraussetzung dafür wäre, dass man sich erst einmal mit dem Begriff „Behinderung“ auseinandersetzt. Aber dieser Begriff aus der UN-Behindertenrechtskonvention ist nicht vollumfänglich übernommen worden. Ich kann Ihnen dazu eine Lektüre empfehlen, und zwar die Stellungnahme der Monitoringstelle vom Deutschen Institut für Menschenrechte, in der ganz klar kritisiert wird, dass Sie eben nicht den kompletten Begriff übernehmen. Bei ihnen fehlen die Worte „volle“ und „wirksame“ Teilhabe. Die sind aber entscheidend. Wenn Sie den Begriff komplett übernehmen würden, dann würden Sie in § 104 – es gab hierzu einen entsprechenden Änderungsantrag – nicht immer noch von „Zumutbarkeit“ und von „prüfen“ reden. Da geht es nämlich genau um die Wahlfreiheit, um die Angst, ins Heim abgeschoben zu werden, und die gibt es heute schon. Herr Schiewerling, auf der Pressekonferenz am Montag wussten Sie noch nicht von dem Fall aus Freiburg. Es ist momentan nicht nur ein Mensch in Freiburg davon betroffen, in ein Heim abgeschoben zu werden, sondern es sind mehr als zehn Personen, die sich regelmäßig treffen. Sie sind aktuell von der Abschiebung in ein Heim betroffen, weil laut Amt die Übernahme der Kosten für das Wohnen zu Hause nicht zumutbar ist. Ein Mann soll im Februar abgeschoben werden, und dieser Mensch fängt an, zu hungern. Er selber sagt: Er wird sich zu Tode hungern, wenn er ins Heim gehen muss. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern Sie so etwas nicht. Wenn Sie es geändert hätten, dann gäbe es ein Vetorecht. Die SPD hätte für dieses Vetorecht kämpfen müssen. (Kerstin Tack [SPD]: Leute!) Aber es gibt keine Änderung, und genau darum haben die Menschen Angst. Zu einem weiteren Änderungsantrag. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Werner, ich stoppe gerade Ihre Redezeit. Gestatten Sie, dass die Kollegin Tack Sie etwas fragt? Katrin Werner (DIE LINKE): Frau Tack hat noch ihren Redebeitrag. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Gut, dann sind Sie weiter dran. – Bitte schön. Katrin Werner (DIE LINKE): Sie hätten bei den Assistenzleistungen, wo es um das Selbstbestimmte geht, weitere Änderungen vornehmen sollen. Sie nehmen das Zwangspooling zwar an ein oder zwei Stellen heraus, und zwar im sozialen, im persönlichen, im privaten Bereich – dabei geht es darum, dass man mit Freunden weggehen kann – und im Bereich der kompletten persönlichen Lebensplanung; Sie können aber weiter zwangspoolen im kulturellen und hauswirtschaftlichen Bereich. Was ist der kulturelle Bereich? Ist das der Theaterbesuch? Ist das der Kinobesuch? Was ist das? Wer stellt das gegenüber? Das Amt entscheidet. – Und was sind hauswirtschaftliche Tätigkeiten? Dabei geht es um genau das, was im persönlichen Umfeld gewährleistet werden muss. In diesen Bereichen gibt es weiter Einschränkungen. Diese Einschränkungen sind, ganz ehrlich gesagt, Blödsinn. Übermorgen ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Ich hätte mir gewünscht – das wäre ein Geschenk gewesen –, dass Sie die Menschenrechte umgesetzt hätten, dass Sie Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt hätten. Mit dieser Vorlage tun Sie genau das aber nicht. Herr Schiewerling, die CDU war einmal ganz mutig, und zwar 1973, als die sie forderte, die Leistungen „unabhängig von Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Betroffenen und ihrer Familien zu gewähren“. Wenn Sie das in diese Vorlage geschrieben hätten, wären Sie mutig gewesen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Insofern bleibe ich bei dem Schlusssatz meiner letzten Rede. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen! Meine Herren! Jetzt ist er also fertig, der Entwurf des Bundesteilhabegesetzes. Er hat für heftige Diskussionen gesorgt und sorgt offenbar immer noch dafür. Er hat für manchen Ärger gesorgt, für viel Briefverkehr, für viel Arbeit. Er hat einen ziemlich sperrigen und nicht besonders eleganten Namen, aber das ist bei Gesetzen ja öfter so. Er ist kompliziert und sehr umfangreich. Aber jetzt steht er zur Verabschiedung an, und ich sage aus voller Überzeugung: Das Bundesteilhabegesetz ist ein gutes Gesetz. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich finde interessant, was in den vergangenen Monaten deutlich geworden ist. Frau Kollegin Göring-Eckardt, weil Sie einiges angeprangert haben, möchte ich ein paar Beispiele nennen, die den Unterschied zwischen Ihren Reden und Ihrem Handeln zeigen: Im Bundesrat hat der Freistaat Bayern einen Antrag gestellt, Assistenzleistungen generell von der Zustimmung des Betroffenen abhängig zu machen. Der Antrag wurde abgelehnt mit den Stimmen von sieben Ländern. In sechs dieser sieben Länder regieren die Grünen mit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Hört! Hört!) Der Freistaat Bayern hat im Bundesrat einen Antrag gestellt, einen zeitlichen Horizont für die völlige Freistellung von Einkommen und Vermögen zu erstellen. Der Antrag wurde mit den Stimmen von sieben Bundesländern abgelehnt. In sechs dieser sieben Bundesländer regieren die Grünen mit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) So viel zu Ihrem Handeln, zu Ihrem Tun. Ihre konstruktiven Beiträge im Gesetzgebungsverfahren zu diesem Bundesteilhabegesetz waren überschaubar. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Aber viele haben sehr konstruktiv mitgewirkt. Bei denen möchte ich mich heute als Berichterstatterin der Unionsfraktion ausdrücklich bedanken. Ich möchte mich bedanken bei allen Kollegen und Mitarbeitern aus dem Bundestag, aus meiner Landesgruppe, aus der Unionsfraktion und aus der SPD. Ich möchte mich beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales bedanken: Das war ein wahrer Kraftakt! Ich möchte mich bei den vielen Verbänden bedanken, die sich konstruktiv in dieses Verfahren eingebracht haben, und bei vielen einzelnen Betroffenen, die uns rückgemeldet haben, wo es hakt. Ich habe schon bei der Einbringung des Gesetzentwurfs meine Bedenken zum Ausdruck gebracht. Die 68 Änderungsanträge, die wir erarbeitet haben, begegnen nicht nur meinen Bedenken, sondern auch vielen Befürchtungen und Ängsten von Betroffenen. Da war zum einen die viel diskutierte Fünf-aus-neun-Regelung. Sie hat große Ängste ausgelöst, dass manche Menschen keinen Zugang zur Eingliederungshilfe mehr erhalten. Ich habe schon bei der Einbringung des Gesetzentwurfs gesagt: Auch in Zukunft muss jeder, der Eingliederungshilfe braucht, diese Eingliederungshilfe auch bekommen. – Das wird auch der Fall sein. Wir haben die umstrittene Fünf-aus-neun- oder Drei-aus-neun-Regelung aus dem Gesetzentwurf genommen – das war auch mir persönlich ein wichtiges Anliegen –, nicht, weil wir wissen, dass sie garantiert nicht funktioniert, sondern weil das Misstrauen so groß war. Wir bleiben jetzt erst einmal bei der alten Definition und lassen eine neue Definition erarbeiten. Dafür haben wir Zeit bis 2023. Das ist gut so. Wir haben bei der Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege nachjustiert. Das ist ein zweiter ganz wichtiger Punkt. Viele Menschen hatten Angst, in Zukunft nur noch Pflegeleistungen zu bekommen. Das war ausdrücklich nicht die Absicht des Gesetzgebers. Wir bleiben bei der heutigen Regelung des Gleichrangs. Das ist gesetzgeberisch etwas unbefriedigend, weil wir die Probleme im Bereich der Schnittstelle nicht lösen, aber wir kommen damit einer Kernforderung der Verbände nach. Wir haben uns Gedanken über den Pflegekostendeckel in § 43a SGB XI gemacht. Wir stellen sicher, dass es keine Ausweitung auf ambulante Wohnformen geben wird. Wir halten also den Status quo. Es wird aber Aufgabe des neuen Parlaments sein, sich darüber Gedanken zu machen, ob dieser Paragraf heute noch seine Berechtigung hat. Ich persönlich meine, er hat es nicht. Die Schnittstelle der Eingliederungshilfe zur Hilfe zur Pflege haben wir behandelt und einen Vorschlag aus dem Bundesrat aufgegriffen: das Lebenslagenmodell. Kommt also die Hilfe zur Pflege mit der Eingliederungshilfe zusammen, dann profitieren die Menschen, bei denen die Behinderung bis zur Regelaltersgrenze eintritt, von den neuen Anrechnungsmodalitäten. Das ist ein guter Fortschritt. Ich hatte bereits in der ersten Lesung hinsichtlich der Anrechnung von Einkommen und Vermögen betont, wie sehr all jene von diesem Gesetz profitieren, die trotz Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt ganz ordentlich verdienen. Diese Verbesserungen sind sehr groß. Mir persönlich war es immer ein Anliegen, dass diejenigen profitieren, die in Werkstätten beschäftigt sind, die nicht komplett für sich selbst sorgen können. Das halte ich für einen der größten Erfolge dieses Gesetzes. Wir verdoppeln das Arbeitsförderungsgeld für die rund 300 000 Werkstattbeschäftigten in Deutschland, und wir verdoppeln den Schonbetrag für Empfänger von Grundsicherung nach dem SGB XII. Wir haben beim Wunsch- und Wahlrecht nachjustiert. Wenn es um sehr private Bereiche geht, dürfen Leistungen nur noch mit der Zustimmung des Betroffenen gepoolt werden. Wer außerhalb stationärer Einrichtungen wohnen will, der wird in seinen Rechten maßgeblich gestärkt. Der CSU und auch mir persönlich war es ein Bedürfnis, dass die besonders Schutzbedürftigen auch künftig über einen Barbetrag verfügen. Das wird mit diesem Gesetz sichergestellt. Ich meine, dass dieser Gesetzgebungsprozess manche in die Wirklichkeit zurückgeholt hat. Manche hatten sich ja zu Beginn der Debatte eine Revolution auf die Fahnen geschrieben. Heftig wurde aus der Opposition gegen die Sonderwelten der Werkstätten gewettert. Mitunter wurde deren Abschaffung gefordert. Solche Kritik gab es auch von den Grünen. Ich bin froh, dass sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass man Menschen mit Ideologien nicht helfen kann, dass Inklusion keine Revolution, sondern ein Prozess ist und dass es immer auch Menschen gibt und geben wird, die Schutzräume brauchen und unserer Fürsorge bedürfen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben mit dem Bundesteilhabegesetz ein gutes Gesetz geschaffen, weil es der Individualität der Menschen gerecht wird, weil es denen mehr Selbstbestimmung gibt, die mehr Selbstbestimmung brauchen, und weil es denen Schutz gewährt, die Schutz brauchen. Ich würde mir wünschen, dass diejenigen, die in den vergangenen Monaten nicht konstruktiv diskutiert und protestiert haben, sondern all ihre Energie darauf verwandt haben, Angst und Aggression zu schüren – ich spreche Sie von den Linken hier ausdrücklich an –, (Zurufe von der SPD: Grüne auch!) diesen Schaden wieder in Ordnung bringen. Ich würde mir wünschen, dass die Einrichtungen und Sozialverwaltungen manche Beharrungstendenzen überwinden und dieses Gesetz beherzt aufgreifen und umsetzen. Ich würde mir wünschen, dass die Politik den Weg weitergeht, jeden Menschen mit oder ohne Behinderung den Platz finden zu lassen, den er für sich finden will. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Corinna Rüffer das Wort. Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Schiewerling, ich muss kurz auf das eingehen, was Sie ganz am Anfang Ihrer Rede gesagt haben. Sie haben gesagt, man solle die Lebenssituation von Menschen nicht skandalisieren. Dazu sage ich Ihnen erstens: Dieses Parlament ist keine kritikfreie Zone. Zweitens muss ich sagen: Wenn Lebenssituationen ein Skandal sind, dann muss man das auch in diesem Parlament benennen dürfen; denn sonst haben wir grundsätzlich ein Problem. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich möchte Ihnen sagen, was behinderte Menschen zu diesem Gesetz und zu diesem Beratungsprozess zu sagen haben – sie können leider nicht persönlich an diesem Pult reden; deshalb möchte ich das übernehmen –: Wenn ich geahnt hätte, dass wir primär Verschlechterungen unserer Lebenssituation zu erwarten haben, dass auch in Zeiten einer gültigen UN-Behindertenrechtskonvention unsere Menschenwürde mit Füßen getreten wird, hätte ich meine Lebenszeit sinnvoller investiert. Das sagt Frau Dr. Arnade von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland. Ich muss Ihnen sagen: Ich fühle mich heute so ein bisschen wie in einem Paralleluniversum. Wir reden seit vielen Jahren darüber, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Die Vereinten Nationen haben uns Empfehlungen mit auf den Weg gegeben. Darin steht ganz deutlich, was wir zu tun haben. Behinderte Menschen und ihre Verbände haben auch immer wieder klargemacht, an welchen Stellen der Schuh drückt, wo sie kämpfen müssen, wo Dinge nicht klappen, wo etwas schiefläuft. Und heute stimmen wir hier über einen Gesetzentwurf ab, der wesentliche Probleme behinderter Menschen immer noch nicht berücksichtigt. Wir stimmen über einen Gesetzentwurf ab, mit dem Sie das Vertrauen behinderter Menschen in den letzten Monaten nachhaltig verspielt haben, und das in einer Zeit – das ist das besonders Schlimme an der Sache –, in der das Misstrauen gegenüber der Politik so groß ist wie lange nicht mehr. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Rüffer, darf ich Sie einmal unterbrechen? – Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wolff? Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, gerne. Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Ich bedanke mich ganz herzlich für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. – Frau Kollegin Rüffer, können Sie uns vielleicht erklären, an welchen Stellen sich das Leben der von Ihnen geschilderten Personen durch unsere Gesetzgebung jetzt entscheidend verschlechtert? Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Wolff, das wollte ich im Verlauf meiner Rede darlegen. Das werde ich auch gleich tun. Was ich an dieser Stelle aber ganz deutlich machen möchte, ist, dass sich das, was ich gesagt habe, auf den Entwurf bezieht, den Ihre Regierung vorgelegt hat. (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Katja Mast [SPD]: Ach nee! Es geht gar nicht um das Gesetz! – Weitere Zurufe von der SPD) Das ist ja ganz wichtig. In Ihren Reden – Frau Wolff, ganz ruhig! – kommt es immer so rüber, als würde dieses Gesetz – – Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Jetzt hat erst einmal die Kollegin Rüffer das Wort. – Bitte. Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist total nett. Ich denke, wer eine Frage stellt, möchte bestimmt auch die Antwort hören. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Sie beantworten die Frage gar nicht!) In Ihren Reden hört es sich so an, als sei das, was Sie hier vorlegen, eine Verbesserung gegenüber dem, was gültige Rechtslage ist. (Stephan Stracke [CDU/CSU]: Das ist es aber auch! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Es ist offensichtlich keine Verschlechterung!) Das ist leider mitnichten so. Anfang der Woche, zwei Tage vor Verabschiedung dieses Gesetzes, haben Sie 68 Änderungsanträge vorgelegt. Was sagt uns das, Frau Wolff? Das sagt uns, dass Sie einen schlechten Gesetzentwurf vorgelegt haben und last-minute-mäßig an den ganz schlimmen Stellen Nachbesserungen vornehmen mussten. (Zurufe von der CDU/CSU) An der Schnittstelle zur Hilfe zur Pflege (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wäre es zu Verschlechterungen gekommen. Bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen wäre es zu Ungerechtigkeiten gekommen. Die Leute hatten zu Recht Angst, ihren Lebensabend nicht in ihrer gewohnten Umgebung verbringen zu können, sondern ins Heim abgeschoben zu werden. – Sie können sich doch heute nicht hierhinstellen und so tun, als wären Sie stolz auf das Gesetz, das wir heute zu verabschieden haben. (Katja Mast [SPD]: Doch! Das sind wir!) Das, was an Verbesserungen drinsteht, bezieht sich auf den Gesetzentwurf und nicht auf die gültige Rechtslage. (Widerspruch bei der SPD) Wir stimmen heute im Wesentlichen über einen Gesetzentwurf ab, der keine Verbesserung der Lebenssituation der Menschen mit Behinderung bringt. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Keine Antwort!) Wir stimmen über einen Gesetzentwurf ab, dessen schlimmste Verschlechterungen, schlimmste Grausamkeiten sie herausgenommen haben; dafür bin ich Ihnen wirklich dankbar. (Zurufe von der SPD: Oh!) Dass Sie hier vollmundig so tun, als könnten Sie sich stolz auf die Schulter klopfen, finde ich unmöglich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katja Mast [SPD]: Mal gucken, wie sich die Länder mit Ihrer Beteiligung im Bundesrat verhalten!) Ich habe das Gesetz gelesen und vorgetragen, was die Menschen mit Behinderung zu diesem Gesetz zu sagen haben. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Rüffer, es gibt noch eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß. Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, sehr gern. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bitte schön. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Aber bitte antworten!) Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das mache ich doch immer, Frau Wolff. (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Die Frage ist völlig unbeantwortet!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wie geantwortet wird, entscheiden immer noch diejenigen, die gefragt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Jetzt Ihre Frage, bitte schön. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Kollegin Rüffer, ich habe eine ganz einfache Frage. Man kann Ihre Rede ja später im Protokoll nachlesen; aber vielleicht wäre es gut, in dieser Diskussion doch einmal festzuhalten, ob ich es vorhin richtig verstanden habe, dass Sie festgestellt haben, dass der heute aufgrund der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu verabschiedende Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes zu einer Verbesserung der Rechtslage gegenüber den bestehenden rechtlichen Regelungen der Eingliederungshilfe führt. Ist das richtig? Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein. Wenn ich mir den Gesetzentwurf im Detail anschaue und entsprechend abwäge, dann muss ich sagen, dass dieser Gesetzentwurf keine Verbesserung gegenüber der gültigen Rechtslage ist. (Katja Mast [SPD]: Dann stimmen die Grünen im Bundesrat also nicht zu!) Die positiven Punkte sind ja genannt worden; das haben wir auch immer anerkannt. Ich denke zum Beispiel daran, dass endlich das Budget für Arbeit bundesweit eingeführt werden kann. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das ist doch eine Verbesserung!) Ich kann Ihnen als Rheinland-Pfälzerin sagen: Wir haben das seit vielen Jahren. Die bundesweite Ausdehnung ist ein wichtiger Punkt. Im Vergleich zu dem, was ansonsten in diesem Gesetzentwurf mit Bezug auf die Lebenswirklichkeit der Menschen steht, muss man aber sagen, dass man dafür keinen solchen Aufwand wie jetzt mit dem Bundesteilhabegesetz hätte betreiben müssen. Das hätte man auch einfacher machen können, und dann hätte man auch nicht die Wut und die Angst der Menschen auf sich gelenkt. Ich bin froh – das sage ich noch einmal –, dass Verschlechterungen gegenüber der heute geltenden Rechtslage zum Teil zurückgenommen worden sind, zum Beispiel bei der Schnittstelle zwischen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: „Zum Beispiel“!) Ich bin froh, dass wir auch beim Wunsch- und Wahlrecht noch Kleinigkeiten verbessern konnten. Ich bin auch ganz froh darüber, dass wir die unsinnige Fünf-von-neun-Regelung endlich vom Tisch haben – zumindest bis 2023. Das ist aber doch nichts, worauf man stolz sein kann, sondern etwas, wofür man sich als Bundesregierung, die alle Möglichkeiten hätte, gute Gesetzentwürfe vorzulegen, eigentlich schämen müsste. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ihre Rede passt nicht zusammen!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Rüffer, der Kollege Stritzl würde auch noch gerne eine Frage stellen, wenn Sie sie zulassen. Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, gerne. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Das ist aber die letzte Zwischenfrage, die der Kollegin Rüffer gestellt wird. Danach kann sie Ihre Rede zu Ende führen. – Bitte schön, Herr Kollege Stritzl. Thomas Stritzl (CDU/CSU): Frau Kollegin, Ihre Fraktionsvorsitzende hat vorhin von begrüßenswerten Verbesserungen in diesem Gesetzentwurf gesprochen. Dazu haben Sie applaudiert. Können Sie mir sagen, wozu Sie applaudiert haben? Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Na ja, einen Punkt habe ich genannt. Es gibt durchaus noch andere Punkte, wie die unabhängige Beratung. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Aha!) Sie wird aber auch nur begrenzt eingeführt. Zum Budget für Arbeit (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist schon die zweite Verbesserung!) muss man sagen, dass die Ausstattung, die wir in Rheinland-Pfalz kennen, deutlich besser ist als die nach bundesgesetzlichen Regelung. Ich will zugestehen, dass in diesem Gesetzentwurf natürlich auch Verbesserungen stehen. Es wäre ja auch schlimm, wenn auf 400 Seiten keine Verbesserungen stünden. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Na, wenn man Sie so reden hört! – Katja Mast [SPD]: Verschlechterung von geltendem Recht, das war Ihre These!) Man muss aber sagen, dass Sie damit natürlich weit hinter den Erwartungen zurückbleiben, und das sollten Sie einfach einmal zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir freuen uns darüber – das will ich noch einmal sagen –, dass die Grausamkeiten in dem Gesetzentwurf, den Ihre Regierung verabschieden wollte, zu einem wesentlichen Teil zurückgenommen worden sind. (Katja Mast [SPD]: Ihre These ist Verschlechterung gegenüber geltendem Recht!) Aber ich finde es wirklich unglaublich, dass Sie hier so tun, als hätten Sie einen Meilenstein geschaffen oder wären auf dem Weg dahin. Das stimmt nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Katrin Göring-Eckardt hat gerade gesagt: Wir stehen bestenfalls am Anfang eines Prozesses. Nicht mehr und nicht weniger ist richtig und hier gesagt worden. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Ihre Rede ist unglaublich!) Sie müssen es schon einmal aushalten, für einen Gesetzentwurf kritisiert zu werden, gegen den Menschen mit Behinderungen seit Monaten Protest laufen. Sie glauben doch nicht, dass sie das ohne Grund tun. Es gibt also keinen Grund, sich hier auf die Schulter zu klopfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie biegen sich hier hin und her!) Von den Kritikpunkten sind hier schon einige angesprochen worden. Mit diesem Gesetz verhindern Sie zum Beispiel nicht, dass zukünftig Menschen in Heime gezwungen werden. Das findet heute statt, und das findet auch zukünftig statt. Wenn die Leute die Kraft haben, vor Gericht zu gehen, dann werden diese schlechten Entscheidungen zukünftig wahrscheinlich auch wieder revidiert. Sie schaffen hier null Verbesserungen. Es wird zukünftig so sein, dass Menschen darum kämpfen müssen, zu Hause wohnen zu können, wozu sie eigentlich ein Recht haben. Teilweise verschlechtern Sie die Situation der Menschen auch; das muss man eben sagen. Zum Zwangspoolen und zur Assistenz im Ehrenamt wurde schon einiges gesagt. Ich möchte Nancy Poser vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen zitieren, welches schon 2012 einen Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz vorgelegt hat. Mit Bezug auf das Zwangspoolen sagt sie: Damit wird erstmals durch dieses Gesetz ein immenser Eingriff in die Selbstbestimmung behinderter Menschen möglich gemacht und legitimiert. Aus ihrer Sicht fallen vor diesem Hintergrund auch die positiven Veränderungen nicht ins Gewicht; das bestätigt meine These. Sie erklärt: Ganz ehrlich – wem bringen die neugeschaffenen finanziellen Vorteile etwas, wenn dafür die Freiheit genommen wird? So Nancy Poser vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen, eine renommierte Richterin. So sehr ich Ihnen für die Verbesserungen dankbar bin – das habe ich jetzt mehrfach betont –: Das, was Sie hier vorlegen, ist kein Bundesteilhabegesetz. Wir sind am Anfang und nicht am Ende des Prozesses. Ich möchte am Schluss auf eine Personengruppe zu sprechen kommen, die hier noch nicht angesprochen worden ist: die Menschen mit Behinderungen, die einen besonders hohen Unterstützungsbedarf haben, die Menschen, die nach wie vor aus Werkstätten ausgeschlossen werden, für die es kaum Angebote gibt, die Menschen, deren Angehörige jeden Tag immer wieder kämpfen müssen, um die notwendige Unterstützung zu organisieren, die sie brauchen, die Menschen, die ihr ganzes Leben lang subtil und auch offen signalisiert bekommen, dass sie in dieser Gesellschaft nicht erwünscht sind, dass sie Kosten verursachen. Für diese Menschen – das verstehe ich beileibe nicht – tun Sie mit diesem Gesetz gar nichts. Das ist einfach ein Armutszeugnis. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie reden seit drei Jahren davon, ein modernes Teilhaberecht schaffen zu wollen. Ich sage Ihnen heute: Wir sind ganz am Anfang dieses Prozesses und haben noch viel Weg vor uns. Es gibt keinen Grund, liebe Große Koalition, sich mit stolzgeschwellter Brust auf die Schulter zu klopfen. (Kerstin Tack [SPD]: Du immer mit deinem Stolz! Außer dir hat hier noch niemand „stolz“ gesagt!) Den Eindruck vermitteln Sie. Dazu gibt es überhaupt keinen Anlass. Es liegt viel Arbeit vor uns. Meine Fraktion und ich sind dabei, wenn es darum geht, dieses Gesetz in den Ländern umzusetzen und es in den nächsten Jahren besser zu machen, damit Menschen mit Behinderung wirklich etwas davon haben. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Carola Reimann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Carola Reimann (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Gesellschaft, die behinderte Menschen aller Art nicht als natürlichen Teil ihrer selbst zu achten und zu behandeln weiß, spricht sich selbst das Urteil. Diese Worte sind ein Zitat unseres dritten Bundespräsidenten, Gustav Heinemann, aus dem Jahr 1969. Es stammt aus einer Zeit, in der Familien ihre behinderten Kinder nicht selten vor der Öffentlichkeit versteckt haben, in der es als Schande angesehen wurde, nicht so zu sein wie andere, „normale“. Es stammt aus einer Zeit, als die Gesellschaft sich in vielen Bereichen aufgemacht hat, ihr Leben neu zu gestalten. Erinnern wir uns: Erst seit 1977 dürfen Frauen in Deutschland gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Die Gesellschaft zu verändern, dauert. Wir als Gesetzgeber können wichtige Rahmen setzen. Das Bundesteilhabegesetz ist so ein wichtiger Rahmen. Es wird von uns allen einen neuen Blick auf Menschen mit Behinderungen verlangen: weg davon, zu schauen, was das behinderte Kind des Nachbarn alles nicht kann, hin dazu, zu sehen, was dieses Kind doch alles kann, welche Stärken und Fähigkeiten es hat, und hin dazu, zu erkennen, was wir tun können, damit es besser teilhaben kann. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Bundesteilhabegesetz muss gelebt werden. Dazu braucht es bei allen Beteiligten größtmögliche Akzeptanz. Daher war das umfangreiche Beteiligungsverfahren der Betroffenen im Vorfeld der Gesetzgebung ebenso notwendig wie vorbildlich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dadurch ist für alle erstmalig offenkundig und auch nachzulesen, welche Herausforderungen noch vor uns liegen, bis eine inklusive Gesellschaft erreicht ist. Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich an dieser Stelle bei unserer Parlamentarischen Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller ganz herzlich bedanken. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sie ist die gute Seele dieses Gesetzes. Gabriele, ohne dein Engagement, deine Beharrlichkeit und deine kluge, vermittelnde Art wären wir jetzt nicht an diesem Wendepunkt der Behindertenpolitik. Ich habe vorhin von einem neuen Blick gesprochen. Dieser neue Blick hat auch die umfangreichen Verhandlungen mit der Union geprägt. Das lösungsorientierte Klima dieser Gespräche war bemerkenswert. Ich denke, jedem von uns war bewusst, dass jetzt der entscheidende Schritt gelingen muss. Das ist sicherlich dem Beteiligungsverfahren und den beharrlichen Hinweisen der Betroffenenverbände darauf zu verdanken, wo noch eine Nachsteuerung nötig war. Kollegin Rüffer, es ist immer gut, mehr zu wollen. Aber es ist schäbig, das Erreichte schlechtzureden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Den Ländern, in denen Sie mitregieren und Mitverantwortung tragen, muss das wie ein Schlag ins Gesicht erscheinen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir hatten versprochen, dass der Zugang zur Eingliederungshilfe nicht eingeschränkt wird. Das haben wir gehalten und werden wir halten. Der jetzt vorgesehene Weg ist beispiellos. Es wird 2017 eine wissenschaftliche Untersuchung geben. Mit dem Bericht über die Ergebnisse wird sich der Deutsche Bundestag 2018 wieder befassen. Auf dieser Basis werden in allen Bundesländern Modellvorhaben umgesetzt. Die Ergebnisse werden dann wieder dem Bundestag und dem Bundesrat vorgelegt, um dann noch vor 2023 eine abschließende Entscheidung zu treffen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe es schon in der ersten Lesung gesagt: Auch beim Bundesteilhabegesetz gilt das Struck’sche Gesetz. Die jetzt vorgelegten Änderungsvorschläge belegen dies in aller Deutlichkeit. Wir haben mit der Regierung sehr substanzielle Änderungen vorgenommen. Diese werden dazu beitragen, dass sich das Parlament auch in den nächsten beiden Wahlperioden intensiv mit der Verwirklichung von Teilhabe für behinderte Menschen auseinandersetzen wird. Der heutige Tag ist damit nur ein weiterer, wenn auch ein sehr wichtiger Tag auf dem Weg in Richtung Inklusion. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Uwe Schummer. (Beifall bei der CDU/CSU) Uwe Schummer (CDU/CSU): Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Kollegin Rüffer, vor mehr als einem Jahr haben Sie im Ausschuss gewarnt, es gebe starke politische Kräfte, nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern, die verhindern wollen, dass das Bundesteilhabegesetz überhaupt parlamentarisch beraten wird. Ich kann Ihnen heute sagen: Es gibt starke politische Kräfte, auch hier im Bund, die dafür gesorgt haben, dass dieser Entwurf zum Bundesteilhabegesetz heute beraten und beschlossen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das zeigt, dass wir bereit sind, das, was wir miteinander vereinbart haben, auch durchzusetzen. Sie haben gesagt, dass es so viel Protest gegen den Regierungsentwurf gegeben hat und die Abgeordneten der Koalition mit 68 Änderungsanträgen darauf reagiert haben, das sei ein Skandal und ein Zeichen dafür, dass irgendwas schiefgelaufen ist. (Zuruf von der SPD: Parlamentarismus!) Das ist für mich ein merkwürdiges Demokratieverständnis. Deshalb sind wir doch im Parlament: damit wir als Abgeordnete die Regierung kontrollieren und unsere Positionen mit einbringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Kollege Schummer, darf ich kurz unterbrechen? Die Kollegin Rüffer würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie zu? Uwe Schummer (CDU/CSU): Ja. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Okay. Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Schummer, vielen Dank. – Ich frage mich, ob Sie mich vielleicht missverstanden haben. Ich habe gesagt, dass die 68 Änderungsanträge ein Beleg dafür sind, dass der Entwurf Ihrer Regierung so schlecht gewesen ist. Uwe Schummer (CDU/CSU): Sie haben vorhin gesagt, dass der Protest, der zu diesen 68 Änderungsanträgen geführt hat, mit denen wir im Parlament – als Volksvertreter im Deutschen Bundestag – darauf reagieren, ein Zeichen dafür war, dass das Verfahren nicht in Ordnung war. Beides gehört zusammen: Wir transportieren das, was wir vor Ort und auf Veranstaltungen erfahren, ins Parlament, und das führt zu Änderungsanträgen. Das ist gelebte Demokratie. Ich hoffe, darin sind wir uns einig. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Nun zu einem anderen Thema, das für mich schwer nachvollziehbar war. Wir wollen von der negativen medizinischen Diagnose wegkommen – „wesentlich behindert“ und dann in die Eingliederungshilfe – und die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention mit der neuen Begrifflichkeit umsetzen, wonach Behinderung durch das, was in den Menschen angelegt ist, und in Wechselwirkung mit anderen Menschen und dem Lebensumfeld entsteht. Das bedeutet, dass wir gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention neun Lebensbereiche wie Mobilität, Kommunikation, Wissen und Lernen definieren. Das finde ich nach wie vor richtig. Aber für mich und viele andere war fachlich nicht nachvollziehbar, warum ein Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe erst dann gegeben ist, wenn in fünf von neun Lebensbereichen eine erhebliche Teilhabebeschränkung besteht. Uns war nicht klar, ob diese Zahl fünf gewürfelt war, ob sie in goldenen Lettern am Firmament stand oder ob sie eine nächtliche Erscheinung war. Die mathematische Erklärung lautete: Es sind mehr als 50 Prozent. – Das ist aber keine fachliche Erklärung. Deshalb haben wir den Zugang verändert. Wir werden das in den Bundesländern und den Regionen wissenschaftlich aufarbeiten und dann 2022/23 im Lichte der Erkenntnisse darüber entscheiden. Aber das Umsteuern hin zu einem anderen Zugang im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ist nach wie vor unser Ziel. Entscheidend war, dass wir den Schutz der privaten Wohnform weiter konkretisiert haben. Bislang ist es ein Problem, dass Menschen in Heime abgeschoben werden. Es gibt einen Verschiebebahnhof, der dafür sorgt, dass Menschen aus Behinderteneinrichtungen in Pflegeeinrichtungen abgeschoben werden. Das wollen wir verändern. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann tun Sie es doch!) Deshalb haben wir – auch in den Änderungsanträgen – das persönliche Wohnumfeld und die Intimsphäre auf besondere Weise im Gesetz geschützt, und zwar stärker, als es heute real der Fall ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht, Herr Schummer!) Wer diesen Gesetzentwurf ablehnt, der lehnt auch ab, dass wir endlich – ergänzend zu den Beratungsstrukturen in den Ländern – eine unabhängige, vom Bund finanzierte Beratungsstruktur schaffen. Wie Sie wissen, gibt es manche Bundesländer, in denen sich die Beratungsstrukturen gut entwickeln. Es gibt aber auch Bundesländer, in denen so gut wie keine Beratungsstruktur vorhanden ist. In solchen Ländern ist die Fahrt in die nächste Stadt unumgänglich. Deshalb ist es wichtig, dass mit Bundesmitteln in Höhe von 58 Millionen bis 60 Millionen Euro jährlich flächendeckend eine ergänzende und unabhängige Beratungsstruktur für die Betroffenen und ihre Angehörigen geschaffen wird. Arbeit prägt den Menschen. Wir brauchen die Förderwerkstätten weiterhin. Aber wir wollen sie öffnen und durchlässiger gestalten. Wir wollen die Beschäftigten durch verbesserte Einkommens- und Vermögensbildungsmöglichkeiten stärker beteiligen. Wir wollen bundesweit ein Budget für Arbeit etablieren, damit der Gang auf den ersten Arbeitsmarkt stärker unterstützt und organisiert werden kann. Wir haben derzeit eine starke Kostendynamik in der Eingliederungshilfe zu verzeichnen. 13 000 bis 15 000 Werkstattplätze für psychisch behinderte Arbeitnehmer vom ersten Arbeitsmarkt müssen geschaffen werden. Allein das verursacht Kosten in Höhe von rund 200 Millionen Euro in der Eingliederungshilfe. Wir wollen, dass die Betroffenen durch Integrationsfirmen und virtuelle Werkstätten möglichst nah am ersten Arbeitsmarkt verbleiben können und dort intelligente Arbeitssysteme bekommen, die ihrer Produktivität zugutekommen. Wir müssen die Kostendynamik dort bekämpfen, wo sie stattfindet, und zwar durch die Stärkung der Schwerbehindertenvertretungen in Betrieben und Verwaltungen. Das sind die sozialen Faktoren. Die Betreffenden wissen, wie man ein Gesundheitsmanagement bei chronischen Erkrankungen organisiert und wie man Frühwarnsysteme gegen Burn-out und psychisch-seelische Erkrankungen schaffen kann. Sie sorgen dafür, dass in Betrieben und Verwaltungen mit Beratung und Unterstützung bei Anträgen, Krankheiten und Integrationsnotwendigkeiten Inklusionsabteilungen geschaffen werden, die wissen, wie damit umzugehen ist. Es ist wichtig, dass wir den Betreffenden mehr Freiräume im Bundesteilhabegesetz zugestehen, sodass sie von bürokratischen Lasten entbunden werden. Sie werden dabei durch eine Aufwertung ihrer Stellvertreter und eine Stärkung der Qualifikationsmaßnahmen ergänzend unterstützt. Wir schaffen zudem den Einstieg in eine Wirksamkeitsklausel. Bevor sich ein Betrieb oder eine Verwaltung von einem schwerbehinderten Arbeitnehmer trennt, sollen die Möglichkeiten der Weiterbeschäftigung geprüft werden. Die zweite Kostendynamik resultiert daraus, dass mittlerweile 43 Prozent aller Frühverrentungen aufgrund von psychischen Erkrankungen erfolgen. Das heißt, es sind nicht mehr die kaputten Knochen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern psychische Erkrankungen, die für 43 Prozent der Frühverrentungen verantwortlich sind. Unser Schlüssel, dieses Problem anzugehen, ist die Stärkung der Schwerbehindertenvertretungen in den Betrieben und der Verwaltung. Wer sagt, dieses Gesetz sei nicht sein Gesetz, der verhindert, dass bei der Anrechnung von Vermögen bei 70 000 Menschen, die Erwerbsarbeit leisten, massive Verbesserungen stattfinden. Die Vermögensgrenze wird von derzeit 2 600 Euro auf 50 000 Euro angehoben wird. Das ist die Perspektive bis 2020. Wichtig ist, dass die Ehepartnerinnen und Ehepartner von der Mitfinanzierung befreit werden und für die 300 000 Menschen in den Werkstätten das Arbeitsfördergeld verstärkt wird. Auch deren Recht auf ein Sparbuch wird gestärkt. Wer sagt, dass das nicht sein Gesetz sei, der gibt den Menschen, die betroffen sind, kein Brot, sondern Steine. Deshalb ist es so wichtig, dass wir dieses Gesetz heute verabschieden und einen Prozess starten. Wir sind nicht am Ende, sondern wir haben jetzt einen wichtigen Prozess mit dem Teilhabegesetz gestartet. Dadurch werden Türen geöffnet, und die Räume werden weiter ausgestaltet. Das Gesetz zeugt von einer lebendigen Demokratie – es gab vielfältige Aktionen im Parlament und außerhalb des Parlaments – und von selbstbewussten Abgeordneten. Es zeigt, dass die Teilhabe behinderter Menschen in allen Facetten des Lebens unumkehrbar von heute an vorangeht. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Kerstin Tack. (Beifall bei der SPD) Kerstin Tack (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf einige der hier gemachten Aussagen gerne eingehen. Der Kollege Bartsch, der nicht mehr hier ist, weil er schon andere Aufgaben wahrnimmt – das hätte man auch anders machen können; aber so ist es –, (Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Unglaublich!) war der Meinung, dass in diesem Gesetz die Finanzen nicht hinreichend berücksichtigt würden. Wer sich hierhinstellt und das macht, der haut den Kommunen und den Ländern richtig einen vor den Latz. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vielleicht hat er es nicht gewusst, vielleicht wollte er, dass es so kommt. Das wissen wir nicht; denn er ist nicht mehr da. Danach können wir ihn nicht fragen. Die Eingliederungsleistungen zahlen nicht wir, sondern die Kommunen und die Länder. Wer sagt, dass da nicht ordentlich Geld investiert würde, bezieht seine eigenen Kommunen und auch sein Land massiv in die Kritik ein. Ich hoffe, dass er noch hört, dass er sich an dieser Stelle ein bisschen verrannt hat, wenn er das zum Thema macht. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Frau Kollegin Werner, von Ihnen hätte ich erwartet, dass Sie ein bisschen tiefer in der Materie sind. Wenn Sie sich hierhinstellen und einen aktuellen Fall der Leistungsgewährung in einer Stadt in Baden-Württemberg mit dem Hinweis auf ein Gesetz, das in drei Jahren in Kraft tritt, schildern, dann haben Sie sich, finde ich, massiv verrannt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Die heutige Praxis der Leistungsgewährung ist überall komplett unterschiedlich. Das macht uns allergrößte Sorge. Deshalb machen wir in unserem Gesetz bundeseinheitliche Kriterien für genau diese Bedarfsermittlung. Wir stärken die Rechte. Endlich werden wir es hinbekommen, dass wir im Gesamtplanverfahren die Betroffenen an den Tisch holen. Wir stärken ihre Beratung, und sie können ihre Vertrauenspersonen zur Beratung mitnehmen. Das wird die neue Gewährungspraxis sein, wenn wir in drei Jahren dieses Gesetz haben. Aber zu meinen, man könnte mit einem heutigen Fall mit Verweis auf ein Gesetz, das in drei Jahren in Kraft tritt, argumentieren, ist nicht in Ordnung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frau Kollegin Rüffer und Frau Göring-Eckardt, es ist wirklich nicht in Ordnung, wenn man sich hierhinstellt und sagt: Ich verwende meine Redezeit darauf, über einen Entwurf zu reden, und rede nicht über das, was heute eigentlich zur Abstimmung steht. Wenn das das Ziel Ihrer Rede ist, dann will ich sehr deutlich sagen: Das ist eine Missachtung der Parlamentarierinnen und Parlamentarier, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich! Jetzt dürfen wir nicht einmal mehr über Entwürfe reden!) die sich in den letzten Wochen hier sehr massiv genau damit beschäftigt haben. Wenn jemand sagt, ich rede über etwas, was heute gar nicht zur Abstimmung steht, finde ich, dass das nicht redlich ist. Frau Kollegin Rüffer, wenn Sie sagen, da seien Verschlechterungen in dem Gesetz für die betroffenen Menschen: Was für eine Verantwortungslosigkeit werfen Sie denn den Grünen in den Ländern vor, die genau diese angeblich großen Verschlechterungen in zwei Wochen hier mit auf den Weg bringen werden? (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Grünen in den Ländern haben doch dafür gekämpft, dass die Verbesserungen im Gesetz drinstehen!) Deshalb finde ich, dass das nicht in Ordnung ist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sie sagen, Ihre Kolleginnen und Kollegen in den Ländern hätten eine große Verantwortungslosigkeit an den Tag gelegt, weil sie Ihnen an dieser Stelle nicht folgen. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, ich habe gesagt, die Grünen in den Ländern haben dafür gesorgt, dass diese Probleme an manchen Stellen gelöst worden sind!) Da muss man sich sehr genau überlegen, wie man hier an diesem Redepult agiert und wie man es gerade nicht tut. Ich glaube, da haben Sie Ihren Kollegen in den Ländern heute keinen guten Dienst erwiesen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Für uns ist ganz entscheidend, dass wir das Selbstbestimmungsrecht der Menschen stärken, und das in der Tat nicht nur bei dem Einkommen und Vermögen – das ist hier schon ganz viel gesagt worden –, sondern gerade auch mit der Erhöhung des Vermögensfreibetrages in der Grundsicherung. Das betrifft nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern das betrifft jeden in Deutschland, unabhängig von der Frage, ob er eine Behinderung hat oder nicht. Das sind 2 Millionen Menschen in Deutschland. Für diese Personengruppen werden wir den Freibetrag von heute 2 600 Euro auf 5 000 Euro erhöhen. Das ist eine echte sozialpolitische Leistung, von der über das Bundesteilhabegesetz auch andere profitieren, auch wenn sie keine Beeinträchtigung haben. Wir halten das für eine richtig wichtige Maßnahme. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]) Zu der Schwerbehindertenvertretung hat Kollege Schummer schon erläutert, was jetzt alles im Gesetz steht. Aber ich will auch sehr deutlich sagen: Für die SPD ist die Stärkung der Schwerbehindertenvertretung ein richtig wichtiges Anliegen. Es bleibt auch ein Anliegen in der nächsten Legislatur, die Stärkung weiter voranzutreiben. Mit der heute erreichten Unwirksamkeit der Kündigungen sind wir noch nicht hinreichend einverstanden. Wir wollen mehr. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir glauben auch, dass dieses Gesetz ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zur weiteren Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist. Aber es müssen weitere Schritte folgen. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach ja? Interessant!) Wir wollen ganz selbstverständlich, dass wir bei der Einkommens- und Vermögensanrechnung zu einer vollen Freistellung kommen. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es! Warum haben Sie es nicht gemacht?) Deshalb muss es an dieser Stelle weitergehen. Wir möchten den inklusiven Arbeitsmarkt weiter stärken, die Rolle der Werkstätten in diesem System noch einmal deutlicher unter die Lupe nehmen und ihnen auch künftig eine Rolle zuweisen. Wir möchten – ich glaube, es war Frau Reimann, die das auch im Bereich der Schnittstelle zur Pflege gesagt hat –, dass auch Menschen mit Behinderung, die in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe leben, die Beiträge an die Pflegeversicherung gezahlt haben, die heute aber die einzige Gruppe in Deutschland sind, die keine Leistungen der Versicherungen bekommen, alle Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, wie sie auch Menschen außerhalb von vollstationären Einrichtungen bekommen. Das wird noch eine Aufgabe der nächsten Legislatur sein, das tatsächlich auf den Weg zu bringen, und die entsprechenden Mittel für die Pflegeversicherung zu kompensieren. (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum stand denn da drin, dass Sie die ausweiten wollen?) In diesem Sinne freue ich mich, dass wir hier heute den ersten großen Schritt gehen. Weitere werden folgen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat die Kollegin Gabriele Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuseher im Bundestag! Das Bundesteilhabegesetz ist für mich mit das wichtigste sozialpolitische Vorhaben dieser Legislaturperiode. Jeder von uns wünscht sich ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben. Mit der Reform der Eingliederungshilfe werden wir dazu beitragen, dass dies endlich auch für Menschen mit Behinderung gelingt. Das Gesetz wird ihre Lebenssituation in vielen Bereichen deutlich verbessern, egal wie oft das hier bestritten wird. Das Gesetzgebungsverfahren – dazu zählen auch die Vorarbeit und die Beteiligung Betroffener in der Arbeitsgruppe „Bundesteilhabegesetz“ und die Mitwirkung von Kommunen, Ländern, Verbänden – war gekennzeichnet von Transparenz und Mitbestimmung. Alle hatten und haben das gemeinsame Ziel, Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen weiter zu stärken. Dass die Regierung zugehört und entsprechend gehandelt hat, sieht man an den vielen Änderungen und Verbesserungen, die über die Monate Eingang in das vorliegende Gesetz gefunden haben. Das geschah zum größten Teil in enger Abstimmung mit den Verbänden und den Betroffenen. Es handelte sich um einen Prozess, und dieser Prozess wird fortgeführt. Einzelne Regelungen werden evaluiert und da, wo nötig, nachgebessert. Nachbesserung gibt es beim Zugang zur Eingliederungshilfe. Die zu Recht kritisierte Fünf-aus-neun-Regelung wurde gestrichen – Kollegin Dr. Freudenstein hat das im Detail erklärt –; ein ganz wichtiger Punkt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Verbesserungen gibt es auch für Werkstattbeschäftigte mit der Verdoppelung des Arbeitsförderungsgeldes. Davon profitieren viele geistig behinderte Menschen, und der Bund und die Länder stellen nochmals 125 Millionen Euro bereit. Es handelt sich um eine Gruppe von Menschen, die unseren besonderen Schutz brauchen, den wir ihnen gewähren wollen. Gerade war wieder die Rede von der Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe, Pflegeversicherung und Hilfe zur Pflege. Auch hier wurde nachjustiert. Was für mich persönlich sehr wichtig ist – nicht nur für Frau Tack und die SPD –, ist die Stärkung des Schwerbehindertenrechts. Ab 100 schwerbehinderten Menschen in einem Unternehmen wird die Vertrauensperson für die Arbeit freigestellt. Dass die Kündigung eines Schwerbehinderten ohne die Beteiligung der Vertretung unwirksam ist, war wirklich überfällig; auch das steht jetzt im Gesetz. Ich habe in Gesprächen mit der Schwerbehindertenvertretung des Landratsamtes Waldshut, immerhin der größte Arbeitgeber in meiner Region, gehört, dass die Kollegen dort insbesondere mehr Zeit für ihre Arbeit brauchen. Sie brauchen mehr personelle Unterstützung und auch mehr und breitere Weiterbildungen. Genau diesen Wünschen tragen wir mit dem Gesetz Rechnung. Da leider gerade Frauen mit Beeinträchtigungen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe arbeiten oder leben, besonders häufig Opfer von Gewalt sind, gibt es künftig in jeder Werkstatt eine Frauenbeauftragte. Insgesamt werden die Rechte und damit die Mitbestimmung der Vertreter der Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen in den Werkstatträten gestärkt. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass mit der Reform mehr Übergänge in Arbeit geschaffen werden sollen. Mit dem Budget für Arbeit werden bestehende Beschäftigungsangebote sinnvoll ergänzt, und das Recht auf Rückkehr in die Werkstatt bleibt dabei unangetastet. Genau damit wird an dieser Stelle das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderung gestärkt. Von den rund 15 000 Neuzugängen in den Werkstätten sind fast 13 000 Menschen mit psychischen Behinderungen. Sie fühlen sich in diesen Werkstätten oft fehlplatziert. Für sie kann das Budget für Arbeit eine gute Möglichkeit sein, wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Damit chronische Erkrankungen nicht erst entstehen und die Erwerbsfähigkeit erhalten bleibt, sollen Präventivmaßnahmen ergriffen werden. Damit sind wir wieder bei den Schwerbehindertenvertretungen, denen eine Schlüsselrolle in diesem Bereich zukommt. Die Träger von Rehamaßnahmen werden verpflichtet, drohende Behinderungen frühzeitig zu erkennen und gezielt zu handeln. Jeder von uns hat leidvolle Erfahrungen mit dem Dschungel an Vorschriften, Gesetzen und entsprechenden Formularen. Wir wollen dem entgegenwirken mit dem Teilhabeplanverfahren und der „Hilfe wie aus einer Hand“, von der wir ja auch schon gehört haben. Das ist definitiv eine deutliche Verbesserung gegenüber der jetzigen Situation. Das gilt auch dafür, dass in Beratungsstellen gezielt mehr Menschen mit Behinderung tätig sein sollen. Die weitere zentrale Änderung ist die Anhebung von Einkommens- und Vermögensfreigrenzen bei der Eingliederungshilfe. Menschen, die ihr Geld selbst verdienen, sollen auch etwas davon haben. Ein ganz wichtiges Anliegen der Union ist dabei die Abschaffung der Heranziehung von Ehe- und Lebenspartnern. Sie sehen also: Es sind grundlegende Reformen, die wir gemeinsam anstoßen. Die eigentliche Kraftanstrengung, die Umsetzung, liegt aber noch vor uns. Gemeinsam mit Ländern, Kommunen und den Betroffenen sowie deren Vertretern wird es uns gelingen, diese gemeinsame Kraftanstrengung auch zum Erfolg zu führen. Das ist meine Überzeugung. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Die letzte Rednerin zum diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Jutta Eckenbach, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Jutta Eckenbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer wie ich seit über 20 Jahren mit Menschen mit Behinderungen zu tun hat – das habe ich auch im Landschaftsverband Rheinland seit vielen Jahren – und heute Morgen die erste Rede von Herrn Bartsch gehört hat, der kann nur sagen: Wir müssen ein verdammt gutes Gesetz auf den Weg gebracht haben, dass sich die Opposition heute hier mit so populistischen Argumentationen aus der Mottenkiste hinstellt. Verdammt noch mal, wir waren gut mit unserem Gesetz – ich bin sehr damit zufrieden – und werden es heute auf den Weg bringen. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Göring-Eckardt, auch Sie habe ich nicht verstanden: Gerade die Koalitionsfraktionen haben doch viele Gespräche mit den Menschen, mit den Betroffenen geführt; ich denke, da spreche ich auch für meine Kolleginnen und Kollegen der SPD. Es ist nicht so, dass wir nicht mit den Betroffenen gesprochen hätten. Und diejenigen, mit denen wir im Vorfeld gesprochen haben, haben uns vielfach aufgezeigt, wo die Schwachstellen sind. Wir haben dann diese Hinweise aufgenommen. Dieses umfangreiche Paket an Änderungen haben wir heute Morgen eingebracht. Ich glaube, das zeigt, dass die Koalitionsfraktionen gewissenhaft, ernsthaft und sehr zielgerichtet mit diesem Gesetzgebungsverfahren umgegangen sind. Uns an dieser Stelle quasi menschenunwürdiges Verhalten vorzuwerfen, ist, finde ich, eine schiere Unverschämtheit. Das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Das hat mich schon sehr aufgeregt. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will noch einmal auf die Gespräche zu sprechen kommen, die ich geführt habe, und möchte mich dafür bei den Menschen, bei vielen Verbänden, bei Firmen, bei Einrichtungen und bei den Behinderten selbst bedanken. Was mich ein bisschen schockiert hat – lassen Sie mich das an dieser Stelle auch sagen –, ist, mit wie vielen Falschinformationen wir bei diesem Gesetzgebungsverfahren zu tun hatten und wie viel Verunsicherung wir auch unter die Menschen gebracht haben. Das schadet der Demokratie. Was wollten wir? Wollten wir die Menschen einfach nur auf die Palme bringen, oder wollten wir mit ihnen reden und gemeinsam etwas nach vorne bringen? (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat sie denn auf die Palme gebracht?) Ich glaube, das ist uns doch sehr gut gelungen. Es ist richtig, dass wir einen Paradigmenwechsel vornehmen. Das sehe ich als mit das Wichtigste bei diesem Gesetz an. Wir gehen dieses Mal von den Stärken der Menschen aus, und nicht von ihren Schwachstellen, Frau Rüffer. Wir nehmen die Stärken ernst. Wer insbesondere mit den Landschaftsverbänden in Nordrhein-Westfalen bei diesem Thema zu tun hat, der weiß, dass das dort seit vielen Jahren in diese Richtung geht. Dort haben wir mit Werkstätten sehr gute Erfahrungen gemacht; wir haben auch schwerstbehinderte Menschen in Werkstätten untergebracht und tun ganz viel für psychisch erkrankte Menschen. Aber das ist nicht in ganz Deutschland so. Insofern ist es richtig, dass wir hier im Bundestag die Rahmenbedingungen festlegen, die von den Ländern und den Kommunen ausgefüllt werden können. Ich bin sehr darauf gespannt, wie diese Umsetzung in den Ländern letztendlich erfolgt. Darauf warte ich; denn es ist noch einiges zu tun in Deutschland. Die Rahmenbedingungen sind von uns im Deutschen Bundestag festgelegt. Das kann man nur weiterhin begrüßen. Ich möchte gerne noch auf einen Bereich eingehen, der mir auch wichtig war, der aber gar nicht so sehr im Fokus gestanden hat. Wenn Sie mit den betroffenen Menschen, die in Werkstätten arbeiten, gesprochen haben, haben Sie erfahren, dass es ihnen immer darum ging: Warum bekommen eigentlich andere Menschen mit Behinderungen Freibeträge, können mehr Geld behalten? Wir bekommen nichts. – Das war eine große Diskussion. Wir haben es geschafft – da bin ich der Politik und der Koalition wirklich ausgesprochen dankbar –, nach fast fünf Jahren auch die Mittel für Menschen in Werkstätten deutlich zu erhöhen – es hätte vielleicht noch ein bisschen mehr sein können, aber wir arbeiten daran –; auch die Freibeträge wurden erhöht, um fast 100 Prozent. Ich denke, das wird immer ein wenig vergessen und geht unter. Aber für die Menschen in Werkstätten ist das ein wichtiger Beweis der Wertschätzung. Deswegen danke ich hier wirklich noch einmal der Koalition. Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas sagen, das bisher noch gar nicht zur Sprache gekommen ist. Ich möchte es gern in leichter Sprache zusammenfassen: Erstens. Die Eingliederungshilfe ist auch heute schon sehr gut. Zweitens. Das neue Gesetz bringt viele Verbesserungen. Drittens. Wenn wir das neue Gesetz in den Papierkorb geworfen hätten, würde es auch die guten Vorschläge nicht geben. Viertens. Die schlechteren Ideen haben wir verbessert und korrigiert. Fünftens. Das Gesetz ist also gut für Menschen mit Behinderungen. Sechstens. Wenn etwas trotzdem nicht gut funktionieren wird, werden wir es später verbessern. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende dieser Debatte angekommen. Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 3 a. Es geht um den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. Zu dieser Abstimmung liegen zahlreiche Erklärungen nach § 31 Absatz 1 unserer Geschäftsordnung vor.1 Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10523, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/9522 und 18/9954 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/10528. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Vielen Dank für die Debatte. Wir sehen, wir haben heute alle möglichen Abstimmungsverhältnisse. Die Debatte war lebhaft, aber notwendig. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir setzen jetzt die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales fort. Tagesordnungspunkt 3 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 18/10523. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/10014 mit dem Titel „Das Teilhaberecht menschenrechtskonform gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/9672 mit dem Titel „Mit dem Bundesteilhabegesetz volle Teilhabe ermöglichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: a)   – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III) Drucksachen 18/9518, 18/9959, 18/10102 Nr. 19 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) Drucksache 18/10510 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10511 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah gestalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pflege vor Ort gestalten – Bessere Bedingungen für eine nutzerorientierte Versorgung schaffen Drucksachen 18/8725, 18/9668, 18/10510 Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen; denn dann könnte ich die Aussprache eröffnen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin Ingrid Fischbach. – Bitte schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ingrid Fischbach, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir haben heute etwas geschafft, was uns zu Beginn der Legislaturperiode sicherlich niemand zugetraut hätte. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Richtig!) Wir haben heute das zum Abschluss gebracht, was wirklich den Namen „Reform“ verdient. Wir haben eine Pflegereform auf den Weg gebracht, die mit dem Pflegestärkungsgesetz I, dem Pflegestärkungsgesetz II und heute mit dem Pflegestärkungsgesetz III in drei Stufen endlich das umsetzt, was sich all die, die Pflege benötigen, und diejenigen, die pflegen – sowohl hauptamtlich als auch ehrenamtlich –, gewünscht haben, was sie brauchen, was sie benötigen. Deswegen können wir stolz darauf sein, dieses Gesetz heute zum Abschluss zu bringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir haben mit dem Pflegestärkungsgesetz I einen Bereich in Angriff genommen, der – schauen wir uns die Zahlen an – der wichtigste ist: die Pflege zu Hause, ambulant vor stationär. Wir haben mit dem PSG I alles getan, um denjenigen, die zu Hause pflegen oder die gepflegt werden, Verbesserungen zu bringen. Wir haben die Anzahl der Betreuungskräfte für die stationären Einrichtungen deutlich erhöht. Auch das ist angekommen. Das sagen alle, die damit zu tun haben. Wir haben endlich das gemacht, was wir immer wollten, nämlich Flexibilität in der Angebotsvielfalt. Das heißt, Pflege ist individuell, und deswegen muss auch die Angebotsannahme individuell sein. Das haben wir mit dem PSG I geschafft. Mit dem PSG II ist etwas verabschiedet worden, was zehn Jahre diskutiert wurde, wovon auch niemand glaubte, dass wir es zu Ende bringen, nämlich endlich den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einzuführen. Heute in einem Monat wird es so weit sein. Ab 1. Januar 2017 ist die Leistung unabhängig davon, ob jemand eine körperliche oder eine geistige oder eine psychische Beeinträchtigung hat. Das spielt keine Rolle mehr. Alle Pflegebedürftigen werden dann Zugriff auf die Pflegeleistungen haben, unabhängig von der Art ihrer Beeinträchtigung. Ich glaube, das ist ein guter, wichtiger Schritt und eine große Hilfe für die Menschen, die zu Hause demenziell Erkrankte haben und pflegen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, der Sechste Pflegebericht, der Mitte Dezember im Kabinett verabschiedet wird, wird zeigen, dass die Maßnahmen, die wir mit dem PSG I auf den Weg gebracht haben, gut angenommen werden. Aber wir wissen auch: Das PSG II und auch das PSG I können sich nur voll entfalten, wenn die Maßnahmen, die wir beschlossen haben, vor Ort umgesetzt werden. Deswegen ist es wichtig – aller guten Dinge sind drei –, dass wir heute mit dem Pflegestärkungsgesetz III die Orte in den Blick nehmen, die wichtig sind, nämlich die Kommunen, das heißt die Situation in den Stadtteilen, in den Familien, in den WGs, dort, wo die Pflege stattfindet. Dazu brauchen wir die Kommunen vor Ort. Deswegen ist es gut, dass wir das heute mit dem PSG III zum Abschluss bringen. Meine Damen und Herren, Pflege muss passgenau und individuell gestaltet sein, aber sie braucht dafür ein gut gestaltetes Umfeld, damit die Möglichkeiten dann auch in Anspruch genommen werden können. Sie braucht engagierte Dienste, Einrichtungen, Menschen, die helfen. Sie braucht aber auch kommunal Verantwortliche, die sich dieses Themas annehmen und sagen: Wir wollen, dass die Menschen in unserer Stadt das bestmögliche Angebot bekommen. – Es gibt viele Angebote. Sie müssen besser koordiniert werden; es muss kooperiert werden. Dazu brauchen wir die Kommunen. Sie müssen dafür da sein, gute, starke Ideen, die die Beteiligten haben, zu vernetzen, sodass alle Beteiligten, vor allen Dingen diejenigen, die gepflegt werden müssen, die bestmöglichen Angebote bekommen. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Stärkung der Rolle der Kommunen in der Pflege hat lange getagt. Sie hat sich mit vielen Themen auseinandergesetzt, etwa mit der Sicherstellung der Versorgung, mit niederschwelligen Angeboten – das ist ganz wichtig, auch wenn es darum geht, kurzfristig kleine Entlastungen für diejenigen, die pflegen, anzubieten – sowie mit der Beratung; das ist ein ganz wichtiges Stichwort; denn ich glaube, vielen ist noch gar nicht bewusst, welche Möglichkeiten sie haben. Aber auch Stichworte wie altersgerechtes Wohnen sowie Ehrenamt und Selbsthilfe waren in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein Thema. Aus diesen fünf Themenfeldern sind über 60 Empfehlungen entstanden, die umgesetzt werden und auch umgesetzt werden müssen. Wir erweitern jetzt mit dem PSG III – das ist unser Ziel, und das bringen wir jetzt auf den Weg – die Handlungsfelder der Kommunen, indem wir zum Beispiel die Pflegekassen zur Beteiligung an regionalen Pflegekonferenzen verpflichten. Es ist wichtig, dass sie wirklich zusammenarbeiten. Wir ermöglichen den Kommunen aber auch, sich an der Bereitstellung niederschwelliger Angebote zu beteiligen, und geben ihnen die Möglichkeit, diese zu verbessern. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir geben den Kommunen nun die Möglichkeit, stärker die Initiative zu ergreifen und neue Pflegestützpunkte zu errichten. Im Rahmen von 60 Modellvorhaben haben sie die Möglichkeit, das anzugehen und auszuprobieren, was nötig ist, nämlich die Beratung aus einer Hand. Ich glaube, das ist etwas, was die Pflegebedürftigen und die Familien brauchen: Beratung aus einer Hand. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, wir brauchen niederschwellige Angebote. Dazu müssen wir sowohl das Ehrenamt als auch – das ist genauso wichtig – die Selbsthilfe vor Ort stärken. Auch diese Möglichkeiten bietet das PSG III. Auch bei den altersgerechten Wohnmöglichkeiten müssen wir neue Wege gehen, entsprechende Angebote fördern und ausbauen, sodass sie individuell nutzbar sind. Pflegebedürftige, die finanziell bedürftig sind, sollen ebenfalls von der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs profitieren und sich darauf verlassen können, dass sie sicher und zuverlässig die Hilfe und Unterstützung bekommen, die notwendig ist. Wir lösen damit einmal mehr unser Versprechen ein, dass niemand alleingelassen wird, der Pflege braucht. Es ist wichtig, dass die Gemeinschaft zusammensteht und wir die Menschen nicht alleinlassen, sie keine Sorgen und Angst haben müssen. Diejenigen, die gepflegt werden, und diejenigen, die pflegen, brauchen aber auch eine ehrliche Pflege. Das heißt, Vertrauen spielt eine ganz große Rolle. Deswegen habe ich schon bei der Einführung in dieses Gesetz deutlich gemacht: Es gibt wenige schwarze Schafe, die die Leute – ich sage es mal so – wirklich abzocken. Das kann es nicht sein. Deswegen bringen wir mit dem PSG III Verbesserungen bei den Kontrollen auf den Weg, damit die Missstände, die aufgetreten sind und aufgezeigt wurden, nicht wieder auftreten können. Ich glaube, auch das ist ein ganz wichtiger Punkt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden pflegerische Betreuungsleistungen zukünftig Regelleistungen der Pflegeversicherung. Das ist eine Erweiterung, die notwendig ist. Es war dadurch aber auch nötig, dass wir das Verhältnis von Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung im PSG III regeln. Wir brauchen gute Regelungen zum Verhältnis der beiden Systeme. Und wir sind auch lernfähig: Wir haben den Gesetzentwurf anders eingebracht, als er heute vorliegt. Ich nenne das Stichwort der Gleichrangigkeit der beiden Leistungssysteme. Es hat sich im Rahmen der Beratungen ergeben, dass wir bei der Gleichrangigkeit beider Leistungssysteme im häuslichen Umfeld bleiben. Gleichzeitig schärfen wir aber auch die Verpflichtung zur Zusammenarbeit der Leistungsträger, wenn Menschen auf Leistungen beider Systeme angewiesen sind. Die Menschen sollen nicht leiden. Sie müssen das bekommen, was sie brauchen. Sie müssen nicht den Zank und Streit beider Systeme ausbaden. Das muss im Vorfeld geklärt werden, und das haben wir mit diesem Gesetz auch auf den Weg gebracht. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, Norbert Blüm hat vor 21 Jahren, als er die Pflegeversicherung eingeführt hat, gesagt: Auch bei der Pflegebedürftigkeit lassen wir euch nicht alleine. Er hat recht gehabt. Mit unseren Pflegestärkungsgesetzen – mit dem heutigen schließen wir die Reihe ab – zeigen wir den Menschen, dass wir verstanden haben, was wir tun müssen. Diese Reform war mehr als überfällig. Sie ist ein guter und wichtiger Schritt. Ich möchte mich am Ende meiner Rede bei den vielen Kollegen bedanken, die tatkräftig bei der Erarbeitung dieses Gesetzes mitgeholfen haben. Wir haben eine große Anzahl von Berichterstattergesprächen geführt. Deswegen gilt zunächst mein Dank den Berichterstattern Mechthild Rawert, Erwin Rüddel und Erich Irlstorfer, die immer wieder mitgeholfen haben, aber auch den Sprecherinnen Hilde Mattheis und Maria Michalk. Die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Karl Lauterbach und Georg Nüßlein haben am Ende auch noch einmal mitgeholfen, das Ganze auf den Weg zu bringen. Aber das Ganze geht natürlich nur, wenn wir gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben. An Sie in den Büros ein herzliches Dankeschön dafür, aber auch an das Haus; ich habe Frau Kraushaar, Leiterin der Abteilung 4, hier sitzen sehen. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein ganz herzliches Dankeschön für die Unterstützung und natürlich auch meinem Kollegen Staatssekretär Karl-Josef Laumann. Es wurde Tag und Nacht gearbeitet, am Schluss sogar an Wochenenden, an Samstagen und Sonntagen. Ich sage: Es hat sich gelohnt. Dieses Gesetz ist es wert, dass wir es verkünden und leben lassen. Die Menschen haben es verdient. Ich danke für die gute Zusammenarbeit und hoffe auf eine gute Wirkung unserer Gesetze. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Sabine Zimmermann hat als nächste Rednerin das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie überkleben erneut die Probleme der Pflegeversicherung mit Pflästerchen, statt endlich die strukturellen Ursachen zu beseitigen. Das hat schon bei den Vorgängergesetzen nicht funktioniert, und das wird auch dieses Mal nicht funktionieren. (Beifall bei der LINKEN) Die zentralen Probleme gehen Sie nicht an. Unverändert wird nur ein Teil der Pflegekosten übernommen und nicht die Gesamtkosten, die den pflegebedürftigen Menschen tatsächlich entstehen. Pflegebedürftig zu werden, bedeutet heute ein hohes Armutsrisiko. Eigenanteile für die Pflege können leicht Hunderte Euro pro Monat ausmachen. Wer kann sich das alles leisten? 400 000 Menschen brauchen schon jetzt die Hilfe zur Pflege, die sogenannte Sozialhilfe. Auch für die Beschäftigten in der Pflege tun Sie nichts. In einem Pflegeheim in Saarbrücken arbeitet Uwe seit zehn Jahren als Altenpfleger. Er sagt mir: Durch die bisherigen gesetzlichen Veränderungen hat sich seine Arbeitssituation nicht verbessert. Er betreut auf zwei Etagen 40 Bewohnerinnen und Bewohner, davon 20 in der Grundversorgung, und das umfasst alles: von der Körperpflege über die Ernährung bis hin zu den nicht medizinischen, pflegerischen Tätigkeiten. Für die anderen 20 ist er nur – ich sage: „nur“ – für die Medikation und die Verbände usw. zuständig. Das ist Pflege im Minutentakt und im Dauerlauf, sagt Uwe. Leider seien bei diesem Stress Pflegefehler zum Alltag geworden. 2 000 Euro netto verdient er mit allen Zulagen im Schichtsystem, und er ist noch einer der Besserverdienenden im Haus. Und da wundern Sie sich, meine Damen und Herren, wenn immer weniger junge Menschen Pflegeberufe erlernen wollen? (Mechthild Rawert [SPD]: Unseren Änderungsantrag lesen, bitte!) Im angesprochenen Heim konnte keiner der Ausbildungsplätze besetzt werden. Dieser Beruf bedeutet hohe psychische Belastungen, erhöhte Burn-out-Raten, psychosomatische Erkrankungen und Rückenbeschwerden. Viele Altenpflegerinnen und -pfleger steigen deshalb irgendwann aus, zu viele während oder unmittelbar nach der Ausbildung, und daran wird Ihr Gesetz nichts ändern. Die Linke sagt: Je mehr qualifizierte und gut bezahlte Pflegekräfte, umso besser für die Pflege. (Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Richtig! Deswegen geben wir ja auch mehr Geld!) Allein aus Kostengründen scheuen Sie aber davor zurück, gewisse Standards festzulegen. (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist eindeutig falsch!) Die Linke fordert: Pflegeberufe müssen aufgewertet werden, und das sofort. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das heißt konkret: bessere Löhne und weniger Arbeitsbelastung. Die Linke fordert ein Ende des Wettbewerbs- und Privatisierungswahns. (Mechthild Rawert [SPD]: Auch Änderungsantrag!) Auch jemand mit wenig Geld hat ein Recht auf eine gute Pflege im Alter. (Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!) Pflege ist eine Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge und gehört deshalb ohne Wenn und Aber in die öffentliche Hand. (Beifall bei der LINKEN) Geben Sie den Kommunen endlich das Geld dafür. Wir brauchen eine Pflegevollversicherung, die alle Kosten der Pflege abdeckt. Zuzahlungen sind und bleiben unsozial. (Beifall bei der LINKEN) Zuzahlungen ließen sich vermeiden, wenn endlich alle in dieselbe Versicherung einzahlen würden. Da sind wir doch gar nicht so weit weg voneinander, liebe Kollegin. (Mechthild Rawert [SPD]: Nein, wir wollen alle die Bürgerversicherung! – Gegenruf der Abg. Maria Michalk [CDU/CSU]: Aber die löst nicht das, was sie sagt!) – Die wollen wir nicht alle; aber wir wollen sie. (Tino Sorge [CDU/CSU], an die Abg. Mechthild Rawert [SPD] gewandt: Was haben Sie denn heute gefrühstückt? – Gegenruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]: Sie hat keiner gefragt! – Gegenruf des Abg. Tino Sorge [CDU/CSU]: Was Falsches gefrühstückt, was?) Wir wollen, dass der Chefarzt und die Krankenschwester, die Abgeordneten und unsere Kolleginnen und Kollegen Saaldienerinnen und Saaldiener in eine Versicherung einzahlen. Das gehört sich einfach so. (Beifall bei der LINKEN) Die private und die gesetzliche Pflegeversicherung gehören zusammengeführt zu einer solidarischen Pflegeversicherung. Es darf nicht sein, dass die privaten Versicherungen die Besserverdiener, die Jungen, die Gesunden einsammeln und die Solidargemeinschaft alle Risiken trägt. – Zumindest auf dem Papier, liebe Kollegin Rawert, haben wir ja die gleiche Meinung. – Aber statt solidarisch die Kosten der Pflege auf alle in der Gesellschaft zu übertragen, legen Sie heute wieder einen Gesetzentwurf vor, mit dem keines der zentralen Probleme in der Pflege wirklich angegangen wird. Es bleibt dabei: Eine andere Pflegepolitik geht nur mit der Linken. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Dr. Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Karl Lauterbach (SPD): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Wir haben in dieser Legislaturperiode in den Bereichen Gesundheit und Rente nach meiner Rechnung bereits 18 Gesetze beschlossen, davon 3 im Bereich Pflege. In der Pflege haben wir wichtige Verbesserungen erreichen können, auf die wir aus meiner Sicht stolz sein können. Ich danke allen, die teilgenommen haben, und will kurz in Erinnerung rufen, was wir gemacht haben, sodass man das Gesamtbild sieht: Wir haben mit dem Pflegestärkungsgesetz I die Zahl der Betreuungskräfte in den Pflegeeinrichtungen deutlich erhöht. Ohne Betreuungskräfte kann man selbst bei bester Pflege in einer Pflegeeinrichtung traurig und allein sein. Das gilt insbesondere für diejenigen, die keine Anverwandten haben. Das heißt, den Wert der Betreuungskräfte, die sich um die Betroffenen kümmern, die mit ihnen mal einen kleinen Spaziergang im Park machen oder schlicht und ergreifend mal ein Spiel mit ihnen spielen, darf man nicht unterschätzen. Wir haben zwischen 25 000 und 30 000 zusätzliche Stellen für Betreuungskräfte geschaffen. Das war aus meiner Sicht eine wichtige Initiative zur Vermenschlichung der Pflege. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zum Zweiten. Mit dem Pflegestärkungsgesetz II haben wir den massiven systematischen Nachteil von Menschen mit psychischen Erkrankungen oder mit Einschränkungen hinsichtlich der Art und Weise, wie sie die Umwelt wahrnehmen, beseitigt. Wir hätten ohne diese Maßnahme, ohne die Einführung der neuen Pflegegrade in Zukunft eine massive Zweiklassenversorgung bekommen, nicht mit Blick auf den Unterschied zwischen privat und gesetzlich Versicherten, den Sie, Frau Kollegin, zu Recht beklagen, sondern wir hätten massive Unterschiede zwischen denjenigen, die diese Einschränkungen haben, und denjenigen, die sie nicht haben. Wenn ich diejenigen, die diese Einschränkungen haben, und diejenigen, die sie nicht haben, in dieselbe Pflegestufe einteile und für die Pflege das gleiche Geld gebe, statt unterschiedliche Pflegegrade zu wählen, dann bringt die Versorgung von Menschen mit einer psychischen Erkrankung – das sind diejenigen, die hohe Kosten verursachen – für die Einrichtungen ein Verlustrisiko mit sich, weil ihre Versorgung mit dem gleichen Beitrag abgedeckt wird wie die Versorgung der Menschen ohne psychische Erkrankung. Wir hätten in der Pflege eine Zweiklassenmedizin gehabt, einen Unterschied zwischen denjenigen, die eingeschränkt sind, und denjenigen, die nicht eingeschränkt sind. Das konnten wir abwenden, indem wir bei den Pflegegraden genau diese Unterscheidung getroffen haben. Das war aus meiner Sicht eine wichtige Initiative, um mit einem Problem umzugehen, das sich jetzt anbahnt. Denn wir stellen fest, dass bei den Menschen, die jetzt neu pflegebedürftig sind, 80 Prozent eine kognitive Einschränkung im Sinne einer Vorstufe der Demenz oder bereits eine Demenz haben. Das war nicht abgebildet. Von daher war das auch aus meiner Sicht ein wesentlicher Erfolg, ein wichtiger Schritt nach vorne. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben in der Pflege Planungsprobleme. Diese Planungsprobleme werden an Bedeutung gewinnen. Denn es gelingt uns seit 2011 nicht mehr, die notwendigen Pflegekräfte zu gewinnen, die wir benötigen. Wir könnten sie sogar bezahlen. Seit 2011 haben wir einen sich aufbauenden Bedarf. Es gibt immer mehr Stellen, die wir besetzen wollen, aber nicht besetzen können. Uns fehlen die Pflegekräfte, und zwar bereits seit einigen Jahren. Langfristig gibt es weniger Betreuung durch Angehörige. Bisher werden zwei Drittel der zu Pflegenden zu Hause betreut. Das könnte ein riesiges Problem werden. Darum brauchen wir nicht nur eine Stärkung der Finanzierungsbasis der Pflegeversicherung, wie wir sie in dieser Legislaturperiode in den entsprechenden drei Gesetzen beschlossen haben – insgesamt 6 Milliarden Euro mehr für die Pflegeversicherung; das ist ein Aufwuchs von 23 Prozent in einer Legislaturperiode –, sondern wir brauchen auch bessere Arbeitsbedingungen. Diese besseren Arbeitsbedingungen können wir nur erreichen, wenn nach Tarif bezahlt wird. Wir haben bereits erreicht, dass die tarifliche Bezahlung von Pflegekräften bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht gegen die Einrichtung verwendet werden kann. Das Gleiche konnte auch schon bei kirchlichen Trägerschaften erreicht werden. Wir haben dies jetzt zusätzlich für diejenigen erreicht, die gar nicht tariflich gebunden sind. Das sind in den neuen Bundesländern zwei Drittel der Beschäftigten. Zwei Drittel der Beschäftigten werden nicht nach Tarif bezahlt. Wir konnten jetzt erreichen, dass eine Bezahlung bis zum Tarif nicht genutzt werden kann, um einer Einrichtung Unwirtschaftlichkeit vorzuwerfen. Das halte ich für einen großen Schritt nach vorne. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich weiß, dass das dem einen oder anderen in der Unionsfraktion nicht so leicht gefallen ist. Sie haben es trotzdem mitgetragen. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bedanken. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Herr Fuchs ist jetzt nicht da! – Erwin Rüddel [CDU/CSU]: Wir haben es erfunden!) Die Kommunen müssen bei der Planung der Pflege stärker berücksichtigt werden. Das ist mein letzter Punkt; ich bitte noch einmal kurz um Ihre Aufmerksamkeit. Wir wissen, in den skandinavischen Ländern haben die Kommunen eine viel aktivere Rolle bei der Pflegeplanung. Wenn jetzt hier in Deutschland Pflegedienste dichtmachen, weil die Wirtschaftlichkeit nicht mehr gegeben ist, weil der Bedarf nicht gedeckt werden kann, dann gibt es keine kommunale Planung für die Pflege. Wir haben diese kommunale Planung nicht nur finanziell gestärkt und möglich gemacht, sondern wir haben auch die Kostenträger, also die Pflegekassen, und die Einrichtungen verpflichtet, an den Planungsgesprächen teilzunehmen und die Ergebnisse bei den Verhandlungen zu den entsprechenden Pflegeverträgen zu berücksichtigen. Das ist für denjenigen, der damit nicht jeden Tag beschäftigt ist, eine technische Kleinigkeit. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, mit dieser technischen Kleinigkeit müssen Sie jetzt zum Schluss kommen. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Frau Präsidentin – Ich bestreite, dass es eine technische Kleinigkeit ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Sie haben es gesagt. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Ich komme zum Abschluss. – Das war ja gerade mein Punkt. Es handelt sich nicht um eine technische Kleinigkeit, sondern es handelt sich um eine wesentliche Stärkung der Kommunen bei der Pflegeplanung und bei der zukünftigen Bedarfsdeckung. Ich danke für die Geduld und auch für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Nachdem wir es jetzt noch einmal erläutert bekommen haben – die Ironie hinsichtlich der technischen Kleinigkeit hat, glaube ich, jeder verstanden –, kommen wir zur nächsten Rednerin. Elisabeth Scharfenberg hat das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich jetzt über das PSG III spreche, möchte ich ganz kurz auf einige Wordings meines Kollegen Lauterbauch eingehen. Herr Professor Lauterbach, Sie haben sich hierhingestellt und gesagt: Ohne Betreuungskräfte kann das Leben in einem Pflegeheim ganz schön einsam sein. Die Betreuungskräfte haben die Pflege vermenschlicht. – Machen Sie sich einmal deutlich, was Sie jeder Pflegefachkraft in diesem Land hier mit auf den Weg geben. Vergessen Sie bitte nicht die Situation, mit der die Pflege jeden Tag vor Ort kämpft, (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das stimmt doch nicht!) zum Beispiel mit der Minutenpflege, mit dem Gerenne usw. Das gehört goutiert. Wir sollten nicht die einzelnen Kräfte in den Einrichtungen gegeneinander ausspielen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es braucht eine Teamleistung, damit die Pflege funktioniert. Die Pflegekräfte gehen jeden Tag über ihre persönlichen Grenzen hinaus, damit der Laden läuft. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Vorsätzlich missverstanden! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Absichtlich missverstanden!) Zum PSG III. Sie beschließen heute ein sehr mutloses Gesetz. (Gabriele Schmidt [Ühlingen] [CDU/CSU]: Oh nein!) Welche Rolle die Kommunen in der pflegerischen Versorgung spielen sollen, ist doch eine der zentralen pflegepolitischen Zukunftsfragen. Das Gesetz gibt einfach keine Antwort darauf. (Gabriele Schmidt [Ühlingen] [CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr!) In den Kommunen leben die Menschen. Dort werden sie versorgt. Dort haben sie ihre Nachbarn und ihre Freunde und meist auch ihre Familie. Die lokalen Gegebenheiten sind überall anders. Deswegen müssen wir Spielräume vor Ort schaffen, damit auch in einer Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern die Selbsthilfe, die Kasse, die Leistungserbringer, die Sozialhilfeträger usw. nach diesen Gegebenheiten entscheiden können, welche Versorgung sie vor Ort brauchen. (Mechthild Rawert [SPD]: Das steht so im Gesetz!) Das können ganz andere Notwendigkeiten sein als beispielsweise für eine Gemeinde im nördlichen Rheinland oder bei mir zu Hause in Oberfranken. Mit anderen Worten: Wir müssen das starre System der Pflegeversicherung auflockern. Als wir vor drei Jahren den Koalitionsvertrag dieser Regierung gelesen haben, haben wir uns durchaus gefreut. Wir fanden es gut, dass Union und SPD die Kommunen im Bereich Pflege stärken wollten. Wir haben Ihnen aber auch schon damals gesagt, dass Ihre Koalitionsvereinbarung zur Pflege zwar sehr ambitioniert daherkommt, dass sie aber auch merkwürdig konzeptionslos bleibt. Schon damals wurde nicht deutlich, in welche Richtung Sie die pflegerische Versorgung entwickeln möchten. Das zeigt sich eben auch heute. Sie stellen uns keine Idee der Pflege in der Zukunft vor, und Sie tasten wesentliche Stellschrauben der pflegerischen Versorgung einfach nicht an. Die Rolle der Kommunen ist eine solche Stellschraube. Noch einmal: Es geht darum, wie wir die pflegerische Versorgung wieder näher an die Menschen bringen können. Das können wir nur in und das können wir nur mit den Kommunen schaffen. Diese Chance verspielen Sie heute. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Rawert [SPD]: Keine Kritik an der Bund-Länder-Kommission!) Letztlich erschöpft sich die sogenannte Stärkung der Kommunen in bis zu 60 Modellvorhaben zur kommunalen Pflegeberatung. Beratung ist enorm wichtig, aber die Modellkommunen erhalten keine Möglichkeiten zur Gestaltung der pflegerischen Versorgung an sich, zur Pflegeplanung und zur Erprobung von Case- und Care-Management-Ansätzen. Dann noch eine ganz besondere Volte, die Sie hier drehen. Von diesen wenigen Modellkommunen dürfen die Hälfte zwingend keine Vorerfahrungen mit Pflegeberatung haben. Ein gewisser Anteil ist sicherlich sinnvoll. Aber die Hälfte? Ich denke, damit ist heute schon klar, dass die Modelle in der Gesamtbetrachtung am Ende nicht erfolgreich sein werden. Das ist eine reine Alibiveranstaltung. Die Koalition – so scheint es – will gar nicht, dass es funktioniert. (Mechthild Rawert [SPD]: Ei, ei, ei!) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie waren in den letzten Jahren zweifellos fleißig. Das ist für Sie wieder die Möglichkeit, einen Zwischenapplaus zu geben. (Beifall des Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU] – Mechthild Rawert [SPD]: Sekundärtugenden haben wir schon immer geliebt!) Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und die deutliche Ausdehnung der finanziellen Mittel der Pflegeversicherung waren absolut überfällig. Aber Sie dürfen sich darauf nicht ausruhen. Insgesamt bleibt es eine Pflegepolitik des Weiter-so, und davon ganz viel. Aber auch mit viel Geld kann man nicht zukleistern, dass eine zukunftsorientierte Pflege eine Orientierung braucht. Sie haben und bieten diese Orientierung einfach nicht. Darüber darf auch der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff nicht hinwegtäuschen. Welche Art von Pflege, welche Form von Leistungen die Menschen damit in Zukunft bekommen, ist doch völlig offen. Das ist doch aber eine der entscheidenden Fragen. Auch Ihre großzügige Ausgabenpolitik ist absolut auf Sand gebaut. Es sind doch übrigens alles Versichertengelder, über die wir hier sprechen. (Mechthild Rawert [SPD]: Genau!) Im aktuellen Pflegereport der Barmer GEK wird schon für das nächste Jahr ein Defizit der Pflegeversicherung befürchtet. Diese schwere Hypothek hinterlassen Sie der nächsten Bundesregierung, weil diese Große Koalition wieder keine grundlegende Finanzierungsreform vorgelegt hat. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese grundlegende Finanzierungsreform muss natürlich lauten: Bürgerversicherung. Das wissen Sie; das wissen wir ganz genau. Daran wird kein Weg vorbeiführen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Stattdessen haben wir Ihren völlig sinnlosen Pflegevorsorgefonds an der Backe – so sinnlos wie ein Kropf –, (Maria Michalk [CDU/CSU]: Was?) einen Fonds, der nur Geld bindet. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Ach nein! Und das sagen Sie hier öffentlich?) Das ist reine Symbolpolitik; dabei brauchen wir in der momentanen Situation etwas ganz anderes. Auch gegen den dramatischen Personalmangel in der Pflege haben Sie kaum etwas getan. Die Entwicklung eines Personalbemessungsverfahrens haben Sie zwar beschlossen, aber schön bis ins Jahr 2020 verschoben. Und von einer Einführung ist schon gar nicht die Rede. Ich frage mich, ob Sie persönlich gar keine Schreiben der Pflegekräfte erhalten, ob Sie keine Wasserstandsmeldungen der pflegenden Angehörigen erhalten. (Mechthild Rawert [SPD]: Doch! Die wollen alle eine generalistische Pflegereform haben!) – Die Pflegekräfte sind da ganz anders unterwegs. Liebe Mechthild Rawert, ich glaube, du unterhältst dich mit den Funktionären, (Hilde Mattheis [SPD]: Ausgerechnet Frau Scharfenberg! – Maria Michalk [CDU/CSU]: Ach, jetzt reicht es aber!) die ganz anders unterwegs sind als die Pflegekräfte vor Ort, (Mechthild Rawert [SPD]: Das Gute ist, ich schaffe beides: Basis und Funktionäre!) die letztendlich die Arbeit bewältigen müssen und auch eine ordentliche Unterstützung in der Pflege brauchen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ohne ausreichend und gut qualifiziertes Personal wird keine Ihrer Reformen greifen, und das ist ein Drama. (Hilde Mattheis [SPD]: Sie sind das Drama hier!) Das Personal ist der Dreh- und Angelpunkt, und da haben Sie absolut versagt. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat Maria Michalk von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Maria Michalk (CDU/CSU): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Manchmal finde ich es schon ein bisschen komisch, dass wir Menschen immer nur das laut sagen, was nicht funktioniert, was nicht geht, was wir noch haben müssen, wo es Probleme gibt. (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich höre von Ihnen zu unseren Anträgen auch nichts anderes!) Warum demotivieren Sie sich denn selber so? Heute ist der Tag, an dem wir darüber reden, was wir für die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte in einem dreistufigen Pflegereformkonzept umgesetzt haben. Und das ist ein guter Tag für die Pflege, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Worum geht es hier eigentlich? Jeder Mensch hat Sorge, dass er pflegebedürftig wird; das ist unabhängig vom Alter. Das kann durch die Geburt, durch einen Unfall in der Kindheit oder in der Jugend, durch eine schwere Krankheit – unabhängig vom Alter – kommen, es kann aber auch im Alter passieren. Alle wünschen sich, dass sie nicht pflegebedürftig werden, aber Pflegebedürftigkeit gab es schon immer. Früher, im Familienverbund, in den Drei-Generationen-Familien, hat man sich gegenseitig geholfen, und diesen Grundgedanken enthält heute die Pflegeversicherung. Als wir vor gut 20 Jahren, 1995, die gesetzliche Pflegeversicherung etabliert haben – damals noch im Wasserwerk in Bonn –, wussten wir, dass hier ein enormer Bedarf auf uns zukommt und dass vieles nicht im ersten Schritt geregelt werden kann. 20 Jahre lang wurde im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung vieles aufgebaut. Liebe Frau Zimmermann, ich kann Ihnen nur empfehlen, mit Leuten, die schon vor 30 Jahren pflegebedürftig waren und heute vielleicht Gott sei Dank noch leben, darüber zu reden, wie die Pflegeheime zu DDR-Zeiten aussahen. Wenn Sie hier behaupten, da sei nichts geschehen: Das ist eine Lüge und entspricht nicht der Wirklichkeit. Entschuldigung, aber das musste einmal gesagt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Es geht doch um heute und nicht um vor 30 Jahren! – Gegenruf des Abg. Tino Sorge [CDU/CSU]) In diesen Jahren ist infrastrukturell vieles aufgebaut worden. Ich denke zum Beispiel an die Erhöhung der Zahl der Pflegefachkräfte in ganz unterschiedlicher Form. Auch heute gibt es noch private Institute, die mit Schulgeld Pflegekräfte ausbilden. Das und vieles mehr hat sich im Laufe der Zeit entwickelt, (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Es geht doch um heute!) und es ist immer besser geworden. Aber wir haben natürlich erkannt, dass durch die Veränderungen in der Gesellschaft an vielen Stellen Korrekturen – wir sagen dazu: Reformen – notwendig sind. Diese haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart – hier waren wir uns einig –, und jetzt haben wir sie in drei Schritten konsequent umgesetzt. Im Ersten Pflegestärkungsgesetz, das im Januar letzten Jahres in Kraft getreten ist, haben wir sehr viele einzelne Maßnahmen etabliert; sie sind von unserer Staatssekretärin heute schon genannt worden. Dafür haben wir einen Zusatzbeitrag von 0,3 Prozentpunkten ins Gesetz geschrieben. Ich will hier noch einmal feststellen, dass mich kein einziger Brief mit einem Protest erreicht hat, dass der Beitrag in der Pflegeversicherung erhöht wurde. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der Abg. Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Akzeptanz für diese Aufgabe ist nämlich in der Gesellschaft enorm angestiegen. Das ist ein Prozess, und darüber können wir uns freuen. Wir sind hier aber noch nicht am Ende des Tages. Wir haben dann entschieden, dass von diesen 0,3 Prozentpunkten Beitragssatzerhöhung 0,1 Prozentpunkte in eine Rücklage fließen und somit dazu beitragen, bis zum Jahr 2033 einen Vorsorgefonds aufzubauen. (Zuruf des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) Damit betreiben wir Vorsorge. Auch in diesem Bereich gilt, in guten Zeiten für schlechte Zeiten vorzusorgen; das macht man zu Hause genauso. Wir machen das verantwortungsvoll in einem solidarischen System. Das ist sinnvoll, um mit der steigenden Zahl an Pflegebedürftigen in späteren Jahren – das ist heute schon zu erkennen – besser umgehen zu können. Das ist eine vernünftige Maßnahme gewesen. Ich möchte Ihnen auch in Erinnerung rufen, dass die Umstellung im PSG II von drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade, um den Bedürfnissen der Menschen besser gerecht zu werden, ein richtiger Schritt war. Wir befinden uns im Dezember 2016. Dieses Jahr war das sogenannte Vorbereitungsjahr. Ich will mich an dieser Stelle wirklich bei allen Fachleuten und Fachkräften in den einzelnen Einrichtungen bis runter zu denen, die in der Pflegeversicherung und in den Koordinierungskreisen arbeiten, bedanken, dass sie die Umstellungsprozesse in diesem Jahr auf den Weg gebracht haben. Dadurch können wir pünktlich am 1. Januar 2017 sagen: Niemand wird schlechtergestellt. Dafür an alle ein herzliches Dankeschön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Das ist für die beteiligten Menschen und die Verwaltung eine enorme Arbeit gewesen. Im Pflegestärkungsgesetz III geht es um die Klarstellung der Schnittstellen zwischen – technisch gesagt – dem SGB XII, also der Hilfe zur Pflege, und dem eigentlichen Pflegegesetz. Damit wollen wir verhindern, dass in Zukunft Menschen von Pontius zu Pilatus geschickt werden, dass es zu weiteren Verschiebebahnhöfen kommt oder gar weitere Koordinierungskreise mit entsprechenden Bezeichnungen etabliert werden. Das ist also für alle sinnvoll. Mit diesem Gesetz geben wir den Kommunen den Schlüssel in die Hand, um ihre Angebote vor Ort besser zu vernetzen, auch wenn es hier und da einen Bürgermeister gibt – das ist Gott sei Dank nicht flächendeckend so –, der gar nicht weiß, was in der Pflege in seinem Zuständigkeitsbereich passiert. Die Kommunen können so jedenfalls besser koordinieren und beraten und auch die aufsuchende häusliche Beratung durchführen. Diese Aufwendungen bekommen sie zwar von der Pflegeversicherung ersetzt; trotzdem bleibt es bei der kommunalen Selbstverwaltung. Auch das muss man an dieser Stelle erwähnen. Ich empfinde das als eine richtige Maßnahme, die dabei helfen wird, das Geschehen vor Ort besser zu koordinieren, und zwar um die Menschen dabei zu unterstützen, möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben zu können. Wenn das nicht mehr geht, werden sie sofort Unterstützung bekommen, um den Platz in einem Heim zu erhalten, den sie brauchen. Für unvorhergesehene Situationen haben wir schon im PSG I eine Freistellung von der Arbeit für maximal zehn Tage eingeführt, damit man die Pflege für seine Lieben organisieren kann. Auch diese von uns beschlossene Maßnahme ist wichtig und richtig und muss genutzt werden. Dass dieses niedrigschwellige Angebot bisher so schlecht angenommen worden ist – in diesem Sommer gab es gerade einmal, wenn ich das richtig sehe, bundesweit knapp 500 Anträge –, liege, so habe ich erst gedacht, an einer Fehlinformation. (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, es nützt nichts! Deshalb wird es nicht angenommen!) Aber nein, es ist so: Dieses Instrument ist einfach noch nicht bekannt genug. (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn es den Menschen nützen würde, würden sie es annehmen!) Deshalb sind die koordinierenden Kreise vor Ort wichtig, um alle niedrigschwelligen Angebote bei den Leuten bekannt zu machen. Ich möchte zum Schluss darauf hinweisen – diesen Punkt hat auch der Kollege Lauterbach angesprochen –, dass sich die Entlohnung der schweren Arbeit der Pflegekräfte in den Pflegesätzen widerspiegeln muss. Das darf natürlich nicht dazu führen, dass der Träger jahrelang ein Minus erwirtschaftet; denn dann müsste er ja Insolvenz anmelden. Wir haben deshalb extra im Änderungsantrag festgeklopft, dass die Entlohnung unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten erfolgen muss. Ich kann von daher nur an alle Verhandler – das sind die Pflegekassen und die Krankenkassen, aber auch die kommunale Seite – appellieren, dass sie mit diesem Instrument vernünftig umgehen; denn sonst wird es eine Wanderungsbewegung der Pflegekräfte zugunsten der Ballungsgebiete oder der Länder geben, die mehr zahlen können, zulasten der ländlich strukturierten Regionen. Das wollten wir auf keinen Fall. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin, auch Sie müssen zum Schluss kommen. Maria Michalk (CDU/CSU): Deshalb ist das ein gutes Gesetz. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Pia Zimmermann hat als nächste Rednerin das Wort für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Pia Zimmermann (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr froh, dass es massive Kritik von den Verbänden und von Betroffenen zu diesem Gesetzentwurf gegeben hat. (Hilde Mattheis [SPD]: Das glaube ich aufs Wort! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Dafür haben Sie ja gesorgt!) Denn dadurch ist es nach der ersten Lesung des Gesetzentwurfs tatsächlich noch einmal zu einer Entwicklung gekommen. (Beifall bei der LINKEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Dann können Sie ja zustimmen!) Wir begrüßen, dass die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf nun weiterhin gewährt werden soll. So kann wenigstens ein Teil der Betroffenen in gewissem Maße über ihre Versorgung bestimmen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Aber – auch das will ich noch einmal ganz deutlich sagen – es handelt sich eben nur um einen Teil der Menschen; es gilt nicht für alle. Weil die Finanzierung der Pflege bei Ihnen vorne und hinten knarrt und Sie sich ohne Not vehement gegen die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung stemmen, wird Ihnen auch keine menschenwürdige und individuelle Pflege, Assistenz und Versorgung für alle gelingen. Ihr Gesamtprojekt mit den drei Pflegestärkungsgesetzen geht in die falsche Richtung, (Mechthild Rawert [SPD]: Eijeijei!) und es bleibt dabei: Gute Pflege ist weiterhin vom Geldbeutel abhängig. Das ist mit uns nicht zu machen. (Beifall bei der LINKEN) Auf der Internetseite des Ministeriums für Gesundheit kann man lesen – ich zitiere –: Mit den Pflegestärkungsgesetzen hat ein Umdenken in der Pflege begonnen. Mehr Leistungen für Pflegebedürftige, mehr Entlastung und Sicherheit für pflegende Angehörige und mehr Zeit für Pflegekräfte – die Neuerungen kommen im Alltag an. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Jawohl! Gut erkannt!) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir ja jetzt einmal unter die Lupe nehmen. Punkt eins: mehr Leistungen für Pflegebedürftige. Es wird mehr Leistungen für Menschen mit Pflegebedarf geben, aber – ich sagte es schon – eben nicht für alle. Denn gerade diejenigen, die ohnehin schon am wenigsten haben, machen Sie zum Gegenstand Ihrer Sparpolitik. Fast 400 000 Menschen sind auf Hilfe zur Pflege angewiesen. Sie können die finanziellen Belastungen aus der Pflegeversicherung nicht mit ihrem eigenen Einkommen begleichen. Und wir wissen alle: Dank Ihrer Rentenpolitik werden es immer mehr werden. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja! Ein Skandal!) Das Pflegestärkungsgesetz III benachteiligt diese Menschen. Sie erhalten nicht dieselben Leistungen wie andere Menschen mit Pflegebedarf, die keine Sozialhilfe beziehen müssen. Das, meine Damen und Herren, sind unhaltbare Zustände. (Beifall bei der LINKEN) Punkt zwei: mehr Entlastung und Sicherheit für pflegende Angehörige. Menschen, die Hilfe zur Pflege beziehen, sollen zu Hause möglichst von Angehörigen oder Nahestehenden gepflegt werden. Das Wörtchen „sollen“ im Gesetzentwurf hat man Ihnen abgetrotzt, Herr Minister. Sie wollten sogar eine Pflicht zur Familienpflege, damit die Kommunen Sozialausgaben sparen können. Jetzt ist zumindest der alte Gesetzeszustand wiederhergestellt. Welch seltsame Pflegestärkung! (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, zu Hause pflegen vor allem Frauen aus der Familie, Freundinnen und Nachbarinnen. Doch sie können fachlich qualifizierte Pflege nicht ersetzen. Sie werden zusätzlich gebraucht: neben der Fachpflege, begleitend, unterstützend und betreuend. Die Pflege ist aber kein „Kann doch jeder“-Beruf. Sorgearbeit darf nicht abgewertet werden. Und Sie nennen das Entlastung und Sicherheit für pflegende Angehörige! Tut mir leid, auch da können wir nicht mitgehen. (Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Das ist jetzt ein bisschen nebulös!) Punkt drei: mehr Zeit für Pflegekräfte. Das ist die Gruppe der Beteiligten in der Pflege, für die Sie am wenigsten tun. Sie setzen den Pflegebedürftigkeitsbegriff in Kraft und wollen 2020 beginnen, sich über das Ausmaß des dafür nötigen Personals Gedanken zu machen. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich frage Sie: Haben Sie denn wirklich keinen blassen Schimmer, unter welch immensem Druck das Pflegepersonal schon jetzt steht? (Mechthild Rawert [SPD]: Doch!) Pflege im Minutentakt, keine Zeit für Gespräche, keine verlässlichen Dienstpläne und, und, und. Meine Damen und Herren, das Pflegestärkungsgesetz III schließt viele Menschen aus, die bisher anspruchsberechtigt waren. Das sind vor allen Dingen Nichtversicherte, Geflüchtete und alle, die die Mindestpunktzahl in der Begutachtung nicht erreichen. Durch das Pflegestärkungsgesetz III bleiben auch Menschen mit Behinderungen benachteiligt, wenn sie Pflege brauchen. (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist gleichrangig!) Gerade diese Menschen sind allzu oft auf Sozialhilfe angewiesen. Wir wollen, dass alle Menschen mit Behinderung umfassende Eingliederungshilfe erhalten, damit sie am Leben teilhaben können. (Mechthild Rawert [SPD]: Kriegen sie!) Meine Damen und Herren, Menschen mit Behinderung müssen ihren Anspruch auf Eingliederungshilfe behalten, auch wenn sie Hilfe zur Pflege bekommen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Rawert [SPD]: Genau das steht im Gesetz! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Lesen bildet, Frau Kollegin!) Außerdem werden Menschen mit demenzieller Erkrankung, die auf Hilfe zur Pflege angewiesen sind, ab Januar 2017 schlechter eingestuft als Menschen mit derselben Beeinträchtigung außerhalb der Sozialhilfe. (Hilde Mattheis [SPD]: Das stimmt nicht! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das ist nicht wahr! Das stimmt ja gar nicht!) Diese weitere Ungerechtigkeit müssen Sie den Menschen erklären. Unsere Zustimmung erhalten Sie dafür nicht. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Die brauchen wir auch nicht!) Auch eine Stärkung der Kommunen sieht anders aus, meine Damen und Herren. Wenn Kommunen wirklich entscheiden und gestalten sollen, brauchen sie mehr als nur Beratungsstellen, die Sie in 16 Modellkommunen einrichten. (Mechthild Rawert [SPD]: 60, wenn überhaupt!) – Ja, 60 Modellkommunen von über 11 000. – Das ist doch eher lächerlich. Die Kommunen benötigen Geld und Entscheidungsgremien für eine altersgerechte Infrastruktur, für Barrierefreiheit und für alternative Wohnangebote. Und Sie brauchen mehr finanzielle Unterstützung und nicht immer mehr Aufgaben. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Wie viel Geld wollen die denn noch?) All das berücksichtigen Sie in Ihrem Gesetz nicht. Am Ende bleibt: Sozialhilfebezieherinnen und Sozialhilfebezieher werden mit diesem Gesetz diskriminiert. Die Kommunen können Pflege nicht wirklich gestalten. Meine Damen und Herren, trotz Ihrer Änderungen, die zum Teil ja gut sind, können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen; denn meine Fraktion steht dafür, dass jeder und jede selbst entscheiden kann, wo er bzw. sie gepflegt wird, von wem er oder sie gepflegt wird und in welchem Umfeld er bzw. sie gepflegt wird. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Können sie doch!) Sie verpassen mit diesem Gesetz erneut die Chance, einen Paradigmenwechsel durchzuführen, der der Pflege guttun würde. Gute Pflege für alle wird es aber nur geben, wenn die Pflegeversicherung auch alle Leistungen bezahlt, wenn gut ausgebildete Fachkräfte gut verdienen und gut arbeiten können. Das geht nur, wenn alle ohne Wenn und Aber in die Pflegeversicherung einzahlen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat Hilde Mattheis das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Hilde Mattheis (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht immer ist eine Behauptung besser als ein Beweis. (Zuruf von der CDU/CSU: Nie!) Damit kommt man einfach nicht durch. Man sollte dieses Gesetz wirklich lesen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Tino Sorge [CDU/CSU]: Beweisen ist immer besser als behaupten!) Wir haben in dieser Legislaturperiode Baustein um Baustein für bessere Pflege gesetzt. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Evidenz prüfen wir hinterher, nicht vorher! Die ist nur behauptet!) Wir haben Leistungsverbesserungen gemacht. Wir haben die Angehörigen entlastet. Wir haben viel für das Pflegefachpersonal getan. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Aber nicht die zentralen Probleme gelöst!) Jetzt kommt ein Baustein für die Pflegeinfrastruktur. Es sollen noch weitere Bausteine folgen. Sie könnten uns dabei unterstützen, zum Beispiel bei dem Thema generalistische Ausbildung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Übrigens wollen das nur wenige nicht. Die meisten wollen das. Diese kommen zu uns und sagen: Hoffentlich bekommt ihr das noch in dieser Legislaturperiode hin. (Harald Weinberg [DIE LINKE], in Richtung CDU/CSU zeigend: Die, die es nicht wollen, sitzen dahinten!) Wir wollen natürlich auch einen Mindestpersonalschlüssel für die Alteneinrichtungen und für die ambulante Pflege. Aber das fällt nicht vom Himmel. Wenn Sie sagen, bis 2020 geschehe nichts, dann entgegne ich Ihnen: Wenn wir das bis übernächstes Jahr auf den Weg gebracht hätten, dann hätte es garantiert geheißen, dass wir uns nicht genug Zeit gelassen hätten, das auf den Weg zu bringen. Was also die fachlich-sachliche Ausgestaltung anbelangt, kann ich nur raten, sich auf den Text zu konzentrieren, der hier vorliegt. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Papier ist geduldig!) Das will ich jetzt gerne tun. Erstens geht es um die Einbeziehung der kommunalen Ebene und der Landesebene. Als zweiten wichtigen Punkt – ich bin froh, dass wir heute hintereinander über beide Gesetzentwürfe debattieren: erst über den Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes und nun über den PSG-III-Entwurf –, machen wir jetzt alles im Pflegebereich, um die Schnittstellenproblematik mit dem Bundesteilhabegesetz bei der Überleitung in die Hilfe zur Pflege zu lösen. Diese beiden Bausteine beschäftigen uns heute. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Länder sollen wesentlich stärker in die Pflicht genommen werden. Deswegen haben wir gesagt: Ja, auch das geht nicht ohne den Austausch mit den Ländern. – Es gibt ein Bund-Länder-Eckpunktepapier, an dessen Erarbeitung auch die Landesminister der Grünen beteiligt waren. Ich fand das gut; denn das ist die Grundlage dessen, was wir jetzt hier tun. Die Länder und die Kommunen haben uns gesagt: Nein, macht es bitte nicht überall, sondern zuerst als Modellprojekt. Lasst uns erst einmal in 60 Kommunen modellhaft das erproben, was wir alle wollen, nämlich eine ordentliche Vor-Ort-Infrastruktur. – Diese können wir in Berlin nämlich gar nicht vernünftig berechnen oder ausgestalten, weil es eben um Angebote vor Ort geht. Und diese sind in jeder Kommune anders auszugestalten. Das also soll jetzt in 60 Kommunen erprobt werden, und dazu sollen Gelder bereitgestellt werden, damit diese niedrigschwelligen Angebote wirklich auch organisiert und finanziert werden können. Auf Landesebene sollen sich bitte schön die Pflegekassen in den Landesausschüssen einbringen und die Empfehlungen in die Kommunen mitnehmen. So wird doch ein Schuh daraus. Wir auferlegen eben den Kommunen nicht etwas, was sie nicht leisten können, sondern wir betreiben vielmehr auf der Basis der Empfehlungen auf Landes- und Kommunalebene mit Geldern aus der Pflegeversicherung den Aufbau der Pflegeinfrastruktur. Und dies soll in 60 Modellkommunen geleistet werden. Natürlich wollen wir, dass die Pflege vor Ort gestärkt wird. Das ist die Intention. Wir wollen sozialräumliche Arbeit unterstützen. Das geht nur dann, wenn wir alle mitnehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte noch auf das Thema Pflegebedürftigkeitsbegriff eingehen, auf die Übertragbarkeit in den Punkt „Hilfe zur Pflege“ im SGB XII. Das ist nicht banal. Da sind auch die Kommunen unsere Verhandlungspartner. Sie haben Angst, dass sich die Finanzströme verschieben. Sie haben Angst, dass sie eine zusätzliche Belastung erfahren werden. Ich kann das nachvollziehen. Aber wir brauchen eine Lösung für die Menschen. Darum geht es. Diese Lösung haben wir hinbekommen. Wir haben gesagt: Wir wollen die Gleichrangigkeit von Pflege, Teilhabe und Eingliederung weiterhin erhalten. Das ist ein wesentlicher Punkt. Wir haben ja mit der Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der Ausweitung der Leistungsansprüche erreicht, dass auch Teilhabe in den Bereich der Pflege einwirkt. Dadurch gibt es natürlich Überlappungen. Deswegen muss man diese Schnittstellenproblematik lösen. Das haben wir gemacht. Es ist, wie das schon heute Morgen auch beim Bundesteilhabegesetz herausgestrichen worden ist, eine Leistung des Parlaments, mit vielen Änderungsanträgen da nachjustiert zu haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Uns geht es um die Menschen, egal ob sie pflegebedürftig oder Menschen mit Handicap sind. Uns geht es um die, die Pflegeleistungen erbringen, egal ob sie es im Ehrenamt oder als Beruf machen. Uns geht es darum, dass wir die Teilhabe verbessern und ermöglichen. Mit dem PSG III und weiteren Gesetzen, die wir auf der Agenda haben, kommen wir dem Schritt für Schritt ein Stück näher. Darum geht es. Dafür bitten wir um Unterstützung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin spricht Kordula Schulz-Asche für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder Mensch, der pflegebedürftig wird, hat zu diesem Zeitpunkt seine eigene, ganz persönliche Lebenssituation: Hat man einen Partner oder Freunde, die einem helfen oder einen pflegen können? Wohnen die Kinder in der Nähe, oder hat man überhaupt Kinder? Hat man eine Wohnung im dritten Stock ohne Fahrstuhl, oder wohnt man in einer Erdgeschosswohnung, die gut zugänglich ist? Ist man noch sehr selbstständig, oder hat man bereits einen hohen Pflegebedarf oder eine beginnende Demenz? Und deshalb braucht jeder Mensch, der pflegebedürftig wird, eine ganz persönliche Beratung und Hilfe, um den nächsten Lebensabschnitt selbstbestimmt und entsprechend den eigenen Wünschen zu gestalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das, meine Damen und Herren, ist für mich der Maßstab, an dem sich jede Pflegereform messen lassen muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Eines kann ich Ihnen gleich sagen: Das sogenannte Pflegestärkungsgesetz III wird diesen Ansprüchen bei weitem nicht gerecht. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!) Wir fragen doch: Was braucht es für individuelle Beratung und Unterstützung? Mit Sicherheit keinen Pflegestützpunkt weit weg vom Wohnort, betrieben von den Krankenkassen, die selber für die Leistungen zuständig sind. Diese schwarz-gelbe Schnapsidee ist gescheitert; (Maria Michalk [CDU/CSU]: Schwarz-gelbe Schnapsidee?) denn sie geht an den Interessen der Menschen vorbei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Nein, wir brauchen endlich eine individuelle Beratung und Begleitung am Wohnort (Hilde Mattheis [SPD]: Ja, genau!) für diejenigen, die zu Hause leben können und möchten, für ihre pflegenden Angehörigen oder bei der Suche nach passenden Pflegediensten oder geeigneten Wohnformen. Und wir brauchen eine Planung für diese am Bedarf ausgerichteten Angebote vor Ort, Vernetzung, Qualifizierung und Förderung bis hin zur ehrenamtlichen Nachbarschaftshilfe. Wer macht das eigentlich irgendwie schon, manche schon sehr gut, und andere noch ein bisschen in den Kinderschuhen steckend? Meine Damen und Herren, das sind die Kommunen. Sie sind zuständig für die Altenhilfe und für die soziale Teilhabe im Stadtteil. Sie könnten viel mehr tun für die Prävention von Pflegebedürftigkeit. Sie könnten natürlich wohnortnah unabhängige Pflegestützpunkte betreiben. Sie könnten auch die Pflegeplanung lokal befördern und die vorhandenen Akteure besser vernetzen. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Das, was im Gesetz steht!) Diese Konzepte lediglich mit 60 Kommunen zu probieren – 60 von rund 11 000 –, ist kein Konzept der flächendeckenden Versorgung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es kann doch nicht sein, dass es ein Zufall ist, ob man im Alter selbstbestimmt versorgt wird und wie man sich beraten lassen kann. Das können wir so nicht hinnehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie haben in Ihrem Gesetz noch zwei andere Punkte, die ich extra ansprechen möchte, weil mir nicht klar ist, warum Sie diese Ungerechtigkeiten für Menschen, die ohne eigene Schuld unzureichende Leistungen erhalten, nicht beseitigt haben. Eine Gruppe sind die behinderten Menschen mit Pflegebedarf, die in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe nach § 43a SGB XI untergebracht sind. Warum bekommen die nicht endlich einen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung? Das würde die Kommunen entlasten und dort Investitionen in eine bessere wohnortnahe Pflegeplanung erleichtern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eine relativ kleine Gruppe, die ich auch ansprechen möchte, sind die Menschen, die trotz allgemeiner Versicherungspflicht nicht ausreichend versichert sind und nur Hilfe zur Pflege erhalten, obwohl sie stationär untergebracht sind: Das sind Suchtkranke, das sind aber auch ältere jüdische Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, die unzureichende Vorversicherungszeiten haben. Ich verstehe nicht, warum man für diese Menschen nicht Pflegeleistungen vorsehen kann, und ich glaube, die Betroffenen sicher auch nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deswegen, meine Damen und Herren, mein Fazit: Sie sind groß im Eigenlob, aber in Wirklichkeit fehlt Ihnen die Fantasie und der Mut, die Herausforderungen des demografischen Wandels durch eine umfassende finanzierbare Reform der Pflege anzunehmen, bei der der Mensch nicht nur in Worten, sondern endlich auch in Taten im Mittelpunkt steht. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Erwin Rüddel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Erwin Rüddel (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem heute zur Verabschiedung anstehenden Dritten Pflegestärkungsgesetz setzen wir den Schlussstein einer großen Pflegereform, die größte Reform, die es in der Pflegeversicherung in den letzten 21 Jahren gegeben hat. Wir haben Wort gehalten: Das, was wir im Koalitionsvertrag geschrieben haben, setzen wir eins zu eins um. Wir schaffen mehr Qualität, mehr Geld und mehr Betreuung für gute Pflege in unserem Land. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) Zum jetzt vorliegenden PSG-III-Entwurf gehören zentral die Stärkung der örtlichen Pflegeinfrastruktur und der Ausbau der Pflegeberatung. Wir wollen mehr Qualität durch gute Beratung ins System bringen. Schon im PSG I haben wir die niederschwelligen Leistungen ausgeweitet. Jetzt, im PSG III, schaffen wir es über die Stärkung der Kommunen, dass neben niederschwelligen Angebote auch flächendeckend entsprechende Strukturen aufgebaut werden können. Es geht hier um Vernetzung: Wir verzahnen die ambulante und die stationäre, die medizinische und die pflegerische Versorgung miteinander. Kommunen können künftig selbst Beratungsleistungen anbieten und die Einrichtung weiterer Pflegestützpunkte auf den Weg bringen. In 60 Kommunen können modellhaft neue Formen der Beratung erprobt werden. Wir werden sehen, welche konkreten Verbesserungen für die Pflegebedürftigen und deren Angehörige sich daraus ableiten, und wir werden dann die Verbesserungen flächendeckend auf den Weg bringen. Unser Ziel ist eine lückenlose, wohnortnahe und effektive Versorgung, maßgeschneidert für die jeweiligen individuellen Bedürfnisse. (Beifall bei der CDU/CSU) Das PSG III bedeutet auch mehr Geld für Pflegekräfte. Schon im PSG I haben wir verankert, dass die Kassen bei tarifgebundenen Einrichtungen die Tarife nicht als unwirtschaftlich einstufen können. Das Gleiche setzen wir jetzt um für die Einrichtungen, die nicht tarifgebunden sind. Ich möchte an dieser Stelle ganz herzlich dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pflege, Karl-Josef Laumann, für seine Beharrlichkeit danken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich glaube, diese Verbesserungen hätten wir im Parlament nicht umsetzen können, wenn hier nicht Menschen gewesen wären, die sich diesem Ziel verschrieben haben. Ich denke, es ist gut so, dass Pflege jetzt besser bezahlt wird. Ein Wort zum Thema Abrechnungsbetrug. Qualitätskontrollen dürfen künftig nicht mehr zum Schaden der Pflegeversicherung verhindert werden. Die Kassen erhalten das Recht auf systematische Prüfung auch im Bereich der häuslichen Krankenpflege. Der Medizinische Dienst wird künftig regelmäßig die Qualität und die Abrechnungen von Leistungserbringern kontrollieren; denn die Beitragsgelder der Versicherten müssen dort ankommen, wo sie hingehören, und die Pflegebedürftigen und ihre Familien müssen vor betrügerischen Pflegediensten geschützt werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Das PSG III setzt den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff auch im Recht der Hilfe zur Pflege in der Sozialhilfe um. Dadurch entstehen neue Schnittstellen zwischen Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe. Aus meiner Sicht ist entscheidend – wir haben die damit verbundenen Probleme gelöst – die Beibehaltung der Gleichrangigkeit der Leistungen von Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe. Entscheidend ist, dass niemand schlechtergestellt wird als zuvor und dass es keine Verschiebungen zulasten der sozialen Pflegeversicherung gibt. Es hat keinen Sinn, die Pflegeversicherung mit Mehrausgaben zu belasten, ohne dass sich die Leistungen für Menschen mit Behinderung verbessern. Die kommunalen Haushalte dürfen sich zudem nicht zulasten der Pflegeversicherung ihrer Aufgaben aus der Eingliederungshilfe entledigen; denn die Beitragsgelder der Versicherten dienen einzig und allein einer guten Pflege. (Beifall bei der CDU/CSU) Die drei Pflegestärkungsgesetze werden mit einer ganzen Reihe flankierender Maßnahmen abgerundet, und damit wird die Pflegeversicherung einer grundlegenden Erneuerung zugeführt. Ich denke hier an den Bürokratieabbau. Ich denke hier an die Neugestaltung des Pflege-TÜVs. Ich denke hier auch an die Regelungen, die wir zur Verbesserung der Medikamentensicherheit geschaffen haben, an das E-Health-Gesetz mit dem Medikationsplan, an das Palliativ- und Hospizgesetz. Im Zentrum der Bemühungen steht für uns immer mehr Qualität in der Pflege. Das gilt ausdrücklich auch für das kommende Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung. Damit werden wir für Ausschreibungen auf der Basis eines aktualisierten Heilmittelverzeichnisses sorgen, und wir werden sicherstellen, dass es künftig nicht nur um eine gute Qualität der Produkte gehen wird, sondern auch um eine fachkundige begleitende Beratung und um einen anständigen Service. Ordentliche Qualität ohne Zuzahlung soll künftig Standard sein. Gestatten Sie mir noch einen Ausblick; denn es gibt in Sachen Pflege auch über diese Legislaturperiode hinaus Handlungsbedarf. Wir müssen uns künftig darauf konzentrieren, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege attraktiver werden. Da gibt es ein weites Feld für Erleichterungen und verbesserte Rahmenbedingungen. Ich nenne nur einige Stichworte: Digitalisierung in der Pflege, technische Assistenz, Smart Home, Einbindung in die Gematik, besserer Datenaustausch zwischen Krankenhaus, Pflege, Arzt und Apotheke. Intelligente Dokumentation und Prozesssteuerung sind geeignet, den Personaleinsatz trotz absehbarem Fachkräftemangel zu optimieren und damit zu einer guten Versorgung beizutragen. Das ist ganz besonders wichtig; denn die Pflegekräfte brauchen mehr Zeit für Zuwendung. Mit einem Wort: Wir müssen die Rahmenbedingungen für den Beruf der Pflegekraft so gestalten, dass er attraktiv bleibt und die Pflegekräfte ihm bis zur Rente treu bleiben. Zum Abschluss danke ich allen, die an diesem Gesetzgebungsverfahren beteiligt waren. Mein ganz besonderer Dank für diesen Quantensprung, den wir geschafft haben, geht an unsere Staatssekretärin Ingrid Fischbach. Bei dieser Gelegenheit möchte ich aber auch Frau Kraushaar ganz besonders erwähnen und ihr meinen Dank für diese großartige Leistung aussprechen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dieses Gesetz mit auf den Weg gebracht zu haben. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel. – Schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen zur nächsten Rednerin: Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn passiert, Mechthild?) Brauchen Sie einen Stuhl? Mechthild Rawert (SPD): Nein, mir geht es gut. Danke. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Pflegestärkungsgesetz ist für uns – das ist heute schon mehrmals zu Recht gesagt worden – der Abschluss einer wirklich sehr erfolgreichen Pflegereform in dieser Legislaturperiode. Wir widmen uns damit der Zukunft von uns allen. Daran sollten wir häufiger denken. Denn bereits heute wird jeder zweite Mann im Laufe seines Lebens pflegebedürftig, und bei den Frauen sind es sogar annähernd drei von vier – jeweils mit steigender Tendenz. Wir alle kennen die großen Trends der Zukunft. Deswegen ist es notwendig, mögliche Versorgungslücken für die Zukunft zu schließen. Dazu leisten wir mit den Pflegestärkungsgesetzen Wesentliches. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen Pflegeinfrastruktur hat aus meiner Sicht die gleiche gesellschaftspolitische Bedeutung wie die ausreichende bundesweite Versorgung mit Kitaplätzen oder die Gewährleistung von Bildungsgerechtigkeit unter anderem durch Schule – unabhängig von Herkunft, Wohnort, Geschlecht, Behinderung oder finanziellem Vermögen. (Beifall der Abg. Hilde Mattheis [SPD]) Der Zugang zu individuell bedarfsgerechter Pflege ist Teil sozialer Gerechtigkeit. Deshalb engagieren wir uns auch so stark in diesem Politik- und Lebensfeld. Das PSG III ist ein gutes, wichtiges und politisch komplexes Gesetz. Im Mittelpunkt stehen die zahlreichen Interessen und Bedürfnisse der pflegebedürftigen Menschen mit und ohne Behinderungen in ihrer ganzen Vielfalt. Gemeinsam ist allen der Wunsch nach Selbstbestimmung und Teilhabe. Das PSG III ist ein gutes Gesetz, weil wir damit den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ab dem 1. Januar 2017 für alle umsetzen – auch in der Hilfe zur Pflege in der Sozialhilfe. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Danke. Es ist ein wichtiges, gutes und auch wegweisendes Gesetz, weil wir damit die Pflege weiterentwickeln und die Rolle der Kommunen in der Pflege stärken. Wir beziehen hierbei die besonderen Kompetenzen der Kommunen in der Pflege mit ein: in die Planung der Infrastruktur, bei der Entwicklung der Sozialräume vor Ort und in die Planung sowie Steuerung der Pflegeberatungsstrukturen. Pflege gehört zur kommunalen Daseinsvorsorge. Und mit dem PSG III tragen wir zu diesem Verständnis und zu dieser Verantwortungsübernahme – ich gebe durchaus zu: auch das ist noch ein Lernprozess für manche Kommune – wesentlich bei. (Beifall bei der SPD) Das PSG III ist ein politisch komplexes Gesetz. Ergänzend zum Bundesteilhabegesetz haben wir die Schnittstellen zwischen Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe, zwischen Pflegeversicherung und Hilfe zur Pflege im SGB XII geregelt. Berücksichtigt wurden die Interessen der Menschen und die keineswegs immer übereinstimmenden Interessen der Kostenträger: der Pflegekassen, der Sozialhilfe- und Eingliederungshilfeträger. Und auch alle Bundesländer mussten mit ins Boot; denn dieses Bundesgesetz ist aufgrund seiner Finanzauswirkungen auf die Länder und Kommunen zustimmungsbedürftig. Ohne die Zustimmung des Bundesrates würde es am 1. Januar 2017 nicht in Kraft treten. Daher lassen Sie mich eines herausstellen: Unabhängig davon, wie die einzelnen Fraktionen aus Regierung und Opposition gleich über dieses Pflegestärkungsgesetz III abstimmen werden: Alle tragenden Parteien – CDU, CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und auch die Linken – haben an unterschiedlichen Stellen Ja gesagt. Somit kann ich sagen: Wir alle tragen die Neuerungen des PSG III mit. Das finde ich natürlich super – im Interesse von Selbstbestimmung und Teilhabe vieler Menschen. (Beifall bei der SPD) Beim PSG III gilt das altbekannte Struck’sche Gesetz: Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie es eingebracht worden ist. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre auch schlimm!) Wir hatten auch viele gute Grundlagen. Es hat die Bund-Länder-Kommission gegeben. Vor allen Dingen hatten wir viel Unterstützung und viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Daher an dieser Stelle mein Dank an die beiden Ministerien, an die politischen Verantwortungsträger, an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie selbstverständlich auch an unsere eigenen Teams; denn die waren wirklich alle sehr kompetent und einsatzbereit. Das PSG III hat viele positive Punkte. Über die Kommunen ist schon viel gesagt worden. Ich denke, es ist nun wirklich möglich, dass Bürgerinnen und Bürger mehr über ihre Rechte und Leistungsansprüche erfahren. Eines ist klar: Es nützt das beste Gesetz nichts, wenn die Bürgerin oder der Bürger nichts von den dynamischen Leistungsrechten weiß. Daher: Bitte wenden Sie alle sich an ihre Pflegestützpunkte. Mit dem PSG III implementieren wir viele Qualitätsverbesserungen. Es gibt neue Qualitätsinstrumente. Damit verbessern wir kurz- und mittelfristig die Versorgungssituation. Vieles wird wissenschaftlich untersucht und evaluiert. Wir stopfen auch Schlupflöcher. Pflegedienstleister können sich einer Prüfung hinsichtlich einer verlässlichen Versorgung der Pflegebedürftigen nicht mehr entziehen, und das ist auch gut so. Transparenz ist gut; so manches Mal ist aber Kontrolle noch besser. Nach der Aufdeckung von Betrugsfällen bei Pflegediensten kann zukünftig außerdem die häusliche Krankenpflege stärker kontrolliert werden. Eines finde ich auch noch besonders toll – Herr Rüddel, Sie hatten es angesprochen –: Bis dato war es so, dass in tarifgebundenen Unternehmen die Beschäftigten mehr Geld erhalten konnten. Darauf waren wir zu Recht stolz. Leider ist der allergrößte Teil der privatwirtschaftlich geführten Pflegeunternehmen davon bis jetzt ausgeschlossen gewesen. Das hat zu vielen Streiks in den Unternehmen geführt. Jetzt kann man den Beschäftigten sagen: Informieren Sie Ihren Arbeitgeber! Machen Sie im Zweifelsfall auch Druck! Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Jetzt macht die Präsidentin Druck wegen der Redezeit!) Mechthild Rawert (SPD): Bis zur Höhe von Tariflöhnen darf niemand Ihnen sagen: Ihr Entgelt darf nicht steigen. – Auch hier sorgen wir endlich dafür, dass gute Arbeit auch gut entlohnt wird. Wir alle sagen: Arbeit in der Pflege darf nicht zur Billigarbeit verkommen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie die Redezeit bei weitem überschritten haben. (Erwin Rüddel [CDU/CSU]: Das war auch schon ein gutes Schlusswort!) Mechthild Rawert (SPD): Ja. – Pflege ist auch kein Feld für vielfach unfreiwillige Teilzeitarbeit. Mit anderen Worten: Wir haben Großes geleistet. Wir werden weiterhin Großes leisten. Wenn wir jetzt noch die Pflegeberufereform unter Dach und Fach bekommen, dann gebe ich sogar noch einen aus. Danke. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Daran werden wir Sie erinnern. Und jetzt erst mal gute Besserung! (Mechthild Rawert [SPD]: Danke!) Jetzt ist Zeit für Applaus. Normalerweise wird an dieser Stelle geklatscht. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Alle waren anscheinend so beeindruckt, weil Sie einen ausgeben wollen. So einfach ist das. Der nächste Redner: Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte meine Rede eigentlich ganz anders beginnen, aber, verehrte Kollegin Schulz-Asche, Sie fordern mich förmlich heraus, erst auf Ihre Rede einzugehen. Sie haben gesagt: Kreativität und Mut haben bei den Pflegestärkungsgesetzen gefehlt. – Ich kann Ihnen nur sagen, dass dieser positive Einschnitt in die Pflege, den wir in dieser Legislatur geschafft haben, immer von dem Gedanken geprägt war: Wie entwickelt sich Deutschland? Wie ist die demografische Situation? Hier waren sehr wohl viel Kreativität, Mut und ein hohes Maß an Fachlichkeit in Kombination mit Menschlichkeit immer mit dabei. Ich möchte uns hier nicht loben, aber ich denke, dass wir dabei erfolgreich waren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Pflegestärkungsgesetze in dieser Legislatur bringen spürbare Verbesserungen für die Menschen in unserem Land. Wenn wir in die Pflegeeinrichtungen gehen und mit den Pflegekräften und vor allem mit den zu pflegenden Personen und ihren Angehörigen sprechen, dann erhalten wir ausgesprochen viel Zustimmung. Selbst diejenigen, die von den hohen Beiträgen zur Pflegeversicherung betroffen sind, also Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, egal ob Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, haben sich mit Kritik zurückgehalten, weil sie wissen, dass das Geld richtig angelegt ist und dass das Geld auch dort ankommt, wo wir es dringend benötigen. Denn – das muss man an dieser Stelle auch einmal sagen – diese Bundesregierung hat sich entschieden, dass sie nicht nur in Straßen, Schienen und Gebäude investiert, sondern dass sie in Menschen investiert. Das ist die Melodie unserer Politik, meine sehr geehrten Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Aufgrund dieser im Allgemeinen doch positiven Situation, auch in der Szene, kann ich über eine Ablehnung des Gesetzentwurfes wirklich nur den Kopf schütteln. Meine Damen und Herren, mir ist schon bewusst, dass die Opposition in einem politischen System eine besondere Rolle als Kontrollorgan hat, welches auch einmal lautstark Kritik übt und vielleicht einmal über das Ziel hinausschießen darf. Aber ein gewisser Bezug zur Realität, meine sehr geehrten Damen und Herren – das geht vor allem auch an die Linke –, wäre auf jeden Fall auch einmal angebracht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD] – Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist wahr!) Dass durch dieses Gesetz sogar Verschlechterungen für Menschen mit Pflegebedarf oder gar mit Behinderung zu konstatieren wären, war von Ihnen teilweise zu hören. Ich kann nur sagen: Das ist einfach falsch. Durch dieses Gesetz, meine sehr geehrten Damen und Herren, werden viele Menschen bessergestellt und niemand soll und wird schlechtergestellt werden. Da wir mit dem Pflegestärkungsgesetz viel am offenen System operiert haben, war es nicht einfach, das sicherzustellen. Es ist aber mit Übergangsregeln und Regeln zum Bestandsschutz gelungen. Anders als Sie sagen, droht auch nicht, dass die Träger der Pflegeversicherung und der Eingliederungshilfe auf dem Rücken der Betroffenen darüber in Konflikt geraten, wer für die Leistungen zuständig ist. Ich bitte Sie wirklich: Verunsichern Sie nicht laufend die Leute in unserem Land mit Ihren Aussagen! Diese Debatte, die wir hier teilweise führen, ist wirklich schändlich. (Widerspruch bei der LINKEN – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Quatsch!) Ich möchte auch sagen: Das Thema Bürgerversicherung wird immer wieder in die Debatte eingestreut, egal von welcher Seite. Dabei wird mit sympathischen Formulierungen wie „Bürgerversicherung“ und „Solidarität“ jongliert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Mechthild Rawert [SPD]: Das finde ich auch gut!) Aber wissen Sie, was mir fehlt? Sie sind nicht in der Lage, den Vorteil zu benennen, die systematische Verbesserung. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Keine Zweiklassenmedizin!) Wo ist denn der Vorteil, meine sehr geehrten Damen und Herren? Dazu haben wir bisher wenig gehört. (Katrin Werner [DIE LINKE]: Da haben Sie ja wohl nicht zugehört!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, da Pflegeleistungen und Leistungen der Eingliederungshilfe zusammenfallen, sind jetzt die Beteiligten verpflichtet – diese Verpflichtungsregelung ist neu –, sich mit Zustimmung des Betroffenen über Modalitäten der Übernahme und Durchführung der Leistungen sowie der Erstattung zu einigen. Dies ist ein großer Fortschritt im Interesse der Pflegebedürftigen; denn sie müssen sich nicht mit der Bürokratie auseinandersetzen – diese Abstimmung läuft im Hintergrund ab. Auch das gehört zur Wahrheit. Jetzt ist es folgendermaßen geregelt: Die eine Stelle übernimmt die Leistung, die andere den Teil der Kosten, der von ihr zu tragen ist. Für diesen Bereich der Schnittstellenproblematik haben wir also in diesem Gesetz eine klare und gute Regelung gefunden. Das gilt auch für andere große Fragen: Vorrang, Gleichrang – es wurde erwähnt. In meiner Rede zum PSG III im September hatte ich erwähnt, dass von Betroffenen und ihren Verbänden die Befürchtung geäußert wurde, im Verbund mit dem Bundesteilhabegesetz könne es an den Schnittstellen zu Nachteilen für pflegebedürftige Behinderte kommen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, es ist uns allen gelungen, dass wir diese geäußerten Bedenken ausräumen konnten, weil wir die Menschen ernst genommen haben. Es ist, glaube ich, eine Stärke unseres Parlaments, dass wir hier kritikfähig waren und die entsprechenden Punkte eingebracht haben. Deshalb ist es ein gutes Gesetz, und deshalb werden wir heute auch zustimmen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Erich Irlstorfer. – Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion: Heike Baehrens. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Heike Baehrens (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das PSG III hat im Rahmen der parlamentarischen Beratungen den richtigen Schliff bekommen. In Anknüpfung an die Debatte heute Morgen möchte ich sagen: Es zeugt von guter demokratischer Kultur, wenn ein ordentlicher Gesetzentwurf nach intensiven Debatten, Gesprächen mit Betroffenen und Experten weiter verbessert wird. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Denn auf diesem Weg konnte erreicht werden, was wir heute beschließen: dass die Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung im Verhältnis zur Pflegeversicherung auch zukünftig nicht nachrangig sind. Erst diese notwendige Klarstellung hat es möglich gemacht, dass wir heute Morgen die größte sozialpolitische Reform dieser Legislaturperiode tatsächlich beschließen konnten: das Bundesteilhabegesetz. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Menschen mit Behinderungen haben sowohl einen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung als auch auf Leistungen zur gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Darüber, wer dies zu bezahlen hat, müssen sich die Kostenträger verständigen. Dazu werden die Pflegekassen nun am neugeschaffenen Teilhabe- und Gesamtplanverfahren der Eingliederungshilfe beratend beteiligt. Der bisher bestehende Gleichrang der Leistungen der Pflege und der Eingliederungshilfe bleibt also bestehen. Gleichzeitig – das ist ganz wichtig – werden die Mitwirkungsrechte von Menschen mit Behinderungen hinsichtlich dieser Verfahrensschritte deutlich gestärkt. Das ist eine wichtige Errungenschaft, die vor allem der Beharrlichkeit unserer Fraktion zu verdanken ist. (Beifall bei der SPD) Leider sind die Regelungen zur Abgrenzung der ambulant betreuten Wohngemeinschaften gegenüber stationären Wohnangeboten im PSG III recht kompliziert geregelt worden. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass damit sichergestellt wird, dass auch zukünftig alle Menschen mit Behinderung, die ambulant betreut wohnen möchten, auch weiterhin die vollen Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, selbst dann, wenn sie einen hohen Pflege- und Betreuungsbedarf haben. Denn „ambulant vor stationär“ steht allen Menschen zu. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Von der Opposition war heute Morgen und auch jetzt zu hören, dass es mit diesem Gesetz nicht gelungen sei, die Kommunen nachhaltig in ihrer Beratungskompetenz zu stärken; dafür hätte mehr Geld eingesetzt werden müssen, so die Opposition. – Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass die Pflegeversicherung die Kommunen in die Lage versetzen muss, Pflegeberatung leisten zu können? Schon längst vor Einführung der Pflegeversicherung hatten Kommunen und Landkreise die Aufgabe, für das Vor- und Umfeld der Pflege zu sorgen. Ja, sie haben noch immer im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge den verbindlichen Auftrag, sich um die alten Menschen vor Ort zu kümmern und sie in allen Lebenslagen bei Fragen rund um die Versorgung zu beraten und zu unterstützen; der Auftrag ist in § 71 SGB XII im Rahmen der Altenhilfe verankert. Diese Verantwortung haben sie. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eine solche Beratung muss oft lange vor einem festgestellten Pflegebedarf ansetzen – nur dann ist sie wirkungsvoll –, und sie muss selbstverständlich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aus Steuermitteln finanziert werden. Es gibt durchaus Gemeinden und Landkreise, die diese Aufgaben vorbildlich wahrnehmen – das weiß ich auch aus meinem eigenen Wahlkreis –, weil sie nahe dran sind an dem, was ihre Bürgerinnen und Bürger brauchen, wenn sie älter werden oder krank sind. Aber es gibt auch viele Kommunen und Landkreise, die sich seit der Einführung der Pflegeversicherung vor mehr als 20 Jahren vornehm zurückgelehnt haben, um abzuwarten, was nun alles von den Pflegekassen und von Pflegedienstleistern übernommen wird, (Hilde Mattheis [SPD]: Genau!) und dies, obwohl gerade die Kommunen und Landkreise mit der Einführung der Pflegeversicherung in erheblichem Umfang bei den Sozialhilfekosten, also der Hilfe zur Pflege, entlastet wurden. Darum sage ich: Die Kommunen und Landkreise sind im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge dazu verpflichtet, dass sie nicht nur mithilfe dessen, was wir heute im PSG III regeln, sondern auch aus eigenem Antrieb, aus eigener Verantwortung heraus wieder mehr tun im Bereich der Altenhilfe und dies auch finanzieren. Das sind sie ihren Bürgerinnen und Bürgern schuldig. Auch dafür werden wir die Kommunen zukünftig um 5 Milliarden Euro jährlich entlasten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich komme zum Schluss. Bund, Länder und Gemeinden haben gemeinsam für ein würdevolles Altern und für gute Rahmenbedingungen in der Pflege zu sorgen. Mit dem heutigen dritten Baustein der umfassenden Pflegereform leisten wir, aber eben auch alle Beitragszahlerinnen und Beitragszahler der Pflegeversicherung, dazu einen wichtigen Beitrag. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Heike Baehrens. – Und der letzte Redner in dieser Debatte: Tino Sorge für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Tino Sorge (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Wir haben den ganzen Vormittag über Gesetze debattiert, die mit Fürsorge zu tun haben. Mir ist heute Morgen leider aufgefallen – das ist von einigen Kollegen schon angesprochen worden –, dass wir nie gesagt haben, was wir gut gemacht haben bzw. die Opposition hat immer nur gesagt: Na ja, ganz schlecht war es nicht, aber wir greifen uns nur die schlechten Sachen heraus. – Das fand ich, ehrlich gesagt, ein bisschen schade. Wir hatten gestern die Anhörung zum Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz, wir haben heute das Bundesteilhabegesetz verabschiedet, und wir werden jetzt gleich das Pflegestärkungsgesetz III verabschieden. Insofern können wir sagen, dass wir gerade im Gesundheitsbereich in dieser Legislatur viele Verbesserungen auf den Weg gebracht haben. Und es geht nicht darum, dass wir uns auf die Schulter klopfen – wie hier einige immer meinen – und sagen, wie toll wir sind, sondern es geht einfach darum, zu sagen: Es gibt Verbesserungen; und diese Verbesserungen wollen wir benennen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Helmut Heiderich [CDU/CSU]: 16 neue Gesetze!) Gerade kam ein Zwischenruf von unserem Haushälter, und Haushälter schauen sich die Zahlen immer sehr genau an. In Bezug auf den Bereich Gesundheit kann man sagen – das muss man sich einmal vorstellen –: Wir haben in dieser Legislatur 16 Gesetze und damit Verbesserungen in diesem Bereich auf den Weg gebracht. Das kann man doch nicht einfach so vom Tisch wischen. Man darf nicht immer nur sagen: Das ist schlecht, wir reden nicht darüber. Liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir doch einmal konkret. Es ist schon angesprochen worden: Wir reden über Teilhabe, und wir reden über Verbesserungen für die Menschen gerade im Bereich der Pflege. Wenn wir zu den Menschen auf den Tribünen schauen, dann sehen wir ein Abbild unserer Gesellschaft. Wir sind eine Gesellschaft, die immer älter wird, die gesünder älter wird, aber dann im höheren Alter auch multimorbider. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Da sind auch junge Leute!) Gleichzeitig gibt es die jüngere Generation – auch die sehr junge Generation sehe ich da oben –, und gerade für den Bereich der Pflege ist es immer wichtig, darauf hinzuweisen: Es betrifft nicht nur die Alten, es betrifft nicht nur betagte Menschen, sondern das Thema kann jeden betreffen, junge Menschen genauso wie alte Menschen. Deshalb ist Pflege ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag, und das müssen wir klarer benennen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum klatscht da Ihre Fraktion nicht?) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu der Frage, was wir mit diesem Gesetz verbessern, ist schon viel gesagt worden. Als Schlussredner hat man das Privileg, auf einzelne Dinge eingehen zu können, die besonders wichtig sind. Ich will die Verbesserungen an einem Beispiel festmachen: Eine 80-jährige Frau, verwitwet, zwei Kinder. Die Kinder sind, wie das heute üblich ist, nicht vor Ort, können sich nicht um die Mutter kümmern. Sie sind relativ selten bei der Mutter, einmal im Quartal. – Es ist ganz wichtig, dass wir dieser Frau und all diesen Menschen konkrete Angebote unterbreiten. Künftig können sie – das ist eine Verbesserung, die aus diesem Gesetz folgt – in ihrer Gemeinde, also vor Ort, bei vertrauten Personen, ohne langen Anfahrtsweg und ohne Stress Beratung erhalten, sich informieren. Wir verbessern die regional verankerte Beratung über individuelle Ansprüche und Hilfemöglichkeiten. (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist eine ganz konkrete Ausformung des Schwerpunkts, den wir hier immer ansprechen. Wir reden von einer besseren Versorgung im ländlichen Raum, von einer strukturellen Stärkung des ländlichen Raums. Genau darum geht es an dieser Stelle: Wir stärken die Rolle der Kommunen bei der Pflege; wir stärken die Kommunen in ihren begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten. Wir geben den Kommunen nicht nur die Möglichkeit, flexibler zu agieren, sondern wir nehmen auch eine Menge Geld in die Hand. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, dieses Problem betrifft nicht nur einzelne Regionen. Ich komme aus dem wunderschönen Bundesland Sachsen-Anhalt. Mein Wahlkreis beinhaltet neben der Landeshauptstadt auch viel ländlichen Raum. Daher weiß ich, wie wichtig es ist, dass die Länder und die Kommunen gerade im ländlichen Raum noch viel mehr niedrigschwellige Angebote unterbreiten können; das ist hier schon angesprochen worden. Dabei geht es manchmal um relativ triviale Dinge wie die Einrichtung mit Mobiliar, aber auch um die Ausstattung mit Personal. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Umbaumaßnahmen!) Wir wissen ja alle, dass wir mehr Personal brauchen. Jetzt kann man zwar sagen: „Wir brauchen mehr, mehr, mehr ...“, man kann aber auch einmal sagen: „Da hat es Verbesserungen gegeben“; und diese Verbesserungen sind, objektiv betrachtet, Fakt. Das sollten Sie von der Opposition auch mal so benennen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung bei gleichzeitig knapper werdenden Mitteln sorgen wir mit diesem Gesetz dafür, dass die Mittel besser ausgeschöpft werden können. Die Finanzmittel der Kommunen sind immer knapp. Es gibt Länder, die ihre Mittel nicht ausschöpfen, und Länder, die einen höheren Mittelbedarf haben. Wir sagen jetzt ganz konkret: Wenn die Mittel nicht ausgeschöpft werden können, besteht die Möglichkeit, sie zu verschieben. Das heißt, die Mittel verfallen nicht. Dadurch können sie effizienter eingesetzt werden. Das ist ein tatsächlicher Mehrwert. Dabei geht es, wenn man so will, auch um die Solidarität zwischen den Ländern. Vielleicht noch ein Wort zum Abrechnungsmissbrauch, weil wir auch über diese Thematik gesprochen haben. Wir haben mit dem PSG III bessere Möglichkeiten zur Ahndung von Abrechnungsmissbrauch – hier gab es ja Auswüchse – geschaffen. Es kann jetzt besser geprüft werden. Ich möchte hier aber ganz klar sagen, dass wir nicht eine ganze Branche pauschal unter Verdacht stellen dürfen. Die schwarzen Schafe, die es in diesem Bereich gibt, können wir – das zumindest ist der Anspruch dieses Gesetzes – zukünftig besser herausfiltern. Wir müssen aber sagen, dass das Gros der Branche eine ordentliche Arbeit erbringt, sich aufopfert und gute Qualität anbietet. Diesen Punkt möchte ich heute ganz besonders betonen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Da wir uns in der Adventszeit befinden, möchte ich meine Rede etwas besinnlich schließen. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ein Gedicht!) Vizepräsidentin Claudia Roth: So viel Zeit hat er nicht. Tino Sorge (CDU/CSU): Die Präsidentin sagt, ich habe nicht mehr genug Zeit für ein Gedicht. Sonst hätte ich gerne eins vorgetragen, Herr Kollege Wunderlich. Ich möchte nicht nur dem Ministerium, insbesondere Karl-Josef Laumann, Ingrid Fischbach und Frau Kraushaar – sie ist ja auch erwähnt worden –, danken, sondern ich möchte auch denjenigen danken, die ihre Arbeit im Hintergrund erledigt haben, also all denjenigen, denen heute noch nicht gedankt worden ist. Ich wünsche Ihnen und uns allen eine schöne Adventszeit und eine schöne Weihnachtszeit. Ich hoffe, dass wir alle, Frau Kollegin Rawert, gesund ins neue Jahr kommen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Sorge. Vor der Weihnachtszeit haben wir aber noch eine Sitzungswoche. Darauf will ich hinweisen. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Wir sind in der Adventszeit; ja, da gebe ich Ihnen recht. Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkt 4 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften. Mir liegt eine schriftliche Erklärung von Ulla Schmidt nach § 31 der Geschäftsordnung vor.2 Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10510, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/9518 und 18/9959 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Dagegen waren Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD und bei Ablehnung von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10530. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen waren CDU/CSU und SPD. Enthalten hat sich die Linke. Tagesordnungspunkt 4 b. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 18/10510 jetzt fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/8725 mit dem Titel „Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen war die Linke. Enthalten hat sich niemand. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/9668 mit dem Titel „Pflege vor Ort gestalten – Bessere Bedingungen für eine nutzerorientierte Versorgung schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Dagegen war Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat sich die Linke. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Zeit für einen Kurswechsel – Rentenniveau deutlich anheben Drucksache 18/10471 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rentenniveau anheben – Für eine gute, lebensstandardsichernde Rente Drucksachen 18/6878, 18/10517 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Ich sehe auch keinen Widerstand. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Matthias W. Birkwald für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich sehe Finanzstaatssekretär Spahn auf der Regierungsbank sitzen. Deswegen will ich zunächst einmal die Gelegenheit nutzen, noch einmal darauf hinzuweisen, dass wir eines in diesem Land auf gar keinen Fall machen dürfen: Kinderarmut und Altersarmut gegeneinander ausspielen. Wir müssen beides bekämpfen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dagmar Schmidt [Wetzlar] [SPD]) Deswegen will ich kurz sagen: Nach den Kriterien der Europäischen Union haben wir derzeit 2,5 Millionen arme Kinder in diesem Land und über 2,85 Millionen arme Menschen, die ihren 65. Geburtstag bereits hinter sich gebracht haben. Liebe Koalition, hören Sie bitte damit auf, zu behaupten, es gebe keine Altersarmut, es gebe nur viel Kinderarmut. Es gibt beides, und wir müssen gegen beides etwas tun. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, 1957 hat Konrad Adenauer unser heutiges System der gesetzlichen Rente eingeführt. Sein Ziel war es, dass Menschen nach ihrem Arbeitsleben in den wohlverdienten Ruhestand gehen können, ohne auf allzu viel im Alter verzichten zu müssen. Das nennt man Lebensstandardsicherung. Alle Experten sind sich einig: Dafür brauchen wir ein Rentenniveau von 53 Prozent. (Beifall bei der LINKEN – Kerstin Griese [SPD]: Alle Experten?) – Alle Experten und Expertinnen! – Bis zur Jahrtausendwende hielten sich Union und SPD auch an dieses Versprechen. Dann kamen Gerhard Schröder, SPD, Joschka Fischer, Grüne, Walter Riester, SPD, und die Union und die FDP haben zugestimmt, das Rentenniveau zu senken. Jetzt sage ich Ihnen einmal, was die Absenkung des Rentenniveaus bewirkt hat. Im Jahr 2000 bekamen langjährig Versicherte, also Menschen, die immerhin 35 Jahre lang Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hatten, wenn sie in die Rente gingen, noch 1 021 Euro auf ihr Konto überwiesen. Im Jahr 2015 waren das nur noch 848 Euro. Wenn Sie sämtliche Preissteigerungen einrechnen, stellen Sie fest, eine solche Rente hätte im Jahr 2015 eigentlich 1 340 Euro betragen müssen. Das bedeutet: Die Rentenreformen von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP kosten langjährig Versicherte jeden Monat 492 Euro. Ich finde, das ist skandalös. (Beifall bei der LINKEN – Sven Volmering [CDU/CSU]: Das ist die eine Seite der Bilanz!) Das ist das verheerende Ergebnis einer falschen Arbeits- und Arbeitsmarktpolitik und einer falschen Rentenpolitik. Diese falsche Politik muss dringend gestoppt werden, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) Einer der wichtigsten Gründe von vielen für diese Entwicklung ist das sinkende Rentenniveau. Vereinfacht gesagt ist das Rentenniveau das Verhältnis einer verfügbaren Standardrente zu einem verfügbaren Durchschnittseinkommen. Es hat also nichts mit dem letzten Gehalt im Erwerbsleben zu tun. (Beifall der Abg. Katja Mast [SPD]) Das Rentenniveau ist aber die wichtigste Stellschraube für die Menschen, die bereits heute in Rente sind, und für diejenigen, die künftig in Rente gehen werden. Wenn nämlich das Rentenniveau sinkt, werden die Rentnerinnen und Rentner noch mehr als bisher von der Einkommensentwicklung der arbeitenden Menschen abgekoppelt. Man könnte auch sagen: Ihnen wird ein Stück Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand verwehrt. Das, meine Damen und Herren, darf nicht sein. (Beifall bei der LINKEN) Im April dieses Jahres hatte CSU-Chef Horst Seehofer erkannt, dass etwas falsch läuft. Er forderte höhere Altersbezüge für alle und die Rückabwicklung der Riester-Rente. Er behauptete sogar kühn, dass die 2001 beschlossene Kürzung des Rentenniveaus dazu führen werde, „dass etwa die Hälfte der Bevölkerung in der Sozialhilfe landen würde“. Dies betreffe besonders Frauen, die oft weniger verdienten als Männer und die ihre Berufstätigkeit zugunsten der Familie unterbrächen. Bei der Reform müsse der gesetzliche Anteil an der Rente im Zentrum der Überlegungen stehen. Nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung sorge privat fürs Alter vor. Er sagte wörtlich: „Die Riester-Rente ist gescheitert.“ Recht hat er! (Beifall bei der LINKEN – Kerstin Griese [SPD]: Herr Seehofer und die Linke!) – Sie können heute in der Süddeutschen Zeitung nachlesen, Kollegin Griese, wie recht er damit hat und wie richtig das ist. In der Süddeutschen Zeitung finden Sie heute ein vernichtendes Urteil zu der ganzen Riester-Reform. Ich komme auch zur SPD. Sie hat nämlich mit ihrem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel ins gleiche Horn gestoßen. Sigmar Gabriel sagte: Das Niveau der gesetzlichen Rente darf nicht weiter sinken, sondern muss auf dem jetzigen Niveau stabilisiert werden. Was aber kam nach dem Koalitionsgipfel genau heute vor einer Woche in Sachen Rentenniveau nach wochenlangen geheimnisvollen Ankündigungen der Arbeitsministerin von zwei Haltelinien heraus? Gar nichts! Null! Niente! Nitschewo! Nada! Zero! – Sigmar Gabriel und Horst Seehofer, zwei der Parteichefs von Schwarz-Schwarz-Rosa, haben sie voll auflaufen lassen. Das ist doch die Wahrheit! Zu den Ostrentnerinnen und -rentnern sagen Staatssekretär Jens Spahn und sein Chef, Finanzminister Schäuble: Mir gäbet nix. – Bei allem Respekt vor Frau Ministerin Nahles: Man könnte auch sagen: Herr Schäuble und Herr Spahn ziehen die Frau Arbeitsministerin Nahles am Nasenring durchs Kanzleramt. So ist es doch! (Beifall bei der LINKEN) Ja, ich weiß: Bei der EM-Rente hat es Verbesserungen bei der Zurechnungszeit gegeben. Dazu muss man aber wissen: von 2018 bis 2024. Für die heutigen Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner, deren Renten viel zu niedrig sind, tun Sie alle rein gar nichts. Das ist die Wahrheit. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Da haben wir doch schon etwas getan!) Sie lassen sie im Regen stehen. Zu den Ostrenten. Jemand, der 1990, beim Fall der Mauer, in Rente ging, muss jetzt 100 Jahre alt werden, um noch „gleiche Rente für gleiche Lebensleistung“ zu erleben. Meine Damen und Herren von der Koalition, ich sage Ihnen: Das ist null Leistung. (Beifall bei der LINKEN) Das Rentenniveau darf jetzt auch in Zukunft weiter sinken. CSU-Chef Seehofer hat nur eine große Klappe gehabt. Die Koalition lässt Alte und Junge im Regen stehen. Ich sage: Das ist ein Armutszeugnis. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Nicht die Koalition! Die CSU!) Jetzt sind alle enttäuscht. Sogar Ministerin Nahles ist von den Beschlüssen des Koalitionsgipfels enttäuscht. Die Rentnerinnen und Rentner sind enttäuscht. Ministerin Nahles konnte der CDU nicht einmal abringen, dass das Rentenniveau wenigstens stabil bei den heutigen 48 Prozent bleibt. Frau Nahles, ich sage: Im Interesse der vielen Millionen Menschen, die bereits heute Rente beziehen oder einmal eine beziehen wollen, hätte ich Ihnen hier einen Erfolg gegönnt. Stattdessen sagen Sie in der FAZ: Ich würde ungern über das Rentenniveau streiten im Wahlkampf. Das führt zu einem reinen Überbietungswettbewerb und wird zu teuer. Das kann sich nur die Linkspartei leisten, die sich einen feuchten Kehricht darum kümmert, was es kostet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) – Klatschen Sie nicht zu früh. – Das sagt die Richtige! Sie will nämlich noch einmal zusätzliche 60 Millionen Euro in den Riester-Unsinn investieren. Nein, genau deshalb sind unsere beiden Anträge richtig und wichtig. Wir müssen das Rentenniveau wieder auf 53 Prozent anheben; denn dann hätten wir die Probleme mit dem absinkenden Niveau nicht mehr, und die Menschen könnten auch im Alter ihren Lebensstandard halten. Das ist auch finanzierbar. Ein Rentenniveau von 53 Prozent brächte der Standardrentnerin oder dem Eckrentner von heute 127 Euro mehr netto und dem von 2030  314 Euro, und das ist auch finanzierbar. Ich kann es nicht mehr hören, dass die Beiträge in den Himmel wachsen, durch die Decke gehen oder explodieren. Jemand, der heute durchschnittlich verdient – 3 022 Euro brutto im Monat –, müsste nur 33 Euro mehr in die gesetzliche Rentenversicherung zahlen – und der Arbeitgeber auch. Dann würden wir das Rentenniveau erreichen. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Ja, heute! – Katja Mast [SPD]: Und 2045?) – Ich habe mit Ihrem Zuruf gerechnet. Die Bundesregierung geht von einem durchschnittlichen Bruttoeinkommen von 4 423 Euro im Jahre 2029 aus. Dann kann man dadurch, dass man 99 Euro mehr pro Monat in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlt, ein lebensstandardsicherndes Rentenniveau sichern. Jetzt kommt der Clou: Dann brauchen wir die Riester-Beiträge nicht mehr. Sie muten den Menschen zu, mindestens 4 Prozent ihres Einkommens für Riester einzuzahlen. Das heißt, die Menschen hätten heute jeden Monat 75 Euro mehr in der Tasche – 108 Euro weniger für Riester, 33 Euro mehr in die gesetzliche Rentenversicherung –, und im Jahr 2029 wären es noch 65 Euro mehr. Ich sage Ihnen: Ein anständiges Rentenniveau ist finanzierbar. (Beifall bei der LINKEN) Diese Berechnung wird auch von der Ministerin in ihrem schönen Rentenversicherungskonzept bestätigt. Schauen Sie auf Seite 26! Da werden alle Zahlen belegt. (Sven Volmering [CDU/CSU]: Das ist Quatsch mit Soße, echt!) Im Jahr 2000 musste man 24 Jahre arbeiten, um bei einem Rentenniveau von 53 Prozent eine Rente in Höhe der Sozialhilfe bzw. der Grundsicherung im Alter zu bekommen. Aktuell sind das aber schon 29 Jahre und 9 Monate, und wenn es so weitergeht, dann werden wir dies in Zukunft selbst bei einem Rentenniveau von 46 Prozent erst nach 33 Jahren erreichen. Ich komme zum Schluss. Vizepräsidentin Claudia Roth: Ja, bitte. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Hören Sie auf Norbert Blüm. Er war 16 Jahre Arbeitsminister und hat gesagt – Zitat –: Die Rente muss höher sein als die Grundsicherung, sonst verliert das System seine Legitimation. Ein Niveau von 46 Prozent wird dafür nicht reichen. Recht hat er. Man kann eine gute Rente finanzieren. Schauen Sie nach Österreich. Darüber reden wir aber ein anderes Mal. Ich sage: Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Matthias W. Birkwald. Meine Bemerkung vorhin bezog sich auf das Überziehen der Redezeit. Ich bin nämlich ganz objektiv. – Nächster Redner: Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gestern hat das Bundeskabinett den Rentenversicherungsbericht 2016 beschlossen. Es ist etwas geschehen, was in den Voraussagen der letzten Jahre nicht enthalten war und was völlig dem widerspricht, was die Linke vorträgt, dass es nämlich einen tiefen Absturz des Rentenniveaus geben werde: Das Rentenniveau ist in diesem Jahr gestiegen. Das Rentenniveau wird voraussichtlich auch im kommenden Jahr steigen, und es wird über mehrere Jahre auf einem hohen Niveau bleiben. Warum widerspricht diese Nachricht allem was bisher gesagt wurde? Weil die gute wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und vor allem die zunehmende Anzahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse – jeden Monat mehr als im Vormonat – dazu führen, dass nicht nur genügend Geld in die Rentenversicherung fließt, sondern dass das Rentenniveau sogar steigt. Das ist die eigentliche positive Nachricht, die allem widerspricht, was die Linken hier vortragen. Mit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung – das ist das Entscheidende – und mit mehr sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wird die Rente stabilisiert. Das ist das Kernanliegen. Dafür stehen wir, die Große Koalition mit Angela Merkel. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) Wir wollen durch gutes Wirtschaften und durch gute Beschäftigungspolitik auch in Zukunft für eine sichere Rente in Deutschland sorgen. Ein weiterer Punkt. Wenn man unbedingt schon jetzt eine rentenpolitische Bilanz der Großen Koalition, mehrere Monate vor der Bundestagswahl, ziehen will, dann muss man feststellen, dass wir mit dem Rentenpaket zu Beginn dieser Legislaturperiode (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rentenkasse geschwächt haben!) zum ersten Mal seit 30 Jahren im Deutschen Bundestag konkret finanziell spürbare Verbesserungen für die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland geschaffen haben. Diese Große Koalition hat das hinbekommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Da waren wir nicht knauserig, sondern wir haben zum Leidwesen mancher mehr Geld bereitgestellt, zuallererst mit der Mütterrente. Sie beschert uns zwar 6,7 Milliarden Euro zusätzliche Ausgaben im Jahr, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, aus der Rentenkasse, aus Steuergeldern finanziert! – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Absolut richtige Entscheidung!) bedeutet aber für die Mütter, die Kinder großgezogen haben, eine großartige, zusätzliche Hilfe, wenn sie Rentnerinnen sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine sehr geehrten Damen und Herren, nun kann man, so wie es der Kollege Birkwald gemacht hat, erzählen: Wenn ich mehr in die Rente einzahle, ist mehr in der Rentenkasse. Dann erwerbe ich als Beitragszahler einen Anspruch auf eine höhere künftige Rente. – Gut, das ist das System der Rentenversicherung, (Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) wie es mit der dynamischen Rente 1957 von Konrad Adenauer zu Recht eingeführt worden ist und wie es auch weiter Bestand haben soll. Aber Herr Birkwald und auch andere der Linken beantworten uns nie die Frage, wie denn diese Zusage eingehalten wird, dass jeder von uns und von Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, die Sie zuhören, dann, wenn er mehr in die Rentenkasse einzahlt, hinterher, wenn er in Rente geht, auch tatsächlich mehr bekommt, dass also die junge Generation diesen Rentenanspruch einlösen wird. Das ist doch die entscheidende Frage. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der LINKEN) Es war übrigens Norbert Blüm, der sich als erster Arbeits- und Sozialminister in Deutschland durch Prognos in einem Gutachten hat ausrechnen lassen, was es bedeuten würde, wenn am Rentenrecht gar nichts geändert würde, und was es darüber hinaus bedeuten würde, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gingen, die Jahrgänge, die also jetzt noch im Arbeitsleben sind, während nach ihnen relativ wenig junge Menschen ins Arbeitsleben eintreten werden. Dabei kamen Rentenversicherungsbeiträge von deutlich über 30 Prozent heraus. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie schon einmal etwas von Produktivitätsentwicklung gehört?) Sie müssen sich das vorstellen: Der Rentenversicherungsbeitrag steigt auf 30 Prozent, ein hoher Krankenversicherungsbeitrag, ein hoher Pflegeversicherungsbeitrag und – mit einem steigenden Rentenversicherungsbeitrag steigt auch der Zuschuss aus Steuern – hohe Steuern. Was werden die jungen Leute, die eines Tages dank linker Politik vor diesem Ergebnis stehen, sagen? Sie werden sagen: Entschuldigung, bei dieser Steuer- und Abgabenbelastung lohnt sich Arbeiten schlichtweg nicht mehr. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine Frage oder Bemerkung von Herrn Matthias W. Birkwald? Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Ja. Er muss ja seine Redezeit verlängern. Bitte sehr. Vizepräsidentin Claudia Roth: Das ist jetzt aber Ihre Redezeit. – Also, Herr Birkwald, bitte. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie das klargestellt haben. Das verlängert die Redezeit von Herrn Weiß. Herr Weiß, ich hätte mich nicht gemeldet, wenn Sie nicht gerade sozusagen nach der Zwischenfrage gegiert hätten. Ich will Ihnen einmal Folgendes erläutern: In Ihren Beiträgen kommen die Begriffe Wirtschaftswachstum und Produktivitätsfortschritt niemals vor. Jetzt machen wir das einmal ganz konkret; denn ich ahnte schon, dass Sie so etwas sagen würden. Im Jahr 1960 betrug der Durchschnittsverdienst umgerechnet 260 Euro. Damals hatten wir einen Beitragssatz von insgesamt 14 Prozent, also je 7 Prozent für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Der Beitrag zur Rentenversicherung betrug 18,20 Euro. Wenn man die von dem damaligen Gehalt abzieht, blieben 241,80 Euro übrig. Jetzt machen wir zwei Schritte: 2016 sind bei einem Gehalt von 3 022 Euro brutto und einem Beitragssatz von 9,35 Prozent 283 Euro als Beitrag zu zahlen. Übrig bleiben 2 739 Euro. Jetzt gehen wir ins Jahr 2030. Dann wird das Durchschnittseinkommen 4 502 Euro betragen. Wenn man dann einen Beitragssatz von 29 Prozent paritätisch finanziert, bleiben 3 849 Euro übrig. Anders ausgedrückt: Der Kuchen wächst, und selbst wenn die Beitragssätze steigen, bleibt hinterher für die Beschäftigten wesentlich mehr übrig. Für die Finanzierung brauchen wir nur die Rückkehr zur Parität, dass sich die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber endlich wieder vollständig paritätisch an der Finanzierung der Alterssicherung beteiligen. (Beifall bei der LINKEN – Sven Volmering [CDU/CSU]: Das ist Quatsch!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Weiß, bitte. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Kollege Birkwald, Norbert Blüm, seine Nachfolger und auch diejenigen, die den Rentenversicherungsbericht erstellen, haben all das, was Sie vortragen – Produktivitätssteigerungen, Wirtschaftswachstum und Zuwanderung nach Deutschland –, bereits mit eingepreist. Deswegen, Entschuldigung, stimmen Ihre Beispiele alle nicht. Dass auch die Lebenserhaltungskosten steigen usw. usf., kommt bei Ihnen gar nicht vor. (Albert Stegemann [CDU/CSU]: Genau!) Es ist doch selbstverständlich: Jeder Arbeitnehmer heute und genauso in 10, 20 oder 30 Jahren wird die Frage „Ist das, was ich als Lohn verdiene, ausreichend?“ danach beantworten, was ihm nach Abzug der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge übrig bleibt. So wie mich heute junge Leute fragen, die gerade einen neuen Job angetreten haben, ob es richtig ist, dass sie auf jeden Euro, den sie mehr verdienen, so hohe zusätzliche Steuern und Abgaben zahlen, werden auch die jungen Leute in 10, 20 oder 30 Jahren dieselbe Frage stellen. Auf diese Frage können Sie aber keine Antwort geben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Habe ich ja gerade gemacht! Darauf gehen Sie ja nicht ein!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, richtig ist, dass 2001 unter rot-grüner Verantwortung – es war nicht unter der Verantwortung der CDU/CSU – eine Gesetzesreform beschlossen worden ist, die schlichtweg so aussieht, dass sie den jungen Leuten eine Garantie gibt, was die Höhe des Beitrags anbelangt. Bis 2030 darf der Beitrag nicht über 22 Prozent steigen. Wenn man das einhalten will, ist es logisch – das ist einfache Mathematik –, dass das Rentenniveau ein bisschen niedriger ist. Der Fehler von 2001 ist, dass man nur bis 2030 gerechnet hat. Deswegen möchte ich betonen: Auch aus meiner Sicht ist es dringend notwendig, dass wir als Gesetzgeber auf die Zukunft hin eine klare Festlegung treffen, welches Mindestrentenniveau erreicht werden muss und wo der Höchstbeitrag liegt, der eines Tages für die Rente gezahlt werden soll. Denn die junge Generation fragt zu Recht: Lohnt es sich für mich, noch in dieses System einzuzahlen? (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Bei Ihrer Politik nicht!) Deswegen werden wir nicht umhinkommen, gemeinsam eine solche Festlegung zu treffen. Aber in einer Situation wie zurzeit, in der wir es mit einem steigenden Rentenniveau zu tun haben, ist es verrückt, die Menschen schalu zu machen. Zum anderen haben wir die Zeit, um in Ruhe eine solche Gesetzgebung hinzubekommen, die ich für notwendig halte. Wir brauchen Mindestsicherungsziele in der Rentenversicherung, sowohl was das Niveau als auch was den Beitrag anbelangt, aber wir können froh sein, dass wir in einer Zeit leben, in der dank starker Wirtschaft und Beschäftigung das Rentenniveau in Deutschland steigt. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit der Reform von 2001 war zudem die Vorstellung verbunden, dass das, was die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland durchaus schon gemacht haben, künftig fest zum Gesamtversorgungsniveau der Rentnerinnen und Rentner gehören muss, nämlich eine Zusatzrente, die nicht umlagefinanziert ist, sondern die jeder für die Zukunft anspart. Das versteht die Linke übrigens überhaupt nicht bzw. will es nicht verstehen. Aber über 85 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betreiben – so kann man es dem Altersvorsorgebericht der Bundesregierung entnehmen, der gestern verabschiedet wurde – zusätzliche Altersvorsorge. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Aber nicht, weil sie wollen!) Das ist auch vernünftig. Das Unvernünftigste ist, unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die das Richtige tun, das auszureden. Das Gegenteil ist richtig. Sie sollten darin bestärkt werden, zusätzliche Altersvorsorge zu betreiben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen Sie mal, was bei Riester rauskommt! Das trauen Sie sich nicht! So wenig ist das!) Wir als Große Koalition werden in dieser Legislaturperiode etwas umsetzen, was wir uns vorgenommen haben, nämlich das Betriebsrentenstärkungsgesetz, über dessen Entwurf am 14. Dezember im Bundeskabinett beraten werden soll. Dieses Gesetz enthält etwas, was eine echte Revolution des deutschen Sozialrechts darstellt. Bisher sagen gerade viele Geringverdiener: Warum soll ich mir ein zusätzliches Sparvermögen abknapsen und anlegen, wenn am Schluss alles verrechnet wird und dann weg ist, weil ich auf Grundsicherung im Alter angewiesen bin. – Damit haben die Geringverdiener recht. Deswegen werden wir in der Grundsicherung eine Revolution vornehmen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Eine Revolution, Herr Weiß?! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Er hat das böse Wort gesagt!) Künftig werden mindestens 100 Euro bzw. maximal 200 Euro als zusätzliches Alterseinkommen nicht auf die Grundsicherung angerechnet. Andersherum ausgedrückt: Ich muss mir zuerst Mühe geben und mich anstrengen, um zusätzlich etwas für das Alter anzusparen, weil ich weiß, dass das nicht mehr verrechnet wird, sondern auf die Grundsicherung obendrauf kommt. Das ist eine wirklich starke Ansage an alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Es ist richtig: Wer wenig verdient, hat wenig übrig, um zusätzlich etwas für das Alter anzusparen. Deswegen werden wir im Betriebsrentenrecht eine zusätzliche Förderung in Höhe von 480 Euro jährlich (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Jährlich?) für Geringverdiener einführen. Auch das ist ein starkes Zeichen. Wer wenig verdient, bekommt von uns zusätzliche Hilfe, damit er eine zusätzliche Altersversorgung ansparen kann, die ihm nachher bei der Grundsicherung nicht angerechnet wird. Mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz machen wir deutlich: Ja, wir wissen, dass wir für die Zukunft der Altersversorgung mehr brauchen als die gesetzliche Rente. Damit alle mitmachen wollen, stellen wir die Stellschrauben so, dass es sich sowohl für die Unternehmen als auch für die Arbeitnehmer lohnt, in die betriebliche Altersversorgung zu investieren. Dank des Freibetrags lohnt es sich für jeden, zusätzlich Altersversorgung zu betreiben; denn freigestellt werden bei der Grundsicherung nicht nur die betriebliche Altersversorgung, sondern zum Beispiel auch das Riester-Sparen, das Rürup-Sparen und Lebensversicherungen. Unsere Botschaft an alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lautet: Wir stärken die Altersversorgung durch zusätzliche Anreize. Wir wollen durch ein starkes Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung dafür sorgen, dass das Rentenniveau auch in Zukunft stabil bleibt. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Peter Weiß. – Nächster Redner: Markus Kurth für Bündnis 90/Die Grünen. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Matthias Birkwald, eines muss man Ihnen lassen: Sie lassen keine Gelegenheit aus, um zu zeigen, was man Ihnen nicht zu Weihnachten schenken muss, nämlich einen Taschenrechner. Gerechnet haben Sie hier schon oft. Wenn Sie einmal nicht mehr als Abgeordneter aufgestellt werden, dann haben Sie vielleicht noch eine zweite Karriere als Double von Graf Zahl in der Sesamstraße vor sich. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich habe Ihnen aber schon oft gesagt, dass Politik nicht die Fortsetzung der Mathematik mit anderen Mitteln ist. Vielmehr geht es darum, Mehrheiten zu organisieren, Gesamtkonzepte zu erarbeiten und keine Rechenexempel zu statuieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Welches Rentenniveau wollt ihr?) – Ich gehe gleich darauf ein. Einen Punkt will ich vorwegnehmen: Es ist vordergründig richtig, wenn Sie sagen (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Vordergründig?) – ja –, dass wir, wenn wir den Beitragssatz um 2,4 Prozentpunkte anheben – das bedeutet das –, auf ein Rentenniveau von 53 Prozent kommen. Das gilt für heute, aber das gilt nicht für das Jahr 2030. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch! Habe ich berechnet!) Dann sind wir in anderen Dimensionen. Das haben Sie gestern im Ausschuss noch bestätigt. Dann sind wir bei einem Beitragssatz von 25 Prozent, und so geht es immer weiter nach oben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das ist doch der entscheidende Punkt. Sie sollten doch nicht so tun, als ob man, wenn man heute 30 Euro einzahlt, umstandslos 300 Euro mehr Rente im Jahr 2035 bekommt. So einfach ist es leider nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich glaube, wir sollten die Debatte nutzen, um auf die letzte Woche zurückzublicken, in der Andrea Nahles – ich weiß nicht genau, ob als Bundesarbeitsministerin oder als SPD-Generalsekretärin – das Gesamtkonzept vorgestellt hat. Das war sowohl von der Art und Weise als auch vom Zeitpunkt her denkwürdig. Am Donnerstagabend haben Sie Ihren Rentengipfel und verabschieden drei Punkte – drei Pünktchen, drei kleine, auf die ich noch eingehe. Das ist typisch: die Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Am Freitag, um 10.30 Uhr, setzt sich Andrea Nahles in die Bundespressekonferenz und sagt: Gestern ist eine große Chance vertan worden. – Dann stellt sie plötzlich acht andere Punkte vor. (Kerstin Griese [SPD]: Hat sie sehr gut gemacht!) In der Talkshow bei Anne Will am Sonntag sagte sie dann: Die Union ist jetzt blank. Sie hat nämlich keine Antwort. – Herr Weiß, wie fühlt man sich denn als Koalitionspartner, wenn man in der Art und Weise zusammenarbeiten muss? (Zuruf des Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]) Das ist, finde ich, interessant. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Er hat ihr doch recht gegeben!) Interessant ist auch, dass Volker Kauder im Nachhinein sagt, über das Rentenniveau sei doch gar nicht geredet worden. Es scheint auch noch Uneinigkeit darüber zu herrschen, wie Sie die Ost-West-Rentenangleichung finanzieren wollen, ob über Steuern oder Beiträge. Da geht es wieder hin und her. Das ist symptomatisch für den Zustand der Rentenpolitik der Großen Koalition. Blockade, wechselseitige Missgunst, Sie gönnen sich nicht das Schwarze unter dem Fingernagel, und was herauskommt, ist eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Das ist kläglich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein Beispiel konnten wir jüngst bei der Flexirente besichtigen. Es gab minimale Änderungen, die das längere Arbeiten im Alter nicht wirklich befördern werden. Auch Ihr Rentengipfel ist ein Beispiel für den Befund, den ich eben genannt habe. Bei der Erwerbsminderungsrente sind wir uns über die Fraktionsgrenzen einig, dass wir Verbesserungen brauchen. Das hätte man aber schon damals beim Rentenpaket viel besser machen können. Bei der Betriebsrente, die Sie gerade so gelobt haben, verschweigen Sie, dass Sie nur oder vorwiegend auf die tarifgebundenen Beschäftigten abzielen und die ganzen Beschäftigten, die nicht tarifgebunden sind, besonders die in kleinen und mittelständischen Unternehmen, im Regen stehen lassen. Sie schaffen neue Subventionstatbestände. Im Grunde genommen ist das ein ähnliches Muster wie das, das bei der sogenannten Rente mit 63 verfolgt worden ist. Für diejenigen, die in den tarifgebundenen Großbetrieben sind, wurden Veränderungen gemacht, aber für die anderen nicht. Die Rentenangleichung von Ost und West schieben Sie über viele Jahre hinweg. Wir wollen eine sofortige Rentenangleichung von Ost und West, rechtlich alles klarstellen, den Rentenwert angleichen und die Höherwertung abschaffen. Wenn wir das machen würden, hätten wir das Thema im nächsten Jahr vom Tisch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jetzt möchte ich kurz etwas zum Thema Rentenniveau sagen, worauf sich der Antrag der Linken richtet. Klar ist, dass die Höhe des Rentenniveaus natürlich von zwei Seiten betrachtet werden muss, einmal von der Seite der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, aber auch von der Seite der jetzt Jüngeren, die später für ihre Beiträge ein Rentenniveau haben wollen, das klar ein Leben oberhalb der Armutsgrenze ermöglicht. Das nenne ich Generationengerechtigkeit 2.0. Der Ausgleichsmechanismus über die Riester-Rente – da sind wir uns auch einig – funktioniert in der Breite nicht. Darum diskutieren wir in allen Fraktionen, wie man mit dem Rentenniveau weiter umgeht. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und was sagt ihr?) Ihr Vorschlag funktioniert in dieser Form nicht. Wir sagen: Wir streben eine Stabilisierung auf heutigem Niveau an. Wir wollen uns bei der Finanzierung allerdings nicht gleich auf die Beiträge fokussieren, sondern sie in ein Gesamtkonzept einbetten. Das heißt – das könnte man sofort machen – erstens einmal: eine Steuerfinanzierung der Mütterrente. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Einverstanden!) Zweitens. Wir wollen die Frauenerwerbstätigkeit erhöhen. Das geht nicht mit zusätzlichen Mütterrentenpunkten, sondern durch eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine Neuaufteilung bei der Zeitpolitik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen die Beitragsgrundlagen durch die Bürgerversicherung verbessern. Durch die Bürgerversicherung sollen natürlich in erster Linie Sicherungslücken gerade bei Selbstständigen geschlossen werden. Aber wir schaffen es auch, einen Teil des demografischen Buckels durch die damit verbundene Verbreiterung der Beitragsgrundlage abzumildern. Qualifizierte und gesteuerte Zuwanderung – wir haben einen Gesetzentwurf zum Einwanderungsgesetz vorgelegt – ist ein weiterer Baustein, um die Grundlage der Rentenversicherung zu verbessern. Als Ultima Ratio schließen wir auch eine Beitragssatzerhöhung nicht aus, aber weit entfernt von den lichten Höhen, die Sie dort anstreben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 33 Euro – lichte Höhen? Hallo?!) Diese zusammengesetzten Komponenten machen erst Sinn in einem Gesamtkonzept und nicht durch eine scheuklappenartige Verengung, wie sie die Linkspartei vornimmt, und auch nicht durch eine verkürzte und holzschnittartige Verengung eines Generationengerechtigkeitsbegriffs, wie ihn Herr Spahn ja gern benutzt, der aber am Ende des Tages nur dazu führt, dass die junge Generation keine verlässlichen Renten mehr bekommt. Das durchschaut die junge Generation im Übrigen schon heute, und das kann auch deswegen keine Antwort sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zu einer langfristigen Sicherung des Rentenniveaus und der Umlagefinanzierung gehört natürlich auch, dass wir über längeres Arbeiten sprechen. Das bedeutet, dass wir an die belasteten Beschäftigten denken müssen, die Ausstiegsmöglichkeiten und Ausgleiche bekommen müssen. Aber natürlich werden wir auch darüber debattieren, wie diejenigen, die können, auch länger arbeiten können. Auch das ist eine Möglichkeit, das Rentenniveau zu stabilisieren. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sag das mal den Gerüstbauern!) – Jetzt kommt der Zwischenruf: „Sag das mal den Gerüstbauern!“ – Herr Birkwald, wenn Sie eben zugehört haben, wissen Sie, dass ich gesagt habe: Für belastete Beschäftigte müssen wir besondere Regelungen finden. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Welche?) Wir als Bündnis 90/Die Grünen sind nämlich diejenigen, die sich individuelle Lebenssituationen anschauen. Wenn man keine individuellen Lösungen schafft, wird man bei der Verlängerung der Lebensarbeitszeit auch nicht weiterkommen. Wir nehmen die Ängste der Beschäftigten an dieser Stelle sehr ernst. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Rente nach Berufsgruppen! Wer will das denn haben?) Ich kann allen nur empfehlen, sich den Bericht der Rentenkommission von Bündnis 90/Die Grünen und unsere Beschlüsse vom Parteitag vor drei Wochen anzusehen. Das können die Zuhörerinnen und Zuschauer auch im Internet sehr einfach tun. Da ist eine Reihe von interessanten anderen Aspekten, wie zum Beispiel unsere Garantierente gegen Armut, enthalten. Vizepräsidentin Claudia Roth: Das führt jetzt aber zu weit. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss. – Sie war ja offensichtlich auch in weiten Teilen Vorlage für das Rentenkonzept von Frau Nahles. Sie hat unsere Vorschläge nicht ganz eins zu eins übernommen, sonst wäre es sogar noch besser geworden. Vielen Dank. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Markus Kurth. – Nächste Rednerin: Katja Mast für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Katja Mast (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 15 Jahre nach der letzten Rentenreform hat Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles letzten Freitag ein Gesamtkonzept zur Alterssicherung vorgelegt. Dieses Konzept ist mutig, vorausschauend und bereitet den Weg für eine zukunftsfeste und verlässliche Alterssicherung, und zwar weit über das Jahr 2030 hinaus – mit klaren, doppelten Haltelinien: für ein dauerhaft garantiertes Rentenniveau von mindestens 46 Prozent, für einen maximalen Beitragssatz von 22 Prozent bis 2030 und 25 Prozent bis 2045 und für eine politische Ziellinie von 48 Prozent Rentenniveau und maximal 24 Prozent Rentenbeitrag. An der Stelle will ich meinem Kollegen Peter Weiß zurufen: Peter, wenn die CDU/CSU bereit ist, Leitplanken beim Rentenniveau und bei Beitragssätzen einzuziehen, warum haben wir das im Koalitionsausschuss nicht hinbekommen? (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja gar nicht Thema, sagt der Herr Kauder! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Muss man das nicht sogar Gabriel fragen?) Ich habe das Gefühl, dass deine Kanzlerin und dein Ministerpräsident aus Bayern deiner Haltung an der Stelle nicht ganz gefolgt sind. Außerdem ist in dem Rentenkonzept auch noch viel drin, was das Thema „Kampf gegen Altersarmut“ angeht, von dem ich finde, dass es in der Debatte gerade teilweise nicht so stark war. Wir haben die Punkte Solidarrente – das heißt, dass diejenigen, die lang gearbeitet und einbezahlt haben, mehr haben sollen als andere –, Versicherungspflicht für Selbstständige, die heute besonders von Altersarmut betroffen sind, Verbesserungen für die Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner und Freibeträge, über die auch schon gesprochen worden ist, aufgegriffen. Gesamtkonzept heißt also nicht, dass eine Sache isoliert angeschaut wird; vielmehr wird die gesamte Altersvorsorge in den Blick genommen, und man nimmt auch den Kampf gegen die Altersarmut auf. Keine andere hier vertretene Partei hat ein Konzept vorgelegt, das so mutig ist wie das, das Bundesministerin Andrea Nahles vorgelegt hat. (Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die einen sagen so, die anderen sagen so!) Niemand hier im Raum – keine andere Partei – schaut bis zum Jahr 2045 – (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist „hochseriös“! – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Haben Sie in die Glaskugel geschaut?) da können Sie dazwischenrufen, was Sie wollen –; bei niemandem von Ihnen steht dazu irgendetwas aufgeschrieben. Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Man hätte sich auch einen schlanken Fuß machen können. Auch Bundesarbeitsministerin Nahles hätte das tun können – einige hier tun das auch –; denn die Zahlen bis 2030 sind noch ganz akzeptabel. Deshalb ist es einfach, nur bis 2030 zu rechnen. Danach gehen aber die letzten Babyboomer-Jahrgänge in Rente. Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Mast, erlauben Sie eine Zwischenfrage? Katja Mast (SPD): Lassen Sie mich noch einen Satz sagen. – Dann haben wir in der Rentenversicherung keinen Demografieberg vor uns, wie viele behaupten, sondern ein richtiges Demografieplateau. Vizepräsidentin Claudia Roth: Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe. – Erlauben Sie eine Bemerkung – das ist nämlich auch möglich – oder eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth? Katja Mast (SPD): Wenn er gerne möchte. (Heiterkeit) Vizepräsidentin Claudia Roth: Das scheint so; sonst hätte er ja nicht darum gebeten. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Genau. Ich möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. – Danke, dass Sie sie zulassen, Frau Mast. Sie haben gerade gesagt, dass niemand in der Rentenpolitik so mutig wie die SPD ist. Katja Mast (SPD): Niemand ist so mutig wie Andrea Nahles. Vizepräsidentin Claudia Roth: Moment, den Fragesteller müssen Sie schon ausreden lassen. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt stelle ich mir die Frage – Sie haben gerade davon gesprochen, die SPD plane eine Solidarrente –: Wo hat Sie der Mut verlassen, als Sie eine Woche vor dem Rentengipfel die sogenannte solidarische Lebensleistungsrente schlichtweg beerdigt haben, die doch schon im Koalitionsvertrag vereinbart war? Wieso verkündet die SPD jetzt eigentlich eine Solidarrente, und warum machen Sie sich nicht daran, einfach eine Absicherung für langjährig Arbeitende, deren Rente unter dem Grundsicherungsniveau ist, einzuführen? Dafür hätten Sie doch als Grundlage sowohl eine im Koalitionsvertrag festgehaltene Vereinbarung als auch eine satte Mehrheit hier im Parlament. Wo bleibt denn da der Mut? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Katja Mast (SPD): Vielen Dank, Herr Kollege Kurth, für diese Zwischenfrage. Sie macht es mir noch einmal möglich, den Unterschied zwischen einer Solidarrente und der sogenannten solidarischen Lebensleistungsrente zu erklären. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage war eine andere! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, wo ist der Mut, wollte ich ja wissen! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum eine solidarische Mindestrente?) – Nur durch den Unterschied wird klar, warum man manche Dinge nicht umsetzt: weil man damit Themen verbrennt. Das weiß Herr Kurth genauso gut wie ich, und deshalb möchte ich das Ganze gern erklären, indem ich den Unterschied aufzeige. Die SPD ist, übrigens schon im letzten Wahlkampf, angetreten mit dem Vorhaben, die Zahlung einer Solidarrente an das langjährige Einzahlen in die Rentenversicherung – mindestens 35 Jahre – zu koppeln. – Unser Koalitionspartner, angetrieben auch durch die frühere Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, die ja eine Lebensleistungsrente einführen wollte, will unbedingt eine Kopplung an die private Altersvorsorge. Genau an diesem Punkt wird es schwierig; denn diejenigen Menschen, die wenig verdienen, sorgen in der Regel auch nicht privat vor. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wovon denn auch?) – Ja, klar. – Deshalb ist diese Kopplung mit einem weiteren Faktor zu einem großen Ausschlusskriterium für Menschen geworden, die lange eingezahlt haben. Daher sagen wir: Es ist sinnvoll, nicht etwas Schlechtes für die Menschen umzusetzen, sondern in diesem Fall tatsächlich etwas Gutes, das viele Menschen betrifft und nicht nur wenige. Deshalb sagen wir an dieser Stelle: Nein zur solidarischen Lebensleistungsrente, wie sie im Koalitionsvertrag vereinbart ist, und Ja zur steuerfinanzierten Solidarrente.  –Vielen Dank. (Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war mutig, ja!) Aus meiner Sicht ist die zentrale Zukunftsfrage: Wie geht es in der Rentenversicherung nach 2030 generationengerecht weiter? Sie von der Linken werfen uns von der SPD – ich zitiere – „Beitragsdogmatismus“ vor. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja! Mit was? Mit Recht!) Das ist zumindest intellektuell unredlich; denn uns geht es doch gerade um zwei Dinge, nicht nur um eine Sache: auf der einen Seite das Rentenniveau zu sichern und auf der anderen Seite auch eine klare Beitragssatzzusage zu machen. Da kommt noch etwas hinzu. Beim Thema Beitragssätze dürfen Sie auch nicht vergessen: Wir dürfen über die Beiträge zur Rentenversicherung nicht isoliert diskutieren. Die Frage, wie sich die Beitragssätze in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung entwickeln, muss auch gesamtgesellschaftlich eine Rolle spielen. Ich fände es viel spannender, mit Ihnen darüber zu diskutieren, ob wir neben einem vorausschauenden Rentenversicherungsbericht – den haben wir ja in der Bundesrepublik Deutschland – nicht endlich auch zu einem vorausschauenden Bericht bei der Kranken- und Pflegeversicherung kommen könnten. Denn dann könnten wir an der Stelle eine echte Belastung des Faktors Arbeit diskutieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Da Demografie aber nicht nur eine Frage von Beitragssätzen und Rentenniveau ist, schlagen wir einen steuerfinanzierten Demografiezuschuss in der gesetzlichen Rentenversicherung vor, den alle bezahlen, und nicht nur die abhängig Beschäftigten und ihre Arbeitgeber. Eigentlich hätte ich mir gewünscht, dass die Linke heute hier sagt: Jawohl, die SPD schlägt mehr Steuermittel für die Rentenversicherung vor; da gehen wir mit. – Das habe ich aber leider nicht gehört. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Eigentlich ist Ihre Redezeit seit geraumer Zeit zu Ende. Katja Mast (SPD): Noch einen Schlusssatz. – Ich will an die Bürgerinnen und Bürger appellieren, in der Rentendebatte, die wir in den nächsten Wochen und Monaten sicherlich munter führen werden, genau zuzuhören. Hören Sie nicht nur immer auf die einfachen Antworten; denn die sind in der Rentenversicherung meistens nicht umsetzbar – und wenn doch, dann sind sie extrem teuer. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein letzter Satz! Das war mehr als ein Satz! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Schauen Sie mal nach Österreich!) Schauen Sie einfach, wer Ihnen echte Zahlen bis 2045 vorlegt, und dann diskutieren Sie darüber mit Ihren Abgeordneten und anderen Akteuren. Ich freue mich auf diese Debatte. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Fragen Sie mal, warum wir es nicht so wie Österreich machen!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Frau Kollegin Mast. Ich bitte Sie wirklich, tendenziell die Redezeit einzuhalten. Wir sind zwar in der Adventszeit, aber auch unglaublich weit im Zeitplan zurück. Ich bitte Sie, das Blinken am Redepult ernst zu nehmen. Sonst wird den anderen Kollegen Zeit abgezogen. Der nächste Redner ist Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Stephan Stracke (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte gibt einen kleinen Vorgeschmack auf die Auseinandersetzungen, die wir im nächsten Jahr erwarten dürfen. Der Rentenwahlkampf ist eröffnet. Die Oppositionsparteien und die SPD scheint ja eines bei dieser heutigen Debatte zu einen: Sie liefern sich einen Überbietungswettbewerb – einen Wettbewerb darum, wer den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch zusätzliche Beiträge tiefer in die Tasche greifen will. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die kriegen ja auch mehr raus!) Das eint Sie. Der Ansatz der Union ist in diesem Bereich ein ganz anderer. Wir wollen an dem Beschäftigungsniveau, das wir derzeit haben, festhalten. Wir sehen derzeit nicht diesen Handlungsbedarf mit Blick auf das Rentenniveau, sondern meinen, dass wir alles für die richtigen politischen Weichenstellungen für die Zukunft tun müssen. Das bedeutet vor allem, die richtige Arbeitsmarktpolitik zu machen. Und bei der Beschäftigung, bei den Arbeitslosenzahlen sind wir in den letzten Jahren sehr erfolgreich; da haben wir sehr viel erreicht. Drei von vier Frauen sind heute erwerbstätig, und auch die älteren Beschäftigten verbleiben länger im Arbeitsleben. Das ist eine sehr gute Entwicklung. Dennoch verschließen wir natürlich auch nicht die Augen vor den demografischen Entwicklungen, die auf uns zukommen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nichts zur Produktivität! Nichts zum Wirtschaftswachstum!) Es wird wirklich tiefgreifende Veränderungen geben, wenn sich die Anzahl derjenigen im Erwerbstätigenalter in der Bevölkerung Mitte der 2030er-Jahre von 50 Millionen auf 36 Millionen reduzieren wird und es 40 Prozent mehr Rentner als heute geben wird. Das bedeutet, dass wir einer stabilen Demografiebrücke bedürfen. Deswegen bedarf es eines Gesamtpakets. Und dazu gehören auch gute Löhne. Deswegen sind die Tarifbindung und die Anbindung von tariflich abgeschlossenen Lohnvereinbarungen so notwendig. Dazu trägt auch der Mindestlohn ein Stück weit bei. Natürlich müssen wir auch alles tun, damit das Beschäftigungsniveau so lange wie möglich auf dem jetzigen Stand gehalten werden kann. Deswegen tun wir auch alles, um die Arbeitslosigkeit zurückzudrängen. All das tun wir, weil die Rente letztlich das Spiegelbild des Erwerbslebens darstellt. Deswegen gehört zu einer guten Sozialpolitik, die Bildungspolitik weiter in den Mittelpunkt zu stellen – das tut Bayern beispielsweise vorbildlich –, aber auch die Gesundheitsförderung, die Prävention und die Reha. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Arbeitsplätze Menschen krank und kaputtmachen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen das Renteneintrittsalter tatsächlich erreichen können. Auch dafür hat diese Große Koalition schon sehr viel getan. Was das Rentenniveau angeht: Wenn man sich das einmal ansieht, stellt man fest: Es ist weitaus besser, als alle Prognosen besagen. Das hat viel mit der derzeit guten wirtschaftlichen Lage und mit der Anzahl an sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen zu tun. Deshalb ist es so wichtig, genau darauf den Akzent zu setzen. Tendenziell wird ein viel zu niedriges Rentenniveau ausgewiesen. Darauf weist beispielsweise die Deutsche Bundesbank in ihrem Bericht vom August dieses Jahres hin. Zum einen wird die Erhöhung des Renteneintrittsalters nicht wirklich abgebildet. Das Rentenniveau wird also eher weit weniger sinken, als wir überall lesen. Zum anderen wird das Gesamtversorgungsniveau sehr wohl stabilisiert, und zwar durch die Riester-Rente. Auch darauf weist die Deutsche Bundesbank hin. Das gilt auch im Zeitalter der Niedrigzinspolitik. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: War das nicht Ihr Parteichef, der gesagt hat: „Riester ist gescheitert“?) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir setzen vor allem da an, wo typische Armutsrisiken bestehen. Das betrifft die Erwerbsgeminderten. Derzeit sind 500 000 Erwerbsgeminderte auf Grundsicherung im Alter angewiesen; dies ist ein schwerwiegendes Thema. Es sind im Übrigen 320 000 mehr als 2003. Deswegen hat diese Große Koalition bereits in ihrem Rentenpaket mit der Erhöhung der Zurechnungszeit reagiert. Wir werden dies nochmals tun. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was macht ihr für die, die schon in der Erwerbsminderungsrente sind? Nichts!) Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, um gerade in diesem Bereich zu helfen. Deswegen machen wir hier entsprechend weiter. Bei der Rentenleistung im Alter wollen wir diejenigen, die ein Leben lang gearbeitet und auch vorgesorgt haben, besserstellen als diejenigen, die nicht gearbeitet haben und sich nicht um ihre Altersvorsorge gekümmert haben. Arbeit und Vorsorge müssen sich im Alter auszahlen. Das heißt aber auch: Die Zugangsvoraussetzung für eine Besserstellung muss ein kapitalgedecktes Standbein sein. – Das sieht der Koalitionsvertrag auch so vor. Frau Nahles möchte mit ihrer Solidarrente bereits die langjährige Zahlung von Beiträgen in die gesetzliche Rente genügen lassen. Das ist ein zentraler Webfehler dieses Konzepts. Deswegen lehnen wir die Vorschläge in diesem Bereich ab. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ihr seid also gegen die gesetzliche Rentenversicherung? Habe ich das richtig verstanden?) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die gesamte Diskussion, die wir führen, konzentriert sich auf die Rente. Dabei spielt natürlich auch die Frage der richtigen Balance zwischen denen, die derzeit in Rente sind, und denen, die für die Rentenzahlung aufkommen, eine erhebliche Rolle. Deswegen müssen wir da ganz genau aufpassen. Ich vermisse in dieser Debatte eines. Wir konzentrieren uns ausschließlich auf den Bereich der Rente. Wir sollten aber die Entwicklungen in der Pflege und in der gesetzlichen Krankenversicherung genauso in den Blick nehmen. Nur wenn wir alle drei Sozialversicherungssysteme in den Blick nehmen, führen wir hier eine solide Debatte über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Das darf nicht isoliert betrachtet werden, weil man sonst nur einen begrenzten Blickwinkel hat. Wir treten dafür ein, dass wir Pflegeversicherung, Krankenversicherung und Rentenversicherung zusammen in den Blick nehmen. Dafür bietet sich das an, was wir in den letzten Jahren so erfolgreich gemacht haben, nämlich eine breite gesamtgesellschaftliche Debatte, flankiert durch entsprechende Kommissionen. Das halte ich in diesem Bereich für geboten. Ein herzliches Dankeschön. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Stephan Stracke. – Nächster Redner: Dr. Martin Rosemann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Martin Rosemann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir heute ein Zwischenfazit nach drei Jahren Großer Koalition ziehen, dann können wir sagen: In der Rentenpolitik hat diese Regierung nur Verbesserungen geschafft: den vorzeitigen Rentenzugang für besonders langjährig Versicherte, die Mütterrente, (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein teurer Spaß war das! Zahlen leider die Beitragszahler! – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wäre nichts besser gewesen!) Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente, Stärkung von Prävention und Rehabilitation. Hinzu kommt die höchste Rentenerhöhung, die es jemals im vereinigten Deutschland gegeben hat. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wird es nie wieder geben! War ein Statistikfehler! Das wisst ihr auch!) Jetzt kommt auch noch die West-Ost-Angleichung dazu, meine Damen und Herren. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sollen das wieder die Beitragszahler zahlen?) Also in Richtung Linke: Während Sie hier schöne Anträge schreiben, sind wir im Maschinenraum und arbeiten an wirklichen Verbesserungen für die Menschen in Deutschland. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allen Dingen schlagen Sie Lecks!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles für zwei Dinge danken: erstens für ihr Gesamtkonzept, weil dieses Konzept endlich Klarheit schafft, endlich verlässliche Zahlen über die Kosten von verschiedenen politischen Maßnahmen auch in der Zukunft liefert. Damit findet die Debatte über Rentenpolitik nicht mehr im luftleeren Raum statt, auch wenn ich, ehrlich gesagt, wenig Hoffnung habe, dass sich die Populisten von links und rechts daran orientieren werden. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Von links gibt es hier keine!) Zweitens. Ich möchte Andrea Nahles dafür danken, dass sie beim Thema „Vermeidung von Altersarmut“ so gekämpft hat. Dass wir nach der ersten Verbesserung bei der Erwerbsminderungsrente jetzt noch einmal eine Schippe drauflegen, ist so wichtig; denn Erwerbsminderung ist ein großes Risiko für Altersarmut in unserem Land. In diesem Zusammenhang muss ich sagen, dass ich es sehr bedauerlich finde, dass sich CDU und CSU bei der Solidarrente verweigert haben. Das wäre auch ein zielgenauer Schritt zur Verhinderung von Altersarmut gewesen. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine zweite Sozialhilfe!) Denn für uns Sozialdemokraten gilt: Wer sein Leben lang gearbeitet hat, darf nicht zum Sozialamt geschickt werden. (Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da braucht ihr aber mehr als 46 Prozent Rentenniveau! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das machen wir doch!) Bedauerlich ist auch die Verweigerung der Union bei der doppelten Haltelinie. Diese hätte für mehr Planungssicherheit gesorgt, und das hätte das Vertrauen in die Rentenpolitik und in die Politik insgesamt gestärkt. Offenbar fehlt es bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, an Mut zu Entscheidungen. Was wir aber nicht durchgehen lassen werden, ist, dass manche von Ihnen vor der Absenkung des Rentenniveaus warnen und die anderen jede Beitragserhöhung und jede Ausweitung des Steuerzuschusses ablehnen oder am besten wie Horst Seehofer gleich beides. Erst im April forderte er die Stabilisierung des Rentenniveaus. Jetzt spricht er davon, es dürfe keine Beitragserhöhung geben und auch nicht mehr Steuermittel. (Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, der kann zaubern, der Seehofer!) Für uns ist klar: Es geht um ein Leben in Würde, auch im Alter. Es geht um Teilhabe, es geht darum, Altersarmut zu verhindern, aber auch sozialen Abstieg. Deshalb gilt für uns: Erstens. Die gesetzliche Rente ist und bleibt die zentrale Altersvorsorge in Deutschland. (Beifall bei der SPD) Zweitens. Der demografische Wandel ist nur zu bewältigen, wenn die Lasten gerecht zwischen den Generationen verteilt werden. Deswegen brauchen wir bei der Alterssicherung mehr als nur ein Standbein. Lieber Matthias Birkwald, ich habe gestern im Ausschuss am Beispiel Ihrer eigenen Zahlen erklärt, wie man mit Kapitaldeckung die Lasten zwischen den Generationen gerechter verteilen kann. Sie haben offenbar nicht ausreichend zugehört. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch, doch! Ich höre Ihnen zu! Ich höre Ihnen immer zu!) Wir machen dann im nächsten Ausschuss noch einmal eine Lehrstunde. Drittens. Soziale Sicherung im Alter muss unabhängig von der Erwerbsform sein. Deshalb wollen wir Selbstständige Schritt für Schritt in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen, aber der Besonderheit der Einkommenserzielung bei Selbstständigen bei der Beitragserhebung Rechnung tragen und Selbstständige an anderer Stelle entlasten. Viertens. Wir brauchen keine Diskussion über die weitere Erhöhung einer starren Regelaltersgrenze, sondern müssen den Weg flexibler und individueller Übergänge, die sich an der jeweiligen Erwerbsbiografie orientieren, fortsetzen, wie wir es mit dem Flexigesetz begonnen haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Fünftens. Klar ist auch: Nicht alle Probleme lassen sich in der Rentenpolitik lösen. Rente ist immer ein Spiegelbild der Erwerbsbiografie. Deswegen kommt dem Zusammenhang von guter Arbeit, guten Löhnen und guter Rente eine große Bedeutung zu. Deswegen beginnt Rentenpolitik bei der Bildung, geht weiter über Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Es geht ferner um eine bessere Bezahlung von Frauen und eine bessere Teilhabe von Frauen am Arbeitsleben. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann macht doch mal! Ja, das stimmt alles! Diese Koalition – Fehlanzeige!) Und es geht darum, dass wir gerade in einer Zeit, in der die Umbrüche im Erwerbsleben zunehmen, die Beschäftigten bei diesen Umbrüchen durch präventive unterstützende Sozialpolitik während des Arbeitslebens besser begleiten, und zwar durch Prävention, Rehabilitation, Weiterbildung und Beratung. Auch da sind wir im Maschinenraum unterwegs. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Martin Rosemann. – Nächste Rednerin: Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Jana Schimke (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wurde kürzlich von einem Schülerpraktikanten der neunten Klasse gefragt, wie ich bei meiner politischen Arbeit für Generationengerechtigkeit sorge. Schließlich sei das, so sagte er, angesichts so mancher Vorschläge, aber auch Entscheidungen der Vergangenheit ja nicht so leicht. In meiner Antwort machte ich dann deutlich, dass es natürlich darauf ankomme, bei Gesetzgebungsvorhaben die richtigen politischen Entscheidungen zu treffen. Ich sagte ihm aber auch, dass die Sicherstellung von Generationengerechtigkeit auch bedeute, hier im Deutschen Bundestag einen täglichen politischen Abwehrkampf zu fechten. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) Wogegen? (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wogegen?) Gegen jene politischen Kräfte, die den durch tiefgreifende Reformen erarbeiteten Wohlstand schlichtweg verfrühstücken wollen (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit der Mütterrente und ihrer Beitragsfinanzierung, oder was? – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Da, bei der Linken, da sitzen sie! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wo sollen die sein, die Kräfte? Wer soll das sein? Ist doch keiner da!) und unseren Sozialstaat als Selbstbedienungsladen verstehen, oder – um es kurz zu machen – gegen Anträge wie jenen, der hier heute diskutiert wird. Da heißt es: „Zeit für einen Kurswechsel“. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!) Allerdings stelle ich mir unter einem Kurswechsel etwas anderes vor, als Politik von gestern und auf Kosten künftiger Generationen zu machen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zugunsten künftiger Generationen! Sie haben es nicht verstanden!) Die Linke fordert in ihrem Antrag, jene Faktoren, die die Rente bisher bezahlbar machen, zugunsten eines hohen Rentenniveaus aufzugeben. Konkret soll dazu die im Gesetz festgeschriebene Deckelung des Beitragssatzes aufgehoben werden. Das bedeutet aber, der von den Arbeitnehmern zu erbringende Beitrag zur Rentenversicherung könnte beliebig steigen, um die Renten auf einem bestimmten Niveau zu halten. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Für die Arbeitgeber auch!) Dass aber ein umlagefinanziertes System, das von den Beiträgen der Beschäftigten lebt, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und der Arbeitgeber!) immer auch Solidarität in beide Richtungen erfordert, genau aus dem Grunde, dass es sonst die Gesellschaft nicht mitträgt, lassen Sie dabei außer Acht. Es ist erschreckend, meine Damen und Herren, für wie selbstverständlich die Linke die Beiträge und die Leistungen jener erachtet, die unseren Sozialstaat tragen. (Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN – Lachen des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE]) Wenn wir Generationengerechtigkeit wollen und den Generationenvertrag achten, dann müssen wir auch jene im Blick behalten, die dafür heute mit ihren Beiträgen geradestehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich gehe mit Ihnen mal auf ein Podium! Dann probieren wir das mal aus!) Der willkürliche Umgang mit dem Beitragssatz lässt das Vertrauen in unseren Sozialstaat und seine Akzeptanz schwinden. Solche Forderungen lassen sich nur damit erklären, dass man entweder die demografische Entwicklung in unserem Land vollends ignoriert und die gesetzliche Rente in der Zukunft mit noch mehr Steuergeldern bezuschussen, also die gute Haushaltspolitik der letzten Jahre über Bord werfen will, oder die Steuerzahler mit noch höheren Beiträgen zur Rentenversicherung belasten will. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Falsch! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie doch!) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie machen Politik auf Kosten anderer, auf Kosten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die haben dann mehr in der Tasche!) und insbesondere der jungen Menschen in unserem Land. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie werden nach Ihren Plänen künftig (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mehr in der Tasche haben!) exorbitant mehr zahlen und am Ende weniger Netto in der Tasche haben. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mehr in der Tasche! – Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Jeder zusätzliche Prozentpunkt bei den Beiträgen zur Sozialversicherung kostet aber Jobs und Geld. „Herzlichen Glückwunsch!“ kann man dazu nur sagen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mehr in der Tasche!) Mit der Forderung nach Abschaffung des Nachhaltigkeitsfaktors legen Sie auch die Axt an jenes Element bei der Rente, das jüngeren Generationen einen natürlichen Schutz vor den Begehrlichkeiten auch der Politik bietet. Der Nachhaltigkeitsfaktor ist deshalb so wichtig, meine Damen und Herren, weil er bei der jährlichen Rentenanpassung das Verhältnis von Beitragszahlern und Rentenbeziehern berücksichtigt. Dort rangehen zu wollen, bestätigt, dass Sie schlichtweg keine anderen Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft haben. Sie schieben Probleme vor sich her und vergrößern sie damit zusätzlich. Wir reden ja viel von Nachhaltigkeit – in der Umwelt, in der Bildung und in der Wirtschaft. In der Renten- und Sozialpolitik aber erhält Nachhaltigkeit eine existenzielle Bedeutung. Das muss man können und wollen. Sie, verehrte Kollegen der Linken, können und wollen es nicht. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Was Sie alles wissen!) Deshalb ist es gut, dass Sie im Bund nicht über die Geschicke unseres Landes bestimmen. Meine Damen und Herren, ich glaube, wir brauchen andere Lösungen. Fakt ist auch: In Zeiten einer älter werdenden Gesellschaft kann die Antwort eben nicht lauten, dass die gesetzliche Rente allein es schon richten wird. Ich würde behaupten, dass die Mehrzahl der Menschen in meiner Generation das auch so sieht. Wir müssen deswegen den Menschen vielmehr die Möglichkeit geben, ihre Rente noch stärker auch durch das eigene Erwerbsverhalten zu beeinflussen. Genau das berücksichtigen die Beschlüsse und Maßnahmen der vergangenen Monate. Mit der Einführung der Flexirente, die heute schon mehrfach angesprochen wurde, haben wir Anreize dafür gesetzt, dass sich längeres Arbeiten lohnt, für Arbeitnehmer, aber auch für Arbeitgeber. Wir schaffen dadurch mehr Flexibilität und mehr Freiheit, und wir stärken die Eigenverantwortung der Menschen. Wir müssen den Menschen aber auch den Raum lassen und die Möglichkeit geben, mit ihrem Einkommen in alternative Anlageformen zu investieren. Niedrige Steuern und angemessene Sozialbeiträge sind dafür zunächst die Voraussetzung. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Höhere Löhne wären auch nicht schlecht!) Darauf aufbauend wollen wir künftig wieder den Erwerb von Grundeigentum unterstützen; denn Grundeigentum ist Garant für soziale Stabilität, vor allen Dingen im Alter. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Uckermark, was? – Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da ist es günstiger, Markus!) Doch die Niedrigzinsphase führt nicht nur dazu, dass traditionelle Anlageprodukte immer weniger attraktiv sind, sie führt auch dazu, dass junge Familien mit einem durchschnittlichen Einkommen sich infolge steigender Grundstücks- und Baupreise eben kein Eigenheim mehr leisten können. Das Budget ist oftmals schon mit dem Erwerb des Grundstücks aufgebraucht. Deshalb ist es wichtig, in diesem Bereich mehr politische Unterstützung zu geben. Und: Wir wollen auch die zweite und dritte Säule in unserem Vorsorgesystem stärken; das wurde heute auch schon mehrfach angesprochen. Die Linke würde das alles am liebsten abschaffen, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was?) aber wir halten daran fest, weil es sich bewährt hat. Gut die Hälfte der heutigen Rentner haben Einkommen aus betrieblicher und privater Vorsorge. In Deutschland gibt es mehr als 20 Millionen aktive Anwartschaften aus der betrieblichen Altersvorsorge. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie viele davon sind Entgeltumwandlung oder haben doppelte Krankenversicherungsbeiträge? Die Leute werden dann weinen, wenn sie das sehen!) Mehr als 70 Prozent der heutigen Arbeitnehmer haben einen Anspruch auf eine Zusatzrente. Diese Zahlen zeigen, meine Damen und Herren, dass die Menschen in unserem Land erkannt haben, dass für eine auskömmliche Altersvorsorge Zusatzrenten wichtig und richtig sind. Dazu – um einen letzten Gedanken zu äußern – liegt mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz ein Vorschlag auf dem Tisch, den wir in den kommenden Wochen beraten werden. Die größte Herausforderung ist dabei zweifelsohne, herauszufinden, wie es uns gelingen kann, mit dem Gesetz eben nicht nur tarifgebundene Unternehmen zu erreichen. Unser Ziel ist und bleibt, Politik für alle Menschen in Deutschland zu machen, und dazu zählt der größte Teil der Unternehmen in unserem Land, ebenjene, die nicht tarifgebunden sind und keinen Tarifvertrag anwenden. Einen wahrlichen Kurswechsel im Vorschlag zur betrieblichen Altersvorsorge stellt auch der Übergang zu einer Zielrente bzw. einer reinen Beitragszusage dar. Diese hat sich bereits im europäischen Ausland bewährt, und damit gäbe es in der Tat eine denkbare Alternative zur Garantierente, die immer weniger für die Versicherten abwirft und Unternehmen in die Haftung nimmt. Betriebliche Altersvorsorge könnte damit auch künftig auf andere Anlageformen zurückgreifen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zocken mit den Beiträgen der Arbeitnehmer!) Meine Damen und Herren, wir neigen in vielen Bereichen der Politik dazu, Freiheit und Eigenverantwortung zugunsten von Sicherheit und Garantien zu opfern. Damit entgehen uns aber auch Chancen, die wir angesichts demografischer Veränderungen und der Ausgestaltung der europäischen Zinspolitik angehalten sind zu nutzen. Lassen Sie uns über den Tellerrand hinwegschauen. Unsere Kinder und späteren Enkel werden es uns danken. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Jana Schimke. – Nächster Redner: Ralf Kapschack für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]) Ralf Kapschack (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Eine Bemerkung vorweg: Ich könnte mir Markus Kurth sehr gut als Supergrobi in der Sesamstraße vorstellen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns, für die Sozialdemokraten, ist die gesetzliche Rente die zentrale Säule der Altersversorgung, und sie soll es bleiben. Das hat Andrea Nahles vor einer Woche noch einmal sehr deutlich gemacht. Sie hat ein Konzept vorgelegt und eben nicht bloß die Forderung nach Einführung der Rente mit 70 in die Welt gesetzt, wie manch einer unserer politischen Lebensabschnittspartner aus der CDU/CSU (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Nicht auf mich gucken!) – irgendwo muss ich hingucken –, als sei mit der Rente mit 70 ein Problem gelöst. Kein einziges Problem ist gelöst, ganz im Gegenteil. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Viele schaffen es jetzt schon nicht, bis 65 durchzuhalten. Deshalb haben wir erst vor ein paar Wochen hier mit den Möglichkeiten zum flexiblen Übergang neue Wege eröffnet, um den Übergang vom Job in die Rente für ältere Beschäftigte leichter zu machen, um es ihnen zu erleichtern, das normale Renteneintrittsalter zu erreichen. Und jetzt sollen sie gleich bis 70 weitermachen? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Eine flotte Forderung nach der Rente mit 70 bringt sicher Schlagzeilen, eine Lösung bringt sie nicht. Und: Solche simplen Parolen erschüttern das Vertrauen vieler Menschen in den Sozialstaat, und das ist das Letzte, was wir im Moment gebrauchen können. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb bin ich froh, dass die Arbeits- und Sozialministerin es sich nicht so leicht gemacht hat und nur auf kurze Sicht gefahren ist, wie manche empfohlen haben. Sie hat klare Vorstellungen formuliert, wie mit einer Solidarrente – das ist schon gesagt worden – Menschen, die lange gearbeitet haben, der Weg in die Grundsicherung erspart bleibt. Sie hat klar formuliert, dass bei den Erwerbsminderungsrenten weitere Verbesserungen dringend notwendig sind. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Der erste große Schritt zu einer Erwerbstätigenversicherung ist ebenfalls klar formuliert worden. Ja, Andrea Nahles hat auch deutlich gemacht – ich will mich da gar nicht drum herumdrücken –, dass das Niveau der gesetzlichen Rente nicht so stark sinken soll, wie ursprünglich vorgesehen. Ich persönlich bin der Meinung: Das Niveau der gesetzlichen Rente darf nicht weiter sinken. (Beifall bei der SPD) Deshalb habe ich persönlich sehr große Sympathien für die Forderung der Gewerkschaften nach einer Stabilisierung des aktuellen Niveaus und einer langfristigen Anhebung. Natürlich gibt es konkrete Vorschläge, wie das generationengerecht finanziert werden kann. Darüber wird auch in meiner Partei sehr intensiv diskutiert. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir da eine gute Lösung finden werden. (Beifall bei der SPD) Ich sage aber auch ganz klar: Das, was im Antrag der Linken steht – mindestens 53 Prozent –, hört sich ein bisschen so an wie: Wir können auch noch mehr. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: In Österreich geht das!) Die beste Ergänzung zur gesetzlichen Rente ist für die SPD die betriebliche Altersversorgung als private und zugleich kollektive Vorsorge. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie ist Ergänzung, um das klar zu sagen, kein Ersatz. Anders als die Linke wollen wir nicht einfach darauf verzichten. Die betriebliche Altersversorgung ist ein eingeführtes, bewährtes Instrument. Mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz wird die Ministerin dem Parlament demnächst ihren Vorschlag präsentieren, wie die Altersversorgung ausgebaut werden kann. Aus unserer Sicht muss es darum gehen, gerade Beschäftigten in kleinen und mittleren Unternehmen einen besseren Zugang zu Betriebsrenten zu ermöglichen – tarifvertraglich, wo es geht, aber auch dort, wo es keine Tarifverträge gibt. Es muss auch darum gehen, dass für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit kleinen Einkommen eine Betriebsrente selbstverständlich wird. Deshalb soll es einen speziellen Förderbetrag für Geringverdiener geben, und – das ist auch schon angesprochen worden – Betriebsrenten sollen künftig nicht mehr vollständig auf die Grundsicherung angerechnet werden. Ich würde das nicht eine Revolution nennen, aber das ist ein Riesenfortschritt. (Beifall bei der SPD) Auch das hat etwas mit Gerechtigkeit und mit Vertrauen zu tun; denn es ist richtig, diejenigen besserzustellen, die trotz kleinem Einkommen für das Alter vorsorgen, als andere, die eben nicht vorsorgen. All dies könnte mehr Frauen und Männern helfen, als Ergänzung zur gesetzlichen Rente auch eine Betriebsrente zu erwerben – als Ergänzung, nicht als Ersatz. Vizepräsidentin Claudia Roth: Denken Sie an Ihre Redezeit? Ralf Kapschack (SPD): Ich komme zum Schluss. – Denn im Mittelpunkt bleibt für uns die gesetzliche Rente, ohne Wenn und Aber. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kollege Kapschack. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Kerstin Griese für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Kerstin Griese (SPD): Danke schön. – Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Was kann ich zum Ende dieser Debatte sagen? Immer wenn die Bundesregierung Verbesserungen macht – sei es die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren, die Mütterrente oder die Rente für Erwerbsgeminderte – oder, wie die Ministerin es jetzt tut, ein gutes, durchgerechnetes Konzept für die Rente vorstellt, dann holt die Linke ihr altes Konzept heraus, packt es in einen neuen Antrag, schreibt eine neue Überschrift darüber und sagt: Das Rentenniveau von 53 Prozent wird angehoben. Sie sagt aber kein Wort dazu, wie das richtig finanziert werden soll. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein! Muss angehoben werden!) Damit bleibt die Rente nicht sicher. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Rentenniveau ist ja nur bei 48 Prozent! Muss angehoben werden!) Wir wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es so einfach nicht ist. Es ist auch unverantwortlich, immer einfach nur mehr zu fordern. Die Menschen wissen, dass wir nicht einfach so weitermachen können; denn würden wir es einfach so weiterlaufen lassen – das können Sie in den Berechnungen von Frau Ministerin Nahles nachlesen –, würde das Rentenniveau im Jahr 2045 auf 41,7 Prozent sinken, die Beiträge aber auf über 25 Prozent steigen, und das wäre unverantwortlich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Rechnen Sie das mal in Euro um bei steigenden Beiträgen! Das machen Sie immer alle nicht!) Wir haben ganz andere Probleme, und die Menschen wissen das. Ich finde, man kann über Generationengerechtigkeit auch in einem Grundton reden, der davon zeugt, dass wir uns das solidarische Miteinander der Generationen und die soziale Gerechtigkeit zum Ziel nehmen. Wir wissen, dass wir da etwas tun müssen. 1950 haben noch sechs Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Rentner finanziert, heute sind es drei, und 2030 werden es zwei sein. Darauf muss man eine verantwortungsvolle und zukunftsweisende Antwort finden. (Beifall bei der SPD) Unsere Politik und übrigens der hervorragende Arbeitsmarkt, der ja auch etwas mit unserer Politik zu tun hat, haben dazu beigetragen, dass wir in diesem Jahr die höchste Rentenerhöhung seit über 25 Jahren hatten. Der Beitragssatz liegt bei 18,7 Prozent und das Rentenniveau bei 47,7 Prozent. Das sind gute Zahlen. Das zeigt, dass gute Rentenpolitik und gute Arbeitsmarktpolitik zusammengehören. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mir geht es um die Wahrung der Generationengerechtigkeit, um das solidarische Miteinander. Wir sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten machen keine wolkigen Rentenversprechungen zulasten der jungen Generation. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir auch nicht!) Ich höre immer wieder: Ach, das macht ja nichts, wenn die Beiträge um 1, 2 oder 3 Prozent steigen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] Da kommt doch viel mehr Rente raus dann!) Aber das ist netto wirklich weniger für die Menschen. Die Menschen merken das, auch wenn sich Mitglieder der Linkenfraktion das scheinbar nicht vorstellen können. Menschen merken das, wenn eine niedrigere Zahl auf dem Gehaltszettel steht. (Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich habe mit denen geredet! Die sagen, das wäre super: Den Riester-Quatsch weg, gesetzliche Rente! Da sparen wir 75 Euro im Monat!) Wir wollen einen Ausgleich zwischen den Generationen. Denn das ist verantwortungsvolle Politik. Auch ich danke Ministerin Nahles, dass sie ein umfassendes Konzept zur Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung vorgelegt hat. – Denn wir kümmern uns um alle Generationen: um gute Renten für die Älteren und um bezahlbare Beiträge für die Jüngeren, die heute arbeiten. Damit ist dies auch ein gutes und wichtiges Konzept gegen Altersarmut. (Beifall bei der SPD) Das Konzept bedeutet Verbesserungen für alle Menschen. Das wichtigste Versprechen des Sozialstaates ist, dass man auch im Alter sicher leben kann. Wir tun etwas gegen Altersarmut und sorgen dafür, dass der Lebensstandard gesichert ist. Deshalb finde ich es so gut, dass wir gezielt schauen, wo man etwas gegen Altersarmut tun muss. Wir haben bei den Erwerbsminderungsrenten schon einiges verbessert und gehen jetzt in dieser Koalition weitere Schritte, damit die betroffenen Menschen monatlich etwa 100 Euro mehr in der Hand haben werden. Das hilft echt gegen Altersarmut. Das hilft den erwerbsgeminderten Menschen wirklich. Das ist verantwortungsvolle Rentenpolitik. (Beifall bei der SPD) Wir wollen auch für die Selbstständigen etwas tun. Wir haben gesehen, dass auch die Selbstständigen in Gefahr sind, im Alter arm zu werden. Deshalb ist es aus Sicht der SPD wichtig, auch die Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Das stärkt die Rentenversicherung, und das hilft den Selbstständigen dabei, eine gesicherte Altersversorgung zu haben. Deshalb ist das ein wichtiges Thema, eine wichtige Komponente in der Rentenpolitik. Mit der Solidarrente, einer Alterssicherung oberhalb der Grundsicherung für diejenigen, die 35 Jahre eingezahlt haben, machen wir einen weiteren Vorschlag, der für Sicherheit im Alter sorgt; dadurch wird anerkannt, dass Menschen gearbeitet haben. Ich finde, das ist eine richtig gute Sache, um Altersarmut gezielt vorzubeugen. Der Vorschlag, den Frau Nahles vorgelegt hat, ist im Gegensatz zu dem von den Linken klar durchgerechnet. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich habe Ihnen das doch auch vorgerechnet!) Er ist nachhaltig, er ist umsetzbar, und er würde Verbesserungen für alle Menschen bedeuten. Das ist das Gute daran. Damit gehen wir gezielt gegen Altersarmut vor. Wir helfen denen, die es wirklich brauchen, und wir sorgen für ein solidarisches und nachhaltiges Gesamtkonzept. Ich freue mich auf weitere Diskussionen dazu. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kerstin Griese. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/10471 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 5 b. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rentenniveau anheben – Für eine gute, lebensstandardsichernde Rente“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10517, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/6878 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dann wird sich niemand mehr enthalten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen war die Linke. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 b und 35 c sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf: 35   b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Özcan Mutlu, Tabea Rößner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die digitale Welt verstehen und mitgestalten – Lernen und Lehren digitalisieren Drucksache 18/6203 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss Digitale Agenda c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Özcan Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bildungseinrichtungen fit für die digitale Gesellschaft und die Zukunft machen Drucksache 18/10474 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss ZP 2   a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundeswaldgesetzes Drucksache 18/10456 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Meiwald, Oliver Krischer, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Minamata-Konvention zu Quecksilber unverzüglich ratifizieren Drucksache 18/7657 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Beate Walter-Rosenheimer, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nachhaltigkeit im politischen Prozess verankern Drucksache 18/10475 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur d) Unterrichtung durch die Bundesregierung Erster Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen des Conterganstiftungsgesetzes sowie über die gegebenenfalls notwendige Weiterentwicklung dieser Vorschriften Drucksache 18/8780 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 l auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 36 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einbeziehung der Bundespolizei in den Anwendungsbereich des Bundesgebührengesetzes Drucksache 18/9759 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) Drucksache 18/10276 Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10276, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9759 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Was macht die Linke? Gar nichts! (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wir haben zugestimmt! Aber ganz kräftig und deutlich!) – Gut. Dann habe ich links nicht richtig geguckt. Dann gibt es keine Enthaltungen. – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und die Linke, enthalten haben sich die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben die Linke, die SPD, die CDU/CSU, enthalten haben sich die Grünen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 b auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/55/EU über die elektronische Rechnungsstellung im öffentlichen Auftragswesen Drucksache 18/9945 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) Drucksache 18/10287 Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10287, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9945 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und die Linke, enthalten haben sich die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und die Linke, enthalten haben sich die Grünen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 c auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versorgungsrücklagegesetzes und weiterer dienstrechtlicher Vorschriften Drucksachen 18/9532, 18/9834 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) Drucksache 18/10512 Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10512, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/9532 und 18/9834 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10529 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Es enthält sich niemand. Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke, dagegen waren CDU/CSU und die SPD. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren Bündnis 90/Die Grünen, und enthalten hat sich die Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren die Grünen, und enthalten hat sich die Linke. Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 d auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 7. April 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über den grenzüberschreitenden Einsatz von Luftfahrzeugen zur Ergänzung des Abkommens vom 9. Oktober 1997 über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden in den Grenzgebieten Drucksache 18/9988 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) Drucksache 18/10492 Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10492, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9988 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und die SPD, dagegen war niemand, und die Linke hat sich enthalten. Sie haben geguckt, warum Sie gleich aufstehen mussten. Das ist so, weil es sich um ein Vertragsgesetz handelt und es dazu nur eine zweite Lesung gibt. Das habe ich auch gerade gelernt. Ich übergebe an Edelgard Bulmahn und wünsche einen weiteren schönen Nachmittag. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Es geht weiter mit Tagesordnungspunkt 36 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Freiheit für Mumia Abu-Jamal Drucksachen 18/4722, 18/7349 Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/7349, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4722 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 f auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Antibiotika-Resistenzen vermindern – Erfolgreichen Weg bei Antibiotikaminimierung in der Human- und Tiermedizin gemeinsam weitergehen Drucksachen 18/9789, 18/10308 Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/10308, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/9789 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist auch diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition angenommen worden. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 36 g bis 36 l. Tagesordnungspunkt 36 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 382 zu Petitionen Drucksache 18/10421 Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Stimmt jemand dagegen? – Damit ist Sammelübersicht 382 einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 36 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 383 zu Petitionen Drucksache 18/10422 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 383 mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen worden. Tagesordnungspunkt 36 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 384 zu Petitionen Drucksache 18/10423 Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist die Sammelübersicht 384 einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 36 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 385 zu Petitionen Drucksache 18/10424 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist die Sammelübersicht 385 mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 36 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 386 zu Petitionen Drucksache 18/10425 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist diese Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen worden. Tagesordnungspunkt 36 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 387 zu Petitionen Drucksache 18/10426 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Damit ist auch diese Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 sowie den Zusatzpunkt 3 auf: 6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung Drucksachen 18/10353, 18/10482 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung Drucksache 18/10469 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat Hubertus Heil für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kaum eine gesellschaftliche Debatte hat unser Land über Jahrzehnte so tief gespalten wie die Auseinandersetzung um die Kernkraft in Deutschland – beginnend mit den Protesten 1973/1974 in Wyhl am Kaiserstuhl bis hin zu heftigen Debatten der 70er-, 80er-, 90er- und frühen 2000er-Jahre mit frühen Mahnern wie beispielsweise Erhard Eppler oder Robert Jungk. Jeder Einzelne von uns und jede einzelne Partei in diesem Haus hat im Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung eine eigene Geschichte. Bündnis 90/Die Grünen sind darüber 1980 als grüne Partei entstanden. Sie waren als erste Partei – seit ihrer Wiege sozusagen – klare Kernkraftgegner. Die deutsche Sozialdemokratie hat sich trotz der Tatsache, dass es auch in der SPD in den 70er- und 80er-Jahren schon massiven Widerstand gab, erst 1986 auf dem Nürnberger Parteitag für den geordneten Ausstieg aus der Kernkraft ausgesprochen. Die Vorgängerparteien der Linkspartei waren seit 1989/1990 Gegner der Kernkraft, und CDU/CSU ist seit 2011, seit dem furchtbaren Unglück in Fukushima, auch entschieden dagegen. – Was will ich damit sagen? Eine übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land ist am Ende dieser Auseinandersetzung zu Kernkraftgegnern geworden. Alle demokratischen Parteien in Deutschland sind mittlerweile für den Ausstieg aus der Atomkraft. Das ist ein gutes Zeichen. Deshalb ist es Zeit, diese gesellschaftliche Auseinandersetzung ein für alle Mal zu beenden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir werden im Jahre 2022 erleben, dass das letzte deutsche Atomkraftwerk vom Netz geht. Unsere Generation muss dafür sorgen, dass die Abwicklung der Erblasten des atomaren Zeitalters auf den Weg gebracht wird. Das heißt ganz konkret, dass wir durch Regelungen in zwei Bereichen dafür sorgen müssen – das tun wir mit dem Gesetz, dessen Entwurf wir heute einbringen –, dass wir den zukünftigen Generationen das ihnen Zustehende hinterlassen. Dazu gehört, die Verantwortung für die Atomabfälle neu zu regeln. Die Betreiber der Kernkraftwerke sind auch in Zukunft für die gesamte Abwicklung und die Finanzierung von Stilllegung, Rückbau und Verpackung der radioaktiven Abfälle zuständig; das liegt in ihrer Verantwortung. Der Bund übernimmt allerdings die klare Verantwortung für die Zwischen- und Endlagerung. Finanziell bedeutet das, dass die Betreiber der Atomkraftwerke 17,3 Milliarden Euro dafür zur Verfügung stellen; das sind die Rückstellungen. Hinzu kommt ein Risikozuschlag in Höhe von 6,1 Milliarden Euro. Diese insgesamt 23,4 Milliarden Euro wird der Staat in einem Fonds sichern, der diesem Ziel gewidmet ist. Es gilt aber nach wie vor – im Sinne des Verursacherprinzips – die Nachhaftung. Der Atomausstieg und die gesamte Energiewende bedingen einen Strukturwandel in der Energiewirtschaft. Diese veränderten Strukturen erleben wir gerade in diesen Tagen bei den großen EVUs. Es muss deshalb klar sein, dass der Staat weiterhin diejenigen in Verantwortung nimmt, die in den Unternehmen Verantwortung tragen. Auch hier gilt der Satz: Eltern haften für ihre Kinder. – Bei Zahlungsunfähigkeit von Kernkraftwerksbetreibern müssen deren Mütterunternehmen die Kosten für Rückbau und Entsorgung tragen. Der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten, ist kein Regierungsentwurf, sondern ein gemeinsamer Fraktionsentwurf von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Ich bin sehr dankbar, dass das möglich war. Die Basis für diesen Gesetzentwurf wurde in einer Kommission gelegt, die gründlich, kompetent und, wie ich finde, sehr umsichtig gearbeitet hat. Ihre Mitglieder haben mit ihren unterschiedlichsten persönlichen Historien und Interessen dafür gesorgt, dass jetzt Vorschläge vorliegen, die wir in Gesetzesform umsetzen können. Ich möchte für die Arbeit dieser Kommission einmal ganz herzlich danken. Viele waren daran beteiligt: viele Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen dieses Hauses, kompetente Partner aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften. Namentlich möchte ich denjenigen danken, die diese Kommission geleitet haben: Ole von Beust, Matthias Platzeck und nicht zuletzt Jürgen Trittin. Sie haben dazu beigetragen, dass es ein einstimmiges Votum gegeben hat, auf dessen Basis wir diesen Gesetzentwurf vorlegen konnten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte den Kollegen Trittin persönlich ansprechen und ihm herzlich danken, weil er wie wenige andere einen Beitrag dazu geleistet hat, diese gesellschaftliche Auseinandersetzung nicht nur heftig zu führen, sondern auch zu einem guten Ende zu bringen. Das hat er als zuständiger Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in der Regierungszeit von Gerhard Schröder getan, als Gerhard Schröder, Jürgen Trittin und Werner Müller gemeinsam mit den Energieversorgungsunternehmen den geordneten Ausstieg aus der Atomkraft im Jahre 2000 vereinbart hatten. Das hat er als Vertreter der Opposition getan, und das tut er auch im Rahmen seiner parlamentarischen Arbeit in der Kommission. Jürgen Trittin, ich hoffe, es schadet dir in deiner Fraktion nicht zu sehr, wenn ich ganz herzlich Danke sage für das, was du jetzt getan hast und was du in der Vergangenheit getan hast. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Ergebnis dieser KFK ist eine wirklich gute Grundlage für den heute vorliegenden Gesetzentwurf. Ich gebe aber zu, dass in nächster Zeit noch heftige Arbeit vor uns liegt. Wir wollen unverzüglich, also ohne schadhaftes Verzögern, aber auch gründlich dafür sorgen, dass das ein guter Gesetzentwurf ist. Wir werden deshalb an der einen oder anderen Stelle noch darüber diskutieren müssen. Eines ist mir ganz wichtig: Wenn es notwendig ist, für dieses Gesetz einen öffentlich-rechtlichen Vertrag zwischen den EVUs und dem Staat zu schließen, damit alle Rechtsfolgen bedacht sind, dann habe ich die klare Erwartung an die Energieversorgungsunternehmen in Deutschland, dass sie die Klagen, die im Zuge des Atomausstieges gegen den Staat eingereicht worden sind, zurückziehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) Wenn wir die Risiken nicht im Sinne einer Staatsbeihilfe – das darf es auch nach EU-Recht nicht sein –, sondern im Sinne von Verantwortungssicherung in die eben beschriebene Form überführen, dann muss klar sein, dass alle den Krieg um die Atomkraft beenden müssen, auch diejenigen, die ihn verloren haben. Das heißt, es darf kein Nachtreten geben. Deshalb muss dafür gesorgt werden, dass wir nicht nur einen gesellschaftlichen, sondern auch einen Rechtsfrieden haben. Meine Damen und Herren, wir brauchen genug Kraft, um gemeinsam nach vorne zu schauen und die Energiewende zum Erfolg zu führen, und dürfen deshalb nicht in Schlachten der Vergangenheit stecken bleiben. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen sind verantwortungsvoll zu beenden, gerade in diesen Zeiten. Wir müssen in Deutschland nach vorne gucken und das atomare Zeitalter hinter uns lassen. Mit diesem Gesetz leisten wir einen Beitrag dazu, dass die Finanzierung dessen möglich ist. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Hubertus Zdebel von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn die Atomkonzerne Eon, Vattenfall, RWE und EnBW ein Problem haben, springt nicht nur die Bundesregierung, sondern dieses Mal sogar fast das gesamte Parlament. Was unter dem verharmlosenden Titel einer Neuordnung der Atommüllentsorgung beschlossen werden soll, hat offensichtlich nur einen Grund: Den Atomkonzernen soll ein richtig großes, fettes Weihnachtsgeschenk unter den Tannenbaum gelegt werden. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist AfD-Niveau! – Weiterer Zuruf von der SPD: So ein Quatsch!) Die Verantwortung für den Rückbau der Atommeiler soll zwar bei den Konzernen bleiben; aber gegen eine Einmalzahlung von etwas über 23 Milliarden Euro – mein Vorredner hat darauf hingewiesen – sollen die Atombarone von sämtlicher Verantwortung für ihren Atommüll befreit werden. Sie hatten die Gewinne; für die Bürger bleiben die Atommüllberge und die Kosten. Seit vorgestern liegt der Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und Grünen vor. Heute findet die erste Lesung dieses äußerst komplexen Artikelgesetzes im Plenum statt. Morgen ist die Anhörung mit den Experten, die den Entwurf bestenfalls überfliegen konnten. Schon in der nächsten Sitzungswoche wollen Sie dieses Artikelgesetz mit seinen kostspieligen Folgen verabschieden. Die ganz große Mehrheit des Parlaments macht sich selbst zur bloßen Abnickmaschine und veranstaltet so eine Farce. Das ist erschreckend. (Beifall bei der LINKEN) CDU/CSU und SPD und unter Trittin als Umweltminister auch die Grünen hatten Jahrzehnte Zeit, um die Probleme bei der Finanzierung der Atommülllagerung zu regeln. Das haben sie verpennt. Heute sagen sie – wir werden es sicherlich noch hören –, man müsse jetzt handeln, weil man einem nackten Mann, den Konzernen, nicht in die Tasche greifen könne, bzw. wenn man jetzt nichts tue, wäre das Geld weg. Unglaublich, was hier abgezogen wird! Die Konzerne stecken sicher in einer Strukturkrise; aber sie sind potent genug und haben genügend Substanz. Es gibt keinen vernünftigen Grund, sie aus der Nachschusspflicht und ihrer Verantwortung für die Kostenrisiken für die Atommülllagerung zu befreien. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Jahrzehntelang galt als Versprechen: Die Atomkonzerne zahlen die Atomzeche auch für die Atommülllagerung und den Rückbau der Meiler. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Machen sie ja!) Dieses Versprechen wird nun wie so viele in der miesen Geschichte der Atomenergienutzung gebrochen, erneut zum Schaden und auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger. Es ist erschreckend, dass es hierfür einen Schulterschluss der Großen Koalition mit den Grünen gibt. Sie wetten auf die Zukunft und setzen das Verursacherprinzip außer Kraft. Die dem Gesetzentwurf zugrundeliegende Kostenschätzung ist auf Sand gebaut. Nach allen Erfahrungen werden die Kosten der Entsorgung steigen. Das zeigt ganz aktuell die Asse; das wissen Sie alle. Auch der Bundesrat hat sich in der letzten Woche klar geäußert. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da lag der Gesetzentwurf wohl doch schon vor, wenn sie sich schon geäußert haben!) Ich habe sehr genau verfolgt, was insbesondere die grünen Minister dort vorgetragen haben. Die Länder wollen nicht auf den Mehrkosten sitzen bleiben und fordern, im Gesetz klipp und klar zu regeln, dass der Bund die Kostenverantwortung ohne Wenn und Aber übernimmt. Das ist eine sehr deutliche Aussage. Ob die prognostizierte langfristige vierprozentige Verzinsung der in den Fonds einzuzahlenden 23 Milliarden Euro tatsächlich eintritt, weiß zum jetzigen Zeitpunkt niemand. Dabei geht es allerdings nicht um Peanuts, sondern um riesige Beträge in zweistelliger Milliardenhöhe. Es kann also für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler richtig dicke kommen. Eine Nachschusspflicht der AKW-Betreiber oder die Pflicht, Rücklagen zu bilden – das wäre eine Alternative dazu; wir reden bisher immer nur über die vermaledeiten Rückstellungen statt über Rücklagen –, besteht nicht und ist im Gesetzentwurf auch nicht vorgesehen. Einmal zahlen, und der Atommüll ist in den Bilanzen der Konzerne für immer vergessen. Hinzu kommt, dass jetzt die Brennelementesteuer ausläuft, wodurch die Konzerne zusätzlich entlastet werden sollen. Was mit der Trittin-Kommission anfing, wird hier fortgesetzt. Es ist unglaublich dreist und skandalös, wie eine ganz große Koalition sehenden Auges das nächste Milliardengeschenk für die Stromkonzerne vorbereitet. Seien Sie gewiss: Mit uns ist eine Verlagerung der Kosten für den Atommüll auf die Bürgerinnen und Bürger nicht zu machen. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Aber Sie haben nichts zu sagen!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Jetzt hat Dr. Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir haben vor etwas mehr als einem Jahr mit der Arbeit der Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Atomenergieausstiegs begonnen, und wir haben sehr intensiv zusammengearbeitet. Als ich die Liste der 19 Kommissionsmitglieder zum ersten Mal gesehen habe, war mein Gedanke: Das wird ja eine muntere gruppendynamische Übung. Da saß nämlich der Präsident des BDI neben der Direktorin des WWF und 30 Jahren Kernenergiegeschichte in Deutschland – namentlich mir gegenübersitzend –; Pro und Kontra waren in einem Raum versammelt, Schreckgespenster der Kernenergiegegner wie auch Schreckgespenster der Kernenergiebefürworter. Wir hatten auch – das war wahrscheinlich gut so – einen leibhaftigen Bischof unter uns, der am Ende dafür gesorgt hat, dass wir himmlischen Beistand hatten. Deswegen war es möglich, dass diese Kommission zu einem einvernehmlichen Konzept gekommen ist, das wir einstimmig beschlossen haben. Entscheidend war: Wir haben in der Kommissionsarbeit eben nicht die Schlachten der Vergangenheit geschlagen. Wir haben die Ideologie außen vor gelassen, und das war richtig so. Uns ging es um eine sichere und – Hubertus Heil hat es schon gesagt – zukunftsfeste Lösung, die vor allen Dingen dem Verursacherprinzip Rechnung trägt und die eine Vielzahl von Streitereien im Bereich der Kernenergie rechtlich und politisch befrieden und beenden soll. Alles in allem glaube ich, dass die Kommission eine vernünftige Arbeit abgeliefert hat. Mein Dank geht daher an die Mitglieder der Kommission, vorrangig aber an die drei Vorsitzenden – Hubertus Heil hat sie schon erwähnt –: Ole von Beust, Matthias Platzeck und Jürgen Trittin. Lieber Herr Trittin, ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob Ihnen das schadet. Ich habe es auch nie für möglich gehalten, dass ich in diesem Hause mal einen Grünen lobe. Aber wenn es Ihnen schadet, ist es ja gut so. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) Mein herzliches Dankeschön also besonders an Sie. Ich muss ehrlich zugeben: Ich habe mir am Anfang der Kommissionsarbeit eine so vernünftige Zusammenarbeit nicht vorstellen können. Klar ist aber auch: Die Kommissionsarbeit war nur das Vorspiel. Das Entscheidende kommt jetzt. Wir beginnen damit heute. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eine ordentliche Grundlage. Er zeichnet wesentliche Weichenstellungen der Kommissionarbeit nach. Mit diesem Gesetzentwurf können wir weiterarbeiten. Erstens. Die Betreiber der Kernkraftwerke bleiben für die Stilllegung und den sicheren Rückbau zu 100 Prozent verantwortlich und auch in der Zahlungsverpflichtung. Zweitens. Für die Zwischen- und Endlagerung übertragen die Energieversorger die Finanzmittel auf einen Fonds beim Bundesfinanzminister. Grundlage sind rund 17,4 Milliarden Euro, die die Energieversorger hierfür zurückgestellt haben, wie man in den Bilanzen sehen kann. Die Kommissionsarbeit hat gezeigt, dass diese Rückstellungen – das sollte die Linke zumindest wahrnehmen – im internationalen Vergleich eher konservativ als zu hoch berechnet sind. Hinzu kommt ein gemeinsam von uns berechneter Risikozuschlag in Höhe von rund 6 Milliarden Euro. Das sind immerhin noch einmal 35 Prozent obendrauf. Am Ende beläuft sich der Gesamtbetrag auf annähernd 23,5 Milliarden Euro. Dieser wurde auch von unabhängigen Gutachtern der Bundesregierung als sachgerecht bestätigt. Umgekehrt werden die Energieversorger nach Zahlung dieses Betrags von einer Nachschusspflicht befreit. Dieser Ansatz ist für mich sachgerecht. Er setzt das Verursacherprinzip strikt um und sorgt dafür, dass die Mittel für Zwischen- und Endlagerung in Zukunft nicht mehr bei den Unternehmen, sondern beim Staat sind. Umgekehrt gewinnen die Energieversorger Planungssicherheit und ein Stück weit Bilanzsicherheit, was meiner Meinung nach dringend notwendig ist; denn man kann wahrlich nicht behaupten, dass es ihnen gerade in letzter Zeit gut geht. Man schaue sich nur die Verlustbilanzen an. Am wichtigsten ist für mich aber die dritte zentrale Weichenstellung der KFK-Empfehlung. Die operative und die finanzielle Verantwortung für die Zwischen- und Endlagerung werden zukünftig beim Bund zusammengeführt, und zwar für den schwach-, mittel- und hochradioaktiven Abfall. Das heißt aber auch: Der Staat hat es in Zukunft allein in der Hand, mit den Geldern für die Zwischen- und Endlagerung effizient zu wirtschaften. Es gibt jetzt keine Ausreden mehr. Das muss schnell gemacht werden. Wie kann es schnell gehen? Das kann man in Finnland sehen. Vor zwei Tagen hat im Südwesten Finnlands der Bau des Endlagers Olkiluoto begonnen. Ich gebe zu, dass Finnland etwas weniger stark besiedelt ist als Deutschland. Aber man hat vor, bis 2023 dieses Endlager so weit fertiggestellt zu haben, dass es beschickt werden kann, dass also Abfälle eingelagert werden können. Das ist der richtige Weg. Wir haben ein Budget von 23,5 Milliarden Euro, das seit dem Frühjahr dieses Jahres dem BMF zur Verfügung steht. Damit muss gehaushaltet werden. Das liegt im Interesse des Steuerzahlers. Dass es bei einem vernünftigen Verfahren möglich ist, innerhalb eines absehbaren Zeitraums ein Endlager zu finden, ist klar. Wir dürfen dann aber keine Endlosdiskussion in diesem Hohen Hause beginnen und permanent darüber nachdenken, wo sich überall ein Loch bohren lässt. Wir dürfen nach Gorleben nicht weitere Löcher im Bayerischen Wald, im Schwarzwald, im Hunsrück oder irgendwo in der Heide bohren. Wir müssen uns irgendwann entscheiden. Das muss dann politisch durchgesetzt werden. Das muss dieses Hohe Haus verantworten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dann werden wir mit diesen Summen sicherlich hinkommen. Anders werden wir das nicht geregelt bekommen. Wichtig ist auch, dass wir für den schwach- und mittelradioaktiven Abfall endlich den Knoten bei Schacht Konrad durchschlagen; denn hiervon hängt ein Stück weit der Rückbau der Kernkraftwerke ab. Ich halte es für notwendig, dort voranzukommen. Deshalb ist es wichtig, dass wir auf einen effizienten Fluss der Finanzmittel zwischen Fonds und Betreibergesellschaft achten. Genauso wichtig ist, dass der effiziente Mitteleinsatz ständig überwacht wird. Wir haben eine Kommission gebildet, die dies tun wird. Ich gehe davon aus, dass wir das in großer Verantwortung gemeinsam machen werden. Wichtig ist mir auch, dass wir nach dem international festgelegten Trennungsprinzip aus dem Euratom-Vertrag zwischen atomrechtlicher Aufsicht und Betrieb klar trennen und den Sicherheitsfragen sauber Rechnung tragen. Sicherheitsfragen dürfen mit nichts anderem vermischt werden. Die richtigen Strukturen und Vorkehrungen hierfür zu schaffen, das ist unsere Aufgabe im parlamentarischen Verfahren. Ich gehe davon aus, dass wir das in Kürze machen werden und dass wir mit dem nächsten Jahr das Kernkraftzeitalter in Deutschland in geordneten Bahnen abwickeln werden. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner spricht Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit 2001 heißt das Atomgesetz „Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung … “, und seit 2011 haben wir hierüber einen Konsens. Seit 2009 – übrigens, Kollege Fuchs, da sollten Sie noch einmal in das von Ihnen mit verabschiedete Standortauswahlgesetz schauen – haben wir auch einen Konsens in diesem Hause darüber, wie man ein entsprechendes Endlager für den Müll findet; denn mit der Beendigung des atomaren Leistungsbetriebs ist das Atomzeitalter nicht vorbei. Heute sprechen wir über die Chance zu einem dritten Konsens, nämlich dem Konsens darüber, wie man die Mittel für die Kosten, die dafür anfallen – das sind bis zu 170 Milliarden Euro bis 2099 –, entsprechend sichert. Ich sage Ihnen deutlich: Dieses Gesetz kommt mit 15 Jahren Verspätung. Ich erinnere mich noch gut, wie zum Zeitpunkt des Ausstiegs die Unternehmen sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt haben, dass sie diese Mittel in einen Zweckverband übertragen. Der Grund war einfach: Sie wollten mit hohen Rückstellungen Steuern sparen. Sie wollten diese als eine Kriegskasse im Konkurrenzkampf nutzen. Das ist ihnen nicht gut bekommen, und das ist übrigens der Gesellschaft nicht gut bekommen. Nach zehn Jahren Blockade sieht es so aus, dass Eon, RWE, Vattenfall und EnBW keine EEG-Anlagen haben und mit ihren Kohle- und Atomkraftwerken kein nennenswertes Geld mehr verdienen. Erst jüngst musste Eon 9,3 Milliarden Euro abschreiben. Ihre Börsenkurse haben sich halbiert. Aus dieser schönen Kriegskasse, die man einmal hatte in Form der Rückstellungen, ist eine Belastung ihrer Kreditwürdigkeit geworden. Sie haben dann versucht, sich dessen zu entledigen: durch Umbau, Umstrukturierung und Enthaftung. Plötzlich haftete der schwedische Staat nicht mehr für Vattenfall. Genau diesem Versuch, sich der Verantwortung zu entziehen, schieben wir heute gemeinschaftlich einen Riegel vor. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir haben als Grüne immer dafür plädiert, dass man das über einen öffentlich-rechtlichen Fonds macht. Die Bundesregierung hat lange geleugnet, dass das überhaupt nötig sei. Nun hat Ihnen Ihr eigener Gutachter von Warth & Klein ins Stammbuch geschrieben, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass, wenn die Beträge fällig werden, die Erlöse der Unternehmen diese noch decken: 50 Prozent. 50 Prozent, das ist, als würden Sie eine Münze werfen, nur dass das in diesem Falle eine 170-Milliarden-Euro-Münze ist. Ich finde, mit diesem Risiko sollten wir alle nicht mehr leben wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Es drohte nämlich, dass die Unternehmen sich aus ihrer Verantwortung stehlen und dass die Steuerzahler das bezahlen, was sie als Stromkunden schon einmal bezahlt haben. Es drohte die Aushebelung des Verursacherprinzips, und dem beugen wir mit diesem Gesetzentwurf vor. Wir haben das sehr gründlich in dieser Kommission geprüft. Wir haben Bürgerinitiativen, Sachverständige, Wirtschaftsprüfer und Ratingagenturen, also alle, die irgendetwas dazu sagen konnten, zu öffentlichen Anhörungen eingeladen. Das Ergebnis ist: Die Höhe der heutigen Rückstellungen ist international vergleichbar, eher am oberen Rand, und sie ist – so das Ergebnis der Kommission – angemessen, um die Kosten von insgesamt 170 Milliarden Euro am Ende zu sichern. Das Problem ist nicht die Höhe. Das Problem, vor dem wir stehen, ist, dass diese Mittel nicht mehr sicher sind. Darum geht es. Deswegen schlagen wir vor, CDU/CSU, BDI, DGB, WWF, alle diejenigen, die dort vertreten waren, dass künftig wie folgt verfahren wird: Die Unternehmen müssen bis 2040 60 Milliarden Euro aufbringen, um rückzubauen und zu verpacken. Dafür müssen sie künftig ihre Rückstellungen mit Aktiva unterlegen. Das wird von der Bundesregierung unter Kontrolle des Bundestages kontrolliert. Sie müssen unverzüglich mit dem Rückbau anfangen. Das andere ist: Sie müssen die Mittel für die Zwischen- und Endlagerung in einen öffentlich-rechtlichen Fonds überführen – das sind die 17 Milliarden Euro –, und sie müssen, wenn sie sich enthaften wollen, noch einmal über 6 Milliarden Euro als Risikozuschlag obendrauf legen, den sie bisher nicht hatten. Ein schönes Weihnachtsgeschenk übrigens, wenn ich eben einmal 23 Milliarden Euro, die ich bisher nur in den Büchern stehen hatte, ausreiche. Ich habe mir ein Geschenk bisher anders vorgestellt, liebe Kollegen von der Linken. Wir haben erwartet, dass die Unternehmen alle Klagen, die sich auf die Entsorgung beziehen, fallen lassen. Ich finde, dass damit das Verursacherprinzip sehr viel besser gesichert ist. Wir schaffen mehr Sicherheit. Wir müssen nicht mehr bangen oder – wie die Linkspartei – hoffen, dass die Konzerne bis 2099 nicht pleitegehen und nicht an irgendwelche Hedgefonds verkauft werden, und wir hätten dann tatsächlich so etwas wie einen neuen Konsens. Ich will aber eines zum Abschluss in aller Deutlichkeit sagen: Zu einem solchen Konsens passt es nicht, wenn die Unternehmen weiterhin gegen den ersten Konsens, gegen den Ausstieg, Schadensersatzklagen erheben, sei es vor Oberlandesgerichten, sei es vor Schiedsgerichten in Washington. Konsens bedarf des Rechtsfriedens. Deswegen erwarten wir, dass auch solche Klagen zurückgenommen werden. Dann wird aus dem Ausstiegskonsens ein Entsorgungskonsens. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin spricht Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Nina Scheer (SPD): Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit der Frage anfangen, wie wir überhaupt in diese Situation kommen konnten. Man muss konstatieren, dass im Grunde genommen die Fragen, die wir jetzt klären, schon zu Beginn der Atomenergienutzung hätten geklärt werden müssen. Man hätte eigentlich die Betriebsgenehmigung für Atomkraftwerke gar nicht erteilen dürfen, wenn genau die Dinge, die wir jetzt – Jahrzehnte später – klären, damals schon geklärt worden wären. Man hätte damit eine Verpflichtung formuliert, die wahrscheinlich verhindert hätte, dass wir je Atomenergie genutzt hätten. Ich will damit sagen: Es wurde damals unterlassen, und es war eine politische Entscheidung, das zu unterlassen. Und genau dieses lässt sich nach Jahrzehnten nicht mehr zurückschrauben. Genau darin liegt jetzt auch die politische Verantwortung, noch das an Möglichkeiten der Vermögenssicherung zu nutzen, was durch politische Entscheidungen stattfinden kann, um zu vermeiden – was gerade eben schon geschildert wurde –, dass Geld für die Nachsorge und die ganze Abwicklung der Atomenergienutzung und die Endlagerung verloren geht. Ich denke, es ist ein überfälliger Prozess, der jetzt eingeleitet wird und eingeleitet werden muss. Diese Zäsur, die mit dem Gesetzentwurf vorgenommen wird, hat natürlich in starkem Maße das Verursacherprinzip zu berücksichtigen. Das Verursacherprinzip sagt im Grunde genommen, dass die Verantwortlichkeit komplett bei den Atomkraftwerksbetreibern liegt. Natürlich ist das auch die Erwartungshaltung, die in der Öffentlichkeit zu sehr viel Misstrauen führt, wenn es darum geht, dass wir mit der Fondslösung und den Abwicklungsmöglichkeiten jetzt quasi eine Enthaftungsregelung schaffen. Ich denke, wir müssen in der Öffentlichkeit ganz klar deutlich machen, dass uns das sehr bewusst ist, dass wir hier über das Verursacherprinzip eine grundsätzliche Verantwortung der Betreiber haben, aber gleichwohl auch damit umgehen müssen, dass wir, wenn wir keine Regelung treffen, möglicherweise eine Gesamtlast beim Steuerzahler haben. (Beifall bei der SPD) Insofern bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Lösung jetzt sobald wie möglich zu gestalten, natürlich möglichst auch mit parlamentarischer Beteiligung. Die Kommission hat eine sehr gute Vorarbeit geleistet, und wir müssen jetzt dafür sorgen, dass im parlamentarischen Prozess noch weitere Veränderungen vorgenommen werden. Ich sehe zum Beispiel – das wurde auch schon erwähnt – eine ganz große Aufgabe darin, dass natürlich die Klagen zurückgenommen werden. Es kann nicht sein, dass wir hier verhandeln – es ist eine Verhandlung notwendig, in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag müssen die Details geklärt werden, die können wir gesetzlich nicht regeln – und uns mit den Konzernen an einen Tisch setzen, die gleichzeitig die Bundesrepublik Deutschland verklagen. Das geht nicht. Deswegen müssen wir unbedingt zu einer Klagerücknahme kommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte so weit gehen, zu sagen: Die Betreiber sollten sich vergegenwärtigen, dass wir durchaus Gestaltungsmöglichkeiten haben, wenn sie ihre Klagen nicht zurückziehen. Natürlich könnte man darüber nachdenken, ob die konsensual gefundene Vermögensbemessung noch so stichhaltig ist, wenn sich die Vermögensmasse im Nachhinein noch zulasten des Staates verschieben würde. Das könnte man ja noch machen. Insofern möchte ich an dieser Stelle einen Appell an die Konzerne richten, dass sie sich gut überlegen, ob sie in diesen Prozess hineingehen, ohne ihre Klagen zurückgenommen zu haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinweisen, den wir uns für die parlamentarischen Beratungen vornehmen sollten. Es gibt verschiedene Segmente der Haftungsregelungen. Es gibt einmal den Bereich des Rückbaus, der Verpackung. Dieser Bereich liegt weiterhin in der Verantwortlichkeit der Betreiber; insofern ist nicht ganz richtig, was hier vorhin dargestellt wurde. Darüber hinaus gibt es den Bereich der Zwischenlagerung und der Endlagerung. Wir haben mit dem Nachhaftungsgesetz schon im letzten Jahr versucht – das ist übrigens von der Union damals leider blockiert worden –, zu regeln, dass Vermögen weder durch die Insolvenz noch durch die Aufspaltung von Unternehmen verloren gehen kann. Durch Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs würde gesichert, dass weder durch Aufspaltung noch durch Pleitegehen von Konzernen ein Vermögensverlust stattfindet. Für einen kleinen Teilbereich haben wir das aber noch nicht sicherstellen können. Er betrifft den Rückbau und die Verpackung. Was das Risiko angeht, dass in diesem Bereich etwas passiert, sollten wir als Parlamentarier noch einmal genau hinschauen, ob wir da nicht noch nachbessern können. Die Kommission konnte diesen Gesichtspunkt nicht in vollem Umfang aufgreifen, weil sie gearbeitet hat, als das Nachhaftungsgesetz noch im parlamentarischen Prozess war. Als allerletzten Punkt möchte ich sagen, dass mir sehr daran gelegen ist, dass man darauf achtet, dass die aus den Fondsmitteln getätigten Geldanlagen nachhaltig sind. Diese Mittel sollten nicht auf verstecktem Weg zur Finanzierung von irgendwelchen Kernenergiegewinnungsvorhaben oder anderweitigen nicht nachhaltigen Energiegewinnungsmöglichkeiten eingesetzt werden. Ich finde, wir sollten Wert darauf legen, dass dafür eine Regelung getroffen wird. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Dr. Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Der Ausstieg aus der Kernenergie steht fest. Wir alle erleben momentan auch politisch, wie schwierig es ist, die Kernkraftwerke unter den Restriktionen des Klimaschutzes in einer verlässlichen und kostengünstigen Art und Weise zu ersetzen. Neben dieser Großbaustelle gibt es eine andere mit dem Kernenergieausstieg in Zusammenhang stehende Großbaustelle, nämlich die Frage des Rückbaus, der Zwischenlager und der Endlager. Wie alle meine Vorredner möchte ich betonen, wie wichtig in diesem Zusammenhang der gefundene Konsens ist. Ich spüre schon manchmal – übrigens hat es sich ganz am Anfang der Rede der Kollegin Scheer auch so angedeutet –, wie uns noch die alten Kampflinien beschäftigen. (Zuruf der Abg. Dr. Nina Scheer [SPD]) – Das gilt für beide Seiten; keine Sorge. Da differenziere ich nicht. Auch wenn man sich unsere Energiepolitik ansieht, erlebt man, wie stark wir oft nur auf das Thema Strom fixiert sind. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass wir die Themen Wärme, Verkehr usw. etwas vernachlässigen. Aus der alten Kampfposition heraus haben wir eine Energiedebatte immer unter dem Gesichtspunkt „Strom durch Kernenergienutzung“ geführt. Ich würde mir wünschen, dass wir da bei der Behandlung des Gesamtthemas mit dem heutigen Tag nach und nach herausfinden. Natürlich ist es schwierig, einen solchen Konsens zu finden. Es gab zwei Dinge, die uns von Anfang an vereint haben, Michael Fuchs: erstens, dass uns allen miteinander in der Kommission klar war, dass das Verursacherprinzip nicht infrage gestellt wird, und, zweitens, dass es darum geht, die Verursacher tatsächlich in die Haftung zu nehmen, und zwar dauerhaft, und durchsetzen zu können, dass der Ausstieg nicht zulasten des Steuerzahlers geht, wie es uns die Linke jetzt an dieser Stelle gern unterjubeln möchte. Ich finde, Ihre Weitsicht, die Sie in wirtschaftspolitischen Fragen sonst nicht so unter Beweis stellen, schon bemerkenswert. Sie stellen sich hierhin und sagen, Sie hätten ganz klare Erkenntnisse, dass die Energieversorger für die Zukunft substanziell ausreichend gut aufgestellt sind. So habe ich Sie jedenfalls verstanden, und so haben Sie es auch formuliert. Das halte ich für falsch. Ich glaube, dass wir hier zu Recht Handlungsbedarf gesehen haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Die können halt keine Bilanzen lesen!) Nun ist es aber eine komplizierte Materie, und zwar sowohl was den Diskontierungszinssatz angeht – da spielt uns der Herr Draghi manches an Tragik in die Bilanzen, übrigens auch in andere Bilanzen – als auch hinsichtlich der Frage, wie groß so ein Risikoaufschlag ist. Umso bemerkenswerter ist es, dass wir uns – auch wenn das nicht mathematisch genau geht, weil es keine unumstößlichen Dinge gibt – am Schluss auf den Konsens geeinigt haben, der hier so wichtig ist. Nun ist das in der Tat – das möchte ich betonen – ein Verdienst von Herrn Trittin, auch wenn es sein kann, dass das ein Totalschaden für einen Grünen ist, wenn sich die CSU dem Lob anschließt. Aber Sie haben natürlich sehr integrativ Ihre Seite mit zur Verantwortung gezogen – das fand ich bemerkenswert –, und das kann man in einer solchen Debatte nicht oft genug herausstellen, meine Damen und Herren. Ich sage Ihnen auch: Für mich hat diese Thematik natürlich auch eine regionale Bedeutung. In meinem Wahlkreis ist nicht nur das Kernkraftwerk Gundremmingen, sondern damit auch ein Zwischenlager. Da könnte ich zu der Rolle von Herrn Trittin seinerzeit etwas anderes, weniger Gutes sagen. Wir haben uns das Zwischenlager an dieser Stelle jedenfalls nicht gewünscht. Ich will nicht sagen, dass das bei mir akzeptiert wird, aber es wird als unvermeidbares Übel hingenommen. Ich sage Ihnen auch – da muss man kein Prophet sein –: Es wird hingenommen, solange das Kernkraftwerk läuft. Ich bin sicher, dass sich die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger mit Blick auf das Zwischenlager in der Sekunde des Abschaltens komplett ändern wird. Deshalb ist es, glaube ich, ein guter Ansatz, dass wir uns nicht nur um das Geld kümmern, sondern auch um die Verantwortlichkeit des Staates und klarmachen: Für dieses Zwischenlager ist am Ende der Staat zuständig, und zwar insbesondere auch für die Sicherheit dieses Zwischenlagers. Das ist, glaube ich, eine vertrauensbildende Maßnahme für die Menschen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] und Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Natürlich haben die Menschen auch die Erwartung, dass das Zwischenlager das ist, was der Name andeutet, nämlich eine Zwischen-, eine Übergangslösung, und nicht ein faktisches Endlager. Deshalb wächst natürlich mit der Übernahme durch den Staat unsere Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass es am Schluss tatsächlich diese Endlagermöglichkeit gibt, noch mehr. Da bin ich noch einmal beim Verursacherprinzip: Natürlich sind die Konzerne verantwortlich für das, was sie verursacht haben. Aber sie sind nicht dafür verantwortlich zu machen, meine Damen und Herren, wenn es in Zukunft Ränkespiele bei der Thematik Endlagersuche geben sollte. Auch das haben wir bei dem, was wir hier beschließen wollen, sehr weise mit eingeplant: dass die Konzerne nicht für politische Schwierigkeiten zur Verantwortung gezogen werden. Das, meine ich, sollten und dürfen wir unserer Wirtschaft nicht antun. Ich glaube umgekehrt aber auch, dass wir mit ihnen das Thema Klageverzicht – dazu haben wir heute einiges gehört – durchaus offen und offensiv diskutieren müssen. Natürlich gehört es auch zu einem gemeinsamen Konsens, keine gerichtlichen Auseinandersetzungen von gestern und vorgestern zu führen. Deshalb halte ich es für entscheidend, dass wir in dieses Gesetz die Möglichkeit einbauen, einen öffentlich-rechtlichen Vertrag abzuschließen. Das ist auch deshalb wichtig, weil sich die Konzernführungen nach dem Aktienrecht gar nicht so leicht tun, auf Klagen zu verzichten – übrigens auch nicht vor dem Hintergrund einer Gesetzeslage, wie wir sie hier beschließen wollen. Auch hier geht es ja um die Frage, wenn wir ihnen das aufoktroyieren, ob es ihnen möglich ist, einfach zu sagen: Das machen wir nicht. – Es stellt sich die Frage, ob es einen Ansatz gibt, aus der Thematik aktienrechtlich herauszukommen. Ich glaube, da ist der öffentlich-rechtliche Vertrag ein entscheidender Ansatz, um das noch einmal anzugehen. Ob wir die Anlagestrategie, Frau Kollegin Scheer, also was das Bundesfinanzministerium mit dem ihm zuwachsenden Geld tun soll, schon gemeinschaftlich im Gesetz beschließen müssen: Mir wäre es wichtig, dass das Geld so intelligent angelegt wird, dass der Diskontierungszinssatz in Zukunft tatsächlich etwas mit der Realität zu tun hat. Das ist schwer genug. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Herr Kollege Nüßlein, ich habe verzweifelt auf eine Atempause gewartet, weil die Kollegin Kotting-Uhl Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen möchte. Lassen Sie das zu? Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Wenn die Kollegin selber kein Rederecht hatte, dann kann sie jetzt gerne eine Zwischenfrage stellen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Wunderbar. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich werde schon noch dazu reden; keine Sorge. – Der Punkt, zu dem ich Sie etwas fragen möchte, liegt schon ein bisschen zurück, aber Sie haben Ihre Rede noch im Kopf. Sie haben vorhin gesagt, man dürfe die Konzerne nicht in die finanzielle Verantwortung nehmen, wenn es um politische Schwierigkeiten bei der Endlagersuche geht. Ich habe mir jetzt überlegt, was für politische Schwierigkeiten bei der Endlagersuche Sie denn meinen könnten. Ich möchte Sie daher fragen: Meinen Sie zum Beispiel, dass Bayern, das vorab schon einmal erklärt hat, dass in Bayern überhaupt nichts für ein Endlager infrage kommt, sich weigert, es zu akzeptieren, wenn man bei der Suche in Bayern zu Ergebnissen kommt? „Politische Schwierigkeiten“, ist das in diesem Sinne gemeint? Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Liebe Kollegin, die Einschätzung Bayerns fußt auf einer Würdigung der geologischen Situation, die das aus unserer Sicht an der Stelle unmöglich macht. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!) Was ich mit politischen Ränkespielen gemeint habe, ist das, was wir bei Gorleben schon einmal erlebt haben, nämlich dass es bis zum heutigen Tag und nach hohen Investitionen keine technischen Einwendungen gegen Gorleben gibt, unter anderem Sie aber alles dafür getan haben, Gorleben aus der Endlagersuche komplett herauszuhalten. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wenn Gorleben in Bayern wäre, wäre es anders!) Das ist das, was ich meine: dass man nicht am Schluss die Konzerne zur Kasse bitten kann, nur weil die einen oder anderen an der einen oder anderen Stelle unwillig sind. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kündigen Sie für Bayern schon mal an! Na gut!) – Warten Sie doch einmal ab, ob wir mit unserer geologischen Einschätzung an dieser Stelle tatsächlich recht haben. Das wird sich erweisen. Jetzt haben wir immerhin die Hoffnung, dass wir dieses Gesamtthema zügig so voranbringen, wie es unserer Verantwortung entspricht. Wir halten die Konzerne in der Verantwortung. Wir tun alles dafür, dass an dieser Stelle keine neuen Kampflinien aufbrechen. Ich wünsche mir auf allen Ebenen Rechtsfrieden. Das würde der Thematik guttun. Wie ich einleitend gesagt habe: Wir haben genügend andere Schwierigkeiten. Wir müssen uns jetzt etwas einfallen lassen, wie man dieses Land klimaschutzgerecht, aber auch so, dass Versorgungssicherheit besteht und der Preis passt, mit Strom versorgt. Das wäre unsere eigentliche Aufgabe. In diesem Sinne herzlichen Dank fürs Zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 18/10353, 18/10482 und 18/10469 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften Drucksachen 18/9986, 18/10348, 18/10444 Nr. 1.7 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Drucksache 18/10495 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10504 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Dr. Philipp Murmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier liegt ein gutes Gesetz vor, auf das viele von uns schon lange gewartet haben. Ich denke, es ist auch eine gute Nachricht für den Unternehmensstandort Deutschland, dass wir heute in dieser Diskussion zum Schluss kommen und das Gesetz verabschieden. Was ist das Ziel? Das Ziel ist die Stärkung junger und innovativer Unternehmen durch die Möglichkeit, neue Investoren aufzunehmen, ohne dadurch die steuerlich nicht genutzten Verluste zu verlieren. Es soll die Möglichkeit bestehen, Verluste, die in frühen Phasen angefallen sind, mit späteren Gewinnen zu verrechnen und dadurch Eigenkapital zu bilden. Ich denke, genau dieses Ziel können wir mit diesem Gesetz erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der SPD) – Genau. Ich denke auch, es lohnt sich. Wie können wir das Ziel erreichen? Wir schaffen ein neues Instrument, nämlich § 8d Körperschaftsteuergesetz. Er eröffnet sozusagen ein neues Gebäude. Er gibt den Unternehmen die Möglichkeit, auf Antrag von dem Gebäude des bisherigen § 8c in das neue Gebäude des § 8d zu wechseln, um die Verluste, die bisher angefallen sind, mit zukünftigen Gewinnen verrechnen zu können, wie ich es eben schon ausgeführt habe. Dazu müssen die Unternehmen entweder neu sein oder seit drei Jahren denselben Geschäftsbetrieb geführt haben. Damit wollen wir verhindern, dass nicht irgendwelche alten Verluste aus Geschäftsbetrieben, die damit nichts zu tun haben, auch noch mit verrechnet werden können. Ich denke, die Möglichkeit, das mit diesem neuen Gebäude zu lösen, ist eine sehr gute Idee. Wer immer die Idee im BMF hatte, dem müssen wir herzlich dafür danken. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das war das Finanzministerium NRW! Aber wunderbar! Wir verteilen Lorbeeren an alle, die es verdienen!) – Aus dem Finanzministerium NRW. Normalerweise sind es nicht Einzelne, die solche Ideen generieren, sondern sie werden in einem Dialog entwickelt und dann zu Papier gebracht, was dann immer noch eine besondere Leistung darstellt. Was heißt „Geschäftsbetrieb“? Das heißt, dieser Geschäftsbetrieb muss bestimmte Anforderungen erfüllen. Er darf nicht ruhend gestellt werden, er darf keiner anderen Zweckbestimmung zugeführt werden, er darf keinen zusätzlichen Geschäftsbetrieb aufnehmen, er darf keine Beteiligung an Mitunternehmerschaften eingehen, und er darf keine Wirtschaftsgüter zu einem geringeren als dem gemeinen Wert übertragen bekommen. Warum ist das alles so? Das klingt kompliziert. Das ist so, um zu vermeiden, dass irgendwelche Verluste aus anderen Geschäften, die vielleicht vorhanden sind, in den neuen § 8d Körperschaftsteuergesetz hineinwandern. So wollen wir Steuerverluste eindämmen, die früher durch Mantelkäufe – man kauft eine GmbH, die nur Verluste, aber keinen Geschäftsbetrieb mehr hat, und nutzt die Verluste, um irgendetwas anderes zu machen – möglich waren. Das wollen wir verhindern. Wir haben lange darüber diskutiert: Was bedeutet „Geschäftsbetrieb“, und was bedeutet es, diesen fortzuführen? Wie attraktiv ist der neue § 8d Körperschaftsteuergesetz für junge Unternehmen? Die jungen Unternehmer haben uns in der Anhörung gesagt: Es sei überfällig, dass das Gesetz kommt; denn die großen Unternehmen können Verluste aus ihrem Unternehmen schon immer innerhalb des Unternehmens mit Gewinnen verrechnen. Kleine und junge Unternehmen können das nicht. – Insofern haben wir damit ein Tor für die jungen Unternehmen geöffnet, neue Investoren aufzunehmen. Das ist der wichtigste Aspekt. Wir haben mit dem BMF und in den Berichterstattergesprächen lange diskutiert. Natürlich ist es bei jungen Unternehmen so, dass der Geschäftsbetrieb nicht geradlinig verläuft, sondern es gibt auch Veränderungen. Am Anfang hat man eine Idee, mit der man beginnt. Diese verändert sich dann leicht. Diese Veränderung muss und wird auch möglich sein. Aber die Unternehmensidentität darf nicht geändert werden. Das ist ein wichtiges Merkmal, an das man sich halten sollte. Die Grünen werden sich leider kraftvoll enthalten, obwohl wir lange darüber diskutiert haben. Sie sind der Meinung, diese Regelung im Gesetzentwurf sei zu eng gefasst. Darüber kann man reden. Sie meinen, man sollte sie breiter fassen. Die Linken stimmen dagegen. Ihnen ist es zu weit gefasst. Also, man sieht, die Diskussion ist durchaus unterschiedlich. Insofern haben wir einen guten Kompromiss gefunden, den wir jetzt in die Tat umsetzen wollen, um endlich zu beginnen. Das Thema „EU-Konformität“ haben wir auch intensiv diskutiert. Wir haben keinen Comfort Letter bekommen. Das BMF und das BMWi haben keinen Comfort Letter bekommen. Insofern gibt es ein gewisses Risiko. Wir denken aber, das Risiko ist vertretbar; denn der geplante § 8d Körperschaftsteuergesetz gilt grundsätzlich für alle Unternehmen. Es ist auch ein formelles Bestreben der EU-Kommission, dass gerade junge Wachstumsunternehmen durch alle möglichen Maßnahmen gestärkt werden. Genau dem tragen wir mit diesem Gesetz Rechnung. Also setzen wir es auch ohne Vorbehalt in Kraft. Ich denke, das ist auch gut so. Ganz zum Schluss noch vier kurze Aspekte. Erstens: Wirkung zum 1. Januar 2016. Dies hat den Vorteil, dass alle Anteilsübertragungen schon in diesem Jahr mit eingehen. Zweitens: Evaluierung nach drei Jahren. Nach drei Jahren werden wir uns das noch einmal ansehen und prüfen: Wie attraktiv ist das Gesetz überhaupt? Wie viele Anträge sind gestellt worden? Müssen wir vielleicht noch einmal nachjustieren? Drittens. Die Kommunalpolitiker schauen immer besonders auf ihre Zahlen. In der kleinen Tabelle steht: 235 Millionen Euro Steuerausfälle bei den Kommunen. Dabei muss man nur immer schauen, welche Kommunen es denn trifft. Es sind natürlich die Kommunen, in denen es junge Wachstumsunternehmen gibt, die neue Investoren finden und damit in den Genuss des neuen § 8d Körperschaftsteuergesetz kommen, also nicht die Kommunen, die vielleicht sowieso finanziell extrem unter Druck stehen. Es sind in der Regel Kommunen, die Gewerbebetriebe haben, die Körperschaften haben, die überhaupt in der Lage sind, den neuen Paragrafen anzuwenden. Der vierte und letzte Punkt: ein herzliches Dankeschön an alle, die daran mitgewirkt haben. Heinz Riesenhuber hat heute nicht nur Geburtstag, sondern ist auch einer der Väter zumindest des Antriebs dieses Gesetzes. Insbesondere gilt der Dank den Mitarbeitern des BMF, auch Ihnen, Herr Dr. Meister, aber auch den Mitarbeitern des Wirtschaftsministeriums sowie Helge Braun vom Bundeskanzleramt, der das Ganze positiv koordiniert hat; denn am Ende ist etwas Gutes herausgekommen. Insofern möchte ich Sie bitten, ein positives Zeichen zu setzen und diesem guten Gesetz zuzustimmen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner spricht Richard Pitterle für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Richard Pitterle (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf der Tribüne! Stellen wir uns mal klischeehaft vor, eine Gruppe junger, dynamischer Studentinnen und Studenten hat eine innovative Geschäftsidee und gründet ein Unternehmen, ein sogenanntes Start-up. Dazu brauchen sie zu Anfang und in den ersten Jahren immer wieder frisches Geld, vielleicht auch, weil nicht alles gleich so läuft, wie sie es sich vorgestellt haben, und weil das neugeborene Unternehmen erst einmal nur Verluste einfährt. Das ist bekanntlich eine schwierige Phase. So. Und nun kommt die Bundesregierung mit einem Gesetz daher, das etwas sperrig heißt: „Gesetz zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften“. Damit wollen Sie nach Ihren Bekundungen Unternehmen, insbesondere auch Start-ups, unter die Arme greifen. Die potenziellen Geldgeber sollen nämlich in unser Start-up-Unternehmen investieren und dafür die Verluste, die das Start-up in den ersten Jahren gemacht hat, vereinfacht gesagt, steuerlich verrechnen können. So weit, so gut. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass junge kleine und mittlere Unternehmen in ihrer Gründungsphase gefördert werden sollen, klingt ja erst mal sehr nett. Ich habe wirklich angenommen, dass der Großen Koalition endlich mal ein vernünftiges Gesetz gelungen ist. Aber für die Ausführung bekommen Sie von mir eine saftige Fünf; denn das Gesetz hat enorme Schwachstellen. Ich will Ihnen drei davon nennen. Erstens. Es ist gestaltungsanfällig, soll heißen, es eröffnet wieder einmal Spielraum für ein gezieltes Investieren findiger Spekulanten, die Unternehmensverluste nur für steuerliche Vorteile nutzen wollen. Darauf hat übrigens auch der Bundesrat hingewiesen und gar von „erheblichem Gestaltungspotenzial“ gesprochen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Bundesregierung hier wieder einmal eine so komplizierte Regelung vorlegt, dass sogar den Juristen bereits nach kurzer Zeit die Augen wehtun. (Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Es geht aber auch noch komplizierter!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, wir von der Linken haben es wirklich satt, dass Sie immer wieder Gesetze verabschieden, die den Konzernen stets neue Steuerumgehungsmöglichkeiten bieten. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Der Gesetzentwurf geht mit erheblichen Steuermindereinnahmen einher. Im Entwurf selbst werden die Mindereinnahmen auf insgesamt 600 Millionen Euro jährlich beziffert. Das trifft vor allem die Kommunen eiskalt – wir haben es schon gehört –: 235 Millionen Euro werden den Gemeinden für Straßen, Schulen und Krankenhäuser fehlen. Das ist bei weitem nicht das Schlimmste. In der öffentlichen Anhörung zum Gesetzentwurf wurde vom Sachverständigen Professor Jarass erörtert, dass es bei voller Nutzung aller Verlustvorträge durch die deutschen Kapitalgesellschaften knüppeldick käme; denn dann könnten in den nächsten Jahren Steuerausfälle von insgesamt bis zu 150 Milliarden Euro drohen. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das wurde aber nicht bewiesen!) Meine Damen und Herren, das ist schlichtweg eine Katastrophe auf Kosten der Gemeinschaft der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Dritter und letzter Punkt und sozusagen das i-Tüpfelchen: Insbesondere Start-ups werden wahrscheinlich überhaupt nicht von den Regelungen profitieren. Die Möglichkeit der steuerlichen Verlustverrechnung ist nämlich an die Voraussetzung gebunden, dass das Unternehmen seit mindestens drei Jahren bzw. seit seiner Gründung ausschließlich denselben Geschäftsbetrieb unterhält. Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere in den ersten Jahren nach Gründung gibt es bei Start-up-Unternehmen noch laufend Anpassungsbedarf und entsprechende Umstrukturierungen. Zum Beispiel kann es sein, dass Abläufe in der Produktion oder vielleicht auch das Produkt selber geändert werden müssen, um am Markt die richtige Nische zu finden. Genau das wäre dann aber möglicherweise ein Ausschlussgrund, um in den Genuss Ihres Steuergeschenkes zu kommen. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie können doch nicht den Missbrauch verurteilen und dann Missbrauch gleichzeitig machen wollen!) Wenn aber insbesondere die, die von einem Gesetzentwurf explizit profitieren sollen, am Ende gar nichts davon haben, dann ist das ganz, ganz schlechte Gesetzgebungsarbeit. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, mit diesem Gesetz werden Sie nicht den kleinen Start-ups helfen, sondern wieder einmal unter Inkaufnahme erheblicher Steuermindereinnahmen Tür und Tor für die großen Zocker öffnen. Die Linke kann dieses Gesetz nur ablehnen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Lothar Binding, SPD-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Philipp Murmann [CDU/CSU]) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist ein kompliziertes Gesetz. Normalerweise ist es ja so: Sie bekommen Lohn und zahlen Lohnsteuer. Jemand macht Gewinn mit einem Unternehmen, dann zahlt er Gewinnsteuer. Hat er im letzten Jahr Verlust gemacht, dann kann er die Verluste in diesem Jahr mit dem Gewinn verrechnen. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Genau! So ist das!) Das ist auch fair; denn so kann man den Gewinn über die Jahre korrekt versteuern. Bis dahin ist alles in Ordnung. Nun gab es in der Vergangenheit Menschen, die angefangen haben, Verluste zu sammeln und so zu sortieren, dass sie, wann immer ein Gewinn eingefahren wurde, diesen Gewinn aus steuerlichen Gründen vernichtet haben, um Steuern zu sparen. Das nannten wir Mantelkauf. Die Leute haben „Mäntel“ gekauft, die alte Verluste enthalten haben, um sie über junge Gewinne zu legen, sodass man keine Steuern mehr bezahlt. Das wollen wir verhindern. Das hat bei uns einen kurzen Namen: Es heißt Körperschaftsteuergesetz § 8c. Er hat auch richtig gut funktioniert. Natürlich hatte das alte Gesetz Schwachstellen. Kollege Pitterle hat jetzt gesagt: Das neue Gesetz hat auch Schwachstellen. Ich muss ihm in allen drei Punkten, die er aufgeführt hat, recht geben. Es ist gestaltungsanfällig, wie im Übrigen jedes Gesetz. Wir kennen kein Gesetz, das nicht gestaltungsanfällig ist; denn kaum gibt es ein Hindernis auf der Straße, suchen wir einen kleinen Umweg. Es wird auch Steuermindereinnahmen geben, allerdings gezielt; denn wenn ich die Hilfe von jemandem benötige, dann kann es sein, dass die Hilfe etwas kostet; das kann auch hier der Fall sein. Das regeln wir ganz bewusst so. Wir sagen: Vielleicht erwischt es die Kommunen eiskalt, vielleicht hilft es aber auch den Kommunen sehr viel weiter, wenn neue Unternehmen bei ihnen eine wirtschaftliche Dynamik entfalten und dann Gewinne erzeugen, die fair versteuert werden. Insofern ist die neue Regelung etwas sehr Gutes. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Eine absolute Zielgenauigkeit hat das Gesetz auch nicht, weil es auch für Unternehmen gilt, die keine Start-ups sind. Es stimmt, dass die Zielgenauigkeit dadurch ein bisschen leidet. Allerdings müssen wir uns über den Unterschied zwischen Behauptung und Beweis unterhalten. Wenn ein Professor in einer Anhörung etwas behauptet, könnte es klug sein, dies auch zu beweisen. Leider hat Professor Jarass vergessen, das zu tun; aber es wäre klug gewesen. Wir suchen schon lange nach Möglichkeiten, innovative Unternehmen zu fördern. Aber was ist eigentlich ein innovatives Unternehmen? Sie machen etwas Neues, sie suchen nach neuen Produkten, sie wollen am Markt etwas Neues entwickeln. Gerade aus den Erfahrungen der letzten 20 Jahre wissen wir, dass viel Neues entstanden ist, oft zu unserem Besten; manchmal auch nicht immer nur zu unserem Besten. Jedenfalls hat das uns und unsere Wirtschaft vorangebracht. Wir sagen zu diesen Unternehmen auch Start-ups. Start-up, das heißt ja eigentlich „anspringen“. Ich hatte einen VW-Bus, der damit einige Probleme hatte, und deswegen mussten immer Leute kommen und helfen. Das kann auch hier sein: Ein neues Unternehmen hat Probleme, „anzuspringen“, und dann braucht man fremde Menschen, die helfen. Genau das soll dieses Gesetz leisten. Warum haben wir diesen Bereich in den Blick genommen? Eigentlich fühlen wir uns doch ganz wohl in unserer unternehmerischen Landschaft. Wir haben aber gesehen, dass in den USA – gut, die USA sind größer als Deutschland – ungefähr 60 Milliarden Dollar über eine entsprechende Förderung in die Start-up-Unternehmen fließen. Jetzt haben wir gedacht: In Deutschland werden das vielleicht 15 oder 20 Milliarden Euro sein, es sind aber nur 1,3 Milliarden Euro. Das hat uns doch zu denken gegeben. Wir haben gesagt: Das ist im Vergleich irgendwie zu wenig. Ich will hinzufügen, dass durch den von mir eben genannten Paragrafen schon sehr viel möglich war, nur eben kein Mantelkauf. Wenn zum Beispiel ein Business Angel Geld in ein Start-up, in ein neues Unternehmen gibt, dann ist es bisher so, dass er oft sehr viel mehr bezahlt hat, als die Buchwerte in diesem Unternehmen ausmachen. Er hat also eigentlich mehr bezahlt, als er dafür bekommt. Warum? Weil er hofft, dass das Unternehmen eines Tages Gewinn macht und er an diesem Gewinn teilhat. Er hat sozusagen die Hoffnung auf Patente. Er glaubt an die Idee. Bisher war es so, dass dieser Mehrpreis, den er bezahlt hat, stille Reserve war. Jetzt kommt das Besondere: Das war für ganz viele Unternehmen, auch für Start-ups, eine gute Lösung, weil der Verlust, der möglicherweise entstand, genutzt werden konnte, solange er diese stillen Reserven nicht überstieg. Also: Wenn jemand große stille Reserven erzeugt hat, hatte er die Möglichkeit, auch große Verluste zu nutzen, selbst bei, wie wir sagen, schädlichem Beteiligungserwerb. Das war eine sehr gute Möglichkeit in § 8c Körperschaftsteuergesetz. Bei einem Gesellschafterwechsel passierte bei einem Übertrag von bis zu 25 Prozent gar nichts, bei einem Übertrag von 25 bis 50 Prozent waren die Verluste ratierlich oder quotal zu verwerten, und erst ab einem Übertrag von mehr als 50 Prozent der Anteile konnten die Verluste komplett nicht mehr genutzt werden. § 8c war also, wie gesagt, eine gute Lösung für viele, aber nicht für alle. Um diejenigen, für die es in § 8c Körperschaftsteuergesetz keine gute Lösung gab, kümmern wir uns heute. In einem jungen Unternehmen – Kollege Murmann hat das schon angedeutet – besteht eine hohe Dynamik. Es gibt oft Eigentümerwechsel, die Leute kommen und gehen, sie wollen Geld geben oder es zurückhaben. Das ist kein ganz gerader Pfad; das ist ja auch klar, weil eine unbekannte Strecke begangen wird. Deshalb muss man besondere Hilfen bereitstellen. Die zweite Besonderheit ist, dass die Finanzierung solcher Unternehmen oft nicht über einen normalen Bankkredit läuft, sondern häufig über Beteiligungskapital. Das ist eine etwas andere Landschaft als die, mit der wir uns üblicherweise beschäftigen. Deshalb waren wir froh, dass das BMWi und die AG Wirtschaft ihre Gedanken dazu eingebracht haben. – Deshalb spricht heute auch Matthias Ilgen zu diesem Thema. Wir danken dir übrigens für deinen Brief, der eine Initialzündung war. Es gibt ja immer mehrere Väter für gute Ideen. – Das BMWi und die AG Wirtschaft haben eine Lösung entwickelt, die wir in § 8d Körperschaftsteuergesetz gießen. Gewundert hat uns nicht, was das BMF und das BMWi uns aufgeschrieben haben, sondern, dass trotz wissenschaftlicher Betreuung – wir haben ja mit den Wissenschaftlern gesprochen – in dem Gesetzentwurf ein riesiges Schlupfloch formuliert war, durch das Altverluste hätten aktiviert werden können. Und dabei reden wir über einen richtig hohen dreistelligen Milliardenbetrag; er liegt sogar über 150 Milliarden Euro, und das ist sogar bewiesen. Damit hätte man das gesamte Gesetz zunichtemachen können. Dank der Expertise von BMF und der Kollegen aus Nordrhein-Westfalen konnten wir dieses Schlupfloch im Gesetzentwurf schließen. Davon versprechen wir uns sehr viel. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das war gewollt!) – Das Schlupfloch war nicht gewollt, sondern das Schließen der Schlupflöcher ist gewollt. Es ist ja unsere Aufgabe als Finanzpolitiker, solche Schlupflöcher zu schließen. Wir kennen aber die Kreativität auf dem Markt. Es gibt immer wieder neue Schlupflöcher. Es ist gut, jetzt ein Regime mit starken Restriktionen zu schaffen, in das man auf Antrag kommt. Kollege Murmann hat schon vorgetragen, was alles erfüllt sein muss, damit man überhaupt in den Genuss von § 8d Körperschaftsteuergesetz kommt. Insofern denken wir: § 8d Körperschaftsteuergesetz ist ein Erfolg. Er hat aber einen kleinen Nachteil, und das ist seine Zielgenauigkeit. Er gilt für alle Unternehmen, auch für diejenigen, die wir gar nicht gemeint haben. Das ist ein Wermutstropfen, den wir in Kauf nehmen müssen, weil die Regelung ansonsten nicht europarechtskonform wäre. Ich fasse zusammen: § 8c Körperschaftsteuergesetz hemmt die Start-up-Unternehmen, und § 8d begünstigt gelegentlich die Falschen. Angesichts dieses ewigen Zielkonflikts ist die Evaluierung eine gute Lösung. So wissen wir in drei Jahren, ob wir entspannt Weihnachten feiern können oder nicht. Ich glaube, auf dieser Basis sollten wir den Gesetzentwurf heute beschließen und in drei oder vier Jahren noch einmal nachschauen. Schönen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist Dr. Thomas Gambke. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Verlustverrechnung ist ein Thema, mit dem wir Grüne uns schon lange beschäftigen. Schon vor vier Jahren haben wir in unser Wahlprogramm geschrieben: Wir wollen den Verlustuntergang bei innovativen Unternehmen nicht zulassen. Warum? (Dr. Philipp Murmann [CDU/CSU]: Dann können Sie doch heute zustimmen!) Weil innovative Unternehmen erst einmal investieren – das ist Forschung und Entwicklung – und diese Gelder später mit Gewinnen verrechnen wollen, so wie das in einem Konzern passiert; Kollege Binding hat darauf hingewiesen. Nicht, weil Sie so sympathisch darum geworben haben, lieber Kollege Murmann, sondern weil die Inhalte stimmen, ist uns dieses Thema ein großes Anliegen. Das Ziel wird von uns absolut unterstützt. Wie könnte man die ökologische Wende der Wirtschaft, die Energiewende und die Verkehrswende ohne Innovationen erreichen? Seit zweieinhalb Jahren wird über das Thema nachgedacht. Im September dieses Jahres wurde ein Entwurf, wie das Problem zu lösen sei, vorgelegt. Die Ziele waren klar: Wir wollen nicht allgemein, sondern wir wollen Innovationen fördern. Wir wollen es gestaltungssicher machen, sodass die ursprünglichen Themen des Mantelkaufs nicht berührt sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir wollten auch eine hinreichende Flexibilität – das ist ein ganz wichtiges Ziel – für unternehmerische Entscheidungen haben. Wir mussten und wollten das im Rahmen der beihilferechtlichen Vorgaben der EU machen. Lassen Sie mich ein Wort dazu sagen. Das klingt immer so, als ob die böse EU uns Grenzen setzt. Warum macht die EU das? Wir stehen hoffentlich dazu, dass wir Wettbewerb durch singuläre Maßnahmen in den nationalen Gesetzgebungen nicht eindämmen wollen. Das heißt also, dass etwas beihilferechtlich unproblematisch sein soll, ist im Grunde genommen ein vernünftiges und richtiges Ziel, das man sehr ernst nehmen muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich verhehle nicht, dass das keine einfache Angelegenheit war. Aber wir müssen jetzt kritisch darauf schauen, ob denn die Ziele wirklich erreicht wurden oder einigermaßen erreicht wurden. Wir wissen, dass es nie ein wirklich gestaltungssicheres Gesetz gibt. Aber die Frage ist, in welchem Umfang Gestaltungen möglich sind. Wir konnten uns nicht – das muss ich Ihnen sagen – für eine Zustimmung in der Bewertung entscheiden, obwohl wir es gerne gemacht hätten. Warum nicht? Zum einen geht es dabei um das EU-Recht. Das Berichterstattergespräch fand leider erst vorgestern statt. Wir hatten nur zwei Monate Zeit, im Parlament über diese doch sehr komplexe Sachlage zu beraten. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Aber wir diskutieren schon seit zwei Jahren!) – Ja, aber nicht die Lösung. – Ich fragte Herrn Murmann noch vor zwei Monaten: Was sind denn nun die Rahmenbedingungen? Er sagte: Ich weiß es noch nicht. Das BMF hat noch nicht gesprochen. – Das BMF hat erst Ende August gesprochen und den Gesetzentwurf erst Mitte September vorgelegt. Auf die Frage nach dem Beihilferecht hat man ganz lapidar gesagt: Na ja, das Wirtschaftsministerium hat uns sozusagen einen Freibrief gegeben. – Ich meine, das ist zu dürftig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir bekommen keinen Comfort Letter – das ist richtig –, aber nach unserer Auffassung hätte man noch einmal intensiv darüber nachdenken und sprechen müssen, um zu schauen, ob es wirklich beihilferechtlich unproblematisch ist. Warum? Weil die Unternehmen Rechtssicherheit brauchen. Wir haben ja gerade festgestellt, dass, wenn man aus § 8d Körperschaftsteuergesetz fällt, der Verlustuntergang wirklich komplett ist. Es gibt keine Heilungsmöglichkeiten. Das Gleiche gilt – jetzt komme ich auf den zweiten wesentlichen Punkt zu sprechen –, wenn es eine Veränderung des Geschäftsbetriebes gibt. Ich glaube, wir Grüne haben Ihnen sehr eindrucksvolle Beispiele nennen können. Sie sind auch in der Anhörung genannt worden, zum Beispiel von dem Vertreter des BITKOM. BITKOM hatte mit uns eine vernünftige Lösung gesucht und gesagt: Wir brauchen gerade für innovative Unternehmen einen größeren Bewegungsspielraum, als wir jetzt in dem Gesetzentwurf – übrigens auch mit unsicheren Rechtsbegriffen – haben. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Aber eine bessere Lösung hatten die auch nicht!) – Es hätte eine bessere Lösung gegeben, Herr Kollege Binding. Wir hatten einen Gesetzentwurf vorgelegt, um steuerliche Forschungsförderung zu ermöglichen. Das wäre sicher gewesen. Dazu habe ich überall große Zustimmung gesehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das wurde in die nächste Legislaturperiode verschoben. Ich bedaure das. Uns Grünen hätte es besser gefallen, wenn wir das in dieser Legislaturperiode gemacht hätten. Ein entsprechender Gesetzentwurf war vorbereitet. Wenn wir uns hier ein wenig mehr Zeit genommen hätten, um es gestaltungssicher und mit EU-Recht konform zu machen, dann hätten wir ein gutes Gesetz gemacht. Wir können uns heute leider nur enthalten. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist praktizierte Entscheidungsschwäche!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat Dr. h. c. Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Innovationen sind das Gebot der Stunde. An ausgezeichneten Ideen mangelt es in Deutschland ja nicht. Vielmehr haben wir ein Problem bei der Umsetzung der Ideen in die Praxis. Wie aber gelingt es, hervorragende Ideen zu marktreifen Produkten zu machen? Wie kann die Politik dafür sorgen, dass die guten Ideen nicht in der Schublade landen, sondern zur Grundlage eines Unternehmens werden, um damit auf der einen Seite Geld zu verdienen und auf der anderen Seite neue Arbeitsplätze zu schaffen? Das sind die entscheidenden Fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die wir uns für eine erfolgreiche Wirtschafts- und Standortpolitik stellen müssen. 2015 gab es 388 000 Existenzgründungen. Allerdings ist die Zahl leider rückläufig. Das ist ein gefährlicher Trend, den wir stoppen wollen, liebe Freunde; denn wir werden unseren Wohlstand nur sichern können, wenn wir unseren Unternehmen die besten Finanzierungsmöglichkeiten bieten. Unser Wirtschaftsstandort ist auf eine funktionierende Generationenbrücke, eine stetige Erneuerung dringend angewiesen. Deshalb ist es gut, dass wir heute eine Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung auf den Weg bringen. Für deutsche Unternehmen und speziell für Start-ups entsteht mit der Einführung des § 8d des Körperschaftsteuergesetzes eine wichtige steuerliche Verbesserung, meine Damen und Herren. Das wollen wir heute festhalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das bedeutet mehr Steuergerechtigkeit für die Zukunft, mehr Planungssicherheit, mehr Wachstumsperspektiven mit Wagniskapital, mehr Liquidität, mehr Investitionen und damit mehr Arbeitsplätze. Das ist das Ziel, und das ist der Erfolg dieses Gesetzes, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir wollen eine Evaluation, um zu zeigen, dass es stimmt!) Das ist nicht nur ein gutes Zeichen für die Handlungsfähigkeit unserer Großen Koalition, sondern insbesondere ein gutes Zeichen für die deutsche Wirtschaft. Bisher hat der § 8c Körperschaftsteuergesetz vielmals zu einem Verlustuntergang geführt und zu einem erheblichen unternehmerischen Risiko beigetragen. Die Verluste sind nur dann nicht weggefallen, wenn die Körperschaft die Stille-Reserve-Klausel oder die Konzernklausel erfüllt hat. Die Praxis hat aber gezeigt, dass diese Maßnahmen zu eng gefasst waren. Deshalb müssen wir in der Steuerpolitik immer wieder auf den Grundsatz des Nettoprinzips schauen. Der Verlust in einem Unternehmen ist in Wirklichkeit kein Missbrauch, sondern ein Verlust von Liquidität, die besser in eine Neuentwicklung gesteckt wird. Verluste sind in Unternehmen echte und werthaltige Vermögensgegenstände, da sie bei der Erzielung von ertragsteuerlichen Einkünften entstanden sind. Natürlich muss man Missbrauch eindämmen. Das haben wir auch getan. Bisher hat der Einstieg eines neuen oder weiteren Gesellschafters oftmals zu einem Wegfall von Verlustverrechnungspotenzial geführt. Das ist nun mal eine Ressourcen-, eine Investitions-, eine Liquiditätsvernichtung, die wir uns nicht leisten sollten. Deswegen wollen wir das heute beseitigen. Das ist der erfolgreiche Weg für die Zukunft, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn bei der Einkünfteerzielung echte Vermögensverluste entstanden sind, sollten nach dem verfassungsrechtlichen Nettoprinzip steuerliche Verluste eigentlich grundsätzlich Berücksichtigung finden. Deshalb erhalten mit dem heutigen Gesetz vor allem die kleinen und mittelständischen Betriebe neue Steuergerechtigkeit und zukünftig neue Impulse, um in neue Produkte, um in Digitalisierung investieren zu können. Vor allem ist es essenziell, den Wagniskapitalmarkt um die Gründerszene zu stärken. Wir vereinfachen den Zugang zu privatem Beteiligungskapital und schaffen damit die Grundlage für Wachstum und neue Arbeitsplätze. Ihnen wird es mit dem heutigen Gesetz zukünftig besser gelingen, Investoren für Geschäftsmodelle zu gewinnen. Die neue Ausrichtung ist an verschiedenen Konditionen ausgerichtet; das ist richtig. Wir haben hier bewusst Missbrauchsmöglichkeiten eingedämmt. Ich glaube, unter dem Strich war das ein erfolgreicher Verhandlungsweg, der von unserem Berichterstatter Philipp Murmann und seinen Partnern gegangen wurde. Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich Professor Dr. Heinz Riesenhuber herzlichen Dank sagen. Er hat viele Jahre für mehr Wagniskapital gekämpft und dafür in der Politik geworben. Lieber Heinz, zu deinem heutigen 81. Geburtstag liefern wir – nicht unbedingt pünktlich, aber wir liefern – und gratulieren dir. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Matthias Ilgen das Wort. (Beifall bei der SPD) Matthias Ilgen (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dann muss ich zunächst dem Kollegen Riesenhuber gratulieren – natürlich zuerst zum Geburtstag –; denn wir haben uns in den letzten Jahren viele Male im Ausschuss über dieses Thema unterhalten. Wie Sie wissen, hat der Erfolg sehr viele Väter. Peer Steinbrück und ich haben für unsere Fraktion einmal ein Papier mit 29 Thesen geschrieben, wie das im Steuerrecht vereinfacht werden kann, was man tun könnte, um praktische Probleme zu lösen. Einer der ganz dicken Kernpunkte war die Körperschaftsteuer – § 8c. Nun ist der Kollege Pitterle von den Linken leider schon entschwunden; er musste in einen wichtigen Untersuchungsausschuss. Das ist schade; denn ich hätte ihm gern selbst gesagt, dass er nicht verstanden hat, was wir mit diesem Gesetz tun wollen. Er hat es nämlich kritisiert und gesagt, das sei quasi ein neues Steuerschlupflochmodell und lade die Konzerne ein, neue Gestaltungsmöglichkeiten zu entwickeln. Was er aber nicht verstanden hat, ist, dass wir gerade mit diesem Gesetz versuchen, kleine junge und innovative Unternehmen – das mögen rechtlich GmbHs sein –, die am Anfang nicht in Konzernstrukturen unterwegs sind, sondern in der Regel von den Gründern, den Eigentümern geführt werden –, gleichzustellen. Wir reden in Europa und auch hier im Deutschen Bundestag immer so schön vom Level Playing Field, also von den gleichen Rahmenbedingungen, und die wollen wir hier endlich auch für die Start-up-Szene schaffen, damit sie ihre Verluste, wenn dies berechtigt ist, genauso loswerden können wie andere. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Kollege Gambke, ich finde es in Ordnung, dass wir über steuerliche Forschungsförderung reden wollen. Das braucht sicherlich ein Extragesetz. Man darf das nicht mit der Fragestellung in einen Topf werfen: Wie gehen wir mit berechtigten Verlusten um, die am Beginn eines Unternehmens entstehen, wenn investiert wird und noch kein Gewinn erzielt werden kann, weil noch keine Produkte am Markt sind, weil das Geschäftsmodell noch nicht vollständig ausgereift ist? Das darf man nicht in einen Topf werfen und sagen: Wir können dem einen nicht zustimmen, weil wir das andere auch wollen. – Stimmen Sie dem einen zu, dann machen wir gemeinsam das andere auch noch. Das wäre die Lösung an dieser Stelle. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir Wirtschaftspolitiker stellen täglich bei unseren Gesprächen mit Unternehmerinnen und Unternehmern – insbesondere der jungen und innovativen Unternehmen – in diesem Land fest, dass wir viele Hemmnisse haben, die wir Politiker manchmal gar nicht sehen, weil wir all unsere Gesetze – das hat Kollege Binding so schön gesagt – in bester Absicht hier im Deutschen Bundestag machen, weil wir Lösungen und Rahmenvorschläge so zu gestalten versuchen, dass der Staat und auch die Wirtschaft funktionieren können. Auf der anderen Seite gibt es manchmal eben auch Paragrafen, die dem einen oder anderen hinderlich sind bei dem, was er tun will. Wenn man das feststellt, muss man die Ehrlichkeit aufbringen und sagen: „Wir gucken uns an, was das bedeuten würde, wenn man das machte“, und dann einen Lösungsvorschlag unterbreiten. Das ist ein Weg, den man gehen kann. Natürlich ist Gesetzgebung auch immer Trial and Error. Das wissen wir, und deswegen begrüßt die SPD-Bundestagsfraktion eindeutig die Evaluierung nach drei Jahren. Dann werden wir nämlich Zahlen an der Hand haben und schauen können, wie sich das entwickelt hat. Aber die hier an die Wand gemalten Horrorszenarien von Milliarden und Abermilliarden werden nicht stattfinden, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Horrorszenarien?) Und das wissen Sie auch. Sie sagen das hier wider besseres Wissen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Mal sehen, was die Evaluierung bringt! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ja, genau!) Da sind wir alle miteinander gespannt. Der Bereich Wagniskapital muss auch in den kommenden Jahren weiter genau angeschaut werden. Wir müssen aufholen. Lothar Binding hat hier die Vereinigten Staaten von Amerika genannt, die sozusagen Vorzeigeland bei dieser Entwicklung sind. Aber auch ein Blick in die europäische Nachbarschaft lohnt sich. Großbritannien ist zwar ein schlechtes Beispiel – wir hatten gerade den Brexit –, aber wir können einmal nach Holland gucken. Wenn ich sehe, dass man dort das x-Fache an Wagniskapitalinvestitionen pro Kopf wie in der Bundesrepublik Deutschland hat, weiß ich doch: Man kann da besser werden, auch ohne dass man alle Rahmenbedingungen und Gesetzgebungen in diesem Bereich aufgeben muss und sozusagen nur noch den amerikanischen Wilden Westen hat. Ich glaube nicht, dass die Holländer den haben, sondern es lohnt sich, in die Nachbarschaft zu gucken und in Deutschland in den kommenden Jahren weiter Projekte in dieser Richtung umzusetzen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als besonderes Geburtstagsgeschenk erhält jetzt der Kollege Professor Dr. Heinz Riesenhuber die Gelegenheit, diese Debatte abzuschließen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aber nur drei Minuten!) Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Es ist sicher nur ein Zufall, dass dieses Gesetz ausgerechnet an meinem Geburtstag beschlossen werden soll. Aber ich gebe zu, dass ich mich freue. Hans, du hast das zusammen mit Philipp Murmann mit großer Herzlichkeit und Beharrlichkeit im Finanzausschuss vorangebracht. Herzlichen Dank an alle unsere Finanzer. Herr Binding, Sie waren mit genau solch einer Entschlossenheit dabei. Sonst wäre es uns nicht gelungen. In nobler Beiläufigkeit hat Herr Gambke angesprochen, dass die Debatte über die Europatauglichkeit ein bisschen spröde ist. Ich freue mich, dass Sie seit vier Jahren daran arbeiten. Wir haben es vor zwölf Jahren schon einmal versucht. Damals hatten wir auch eine prachtvolle Große Koalition, mit der wir alle glücklich waren. Steinbrück war Finanzminister. Wir haben das MoRaKG geschrieben, und jeder sagte uns – einschließlich des Finanzministers –: Europafest, europafest! – An Europa ist es aber gescheitert. Jetzt haben wir mithilfe von Michael Meister und Helge Braun und den Staatssekretären des Wirtschaftsministeriums die Sache so hingekriegt, dass uns die Leute sagen: „Das müsste stehen“, und darauf bauen wir. Einige Dinge werden wir uns in zwei, drei Jahren noch einmal anschauen; dann evaluieren wir die Sache mit dem „Geschäftsbetrieb“. Der Begriff ist zum Glück ziemlich vage. Bei jungen Unternehmen gibt es nun einmal Dynamiken, die nicht ganz leicht juristisch einzufangen sind. Die Juristen unterstützen uns aber, und damit wird die Weisheit zunehmen. (Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Sehr gut!) Dass diese Sache hier wirklich dauerhaft grundsätzlich ist, haben uns die USA vorgemacht. Die größten Unternehmen der Welt sind sehr jung, vielleicht 20 Jahre alt; manche sind noch jünger: Google, Facebook. Microsoft ist nur wenig älter. Sie können sie durchdeklinieren. Das alles waren Start-ups. Diese Start-ups sind nicht plötzlich entstanden, weil die Zeit reif war, sondern das war der Erfolg einer langjährigen Arbeit in Richtung einer enormen Innovationskultur, die in den USA entstanden ist, seitdem sie damals – 1958 war es – die SBICs gegründet haben, die Small Business Investment Corporations. Das hat sich entwickelt. Flankierend hat man dann die Kapitalertragsteuer, die Capital Gains Tax, halbiert, und die Sache blühte und gedieh. Inzwischen haben SBICs in 2 100 Fonds investiert und insgesamt über 166 000 Investments in kleinere Unternehmen getätigt. Das heißt, wir sehen da eine breite Dynamik. Einige sind dann durchgebrochen und sehr erfolgreich gewesen. – Genau diese Landschaft brauchen wir auch für die nächste Runde unserer Arbeit hier. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie müssen nur noch Steuern zahlen!) Wenn Sie heute über den Campus des MIT gehen, dann sehen Sie, dass die jungen Leute an einem schönen Sommertag da sitzen. Die Jungs quatschen dann natürlich über die Mädchen, und die Mädchen quatschen über die Jungs, (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder die Mädchen über die Mädchen!) aber sie quatschen auch über die Ideen, die sie haben, um einmal reich zu werden. Einige werden auch reich, und wenn sie reich werden, dann ist das ungemein anregend für die anderen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Mädchen wollen reich werden?) Wenn wir an einigen Stellen wirklich einen Durchbruch erzielen und das Ergebnis vorzeigen können, wird die Welt anders. Als aus dem von Günter Spur geleiteten Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik Mitte der 80er-Jahre hier in Berlin zwei, drei Gründer herauskamen, haben die anderen Kollegen gelächelt. Ein sicheres Beamtenverhältnis, und der Mensch gründet! Sie waren aber erfolgreich. Innerhalb weniger Jahre hatten wir plötzlich anderthalb Dutzend Gründungen, die sich fröhlich im Markt bewegt haben. Das jetzt wieder hinzukriegen, das wird die große Aufgabe sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Es wäre faszinierend, wenn Sie mir noch eine Viertelstunde Redezeit geben würden, Frau Präsidentin. Dann würde ich das im Einzelnen erläutern (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) und zeigen, wie wir seit dem Programm von 1983 zur Förderung von Technologisch Orientierten Unternehmensgründungen, TOU, systematisch weitere Programme zur finanziellen Beteiligung an jungen Technologieunternehmen aufgebaut haben: BJTU in 1989, BTU in 1995. Der Staat hat sich dabei finanziell immer weiter zurückgezogen: Darlehen statt Zuschüsse, dann Bürgschaften statt Darlehen. Der Staat hat Gründerzentren und Technologieparks gegründet. Es ist damals eine prachtvolle Landschaft entstanden, bis der Neue Markt hier funktioniert hat und ein entsprechendes Segment an der Börse eingerichtet wurde. Dann platzte im Jahr 2000 die Blase. Seitdem sind die Menschen ein bisschen deprimiert. Aus einer Depression entsteht wenig Dynamik. Es ging darum, wieder Schwung in den Markt zu bringen. Der Staat hat mit vielen Fonds geholfen: EIF/ERP-Dachfonds, ERP-Startfonds, High-Tech Gründerfonds. Er hat auch mit dem Programm EXIST und anderen Programmen geholfen. Das sind wunderbare Sachen, alle in Ordnung. Aber damit konnte man nicht die Zukunft gewinnen. Die Zukunft entsteht aus Wagniskapitalgesellschaften, deren Gründer für ihr eigenes Geld mit einer Innovationskraft und Entschlossenheit kämpfen, die ein Beamter nicht immer aufbringen sollte. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute liegt ein großes Gesetz vor. Ich bin zuversichtlich, dass es auf große Zustimmung stößt. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Na ja!) In der nächsten Runde wird es dann besser gehen; denn wir haben noch einiges vor uns. Wolfgang Schäuble, ein ungemein dynamischer und innovationsfreudiger Bundesfinanzminister, hat uns angekündigt, in den nächsten zehn Jahren 10 Milliarden Euro an Krediten über einen Tech Growth Fund für Start-ups bereitzustellen. Das ist schon einmal ganz beachtlich. Manche erreichen mit ihrer Firma einen Marktwert von vielleicht 20 Millionen Euro, aber dann fehlt ihnen das Geld für weiteres Wachstum. Wir kommen jetzt mit beachtlichen Beträgen. Ich bin voller Dankbarkeit und Bewunderung für den Finanzminister. Es gibt auch weitere Themen, um die wir uns kümmern müssen. Die Abschaffung der Umsatzsteuer auf die Management-Fee ist eine Zehnerpotenz weniger als das, was wir heute mit diesem Gesetz beschließen. Trotzdem ist es ein Riesenhebel, weil das Geld direkt in die Kassen der Unternehmer fließt. Wenn jemand die Wahl hat, hier ein Unternehmen zu gründen und damit erfolgreich zu sein oder in Luxemburg zu arbeiten und dort 20 Prozent mehr zu verdienen, dann ist das eine große Versuchung. Wir müssen zudem sehen, ob wir die Transparenz der Vermögensverwaltung gesetzlich regeln. Wir haben also noch einiges Schöne vor uns. Aber heute freuen wir uns über das, was uns mit diesem Gesetz gelingt. Es ist ein großer Schritt mit einer breiten Unterstützung dieses dynamischen Parlaments. Auch Herr Gambke will sich nur aus Höflichkeit enthalten. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Er darf nicht zustimmen!) Mit diesem Gesetz erreichen wir, dass die Menschen, die etwas selber machen wollen, ein bisschen mehr Luft zum Atmen haben; Menschen, die nicht darauf versessen sind, 38 Stunden in der Woche zu arbeiten, sondern entschlossen sind, mehr zu arbeiten und erfolgreich zu sein. Die Aufgabe eines stolzen und zugleich demütigen Abgeordneten ist es, dafür zu arbeiten, dass andere glücklich und erfolgreich sind – ohne Rücksicht auf unsere 38-Stunden-Woche. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Mit einer roten Fliege passt das echt gut!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Wir kommen damit zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10495, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9986 und 18/10348 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Damit kommen wir zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte all diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen zu erheben. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Damit rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Parteiensponsoring regeln Drucksache 18/10476 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte Sie, möglichst schnell Ihre Plätze einzunehmen und die Gespräche außerhalb des Plenarsaals weiterzuführen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute einen Antrag vorgelegt, in dem wir Sie auffordern, noch in dieser Legislaturperiode eine Regelung zum Parteiensponsoring zu machen. Warum tun wir das? Weil wir wollen, dass Sponsoring endlich den gleichen Transparenzpflichten unterworfen wird, welche im Parteiengesetz für Geldspenden bestehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Diese Forderung ist überfällig. Dies endlich einzulösen, ist auch überfällig. Das zeigen die jüngsten Skandale um das Thema „Rent a Sozi“. Wer es nicht mitbekommen hat: Wir reden seit 2010 darüber, dass eine Einnahmequelle der Parteien neben der staatlichen Parteienfinanzierung, neben der Frage von Geldspenden einen immer größeren Stellenwert bekommt, und das ist das Thema Sponsoring. Das Sponsoring ist aber im Parteiengesetz bisher nicht geregelt. Deshalb bedarf es dringend Klarheit und einer transparenten Darstellung gegenüber der Öffentlichkeit darüber: Wie viele Sponsoringeinnahmen haben eigentlich Parteien, worüber verfügen sie da, und in welchem Verhältnis stehen Geld und Zuwendung zu einer Leistung? Darüber gibt es aber überhaupt keine Klarheit, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nun passiert Folgendes: Wechselseitig werfen sich Parteien Skandale und Unterstellungen vor, aber ändern tun wir letztlich nichts. Im Jahr 2010, als die CDU in Nordrhein-Westfalen auf die Idee gekommen war, dass man Herrn Rüttgers für relativ viel Geld mieten kann, gab es eine riesige Empörungswelle. Es gab Diskussionen hier im Deutschen Bundestag. Damals gehörte ich dem Deutschen Bundestag seit einer Legislaturperiode und einem Jahr an. Deshalb habe ich das noch genau in Erinnerung. Seitens der SPD beispielsweise wurde hier im Parlament eine wahnsinnige Empörung an den Tag gelegt und gesagt: Wir brauchen jetzt im Parteiengesetz dringend die Verankerung zum Sponsoring. – Was ist daraus geworden? Bis heute, 2016, nichts. Weder in der alten Regierungskonstellation noch in dieser Regierungszeit waren Sie bereit, zum Sponsoring etwas zu machen. Jetzt, im Jahr 2016, ist die Lage plötzlich andersherum. Jetzt fängt eine Untergesellschaft des Vorwärts an, Termine mit Ministerinnen und Ministern zu vergeben und diese quasi zu vermieten. Unter dem Stichwort „Rent a Sozi“ finden wir alle das im Netz. Jetzt wird wieder erklärt: Wir brauchen dringend eine Regelung zum Sponsoring. – Nur, meine Damen und Herren: Es passiert nichts, weil keine der großen Parteien Bereitschaft zeigt, endlich im Parteiengesetz eine Regelung zum Sponsoring vorzunehmen. Dazu fordern wir Sie heute auf. Wir haben auch gesagt: Wir könnten hier im Bundestag eine sofortige Abstimmung machen; denn die Argumente sind doch ausgetauscht. Jeder weiß sogar, an welcher Stelle im Parteiengesetz wir eine solche gesetzliche Regelung platzieren müssten. Aber uns wurde schon erklärt, es bestehe Beratungsbedarf. Wir müssen das erst einmal wieder in den Ausschüssen versenken, weil keine Bereitschaft besteht, heute zu einer gesetzlichen Regelung im Parteiengesetz in Sachen Sponsoring zu kommen. Meine Damen und Herren von der SPD, wenn ich dann von Ihrer Seite das Argument höre, Ihnen würde der Antrag nicht weit genug gehen, kann ich dazu nur sagen: Das schlägt dem Fass den Boden aus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Außerdem höre ich von Ihrer Seite, man könne heute nicht über unseren Antrag abstimmen, weil Sie weitgehendere Vorstellungen haben und einen Gesetzentwurf vorbereiten wollen. Meine Damen und Herren, haben Sie noch nicht gemerkt, dass es im Interesse von uns allen ist, wenn wir das schnell regeln und klar regeln, mit Transparenzpflichten wie bei Geldspenden im Parteiengesetz? Die §§ 23, 24 und 25 haben uns hierzu die Vorlage geliefert. Sie können sich auch gerne unserem Gesetzentwurf anschließen. Er liegt vor. Da braucht man gar keine Beratung bis zum Frühjahr. Wir können ihn gern in der nächsten Woche gemeinsam wieder einbringen. Ich habe das Gefühl, dass Sie mit diesen Vorwänden einfach vernebeln wollen, dass Sie, also Union und SPD, letztlich nicht bereit sind, zu einer klaren Regelung zum Sponsoring zu kommen. Dabei wäre es für uns alle wichtig. Für alle Parteien würde das nach außen mehr Transparenz und Klarheit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern bringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nichtregierungsorganisationen wie LobbyControl und Transparency sowie Rechtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler fordern uns genauso wie der Bundestagspräsident seit 2010/11 in seinem Bericht über die Rechenschaftsberichte 2010 und 2011 der Parteien zur Parteienfinanzierung dazu auf, endlich eine Transparenzpflicht und Darlegungspflicht für Sponsoring zu schaffen. Ich zitiere den Bundestagspräsidenten und seinen Bericht: Die damit verbundene Transparenz liegt „im wohlverstandenen Eigeninteresse der Parteien“. Das hat Herr Lammert formuliert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Warum um alles in der Welt weigern Sie sich bis heute, mit uns zusammen für mehr Transparenz zu sorgen? Es geht doch nicht um wechselseitige Vorwürfe, sondern darum, endlich im Gesetz klar zu regeln, dass wir als Parteien beim Sponsoring die gleichen Darlegungspflichten haben wie bei Geldspenden, da das Thema eine so große Bedeutung hat. Lassen Sie mich zuletzt noch etwas zu Ihrem Ausweichargument sagen, Sie wollten einen Gesetzentwurf erarbeiten. Wir haben in der 17. Legislaturperiode einen Antrag zum Parteiensponsoring eingebracht, der zum Ziel hatte, das Ganze transparenter zu gestalten. Die Botschaft war: Beratungsbedarf! – Wir haben in der 17. Legislaturperiode einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht. Dieser wurde monatelang im Ausschuss versenkt – Beratungsbedarf! – und letztlich abgelehnt. Wir haben in der 18. Legislaturperiode einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht und sogar das Parteiengesetz geändert, nur nicht bezüglich Sponsoring. Heute beraten wir wieder über einen von uns eingebrachten Antrag. Ich fordere Sie abschließend auf: Lassen Sie uns das im Interesse aller Parteien klar und eindeutig regeln! Wir brauchen mehr Transparenzpflichten beim Sponsoring. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Philipp Murmann von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Jetzt sind wir gespannt!) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt hat sich Frau Haßelmann so aufgeregt. Dabei muss ich sagen: Eine schlechte Idee wird natürlich nicht dadurch besser, wenn man sie nur oft genug hier vorträgt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Forderung der Grünen nach einer weiteren zusätzlichen Regelung im Parteiengesetz ist unseres Erachtens aus mehreren Gründen nicht zielführend. Erstens. Das Sponsoring für Parteien ist rechtlich zulässig und bereits heute geregelt. Die Einnahmen sind nach § 24 des Parteiengesetzes im Rechenschaftsbericht der Parteien zu erfassen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht nach Zahler!) Das gilt übrigens auch für andere Bereiche des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebes. Warum wollen Sie eigentlich jetzt eine einzelne Einnahmeart herausgreifen? Das ist völlig unsystematisch. (Lachen des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE] – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Realsatire!) Wenn, dann müssten doch alle Einnahmen individuell und nach ihrer Herkunft ausgewiesen und zugeordnet werden. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können wir machen!) Zweitens. Sponsoring ist per se bereits ein transparenter Vorgang. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was?) Der Sponsor bezahlt dafür, dass er für sich wirbt, und zwar offen und publikumswirksam. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was hat er davon?) Sonst würde es auch gar keinen Sinn machen. Der Vorgang ist für jeden sichtbar. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat Ihnen das denn aufgeschrieben?) Sie können das auf fast jeder größeren Veranstaltung beobachten. Ich lade Sie gerne auch einmal zum Parteitag der CDU ein. Dort werden alle Aussteller und Sponsoren öffentlich genannt, (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei uns auch!) und Sie können sich ein Bild davon machen. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Grünen. Wir veröffentlichen das, wie ich Ihnen sagte, ja auch und die SPD, soweit ich das weiß, auch. Bei den Linken bin ich mir nicht ganz sicher. Aber darüber wollen wir jetzt einmal hinwegsehen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Murmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Volker Beck? Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Ich möchte die Gedanken gerne zu Ende führen. Wenn Sie, Herr Beck, am Ende noch Lust haben, können wir noch einmal schauen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich hätte Lust!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Am Ende geht das nicht, nur mittendrin. – Gut. Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Danke. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das zeigt, dass Sie unheimlich sicher in Ihrer Argumentation sind! Sonst hätten Sie die Zwischenfrage zulassen können!) – Lehnen Sie sich ein bisschen zurück, und hören Sie erst einmal zu! (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie hätten doch die Zwischenfrage zulassen können!) Wenn Ihnen das noch nicht ausreicht, dann beantworten wir Ihnen alle Fragen zum Sponsoring. Auch unsere Ausstellerunternehmen werden häufig von Journalisten deswegen angesprochen und beantworten entsprechende Fragen. Es gibt an diesem ganzen Vorgang überhaupt gar nichts zu beanstanden. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Was sagen Sie zu den Aussagen von Herrn Lammert?) Im Gegenteil: Sponsoring ist transparent und hilft den Parteien auch, ihren verfassungsmäßigen Auftrag zu erfüllen, nämlich in die Gesellschaft hineinzuwirken. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Warum sagt Herr Lammert das dann?) Drittens. Wir lehnen eine weitere Bürokratisierung im Parteienrecht ab. Die bestehenden Transparenzregeln im Parteiengesetz sind auch im internationalen Vergleich weitreichend und haben sich bewährt. Die Transparenz unserer Parteienfinanzierung ist nämlich viel höher als irgendeine sonst. Weder Vereine noch irgendeine von all den NGOs, die uns sonst natürlich immer gerne mit erhobenem Zeigefinger begegnen, erfüllen solche Transparenzregeln wie wir in den Parteien. Das ist so. Allerdings führen diese Standards bereits heute dazu, dass ein erheblicher administrativer und auch finanzieller Aufwand getrieben wird. Die Parteien aber und damit wir alle leben vom ehrenamtlichen Engagement ihrer Mitglieder. Das gilt besonders für die vielen Schatzmeister in unseren Parteien. Mit immer mehr Bürokratie frustrieren Sie nur diejenigen, die noch bereit sind, solche Ämter zu übernehmen, und sich damit für unsere Demokratie einsetzen. Es ist bereits heute nicht einfach, Kandidaten für die Schatzmeisterämter zu finden. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dazu brauchen wir Sponsoring?) Wir sollten das nicht durch noch mehr Bürokratie weiter erschweren. Viertens. Ihr Antrag zielt ja ganz offensichtlich auf einen aktuellen Fall im Umfeld der SPD. Dazu muss ich Ihnen aber sagen: Thema verfehlt, denn die von Ihnen vorgeschlagene Regulierung im Parteiengesetz würde diesen Fall gar nicht erfassen. – Es wurde in der Presse sogar der Vorwurf erhoben, die CDU sei an den Vorfällen schuld, weil wir bei der letzten Novelle des Parteiengesetzes gegen eine Sponsoringvorschrift gestimmt hätten. Das ist zwar ein netter Versuch, aber auch ein ziemlich plumpes Ablenkungsmanöver weg vom eigentlichen Vorgang. Bitte erlauben Sie mir, dass ich hier die Parteienrechtlerin Frau Professor Schönberger aus Konstanz zitiere, die die Sponsoringpraxis der SPD im ZDF als – ich zitiere – eine sehr intelligente, aber im Endeffekt trotzdem rechtswidrige Umgehung der Parteienfinanzierung bezeichnet hat. Sie ergänzte dazu, es könne nicht sein, dass – ich zitiere nochmals – durch die Zwischenschaltung einer GmbH legal wird, was sonst illegal wäre. Es ging also gar nicht um das Parteiengesetz, sondern um die Umgehung des Parteiengesetzes. Liebe Kollegen von der SPD, die Verantwortung für diese Vorgänge müssen Sie natürlich selber tragen. Ich finde es auch gut und richtig, dass Sie klipp und klar gesagt haben, dass diese Praxis jetzt beendet wird; denn natürlich schadet sie uns allen. Fünftens und letztens. Liebe Grüne, Regulierungen und Verbote sind ja Ihre Spezialität. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Irgendjemand muss ja regulieren und Gesetze machen!) Aber Sie drangsalieren natürlich vor allem die vielen Ehrenamtlichen, die für eine gute Sache werben, nämlich für unsere parlamentarische Demokratie. Die Unionsfraktion wird diesen Antrag deswegen ablehnen. Lassen Sie uns stattdessen lieber gemeinsam überlegen, wie wir unsere Demokratie und auch unser Land voranbringen, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was wollen Sie denn verbergen?) wie wir mehr Ehrenamtliche für unsere Parteien gewinnen können. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Durch Sponsoring? – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Sponsoring?) Transparenz ist für uns alle wichtig. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie ja zustimmen!) Sie ist ein hohes Gut. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wollen Sie die dann verhindern?) Wir haben, wie ich finde, auch einige sehr gute Vorschläge in den Schatzmeisterrunden – Frau Haßelmann, wir waren an der einen oder anderen Stelle ja auch zusammen – gefunden. Ob man die wirklich gleich in ein Gesetz gießen muss und damit zusätzliche Bürokratie auslöst, das möchte ich allerdings infrage stellen. Lassen Sie uns lieber Regelungen finden, die keine Bürokratie auf den unteren Ebenen auslösen. Für praktische und angemessene Vorschläge sind wir offen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Volker Beck um die Gelegenheit zu einer Kurzintervention gebeten. Die Betonung liegt auf „kurz“. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich will es auch ganz kurz machen. – Soweit ich mich erinnere, geht aus den Rechenschaftsberichten der Parteien nicht hervor, welches Unternehmen mit welchem Zahlbetrag für welche Sponsoringleistung einsteht. (Michael Frieser [CDU/CSU]: Doch!) Deshalb frage ich Sie einfach einmal probeweise: Können Sie mir sagen, welche Zahlungen in diesem oder im letzten Jahr – das dürfen Sie sich aussuchen –, ausgehend von den drei besten Sponsorverträgen, von wem in welcher Höhe an die CDU geleistet wurden? Das ist in den Drucksachen des Bundestages, in den Rechenschaftsberichten, nicht nachzuvollziehen. Deshalb würde ich das gerne von Ihnen wissen. Sie haben ja behauptet, das sei transparent. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sehr gut!) So viel Transparenz können wir uns ja heute hier einmal leisten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Murmann. Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Nur ganz kurz: Die Sponsoringeinnahmen werden in den Rechenschaftsberichten ausgewiesen, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht nach Herkunft! – Gegenruf des Abg. Michael Frieser [CDU/CSU]: Natürlich!) und Sie sehen bei jedem Parteitag die Liste der Sponsoren. Sie können auch nachfragen, was die Standgebühr kostet. Das alles ist völlig transparent. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist eine Gesamtsumme!) Dieser Antrag ist komplett überflüssig. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur Sponsoring auf Parteitagen! Es gibt alles Mögliche! – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Es handelt sich nur um eine Gesamtsumme!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Der Kollege Murmann hat jetzt Stellung genommen. Jetzt hat die Kollegin Dr. Petra Sitte die Möglichkeit, hier vorne für die Fraktion Die Linke Stellung zu nehmen.  – Bitte schön. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Danke schön, Frau Präsidentin. – Es ist ja schon gesagt worden: Das Thema Parteiensponsoring beschäftigt uns jetzt nicht zum ersten Mal. Nach den beeindruckenden Worten von Herrn Murmann traut man sich ja schon fast gar nicht mehr, das wieder aufzurufen. Wir hatten 2014 auch schon einen entsprechenden Antrag eingebracht; in ihm wurde gefordert, neben den Unternehmensspenden an Parteien auch das Parteiensponsoring zu verbieten. Das haben damals allerdings alle anderen Fraktionen abgelehnt. Das halte ich für fragwürdig; denn Sponsoring bedeutet im Gegensatz zu Spenden immer: Gegenleistungen. Wer sponsert, will dafür eine Gegenleistung. Da geht es bei weitem nicht nur um die Frage, ob man sich dort darstellt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist eben anders als bei Spenden. Herr Murmann, es ist eben auch nicht so, dass in den Rechenschaftsberichten die Sponsoren im Einzelnen nachvollziehbar sind. Im Gegenteil: Es gibt eine Gesamtsumme, und der Rest kann sich tapfer dahinter verstecken. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Worum geht es? Auch ich will das noch einmal sagen, damit der Bogen etwas weiter gespannt wird: Parteien müssen – das ist so vom Grundgesetz vorgeschrieben – auch Spenden einwerben. „Huch?“, mag der eine oder andere staunen. Wieso das denn? Der Hintergedanke dabei war, dass Parteien nicht gänzlich vom Staat finanziert werden sollen, um nicht gänzlich von ihm abhängig zu sein. Aber: Nicht nur Geld vom Staat kann abhängig machen, sondern eben auch Geld von Spendern. Insbesondere bei großzügigen Spendern könnte schon der Eindruck entstehen, als solle die bedachte Partei ebenjenem Spender mit der einen oder anderen Entscheidung besonders entgegenkommen. Wir haben das hier auch schon erlebt; ich nenne nur das breitgelatschte Beispiel Mövenpick. Dieses Dilemma löst das geltende Recht durch Offenlegung möglicher Beeinflussung. Es gibt also Veröffentlichungspflichten für bestimmte Spenden, und es gibt Spendenannahmeverbote. Auch das haben wir geregelt. Aber das ist uns zu wenig. Im Gegensatz zu Spenden gibt es in diesem Feld der Sponsoringeinnahmen von Parteien, für die es keine besonderen Anforderungen zur Veröffentlichung der Sponsoren gibt – das habe ich vorhin ausdrücklich gesagt –, immer eine Grauzone. Die Rechenschaftsberichte bieten diese Grauzone. Sponsoring ist dann eben nicht öffentlich nachvollziehbar. Und Sie wollen ja wohl nicht, dass ich zu jedem CDU-Parteitag komme, um mir auf Ihrer Wand anzugucken, wer Sie dort im Einzelnen sponsert, (Beifall bei der LINKEN – Michael Frieser [CDU/CSU]: Bitte, doch!) damit im Endeffekt der Parteitag überhaupt stattfinden kann, weil Parteitage nun einmal unverschämt teuer sind. (Dr. Philipp Murmann [CDU/CSU]: Genau!) Was in letzter Zeit bei der SPD mit der Agentur Network Media GmbH passiert ist, ist natürlich schon eine höchst fragwürdige Praxis und stellt genau die Grenzüberschreitung dar, die wir hier vermeiden müssen. Dass diese Agentur zu dem zur SPD gehörenden Vorwärts-Verlag gehört, ist relativ nebensächlich. Fakt ist, dass die Agentur versucht hat, Unternehmen und Lobbygruppen anzusprechen, um dann eben für Beträge zwischen 3 000 und 7 000 Euro Termine mit SPD-Bundesministern, mit ministerialen Beamten oder eben auch mit einzelnen Staatssekretären zu verkaufen. In den Medien war dann schnell, wie wir das schon festgestellt haben, „Rent a Sozi“ als Schlagwort zu hören. Es gab natürlich auch sofort das Remake: Ah, da war doch was mit Herrn Rüttgers. – Der hat das ja schon vor einigen Jahren – ich glaube, es waren sechs – aktiv betrieben, wobei ich finde, dass die Beträge, die damals Herrn Rüttgers bzw. der CDU zugegangen sind, weit über Wert lagen. (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) 2010 bestand dann auch Anlass, über diese Fragen immer wieder zu reden. Es war von Werbebriefen an potenzielle Sponsoren usw. die Rede. Es war die Rede von Partnerpaketen und Ähnlichem mehr. Und es war natürlich von exklusiven Gesprächen die Rede. Das ist das, was ich vorhin umschrieben habe mit den Worten: Der Sponsor will eine Gegenleistung. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Richtig!) Da kommt nicht bloß ein Plakat hin, sondern da geht es um Vernetzung. Genau dieser Eindruck sollte aus dem Bundestag heraus verhindert werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Vermieten von Amtsträgern mit Parteibuch ist eben genau der Punkt, der an die strafrechtliche Grenze heranreicht. Dass nun einige SPD-Kollegen – jeder von uns hat sich ja zwischenzeitlich den halbstündigen Bericht angesehen – ziemlich glaubhaft versichert haben, dass sie das nicht gewusst haben, ändert nichts daran. Allein, dass es möglich erscheint, zu Amtsträgern ebensolche Verbindungen aufbauen zu können oder sich zu erkaufen, ist sozusagen fast ein Totalschaden für die Demokratie. Da wir im Ranking der Liste der beliebtesten Berufe nicht gerade ganz oben stehen, ist eine solche Praxis ganz besonders problematisch. (Beifall bei der LINKEN) Meine Kollegin hat es gesagt: Wenn es nicht so problematisch wäre, würde es nicht regelmäßig im Bericht des Bundestagspräsidenten auftauchen. Der hat ja die Angelegenheit immer wieder an das Parlament zurückgegeben und für eine Regelung geworben. Wir meinen, dass Transparenz allein nicht ausreicht. Wir meinen, dass man die gesamte Praxis unterbinden sollte. (Beifall bei der LINKEN) Insofern würde man vonseiten der Parteien gar nicht erst in den Geruch kommen, solche Gegenleistungen erbringen zu müssen. Parteienfinanzierung soll demokratisch sein, und demokratisch geht es vor allem dann zu, wenn Bürgerinnen und Bürger genau die gleichen Rechte auf Zugang zu Politikerinnen und Politikern haben, wenn nicht über bestimmte Brücken gegangen werden muss, wenn keine Sonderzugänge für Lobbygruppen und für Firmen geschaffen werden. Ich hoffe, dass diese Debatte vielleicht ein ganz kleines bisschen zum Umdenken beiträgt. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – An dieser Stelle darf ich der Kollegin Sitte noch zu ihrem heutigen Geburtstag gratulieren. Herzlichen Glückwunsch! (Beifall) Jetzt hat die Kollegin Gabriele Fograscher, SPD-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der SPD) Gabriele Fograscher (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Transparenz – das ist wahr – ist unverzichtbar in einer parlamentarischen Demokratie. Sie ist essenziell für die Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger und damit für eine informierte Wahlentscheidung. Für uns ist Transparenz mehr als das, was Sie von den Grünen heute zum Thema Sponsoring vorlegen. Wir haben uns in den vergangenen Jahren immer wieder für mehr Transparenz eingesetzt, und wir konnten auch einiges erreichen: Wir haben die Bestechung von Abgeordneten neu geregelt und diese unter Strafe gestellt. Wir haben klare Regeln für den Wechsel von Politikern in die Wirtschaft geschaffen. Wir haben die Zahl der Hausausweise des Deutschen Bundestages für Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter stark begrenzt. Und wir erhalten regelmäßig halbjährlich einen Bericht der Bundesregierung über externe Berater in den obersten Bundesbehörden. Wir als SPD-Bundestagsfraktion würden gerne noch weiter gehende Regelungen schaffen. Damit Entscheidungsprozesse nachvollziehbar sind, wollen wir ein verpflichtendes Lobbyregister auf gesetzlicher Grundlage beim Deutschen Bundestag einrichten. Dieses soll darüber Auskunft geben, welcher Interessenvertreter mit welchem Budget für welchen Auftraggeber tätig ist. Auch der Einsatz von externen Beratern in den obersten Bundesbehörden muss nachvollziehbar sein. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist übrigens heute alles nicht Verhandlungsgegenstand!) Wir wollen deshalb eine legislative Fußspur einführen, aus der hervorgeht, welchen Beitrag externe Berater und Interessenvertreter bei der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes geleistet haben. Wir wollen, dass alle Bundestagsabgeordneten vollständig ihre Einkünfte aus Nebentätigkeiten offenlegen, und das auf Euro und Cent. Die derzeitige Stufenregelung bringt immer noch keine vollständige Transparenz. Auch bei der Parteienfinanzierung haben wir bereits mehr Transparenz geschaffen. Ende vergangenen Jahres haben wir die Saldierung wieder eingeführt. Damit wird transparenter, welche Einnahmen und Ausgaben eine Partei hat und worauf sich die staatliche Teilfinanzierung stützt. Das haben wir beschlossen mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Grünen bei Enthaltung der Linken. Wir können uns auch hier durchaus noch mehr vorstellen. So fordern wir zum Beispiel immer wieder – leider bis jetzt ergebnislos – ein Verbot von Verbandsspenden, die Einführung einer jährlichen Obergrenze von 100 000 Euro pro Spender und eine Herabsetzung der Sofortveröffentlichungsgrenze bei Großspenden. Auch wir wollen eine gesonderte Ausweisung von Sponsoring in den Rechenschaftsberichten der Parteien. Das haben wir auch in unserem Regierungsprogramm von 2013 festgeschrieben. Zu diesem Thema gab es bereits zahlreiche Berichterstattergespräche und Diskussionsrunden. Doch leider – das haben wir heute ja gehört – sehen CDU und CSU keinen Handlungsbedarf. Sponsoringeinnahmen werden derzeit unter der Rubrik „Einnahmen aus Veranstaltungen, Vertrieb von Druckschriften und Veröffentlichungen und sonstiger mit Einnahmen verbundener Tätigkeit“ ausgewiesen. Jetzt möchte ich einmal auf die Größenordnung eingehen, die dieser Einnahmeposten hat: bei der CDU und der SPD beträgt er jeweils 8 Prozent der Gesamteinnahmen, bei den Grünen sind es 1,6 Prozent und bei den Linken 0,9 Prozent. (Zuruf von der LINKEN: Das ist ungerecht!) Wenn es in dieser Legislaturperiode nicht mehr zu einer gesetzlichen Regelung zur gesonderten Ausweisung des Sponsorings kommt, werden wir als SPD auf freiwilliger Basis ab dem nächsten Parteitag die Aussteller und Sponsoren inklusive der gezahlten Nettosumme auf unserer Homepage veröffentlichen. (Beifall bei der SPD) Die Grünen stellen heute den Antrag, Sponsoringeinnahmen ebenso zu behandeln wie Spenden. Spenden werden über alle Gliederungen hinweg im Rechenschaftsbericht der Bundespartei zusammengeführt. Egal an wen, an welche Gliederung jemand spendet – alle diese Spenden werden für den Rechenschaftsbericht addiert. Für das Sponsoring ist das nicht so einfach. Auf Bundes-, Landes- und Bezirksebene ist eine separate Ausweisung machbar. Für die zahlreichen Ortsvereine, Unterbezirke, Kreisverbände mit Tausenden von ehrenamtlichen Kassiererinnen und Kassierern halte ich eine separate Ausweisung von Sponsoring aber nicht für zielführend. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Ehrenamtlichen müssen einen immensen bürokratischen Aufwand leisten, um zum Beispiel die Brötchen für 40 Euro, die der regionale Bäcker zum Kinderfest geschenkt hat, und die Würstchen für 90 Euro, die der regionale Metzger zum Sommerfest unentgeltlich geliefert hat, auszuweisen. Ich meine, dieser Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn durch solche Aufstellungen. Das zeigt, dass die bestehenden Regelungen für Spenden eben nicht eins zu eins auf das Sponsoring übertragen werden können. Wenn Sie von den Grünen wirklich eine praxistaugliche Regelung wollen, sollten Sie Ihren Antrag auf sofortige Abstimmung zurückziehen und mit uns in ernsthafte Gespräche eintreten. Frau Haßelmann, Ausschussberatungen und Berichterstattergespräche als ein „Versenken“ zu bezeichnen, entwertet auch unsere Arbeit im Parlament. (Zuruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich fordere Sie gerne zu ernsthaften Gesprächen auf, um eine Lösung für dieses Problem zu finden. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie nächste Woche einen Gesetzentwurf von Frau Haßelmann?) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt Michael Frieser das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Michael Frieser (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir erleben eine Sternstunde: Immer dann, wenn in der Presse mit entsprechenden Schlagzeilen von einer Verfehlung berichtet wird, muss das grundsätzliche Regel- und Gesetzeswerk herangezogen werden. – Frau Kollegin Fograscher: „Tapfer!“, würde ich mal sagen. Dass die SPD nach diesem „Lapsus“ – ich bezeichne das ganz vorsichtig mal so – genau das nicht weiter tut, nämlich einen Minister zu vermieten, versteht sich von selbst. Dazu brauche ich kein Gesetz und kein Regelwerk. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie war das bei der CDU in NRW?) Deshalb halte ich es auch für etwas schwierig, im Augenblick vor dem Hintergrund dieser Frage einen Hase-und-Igel-Wettbewerb zu veranstalten in dem Sinne: Der eine will etwas zum Thema Sponsoring, und der andere will etwas zum Thema Lobbyismus machen. – Das, was passiert ist, hat nichts mit Sponsoring oder Parteienfinanzierung im Rahmen von Spenden zu tun. Ich bitte darum, das im Sinne der Demokratie fein säuberlich auseinanderzuhalten. (Beifall bei der CDU/CSU) Sponsoring bedeutet, dass sich Menschen innerhalb eines Rechtsstaates, einer Demokratie dem politischen Prozess zuwenden und erkennbar machen, dass sie wirklich daran teilhaben wollen. Alle Einnahmen aus diesen Geschäften – das gilt nicht nur für Parteitage – können eingesehen werden. Die Rechenschaftsberichte liegen beim Bundestagspräsidenten. Auf Ersuchen sind wir selbstverständlich auch persönlich bereit, darüber Bericht zu erstatten. Wir laden jeweils auch gegenseitig zu den Parteitagen ein. Ich habe Verständnis dafür, dass die SPD, die diesen Fehler eingesteht und auch Besserung lobt, jetzt nicht nur sagt, dass sie das nicht mehr tut, sondern auch versucht, mit einem eigenen Vorschlag politisch in die Vorhand zu geraten. Ich glaube nur, dass wir uns damit in dieser Frage, um die es im Zentrum geht, keinen Gefallen tun. Denn weder eine Änderung beim Thema Lobbyismus noch beim Thema Sponsoring wird etwas daran ändern, dass man vor falsches Verhalten bei der Frage, wie man Einfluss auf die Politik gewinnen kann, keine Regeln setzen kann; denn in diesem Parlament ist jeder Einzelne von uns seinem Gewissen unterworfen – sofern der Einzelne denn eines hat. Aber im Ergebnis muss doch jeder selbst verantworten, wie er sich in dieser Frage verhält. Und ich bin darüber erstaunt, dass es doch immer wieder jemanden gibt, der sich tatsächlich für eine solche Aktion hergibt – egal mit welchen gesellschaftspolitischen, gesellschaftsrechtlichen Verschachtelungen man versucht, das in irgendeiner Weise zu camouflieren. Aber es bleibt dabei: Der Anteil des Sponsorings – wir haben es gehört – ist wirklich verschwindend gering. Deshalb kann man nur sagen: Die Ordnung, die wir in § 24 des Parteiengesetzes gefunden haben, beinhaltet auch die Pflicht, alle Sponsoringleistungen auszuweisen. Das bedeutet eindeutig, dass man das ablesen kann. Nicht umsonst hat die europäische Staatengruppe GRECO zum Thema Parteienfinanzierung gesagt: Dies ist in Ordnung. Es ist in Deutschland ordnungsgemäß – wie in anderen europäischen Staaten auch – geregelt. Das sagt übrigens auch die in diesem Land immer noch verbindliche Rechtsprechung: Alles, was zu dem Thema Sponsoring an Ausweisung notwendig ist, ist geleistet worden. Ich verstehe, dass man in so einer aufgeheizten Diskussion versucht, mit tollen Vorschlägen wieder nach vorn zu kommen. Aber ich kann nur sagen: Wir haben zwei Jahre zum Thema Parteienfinanzierung verhandelt. Erst in der letzten Sitzung haben die Grünen gesagt: Zum Thema Sponsoring könnten wir noch etwas machen. Die entscheidende Botschaft muss doch sein, dass wir in der Demokratie dankbar sein müssen für Menschen, für Firmen, die sich nicht nur zu Parteien bekennen, sondern auch zur Funktion von Parteien, nämlich an der Willensbildung teilzunehmen. Das bedeutet, dass sie sich nicht hinter Masken verbergen. Das bedeutet, dass man sich nicht im Hinterzimmer trifft, wo es keiner mitbekommt, sondern das bedeutet, dass man mit offenem Visier sagt, welche Firma an welcher Stelle Parteien mit einer Art von Sponsoring unterstützt. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber warum kann man das später nicht transparent machen? Dann haben wir auch kein Problem!) Darum geht es. Deshalb: Am Ende des Tages hilft alles Gerede nicht. Am Ende des Tages geht es darum, ob wir das, was wir an Regeln für die Parteienfinanzierung haben, anwenden. Es geht darum, dass wir als Parlamentarier in den Parlamenten, als Funktionäre in den Parteien – und das geht bis hinunter zu den Ehrenamtlichen – uns rechtstreu verhalten. Es muss gelten: Wir füllen diese Funktionen aus und versuchen dabei, unsere Arbeit aufrechtzuerhalten. Natürlich ist Sponsoring bei zurückgehenden Einnahmen ein zunehmend wichtig werdender Aspekt. Wer wüsste das besser als Parteienvertreter? Gegen dieses Problem im Zusammenhang mit Sponsoring helfen keine neuen Gesetze und auch kein neues Regelwerk; da hilft nur ein funktionierender moralischer Kompass. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der CDU allerdings fraglich!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Jetzt hat für die SPD-Fraktion der Kollege Dietmar Nietan das Wort. (Beifall bei der SPD) Dietmar Nietan (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gar nicht darum herumreden: Das in der Berichterstattung der Sendung Frontal 21 geschilderte Geschäftsgebaren innerhalb der SPD-eigenen Medienagentur Network Media ist unakzeptabel und mit sozialdemokratischen Prinzipien nicht vereinbar. Damit wurde nicht nur dem Ansehen meiner eigenen Partei, sondern auch der Politik insgesamt großer Schaden zugefügt. (Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Ich habe deshalb als Schatzmeister der SPD veranlasst, dass dieser Vorgang intern untersucht wird, um dann aus den gewonnenen Erkenntnissen auch Konsequenzen zu ziehen. Unabhängig von dieser Aufarbeitung habe ich umgehend sichergestellt, dass es die sogenannten Vorwärts-Gespräche nicht mehr geben wird. Ich weiß, dass wir uns nicht nur der berechtigten Kritik an dem, was passiert ist, sondern auch unberechtigten Unterstellungen stellen müssen. Deshalb will ich es hier noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: Trotz der Berichterstattung über unsere Agentur bleibt es für die SPD weiter dabei: Mit Sponsoringleistungen kann kein Zugang zu Amtsträgern, Abgeordneten oder Parteifunktionären erkauft werden. (Beifall bei der SPD) Ich will hier noch einmal betonen, dass die Politikerinnen und Politiker, die in der Vergangenheit an Vorwärts-Gesprächen teilgenommen haben, nicht über Details etwaiger Absprachen zwischen Sponsoren und der Agentur ins Bild gesetzt wurden; ihnen war auch die Höhe etwaiger Zahlungen nicht bekannt. Auch wenn wir davon ausgehen können, dass in dem in Rede stehenden Fall kein Verstoß gegen das Parteiengesetz vorliegt, hat Bundestagspräsident Lammert recht, wenn er sagt: Völlig unabhängig von der Frage, ob das rechtlich relevant ist oder nicht, es ist jedenfalls selten dämlich. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich weiß, dass das, was hier geschehen ist, zu einem weiteren Vertrauensverlust bei den Menschen in unserem Land geführt hat. Aber ich will an dieser Stelle auch deutlich sagen: Auch wenn es ein langer und schwerer Weg sein wird, sollten wir jetzt gemeinsam im Bundestag alles dafür tun, das verlorengegangene Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Aus diesem Grund begrüße ich die hier eingebrachte Initiative der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ausdrücklich. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es wäre aus meiner Sicht ein gutes Signal, wenn wir noch in dieser Legislaturperiode Regelungen in das Parteiengesetz aufnehmen, die das Parteiensponsoring transparenter machen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Wir hätten dem vorliegenden Antrag heute gerne zugestimmt. Da aber unser Koalitionspartner bisher nicht dafür zu gewinnen war, werden wir zu Beginn des kommenden Jahres unsere eigenen Vorschläge für mehr Transparenz beim Sponsoring vorlegen. (Michael Frieser [CDU/CSU]: Jetzt wird es echt dreist!) Ich will es hier sehr deutlich sagen, weil ich es auch belegen kann: Die Vorschläge, die wir machen, fordern wir als SPD seit 2010. Sie können das in unseren Wahlprogrammen, in den Statements meiner Vorgängerin, Dr. Barbara Hendricks, nachlesen. Es ist keine Erfindung, die uns jetzt einfällt, weil wir Mist gebaut haben. Ich will kurz schildern, was aus unserer Sicht wichtig wäre und was, ohne eine überbordende Bürokratie aufzubauen, getan werden könnte. Erstens. Wir brauchen im Parteiengesetz eine sehr präzise Definition davon, was wir unter Sponsoring verstehen, damit es keine Missverständnisse gibt. Ich glaube, dass die Definition, wie sie im Erlass des Bundesfinanzministeriums zur steuerlichen Behandlung von Sponsoring zu finden ist, eine gute Orientierung wäre. Zweitens. In den Rechenschaftsberichten der Parteien sollten Einnahmen aus Sponsoring mit einer neuen eigenen Einnahmeposition ausgewiesen werden und nicht wie bisher in eine Sammelposition eingehen, die einen, wie ich finde, schönen Titel hat. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Er lautet: „Einnahmen aus Veranstaltungen, Vertrieb von Druckschriften und Veröffentlichungen und sonstiger mit Einnahmen verbundener Tätigkeit“. Ich glaube, es ist sinnvoll, im Sinne der Transparenz Sponsoring nicht in einer solchen Sammelposition zu verstecken, sondern deutlich auszuweisen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Frieser [CDU/CSU]: Ministertreffen gehören nicht dazu! Selbst nach der Änderung gehören Ministertreffen nicht dazu!) Drittens. Es ist auch sinnvoll, eine Veröffentlichungspflicht, vergleichbar mit den Regelungen zu Parteispenden im jetzigen Parteiengesetz, zu verankern. Viertens. Hier gebe ich allen recht, die es angesprochen haben. Wir sollten uns darüber verständigen, dass wir, wenn wir eine neue Regelung schaffen, uns überlegen, wie wir sie so ausgestalten können, dass wir örtliche, lokale Parteiorganisationen vor einer überbordenden Bürokratie bewahren. Wenn Sie zum Beispiel vom örtlichen Metzger die Grillwürstchen für ein Sommerfest gesponsert bekommen, dann müssen Sie nicht ellenlange bürokratische Wege auf sich nehmen. Unabhängig von der Frage, wie wir uns hier im Parlament einigen, haben wir – meine Kollegin Fograscher hat das schon gesagt – uns auf freiwilliger Basis entschieden, ab dem nächsten Jahr sicherzustellen, dass wir nicht nur wie bisher die Liste der Sponsoren unserer Parteitage veröffentlichen, sondern für jede SPD-Veranstaltung die exakte Höhe des Betrages des jeweiligen Sponsors veröffentlichen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können mir wirklich glauben: Die jetzt bekanntgewordenen Vorfälle sind nicht nur peinlich. Sie ärgern mich deshalb, weil sie Wasser auf die Mühlen von Populisten sind, deren Parteien selbst mit dubiosesten Methoden zur Geldbeschaffung auffällig geworden sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit es keinen Zweifel gibt, will ich noch einmal betonen: Für das, was bei Network Media passiert sein soll oder passiert ist – wir untersuchen es –, tragen wir als SPD eine Verantwortung. Wir müssen dieser Verantwortung zukünftig durch ein besseres Handeln gerecht werden. Auf der anderen Seite halte ich es für richtig, dass wir für die Verteidigung einer pluralistischen, an den Werten unseres Grundgesetzes orientierten Parteiendemokratie hier in diesem Hause eine gemeinsame Verantwortung tragen. Wir sollten deshalb das Anliegen in dem hier vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nicht nur ernst nehmen, sondern auch sicherstellen, dass wir eine entsprechende Regelung möglichst in großer Gemeinsamkeit noch in dieser Legislaturperiode umsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich kann Ihnen jedenfalls versichern, dass an der SPD-Fraktion die Verabschiedung einer guten Regelung zum Sponsoring im Parteiengesetz noch in dieser Legislaturperiode nicht scheitern wird. Hier müssen jetzt andere Farbe bekennen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Unerträglich!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin Barbara Woltmann, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Barbara Woltmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor einem Jahr – es war auch Adventszeit – haben wir schon einmal nach zweijähriger sehr intensiver und heftiger Debatte eine Änderung des Parteiengesetzes verabschiedet, und in dieser Debatte war auch ein wichtiger Punkt, dass wir mehr Transparenz bei der Parteienfinanzierung schaffen. Ich denke – Kollege Frieser hat das schon ausgeführt –, das ist uns mit den Änderungen, die wir seinerzeit ins Gesetz hineingebracht haben, auch durchaus gelungen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht beim Sponsoring!) Dass wir jetzt erneut über das Thema Transparenz und die Frage, ob wir genügend Transparenz in der Parteienfinanzierung haben, sprechen müssen, ist einem aktuellen Anlass geschuldet. Kollege Nietan, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie hier so offen angesprochen haben, dass das ein Fehler war und sich so etwas auch nicht wiederholen darf. Ich glaube schon, es kann Ihnen nur peinlich sein, eine Überschrift wie „Rent a Sozi“ in den Medien zu lesen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bei Rüttgers war es nicht besser, oder?) Die Überschrift in der taz vom gestrigen Tag lautet: „Schluss mit Rent-a-Sozi“. Das macht es auch nicht wirklich besser, weil diese Art von Überschrift, wenn es denn so ist, immer eine Art von Käuflichkeit suggeriert. Ich bin von jeder Art von Schadenfreude weit entfernt. Denn seien wir doch mal ehrlich: Es fällt doch auf uns alle zurück, auf die gesamte politische Klasse. Wir alle müssen dem Eindruck entgegentreten, dass Politik in irgendeiner Art und Weise käuflich sein könnte. (Beifall des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE]) Politiker stehen sowieso schon in der Beliebtheitsskala ganz unten. Insofern sind die Aktivitäten Ihrer Werbeagentur, die Sie vorhin erwähnt haben – Network Media –, absolut kontraproduktiv und insgesamt schädlich. Dass die betroffenen Politiker – Herr Oppermann hat teilgenommen, Frau Lambrecht hat teilgenommen, Olaf Lies, der niedersächsische Wirtschaftsminister von der SPD, hat teilgenommen – von den Geldzahlungen keine Kenntnis hatten, macht es ja nicht wirklich besser. Der Negativeindruck ist erst mal da. Insofern müssen wir alles tun, damit sich dies nicht wiederholt. Ich möchte an die Worte des Kollegen Frieser erinnern, der vorhin gesagt hat: Dieser Vorgang hat absolut nichts mit dem normalen Sponsoring zu tun, sondern da ist gesagt worden, Ihre Politiker, Ihre Führungskräfte kämen nur, wenn eine Summe X gezahlt wird. Auch andere Parteien haben Fehler gemacht. Ich will uns da nicht ausnehmen: Das, was wir 2010 gemacht haben, war auch ein Fehler. Ich bezeichne es bei jeder Partei als Fehler, wenn der Eindruck vermittelt wird, mit einem Politiker könne man nur sprechen, wenn man vorher dafür bezahlt habe. Das möchte ich nicht. Ansonsten kann ich zur Parteienfinanzierung insgesamt nur sagen: Das ist in Artikel 21 Grundgesetz schon geregelt: Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung … mit. … Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen … Rechenschaft geben. Das haben wir ja auch mit der Novellierung im letzten Jahr gewährleistet. Da gibt es die einschlägige Vorschrift in § 24 Parteiengesetz. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Woltmann, das ist eine gute Stelle, um Sie mal zu unterbrechen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wolff? Barbara Woltmann (CDU/CSU): Ich glaube, wir sind schon jetzt in Zeitverzug. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ja, 40 Minuten!) Ich möchte gerne weitermachen. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Es gibt viele Möglichkeiten, wie sich Parteien finanzieren können: über Mitgliedsbeiträge und Spenden, aber natürlich auch über Sponsoring. Sponsoring ist ein legales mögliches Mittel; es ist überprüft worden. GRECO hat gesagt, es sei verfassungsgemäß, es sei alles in Ordnung, wir könnten das so machen. Der werte, geschätzte Kollege Helmut Brandt, der jetzt nicht mehr da ist, hat in seiner Rede am 17. Dezember letzten Jahres – er ist ja bei uns der zuständige Berichterstatter – schon dazu ausgeführt, dass § 24 Parteiengesetz das auch mit erfasst. Ich möchte an dieser Stelle ganz ausdrücklich betonen: Selbst wenn wir wie auch immer geartete Offenlegungs- und Transparenzregelungen bezüglich des Sponsorings hätten, wäre dieser Fall nicht davon erfasst gewesen. Ich möchte auch daran erinnern, dass sich jeder Abgeordnete – es gibt einen Verhaltenskodex, über den wir diskutiert haben und den wir uns am Anfang dieser Legislaturperiode gegeben haben – fragen muss: Was tue ich? Ist das politisch korrekt? Handle ich richtig? Daran müssen wir uns ausrichten. Wir halten eine weiter gehende Regelung nicht für erforderlich, weil wir glauben, dass § 24 Parteiengesetz das abdeckt. Wenn es gute Vorschläge gibt, wäre ich die Letzte, die darüber nicht noch einmal gerne redet. Aber wie gesagt: Dieser Vorgang wäre davon nicht erfasst gewesen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. Damit sind wir am Ende der Debatte angelangt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/10476 mit dem Titel „Parteiensponsoring regeln“. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache, die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung, und zwar zur federführenden Beratung an den Innenausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Nach ständiger Übung stimmen wir zunächst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Überweisung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition beschlossen. Deshalb stimmen wir über den Antrag auf Drucksache 18/10476 nicht in der Sache ab. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf: a)   – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes Drucksachen 18/9985, 18/10351, 18/10444 Nr. 1.9 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Drucksache 18/10521 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10522 b)   – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch Drucksachen 18/9984, 18/10349, 18/10444 Nr. 1.8 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Drucksache 18/10519 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10520 c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Existenzminimum verlässlich absichern, gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen Drucksachen 18/10250, 18/10519 Zu beiden Gesetzentwürfen der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ermittlung von Regelbedarfen werden wir später namentlich abstimmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Eines ist klar: Die existenzsichernden Leistungen müssen sich an den allgemeinen Lebensverhältnissen und der Wohlstandsentwicklung orientieren; denn Teilhabe muss auch bei Leistungsbezug möglich sein. Deshalb ist der Gesetzgeber zu Recht verpflichtet, regelmäßig die Leistungssätze sowohl im SGB II und im SGB XII als auch im Asylbewerberleistungsgesetz anzupassen. Mit beiden Gesetzen, die wir heute abschließend beraten, kommen wir dieser Verpflichtung nach. Schon der ursprüngliche Entwurf des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sah vor, das soziokulturelle Existenzminimum auf Grundlage des bewährten Statistikmodells erneut zu bemessen. Ich halte fest: Im Ergebnis führt das Gesetz unter anderem zu deutlich höheren Regelbedarfen für Kinder in der mittleren Altersstufe sowie zu moderaten Erhöhungen bei Alleinstehenden und Partnern in Paarhaushalten. Ich begrüße es sehr, dass wir uns im parlamentarischen Verfahren auf weitere Punkte verständigen konnten, von denen viele Menschen in unserem Land profitieren werden. So haben wir zum Beispiel das sogenannte Erstrentenproblem gelöst. Viele Leistungsberechtigte, die keine bedarfsdeckende Rente haben, mussten bislang im ersten Rentenzahlmonat von ihrem Grundsicherungsanspruch leben, weil die Rente erst am Monatsende überwiesen wird. Dadurch konnten Betroffene in der Vergangenheit in eine Notlage geraten. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sorgen wir dafür, dass Leistungsberechtigte künftig für den entsprechenden Monat ein Überbrückungsdarlehen erhalten, das nur in zumutbarer Höhe zurückgezahlt werden muss. (Beifall bei der SPD) Gestern im Ausschuss haben die Oppositionsfraktionen erhebliche Zweifel an der Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts geäußert. Diese Kritik wird auch heute zu hören sein. Dazu sage ich ganz klar: Der Gesetzgeber könnte es sich bei der Bewertung, an welchem Lebensniveau sich das Existenzminimum bemisst, natürlich leicht machen und die Referenzgruppe ganz großzügig bemessen. Dann drückte er sich zwar vor wertenden Entscheidungen in der Sache, erntete jedoch den meisten Applaus. Oder er stellt sich wie die Bundesregierung der Verantwortung und bekennt Farbe bei der Frage: Wie viel braucht ein Mensch zum würdevollen Leben? Die Bundesregierung hat sich mit ihrem Gesetzentwurf für eine verantwortliche und verantwortbare Neubemessung der Regelbedarfe entschieden. Grundlage ist das bewährte und vom Bundesverfassungsgericht im Kern bestätigte Verfahren unter Beachtung der höchstrichterlichen Urteile. Auch mit dem zweiten heute vorliegenden Gesetzentwurf, dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes, nehmen wir verantwortungsvoll notwendige Anpassungen vor. Ich bitte Sie um Zustimmung zu beiden Gesetzentwürfen, damit die Gesetze am 1. Januar 2017 in Kraft treten können. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt Katja Kipping. (Beifall bei der LINKEN) Katja Kipping (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Gewerkschaftsbund sagt zu dem vorliegenden Gesetzentwurf aus dem Hause von Andrea Nahles – Zitat –: Aus unserer Sicht sind die Defizite so schwerwiegend und vielfältig, dass wir fordern, noch einmal ganz neu zu rechnen. – Zitat Ende. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Recht hat er. Was Andrea Nahles hier vorgelegt hat, ist nichts anderes als das gezielte Kleinrechnen des soziokulturellen Existenzminimums. Und dazu sagen wir als Linke geschlossen Nein. (Beifall bei der LINKEN) Zur Erläuterung: „Soziokulturelles Existenzminimum“ meint, dass der Mensch nicht nur körperlich überleben soll, sondern auch als soziales Wesen überleben muss. Das heißt eben, dass man nicht nur Geld zum Essen braucht, sondern auch, um Freunde zu treffen, zu einem Verein zu fahren oder sich den Bezug einer Tageszeitung leisten zu können. Beim soziokulturellen Existenzminimum handelt es sich um ein Grundrecht. Hier ist also besondere Sorgfalt gefragt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Doch Andrea Nahles hat alle Tricks ihrer Vorgängerin mit CDU-Parteibuch faktisch fortgesetzt. Nur zur Erinnerung, wie der Regelsatz berechnet wird: Mehrere Haushalte halten über drei Monate ihre Konsumausgaben fest, und dann wird von den Ausgaben der ärmeren dieser Haushalte – es sind die unteren 15 Prozent – das Existenzminimum abgeleitet. Sie haben die unteren 15 Prozent der Einkommenshierarchie genommen. Nur, um eine Ahnung davon zu vermitteln, wie arm die Leute sind, von deren Ausgaben wir die Regelsätze ableiten, sage ich: Das durchschnittliche Einkommen dieser Haushalte beträgt 764 Euro. Das heißt, diejenigen, von deren Ausgaben wir das ableiten, leben weit unter der Armutsgrenze. In dieser Gruppe sind verdeckt Arme enthalten. Hinzu kommt, dass Sie jede Menge Abschläge zusätzlich vornehmen. Um einige Beispiele zu nennen: Die Haftpflichtversicherung, die Malstifte für die Kinder in der Freizeit, die Kugel Eis im Sommer, der Grabschmuck, der Weihnachtsbaum, das Glas Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt – das alles und vieles mehr gestehen Sie Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, nicht zu. Ich muss ganz klar sagen: Das, was CDU/CSU und SPD hier machen, ist eine große Bevormundung durch die materielle Daumenschraube, und das ist übel. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn man nur die offensichtlichen Tricks weglassen würde, müsste der Regelsatz bei mindestens 560 Euro liegen. Nun ist es ja neuerdings Mode geworden, das Problem Armut zu relativieren und zu sagen: Das ist ja nur ein statistischer Effekt. – Ich möchte klar festhalten: Es ist sehr sinnvoll, Armut im Verhältnis zum gesamtgesellschaftlichen Standard zu bemessen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Darüber hinaus müssen wir aber auch klar sagen: HartzIV-Betroffene hierzulande sind wirklich von materieller Unterversorgung betroffen. Dazu nur einige Zahlen: 34 Prozent – das ist also jeder Dritte – sagen, sie können sich keine notwendigen medizinischen Zusatzleistungen leisten; 59 Prozent sagen, sie können nicht einmal abgenutzte Möbel ersetzen; 69 Prozent der HartzIV-Betroffenen sagen, dass sie sich nicht einmal eine Woche Urlaub auf niedrigstem Niveau mit ihrer Familie leisten können; 29 Prozent sagen, dass sie es sich nicht leisten können, Freunde zu sich nach Hause einzuladen. Um es zusammenzufassen: Für viele Menschen hierzulande ist Armut wahrlich kein abstraktes Problem, sondern bittere Realität. Daran muss man etwas ändern. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Katja Mast [SPD]: Indem man sie in Arbeit bringt!) Unter diesem Tagesordnungspunkt wird auch der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes behandelt. Das, was Schwarz-Rot hier vorschlägt, ist schäbig. Es ist Ausdruck einer wirklichen Ignoranz gegenüber höchstrichterlicher Rechtsprechung. Ich kann aus Zeitgründen nur auf einen Punkt eingehen. Ihr Gesetzentwurf sieht vor, dass Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, die Leistungen um 10 Prozent gekürzt werden sollen. Sie unterstellen damit, dass all diese Menschen quasi in einer eheähnlichen Einstandsgemeinschaft leben. Der Vertreter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes hatte dafür nur ein Wort. Er sagte: Das, was Schwarz-Rot hier macht, ist faktische Zwangsverpartnerung. – Deshalb sagen wir zu diesem Gesetzentwurf ganz klar und entschieden Nein. (Beifall bei der LINKEN) Wir haben angeregt, dass über diesen Gesetzentwurf namentlich abgestimmt wird, und das aus gutem Grund. Ich habe in der Vergangenheit auf so mancher Diskussionsveranstaltung vor Wahlen immer wieder den Eindruck gehabt: Mensch, in der SPD sitzen echt vernünftige Leute, die verstanden haben, dass Hartz IV, dass die Agenda 2010 ein Fehler war, und die kritische Punkte einräumen. – Das Problem ist: Am Tag nach der Wahl ist das offensichtlich nichts mehr wert. Deswegen steht heute jeder von Ihnen ganz persönlich in der Verantwortung. Das, was hier vorliegt, bedeutet ganz klar Armut und materielle Ausgrenzung per Gesetz. Jeder, der diesem Gesetzentwurf zustimmt, sagt Ja zu Armut und Ausgrenzung. Wir als Linke sagen Nein dazu. Wir sagen Ja zu den wirklichen Alternativen. Das sind für uns gute Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von mindestens 1 050 Euro. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Danke. – Jetzt hat die Kollegin Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Jana Schimke (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend Gesetzentwürfe, bei denen es um die Neufestsetzung der Regelbedarfe im SGB II und im SGB XII sowie im Asylbewerberleistungsgesetz geht. Es geht also um jene Bereiche unseres Unterstützungssystems, mit denen das Existenzminimum bedürftiger Menschen in Deutschland sichergestellt wird. Uns wurde die Verantwortung zuteil, Wünschenswertes zu berücksichtigen, vor allem aber auch im Rahmen des Machbaren zu bleiben. Schließlich geht es um sehr unterschiedliche Gruppen von Menschen: Die einen sind dazu aufgerufen, für ihren Lebensunterhalt möglichst bald wieder alleine zu sorgen. Die anderen können das aus gesundheitlichen oder altersbedingten Gründen nicht mehr. Wenn es ums Geld geht, ist es fast nie möglich, alle Beteiligten – dazu zähle ich Parteien, Interessensverbände oder auch die Bundesländer – zufriedenzustellen. Deshalb hat eine Reihe von Forderungen keinen Zugang ins Gesetz gefunden. Das ist auch gut so. Gleichwohl schaffen wir heute die Grundlage, dass die Hilfebedürftigen in unserem Land weiterhin ausreichende Leistungen im Sinne des Existenzminimums erhalten. Bedürftige können weiterhin darauf vertrauen, durch den Staat und durch die Gemeinschaft unterstützt zu werden. Maßgeblich dafür ist die aktuelle Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus dem Jahr 2013. Sie spiegelt die Lebensverhältnisse der Haushalte und Menschen in Deutschland wider und ist damit eine der wichtigsten amtlichen Statistiken. Wir bleiben ganz bewusst bei dieser Methodik zur Berechnung des Regelsatzes, weil sie sich bewährt hat und den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht. Dies haben sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die Sachverständigen in der erst kürzlich stattgefundenen öffentlichen Anhörung noch einmal bestätigt. Die positiven Signale dieses Gesetzes an die Bürger zeigen sich einmal mehr in mehrfacher Hinsicht. Zum einen profitieren Bedürftige von der guten gesamtwirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Lage in unserem Land. So steigen die Regelsätze im Sozialgesetzbuch II und im Sozialgesetzbuch XII um durchschnittlich 5 Euro und für Kinder im Alter von 7 bis 14 Jahren sogar um 21 Euro. Hier kommen wir den Preissteigerungen der letzten Jahre in vielen Bereichen nach, beispielsweise in den Bereichen Nahrung, Kleidung und auch Energie. Zum anderen sind diese Erhöhungen moderat. Sie sind ein Signal an die vielen Menschen in unserem Land, die diese Leistungen mit ihren Steuern und Einkommen finanzieren. Wir als politische Verantwortungsträger zeigen, dass wir verantwortungsvoll mit den Steuergeldern umgehen. Sozialpolitik ist aber auch oft eine Gratwanderung zwischen Anreiz und Fehlanreiz. Deshalb werden wir als Union unsere Ziele von Sozialpolitik nicht aus dem Blick verlieren. Konkret ist damit das Prinzip von Hilfe zur Selbsthilfe gemeint. Ausufernde Regelsätze und Zusatzleistungen hier und da können dazu führen, dass Hilfe zu Abhängigkeit führt. Das wollen wir vermeiden. Es geht aber auch darum, zu prüfen, ob Leistungen noch zeitgemäß und in der Sache begründet sind. Dies zeigt sich auch bei den Regelsätzen im Asylbewerberleistungsgesetz. Hier kommen wir den vielen Asylrechtsänderungen des vergangenen Jahres nach, und wir entsprechen unserem Anspruch, vorrangig Sach- statt Geldleistungen auszugeben. Dies betrifft die Berechnung der Regelbedarfe. Danach werden wir den notwendigen Bedarf, zu dem Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Gesundheitspflege oder auch Haushaltsprodukte zählen, um durchschnittlich 17 Euro reduzieren. Wir führen ebenfalls eine neue, niedrigere Bedarfsstufe für erwachsene Leistungsberechtigte in Sammelunterkünften ein. Diese Personen teilen sich durch den gemeinschaftlichen Wohnraum die Kosten. Das werden wir künftig im Regelsatz berücksichtigen. Hier schaffen wir in vielerlei Hinsicht Klarheit und auch mehr Gerechtigkeit im Sinne aller, die auf staatliche Hilfen angewiesen sind. Weiter schaffen wir Klarheit bei den Menschen mit Behinderung, die in einer Wohngemeinschaft leben, zum Beispiel bei den Eltern, bei Freunden oder bei Verwandten. Sie wurden vorher durch die Regelbedarfsstufe 3 erfasst und damit wie Menschen in stationären Einrichtungen behandelt. Das Bundessozialgericht hat uns beauftragt, das zu ändern. Diese Menschen erhalten künftig einen höheren Regelsatz. Meine Damen und Herren, jeder in unserem Land kann darauf vertrauen, dass er in der Not die notwendige Unterstützung bekommt. Wir haben deshalb im Beratungsverlauf die Problematik der Erstrentner ausführlich thematisiert und eine Lösung gefunden. Diese durch Maß und Mitte geprägten Entscheidungen stehen für eine finanzierbare, nachhaltige und damit auch gute Sozialpolitik. Eine Gesellschaft muss sich ihre Standards, die sie sich selbst setzt, auch immer leisten können im Sinne kommender Generationen und des sozialen Friedens innerhalb der Gesellschaft. Genau das setzen wir mit diesem Gesetz um. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Griese [SPD]) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute ein sehr wichtiges Gesetz. Es geht um das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das betrifft die 8 Millionen Menschen, die in Deutschland Mindestsicherungsleistungen beziehen, und eigentlich uns alle, auch die, die Steuern zahlen, weil sich auch der Steuerfreibetrag letztlich aus diesen Berechnungen ableitet. Es ist also ein Gesetz, das uns alle betrifft. Das Existenzminimum wird alle fünf Jahre neu berechnet. Grundlage ist ein sogenanntes Statistikmodell. Es geht aber nicht darum, das Existenzminimum objektiv zu bestimmen, sondern dahinter stecken immer normative Entscheidungen. Die Grundidee ist eigentlich, dass man eine Referenzgruppe, die ein existenzsicherndes Einkommen hat, und deren Ausgaben betrachtet und daraus den Regelsatz ableitet. Was die Bundesregierung jetzt allerdings macht, ist Folgendes: Sie betrachtet eine Referenzgruppe, die sie so ausgesucht hat, dass das Einkommen gerade etwas über dem Grundsicherungsniveau liegt. In dieser Referenzgruppe sind zudem viele Menschen, die weniger als die Grundsicherung haben. Dadurch entstehen Zirkelschlüsse. Ihr Einkommen beträgt gerade einmal 764 Euro. Eigentlich müssten zumindest die Gesamtausgaben der Menschen in dieser Gruppe als Referenzwert genommen werden, aber selbst das macht die Bundesregierung nicht. Von den Ausgaben, die diese Gruppe hat, rechnet sie 140 Euro herunter und rechnet damit das Existenzminimum künstlich klein. Es ist eindeutig, dass das Existenzminimum, das die Bundesregierung hat berechnen lassen, nicht existenzsichernd ist. Deswegen werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich könnte relativ lange darüber reden, was an der Berechnung der Bundesregierung problematisch ist, und unsere Alternativen ausführlich darstellen. Ich mache das jetzt nicht, weil die drei Minuten, die ich noch habe, dazu nicht ausreichen und ich vermutlich keine zusätzliche Redezeit bekomme. Frau Präsidentin, ich würde das gern machen, lasse das aber und verweise auf die Stellungnahmen der Sozialverbände und den Alternativvorschlag in unserem Antrag, der hier heute auch behandelt wird. Darin steht, wie man das Existenzminimum methodisch vernünftig und existenzsichernd berechnen könnte. Ich empfehle das zum Nachlesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte die Zeit nutzen, um auf zwei aus meiner Sicht wichtige Punkte hinzuweisen, die in der Debatte ein Rolle gespielt haben und interessanterweise aus den Reihen der Unionsfraktion angesprochen worden sind, die ich für den sozialen Zusammenhalt bei uns für relevant halte, bei denen ich aber andere Schlussfolgerungen ziehen würde als die Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion. Der eine Punkt ist: Wir haben diese Woche gerade die neuen Zahlen vom Statistischen Bundesamt erhalten, wonach 8 Millionen Menschen in Deutschland Grundsicherungsleistungen beziehen – 8 Millionen, also fast 10 Prozent der Bevölkerung. Nimmt man noch Leistungen nach dem BAföG hinzu, sind es schon 9 Millionen Menschen, die Grundsicherungsleistungen oder ähnliche Leistungen in Deutschland beziehen. Kollege Zimmer hat in der ersten Lesung hier im Plenum sowie gestern im Ausschuss noch einmal betont: Wenn man das Existenzminimum ordentlich berechnete – wie wir das vorschlagen – oder wir dem Vorschlag der Linken folgten, hätten wir nicht 8 oder 9 Millionen, sondern 10 Millionen, 11 Millionen oder noch mehr Menschen, die Grundsicherungsleistungen beziehen. Damit stieße das bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherungssystem an seine Grenzen, was durchaus problematisch wäre. Deswegen ist es aus meiner Sicht wichtig, auch über Alternativen wie das Grundeinkommen nachzudenken und zu diskutieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Man muss aber mindestens dafür sorgen, dass die Menschen, die eigentlich nicht in das HartzIV-System, nicht in die Grundsicherung gehören, dort herauskommen. Dafür haben wir in unserem Rentenkonzept Vorschläge unterbreitet – vor allen Dingen die grüne Garantierente –, um Menschen, die lange rentenversicherungspflichtig beschäftigt waren, nicht in die Grundsicherung abrutschen zu lassen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die gilt nicht für Bestandsrentner, nur für die Zukunft!) Und wir werden morgen Vormittag die grüne Kindergrundsicherung diskutieren, mit der wir es erreichen, dass ein großer Teil der jetzt auf Hartz IV angewiesenen Kinder aus dem HartzIV-Bezug herauskommt. Das wäre das Mindeste, was man an der Stelle tun müsste. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte aber auf eine weitere Gruppe verweisen, und damit bin ich bei dem zweiten Punkt, der in der gestrigen Debatte eine Rolle gespielt hat, nämlich: Was ist mit den Erwerbstätigen? Müsste es nicht einen Abstand geben zwischen denen, die erwerbstätig sind, und denen, die das Existenzminimum erhalten? Ja, ich finde schon. Auch wenn das Lohnabstandsgebot nicht mehr gilt und für die Berechnung des Existenzminimums laut Bundesverfassungsgericht keine Rolle mehr spielen darf, müssen wir dafür sorgen, dass Menschen, die erwerbstätig sind, ein höheres Einkommen haben als das Existenzminimum. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) Da sind wir alle gefordert, noch einmal über Maßnahmen nachzudenken, mit denen wir das erreichen. Denn ich glaube, auch der soziale Zusammenhalt ist gefährdet, wenn es nicht möglich ist, durch eigene Arbeit mehr zu bekommen als das Existenzminimum. Das gilt auch für Teilzeiterwerbstätige und Selbstständige. Ich glaube, dass da noch eine wichtige Aufgabe vor uns liegt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch da könnte ich Vorschläge unterbreiten. Da aber meine Redezeit um ist, ein kurzes Fazit: Wir müssen also an zwei Stellen ansetzen. Wir brauchen auf der einen Seite eine Grundsicherung, die existenzsichernd ist, vor Armut schützt und deren Regelsatz vernünftig berechnet ist. Auf der anderen Seite müssen wir aber dafür sorgen, dass möglichst wenig Menschen in die Grundsicherung abrutschen, und dabei vor allem an die Alten, die Kinder und an die Erwerbstätigen denken. So wird ein Schuh daraus. Die Bundesregierung macht beides nicht, es wäre aber beides dringend notwendig, um den sozialen Zusammenhalt bei uns wiederherzustellen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Danke schön. – Jetzt hat Kollegin Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Daniela Kolbe (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut und entspricht auch dem gesunden Menschenverstand, dass wir uns die Höhe der Leistungssätze regelmäßig anschauen und den tatsächlichen Lebenshaltungskosten anpassen. Es ist logisch: Wenn die Preise steigen, müssen auch die Sozialleistungen steigen. Deswegen wird regelmäßig eine EVS durchgeführt – Herr Strengmann-Kuhn hat ein paar grundsätzliche Dinge dazu gesagt –, die eine statistische Grundlage dafür bietet, sich ein Bild zu machen, was man in Deutschland braucht, um ein würdevolles Leben zu finanzieren und teilhaben zu können. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie nehmen aber etwas raus!) Aber Sie haben völlig recht: Es ist eine normative Entscheidung, es gibt nicht den objektiv richtigen Wert dafür. Deswegen führen wir, wenn wir uns ehrlich machen, diese wichtige und auch schwierige Diskussion miteinander. Dieses soziokulturelle Minimum ist in Deutschland Gott sei Dank verbrieftes Recht, und zwar nicht nur für die Empfängerinnen und Empfänger von SGB-II- und SGB-XII-Leistungen, sondern auch für diejenigen Menschen in Deutschland, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Dazu möchte ich ein paar Sätze sagen. Auch nach dem neuen Asylbewerberleistungsgesetz steigen die Leistungen, weil die Preise gestiegen sind. Wenn Sie sich den Gesetzentwurf anschauen, dann werden Sie allerdings feststellen, dass die Auszahlungsbeträge sinken. Das liegt unter anderem daran, dass nach einer Einigung der Koalitionsfraktionen einige Dinge zukünftig als Sachleistungen erbracht werden, die deshalb aus dem Leistungssatz herausgenommen werden. Dazu sage ich gleich noch mehr. Wir gleichen das Asylbewerberleistungsgesetz an einigen Punkten auch an das SGB XII bzw. das SGB II an. Dadurch gibt es hier eine größere Parallelität; das finde ich auch gut und richtig. Unser System der Sozialgesetzgebung ist sehr kompliziert. Deshalb macht es Sinn, an der einen oder anderen Stelle gleichlaufende Regelungen zu haben. Ich freue mich sehr, dass wir es endlich hinbekommen haben, eine solche gleichlaufende Regelung im Bereich des Ehrenamtes einzuführen. Zukünftig – ich finde das vollkommen richtig – werden bis zu 200 Euro anrechnungsfrei sein, die ein Geflüchteter, der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhält, dafür erhält, dass er sich ehrenamtlich einbringt. Das ist genau die gleiche Regelung, die auch schon im SGB XII gilt, und wir freuen uns, dass das jetzt endlich auch für diesen Bereich in Kraft treten wird. (Beifall bei der SPD) Wir wertschätzen damit das bürgerschaftliche Engagement von Geflüchteten, das viele von uns auch aus ihren Wahlkreisen kennen. Wir fördern den Optimalfall der Integration und senden das Signal: Liebe Geflüchtete, ihr seid nicht zur Passivität in diesem Land verdammt, sondern wir wollen, dass ihr euch einbringt, dass ihr ein Teil dieser Gesellschaft seid und dass ihr euer Wissen und Können im Sportverein – oder wo immer ihr das mögt – teilt. Das ist die herzliche Einladung, die auch von diesem Gesetzentwurf ausgeht. (Beifall bei der SPD) Wir gliedern durch diesen Gesetzentwurf zwei Teile aus und erbringen sie zukünftig als Sachleistungen, und zwar die Leistungen für Strom und für Wohnungsinstandhaltung. Das ist für verschiedenste Konstellationen prinzipiell durchaus sinnvoll, etwa für Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften, die nicht renovieren, wenn sie ausziehen, und wo auch nicht jedes Zimmer einen Stromzähler hat. Diese Ausgliederung steht jetzt im Gesetzentwurf. Wir haben in der Anhörung aber auch durchaus kritische Stimmen gehört; denn das Leben ist bunt. Es leben eben nicht alle Bezieherinnen und Bezieher in Gemeinschaftsunterkünften, sondern manche leben auch in einer privaten Wohnung. Die Kommunen, die genau das fördern, dass Geflüchtete nämlich in privaten Wohnungen untergebracht werden, fürchten zukünftig einen höheren Verwaltungsaufwand, weil sie Stromrechnungen einsammeln und die Renovierungen klären müssen, und das nehmen wir sehr ernst. Außerdem müssen die Betroffenen wissen, dass sie zukünftig ein Recht darauf haben, die Stromkosten und die Kosten für die Wohnungsinstandsetzung abzurechnen. Womöglich wäre hier eine Kannregelung sinnvoller gewesen; denn das Leben ist nun einmal bunt. Wir haben aber etwas anderes getan: Wir werden uns die Regelung und ihre Wirkungen 2018 noch einmal anschauen und genau prüfen, ob wir hiermit den Kommunen einen Gefallen oder ob wir etwas Kontraproduktives tun. Ich denke, wir werden diese Debatte sowieso stets weiterführen, und das werden wir auch an dieser Stelle tun. Zum Schluss möchte ich noch einen Punkt loswerden, weil das in der Debatte manchmal ein bisschen schräg anklingt: Wir Sozis glauben nicht, dass man durch Leistungskürzungen Geflüchtete abschrecken (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) oder davon abbringen kann, nach Deutschland zu kommen. Es gibt auch aktuelle Studien, die genau das belegen. Die Leute kommen wegen der Demokratie, wegen der Freiheit und wegen der Rechtsstaatlichkeit hierher. Wir finden, dass das Bundesverfassungsgericht hier einen wichtigen Rechtsgrundsatz formuliert hat, nämlich, dass die Festlegung des Existenzminimums eben nicht migrationspolitisch motiviert sein darf, und dabei sollte es auch bleiben. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Kipping [DIE LINKE]: Da haben aber Ihre Kollegen von der CDU etwas anderes erzählt!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächstes hat Professor Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ermittlung der Regelbedarfe nach SGB XII ist ein kompliziertes Verfahren. (Katja Kipping [DIE LINKE]: In der Tat!) Darüber zu streiten, ob das alles trennscharf ist und welche Gruppen hereingerechnet, herausgerechnet, zu welchem Prozentsatz berücksichtigt werden sollen, ist ein unendliches Feld der Freude für die Fachwissenschaftler. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Der Kollege Strengmann-Kuhn, der ja Fachwissenschaftler ist, hat uns gerade und auch gestern im Ausschuss gezeigt: Das ist auch ein unendliches Feld der Leidenschaft. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt auch!) Man kann es anders machen, als wir es gemacht haben, man muss es aber nicht. Mir reicht es, dass das Statistische Bundesamt in der Anhörung bestätigt hat, dass die Berechnung fachlich in Ordnung ist. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du bist ja bescheiden geworden!) Ähnliches gilt für die Frage der Vereinbarkeit mit der Verfassung. Der Vorwurf der mangelnden Konformität mit der Verfassung ist immer schnell bei der Hand. Jedoch ist das Verfahren 2011 ähnlich durchgeführt worden, ganz ohne Beanstandungen. Für mich bedeutet dies: Die Ermittlung der Regelsätze ist sachgemäß und verfassungskonform. (Beifall bei der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber ist es auch gerecht?) Wir als Union haben uns – auch dies sei gesagt – einigen Wünschen des Koalitionspartners verweigert. Aber wir haben das mit guten Gründen getan. Drei Bereiche will ich einmal aufgreifen. Erstens. Unser Koalitionspartner hätte gerne gesehen, wenn wir für sogenannte Weiße Ware den Erwerb über Darlehen bzw. Zuschuss möglich gemacht hätten, also ganz ähnlich, wie es früher nach dem alten Bundessozialhilfegesetz möglich war. Nun ist die Weiße Ware schon Bestandteil des Regelsatzes. Mir ist aber auch klar, dass der dafür vorgesehene Anteil höchst selten zurückgelegt und gespart wird, wie übrigens auch bei den Haushalten, deren Einkommen über dem Niveau von Hartz IV liegt. Ich finde es schwer, zu begründen, dass wir den einen helfen und den anderen sagen: Schaut ihr einmal selbst zu, wie ihr das finanziert. Zweitens: die Frage des Umgangsmehrbedarfs. Ja, es ist richtig: Das ist ein schwieriges Thema. Besonders das Argument des Kindeswohls wiegt schwer. Jedoch gibt es schon heute einen Mehrbedarf für Alleinerziehende; sie sind in der höheren Regelbedarfsstufe 1 eingeordnet. Sie erhalten also mehr Leistungen als verheiratete Paare mit Kindern. Dies jetzt noch einmal auszuweiten, scheint mir zu Unwuchten zu führen, die schwer zu rechtfertigen sind, (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch um die Kinder und nicht um die Alleinerziehenden!) zumal unsere Bedenken, was die systematische Benachteiligung von Familien und eingetragenen Partnerschaften durch die unterschiedlichen Regelbedarfsstufen betrifft, nicht ausgeräumt sind. Drittens: die Ausweitung des Bildungs- und Teilhabepakets auch auf Nachhilfe zum Bildungsaufstieg. Ich sage offen: Hier hat es bei uns sehr kontroverse Diskussionen gegeben. Richtig ist: Der Zusammenhang von sozialer Lage und Bildungschancen muss durchbrochen werden. Richtig ist aber auch: Die Förderung von Potenzialen im Bildungsbereich ist eine Aufgabe der Schulen, mithin eine öffentliche Aufgabe. Warum soll ich eine genuin öffentliche Aufgabe privatisieren? Warum sollte ich hier Anreize für eine Nachhilfeindustrie setzen? Nein, ich jedenfalls halte dies für falsch. Bildung ist Aufgabe der Schulen, nicht das Geschäft der Nachhilfe. Die Schulen sollen ihren Job richtig machen. Bildungspolitik ist die Aufgabe der Länder. Den Bund durch die Hintertür in diese Aufgabe mit hineinzubringen, halte ich für falsch. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Dann wäre ja die Konsequenz, das ganze Paket abzuschaffen!) Ein letzter Gedanke. Transferleistungen müssen erwirtschaftet werden. Sie werden auch von denjenigen erwirtschaftet, deren Einkommen nur einen Wimpernschlag über der Grenze für den Bezug der Sozialleistungen liegt. Die Legitimität des solidarischen Miteinanders in unserer Gesellschaft hängt aber wesentlich davon ab, dass wir nicht die Ränder stärken, sondern die Mitte der Gesellschaft, dass wir den Menschen, die arbeiten und keine Transferleistungen erhalten, das Gefühl geben: Ihr seid uns wichtig, und zwar nicht nur als Zahlmeister für gesellschaftliche Randgruppen. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die haben aber Angst, abzusteigen, und die Angst wird immer größer!) Wenn wir den Populismus bekämpfen wollen, müssen wir deutlich machen: Wir wollen nicht die gesellschaftlichen Ränder auf Kosten der Mitte stärken, sondern die Randgruppen in die Mitte integrieren. (Katja Mast [SPD]: Stimmt! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst überlegen, dann sagen!) Über das, was dies bedeutet, waren wir in der Koalition durchaus unterschiedlicher Meinung. Ich finde es richtig, diese Differenzen deutlich zu machen. Sozialpolitische Probleme sind aus unserer Sicht manchmal eben auch ordnungspolitische Probleme und nicht, wie es manch einer denken mag, lediglich finanzpolitische Probleme. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die gesellschaftliche Ressource Solidarität nicht überstrapazieren dürfen, wenn wir sie erhalten wollen. Der Populismus dieser Tage nährt sich nämlich gerade von der Zersetzung und der Delegitimierung dieser Ressource. „Wehret den Anfängen“ könnte dann nämlich auch heißen, auch und gerade in schwierigen Diskussionen über Bedarfe den Blick auf das Gemeinwohl und die Gesamtgesellschaft nicht zu verlieren. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der SPD) Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über Gesetze, die mehr als 8 Millionen Menschen in Deutschland betreffen, davon allein 2 Millionen Kinder und noch einmal 260 000, die über den Kinderzuschlag von dem betroffen sind, was wir hier und heute beschließen. Wir haben uns bei der Methodik für das sogenannte Statistikmodell entschieden. Ich gebe allen Rednerinnen und Rednern recht, die heute gesagt haben: Wir müssen an dieser Stelle ganz besondere Sorgfalt walten lassen, weil es um viele Menschen geht. Es geht nicht nur um diejenigen, die im Leistungsbezug nach dem SGB II sind, die Arbeitslosengeld bekommen, die manchmal jung sind und an ihrer Situation noch etwas verändern könnten, sondern es geht auch um diejenigen, die alt und krank sind, die mit einer Behinderung leben und denen es deswegen nicht mehr möglich ist, an ihrer Situation etwas zu ändern. Genau deswegen müssen wir eine besondere Sorgfalt an den Tag legen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch müssen wir eine besondere Sorgfalt walten lassen, weil es um viele Kinder geht. Frau Lösekrug-Möller hat es gesagt: Wir erhöhen die Regelbedarfsstufe 5 um 21 Euro. Das ist super für all diejenigen, die jetzt diese 21 Euro mehr bekommen. (Beifall des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD]) Aber dies ist auch ein Hinweis darauf, dass wir uns vielleicht noch einmal genau angucken müssen, ob unsere Methodik wirklich ein valides Verfahren darstellt, um gerade für die Kinder angemessene Regelsätze zu ermitteln. Ich glaube, da haben wir eine Aufgabe für die Zukunft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die SPD hat es sich zur Aufgabe gemacht, die konkreten Probleme zu lösen, die uns in unseren Bürgersprechstunden, bei Gesprächen, die wir führen, auf den Tisch gelegt werden. Das war zunächst einmal die Frage der sogenannten Erstrenten, zu denen auch die Staatssekretärin schon etwas gesagt hat. Wer Arbeitslosengeld bezieht und dann in Rente geht, der hat bislang zu Beginn des Monats sein Geld bekommen, bekommt es dann zum Ende des Monats und hat einen Zeitraum vor sich liegen, in dem er sehen muss, wie er zurechtkommt. Das wollen wir jetzt mit einem Darlehen unterstützen, das nicht vollständig abbezahlt werden muss. Ich glaube, diese Problemlösung ist mehr als angemessen angesichts einer solchen Lücke im sozialen System. (Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unterdeckung!) Wir hätten gerne dasselbe Prinzip, nämlich dass wir die Menschen nicht aus der Verantwortung lassen, ihnen aber auch nichts aufbürden, was sie am Ende des Tages nicht leisten und nicht stemmen können, auch für die sogenannte Weiße Ware oder für unerwartet steigende Stromkosten angewandt. Leider hatten wir die Kraft in dieser Koalition nicht, das auch umzusetzen. (Kerstin Griese [SPD]: Sehr schade!) Wir haben eine weitere Diskussion geführt. Dabei ging es um die Frage der Mobilität. Auch da haben wir im Vergleich zu der Regelbedarfsermittlung der letzten Legislatur eine deutliche Verbesserung erzielt. Aber wir haben noch immer nicht das Problem gelöst, das Menschen haben, die im ländlichen Raum leben. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist. Ich komme aus dem ländlichen Raum. Nicht alles, was man zum Leben an Mobilität haben muss, ist über den öffentlichen Personennahverkehr gewährleistet. Ab einem bestimmten Alter und auch ab einer bestimmten Steigung ist auch nicht mehr alles wirklich zwingend mit dem Fahrrad zu erledigen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: E-Bike!) Ich bin froh, dass wir mit einem Gesetz, das wir heute Morgen beschlossen haben, wenigstens erreichen konnten, das Schonvermögen im SGB XII so zu erhöhen, dass ein günstiger Pkw darunterfällt. Das ist zumindest ein kleiner Schritt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin besonders traurig darüber, dass wir Folgendes nicht geschafft haben – Ordnungspolitik hin oder her; die Debatte hätten Sie schon mit Frau von der Leyen führen müssen, als Sie das Grundprinzip eingeführt haben –: Die jetzige Situation, dass Lernförderung in Form von Nachhilfe nur für diejenigen Kinder gilt, die akut davon betroffen sind, sitzen zu bleiben, und ich keine Möglichkeit habe, denjenigen Kindern Nachhilfe zu geben, die das Potenzial, das Talent und den Willen haben, sich zu verbessern, vom B- in den A-Kurs, von der Hauptschule in die Realschule zu kommen, ist etwas, was ich schon ziemlich bitter finde und was wir uns hätten leisten müssen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein weiterer Punkt war die Frage des Umgangsmehrbedarfs. Auch dazu haben wir eine lange Diskussion geführt. Dabei geht es darum, dass Menschen, die ihre Kinder in zwei Haushalten aufziehen, weil sie getrennt leben, einfach höhere Kosten haben, und diese an dieser Stelle auch berücksichtigt werden müssten. Dazu, das durchzusetzen, hatten wir ebenfalls nicht die Kraft – ich hoffe, dass wir auch das irgendwann wieder auf die Tagesordnung setzen können –; (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach der nächsten Bundestagswahl machen wir das!) das ist sehr schade. Auch das wäre eine wichtige sozialpolitische Maßnahme gewesen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Schmidt, denken Sie bitte an die Zeit. Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Ich denke an die Zeit, habe aber noch einen grundsätzlichen Punkt, den ich gerne loswerden möchte. Da hier immer nur über die Höhe der Transferleistungen geredet wird: Es geht nicht nur um die Höhe der Transferleistungen, sondern auch um eine soziale Infrastruktur, die wir für alle Menschen ausbauen müssen. Wenn ich mir anschaue, was diese Koalition für die Kommunen auf den Weg gebracht und geleistet hat, dann kann ich nur feststellen, dass das ein wichtiger sozialpolitischer Beitrag ist. (Beifall bei der SPD) Wir dürfen diejenigen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, nicht vernachlässigen. In diesem Sinne: Glück auf und noch einen schönen Abend! (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Tobias Zech das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Tobias Zech (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist unser gesetzlicher Auftrag, über die Regelbedarfe zu entscheiden. Deshalb sind wir heute hier. Ich möchte Sie aber auch daran erinnern, dass wir aufgrund unseres christlichen, wertegeleiteten Menschenbildes die Aufgabe haben, Regelsätze zu bestimmen, die eine gesellschaftliche und kulturelle Teilnahme am Leben ermöglichen. Das ist uns hiermit gelungen. In der katholischen Soziallehre geht es um Solidarität und Subsidiarität, aber auch um die Achtung des Gemeinwohls. Alle drei stehen nebeneinander. Alle drei sind gleich wichtig. Alle drei erfüllen wir mit den beiden Gesetzen. Die Gesetze sind sachlich richtig und verfassungsgemäß. Die Berechnungen stimmen. Somit können wir ohne Weiteres zustimmen. Wir stimmen heute über den Entwurf eines Gesetzes ab, das in der Regel höhere Regelbedarfe vorsieht. Meine Vorredner haben schon erwähnt, dass die Regelbedarfserhöhung bei Kindern zwischen 14 und 17 Jahre 21 Euro beträgt. Natürlich nutzen wir die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, um beide Gesetze, sowohl das Asylbewerberleistungsgesetz als auch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen, zu evaluieren und weiterzuentwickeln. Wenn wir an die Diskussionen in den 80er-Jahren zurückdenken, als es noch darum ging, ob eine Kinokarte oder eine Zugfahrkarte zum Warenkorb gehören, dann können wir feststellen, dass die Methodik, die wir jetzt anwenden, wesentlich transparenter, ehrlicher und näher an den Menschen ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Wir haben auch Änderungen vorgenommen. Liebe Dagmar Schmidt, es sind sicherlich nicht alle Änderungen berücksichtigt worden, die wünschenswert gewesen wären. Aber wir haben das Gesetz geändert, und zwar in die richtige Richtung. Wir haben die Überbrückung der Erstrenten eingeführt; das ist wichtig. Kollegin Mast, das, was wir nun korrigieren, hat Rot-Grün eingeführt. Wir haben es nun gemeinsam repariert. Es gibt allerdings noch viel zu reparieren. Seien Sie doch einmal zufrieden mit dem, was wir geändert haben. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Die Nachhilfe wurde bereits als Beispiel genannt. Der Kollege Zimmer hat sehr eindrucksvoll dargelegt, wo überall Schwierigkeiten bestehen. (Katja Mast [SPD]: Das hat er nicht!) – Das sehen Sie anders als ich. Aber Sie erlauben mir sicherlich meine eigene Meinung. Ich gestehe Ihnen Ihre eigene auch zu. So schwierig das alles im Detail ist – wir haben das in der Anhörung und in der sehr emotionalen und guten Ausschusssitzung erlebt –, so wichtig ist, dass wir die Grundpfeiler Solidarität, Gemeinwohl und Subsidiarität nicht vernachlässigen. Bildung ist in diesem Land Ländersache. Daher dürfen wir die Länder auch nicht der Exkulpation zuführen. Die Länder haben sich darum zu kümmern, dass jedem Kind – gleich welcher sozialen Herkunft und gleich welcher finanziellen Verhältnisse – Bildungschancen eröffnet werden. Wir müssen die Länder in die Pflicht nehmen und dürfen nicht in vorauseilendem Gehorsam finanzieren. Wir beschließen zudem Änderungen des Asylbewerberleistungsgesetzes. Diese sind folgerichtig. Wir folgen somit den Beschlüssen des Koalitionsausschusses vom April dieses Jahres. Wir werden alles dafür tun, um die Sachleistungen in den Vordergrund zu stellen. Sie dürfen mit Geldleistungen verrechnet werden; das ist richtig. Kollege Strengmann-Kuhn, das ist auch verfassungskonform und ist somit nicht zu kritisieren. Wir müssen das Asylbewerberleistungsgesetz aufgrund der Diskussionen in unserem Land und aufgrund des Populismus, der über das Thema Asyl über uns alle hereinbricht, offen und transparent debattieren. Das tun wir heute. Dazu ist die Änderung im Gesetz notwendig. Wir haben neben dem Fokus auf Sachleistungen statt Geldleistungen mit der Adaption der Regelung über die Steuerfreiheit von ehrenamtlichen Bezügen analog zum SGB XII auch Erleichterungen geschaffen. Diese Erleichterungen können für eine bessere Integration genutzt werden. Es ist ein schwieriges Thema. Der Teufel liegt im Detail. Man kann über jede einzelne Ausgabe länger streiten. Ich bin mir aber sicher, dass wir hier zwei Gesetze verabschieden, die den Grundgedanken der Werte der sozialen Marktwirtschaft in diesem Land gerecht werden. Wir dürfen und müssen uns bei unserer Politik an den Rändern orientieren, aber wir müssen immer die Mitte im Fokus haben. Das schaffen wir damit. Ich bitte um Zustimmung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Zunächst kommen wir unter Tagesordnungspunkt 9 a zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/10521, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Ihnen bekannten Drucksachen in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf in dieser Ausschussfassung zustimmen will, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. – Das läuft auf ein ähnliches Abstimmungsergebnis hinaus. Wer ist dagegen? – (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Herr Präsident, bitte schauen Sie nach rechts!) – Ja, der Hinweis ist völlig richtig. – Wer nicht gegen das Gesetz stimmen will, der möge sich von den noch gar nicht freigegebenen Urnen entfernen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Selbst wenn ich jetzt zugunsten der Opposition eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die immerhin am Rande des Plenums hinten stehen, den abgegebenen Neinstimmen hinzurechnen würde, wäre das Erste immer noch die Mehrheit. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Einen Versuch war es wert!) – Der Versuch war zulässig. Er ist auch mit dem entsprechenden Ergebnis abgewickelt worden. Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/10531 ab. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei umgekehrter Stimmenverteilung ist der Entschließungsantrag mehrheitlich abgelehnt. Unter dem Tagesordnungspunkt 9 b geht es um die Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/10519, den Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die diesem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen – – Da gibt es schon wieder das gleiche Problem. Ich mache schon vorher darauf aufmerksam: Es beschleunigt das Verfahren nicht, wenn sich alle um die noch nicht vorhandenen Abstimmungsurnen drängen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Jetzt muss sich jeder, der steht, überlegen, wofür er stimmen will. Jedenfalls können Sie nicht gleichzeitig für und gegen den gleichen Gesetzentwurf stimmen. Es gibt auch noch ein paar einzelne Plätze. Insofern ist es zumutbar, sich zu setzen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Wir stimmen auf Verlangen der Fraktion Die Linke über den Gesetzentwurf namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist offenkundig der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis teilen wir dann anschließend mit.3 Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/10532. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Leichte Irritation bei der Fraktion der Grünen? – Seid ihr wieder sortiert? (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles gut! Wir sind im Film!) – Gut. – Wer stimmt dafür? – Die Antragsteller. Wer stimmt dagegen? – Die Koalition. Wer enthält sich? – Die Grünen. Ja, passt doch. Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt. Tagesordnungspunkt 9 c. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses auf der Drucksache 18/10519 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Existenzminimum verlässlich absichern, gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Mit den Stimmen der Koalition ist die Beschlussempfehlung mehrheitlich angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die Wahl von Betriebsräten erleichtern und die betriebliche Interessenvertretung sicherstellen – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Katja Keul, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräte braucht das Land Drucksachen 18/5327, 18/2750, 18/7595 Das soll in 38 Minuten abgehandelt werden. Hat jemand weiter gehende Vorschläge? – Das ist offenkundig nicht der Fall. Dann versuchen wir das einmal. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Kollegen Bernd Rützel für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Bernd Rützel (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Es ist mir völlig unverständlich, dass die Mitbestimmung trotz ihrer wirklich großen Erfolge so in die Defensive geraten ist – ja, das ist sie – ; deshalb bin ich den Linken und den Grünen wirklich dankbar, dass sie dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung setzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann stimmt ihr heute unserem Antrag zu, oder?) Sie stoßen bei uns auf offene Ohren. Gleichwohl will ich Ihnen sagen, dass Ihre Anträge zwar grundsätzlich in die richtige Richtung gehen, von uns aber nicht angenommen werden können. Das liegt einerseits an manchem Unausgegorenem, aber andererseits auch daran – das ist kein Geheimnis –, dass wir mit unserem Koalitionspartner nicht allzu viel aus dem Bereich Mitbestimmung in den Koalitionsvertrag hineinverhandeln konnten. Kaum jemand hier im Hause wird wohl bestreiten, dass die Mitbestimmung seit Jahrzehnten eine tragende Säule der deutschen Sozial- und Wirtschaftspolitik ist, dass sie Ausgleich und sozialen Frieden schafft. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Mitbestimmung hat uns Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktionsfortschritt und Planungssicherheit für die Unternehmen gesichert. Selbst Michael Rogowski, der noch 2004 als Präsident des BDI die Mitbestimmung als „Irrtum der Geschichte“ bezeichnet hat, dürfte spätestens seit der Finanzkrise bekehrt sein; ich hoffe es zumindest. Dank der Mitbestimmung ist Deutschland so gut wie kein anderes Land durch die Finanzkrise 2008/2009 gekommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Dank ihr gibt es ein seit Jahrzehnten erprobtes Vertrauensverhältnis zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern. Eben durch dieses Vertrauensverhältnis konnten Beschäftigte und Arbeitgeber gemeinsam Massenentlassungen und Betriebsschließungen oftmals verhindern. Auch Gerhard Cromme, der damalige Aufsichtsratsvorsitzende von ThyssenKrupp und von Siemens bestätigte im März 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Die Mitbestimmung in Deutschland hat in der Krise enorm geholfen. Dennoch haben nur 42 Prozent aller Betriebe in Westdeutschland und nur 33 Prozent aller Betriebe in Ostdeutschland eine betriebliche Interessensvertretung. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen muss die Mitbestimmung gestärkt werden!) Deswegen müssen wir die Mitbestimmung stärken. Übrigens, neulich hatte ich in meinem Wahlkreisbüro die Gewerkschaft der Profifußballer zu Gast. (Daniela Kolbe [SPD]: Oh!) – „Oh!“ – Sie sind organisiert; sie haben sich organisiert. Das sollte manchem vielleicht zu denken geben. Ich finde es sehr gut, dass sich die Profifußballer organisieren. Das sollte ein Beispiel für viele andere sein. Einige Arbeitgeber fürchten aber Betriebsratsgründungen wie der Teufel das Weihwasser. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Betriebsräte werden systematisch bekämpft!) Sie wehren sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, teilweise am Rande der Legalität und oftmals auch darüber hinaus. Sie bekämpfen systematisch die Gründung von Betriebsräten. Dementsprechend ist mittlerweile ein juristisches Beratungsfachgebiet entstanden. Wo man früher vielleicht noch versuchte, den einen oder anderen Vorgang einer Betriebsratsgründung durch Zugeständnisse oder durch eine Schönrednerei aus dem Weg zu räumen, so beauftragt man heute sofort Kanzleien – sehr teure Kanzleien – und greift auch sofort zur Kündigung. Man heizt das Union Busting deutlich an. Erst letzte Woche habe ich mit Vertretern der IG Metall zusammengesessen. Die Geschichten, die ich dort über Schikanen, Benachteiligungen, Verdächtigungen und Abmahnungen hörte, waren haarsträubend. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was macht der Gesetzgeber?) Wir brauchen eine bessere Lösung mit Blick auf die Strafverfolgung. Ich habe das selber in meinem Wahlkreis miterlebt, als eine Großbäckerei – ich habe das an dieser Stelle schon einmal ausgeführt – ihren gewählten Betriebsratsvorsitzenden entlassen hat – trotz der Unterstützung durch die Gewerkschaft NGG, trotz riesengroßer Medienkampagnen und Berichterstattungen in der Zeitung und im Fernsehen, trotz aller Interventionen von Mandatsträgerinnen, von Abgeordneten. Der Mann war raus. Er hat verloren, ist zermürbt und kann auch nicht mehr zurück. Für Unternehmen, die solche Methoden anwenden, fehlen mir die Worte. Sie werden jedenfalls nicht erfolgreich sein. Ich war lange selber Betriebsrat. Ich war Jugendvertreter, später Personal- und dann Betriebsrat. Ich weiß, dass die Politik die Mitbestimmung – da hast du vollkommen recht, Beate – und damit die Personal- und Betriebsräte stärken muss. Die Politik ist hier gefordert. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann liegt was auf dem Tisch?) Die Mitbestimmung ist ein Erfolgsmodell, auch wenn das nicht oder vielleicht noch nicht allen Arbeitgebern klar ist. Deutschland geht es gut – nicht trotz der Mitbestimmung, sondern wegen der Mitbestimmung. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Jutta Krellmann ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jutta Krellmann (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was fangen wir damit jetzt an? (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Arbeitgeber, die Betriebsräte systematisch behindern, gehören ins Gefängnis! – Das ist eine von 300 Antworten auf die Frage, wie Betriebsräte besser geschützt werden können. (Bernd Rützel [SPD]: Was steht denn auf dem Zettel in Ihrer Hand?) – Da steht: Gefängnisstrafen für Geschäftsführer und Vorstände. (Bernd Rützel [SPD]: Wer will das?) – Das will ich gerade erzählen. Zuhören! Darüber hat Die Linke letzten Freitag mit 250 Betriebs- und Personalräten im Bundestag diskutiert. Die Schärfe der Forderung zeigt die tiefe Empörung der Betroffenen. (Beifall bei der LINKEN) Im Gegensatz zu bezahlten Managern werden Betriebsräte von der Mehrheit der Beschäftigten im Betrieb gewählt. Aber wer sich für Demokratie im Betrieb einsetzt, der lebt gefährlich. Denn Betriebsräte oder Beschäftigte, die einen Betriebsrat gründen wollen, werden zunehmend eingeschüchtert, systematisch kaltgestellt oder direkt gekündigt. Ob im Einzelhandel, der Systemgastronomie oder anderswo: Einige Arbeitgeber wollen betriebsrats- und gewerkschaftsfreie Zonen schaffen, und dazu scheint ihnen jedes Mittel recht. Dazu engagieren sie Anwälte, die die Betroffenen mit Kündigungen überziehen, egal, ob berechtigt oder nicht. Dazu beschäftigen sie Detektive, die die Betroffene ausspionieren. Im Kern geht es darum, die Betroffenen mürbe zu machen und sie zu brechen. Dieses System nennt sich Union Busting und wird in Deutschland immer salonfähiger. Demokratie darf aber nicht am Werkstor enden! (Beifall bei der LINKEN) Richtig ist: Verstöße gegen die Betriebsverfassung sind kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat. Im Betriebsverfassungsgesetz heißt es in § 119: „Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Wahl des Betriebsrats ... beeinflusst“ oder dessen Tätigkeit „behindert oder stört“. Ich bin seit 30 Jahren Gewerkschaftssekretärin, aber ich kenne keinen Arbeitgeber, der wegen Betriebsratsbehinderung wirklich im Knast gelandet ist. Um Straftaten festzustellen, bräuchten die Arbeitsgerichte Ermittlungskompetenzen wie jedes andere Gerichte auch. Hier muss der Gesetzgeber handeln: (Beifall der Abg. Karin Binder [DIE LINKE]) Wir brauchen Schwerpunktstaatsanwaltschaften, um solche Vergehen gezielt zu verfolgen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Aber der Gesetzgeber kann oder könnte noch mehr tun. Die Linke fordert ein einheitliches Wahlverfahren und fordert, dass der Kündigungsschutz für alle Kandidierenden ausgeweitet und verlängert wird. (Bernd Rützel [SPD]: Da machen wir mit!) Der Einsatz von externem Sachverstand muss erleichtert werden. Genauso muss die Freistellung an heutige Anforderungen angepasst werden. Wir fordern eine Beweislastumkehr bei der Feststellung der Erforderlichkeit von Betriebsratsarbeit. Es kann doch nicht sein, dass beispielsweise bei H&M eine Teilzeitbeschäftigte durch Gehaltskürzung wegen ihrer Betriebsratstätigkeit in ihrer Existenz bedroht wird. (Beifall bei der LINKEN) Den Bundesregierungen der letzten 20 Jahre verdanken wir neben zwei Klassen von Belegschaften auch zwei Klassen von Betriebsräten: Betriebsräte, die seit Jahrzehnten verankert sind – der Kollege Rützel hat dazu schon etwas gesagt –, und Betriebsräte in Betrieben, in denen es bisher keine Mitbestimmung gab und die den Allmachtsfantasien ihrer Arbeitgeber schutzlos ausgeliefert sind. Politik muss diejenigen schützen, die von ihren Arbeitgebern zum Abschuss freigegeben werden. (Beifall bei der LINKEN) Die Arbeitswelt verändert sich, aber der Konflikt bleibt der alte: der Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital. Auch bei der Arbeit der Zukunft ist die entscheidende Frage, ob diejenigen, die die Werte erarbeiten, mitentscheiden können oder nicht. Unser Antrag ist heute nur der Anfang. Wir streiten auch 2017 im Bundestag für die Rechte der Betriebsräte. Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Sie könnten heute schon etwas machen. Ich wundere mich sehr, dass Sie einerseits Betriebsräte unterstützen, aber heute vermutlich gegen unseren Antrag stimmen werden. Das ist doch einfach nicht glaubwürdig. (Zuruf des Abg. Bernd Rützel [SPD]) Ziehen Sie die Korsettstangen ein, und stimmen Sie gemeinsam mit uns für den Antrag, damit für die Betriebsräte da draußen endlich etwas passiert, damit sie ihren Glauben an die Politik wiederfinden und sehen, dass für sie etwas gemacht wird. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Unionsfraktion hat jetzt der Kollege Wilfried Oellers das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Wilfried Oellers (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland ist nicht nur ein wirtschaftlich starkes Land, sondern wir leben hier auch die weltweit ausgeprägteste Form der Beziehung zwischen Unternehmer und Mitarbeiter. Das ist, auch was die Gesetzgebung betrifft, maßgeblich auf unionsgeführte Regierungen zurückzuführen. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie wird getragen von der Tarifautonomie und der betrieblichen Mitbestimmung. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Was hat denn die Tarifautonomie damit zu tun?) Neben dem erfolgreichen Unternehmertum in Deutschland mit den vielen mittelständischen und familiengeprägten Unternehmen, den Groß- und Kleinbetrieben mit ihren klugen Köpfen sind es aber gerade auch diese beiden Säulen der industriellen Beziehung, die Deutschland und die Menschen zu Wohlstand gebracht haben. Wie wichtig dies für eine erfolgreiche und funktionierende Wirtschaft ist, dafür, wie gut und verlässlich sie funktioniert, das sieht man insbesondere in Krisenzeiten; Bernd Rützel hat es schon angesprochen. Gerade die Erinnerungen an 2009 zeigen, wie wichtig es war, dass man auf diese beiden Säulen zurückgreifen konnte. Gerade diese beiden Säulen waren es, die uns weitgehend schadlos durch die Krise geführt haben, aber vor allen Dingen anschließend noch viel stärker aus der Krise haben herauskommen lassen. Das sehen wir heute insbesondere an dem historischen Tiefststand der Arbeitslosenzahl – circa 2,5 Millionen Arbeitslose – und an der Rekordbeschäftigungszahl. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) In dieser Beziehung ist es wichtig, dass Verständnis für die Situation des jeweils anderen aufgebracht wird und dass Lösungen gefunden werden, die die Interessen beider Seiten berücksichtigen. Das ist natürlich nicht immer einfach. Es führt zu intensiven und kontroversen Diskussionen. Schließlich wollen beide Seiten vorankommen: Die Unternehmer wollen auf der einen Seite bestimmte Vorstellungen umsetzen, wie man den Betrieb erfolgreich weiterentwickeln kann. Auf der anderen Seite möchten die Mitarbeiter eine Teilhabe an den Erfolgen erhalten, insbesondere aber auch in bestimmten Angelegenheiten mitreden können, Einfluss nehmen können und Ideen einbringen können. Wichtig erscheint mir in diesem Verhältnis, dass beide Seiten bei ihrem Handeln stets im Auge behalten, was der jeweils andere tut. Da, wo es funktioniert, funktioniert es wirklich richtig gut. Dort sind auch die Betriebe erfolgreich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bernd Rützel [SPD]) Natürlich ist es wünschenswert, dass von diesem erfolgreichen Modell, so gut es geht und so viel es geht, Gebrauch gemacht wird. Die Beschäftigtenzahlen, die durch die heute in Rede stehenden Betriebsräte vertreten werden, sind, wenn man die letzten 15 Jahre betrachtet, leider leicht rückläufig. Dabei ist festzustellen, dass mit zunehmender Betriebsgröße der Organisationsgrad zunimmt. Kleinere Betriebe – das verwundert natürlich nicht – haben oft keinen so großen Organisationsgrad. Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass dort engerer Kontakt zu dem Unternehmen besteht und dass das Näheverhältnis dazu führt, dass Probleme konkreter angegangen werden. Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass es neben den Betriebsräten auch weitere Einrichtungen gibt, wie zum Beispiel die Schwerbehindertenvertretung oder die Frauenbeauftragten in Unternehmen, die Interessen wahrnehmen. Sicherlich ist zu berücksichtigen, dass die Mitbestimmung in den unterschiedlichsten Branchen auch unterschiedlich stark verankert ist. Das hat aber auch zum Teil historische Gründe. Zu betonen ist allerdings, dass die Rechte der Betriebsräte im Betriebsverfassungsgesetz umfassend geregelt sind. Bereits ab fünf Mitarbeitern kann ein Betriebsrat gegründet werden. Er hat dann umfangreiche Rechte wie Unterrichtungsrechte, Anhörungsrechte, Informationsrechte, Mitbestimmungsrechte, Beratungsrechte usw. Sie beziehen sich nicht nur auf Personalangelegenheiten, sondern unter anderem auch auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitsabläufen. Betriebsräte genießen auch einen speziellen Kündigungsschutz. Deswegen kann ich das Beispiel, das du, Bernd, zitiert hast, nicht nachvollziehen; aber das scheint es ja zu geben. (Bernd Rützel [SPD]: Leider! – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Aber das sind Anwälte! Das ist Ihre Berufsgruppe!) Zu erwähnen ist, dass in dem Gesetzespaket zu den Werkverträgen und zur Zeitarbeit die Informationsrechte der Betriebsräte konkretisiert worden sind. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es doch gar nicht!) Darüber hinaus erlaube ich mir auch, darauf hinzuweisen, dass wir heute Morgen mit dem Bundesteilhabegesetz auch die Rechte der Schwerbehindertenvertretungen gestärkt haben. Das ist sicher ein anderes Thema, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) aber ich möchte es trotzdem an dieser Stelle erwähnt haben. Insgesamt denke ich, dass die derzeitige Rechtslage umfangreich ist und viele Schutzmechanismen hat. Sie stellt ein ausgewogenes Konstrukt dar. Schaue ich mir die Anträge an, die heute zu diskutieren sind, so möchte ich dazu sagen, dass sie entweder nicht nötig – ich erläutere das gleich näher – oder vielleicht etwas unverhältnismäßig sind. Ich komme zu dem Beispiel, dass Mitglieder in Wahlvorständen und Beschäftigte, die erstmals die Wahl eines Betriebsrats einleiten wollen, dem Schutz des § 119 Betriebsverfassungsgesetz unterstellt werden sollen. Hier geht es um die Ahndung von Straftaten gegen Betriebsverfassungsorgane und ihre Mitglieder. Nach meiner Auffassung haben wir an dieser Stelle eine Regelung, wenn wir § 20 Betriebsverfassungsgesetz mit § 119 Betriebsverfassungsgesetz in Verbindung bringen. Eine weitere Forderung ist, befristet Beschäftigte, die in einen Betriebsrat gewählt werden, dem umfassenden Schutz des § 78a Betriebsverfassungsgesetz zu unterstellen. Das hätte zur Konsequenz, dass aus einem befristeten Arbeitsverhältnis im Ergebnis ein unbefristetes Arbeitsverhältnis werden würde. Das allerdings verstößt gegen § 78 Satz 2 Betriebsverfassungsgesetz – für die Zuhörer mag das alles jetzt sehr juristisch sein, aber ich bin nun einmal Jurist –, in dem geregelt ist, dass Betriebsratsmitglieder weder benachteiligt, aber auch nicht bevorteilt werden dürfen. Wenn jemand, der befristet beschäftigt ist, in den Betriebsrat gewählt wird und dann ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bekommt, ist das eine Bevorteilung dieser Person, was zumindest nach dieser Norm nicht zulässig ist. Dann müsste man konsequenterweise hingehen und diese Norm auch abschaffen, aber das fordern Sie hier nicht. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum geht es dann bei Auszubildenden?) Deswegen ist der Antrag an dieser Stelle etwas unschlüssig. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Sie haben ein Demokratieverständnis, das ist unglaublich!) Dabei sei auch erwähnt, dass man, wenn man eine solche Forderung stellt, konsequent sein muss und keine Rosinenpickerei betreiben sollte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Darüber hinaus werden weitere Kündigungsschutzrechte verlangt. Ich habe eben erwähnt, dass der Kündigungsschutz für Betriebsräte eigentlich schon umfassend ist. Außerdem wird eine Meldepflicht bei Verstößen gefordert. Da soll eine entsprechende Einrichtung geschaffen werden, bei der sie dann gemeldet werden sollen. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir den Hinweis, dass sämtliche Verstöße, die im Ergebnis festgestellt werden, natürlich auch gerichtlich festgestellt werden müssen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht!) – Doch. – Die Verhandlungen sind öffentlich. Deswegen hat jeder im Ergebnis Zugang zu den Entscheidungen, sodass ich denke, dass eine Meldepflicht an dieser Stelle nicht nötig ist. – Daher lehnen wir die Anträge ab. Abschließend möchte ich vielleicht noch folgende Anmerkung machen: Auch wir von der Unionsfraktion sind der Auffassung, dass es sehr wünschenswert ist, wenn wir eine hohe Zahl von Betriebsräten haben. Das haben wir auch nie in Abrede gestellt. Aber es muss im Ergebnis auch die Entscheidung der Mitarbeiterschaft eines Unternehmens sein, ob sie es machen will oder nicht. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau! Es darf nur nicht behindert werden! Darum geht es! – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Es steht nirgendwo was anderes!) Ich möchte in diesem Zusammenhang einige Zitate aus der letzten Debatte nennen. Da wurde zum Beispiel gesagt – ich zitiere –: „Nur mitbestimmte Arbeit ist gute Arbeit.“ Ich persönlich würde das nicht unterschreiben, weil man damit der Freiheit der Mitarbeiterschaft bei der Entscheidung darüber, ob man einen Betriebsrat gründet, doch etwas widerspricht. Darüber hinaus wurde in der letzten Sitzung – es wurde heute nicht erwähnt, aber ich erwähne es trotzdem – „eine kämpferische Mitbestimmung in den Betrieben“ gefordert. Da muss ich sagen: Das sind Formulierungen, die eher auf Konfrontation ausgerichtet sind und so ein bisschen zum Klassenkampf aufrufen. Ich finde, in solch einer Diskussion und bei solch einem sensiblen Thema, vor allen Dingen bei solch einem erfolgreichen Modell sollten wir bei der Wortwahl doch etwas behutsamer vorgehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt aber auch andere Stimmen! – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Was machen wir denn gegen Union Busting? Was machen wir dagegen?) Im Ergebnis darf ich feststellen, dass wir zurzeit Rekordzahlen am Arbeitsmarkt haben, Rekordbeschäftigtenzahlen haben, geringe Arbeitslosenzahlen haben. Dies ist maßgeblich auf das hier in Rede stehende Modell zurückzuführen. Deswegen sollten wir es bei der derzeitigen Rechtslage belassen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Mit der ökonomischen Entwicklung hat das nichts zu tun!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Alle Fraktionen hier betonen immer wieder die wichtige Funktion von Betriebsräten; wir haben es gerade beim Kollegen Rützel gehört. In der Beschlussempfehlung spricht die Union von einem „Standortvorteil für die deutsche Wirtschaft“, es sei „grundsätzlich sinnvoll“, Betriebsräte zu stärken. Der Kollege Paschke von der SPD hat bei der ersten Lesung sogar analog zu unserem Antrag gesagt: „Ja, mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräte braucht das Land!“ Das hört sich alles gut an; aber ich kann diese Sonntagsreden einfach nicht mehr hören. Das Motto „Gut, dass wir mal darüber geredet haben“ ist zu wenig. Was fehlt, ist konkretes Handeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Bernd Rützel [SPD]: Das geht nur in einer Regierung!) Die Fakten sind doch wirklich bekannt: Die weißen Flecken bei der Mitbestimmung sind groß. Die Arbeit von Betriebsräten und Betriebsratswahlen werden behindert; Kollege Oellers, darum geht es. Die Mitbestimmung wird sogar in Teilen der Wirtschaft, wie in den USA, systematisch bekämpft. Es besteht also Handlungsbedarf; denn dieser Trend muss gestoppt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Drei Problemfelder sind mir ein besonderes Anliegen: Erstens. Die schwierigste Phase ist ja, wenn sich die Beschäftigten auf den Weg machen, einen Betriebsrat zu gründen. Sie sind dann besonders von Benachteiligungen und auch Kündigungen bedroht. Deshalb wollen wir, dass diese aktiven Beschäftigten einen besonderen Schutz bekommen. Wenn Arbeitgeber Betriebsräte verhindern wollen, dann müssen wir ganz eindeutig auf der Seite der Beschäftigten stehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Zweitens. In Betrieben mit einem hohen Anteil an Befristungen ist eine kontinuierliche Betriebsratsarbeit extrem schwierig, aber gerade dort ist ein gut aufgestellter Betriebsrat bitter nötig. Deshalb wollen wir, dass auch befristet angestellte Betriebsräte einen Schutz erhalten analog zu § 78a Betriebsverfassungsgesetz. Herr Oellers, wenn das bei Auszubildenden funktioniert, dann geht das auch bei Befristungen; denn die Betriebsratsarbeit lebt von Kontinuität. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Drittens. Wir hören immer wieder von Kündigungen, von Abmahnungen, Schikanen und Drohungen, wenn Betriebsräte in Betrieben nicht erwünscht sind. Das alles sind Straftaten nach § 119 Betriebsverfassungsgesetz, und doch haben diese Arbeitgeber in der Regel nichts zu befürchten. Da läuft etwas gewaltig schief. Dagegen muss etwas getan werden. Es darf keine rechtsfreien Räume geben; denn die Mitbestimmung ist gelebte Demokratie, und das sollten Sie endlich ernst nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Sehr geehrte Regierungsfraktionen, die großen Herausforderungen, die Globalisierung und jetzt auch die Digitalisierung, zu meistern, das schaffen die Unternehmen nur gemeinsam mit engagierten Belegschaften. Die Mitbestimmung schafft dafür die Voraussetzung; denn nur so entsteht Augenhöhe zwischen Beschäftigten und den Arbeitgebern. (Beifall des Abg. Bernd Rützel [SPD]) Die Vorteile der betrieblichen Mitbestimmung sind bekannt, und doch wird die Akzeptanz brüchig. Deshalb brauchen die Beschäftigten Unterstützung. Sie brauchen auch Rückendeckung, damit sie sich auch zukünftig engagieren und damit sie sich auch trauen, einen neuen Betriebsrat zu gründen, vor allem wenn die Arbeitgeber die Mitbestimmung verhindern wollen. Notwendig ist ein klares Bekenntnis, dass Betriebsräte erwünscht sind. Deshalb muss die Mitbestimmung gestärkt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Heute wird über zwei Anträge abgestimmt. Der Antrag der Linken – das ist bekannt – geht uns an manchen Stellen zu weit, und deshalb werden wir uns enthalten. Wir Grünen haben bewusst moderate und umsetzbare Vorschläge vorgelegt. Es ist zwar nachvollziehbar, dass Sie, die Regierungsfraktionen, einen grünen Antrag ablehnen – das ist schon klar –, aber Sie hatten seit der ersten Lesung fast zwei Jahre Zeit, selber etwas auf den Tisch zu legen, und bis heute ist nichts passiert. Und verweisen Sie in diesem Zusammenhang nicht immer nur auf den Koalitionsvertrag. (Beifall der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE]) Denn dort steht ganz klar – ich zitiere –: Die Mitbestimmung ist „ein hohes Gut“. Sie könnten jetzt ganz spontan gemeinsam die Mitbestimmung stärken. Gute Ideen liegen ja jetzt auf dem Tisch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gerade in der heutigen Zeit müssen die Beschäftigten beteiligt werden. Wenn sie sich einmischen und mitreden können, wenn sie ihre Arbeitswelt aktiv mitgestalten können, wenn ihre Anliegen gehört werden und wenn sie sich gut durch Betriebsräte vertreten fühlen, dann entsteht ein Gefühl von Wertschätzung, und das stärkt auch den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Notwendig ist nicht weniger, sondern mehr Demokratie, und das gilt auch für die Arbeitswelt. Machen Sie sich endlich auf den Weg! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich möchte das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch bekannt geben: abgegebene Stimmen 540. Mit Ja haben gestimmt 440, mit Nein haben gestimmt 99, Enthaltungen 1. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 542; davon ja: 442 nein: 99 enthalten: 1 Ja CDU/CSU Stephan Albani Katrin Albsteiger Artur Auernhammer Dorothee Bär Thomas Bareiß Günter Baumann Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Sybille Benning Dr. André Berghegger Dr. Christoph Bergner Ute Bertram Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Michael Donth Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Iris Eberl Jutta Eckenbach Hermann Färber Uwe Feiler Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Thorsten Frei Dr. Astrid Freudenstein Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Cemile Giousouf Josef Göppel Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Dr. Herlind Gundelach Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Rainer Hajek Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Uda Heller Jörg Hellmuth Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Dr. Heribert Hirte Christian Hirte Robert Hochbaum Alexander Hoffmann Thorsten Hoffmann (Dortmund) Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Dr. Hendrik Hoppenstedt Margaret Horb Bettina Hornhues Charles M. Huber Anette Hübinger Hubert Hüppe Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Sylvia Jörrißen Dr. Franz Josef Jung Xaver Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kanitz Alois Karl Anja Karliczek Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Ronja Kemmer Roderich Kiesewetter Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Hartmut Koschyk Kordula Kovac Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Roy Kühne Uwe Lagosky Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Barbara Lanzinger Dr. Silke Launert Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Philipp Lengsfeld Dr. Andreas Lenz Dr. Ursula von der Leyen Antje Lezius Ingbert Liebing Matthias Lietz Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Karin Maag Yvonne Magwas Thomas Mahlberg Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Stephan Mayer (Altötting) Reiner Meier Dr. Michael Meister Jan Metzler Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Marlene Mortler Volker Mosblech Elisabeth Motschmann Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Dr. Andreas Nick Michaela Noll Helmut Nowak Julia Obermeier Wilfried Oellers Florian Oßner Dr. Tim Ostermann Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Martin Pätzold Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Dr. Heinz Riesenhuber Iris Ripsam Johannes Röring Kathrin Rösel Dr. Norbert Röttgen Erwin Rüddel Albert Rupprecht Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Andreas Scheuer Karl Schiewerling Jana Schimke Norbert Schindler Tankred Schipanski Christian Schmidt (Fürth) Gabriele Schmidt (Ühlingen) Patrick Schnieder Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Ole Schröder Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Christina Schwarzer Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Tino Sorge Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Peter Stein Sebastian Steineke Johannes Steiniger Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Rita Stockhofe Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Stritzl Michael Stübgen Dr. Sabine Sütterlin-Waack Antje Tillmann Astrid Timmermann-Fechter Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Oswin Veith Thomas Viesehon Michael Vietz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sven Volmering Christel Voßbeck-Kayser Kees de Vries Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Karl-Heinz Wange Nina Warken Kai Wegner Dr. h. c. Albert Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Marian Wendt Waldemar Westermayer Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Barbara Woltmann Tobias Zech Heinrich Zertik Dr. Matthias Zimmer Gudrun Zollner SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heike Baehrens Ulrike Bahr Bettina Bähr-Losse Dr. Katarina Barley Doris Barnett Klaus Barthel Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Bärbel Bas Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Burkhard Blienert Willi Brase Dr. Karl-Heinz Brunner Dr. h. c. Edelgard Bulmahn Dr. Lars Castellucci Jürgen Coße Petra Crone Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Sabine Dittmar Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Siegmund Ehrmann Michaela Engelmeier Dr. h. c. Gernot Erler Saskia Esken Karin Evers-Meyer Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Dr. Ute Finckh-Krämer Christian Flisek Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Angelika Glöckner Kerstin Griese Gabriele Groneberg Michael Groß Uli Grötsch Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Ulrich Hampel Sebastian Hartmann Michael Hartmann (Wackernheim) Dirk Heidenblut Marcus Held Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Thomas Hitschler Matthias Ilgen Christina Jantz-Herrmann Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Ulrich Kelber Marina Kermer Cansel Kiziltepe Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Birgit Kömpel Anette Kramme Dr. Hans-Ulrich Krüger Helga Kühn-Mengel Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Hiltrud Lotze Kirsten Lühmann Dr. Birgit Malecha-Nissen Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Bettina Müller Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Ulli Nissen Thomas Oppermann Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Christian Petry Jeannine Pflugradt Sabine Poschmann Joachim Poß Florian Post Achim Post (Minden) Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Dr. Simone Raatz Martin Rabanus Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Andreas Rimkus Sönke Rix Petra Rode-Bosse Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Susann Rüthrich Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Annette Sawade Dr. Hans-Joachim Schabedoth Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Dorothee Schlegel Ulla Schmidt (Aachen) Matthias Schmidt (Berlin) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Ursula Schulte Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Norbert Spinrath Svenja Stadler Martina Stamm-Fibich Christoph Strässer Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Dr. Karin Thissen Carsten Träger Dirk Vöpel Gabi Weber Bernd Westphal Andrea Wicklein Dirk Wiese Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Gülistan Yüksel Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann Manfred Zöllmer Nein DIE LINKE Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Dr. André Hahn Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Andrej Hunko Sigrid Hupach Ulla Jelpke Kerstin Kassner Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Birgit Menz Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Petra Pau Harald Petzold (Havelland) Richard Pitterle Martina Renner Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Harald Weinberg Katrin Werner Birgit Wöllert Jörn Wunderlich Hubertus Zdebel Pia Zimmermann Sabine Zimmermann (Zwickau) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Annalena Baerbock Volker Beck (Köln) Dr. Franziska Brantner Agnieszka Brugger Ekin Deligöz Katharina Dröge Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Matthias Gastel Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bärbel Höhn Dieter Janecek Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Stephan Kühn (Dresden) Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Peter Meiwald Irene Mihalic Beate Müller-Gemmeke Özcan Mutlu Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Corinna Rüffer Manuel Sarrazin Ulle Schauws Dr. Gerhard Schick Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Dr. Julia Verlinden Doris Wagner Beate Walter-Rosenheimer Enthalten SPD Rüdiger Veit Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Jetzt erhält der Kollege Markus Paschke das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt aber nicht wieder nur erzählen, was im SPD-Wahlprogramm steht, sondern was die Koalition macht! – Gegenruf des Abg. Bernd Rützel [SPD]: Das gehört doch gar nicht hierher! – Weitere Zurufe von der SPD) – Tragen Sie das vor, was Sie für richtig halten, und nicht, was Ihnen jetzt durch Zurufe angedient wird. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)) Markus Paschke (SPD): Ich habe ja mittlerweile gelernt, dass man sich durch Zwischenrufe nicht aus dem Konzept bringen lässt. Damit meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und den Linken das vielleicht doch noch begreifen, will ich damit anfangen, kurz zu erklären, wie eine Koalition funktioniert: (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Man schließt am Beginn einer Legislaturperiode einen Vertrag. Darin ist geregelt, was man zusammen regeln will. Ich finde, wir haben viele gute Sachen in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt, (Bernd Rützel [SPD]: Und haben es auch gemacht! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann darüber hinausgehen, wenn man sich einig ist!) leider nichts zum Thema Mitbestimmung. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Schade eigentlich!) Aber – und das erwarte ich auch nach der nächsten Wahl von der Koalition, die sich dann bilden wird – man hat einen Vertrag abgeschlossen, und der ist verlässlich und wird von allen Seiten eingehalten. Das hat auch etwas mit Seriosität zu tun. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vor zwei Tagen hat Bundesministerin Andrea Nahles das Weißbuch „Arbeiten 4.0“ vorgestellt. Darin heißt es: Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und demokratische Teilhabe bei der Gestaltung von Arbeitsbedingungen sind ein Kernelement der deutschen sozialen Marktwirtschaft, Stabilitätsanker in Krisen und Erfolgsfaktor auch im internationalen Wettbewerb. (Beifall bei der SPD) Bei der Veranstaltung wurde deutlich, dass die Arbeit der Zukunft gar nicht ohne Mitbestimmung geht. Mit Betriebsrat gibt es nämlich immer einen Interessenausgleich zum Vorteil des Unternehmens und der Beschäftigten. (Beifall bei der SPD) Auch deshalb finde ich, dass die Anträge der Opposition in die richtige Richtung gehen. (Beifall der Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] und Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr Betriebsräte braucht das Land!) Sie haben recht: Die Zahl der Unternehmen mit Betriebsrat ist rückläufig; die Behinderung von Betriebsratsarbeit bis hin zum Betriebsratsbashing nimmt zu. Das ist eine Entwicklung, die mich mit Sorge erfüllt, wo wir politisch gegensteuern müssen; denn das bedeutet, dass immer weniger Beschäftigte Mitspracherechte im Unternehmen haben. Ich finde, das ist schlichtweg nicht zukunftsfähig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Veränderung der Arbeitswelt von heute und morgen braucht mehr Mitbestimmung, nicht weniger. Wenn wir mehr Flexibilität wollen, dann kann das nicht zulasten einer Seite, zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gehen, sondern dann braucht man einen gerechten Ausgleich. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dazu braucht es eine starke Stimme – und diese starke Stimme sind die Betriebsräte und die Gewerkschaften –; denn die Aufgaben werden nicht weniger, sondern mehr und vielfältiger. Wir brauchen in Zukunft Lösungen für Fragen der Digitalisierung der Arbeitswelt, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) des Arbeitnehmerdatenschutzes und der Arbeitszeit, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. All diese Fragen können nicht einseitig geregelt werden. Sie machen es unumgänglich, dass die unterschiedlichen Interessen berücksichtigt werden: flexible Produktion oder Dienstleistung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder die Möglichkeit zum Ausfüllen eines Ehrenamtes. (Beifall bei der SPD) Hier haben wir als Gesetzgeber zwei Möglichkeiten – das als Anregung zum Nachdenken für unseren Koalitionspartner –: (Zuruf der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die eine Möglichkeit ist: Man sorgt auf gesetzlicher Ebene für einen Interessenausgleich. Dann wird man sehr enge Regelungen fassen müssen, was entweder für die Flexibilität oder für den Arbeitsschutz nicht gut ist. Beides finde ich nicht besonders klug; im Zweifel muss aber das Schutzbedürfnis der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Vorrang haben. Die andere Möglichkeit ist: Wir schaffen einen flexiblen gesetzlichen Rahmen, der durch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen an die Bedürfnisse der Branche oder des Betriebes angepasst werden kann. (Beifall bei der SPD – Bernd Rützel [SPD]: Das ist besser!) Dazu brauchen wir aber mehr Mitbestimmung, mehr Mitsprache im Betrieb, mehr Betriebsräte, mehr Rechte der Betriebsräte. (Bernd Rützel [SPD]: Jawohl!) Kluge Unternehmer werden begreifen, dass bei solchen Rahmenbedingungen Betriebsräte und Gewerkschaften Problemlöser sind und nicht Problemmacher. (Beifall bei der SPD) Zu den genannten Herausforderungen habe ich in den vorliegenden Anträgen keine ausreichenden Vorschläge gesehen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Nicht ausreichend?) Deswegen werden wir den Anträgen heute nicht zustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Martin Pätzold für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Debatte heute zeigt, dass es gut ist, dass es Anträge der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen gibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) So können wir an dieser Stelle über betriebliche Mitbestimmung, über betriebliche Interessensvertretung diskutieren und uns noch einmal vergewissern, wer eigentlich die Grundlage dafür gelegt hat, (Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CSU!) dass solche Werte in der sozialen Marktwirtschaft nach 1949 eine bedeutende und entscheidende Rolle gespielt haben. Die Wurzeln dieser Überzeugung stammen aus der katholischen Soziallehre. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist aus euch geworden?) Unterschiedliche Interessen werden ausgeglichen. Es gibt die Säule der Solidarität – diese Säule ist bei Ihnen vermeintlich besonders stark ausgeprägt –, die Säule der Menschenwürde, der Personalität, aber auch die Säule der Subsidiarität und der Eigenverantwortung. Wenn es um betriebliche Mitbestimmung und Betriebsräte geht, dann geht es auch immer um Eigenverantwortung und Subsidiarität. (Beifall bei der CDU/CSU) Dieses Thema ist uns wichtig. Es geht auch darum, die soziale Marktwirtschaft ständig weiterzuentwickeln und unsere Wettbewerbsfähigkeit im globalen Wettbewerb zu erhalten und – am besten natürlich – auszubauen. In einer modernen Welt, in der – Herr Paschke hat es angesprochen – die Digitalisierung, die Arbeitswelt 4.0, das Berufsleben, die Berufsfelder und die Art und Weise, wie gearbeitet wird, komplett verändern wird, wird es auch darum gehen, moderne Formen abzubilden, nicht nur durch rechtliche Gegebenheiten, sondern auch durch gesellschaftliche Diskussionen. So sind die Einzelfälle, die hier genannt wurden (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind keine Einzelfälle!) – nicht immer nur Einzelfälle; das ist richtig –, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) differenziert zu bewerten. Letztendlich ist es Auftrag für den Gesetzgeber, festzustellen, ob er handeln muss oder nicht. Mein Kollege Wilfried Oellers hat ja deutlich gemacht, welche Vorlagen Sie machen und welche Initiativen Sie in Ihren Anträgen formulieren. Wir hatten die Möglichkeit, fast zwei Jahre darüber zu diskutieren. Es gab auch eine Anhörung zu diesem Thema. Wenn man sich noch einmal in die Protokolle einarbeitet und sich damit beschäftigt, dann wird auch dort sichtbar, dass es eben nicht nur eine Auffassung dazu gab, sondern sich durchaus ein differenziertes Bild gezeigt hat. Sie von Bündnis 90/Die Grünen schreiben in Ihrem Antrag, dass wir durch unsere Form der Mitbestimmung sehr erfolgreich durch die Wirtschafts- und Finanzkrise gekommen sind. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Wir erleben auf der anderen Seite die Entwicklung, dass die Zahl der Betriebsräte abnimmt. In circa 40 Prozent der Unternehmen im Westen gibt es einen; im Osten ist die Zahl deutlich niedriger. Man muss auch hier wieder festhalten: In Unternehmen, in denen es einen Betriebsrat gibt, gibt es nicht unbedingt weniger Probleme als in Unternehmen, in denen es keinen gibt. Aber wenn in einem Unternehmen Probleme entstehen, kann ein Betriebsrat natürlich auch für die Arbeitnehmer sehr hilfreich sein, um die unterschiedlichen Interessen vernünftig auszugleichen. Das, was wir in der Diskussion hier, aber auch in den Ausschusssitzungen und in der Anhörung bisher an Argumenten gehört haben, hat dazu geführt, dass bei uns die Überzeugung entstanden ist, dass wir beim Interessensausgleich nicht handeln müssen, (Katja Mast [SPD]: Was?) sondern dass sich die Mitbestimmung in der Form, wie sie bisher gegeben ist, bewährt hat. (Katja Mast [SPD]: Oh! Nein!) Es gibt im Antrag der Linken einige Punkte, die wir sehr deutlich ablehnen: das vereinfachte Wahlverfahren, das Sie beschrieben haben, die Ausweitung von Strafgeldern – Wilfried Oellers hat das schon angesprochen; es ist ein grundsätzlicher Reflex bei Ihnen, immer dann Strafen erhöhen zu wollen, wenn Fehlverhalten vorliegt – und auch die Ausweitung des Kündigungsschutzes. Das führt dazu, dass wir Ihrem Antrag nicht zustimmen können. Ich komme zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Sie listen sieben Punkte auf. Ich möchte exemplarisch auf Punkt Nummer 4 eingehen, bei dem es darum geht, wer die zu schützenden Personen sind. Bei diesem Punkt können wir nicht mit Ihnen gehen, genauso wenig wie bei Punkt 7, mit dem Sie die Frage der Behinderung und Verhinderung von Betriebsratswahlen regeln wollen. So ist am Ende unsere Überzeugung, dass sich die Mitbestimmung in der jetzigen Form bewährt hat, dass wir den Anträgen der Opposition nicht zustimmen können und dass wir uns weiter dafür einsetzen werden, dass wir einen starken Arbeitsmarkt haben, weil wir damit die größten gesellschaftlichen Wirkungen erzielen können. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Bernd Rützel [SPD]: Damit ist dann alles geregelt! – Zuruf der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf der Drucksache 18/7595. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Die Wahl von Betriebsräten erleichtern und die betriebliche Interessenvertretung sicherstellen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräte braucht das Land“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am NATO-geführten Einsatz Resolute Support für die Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte in Afghanistan Drucksache 18/10347 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Widerspruch ist nicht erkennbar. Also verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Bundesministerin der Verteidigung, Ursula von der Leyen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der Verteidigung: Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Abend des 10. November hat uns die Nachricht von einem schweren Anschlag auf das Konsulat in Masar-i-Scharif ereilt. Wir haben stundenlang gebangt, gehofft, dass nicht das Schlimmste eintritt. Gott sei Dank konnte verhindert werden, dass es Opfer unter dem Personal des Konsulates gibt, aber wir betrauern gemeinsam mit den Afghanen sechs afghanische Sicherheitskräfte, die ihr Leben lassen mussten. Unsere Gedanken sind heute Abend bei ihren Familien. Wir wünschen den vielen Verwundeten, die es durch diesen Anschlag gegeben hat, Genesung und gute Besserung auch von dieser Stelle. (Beifall im ganzen Hause) Dass der schwere Anschlag im Endeffekt so glimpflich ausgegangen ist, haben wir vor allen Dingen zu verdanken – dafür möchte ich unseren hohen Respekt und Dank aussprechen – den Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei vor Ort, den afghanischen Sicherheitskräften, den Soldatinnen und Soldaten, die aus Camp Marmal zu Hilfe geeilt sind, Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, aber ganz voran auch ihren Kameradinnen und Kameraden aus Georgien, aus Lettland und aus Estland. Ohne sie wäre es nicht so glimpflich ausgegangen. Sie verdienen unseren Dank dafür. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dieser Anschlag, der sehr gezielt war, der sehr geplant war, zeigt aber auch, wie fragil und volatil die Sicherheitslage in Afghanistan nach wie vor ist. Das zu Ende gehende Jahr, das Jahr 2016, ist ein schwieriges Jahr für die Regierung gewesen. Es war ein sehr schwieriges Jahr für die afghanischen Sicherheitskräfte. Man muss in der Bilanz sagen: Die afghanischen Sicherheitskräfte haben aus den Ereignissen des Jahres 2015 ihre Lehren gezogen. Sie sind besser geworden. Sie haben nach wie vor sehr hohe Verluste – das muss man an dieser Stelle auch erwähnen –, doch sie kämpfen, sie agieren aktiver, erfolgreicher, als das im vergangenen Jahr der Fall gewesen ist. Es ist den Taliban zum Beispiel nicht gelungen, ihr Ziel zu erreichen, eine der Provinzhauptstädte zu erobern. Den afghanischen Sicherheitskräften ist es gelungen, diese Angriffe abzuwehren, so auch den erneuten Angriff auf Kunduz-Stadt im Oktober 2016, und so sind die afghanischen Sicherheitskräfte zumindest in der Lage, eine strategische Pattsituation mehr oder minder zu halten. Aber es gibt noch viel zu tun, insbesondere mit Blick auf das Thema Ausbildung. Wir haben deshalb im Frühjahr dieses Jahres unseren Ansatz für Ausbildung, Beratung und Unterstützung weiter angepasst. In allererster Linie allerdings bedarf es politischer Reformen seitens der afghanischen Regierung. Wir erwarten mehr Aktivität. Die Regierung muss politisch enger zusammenstehen. Insbesondere müssen Staatspräsident Ghani und der CEO Abdullah Abdullah gemeinsam in dieselbe Richtung arbeiten. Wir erwarten, dass die Regierung echte Reformen anstößt und sie auch gegen Widerstände durchsetzt. Wir haben Erwartungen an die afghanische Regierung, und diese finden zurzeit zu wenig Widerhall. Hier muss sich in erster Linie etwas ändern; (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) denn eines ist uns allen in diesem Hohen Hause klar: Keine noch so gute militärische Ausbildung, kein noch so fundierter Rat, keine noch so umsichtige Unterstützung können die unverzichtbare Rolle einer Regierung ersetzen. Die Regierung muss aktiver werden, zum Beispiel mit Blick auf die Besetzung vakanter Ministerposten. Sie muss Motor für Reformen sein; damit lenke ich den Blick auf die längst überfällige Parlamentswahl. Nur wenn die Regierung aktiv ist, kann das geschehen, was unverzichtbar notwendig ist, damit die militärischen Erfolge auf Dauer stabilisiert werden: der wirtschaftliche Aufbau des Landes und damit die Schaffung einer Perspektive für die Menschen, die in diesem Land leben. Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Länder haben sich im Juli dieses Jahres in Warschau darauf geeinigt, den Aufbau Afghanistans weiterhin zu unterstützen. Die NATO hat ihre Einsatzrahmenbedingungen und Abläufe angepasst. Es ging darum, wie man die afghanischen Partner im Einzelfall durch Aufklärung, durch Lufttransport, durch Verwundetentransport besser unterstützen kann. Das jetzt vorliegende Mandat nimmt diese Konkretisierungen der NATO durch textliche Klarstellungen auf, wird aber ansonsten vollständig inhaltsgleich fortgeschrieben. Das heißt, Niveau und Aufgaben der Bundeswehr bleiben ebenso unverändert wie die Obergrenze von 980 Soldatinnen und Soldaten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt nach wie vor viel Schatten, viele Probleme in Afghanistan. Es gibt aber auch Fortschritte, die wir unter dem Berg der Probleme oft nicht sehen. Ich will ein kleines Beispiel nennen: Es wurden gerade in etwa der Hälfte des Landes Wahlen zu den Provincial Councils – gewissermaßen Kommunalwahlen – durchgeführt. Immerhin ist die Hälfte der Gewählten Frauen. Das wäre unter den Taliban niemals möglich gewesen. Wenn wir auf unsere eigenen Wahlen schauen, dann wissen wir, wie schwer es ist, eine Quote von 50 Prozent für Frauen zu erreichen. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben die Quote übererfüllt! – Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Sehr gut! Sie haben fast das afghanische Niveau erreicht. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die meisten Frauen hat die Fraktion Die Linke! Das wollen wir nur erwähnen!) Deshalb ist es auch richtig, dass wir unser Engagement ein weiteres Jahr fortsetzen. Aber wir werden – das muss uns auch klar sein – durch unser Engagement den Afghanen nur Zeit verschaffen, Zeit, die Probleme anzupacken, Zeit, die erforderlichen Reformen auf allen Ebenen konsequent zu verfolgen. Sie müssen die hart errungenen Fortschritte und Erfolge, die es im Land unzweifelhaft gibt, auf die Dauer selbst sichern können. Genau in diesem Sinne ist das Mandat angelegt, für das wir um wohlwollende Beratung und dann Zustimmung werben. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Als Nächste spricht die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Heike Hänsel (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 15 Jahre führt die NATO in Afghanistan nun Krieg unter deutscher Beteiligung. George Bush rief 2001 mit seinen Bündnispartnern den globalen Krieg gegen den Terror aus, und Millionen Menschen bezahlten das mit ihrem Leben, Frau von der Leyen; auch Hundertausende Frauen waren unter diesen Toten. Laut einer Studie der Ärzteorganisation IPPNW sind allein in Afghanistan mindestens 220 000 Menschen getötet worden, in Pakistan 80 000; im Irak ist über 1 Million Menschen direkt getötet worden oder an den Kriegsfolgen gestorben. Dieser sogenannte Krieg gegen den Terror ist selbst Terror für Millionen Menschen und hat nur neuen Terror erzeugt, und dafür sind Sie hier mitverantwortlich. (Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: So ein Quatsch!) Die Bilanz Ihres Afghanistan-Feldzuges fällt erschütternd aus: Die Welt ist nicht sicherer geworden, die Anschlagsgefahr auch hier in Deutschland ist gestiegen, geschweige denn, dass Afghanistan stabilisiert wurde. (Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Afghanistan ist kein Ausbildungsland mehr für Terroristen!) 2,7 Millionen Afghaninnen und Afghanen sind ins Ausland geflohen, 1,2 Millionen Menschen sind innerhalb Afghanistans auf der Flucht. Afghanistan zählt weiterhin zu den ärmsten Ländern der Erde mit einer der korruptesten Regierungen der Welt. Die Sicherheitslage im Land ist besorgniserregend. Die Bundesregierung selbst bezeichnete 2015 nur 9 von 123 Distrikten als kontrollierbar. Das hat eine Große Anfrage unserer Fraktion ergeben. Das deutsche Generalkonsulat in Masar-i-Scharif ist nach einem Taliban-Angriff, wie erwähnt, geschlossen worden; die Diplomaten wurden abgezogen. In dieses Land wollen Sie nun bis zu 80 000 Afghaninnen und Afghanen aus der EU abschieben. Was für eine menschenverachtende Politik! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was für ein schäbiger Deal mit der korrupten afghanischen Regierung, die im Gegenzug dafür mehr als 13 Milliarden Euro kassiert! Mit dieser Politik betreiben Sie auch ein Taliban-Aufbauprogramm; denn viele junge Afghanen, die Sie abschieben wollen, werden in den Fängen der Taliban und von IS-Milizen landen. (Zuruf von der SPD: Das ist abenteuerlich!) Sie zahlen bis zu 1 000 Dollar monatlich und sind so die einzige Einnahmequelle. Wir fordern, dass dieses Abschiebeprogramm sofort gestoppt wird. Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland. (Beifall bei der LINKEN) Investieren Sie dieses Geld lieber in demokratische Kräfte und Strukturen, die den Menschen direkt zugutekommen. Sie könnten damit sogar alle Milizen auf einmal wegkaufen und ihnen einen Arbeitsplatz anbieten, statt weiterhin korrupte Multimillionäre in Kabul zu finanzieren. Zur Rekrutierung neuer Kämpfer für islamistische Gruppen tragen maßgeblich auch die US-Drohnenmorde in Afghanistan und Pakistan bei, weil sie den Hass weiter schüren, und hier kommt nun der eigentliche Skandal. Gestern bestätigte die Bundesregierung auf Anfrage meines Kollegen Andrej Hunko, dass die Drohneneinsätze der USA über die US-Militärbasis Ramstein hier in Deutschland geplant, überwacht und ausgewertet werden. Damit ist die Bundesregierung an völkerrechtswidrigen extralegalen Tötungen beteiligt. Ich nenne das Beihilfe zum Mord. Schließen Sie Ramstein sofort! (Beifall bei der LINKEN) Das verstößt auch gegen das Grundgesetz, und dies muss strafrechtliche Konsequenzen haben. Die Drohnenmorde stärken die Taliban und den IS. Gleichzeitig schicken Sie, Frau von der Leyen, und Ihre Regierung aber Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan, um junge Afghanen auszubilden, damit sie gegen die Taliban kämpfen. Was für eine perverse Politik! (Beifall bei der LINKEN) Die Afghanen sind dabei nur das Kanonenfutter. Allein zwischen 2013 und 2016 wurden über 19 000 afghanische Soldaten getötet. Wir werden gegen dieses Mandat stimmen. In dieser Woche hatten wir eine junge Afghanin, Selay Ghaffar, Vorsitzende der Solidaritätspartei, in den Bundestag eingeladen. Sie gehört zur jungen Generation, die genug hat von der NATO-Besatzung und einer korrupten Drogenregierung. Sie demonstriert mutig mit ihren Anhängerinnen und Anhängern. Sie vernetzen sich in sozialen Medien und suchen den internationalen Austausch. Diese jungen Leute brauchen unsere Solidarität und unsere Unterstützung. (Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Das wäre auch mit den Taliban möglich, oder?) Sie können aber nicht einmal ohne Gefahr demonstrieren, weil die Regierung, die Sie finanzieren, sie mit allen Mitteln bekämpft, sodass sie teilweise nur im Untergrund arbeiten können. (Gabi Weber [SPD]: Was ist das denn für ein Quatsch!) Ziehen Sie die Bundeswehr aus Afghanistan ab! Stärken Sie endlich demokratische Kräfte statt korrupte Warlords! (Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Mit den Taliban könnten sie demonstrieren? Alles klar!) Die Friedensgruppen rufen in vielen Städten – unter anderem auch in Stuttgart – zu Demonstrationen am 10. Dezember 2016, dem Tag der Menschenrechte, für ein Menschenrecht auf Frieden auf. Es ist wichtig, ein Zeichen gegen diese Kriegspolitik zu setzen. Frieden statt NATO! Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN – Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Es werden nicht viele zu Ihrer Demo kommen!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die Bundesregierung spricht jetzt Staatsminister Michael Roth. (Beifall bei der SPD) Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Hänsel, Ihre Simplifizierung ist beschämend. Wer von „Feldzug“ spricht, der hat an einer ernsthaften Debatte kein wirkliches Interesse. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Aha! – Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!) Ich gehe fest davon aus – da spreche ich sicherlich nicht nur für meine Fraktion –, dass es sich hier keine Fraktion einfach macht. Wir überprüfen jedes Mandat kritisch. Wir sprechen mit den Kolleginnen und Kollegen der internationalen Gemeinschaft im Rahmen der NATO und schauen: Was können wir besser machen? Wo können wir unserer Verantwortung gerecht werden? – Wir wissen doch alle, dass das eine Generationenaufgabe ist. Wir sind seit 15 Jahren in Afghanistan engagiert, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, aber es wird nicht besser!) aber eben nicht nur militärisch. Wir engagieren uns im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Wir engagieren uns im Bereich der humanitären Hilfe, im Bereich der Stabilisierung. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: 75 Prozent Analphabetentum!) Wer ein solch undifferenziertes Bild von Afghanistan zeichnet, der handelt verantwortungslos. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sie handeln verantwortungslos! – Gegenruf des Abg. Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ihr meckert ja nur rum!) Wer so redet, der erkennt nicht an, dass inzwischen Schulen gebaut wurden, (Niema Movassat [DIE LINKE]: Wie viele sind denn schon wieder geschlossen worden?) dass viele Mädchen wieder eine Schule besuchen können, dass es mehr Studierende gibt als jemals zuvor in der Geschichte, dass die Infrastruktur deutlich verbessert wurde, dass Krankenhäuser errichtet werden konnten, dass die Kindersterblichkeit deutlich gesunken ist, dass Kabul eine Stadt ist, die überhaupt nicht mit den Verhältnissen zu vergleichen ist, die wir noch vor 15 Jahren vorgefunden haben. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Dann fahren Sie doch hin, und bewegen Sie sich dort! Sie fahren doch nur mit kugelsicherer Weste dahin!) Das muss man bei objektiver Betrachtung doch zumindest einmal zur Kenntnis nehmen. Keiner zeichnet hier ein einseitiges Bild von Afghanistan. Gerade weil wir um die Defizite wissen, sind wir bereit, Afghanistan in den kommenden Jahren auf seinem schwierigen Weg weiterhin zu unterstützen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Am Ende dieses Weges steht für uns ein klares Ziel: Afghanistan muss sicherer und stabiler werden, damit die Menschen in ihrer Heimat endlich wieder Hoffnung schöpfen können, Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit, Hoffnung auf einen Job und ein bisschen Freiheit. Ich finde es mehr als legitim, dass uns Bürgerinnen und Bürger in unseren Sprechstunden fragen: Was tut ihr ganz konkret in Afghanistan? – Die Verlängerung der NATO-Ausbildungs- und Beratungsmission Resolute Support ist eben nur ein Baustein, wenn auch ein wichtiger. Daneben bringt die Bundesregierung in Afghanistan die gesamte Bandbreite des außenpolitischen Instrumentariums zum Einsatz. Insgesamt beläuft sich unsere finanzielle Unterstützung auf 510 Millionen Euro jährlich, davon 80 Millionen Euro für die Ausbildung und für die Unterstützung der afghanischen Armee, 70 Millionen Euro für die Ausbildung und Ertüchtigung der afghanischen Polizei; 250 Millionen Euro werden in die Entwicklungszusammenarbeit investiert und 110 Millionen Euro in weitere Stabilisierungsprojekte. In keinem Land, liebe Kolleginnen und Kollegen, engagieren wir uns stärker. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Im Rahmen dieses Engagements fördert die Bundesregierung unter anderem den Polizeiaufbau in Afghanistan, berät sie die afghanische Regierung im Flüchtlingsrecht und unterstützt Binnenvertriebene in Nordafghanistan, beteiligt sich am Aufbau staatlicher Strukturen und natürlich der Infrastruktur; davon habe ich bereits gesprochen. Wer unser Engagement beim Bau von Schulen, Krankenhäusern und Straßen einfordert, und zwar zu Recht, kann sich der Verlängerung von RSM nicht verschließen. Deutschland ist damit nach den Vereinigten Staaten der zweitgrößte bilaterale Geldgeber in Afghanistan. Aber – das ist schon von der Kollegin von der Leyen zum Ausdruck gebracht worden; ich habe das auch Gesprächen mit vielen Kolleginnen und Kollegen entnommen – wir stellen Afghanistan mitnichten Blankoschecks aus. Die Bundesregierung hat die finanzielle Unterstützung ausdrücklich an ganz strenge Bedingungen geknüpft. Wir erwarten, dass die afghanische Regierung ihren Teil der Abmachung einhält, etwa bei der Beachtung von Menschenrechten oder bei der Bekämpfung von Korruption. (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, freilich!) Auch in Migrationsfragen erwarten wir eine bessere Zusammenarbeit. Das geschieht bisher noch unzureichend. Wir werden das in Kabul mit Nachdruck weiter einfordern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Afghanistan bedarf weiterhin unserer Unterstützung, damit die in den vergangenen Jahren erreichten Fortschritte nicht zurückgedreht werden. Wir befinden uns an dem Punkt, an dem noch nicht einmal klar ist, ob das, was wir mühselig haben aufbauen und unterstützen können, gesichert werden kann. Die Menschen in Afghanistan müssen endlich wieder eine Perspektive für ein Leben in Frieden, Freiheit und wirtschaftlicher Sicherheit haben. Diese Perspektive müssen sie in ihrem eigenen Land sehen. Dass diese Perspektive derzeit leider nicht überall in Afghanistan gegeben ist, belegen auch die aktuellen Zahlen aus Deutschland: Seit Beginn des Jahres 2016 haben allein in Deutschland mehr als 120 000 Afghaninnen und Afghanen einen Asylantrag gestellt. Deutschland reagiert mit großer Hilfsbereitschaft. Die Hälfte der Antragsteller aus Afghanistan hat Anspruch auf internationalen Schutz. Fakt ist aber auch, dass viele Afghaninnen und Afghanen ihr Land aus wirtschaftlichen Motiven, aus Perspektivlosigkeit verlassen. Ich will das Dilemma offen ansprechen: Einerseits versuchen wir seit 15 Jahren, in Afghanistan Stabilität zu schaffen und das Vertrauen in die staatlichen Strukturen zu erhöhen. Andererseits kann aber kein Vertrauen entstehen, wenn immer mehr junge Menschen das Land verlassen. Diesen Teufelskreis müssen wir durchbrechen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir können nur in die Zukunft Afghanistans investieren, wenn auch das afghanische Volk an diese Zukunft glaubt. Auch hier engagieren wir uns mit vielen konkreten Projekten vor Ort. Wir lassen doch niemanden allein. Bisweilen sind es die kleinen Dinge des Alltags, die Hoffnung machen. So ist es bewegend, zu sehen, wie mit der Eröffnung einer einzigen Schule Hunderten von Kindern und Jugendlichen wieder eine Perspektive geschenkt wird oder wie mit Mikrokrediten Hunderte von neuen Start-ups entstehen, die den Menschen vor Ort wieder Arbeit geben. Jede dieser kleinen Erfolgsgeschichten bringt das Land und die Menschen unserem gemeinsamen Ziel ein Stück näher: ein Land, das auf eigenen Füßen steht und das endlich zur Normalität zurückkehren kann. Ja, es geht um die Stabilisierung und um die Befriedung Afghanistans. Ich gebe zu: Das ist eine Generationenaufgabe. Aber das ist keine Einbahnstraße. Wir haben auch die klare Erwartungshaltung, dass die afghanische Regierung Schritt für Schritt wieder die Verantwortung für Stabilität und Sicherheit im eigenen Land übernimmt. Die Bundesverteidigungsministerin hat eben dargestellt, wo die Defizite liegen. Es gibt durchaus auch Erfolge, aber viel viel zu wenig. Wir können damit nicht zufrieden sein. Seit dem Ende der ISAF-Mission 2014 tragen die afghanischen Sicherheitskräfte die alleinige Verantwortung für die Sicherheit in ihrem Land. Die afghanischen Streitkräfte hatten es vor allem durch den Wegfall der Luftnahunterstützung schwer und mussten hohe Verluste beklagen. Militante Gruppen, insbesondere die Taliban, liefern sich an vielen Orten immer wieder Gefechte mit den staatlichen Sicherheitskräften oder begehen Anschläge. Aber wir sollten auch anerkennen: Insgesamt hat die afghanische Armee bisher besser als erwartet standgehalten. Den Taliban ist es trotz mehrfacher erbitterter Versuche nicht gelungen, auch nur eine einzige Provinzhauptstadt dauerhaft einzunehmen. Dennoch: Wie angespannt die Sicherheitslage in Afghanistan nach wie vor ist, hat uns auch der Anschlag auf das deutsche Generalkonsulat in Masar-i-Scharif vor wenigen Tagen gezeigt. Dies hat alle erschüttert. Alle haben sich die Frage gestellt: Können wir einfach so weitermachen? Müssen wir das Mandat im Lichte dieses Anschlags noch einmal kritisch überprüfen? – Ich finde, wir haben das verantwortungsvoll getan. Ich rate jedem von Ihnen, wenn einmal die Gelegenheit besteht, mit unseren Kolleginnen und Kollegen im Generalkonsulat zu sprechen. Da kann einem nur himmelangst werden, wenn man sich einmal vor Augen führt, was die Menschen dort erlebt haben, nicht zu sprechen auch von den vielen unschuldigen afghanischen Opfern. Die Gewalt, die auch noch heute von den Taliban in Afghanistan ausgeht, und das Leid der Bevölkerung können rein militärisch nicht beendet werden. Frau Hänsel, das behauptet doch auch überhaupt niemand. Der Weg zu einem friedlichen Afghanistan kann letztlich nur über einen innerafghanischen Friedensprozess führen, (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Aber da passiert doch nichts!) an dem alle gesellschaftlichen Gruppen teilhaben, die für eine politische Lösung bereit sind. Der Abschluss eines Friedensabkommens mit der Hisb-i-Islami von Gulbuddin Hekmatjar zeigt, dass ein Friedensabschluss möglich ist. Die Regierung wird nun beweisen müssen, dass sie in der Lage ist, die ehemaligen Kämpfer der Hisb-i-Islami einzubinden und so ein positives Beispiel für weitere Abkommen zu setzen. Die internationale Gemeinschaft unterstützt diesen Prozess. Auch aufseiten der Taliban mehren sich Stimmen, die diesen Weg befürworten. Wie umstritten war das noch vor Jahren, als es die Forderung gab, mit den Taliban zu sprechen! Man tut das nun. Jeder versucht im Rahmen seiner Verantwortlichkeit, etwas Konkretes zu leisten, sodass wir hier zu dauerhaften Friedensschlüssen kommen. Am Ende eines solchen Prozesses müssen sich die Afghanen auf ein Ende der Gewalt einigen, alle Verbindungen zum internationalen Terrorismus kappen und sich zur Einhaltung der afghanischen Verfassung verpflichten. Ein solcher Friedensprozess wird im besten Fall noch Jahre dauern. Entscheidend wird sein, dass die Staaten der gesamten Region an einem Strang ziehen. Auch hierfür setzen wir uns ein. Deutschland hat beispielsweise den Vorsitz der Internationalen Afghanistan-Kontaktgruppe inne. Auch hier übernehmen wir ganz konkret Verantwortung. Der Mandatsantrag regelt die weitere Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an Resolute Support, und zwar gemeinsam mit unseren Partnern. Das Mandat bleibt im Grundsatz unverändert. Resolute Support wird auch 2017 kein Kampfeinsatz sein. An dieser Stelle möchte ich nicht nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Auslandsvertretungen sowie den Polizistinnen und Polizisten in Afghanistan danken. Ihr Einsatz unter schwierigsten Bedingungen verdient unseren größten Respekt. Jeder von uns, der sich nach schwieriger innerer Abwägung dazu entscheiden kann, dieser Mission zuzustimmen, stärkt das Vertrauen in unsere Sicherheit und in unsere Sicherheitskräfte, die in Afghanistan verantwortlich zeichnen und sich nach Kräften im Interesse von Sicherheit und Stabilität bemühen. Wir sollten sie dabei nicht alleine lassen. Deshalb freue ich mich über jeden Einzelnen und jede Einzelne von Ihnen, der bzw. die dieser Mission und diesem Mandat zuzustimmen vermag. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen. Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben trotz der Meinungsunterschiede, die es zwischen uns gibt, gehofft, dass die Gewalt nach so vielen Jahren des Leids in Afghanistan endlich ein Ende findet. Die Lage ist zurzeit so düster wie schon lange nicht mehr. In den letzten 15 Jahren haben weder der ISAF-Einsatz mit all seinen unterschiedlichen Phasen, mit Luftbombardierung, Offensiven, Antiterrormaßnahmen und schwerem Gerät, noch die Ausbildungsmission, die dem nachgefolgt ist und über deren Fortsetzung wir heute beraten, die angestrebten Ziele erreicht. Es ist notwendig, dass Sie von der Bundesregierung und der Koalition sich ein paar Tatsachen stellen, ihnen ins Auge sehen und ein paar Fragen beantworten. Welches sind Ihre Kriterien für ein Ende, einen Erfolg bzw. einen Exit bei diesem Ausbildungseinsatz, der einmal auf zwei Jahre angelegt war, nun aber viel länger laufen soll und dessen Schwerpunkte von reiner Ausbildung Richtung Unterstützung und Begleitung verschoben werden? Außer Hinhalteparolen hört man nicht besonders viel. Was hier fehlt, ist ein realistisches Konzept. Wie kann denn die Ausbildung von Sicherheitskräften überhaupt gelingen, wenn eine Regierung durch Zerrissenheit und Klientelpolitik einen Großteil des Vertrauens in der Bevölkerung verspielt hat? Wenn es keine gute politische Führung gibt, dann kann auch die Ausbildung von Sicherheitskräften keinen Erfolg haben. Frau Ministerin, Sie selbst haben das gerade angesprochen. Aber ich hatte in den letzten Monaten den Eindruck, dass man immer, wenn man nachgefragt hat, wie die Bundesregierung zum Beispiel darauf reagiert, dass es über Monate hinweg keinen Verteidigungsminister in Afghanistan gab, nur ein Schulterzucken geerntet hat. Wie reagieren Sie darauf, dass es trotz langjähriger intensiver Ausbildungsbemühungen immer wieder Hinweise – und zwar nicht allzu wenige – auf Korruption, Desertion und Gewalt innerhalb der afghanischen Sicherheitskräfte gibt oder dass es immer wieder zu gravierenden militärischen Fehlentscheidungen kommt? Was ist Ihre Antwort darauf, dass nach wie vor die schlimmsten Menschenrechtsverletzer und Warlords die Bevölkerung drangsalieren und unterdrücken? Hier kann doch nicht das Prinzip gelten: Der Feind unseres Feindes, der Taliban, ist unser Freund. All das sind doch riesige Probleme und ist eine riesige Hürde für eine friedliche Zukunft in Afghanistan; denn das beschert den Taliban Zulauf. Aber bei allen Fragen bleibt die Bundesregierung Antworten schuldig. Es gibt große Leerstellen. Stattdessen legen Sie Jahr für Jahr ein Mandat vor und vermitteln uns den Eindruck: Nur noch ein bisschen länger und nur noch ein bisschen mehr, dann wird es endlich besser! – Das ist sehr dürftig, und, ehrlich gesagt, mir fehlt da der Glaube. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sicherlich hat das mit Ignoranz zu tun; aber ich glaube, es hat auch mit einer gewissen Rat- und Hilflosigkeit zu tun. Ich sage ganz ehrlich: Diese Rat- und Hilflosigkeit spüre ich auch selbst als jemand, der, wie viele meiner grünen Kolleginnen und Kollegen, gegen die Mandate gestimmt hat. Niemand hat den Masterplan, wie man Frieden, Stabilität und Sicherheit in den nächsten Jahren in Afghanistan mit Sicherheit schaffen kann. Aber aus meiner Sicht gibt es drei Schlussfolgerungen, die man ziehen kann, wenn man trotz der deprimierenden Lage im Land die Menschen nicht alleine lassen will und wenn man möchte, dass das langjährige, auch durchaus schwierige und umstrittene Engagement nicht vergebens sein soll. Erstens ist eine ehrliche und kritische Bilanz dieser Militäreinsätze mehr als überfällig. Die Bundesregierung darf sich hier nicht weiter wegducken. Nicht nur wir Grüne fordern das seit Jahren; das haben auch andere Kolleginnen und Kollegen immer wieder eingefordert. Aber dann haben wir vor kurzem aus der Presse erfahren, dass im März 2015 ein Bericht im Verteidigungsministerium geschrieben wurde – Nachbetrachtung Afghanistan-Einsatz –, der unter Verschluss gehalten wurde. Ich muss sagen: Die Debatte muss hier im Parlament geführt werden. Wir müssen uns damit beschäftigen, wenn man aus Fehlern für die Zukunft lernen will. Sie können Ergebnisse nicht unter den Teppich kehren, nur weil sie Ihnen nicht genehm sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dazu gehört auch die Frage, was man mit einem solchen Einsatz realistisch überhaupt erreichen kann. Ich denke, es ist für das zukünftige Engagement extrem wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Zweitens. Ja, es ist nicht alles schlecht in Afghanistan. Deutschland hat in den Bereichen Wiederaufbau, Entwicklungszusammenarbeit oder auch Bildung durchaus viel geleistet. Das muss weitergehen, und das muss gestärkt werden; denn das ist das, was den Menschen in Afghanistan neue Hoffnung und Zukunftsperspektiven gibt. Bei meiner dritten Schlussfolgerung sind wir Grüne ganz klar in Opposition zur Bundesregierung. Sie widersprechen sich an dieser Stelle wirklich massiv selbst. Eine halbe Million neuer Binnenvertriebener ist gerade von den Vereinten Nationen in Afghanistan registriert worden. Das zeigt die Dramatik der Lage. Einerseits erklären Sie uns hier, dass es so schwierig und gefährlich in Afghanistan ist und man deshalb den Militäreinsatz verlängern muss. Andererseits sprechen Sie von sicheren Zonen, wollen Abschiebungen und Rückführungen verstärken und verfolgen obendrein die Strategie, dass es nur dann, wenn Afghanistan mehr Flüchtlinge zurücknimmt, in Zukunft Entwicklungszusammenarbeit gibt. Meine Damen und Herren, das passt vorne und hinten nicht zusammen. Das ist zynisch und herzlos. So lässt man die Menschen in Afghanistan nämlich wirklich allein. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Der Kollege Jürgen Hardt spricht jetzt für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir gehen mit dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und der Entscheidung über dieses Mandat in das 16. Jahr. Deswegen sind die Fragen völlig berechtigt: Was hat dieser Einsatz bisher gebracht? Wie weit haben wir uns den Zielen angenähert, die wir formuliert haben? Wohin wird dieser Einsatz führen? Wann können wir ihn beenden? Wir haben im Zusammenhang mit unserem Einsatz in Afghanistan eine ganze Reihe von Erfahrungen gemacht, die meines Erachtens gut aufbereitet worden sind und die in die RSM-Mission eingeflossen sind. Wir haben vor zwei Jahren entschieden, dass wir nicht mehr an Kampfhandlungen in Afghanistan teilnehmen und dass wir uns auf Beratung, Ausbildung und Unterstützung der afghanischen Streitkräfte konzentrieren. Das konnten wir deshalb tun, weil wir es in den Jahren zuvor tatsächlich geschafft haben, sowohl bei der Polizei als auch bei der afghanischen Armee einen Ausbildungs- und Ausrüstungsstand zu erreichen, der es den afghanischen Streitkräften erlaubt, die Verantwortung Stück für Stück selbst zu übernehmen. Blicken wir auf das zurückliegende Jahr zurück und vergleichen wir es mit früheren Monaten. Blicken Sie zum Beispiel auf den neuerlichen Versuch der Taliban, die Stadt Kunduz im Norden von Afghanistan, im Verantwortungsbereich der Bundeswehr im Rahmen des alten ISAF-Mandats, einzunehmen. Dieser Angriff konnte, anders als noch wenige Monate zuvor, erfolgreich zurückgeschlagen werden; außer ein paar Handybildern der Taliban war nichts von einer Besetzung dieser Stadt zu verspüren. Den einheimischen Kräften ist es gelungen, die Sicherheit und Ordnung weitestgehend wiederherzustellen. Das zeigt, dass wir gut vorankommen, wenngleich wir natürlich noch nicht am Ziel sind. Wir haben alle das Interview des Kommandeurs des deutschen Verbandes gelesen: Die Bevölkerung wünscht sich dieses Engagement der deutschen Bundeswehr und dankt dafür. Wir werden mit offenen Armen empfangen, eben auch, weil die Bundeswehr nicht nur in kaki Uniform und mit der Waffe dort steht, sondern weil die Bundeswehr eben auch zivile Hilfe möglich macht. Was sich im Land an Infrastruktur entwickelt und an Bildungsmöglichkeiten offenbart – darüber hat die Ministerin gesprochen –, ist ganz beachtlich. Wenn wir auf die konkreten Defizite dieses Einsatzes blicken, müssen wir natürlich auch nüchtern feststellen: Die Zahl der getöteten Zivilisten in Afghanistan in den ersten drei Quartalen dieses Jahres ist im Vergleich zu den ersten drei Quartalen des letzten Jahres leider nicht zurückgegangen. Es sind jeweils rund 2 500 Zivilisten getötet worden. Die Terrorgefahr ist tatsächlich überall präsent, wie wir am Generalkonsulat in Masar schmerzlich erleben mussten. Ich schließe mich ausdrücklich dem Dank der Ministerin an. Wir Obleute haben alle stündlich verfolgt, wie sich die Situation in Masar entwickelt hat, und wir haben den Eindruck, dass die Bundeswehr und ihre verbündeten Streitkräfte da sehr umfassend und sehr gut reagiert haben. Leider hat es Opfer unter der Zivilbevölkerung und unter den einheimischen Sicherheitskräften gegeben, die natürlich in Zukunft unter allen Umständen verhindert werden müssen. Es gibt natürlich ein Defizit an Good Governance in der Hauptstadt. Die Regierung mit der Doppelspitze funktioniert nur höchst unvollkommen – ein echter Hemmschuh für eine schnellere und bessere Entwicklung. Wir haben Pakistan, das nach wie vor ein Rückzugsort für die Taliban und terroristische Kräfte ist. Der pakistanische Premierminister muss aus unserer Sicht erst beweisen, dass er ein „terrific guy“ ist. Wir sehen ihn nicht als wirklichen Erfolgsfaktor in der Region an, sondern wir mahnen die pakistanische Regierung an, auch mehr gegen den Terrorismus im eigenen Land zu machen. Ich bin der Meinung, dass wir uns natürlich mit Blick auf die vielen, insbesondere jungen Afghanen, die gegenwärtig außerhalb Afghanistans leben, die Frage stellen müssen: Was können wir tun, um diese jungen Menschen zu bewegen, in ihr Heimatland zurückzukehren und dort am Aufbau des Landes mitzuwirken? Es macht ja keinen Sinn, wenn die ganzen Jungen und im Zweifel auch die besser Ausgebildeten, zum Beispiel die, die Englisch beherrschen, dann in anderen Ländern, zum Beispiel in Deutschland, wo es 250 000 Afghanen gibt, leben. Wenn wir von denen sprechen, die abgeschoben oder zurückgeführt werden können und müssen, dann sprechen wir nur von einem kleinen Teil. Ich glaube aber, dass es unter den anderen auch viele gibt, die bei entsprechenden Anreizen bereit und in der Lage sind, den Aufbau ihres Landes zu fördern und zu betreiben. Da würde ich mir wünschen, dass wir da noch mehr Fantasie und Kreativität entwickeln, dass mehr von diesen Menschen auch tatsächlich ihr eigenes Land mit aufbauen. Wir werden in die Beratung dieses Antrags mit großer Sorgfalt einsteigen. Wir werden in den Ausschüssen darüber reden, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion am Ende der Verlängerung des RSM-Mandats auch zustimmen wird. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Florian Hahn (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 15 Jahre sind wir mittlerweile in Afghanistan. Diese 15 Jahre, die für uns wie eine Ewigkeit wirken, sind für ein Land, das seit der sowjetischen Invasion 1979 in einem zermürbenden Zustand aus Krieg und Gewalt versinkt, nicht genug. Klar ist: Afghanistan braucht noch mehr Zeit. Für uns heißt das: Wir brauchen einen langen Atem, die sogenannte strategische Geduld, um das Land weiter zu stabilisieren, erreichte Fortschritte zu sichern und zu verhindern, dass Afghanistan noch einmal zu einem sicheren Hafen für islamistischen Terror wird. Dazu ist es entscheidend, der Situation im Land am Hindukusch mit genügend Pragmatismus zu begegnen. Wir dürfen bei der Analyse der Gefährdungslage keine Augenwischerei betreiben, sondern müssen gerade auch gegenüber den Soldatinnen und Soldaten klar und ehrlich die Realität beschreiben. Das Glas ist weder halb voll noch halb leer. Was heißt das? Der Angriff auf das deutsche Konsulat in Masar stellt für uns natürlich ein dickes Ausrufezeichen dar. Eines wird damit deutlich: Die Taliban werden auch weiterhin versuchen, mit gezielten Anschlägen den Einsatzwillen der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft zu brechen. Diese Strategie darf nicht aufgehen. 2015 war für die Taliban das erfolgreichste Jahr seit der westlichen Militärintervention 2001. Trotz interner Machtkämpfe stellen sie auch in diesem Jahr für mehr als die Hälfte der rund 34 Provinzen des Landes eine ernsthafte Bedrohung dar. Trotzdem: Über 68 Prozent der Bevölkerung stehen unter dem Schutz der Regierung. Keine Stadt ist in diesem Jahr an die Taliban gefallen. Die afghanischen Sicherheitskräfte haben mit den rund 320 000 Männern 90 Prozent ihrer Sollstärke erreicht. Ein Großteil ist weiterhin mangelhaft ausgebildet. Es fehlt an Führungsfähigkeiten. 2015 haben sie fast ein Drittel ihrer Stärke durch Tod, durch Verwundung, durch Desertion verloren. Ein solcher Verlust bewegt sich in einer Größenordnung, die eine Armee kaum verkraften kann. Und doch: Der Ausbau der afghanischen Luftwaffe geht voran. Eine eigene Luftnahunterstützung kann häufiger selbstständig geleistet werden. Auch haben die afghanischen Spezialkräfte mittlerweile ein professionelles Niveau erreicht. Aber Vetternwirtschaft, ethnische Aufsplitterung in Fraktionen und Korruption sind im Militär und in der Polizei weiterhin verbreitet. Aber auch hier gibt es einige positive Zeichen: Präsident Ghani hat gemeinsam mit Abdullah Abdullah mehr als 70 ineffiziente Militäroffiziere entlassen. Diese Strukturreformen müssen weitergehen und dürfen nicht, wie in diesem Jahr, wieder nachlassen. Sicher ist: Militärisch allein ist der Konflikt nicht lösbar. Es muss daher auch eines offen ausgesprochen werden: Unser Engagement ist noch lange notwendig. An die Taliban gerichtet, heißt das, sie können uns auch nicht aussitzen. In den Kategorien von „Sieg“ oder „Niederlage“ sind langfristige Stabilisierungsmissionen nicht zu fassen. ... Die internationale Gemeinschaft aber darf „nicht siegen“ deshalb nicht als Scheitern interpretieren. So lautet eine Bewertung des deutschen Engagements durch den Wehrbeauftragten, Hans-Peter Bartels, den ehemaligen General Klaus Wittmann und den Vorsitzenden des BundeswehrVerbandes, Oberstleutnant André Wüstner. Wichtig ist den drei Analysten vor allem eins: Wir müssen aus Afghanistan lernen. Das heißt, wir müssen die ressortübergreifende Zusammenarbeit weiter verbessern, sprich: die interdisziplinäre Führungsstruktur in aktuellen und künftigen Einsätzen noch stärker harmonisieren. Gerade in asymmetrischen Konflikten müssen wir daran arbeiten, mit genügend regionaler Flexibilität auf Lageentwicklungen zu reagieren. Entscheidend ist aber auch, dass die Einheitsregierung unter Präsident Ghani in Afghanistan in Zukunft noch stärker zu ihren Reformbemühungen steht. Frau Bundesministerin hat das ja bereits sehr richtig und sehr ausführlich ausgeführt. Die politischen Akteure müssen ihren Anteil übernehmen, um Regierungshandeln, Frauenrechte, Wirtschaftskraft in Afghanistan zu verbessern und damit die Unterstützung der Bevölkerung zu vergrößern. Willkür und Unrecht sind die gefährlichsten Brandbeschleuniger für radikales Gedankengut und erfolgreiche Rekrutierungshelfer der Taliban. Die Botschaft der Afghanistan-Konferenz in Brüssel Anfang Oktober dieses Jahres war daher sehr deutlich: Die internationale Unterstützung ist an klare Fortschritte bei der Umsetzung von Reformen geknüpft. Heute konkurriert Afghanistan mehr denn je um Ressourcen und Aufmerksamkeit mit anderen Konfliktgebieten. Umso wichtiger ist es, dass sich die Afghanen nicht in die Zeit nach dem sowjetischen Abzug 1989 zurückversetzt fühlen, in der das Land in Vergessenheit geriet. Mit dem fortgesetzten Mandat zeigen wir sehr deutlich, dass wir Afghanistan in der schwierigen Übergangsphase nicht im Stich lassen. „Geduld bedeutet, dass man immer weitblickend das Ziel im Auge behält“, so ein berühmter afghanischer Denker. Daran sollten wir uns halten und die entsprechende Geduld weiter aufbringen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/10347 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung somit beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetzliche Grundlage für Angehörigenschmerzensgeld schaffen Drucksachen 18/5099, 18/10076 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Widerspruch dagegen erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Johannes Fechner für die SPD das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Johannes Fechner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Tribünen! Das Angehörigenschmerzensgeld kommt endlich. Gestern ging nach langen und intensiven Diskussionen der Referentenentwurf in die Ressortabstimmung. Damit können wir noch in dieser Legislaturperiode eine Rechtsgrundlage beschließen, damit die Hinterbliebenen einen eigenen Anspruch auf Schmerzensgeld erhalten, wenn sie einen Angehörigen verloren haben. Vor meiner Wahl in den Bundestag habe ich als Rechtsanwalt Eltern vertreten, die durch einen tragischen Verkehrsunfall ihr kleines Kind verloren hatten, was unermessliches Leid über die Familie gebracht hat. Natürlich können wir dieses große seelische Leid Hinterbliebener durch den Verlust nahestehender Menschen niemals mit Geld ausgleichen. Aber zumindest ein Stück weit können wir das Leid von Hinterbliebenen durch eine Geldzahlung lindern. Dafür ist im BGB eine eigene Anspruchsgrundlage für Hinterbliebene erforderlich. Nach heutiger Rechtslage haben Angehörige nur dann einen Anspruch, wenn die hohen Anforderungen des BGH hierfür erfüllt sind. Der BGH fordert eine über das Maß der normalen Trauer hinausgehende seelische Beeinträchtigung, und das ist im Einzelfall immer nur sehr schwer nachweisbar. Es war mir persönlich – ich habe Ihnen den entsprechenden Fall geschildert –, aber auch der SPD deshalb ein großes Anliegen, dass wir für die Angehörigen und Hinterbliebenen eine klare Rechtsgrundlage für ihre eigenen Ansprüche schaffen. (Beifall bei der SPD) Wir wollen deshalb in einem neuen Absatz 3 des § 844 BGB Personen einen Entschädigungsanspruch gegen den Schädiger gewähren, die einen nahestehenden – nicht notwendigerweise verwandten – Menschen durch eine Straftat oder einen Unfall verloren haben. Auch Mitglieder von Patchworkfamilien und unverheiratete Partner sind so erfasst. Denn ich finde, auch ein unverheirateter Hinterbliebener kann einem Verstorbenen so nahegestanden sein, dass wir ihm oder ihr zum Ausgleich ihres bzw. seines Leides einen eigenen Anspruch gewähren sollten. Was die Höhe angeht, so haben wir Koalitionsfraktionen uns dafür entschieden, dies im Einzelfall der Rechtsprechung zu überlassen, allerdings mit dem klaren Hinweis auf die Rechtsprechung in Deutschland und Europa. Es wurden hier Zahlungen von bis zu 25 000 Euro zugesprochen. Aus meiner Sicht könnte sich diese Rechtsprechung durchaus dahin gehend entwickeln, dass auch noch höhere Beträge zugesprochen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht zuletzt die Germanwings-Katastrophe hat uns gezeigt, dass Hinterbliebene eine klare Rechtsgrundlage und einen eigenen Rechtsanspruch auf Entschädigungszahlungen haben müssen. Es darf nicht sein, dass Angehörige in der schweren Zeit der Trauer in ein unwürdiges Geschacher um ihre Entschädigungszahlungen gegen den Schädiger oder dessen Versicherung eintreten müssen. Das müssen wir verhindern. (Beifall bei der SPD) Den Grünenantrag, über den wir heute diskutieren und abstimmen, will ich ausdrücklich loben; die Forderungen in diesem Antrag sind berechtigt. Aber das Bundesjustizministerium hat jetzt ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren gestartet; der Schmerzensgeldanspruch im BGB sowie in weiteren Gesetzen und die Gefährdungshaftung werden kommen. Weil also den berechtigten Anliegen des Grünenantrags nachgekommen wird, müssen wir diesen Antrag nicht mehr verabschieden. Die Aufforderung an die Bundesregierung, tätig zu werden, ist schlicht nicht mehr nötig. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie seit zwei Jahren!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Angehörige brauchen eine klare Rechtsgrundlage für ihre Ansprüche. Lassen Sie uns diese hier möglichst rasch beschließen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am besten heute noch!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächster Redner ist der Kollege Harald Petzold, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Der Kollege Fechner hat es angesprochen: Nach dem Absturz der Germanwings-Passagiermaschine im März 2015 haben die Fluggesellschaften Germanwings und Lufthansa den Hinterbliebenen der Opfer eine finanzielle Überbrückungshilfe von jeweils bis zu 50 000 Euro gezahlt. Vorausgegangen waren sehr schmerzhafte – ich will es trotzdem einmal so nennen – Verhandlungen, weil die Opfer eben keinen Rechtsanspruch auf ein Angehörigenschmerzensgeld hatten – und das, obwohl Sie sich in Ihrem Koalitionsvertrag eigentlich dazu verpflichtet haben, Folgendes zu regeln – ich zitiere –: Menschen, die einen nahen Angehörigen durch Verschulden eines Dritten verloren haben, räumen wir als Zeichen der Anerkennung ihres seelischen Leids einen eigenständigen Schmerzensgeldanspruch ein, der sich in das deutsche System des Schadensersatzrechts einfügt. Weil nichts passiert war, hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – das hatten Sie damals so begründet – in der 124. Sitzung unseres Bundestages den Antrag eingebracht, den wir heute erneut behandeln und der die Bundesregierung auffordert, einen eigenen gesetzlichen Schmerzensgeldanspruch für Hinterbliebene zu schaffen. Dazu sollen entsprechende Paragrafen im Bürgerlichen Gesetzbuch geändert werden. Im Falle der Gefährdungshaftung soll der gesetzliche Schadensersatzanspruch um ein Schmerzensgeld für Hinterbliebene erweitert werden. Im Opferentschädigungsgesetz soll ergänzt werden, dass Hinterbliebene im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Verursachers einen Anspruch gegen den Staat geltend machen können. In diesem Antrag wird letztlich nur das gefordert, was Sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Deswegen ist es unverständlich, wieso bis zum heutigen Tag bis auf Ankündigungen nichts passiert ist. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nachdem sich der Justizminister als Ankündigungsminister genügend profiliert hat, entwickeln Sie sich, Herr Kollege Fechner, muss ich ganz ehrlich sagen, in der SPD-Bundestagsfraktion zum Ankündigungsabgeordneten vom Dienst. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In jeder Sitzung des Ausschusses, in der von Ihnen die Vertagung oder Absetzung oder Nichtbehandlung dieses Antrags beantragt worden ist, ist immer wieder angekündigt worden: Wir machen das, weil wir selbst an einer Lösung arbeiten. Wir arbeiten selbst daran. (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Ich schicke Ihnen den Referentenentwurf!) Heute kündigen Sie wieder nur an und sagen: Der Referentenentwurf ist jetzt fertig. (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Ja!) Damit können die Opfer und die Hinterbliebenen nichts anfangen. Davon können sie sich nichts kaufen. Deswegen wird es Zeit, dass Sie endlich liefern. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Johannes Fechner [SPD]: Genau das tun wir!) Ich kann Sie nur auffordern, alle die Dinge nachzulesen und zu berücksichtigen, die mein Kollege Jörn Wunderlich in der ersten Lesung vorgetragen hat; denn die Problemlage ist längst klar. Ich will noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass es darum gehen muss, eine Regelung zu treffen, nach der dieses Angehörigenschmerzensgeld nicht auf andere Leistungen angerechnet wird; sonst haben wir eine neue Ungerechtigkeit. (Beifall bei der LINKEN) Ich fordere Sie auf, noch in dieser Legislaturperiode – es sind noch zehn Monate bis zur nächsten Wahl – etwas vorzulegen, das tatsächlich beschlossen werden kann. Ich kann nicht nachvollziehen, wieso Sie hier sagen: „Der Antrag der Grünen ist gut“, dann aber nicht die Größe besitzen, ihn wenigstens zu behandeln und hier eine Zustimmung dazu herbeizuführen. (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Es passierte ja auch nicht mehr, als dass die Bundesregierung aufgefordert wird, endlich zu liefern. Das wird höchste Zeit. Vielen Dank, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Der Kollege Dr. Hendrik Hoppenstedt spricht jetzt für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor über einem Jahr, am 24. September 2015, haben wir über den Grünenantrag hier schon einmal beraten. Jetzt ist es wieder so weit. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und so lange haben Sie nicht geliefert!) In dem Antrag zitieren Sie aus dem Koalitionsvertrag: Menschen, die einen nahen Angehörigen durch Verschulden eines Dritten verloren haben, räumen wir als Zeichen der Anerkennung ihres seelischen Leids einen eigenständigen Schmerzensgeldanspruch ein, der sich in das deutsche System des Schadensersatzrechts einfügt. Dazu darf ich erneut feststellen: Ich begrüße, wenn die Opposition sich mit unserem Koalitionsvertrag auseinandersetzt, und wenn sie ihn auch noch inhaltlich unterstützt, umso schöner. Das Abschreiben aus dem Koalitionsvertrag ist möglicherweise keine intellektuelle Höchstleistung, für unser Land möglicherweise aber immer noch besser als die Verwirklichung eigener Ideen. (Beifall bei der CDU/CSU) Normalerweise werden Ihre Anträge von der Koalition stets aus guten Gründen zurückgewiesen. (Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie immer!) Das werden wir auch dieses Mal tun müssen, dieses Mal mit etwas schwererem Herzen. Aber wir glauben, dass die Ergänzung des Opferentschädigungsgesetzes inhaltlich zu weitgehend ist. Allerdings haben Sie recht, dass es nicht angehen kann, dass wir nach drei Jahren immer noch nicht die erste Lesung eines Gesetzentwurfs dazu hier im Plenum haben. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) Der Grund dafür ist relativ einfach: Bundesminister Heiko Maas hat uns tatsächlich erst am letzten Donnerstag einen ersten Referentenentwurf übermittelt. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist auch bald Weihnachten!) Ich könnte jetzt auf eine Vielzahl von Briefen und Gesprächen mit dem BMJV verweisen, in denen ich und andere versucht haben, das Ministerium ein Stück weit zur Eile zu treiben. Das hat leider alles wenig genutzt. (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gib’s ihm, gib’s ihm!) Wahrscheinlich hätte ich mich heute hierhingestellt und hätte irgendetwas Freundliches, etwas Entschuldigendes oder etwas Relativierendes über das Ministerium gesagt, (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Ihnen fällt nichts mehr ein!) wenn die SPD-Bundestagsfraktion nicht am letzten Samstag eine Pressemitteilung herausgegeben hätte, aus der ich kurz zitieren darf: Die Koalitionsfraktionen haben sich in den vergangenen Tagen endlich auf eine gesetzliche Regelung zum Hinterbliebenengeld geeinigt. Damit kann der Bundestag noch in dieser Legislaturperiode eine Rechtsgrundlage beschließen, (Beifall des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) mit der das seelische Leid Hinterbliebener durch den Verlust nahestehender Menschen ausgeglichen werden kann. In Absatz 4 heißt es: Hinterbliebene dürfen nicht mit geringen Summen abgespeist werden. Wir hätten deshalb gern in der Gesetzesbegründung einen Korridor von 30 000 bis 60 000 Euro benannt. Dieses wollte die Union nicht. Immerhin wird nun aber auf unseren Vorschlag hin in der Gesetzesbegründung als Orientierung auf Urteile verwiesen, in denen bis zu 25 000 Euro zugesprochen wurden. Meine Damen und Herren, dazu gestatten Sie mir zwei Bemerkungen. Bemerkung eins. Sie erwecken den Eindruck, dass die Koalitionsfraktionen monatelang über diese Eckpunkte gestritten hätten. (Dr. Johannes Fechner [SPD]: So war es auch!) Das ist erkennbar nicht der Fall. Wir hatten zwei Themen, die uns beschäftigt haben, nämlich der Kreis der Anspruchsberechtigten zum einen und zum anderen die Anspruchshöhe. Beides haben wir in einem 30-minütigen Gespräch in Form eines Kompromisses beigelegt. Deswegen noch einmal: Für die Verzögerung ursächlich ist die Priorisierung im Hause Maas. Dort wird als Allererstes das aus dem Koalitionsvertrag abgearbeitet, was die SPD hineinverhandelt hat. (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Sehr schön! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Ihren Ressorts ja wesensfremd!) Dann wird sich um die Dinge gekümmert, die im Zweifelsfall gar nicht – Frau Künast, hören Sie doch kurz zu! – im Koalitionsvertrag stehen, wie zum Beispiel die Reform des Mordparagrafen. Dann erst kommen unsere Belange. Da in diesem Fall das Gesetzesvorhaben auch von der CSU kommt, ist es natürlich ein besonderes Schmuddelkind. (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Jetzt wird es aber wirklich peinlich!) Zweite Bemerkung: die Sache mit der Anspruchshöhe. Das Ministerium war zwar unendlich langsam, aber wenigstens kann es lesen. (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Schreiben wäre auch nicht schlecht!) Im Koalitionsvertrag steht, dass sich der Anspruch in das deutsche System des Schadenersatzrechtes einfügen muss. Wenn der schlimmere Schockschaden mit circa bis zu 15 000 Euro entschädigt wird, dann kann der Hinterbliebenenschmerz schwerlich 60 000 Euro nach sich ziehen, Herr Fechner. Das trieft vor Populismus, jedenfalls meines Erachtens. Das scheinen selbst die Grünen so zu sehen; denn im Antrag heißt es: Die bislang üblicherweise angewandten Schmerzensgeldtabellen haben sich bewährt. Wer das ändern will, soll das offen so sagen. Er bekommt dann nämlich amerikanische Schadensersatzverhältnisse, die jedenfalls ich nicht will, weil sie auch für die Versichertengemeinschaft riesige Mehrkosten nach sich ziehen würden. (Beifall bei der CDU/CSU) Deswegen, meine Damen und Herren von der SPD, glaube ich, war es vielleicht nicht die beste Idee, diese Pressemitteilung zu schreiben. Wenn Sie doch eine Pressemitteilung schreiben möchten, dann rate ich Ihnen zum Schluss, zwei Dinge dort hineinzuschreiben: Punkt eins. „Die SPD-Bundestagsfraktion bedauert, dass der zuständige Minister drei Jahre lang gebraucht hat, um einmal einen Referentenentwurf zu schreiben.“ (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christine Lambrecht [SPD]: Ganz kleines Karo!) Punkt zwei. „Die SPD-Bundestagsfraktion entschuldigt sich bei den Hunderten von Menschen in unserem Land, die möglicherweise in den letzten zwei Jahren einen nahen Angehörigen verloren haben durch Verschulden oder Tötung durch einen Dritten, (Christine Lambrecht [SPD]: Blamabel, was Sie machen! – Dr. Johannes Fechner [SPD]: Du blamierst dich gerade!) weil sie es nicht geschafft hat, einen entsprechenden Gesetzesentwurf rechtzeitig vorzulegen.“ Hier möchte ich sagen: Das ist ausschließlich ein SPD-Thema. Deswegen würde ich mich freuen, wenn Sie zukünftig dafür Sorge tragen, dass Ihre Pressemitteilungen der Realität entsprechen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb stimmen Sie den Grünen zu! – Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Sie können ja zustimmen, Herr Hoppenstedt, dann haben wir sofort den Gesetzentwurf!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ist es nicht schön, dass wir alle (Beifall des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) wunderbar für das Angehörigenschmerzensgeld sind? Dass Sie jetzt in der Debatte über irgendetwas herziehen, um unseren Antrag abzulehnen, ist nicht neu, nicht überraschend und auch nicht ungewöhnlich. (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine intellektuelle Höchstleistung!) Aber ungewöhnlich ist durchaus die hartnäckige Untätigkeit des Justizministeriums. Ich rufe noch einmal in Erinnerung: Nach dem Absturz der Germanwings-Maschine am 24. März 2015 wurde noch einmal offenbar, dass im deutschen Recht immer noch kein Schadensersatzanspruch für den Verlust eines nahen Angehörigen besteht. Wir haben diesen Anlass genutzt, uns noch einmal über eine konkrete gesetzliche Lösung Gedanken zu machen. Am 2. Juni 2015 hat meine Fraktion den heute zur Abstimmung stehenden Antrag auf Vorlage eines entsprechenden Gesetzes beschlossen und in den Bundestag eingebracht. Drei Monate später, im September 2015, fand die erste Lesung statt, und da kündigten Sie schon an, es sei ja alles schon so gut wie eingetütet. Positiv überrascht war ich in der Debatte, dass wir sogar bei den Einzelheiten dieses Vorhabens tatsächlich zu den gleichen sinnvollen Ergebnissen gekommen waren, nämlich Einschränkung auf die Todesfälle, aber Anwendung auch auf die Gefährdungshaftung. Wenn wir schon einmal unabhängig zueinander zu dem gleichen Ergebnis kommen, ist das ja erst einmal positiv. Vonseiten der SPD hörte ich, der Gesetzentwurf solle noch vor Weihnachten – ich betone: Weihnachten 2015 – sicher vorliegen. In der Dezemberausgabe der Richterzeitung konnte ich dann einen Artikel des Kollegen Fechner lesen. Da hieß es: Das Angehörigenschmerzensgeld gehört für mich persönlich zu den wichtigsten rechtspolitischen Vorhaben in dieser Legislaturperiode. (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Genau! Ja!) Aha, dachte ich, das macht Hoffnung. Am 16. Dezember haben wir im Rechtsausschuss auf unseren Antrag hin beschlossen, eine Expertenanhörung durchzuführen. Das wäre ja auch gerade im Hinblick auf die angeblichen Arbeiten im Ministerium durchaus sinnvoll gewesen. Stattdessen wurde aber dann die Terminierung der Anhörung immer wieder abgesetzt, mal mit der Begründung, man habe keine Zeit, und mal mit dem Hinweis, der Gesetzentwurf aus dem Ministerium würde ja jeden Moment vorliegen. Nach zehn Sitzungswochen haben wir dann einen Bericht nach § 62 der Geschäftsordnung angefordert, der aber weder Sie noch das Ministerium in irgendeiner Weise beeindruckt hat. Nachdem Sie jetzt fast ein Jahr lang unser Minderheitenrecht auf Durchführung einer Anhörung boykottiert haben, geht die Legislatur langsam, aber sicher dem Ende entgegen. Und jeder weiß: Was bis Weihnachten nicht durch ist, wird auch nichts mehr. (Christine Lambrecht [SPD]: Oh!) Ich habe den Antrag auf Expertenanhörung jetzt aufgegeben, damit wir wenigstens diese zweite Lesung unseres Antrages hier heute noch durchführen können. Als ich Anfang der Woche dann die erwähnte PM las, machte ich mir schon Sorgen, und ich dachte, wir müssten den Tagesordnungspunkt zurückziehen, weil jetzt etwas vorliegt. Aber siehe da: In der Kabinettssitzung gestern stand es nicht auf der Tagesordnung, und als ich heute auf die Tagesordnung der nächsten Sitzungswoche schaute – das ist übrigens die letzte Sitzungswoche vor Weihnachten –, war auch da vom Schmerzensgeld nichts zu sehen. Wenn Ihnen das Schmerzensgeld wirklich so wichtig ist, dann bringen Sie Ihr eigenes Ministerium jetzt auf Trab und stimmen Sie unserem Antrag zu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das Thema wird ja nicht erst beim nächsten Flugzeugabsturz relevant. Jeden Tag sterben Menschen bei Verkehrsunfällen oder werden Opfer einer Gewalttat. Ich vermag den Angehörigen nicht zu erklären, warum zwar der Schmerz bei Verlust eines Körperteils bezifferbar ist, aber nicht der Schmerz bei Verlust eines Kindes. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, dass wir die Bemessung des Schmerzensgeldes in Deutschland in das Ermessen des Gerichts stellen; denn jeder Fall ist individuell unterschiedlich. Wir sollten es als Gesetzgeber dabei belassen, keine Zahlen in das Gesetz zu schreiben. Die Ergänzung der Paragrafen – wir hatten vorgeschlagen, § 253 BGB zu ergänzen – kann ja nicht so komplex sein, dass das Ministerium dafür zwei Jahre braucht. Wenn ich einmal vergleiche, wie schnell Sie die Interessen der Deutschen Bank beim Insolvenzrecht, beim sogenannten Liquidationsnetting, (Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Oh, darüber reden wir nachher noch, ob das so ist!) über das wir heute Nacht noch reden werden, gesichert und in Gesetzesform gegossen haben, dann komme ich zu dem Schluss, dass Sie diese kleine, aber wichtige Änderung des BGB im Schadensrecht dreimal hätten fertig machen können. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Da haben Sie den richtigen Weg noch nicht erkannt, Frau Kollegin!) Tun Sie also bei der Abstimmung, was Sie meinen tun zu müssen. Meine Fraktion wird jedenfalls heute für ein Angehörigenschmerzensgeld stimmen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Wir auch!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die SPD spricht jetzt der Kollege Dr. Matthias Bartke. (Beifall bei der SPD) Dr. Matthias Bartke (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde bereits gesagt: Im März 2015 hat der Kopilot Andreas Lubitz sein Flugzeug absichtlich gegen die Felsen der französischen Alpen gesteuert. Die Folgen dieses schrecklichen Absturzes sind uns allen bekannt. Unter dem Eindruck dieser Katastrophe haben Sie, liebe Bündnisgrüne, den vorliegenden Antrag im vergangenen Jahr vorgelegt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, wir, die Koalition, haben bereits im Koalitionsvertrag einen eigenständigen Schmerzensgeldanspruch für Angehörige vereinbart; (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Davon haben die Angehörigen nur nichts!) Sie haben eben durchaus zutreffend darauf hingewiesen. Der Absturz des Flugzeugs war für uns also eine Bestätigung unseres eigenen Handlungsauftrages. Anlass waren aber vor allem die Einzelschicksale, die keine mediale Aufmerksamkeit bekommen. Immer wieder kommen Menschen durch eine Straftat oder einen fremdverschuldeten Unfall ums Leben. Wird ein Kind auf seinem Fahrrad von einem Auto überfahren, bekommen die Eltern Schadensersatz für das Fahrrad und für die Beerdigung. Ihr jahrzehntelanges seelisches Leid nimmt das bürgerliche Recht nicht zur Kenntnis. Es ist aber die Trauer, die eine tiefe Kerbe schlägt. Hinterbliebenen steht zwar jetzt schon Schadensersatz für seelisches Leid zu; das ist aber nur dann der Fall, wenn sie eine schwere seelische Erschütterung über normale Trauer hinaus nachweisen können. Man spricht dann von einem sogenannten Schockschaden. Die einfache Trauer ist entschädigungslos; sie wird als hinzunehmendes Schicksal angesehen. Das wollen wir so nicht länger stehen lassen. Ich bin daher sehr froh, dass wir uns in der Regierungskoalition endlich auf eine gesetzliche Regelung zur Einführung eines Hinterbliebenengeldes geeinigt haben. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, das haben Sie schon im Koalitionsvertrag gemacht!) Der Verlust eines geliebten Menschen kann niemals mit Geld aufgewogen werden. Diesem Anspruch muss ein Schmerzensgeld aber auch nicht genügen. Mit der geplanten Einführung eines Hinterbliebenengeldes wird das seelische Leid der Angehörigen anerkannt, und wir bekunden unsere Solidarität. Ausschlaggebend für den seelischen Schmerz ist nicht der Verwandtschaftsgrad, sondern das Näheverhältnis. Deswegen ist es nur folgerichtig, dass all jene Anspruch auf die Entschädigungszahlung haben sollen, die in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis zum Getöteten standen. Erfasst sind damit zum Beispiel Patchworkfamilien oder unverheiratete Partner. Lieber Herr Hoppenstedt, (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Jetzt kommt’s!) das, was Sie eben gesagt haben, war zum Teil peinlich (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Und zum Teil sehr richtig!) und zum Teil unterste Schublade. Wir Sozialdemokraten sollen uns bei Opfern entschuldigen, weil wir das Gesetz nicht schnell genug gemacht haben? Herr Hoppenstedt, ich kann Ihnen nur anraten, bei den nächsten Koalitionsverhandlungen mit den Grünen Ihre Koalitionsaufträge mit einer Zeitleiste zu versehen, aus der hervorgeht, wann Sie was abhandeln wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Grüne, Ihre Kritik ist im Wesentlichen die gewesen, dass die Koalitionsfraktionen ihren Koalitionsvertrag nicht schnell genug abarbeiten. Ich finde das ehrlicherweise eine bemerkenswerte Oppositionsarbeit, dass Sie der Regierung vorwerfen, nicht schnell genug die eigenen Vorhaben abzuarbeiten. Ich habe mir Oppositionsarbeit immer etwas anders vorgestellt. Ich finde es aber super, dass Sie uns so bei unserer Arbeit unterstützen, und danke Ihnen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie schon mal was Richtiges wollen, Herr Kollege!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Zum Abschluss dieser Aussprache hat der Kollege Alexander Hoffmann für die CDU/CSU das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Der Rechtsstaat hat zwei Wege, wie er auf eine Körperverletzung oder auf die Tötung eines Menschen reagiert. Da ist zum einen die strafrechtliche Seite. Hier steht die Strafe – die Freiheitsstrafe auf Bewährung, die Geldstrafe – im Mittelpunkt, und es geht um Schuld, Sühne, ja Vergeltung. Der Staat erhebt hier seinen Strafanspruch, und dieser Strafanspruch schützt letztendlich das Rechtsgut Leben, die körperliche Unversehrtheit. Ich will ins Gespräch bringen, dass bereits diese Seite für das Opfer bzw. die Hinterbliebenen unglaublich wichtig ist; denn diese strafrechtliche Abwicklung – so will ich es einmal nennen – zeigt dem Opfer, den Hinterbliebenen: Ihr seid nicht allein. Sie signalisiert: Der Täter steht außerhalb des rechtsstaatlichen Systems und nicht das Opfer. Sie vermittelt auch Sicherheit, weil die Hinterbliebenen merken: Der Rechtsstaat springt mir zur Seite. Es gibt aber auch eine zweite Seite, und zwar die zivilrechtliche Seite; das ist heute schon angeklungen. Da geht es zunächst um die sehr banal klingende Frage: Inwieweit kann der Schmerz, das Leid, das ein Mensch durch den Verlust eines anderen Menschen oder durch eine Körperverletzung erleidet, monetär aufgewogen werden? Ich denke, wir wissen alle, dass es Konstellationen gibt, in denen das Leid nie mit Geld aufzuwiegen sein wird. Materielle Schäden sind gut zu beziffern, aber bei immateriellen Schäden ist das so gut wie unmöglich. Und dennoch ist es so, dass auch diese zweite Seite für das Opfer, für die Hinterbliebenen unglaublich wichtig ist; denn sie hat Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion. Und gerade weil diese Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen, für das Opfer bzw. die Hinterbliebenen von erheblicher Bedeutung ist, darf es den Rechtsstaat nicht kaltlassen, dass wir hier eine Regelungslücke haben, ich möchte sagen: einen blinden Fleck. Der bayerische Justizminister Winfried Bausback hat diesen blinden Fleck vor einigen Jahren sehr gut beschrieben. Er hat gesagt: Wenn Eltern ihr Kind durch einen Unfall verlieren – das Kind wird auf dem Fahrrad sitzend auf dem Schulweg von einem Auto angefahren –, dann hat der Rechtsstaat nur unbefriedigende Antworten. Denn er antwortet: Wir können euch sehr wohl materiellen Ersatz für das zerstörte Fahrrad geben, aber es ist nicht vorgesehen, dass auch nur ansatzweise ein Ersatz für das Leid und für den Schmerz geleistet wird, den ihr durch den Verlust eures Kindes erlitten habt. – Da wird das Problem offensichtlich. Das deutsche Zivilrecht kennt kein Schmerzensgeld für nahe Angehörige. Auch die Rechtsprechung über die Schockschäden, die sehr dezidiert und differenziert ist, hilft – das ist heute schon angeklungen – in dem Moment nicht weiter; denn sie fordert dramatische Auswirkungen von einigem Gewicht und von einiger Dauer. Die bloße Trauer, der bloße Schmerz, so tragisch das klingt, genügt nicht. Das war der Grund, warum die CSU im Jahr 2013 darauf gedrungen hat, dass dieser Punkt unmittelbar im Koalitionsvertrag Berücksichtigung findet. (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Aha, die CSU war es!) Da sich dann – das muss man so offen ansprechen – im Justizministerium über Jahre hinweg nichts getan hat, war ich sehr dankbar, als das bayerische Justizministerium Anfang 2015, im Januar, einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat, um diese Problematik sachgerecht abzubilden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich will in einer gewissen großkoalitionären Verbundenheit zumindest so viel sagen: (Christine Lambrecht [SPD]: Großmütig! – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn?) Ich war in der heutigen Debatte schon etwas amüsiert, (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Wir waren auch amüsiert!) dass Sie tatsächlich den Versuch unternommen haben, sich als Fahnenträger, ja sogar als Erfinder des Angehörigenschmerzensgeldes feiern zu lassen, und das, nachdem Sie drei Jahre lang nichts unternommen haben, (Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU]: Jetzt verwechsle die Fraktion nicht mit dem Ministerium!) nachdem Ihr Minister auf diesem Feld drei Jahre lang nichts unternommen hat. Deswegen würde ich vorschlagen: (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, jetzt wird es hier spannend!) Weniger feiern lassen, weniger reden; wir sollten bei diesem Thema endlich einfach einmal machen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Jetzt nennen Sie einen Justizminister, der da etwas zuwege gebracht hat! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommen wir jetzt zur Wahl der Waffen?) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Gesetzliche Grundlage für Angehörigenschmerzensgeld schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10076, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/5099 abzulehnen. Wer für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes Drucksache 18/9466 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Drucksache 18/10496 Über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich abstimmen. Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetzentwurfs nach Artikel 87 Absatz 3 unserer Verfassung die absolute Mehrheit, das heißt 315 Stimmen, erforderlich ist. Das ist die sogenannte Kanzlermehrheit. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Widerspruch dagegen erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Ingrid Pahlmann. (Beifall bei der CDU/CSU) Liebe Frau Kollegin, Sie nutzen Ihren heutigen Geburtstag für diese Rede. Sie feiern Ihren Geburtstag hier im Hohen Hause. Ich möchte Ihnen für dieses außerordentlich hohe Maß an Pflichterfüllung danken, vor allem aber zu Ihrem Geburtstag herzlich im Namen der Kolleginnen und Kollegen gratulieren. (Beifall) Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): Recht herzlichen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wir beraten heute den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes. Mir ist bewusst, dass Fischereithemen nicht bei allen Kollegen ganz oben auf der Agenda stehen. Daher möchte ich mit einigen grundlegenden Anmerkungen beginnen. Das Seefischereigesetz ist die Grundlage im deutschen Recht für den gewerbsmäßigen Fischfang auf See. Außerdem regelt es Aufgaben und Zuständigkeiten bei der behördlichen Überwachung der Seefischerei. Kernanliegen des Seefischereigesetzes ist es, die Fischbestände zu schützen. Daher sieht die Gemeinsame Fischereipolitik der EU ein geregeltes Bewirtschaftungssystem vor, das die Reproduktionsfähigkeit der Bestände langfristig sichert, die Fangmöglichkeiten gerecht aufteilt, insgesamt den Erhalt von Meeresressourcen garantiert und damit natürlich auch den Fischern einen wirtschaftlich ausreichenden Ertrag sichert. Die Fischer werden auf verschiedenste Weise kontrolliert und überwacht. Sie sind über ein Satellitensystem jederzeit zu orten. Sie müssen die Quoten der einzelnen Fischarten einhalten, jeden Hol ins Logbuch eintragen und aufgrund des Rückwurfverbotes auch alle Beifänge in den Häfen anlanden. Darüber hinaus gibt es Modellversuche mit einer Kameraüberwachung an Bord, um jegliche Manipulation auszuschließen. Die Erfassung der Daten und die strikte Kontrolle spielen also eine große Rolle. Mit der Änderung des Seefischereigesetzes, über die wir hier heute diskutieren, werden einzelne Vorschriften im deutschen Recht an das geltende Fischereirecht der EU angepasst. Viele Passagen im Gesetz waren absolut unstrittig. Strittig war allerdings in den letzten Wochen das Ansinnen der Bundesregierung, das BMEL zu ermächtigen, die seewärtige Fischereiaufsicht auf den Zoll und die Bundespolizei auszuweiten. Sie könnten dann neben der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, der BLE, auch wieder Aufgaben in der Fischereiaufsicht wahrnehmen, wie sie das bis 2011 auch getan haben. Darüber, wie sinnvoll nun diese Zusammenführung von verschiedenen Kontrollinstanzen ist, welche Vorteile, aber vor allem auch welche Nachteile sich dadurch für unsere Fischer ergeben, haben wir in den letzten Wochen viel diskutiert. (Johann Saathoff [SPD]: Das kann man wohl sagen!) Es ist sicherlich sinnvoll, die gute Zusammenarbeit der drei schiffsführenden Ressorts BMF, BMI und BMEL zu stärken und die enge Zusammenarbeit der BLE und der Zollverwaltung im Maritimen Sicherheitszentrum in Cuxhaven zu vertiefen. Andererseits befürchten aber nun vor allem die Fischer ausufernde zusätzliche Kontrollen. Wir haben diese Sorge sehr ernst genommen und haben in den Verhandlungen mehrfach darüber debattiert. So ging es hauptsächlich um die Frage: Sind der Zoll und die Bundespolizei bei diesen dezidiert fischereirechtlichen Fragen in der Lage, die vielschichtigen und komplexen Kontrollen an Bord versiert durchzuführen? Es geht um die Beurteilung von Fischarten, von Fischmengen, von Fischgrößen, von Netzarten, von Maschengrößen und vielem mehr. Ich muss sagen: Auf diese Frage haben mein Kollege Saathoff und ich keine zufriedenstellende Antwort bekommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Johann Saathoff [SPD]: Leider!) Andererseits ist diese Kompetenzverteilung auf Zoll und Bundespolizei keine neue Errungenschaft. Seit den 90er-Jahren gab es bereits eine Rechtsgrundlage für eine solche Tätigkeit. Sie wurde auch ausgeübt. Wohl versehentlich wurde dieser Passus dann im Jahre 2011 im Rahmen der letzten Änderung des Seefischereigesetzes gestrichen. Seitdem wurden vom Zoll mangels tragfähiger Rechtsgrundlage keine Fischereivollkontrollen mehr vorgenommen. Im Jahr 2014 haben dann BMEL und BMF aufgrund einer Verordnung vereinbart, dass die Zollverwaltung bis zur Verabschiedung eines neuen Gesetzes, also bis zum heutigen Tag, wieder Kontrollen durchführen kann. Um diese Praxis nun auf eine ordentliche Rechtsgrundlage zurückzuführen, soll die Streichung von 2011 rückgängig gemacht werden. Das war ein absolut kurzer Abriss der durchaus hitzig geführten Diskussion. Ich habe es mir selbst nicht leicht gemacht, den viel diskutierten § 2 Absatz 7 des Seefischereigesetzes, um den es hier geht, wieder im Gesetz zu verankern. Aber ich möchte an dieser Stelle eines ganz deutlich machen: Nach allen Restriktionen, die den Fischern vor allem in letzter Zeit auferlegt wurden – ich denke an die extreme Absenkung der Dorschfangquoten in der Ostsee –, können wir uns keine weitere Verzögerung der Verabschiedung des Gesetzentwurfs erlauben. (Beifall bei der CDU/CSU – Johann Saathoff [SPD]: Das stimmt!) Denn wenn wir noch weiter debattieren, geht es nicht mehr nur um den Unmut unserer Fischer über zusätzliche Kontrollen, sondern schlichtweg um ihre Existenz. (Johann Saathoff [SPD]: Da haben Sie recht!) Können wir den Gesetzentwurf heute nicht verabschieden, werden die Gelder aus dem Europäischen Meeres- und Fischereifonds nicht ausgezahlt, die an die Erfüllung der Gesetzesvorhaben gebunden sind. Wir sollten also nicht länger die nötigen EU-Zahlungen blockieren. Mein Plädoyer, bevor wir gleich über die Änderungen abstimmen, ist hoffentlich deutlich geworden: Es darf keine unnötige Verlängerung der Diskussion geben. Vielmehr müssen wir diesen Gesetzentwurf heute verabschieden. Denn damit bringen wir das Geld für die Fischer auf den Weg. Ich kann Sie nur eindringlich darum bitten: Stimmen Sie dem vorgelegten Gesetzentwurf zu! Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin Birgit Menz. (Beifall bei der LINKEN) Birgit Menz (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Meere und Ozeane unseres Planeten sind Heimat für unzählige Tiere und Pflanzen und ernähren Millionen von Menschen in allen Teilen der Erde. Klimawandel, Umweltverschmutzung und Überfischung stellen das Ökosystem Meer vor noch nie dagewesene Herausforderungen. Die intensive Bewirtschaftung der Gewässer der letzten Jahre trägt unweigerlich dazu bei, dass nicht nur die Ernährungssicherheit vieler Menschen auf dem Spiel steht, sondern ganze Ökosysteme zu kollabieren drohen. Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Seefischereigesetzes soll dem Ziel der Gemeinsamen Fischereipolitik der Europäischen Union, die Fischpopulationen zu stabilisieren und eine nachhaltige Bewirtschaftung der Meere zu erreichen, Rechnung getragen werden. Dabei spielt die Kontrolle einer Anlandungsverpflichtung eine wichtige Rolle; denn pro Jahr landen unter anderem durch umweltgefährdende Fangmethoden viele Millionen Tonnen Meereslebewesen unbeabsichtigt – sprich: zusätzlich – in den Netzen, der sogenannte Beifang. Dass dieser vor 2015 einfach über Bord geworfen werden durfte, führte zu einer riesigen Verschwendung von Meereslebewesen aus rein wirtschaftlichen Gründen; denn die meisten der zurückgeworfenen Fische überlebten diese Strapaze nicht. Mit dem Rückwurfverbot schob die EU dieser verschwenderischen Praxis endlich einen Riegel vor. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Entsprechend der Anlandungsverpflichtung muss nun der gesamte Fang an Bord verbleiben und auf die Quoten angerechnet werden. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Einhaltung des Rückwurfverbotes sicherzustellen und die detaillierten Dokumentationen aller Fangreisen zu kontrollieren. Im Rahmen einer Bewertung werden dabei verschiedene Kriterien wie der Schadenswert, die wirtschaftliche Lage der Täterin und der Täter oder Ausmaß oder Wiederholung des Verstoßes berücksichtigt. Aus dem Gesetzentwurf geht nicht hervor, dass ab 2017 auch ein strengerer Maßstab für die Bewertung des Anlandungsgebots in Kraft tritt. Zwar ist geregelt, welches Bußgeld zu verhängen oder welches Strafverfahren im Falle eines schweren Verstoßes einzuleiten ist, jedoch ist nicht erklärt, worin dieser schwere Verstoß besteht. Im Sinne der Transparenz sollten die inhaltlichen Kriterien für die Bewertung von Verstößen aufgeführt werden, um Klarheit für die Fischerinnen und Fischer zu schaffen. (Beifall bei der LINKEN) Auch die im Gesetz vorgesehene Ermächtigung des Landwirtschaftsministeriums, die Überwachung und die Fischereiaufsicht auf die Behörden der Zollverwaltung und der Bundespolizei zu übertragen, ist zumindest kritisch zu hinterfragen. Zwar sind solche Amtshilfen in vielen Bereichen üblich, (Johann Saathoff [SPD]: Amtshilfe ist was ganz anderes!) jedoch sehen wir hier derzeit das Problem, ob überhaupt ausreichende personelle und technische Ressourcen vorhanden sind, die eine effektive und verlässliche Kontrolle garantieren und nicht zur Überlastung der zuständigen Beamten und Beamtinnen führen. Neben der ökologischen Entwicklung muss die aktuelle sowie die zukünftige Fischereipolitik sozial gerecht ausgestaltet werden. (Beifall bei der LINKEN) Vor allem kleine und mittlere Betriebe sehen durch Fangquoten und Schonzeiten ihre Existenz bedroht. Um die maritime Umwelt ebenso wie die Existenz der Küstenfischerei zu schützen, braucht es ein vernünftiges, existenzsicherndes Modell, welches ein Fortbestehen dieses Berufsstandes garantiert. (Beifall bei der LINKEN) Um Fischpopulationen zu stabilisieren und eine nachhaltige Bewirtschaftung der Meere zu erreichen, kann ein konsequentes Umsetzen des Rückwurfverbotes jedoch nur der Anfang sein. Die Linke fordert deshalb, die Fangquoten streng nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen festzulegen, gänzlich auf Grund- und Schleppnetze zu verzichten und alternative Fangmethoden, die den sogenannten Beifang vermeiden und die Meeresumwelt schonen, zu fördern. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächster Redner ist der Kollege Johann Saathoff, SPD. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Johann Saathoff (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es bei dieser Änderung des Seefischereigesetzes? Im Kern geht es um die Umsetzung von zahlreichen Bestimmungen des EU-Rechtes. Zum Beispiel geht es darum, Sanktionierungen bei Fehlverhalten zu regeln, und zwar nicht nur bei Fehlverhalten von Fischern, sondern auch bei Fehlverhalten von Inhabern von Fischereilizenzen, also den Fischereibetrieben. Es geht darum, die Zuständigkeit für Fragen jeglicher Art hinsichtlich Fangerlaubnissen auf das Verwaltungsgericht Hamburg zu übertragen, damit Rechtsklarheit besteht. Es geht darum, dass Kapitäne Auskunftsrechte hinsichtlich möglicher Strafpunkte erhalten. Das ist da genauso wie mit Flensburg. Dafür müssen sie das Recht haben, die Auskunft zu bekommen. Man kann das alles mittragen, liebe Kolleginnen und Kollegen, das will ich an dieser Stelle sagen. Wichtig ist, dass das Gesetz zügig – also noch in diesem Jahr – verabschiedet wird; denn die Konformität mit EU-Recht ist die Voraussetzung für die Auszahlung von Fördermitteln aus dem Europäischen Meeres- und Fischereifonds, dem EMFF. Der EMFF ist für die Fischerei besonders jetzt von enormer Bedeutung. Das liegt an den Stilllegeprämien, die sonst nicht möglich wären. Was ist das eigentlich? Fischer verpflichten sich freiwillig, nicht rauszufahren und damit die Bestände zu schonen. Dabei verdienen sie natürlich kein Geld, und damit sie Geld verdienen, bekommen sie eine Entschädigung aus EMFF-Mitteln. Wir haben ein aktuelles Problem – wir haben miteinander darüber gesprochen –, müssen wir 2017 doch eine starke Kürzung der Fangquote – von weit über 50 Prozent – beim Ostseedorsch hinnehmen, weil unter anderem der Nachwuchs des Ostseedorsches 2015 komplett ausgefallen ist. Die Gründe dafür können vielfältig sein, sie sind auf jeden Fall nicht bei den Fischern zu suchen. Die Fischerei ist auf die Stilllegeprämie mindestens so lange angewiesen, bis die Dorschquote wieder auskömmlich ist. (Beifall bei der SPD) Ohne EMFF, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Nachhaltigkeit der Fischerei gefährdet. Wer nachhaltige Fischerei will, muss auch sicherstellen, dass die Fischerei selber eine nachhaltige Grundlage hat. Allerdings gibt es einen deutlichen Webfehler im Gesetz – das will ich an dieser Stelle noch einmal ausführen –, nämlich die Übertragung von Aufgaben der Fischereiaufsicht von der BLE auf die Bundespolizei bzw. den Zoll. „Laat de Kaat man lopen, Melk gifft de doch neet!“, sagt man in Ostfriesland, wenn ein eigentlich Unzuständiger sich für zuständig erklärt. Ich habe die Handreichung der BLE einmal mitgebracht. Das ist übrigens nur das Kerncurriculum, dazu gibt es noch weitere Dinge, doppelseitig bedruckt, in Englisch – lauter Fachchinesisch und lauter Fachlatein. Der Zoll soll zum Beispiel Fangkontrollen durchführen. Er muss also in der Lage sein, den Rundnasengrenadier vom Schwarzen Degenfisch zu unterscheiden. Fragt mich, wer von uns das kann! Es gibt Vorschriften hinsichtlich der Beifänge, hinsichtlich der Fangmethoden, Netzgröße, Netzform, Maschenweite, Maschenform und, und, und. Viel Spaß, Kolleginnen und Kollegen, kann ich da nur sagen. (Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Hurra!) Diese Kontrollen sollen für Zoll und Bundespolizei möglich werden in einer Zeit der Diskussion über Kameras an Bord, in einer Zeit, wo man mittels AIS-Daten von der Badewanne aus sehen kann, wo sich die Fischereifahrzeuge gerade befinden, mit Vessel-Monitoring-Systemen, in einer Zeit, wo die Fangdaten je Hol in das Logbuch einzutragen sind, und einer Zeit, in der wir gerade dabei sind, neue Schiffe für die BLE bauen zu wollen. Wofür eigentlich, wenn der Zoll das alles kann? Warum gibt es das nicht eigentlich auch umgekehrt? Das heißt, die BLE kontrolliert neben den Belangen der Fischereiaufsicht mit, ob eventuell Zigaretten geschmuggelt worden sind. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Können wir machen! Gute Idee!) Ich glaube, das ist dann viel einfacher. Ein Argument für die Kompetenzübertragung auf Zoll und Bundespolizei war, dass es diese Grundlage früher bereits gegeben habe und dies nur aus Versehen herausgefallen sei. Es war aber auch in der Vergangenheit nicht sinnvoll. Es gab 1 100 Sichtkontrollen in fünf Jahren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sichtkontrolle heißt, am Schiff vorbeifahren und gucken, ob eine Flagge gehisst ist, ob sozusagen die Kennzeichnung dran ist – mehr nicht. Keine wesentlichen fachlichen Kontrollen hat es gegeben. Es gab früher nur den Anschein besserer Kontrollen. Die Staatssekretärin sagte im Ausschuss: Die Kontrollkompetenzen der BLE werden nicht eingeschränkt. – Faktisch wird es aber keine besseren weiteren Kontrollen durch Zoll und Bundespolizei geben können, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Also ist der Sinn, ein Gefühl von mehr und besseren Kontrollen zu vermitteln – quasi Potemkin’sche Kontrollen, wenn man so will. (Beifall des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]) Es wird der Anschein von mehr Kontrollen für die Bürgerinnen und Bürger und von mehr Kontrollen für die Fischer erweckt. Als neues Argument kommt hinzu, dass dadurch die Erhöhung der Achtsamkeit der Fischer eintrete. Fischerei wird über die gefährliche Tätigkeit – und glauben Sie mir, ich kenne Menschen, die auf See geblieben sind – hinaus zur gefahrengeneigten Tätigkeit. Man muss nicht nur aufpassen, nicht unterzugehen, sondern auch aufpassen, nicht bestraft zu werden. Zollkontrollen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind an Land – im landwirtschaftlichen Sektor – schon enorm schwierig. Mir leuchtet einfach nicht ein, warum das auf See einfacher sein soll. Wenn es um zusätzliche Aufgaben für den Zoll gehen soll, dann hätte ich eine Idee, nämlich den illegalen Welpenhandel. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich finde, das wäre als Aufgabe für den Zoll angebracht; da muss etwas gemacht werden. Das ist nicht kompliziert, und hier besteht dringender Handlungsbedarf. Die betroffenen Bundesländer haben für sich ein Anhörungsrecht bei der Umsetzung der Kompetenzen für den Zoll eingefordert. Grundsätzlich – das kann man daraus lesen – sehen die Bundesländer das aus, wie ich gerade dargelegt habe, nachvollziehbaren Gründen also ebenfalls kritisch. Da gibt es eine Gelegenheit, noch einmal über das Ganze nachzudenken; denn nicht jede Ermächtigung muss auch unbedingt umgesetzt werden. Wenn das dann doch gemacht wird, dann sagt mir mein Gefühl, dass das Seefischereigesetz noch weitere Änderungen erfahren wird. Dann wird diese Kompetenzregelung immer wieder diskutiert werden müssen. Ich freue mich schon auf die entsprechenden Erfahrungsberichte darüber, wie ineffektiv diese Kontrolle tatsächlich stattgefunden hat. Wer sich um illegale Fischerei kümmert, der sollte sich nicht auf Nord- und Ostsee kaprizieren, sondern lieber im südostasiatischen Raum suchen. Dort gibt es Schiffe, die über ein Jahr lang nicht nach Hause kommen. Dort gibt es Sklaverei und Menschenhandel. Dort gibt es Trash-Fishing; da wird alles rausgefischt, durch die Wurstmühle gedreht und anschließend als Shrimpsfutter verkauft. Dort liegen die wirklichen Probleme. An diesen Problemen können weder BLE noch Zoll oder Bundespolizei etwas ändern, aber wir sollten intensiv darüber diskutieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Trotzdem bekommen Sie, da die Fischer dringend unsere Unterstützung brauchen und die EMFF-Mittel ausgezahlt werden müssen, unsere Zustimmung. Frau Pahlmann, Ihnen danke ich noch einmal ganz herzlich auch für Ihre Worte gerade. Es war eine konstruktive Diskussion, die wir miteinander geführt haben. Dafür herzlichen Dank! (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Bevor ich gleich dem Kollegen Friedrich Ostendorff für Bündnis 90/Die Grünen das Wort erteile, möchte ich bitten, die ganz unaufschiebbaren Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen, damit wir dem Kollegen zuhören können. – Herr Kollege Ostendorff, jetzt haben Sie das Wort. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute sollen wir die novellierte Fassung des Seefischereigesetzes beschließen. Es regelt die Ausübung der Seefischerei im Hinblick auf den Schutz und die Überwachung unserer Fischbestände und damit den Erhalt der biologischen Meeresschätze. Grundsätzlich verfolgt die europäische Fischereipolitik das Ziel, eine Nutzung lebender aquatischer Ressourcen unter nachhaltigen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Bedingungen zu sichern. Mit dieser Gesetzesänderung werden Regelungen des Seefischereigesetzes an das novellierte EU-Recht angepasst und innerstaatliche Zuständigkeiten geändert, um die seewärtige Fischereiaufsicht auf den Zoll oder die Bundespolizei zu übertragen. Dadurch wird der Zollverwaltung oder der Bundespolizei ganz oder teilweise die Kontrolle der Fischerei auf See jenseits der um 3 Seemeilen seewärts erweiterten Basislinie bis zur Landesgrenze der Bundesrepublik Deutschland übertragen. Sie merken, ich stutze da immer etwas. Als bodengebundener Flachländer ist das für mich sehr fremd, aber wir haben uns da durchgekämpft. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie spüren alle bei diesen wenigen Anmerkungen, was hier an Bürokratievereinfachung gewirkt hat. Das ist sicherlich ein Paradebeispiel von Bürokratievereinfachung der allerfeinsten Art. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wie sich im Ausschuss herausgestellt hat und wie wir heute Abend bei meinem Vorredner gerade wieder erlebt haben, haben Sie, meine Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, uns einen Gesetzentwurf vorgelegt, von dem zumindest die SPD nicht überzeugt ist. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz offenbar! – Johann Saathoff [SPD]: Das ist falsch verstanden!) Wundersame Dinge passieren: Sie legen etwas vor, sind aber dagegen; trotzdem stimmen Sie dafür. Ich frage mich, welcher Wähler oder welche Wählerin diesen Wirrwarr noch nachvollziehen kann. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) Wir haben einen Abstimmungswirrwarr und einen Kompetenz- und Kontrollwirrwarr, die ihresgleichen suchen. Warum soll es eigentlich zwei Zuständigkeiten für ein und dieselbe Sache geben? Warum soll die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung bis zu dieser Basislinie plus 3 Seemeilen seewärts zuständig sein, und dahinter sind dann der Zoll und die Bundespolizei zuständig? Wie das funktioniert, soll man einmal den Bürgern erklären. Ich frage mich, welches Flaggenmeer wir demnächst haben, was die Basislinie ist, ob die bei Ebbe oder Flut gemessen wird und ob wir uns über die Basislinie überhaupt einig werden. Das wird noch sehr interessant. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) Damit die Kontrolle nicht vorher kentern geht, wie Fischer sagen – das heißt auf Deutsch: zusammenbricht –, sollte das Gesetz unbedingt nochmals überarbeitet werden. Wir Grüne hoffen, dass diesem Gesetz in der praktischen Umsetzung nicht der Wind aus den Segeln genommen wird und unsere Fischbestände im Sinne der Empfehlungen des Parlamentarischen Beirates für nachhaltige Entwicklung auch nachhaltig erhalten bleiben. Herr Minister, setzen Sie endlich die Empfehlungen des Internationalen Rates für Meeresforschung für die zukünftigen Generationen um. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) Das heute vorliegende, novellierte Seefischereigesetz wird zum Beispiel den Dorschbeständen in der westlichen Ostsee wenig nutzen – auch das habe ich bei der Arbeit gelernt, nämlich dass es die westliche und die östliche Ostsee gibt –: Der Westdorsch durfte zwei Jahrzehnte lang, von den Kontrollen geduldet, überfischt werden. Im Oktober dieses Jahres hätten Sie, Herr Minister, die Chance gehabt, zur nachhaltigen Fischfangpolitik in der Ostsee zurückzukehren. Aber auch diese Chance haben Sie in den Wind geschrieben. Was die See genommen, gibt sie nie zurück – so sagt ein Fischersprichwort. Statt den Vorgaben des Internationalen Rates zu folgen und eine Kürzung der Westdorschfangquote um 87 Prozent zu unterstützen, haben Sie, Herr Minister Schmidt, sich auf EU-Ebene dafür starkgemacht, die Fangquote in der westlichen Ostsee nur um 56 Prozent und in der östlichen Ostsee um 25 Prozent abzusenken. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie peinlich!) Die EU-Fischereiminister haben leider beschlossen, dass die wissenschaftliche Vorgabe um 63 Prozent überschritten werden darf. All das ist legal. Wer Fischern helfen will, meine Damen und Herren, muss dafür sorgen, dass ihnen auch zukünftig noch etwas ins Netz geht. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Nordseeplan ist momentan in der Erarbeitung. Wir Grüne hoffen, dass Sie die Fehler des Ostseeplanes nicht wiederholen. Sorgen Sie dafür, dass unsere Fischerinnen und Fischer endlich verlässliche Planungsgrundlagen haben und wissen, wie es morgen und übermorgen für sie weitergeht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Kordula Kovac für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich darf alle Kolleginnen und Kollegen, die weiterhin Wichtiges zu besprechen haben, daran erinnern: Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass auch jemand von uns einmal am Ende einer solchen Aussprache kurz vor einer namentlichen Abstimmung das Wort erteilt bekommt. Ich bitte deshalb, entsprechend aufmerksam zu sein. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Kordula Kovac (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren oben auf der Tribüne! Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben eigentlich schon alles gesagt. (Lachen des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Jetzt liegt es an mir, alles zusammenzufassen und auf den Punkt zu bringen. Ich mache es daher kurz: Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf bringen wir im Wesentlichen das deutsche Recht mit dem geltenden Fischereirecht der EU in Einklang und passen es an die Praxis an. Wichtig ist es mir, an dieser Stelle festzuhalten: Die Regelungen gehen nicht über unmittelbar geltendes EU-Recht hinaus. So kontrovers wir hier auch debattieren mögen: Eigentlich ist das Gesetz in weiten Teilen völlig unumstritten. Meine Kollegin Ingrid Pahlmann – ich möchte dir auch von dieser Stelle heute noch einmal zum Geburtstag gratulieren, liebe Ingrid; (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) vielleicht klatschen die Kollegen, die eben geklatscht haben, jetzt noch einmal – (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Noch einmal?) hat es bereits dargestellt. Das Seefischereigesetz dient neben der Regelung der Seefischerei vor allem der Umsetzung von Bestimmungen der Gemeinsamen Fischereipolitik der EU. Mit der GFP wird die Ausübung der Seefischerei im Hinblick auf Schutz der Bestände und Erhalt der biologischen Vielfalt, Überwachung und Strukturpolitik der Fischwirtschaft geregelt. Durch diese länderübergreifende gemeinsame Politik wird gewährleistet, dass Überfischung verhindert bzw. gemindert wird. Der Nachhaltigkeitsgedanke, den Carl von Carlowitz für den Wald formuliert hat, gilt auch für unsere Meere und Gewässer: Es darf der Natur nur so viel entnommen werden, wie auch wieder nachwachsen kann, in diesem Fall: nachkommen kann. Darüber hinaus regelt das Seefischereigesetz auch die Aufgaben und Zuständigkeiten bei der behördlichen Überwachung der Seefischerei; denn selbst die besten Regeln nützen nichts, wenn ihre Einhaltung nicht kontrolliert wird. Genau hierüber streiten wir uns nun heute, nicht um die Kontrolle per se, sondern darüber, wer sie durchführen soll. Meine Damen und Herren, mit dem heute zu beschließenden Gesetz werden, wie bereits von den Kolleginnen und Kollegen gesagt, im Wesentlichen folgende Dinge geregelt: Erstens. Das Verwaltungsgericht Hamburg ist von nun an zuständig für sämtliche Streitigkeiten, die Fangerlaubnisse betreffen. Das ist ein, wie ich finde, gelungenes Beispiel für Kompetenzbündelung. Zweitens. Mit der Ausdehnung auf eine der drei zuletzt erteilten Fangerlaubnisse wird der BLE mehr Zeit eingeräumt, festzustellen, ob eine Fangerlaubnis wegen erheblicher Überschreitung oder Missbrauchs einer früheren Erlaubnis zu versagen ist. Bessere Kontrolle also – sehr schön! Drittens. Ab sofort kann das BMEL die Kompetenz zur Überwachung und Unterstützung der Seefischerei der Zollverwaltung oder der Bundespolizei ganz oder teilweise übertragen. Damit wird die bisherige Kontrollzuständigkeit der BLE auf zwei weitere Behörden ausgeweitet. Jetzt kann man natürlich den Zeigefinger heben. „Kompetenzwirrwarr“ und „Webfehler“ sind ja auch wirklich schöne Worte. Und aus Prinzip dagegen zu sein, ist ein beliebter Sport der Linken und der Grünen, auch von dir, lieber Kollege. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Begründete Worte! Sehr begründet!) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen wir doch bitte die Kirche im Dorf. Es ist ja nicht so, als würden wir hier völlig neues Terrain betreten. Dass sich BMEL, BMI und BMF die Zuständigkeiten bei der Kontrolle der Fischerei teilen, ist absolut nichts Neues. Die Zusammenarbeit zwischen der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, der Bundespolizei und dem Zoll in diesem Bereich ist bereits seit Jahrzehnten gängige Praxis. Letztendlich wird diese Praxis durch das heute zu beschließende Gesetz nur gesetzlich verankert. Dass manche daraus einen Staatsakt machen wollen, halte ich für völlig überzogen. Ja, vielleicht kann man über die Kompetenz von Zoll und Bundespolizei im Hinblick auf das nötige Detailwissen streiten. Ja, es mag mehr Kontrollen insgesamt für die Fischer geben. Aber, meine Damen und Herren, es gibt eben auch Geld; und darum geht es heute letztendlich. Wer jetzt weiterhin seine Befindlichkeiten, bezogen auf die Kompetenzübertragung, hochhalten will, tut dies auf dem Rücken der Fischerinnen und Fischer. Das schnelle Verabschieden des Gesetzes ist geboten, damit die Mittel des Europäischen Meeres- und Fischereifonds EMFF an unsere Fischer ausgezahlt werden können. Der EMFF hilft den Fischern unter anderem bei der Umstellung auf die nachhaltige Fischerei. Und das, liebe Freundinnen und Freunde hier im Plenum, eine nachhaltige Fischerei, ist doch unser aller Ziel. Lassen Sie daher doch bitte bei der Abwägung Augenmaß walten, und stellen Sie sich die Frage, ob Ihre Bedenken gegen diese Kompetenzübertragung es wirklich rechtfertigen, gegen das Gesetz zu stimmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fischerei in Deutschland ist ein traditioneller Bestandteil von Wirtschaft und Kultur, sowohl an der Küste als auch im Binnenland. Helfen Sie mit, dass das auch so bleibt! Stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu! Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Seefischereigesetzes. Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10496, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9466 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Sie, noch an Ihren Plätzen zu bleiben, weil wir jetzt bei der zweiten Lesung sind und es erkennbar sein soll, wer für welche Entscheidung verantwortlich zeichnet. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Jetzt kommen wir zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Nach Artikel 87 Absatz 3 des Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die absolute Mehrheit – das sind derzeit 315 Stimmen – erforderlich. Wir stimmen nun über diesen Gesetzentwurf namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Abstimmungsurnen besetzt? – Ich bitte um Bestätigung durch Handzeichen, ob alle Abstimmungsurnen besetzt sind. – Ja, alles klar. Dann eröffne ich jetzt die Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf. Sind noch Kolleginnen oder Kollegen hier im Saal, die ihre Stimmkarte abgeben möchten, aber das bisher noch nicht geschafft haben? Ich bitte, mir das kundzutun. – Das ist jetzt erkennbar nicht mehr der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.4 Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Wolfgang Gehrcke, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Türkei-Politik neu ausrichten Drucksache 18/10472 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Widerspruch gibt es keinen. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Sevim Dağdelen. (Beifall bei der LINKEN) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Verehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Die letzten Monate haben uns eindringlich gezeigt, dass wir eine radikale Wende in der Türkei-Politik der Bundesregierung brauchen. Es kann nicht sein, dass der türkische Staatspräsident Erdogan immer mehr Leute verhaften, entlassen und, ja, auch foltern lässt. Aber das Einzige, was der Bundesregierung und vor allem Bundeskanzlerin Merkel dazu einfällt, ist es, sich besorgt, ja bestenfalls alarmiert zu zeigen. Dass diese zur Schau gestellte Besorgnis irgendetwas bewirkt, glauben immer weniger Menschen auch in unserem Land. (Beifall bei der LINKEN) In Umfragen wie der von Infratest dimap im August fordern 88 Prozent der Befragten Konsequenzen in der Türkei-Politik angesichts der verheerenden Entwicklungen in der Türkei. (Beifall bei der LINKEN) Wie die Linke wollen diese 88 Prozent kein Weiter-so in der Politik gegenüber der Türkei. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben, wie wir eben auch, kein Verständnis dafür, dass die Bundesregierung außer warmen Worten praktisch nichts unternimmt, um das unterdrückerische islamistische Regime in Ankara zur Freilassung von Akademikern, von Journalisten, von Parteivorsitzenden sowie von mittlerweile über 2 000 inhaftierten Mitgliedern der prokurdischen HDP zu bewegen. Die HDP-Vorsitzenden Demirtas und Yüksekdag sind in akuter, großer Gefahr, auch weil die türkischen Behörden durch die gemeinsame Unterbringung mit Al-Qaida-Mitgliedern im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne auf einen Lynchmord spekulieren. Meine Damen und Herren, unternehmen Sie endlich etwas für die Freilassung von Demirtas und Yüksekdag! (Beifall bei der LINKEN) Jetzt stöhnen Sie schon wieder: Ja, was kann man denn schon machen? Ich möchte Ihnen wirklich einige Ideen hier mitgeben, was man konkret machen kann. Beenden Sie die Waffenlieferungen an die Türkei! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist doch wirklich ein Verbrechen, dass die Türkei im ersten Halbjahr 2016 von Platz 25 auf Platz 8 der Bestimmungsländer deutscher Rüstungsexporte aufgerückt ist, meine Damen und Herren. Frieren Sie die EU-Beitrittsgespräche ein! Und stoppen Sie endlich auch die EU-Beitrittshilfen wie die Vorbeitrittshilfen! (Beifall bei der LINKEN) Ich frage mich auch: Was versprechen Sie sich denn davon, jährlich an eine Diktatur wie die Türkei 630 Millionen Euro an Vorbeitrittshilfen zu bezahlen und damit sozusagen 20 Prozent der aus deutschen Steuergeldern an die EU gezahlten Beiträge an eine Diktatur zu überweisen? Ist es, weil Sie denken, die Türkei sei ein unsinkbarer Flugzeugträger und deshalb brauchten Sie sie? Oder ist es, weil Sie meinen, die Türkei würde uns dann die Flüchtlinge vom Hals halten? Nicht zuletzt fordern wir auch: Stoppen Sie die geplante Erweiterung der Zollunion mit der Türkei! Denn auf der einen Seite zu suggerieren, dass Sie Skepsis bezüglich der EU-Beitrittsgespräche haben, auf der anderen Seite aber durch die Hintertür die Zollunion zu erweitern und damit dieses Regime zu unterstützen, das nenne ich wirklich ein Täuschungsmanöver. Deshalb müssen Sie damit aufhören. (Beifall bei der LINKEN) Es geht aber nicht nur um die Menschen in der Türkei, meine Damen und Herren, es geht auch um die Sicherheit der Menschen hier in Deutschland. Es wird immer deutlicher: Durch Ihre Partnerschaft mit Erdogan haben Sie mit dazu beigetragen, dass sich Mordkommandos der türkischen Geheimdienste hier in Deutschland unbehelligt bewegen können. Presseberichten zufolge tummeln sich über 6 000 Agenten Erdogans hier in Deutschland. Ich finde, das darf so nicht weitergehen. (Beifall bei der LINKEN) Wir als Linke fordern die Ausweisung dieser 6 000 Agenten aus Deutschland. Hören Sie auf, mit Erdogans Diensten zusammenzuarbeiten! Die Bundesregierung steht hier in der Verantwortung, die Menschen in Deutschland vor den Agenten und Schergen des türkischen Geheimdienstes zu schützen. Sorgen Sie endlich für eine Wende in der Türkei-Politik! Wir sind es leid – wie die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland. Es darf kein Weiter-so mit der Türkei geben. Zeigen Sie endlich konkrete Solidarität mit den Verfolgten in der Türkei, indem Sie Ihre Kumpanei mit Erdogan beenden! Jetzt, meine Damen und Herren, ist die Zeit der Worte vorbei. Sie müssen jetzt als Regierung endlich handeln. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU spricht der Kollege Dr. Andreas Nick. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD]) Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sowohl Außenminister Steinmeier als auch Staatsministerin Böhmer, meine Berichterstatterkollegin Michelle Müntefering und ich waren in den letzten Wochen zu Gesprächen in Ankara. Über die durchaus schwierigen Eindrücke und Erfahrungen habe ich vor kurzem hier eingehend berichtet. Das will ich nicht noch einmal wiederholen. Für unsere Politik gegenüber der Türkei gilt: Wir haben eine klare Ausrichtung, orientiert an den grundsätzlichen Werten und langfristigen Interessen unseres Landes, und wir reagieren angemessen auf aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen in der Türkei. Für uns sind die deutsch-türkischen Beziehungen aber auch zu wichtig, um sie als Instrument der innenpolitischen Auseinandersetzung zu missbrauchen – nicht in der Türkei und schon gar nicht hier in Deutschland. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Beides kann man vom vorliegenden Antrag der Linkspartei nicht sagen, und deshalb werden wir ihn selbstverständlich ablehnen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Selbstverständlich!) Zwei unabänderliche Konstanten sind grundlegend für unsere Beziehungen zur Türkei. Die Türkei befindet sich in einer exponierten geostrategischen Lage. Und ob es uns gefällt oder nicht: Kein einziges Problem dieser Region ist ohne oder gar gegen die Türkei leichter zu lösen als mit ihr. Was auch immer sich sonst verändert – die Geografie bleibt. In einer in dieser Woche vorgestellten Umfrage der Körber-Stiftung wurden von den Befragten in Deutschland mit 21 Prozent der Nennungen die Beziehungen zur Türkei auf Rang drei der wichtigsten außenpolitischen Herausforderungen Deutschlands eingestuft, noch vor – durchaus erstaunlich – den Beziehungen zu Russland. Mit kaum einem anderen Land ist Deutschland gesellschaftlich enger verflochten als mit der Türkei. Angesicht von fast 4 Millionen Menschen türkischer Herkunft, die in unserem Land zu Hause sind, ist es eben noch nicht einmal theoretisch eine denkbare Option, sich diesem Land gegenüber in irgendeiner Weise nicht zu verhalten oder sich gar komplett von ihm abzuwenden. Umgekehrt sollten wir aber auch nicht der Versuchung erliegen, unsere Möglichkeiten zur Einwirkung auf die türkische Innenpolitik zu überschätzen. Die Versuchung für einige auch in diesem Hause ist offenbar gelegentlich groß, innenpolitische Auseinandersetzungen der Türkei hier austragen zu wollen. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: So ein Unsinn!) Aber ich sage deutlich: Der Deutsche Bundestag ist dafür nicht der geeignete Platz, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Hören Sie einmal auf, wie die Leute von Erdogan zu reden!) im Übrigen auch nicht die Straßen und Plätze in Deutschland. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist rassistisch von Ihnen auch noch!) – Hallo! (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wenn jemand anderes sprechen würde, würden Sie das nicht als eine innenpolitische Angelegenheit der Türkei bezeichnen! Zum Beispiel mein Kollege Birkwald! – Zurufe von der CDU/CSU und von der SPD) – Haben Sie jetzt eigentlich das Wort, Frau Dağdelen? Oder wie sieht das aus, Herr Präsident? Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege, Sie haben das Wort. Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): Danke. Vizepräsident Johannes Singhammer: Und das bleibt auch bei Ihnen. Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): Im Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union ist eines aber völlig klar: (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wenn mein Kollege zur Türkei spricht, macht hier keiner diesen Vorwurf! Wenn ich dazu spreche, kommt immer dieser dumme Vorwurf! – Gegenruf des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]: Hören Sie doch einmal zu!) – Wer schreit, hat unrecht, Frau Dağdelen! – Grundlage für den Beitrittsprozess sind die Kopenhagener Kriterien. Ich zitiere: Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben … An diesen Kriterien muss sich auch die Türkei messen lassen. Dabei gibt es keinen Rabatt und keine Kompromisse. Leider führt derzeit kein Weg an der Feststellung vorbei, dass die Türkei davon heute weiter entfernt ist als zu jedem anderen Zeitpunkt seit Beginn des Beitrittsprozesses. Es war eben nicht unproblematisch, die Beziehungen zur Türkei alleine auf die Fragen des Beitrittsprozesses und der Vollmitgliedschaft zu reduzieren, wie dies die rot-grüne Bundesregierung seinerzeit getan hat, und alternative Modelle wie das Konzept und der Begriff der Privilegierten Partnerschaft von vornherein in Misskredit zu bringen. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Nick, das glauben Sie doch selbst nicht! – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Adenauer 1963!) Als Union müssen wir unsere Position in dieser Frage jedenfalls nicht korrigieren. Der beschränkte Blick auf das nicht absehbare Ende eines ergebnisoffenen Prozesses in 10, 15 oder 20 Jahren hat auf beiden Seiten lange Zeit zu sehr den Blick darauf verstellt, das zum jeweiligen Zeitpunkt Mögliche und Notwendige zur Verbesserung der Zusammenarbeit umzusetzen. Es wäre aber umgekehrt heute ebenso ein Fehler, gerade jetzt den Dialog mit der Türkei unsererseits abzubrechen. Diesen Gefallen sollten wir denen in der Türkei gerade nicht tun, die sich von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und von der Perspektive einer nach Westen orientierten Türkei abwenden wollen. Die Entscheidung über den weiteren Weg aber muss die Türkei selbst treffen. Es ist doch gerade die türkische Zivilgesellschaft, die uns eindringlich auffordert, die Tür für eine möglichst enge Anbindung an Europa nicht zuzuschlagen. Und wir haben ein vitales Interesse an einer prosperierenden Türkei mit einer stabilen Demokratie und einer lebendigen Zivilgesellschaft. Dies entspricht nicht nur unseren strategischen Interessen, sondern ebenso den grundlegenden Werten, denen deutsche Außenpolitik verpflichtet ist und bleibt. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Bevor ich gleich dem Kollegen Sarrazin das Wort erteile, gebe ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes bekannt: abgegebene Stimmen 529. Mit Ja haben gestimmt 434, Neinstimmen gab es keine, Enthaltungen 95. Der Gesetzentwurf hat damit die erforderliche Mehrheit erreicht. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 529; davon ja: 434 nein: 0 enthalten: 95 Ja CDU/CSU Stephan Albani Katrin Albsteiger Artur Auernhammer Thomas Bareiß Günter Baumann Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Sybille Benning Dr. André Berghegger Dr. Christoph Bergner Ute Bertram Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Michael Donth Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Iris Eberl Jutta Eckenbach Hermann Färber Uwe Feiler Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Thorsten Frei Dr. Astrid Freudenstein Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Cemile Giousouf Josef Göppel Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Dr. Herlind Gundelach Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Rainer Hajek Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Stefan Heck Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Uda Heller Jörg Hellmuth Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Dr. Heribert Hirte Christian Hirte Robert Hochbaum Alexander Hoffmann Thorsten Hoffmann (Dortmund) Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Dr. Hendrik Hoppenstedt Margaret Horb Bettina Hornhues Charles M. Huber Anette Hübinger Hubert Hüppe Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Sylvia Jörrißen Dr. Franz Josef Jung Xaver Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kanitz Alois Karl Anja Karliczek Bernhard Kaster Volker Kauder Ronja Kemmer Roderich Kiesewetter Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Hartmut Koschyk Kordula Kovac Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Roy Kühne Uwe Lagosky Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Barbara Lanzinger Dr. Silke Launert Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Philipp Lengsfeld Dr. Andreas Lenz Dr. Ursula von der Leyen Antje Lezius Ingbert Liebing Matthias Lietz Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Karin Maag Yvonne Magwas Thomas Mahlberg Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Stephan Mayer (Altötting) Reiner Meier Dr. Michael Meister Jan Metzler Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Marlene Mortler Volker Mosblech Elisabeth Motschmann Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Dr. Andreas Nick Michaela Noll Helmut Nowak Dr. Georg Nüßlein Julia Obermeier Wilfried Oellers Florian Oßner Dr. Tim Ostermann Ingrid Pahlmann Martin Patzelt Dr. Martin Pätzold Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Dr. Heinz Riesenhuber Iris Ripsam Johannes Röring Kathrin Rösel Dr. Norbert Röttgen Erwin Rüddel Albert Rupprecht Anita Schäfer (Saalstadt) Karl Schiewerling Jana Schimke Norbert Schindler Tankred Schipanski Christian Schmidt (Fürth) Gabriele Schmidt (Ühlingen) Patrick Schnieder Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Ole Schröder Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Christina Schwarzer Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Tino Sorge Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Peter Stein Sebastian Steineke Johannes Steiniger Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Rita Stockhofe Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Stritzl Michael Stübgen Dr. Sabine Sütterlin-Waack Antje Tillmann Astrid Timmermann-Fechter Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Oswin Veith Thomas Viesehon Michael Vietz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sven Volmering Christel Voßbeck-Kayser Kees de Vries Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Karl-Heinz Wange Nina Warken Dr. h. c. Albert Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Marian Wendt Waldemar Westermayer Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Barbara Woltmann Tobias Zech Heinrich Zertik Dr. Matthias Zimmer Gudrun Zollner SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Heike Baehrens Ulrike Bahr Bettina Bähr-Losse Dr. Katarina Barley Doris Barnett Klaus Barthel Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Bärbel Bas Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Burkhard Blienert Willi Brase Dr. Karl-Heinz Brunner Dr. h. c. Edelgard Bulmahn Dr. Lars Castellucci Jürgen Coße Petra Crone Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Sabine Dittmar Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Siegmund Ehrmann Michaela Engelmeier Dr. h. c. Gernot Erler Saskia Esken Karin Evers-Meyer Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Dr. Ute Finckh-Krämer Christian Flisek Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Angelika Glöckner Kerstin Griese Gabriele Groneberg Michael Groß Uli Grötsch Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Ulrich Hampel Sebastian Hartmann Michael Hartmann (Wackernheim) Dirk Heidenblut Hubertus Heil (Peine) Wolfgang Hellmich Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Thomas Hitschler Matthias Ilgen Christina Jantz-Herrmann Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Ulrich Kelber Marina Kermer Cansel Kiziltepe Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Birgit Kömpel Anette Kramme Dr. Hans-Ulrich Krüger Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Hiltrud Lotze Dr. Birgit Malecha-Nissen Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Bettina Müller Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Ulli Nissen Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Christian Petry Jeannine Pflugradt Sabine Poschmann Joachim Poß Florian Post Achim Post (Minden) Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Dr. Simone Raatz Martin Rabanus Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Andreas Rimkus Petra Rode-Bosse Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Susann Rüthrich Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Annette Sawade Dr. Hans-Joachim Schabedoth Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Dorothee Schlegel Ulla Schmidt (Aachen) Matthias Schmidt (Berlin) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Ursula Schulte Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Norbert Spinrath Svenja Stadler Martina Stamm-Fibich Christoph Strässer Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Dr. Karin Thissen Carsten Träger Rüdiger Veit Ute Vogt Dirk Vöpel Gabi Weber Bernd Westphal Andrea Wicklein Dirk Wiese Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Gülistan Yüksel Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann Manfred Zöllmer Enthalten DIE LINKE Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Dr. André Hahn Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Andrej Hunko Sigrid Hupach Ulla Jelpke Kerstin Kassner Jan Korte Jutta Krellmann Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Birgit Menz Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Petra Pau Harald Petzold (Havelland) Richard Pitterle Martina Renner Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Frank Tempel Dr. Axel Troost Kathrin Vogler Harald Weinberg Katrin Werner Birgit Wöllert Jörn Wunderlich Hubertus Zdebel Sabine Zimmermann (Zwickau) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Annalena Baerbock Dr. Franziska Brantner Agnieszka Brugger Ekin Deligöz Katharina Dröge Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Matthias Gastel Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bärbel Höhn Dieter Janecek Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Stephan Kühn (Dresden) Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Peter Meiwald Irene Mihalic Beate Müller-Gemmeke Özcan Mutlu Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Corinna Rüffer Manuel Sarrazin Ulle Schauws Dr. Gerhard Schick Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Dr. Julia Verlinden Doris Wagner Beate Walter-Rosenheimer Dr. Valerie Wilms Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Jetzt, Herr Kollege Manuel Sarrazin, haben Sie das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Nick, Sie haben jetzt schon eine Vorlage gegeben: (Michael Brand [CDU/CSU]: Vorsicht!) Wenn Rot-Grün daran schuld ist, dass Herr Erdogan ein Präsidialsystem errichten möchte, weil wir damals zu lieb waren, dann kann man sich fragen, warum Sie den größten Teil Ihrer Rede in ausgezeichneter Diplomatie gegenüber der türkischen Regierung bestritten haben. Tragen nicht vielmehr Sie zu dem bei, was Sie beklagen? Oder muss man sich nicht vielleicht sogar die Frage stellen, ob nicht der Koalitionsvertrag, den Sie geschlossen haben und der wortwörtlich die Schlussfolgerung des Rats von 2005 zu Fragen der Mitgliedschaft der Türkei in der EU enthält, schuld daran ist, dass Herr Erdogan ein Präsidialsystem errichten möchte? Da hinterfragen Sie Ihre Ausführungen doch einmal. Das ist doch Geschichtsklitterung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Wenn ich einmal meine Meinung zur Geschichte sagen darf: Hätten wir die Zeit des proeuropäischen Enthusiasmus in den türkisch-europäischen Beziehungen genutzt, um hinter dem Rücken der türkischen Politiker mit Druck aus der türkischen Zivilgesellschaft mehr Reformen zustande zu bringen, dann wäre es für Erdogan jetzt vielleicht schwieriger, das gesamte rechtsstaatliche System umzukrempeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Aber das ist ja egal; denn das, was wir in der Türkei erleben, ist ein Machtkampf, der auf das Schärfste geführt wird. (Florian Hahn [CDU/CSU]: Das ist reichlich romantisch!) Ich denke, dass man klar sagen kann, dass Herr Erdogan offenkundig noch nicht überzeugt ist, diesen Machtkampf absolut gewonnen zu haben. Selbst wenn Herr Erdogan jetzt den Gesetzentwurf ins Parlament einbringt und wenn dieser Gesetzentwurf verabschiedet wird, ist auch ihm klar, dass die Türkei keine so monolithische Gesellschaft ist, dass es keine Opposition gibt und man einfach durchregieren kann. Deswegen schlägt dieses System um sich. Und in der Folge des Putschversuchs wird nicht nur gegen die als Putschisten vermuteten Kräfte, sondern gegen alle ihm Probleme machenden Kräfte sehr rabiat vorgegangen. Ich denke in der Tat, es ist richtig – das sollten alle Fraktionen in diesem Haus unterschreiben –, dass wir diese klare Analyse vor dem Hintergrund der aktuellen Lage nicht in den Schatten stellen. Das erwarte ich auch von der Bundesregierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gabriele Groneberg [SPD]) Gleichzeitig muss ich sagen, was mich leitet. Wir hatten vor einigen Wochen Can Dündar zu Gast in unserer Fraktionssitzung. Das ist sehr eindrucksvoll gewesen. Er hat uns dazu aufgefordert, die Menschen, die in der Türkei für ihre demokratischen Rechte kämpfen, nicht im Stich zu lassen. (Michael Brand [CDU/CSU]: Absolut richtig!) Wenn man sich daran ausrichtet, dann zeigt sich doch, dass es wahrscheinlich der falsche Weg ist, wenn wir der Türkei den Rücken zukehren, wenn wir sozusagen den Stecker herausziehen, (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) was die Chancen für einen EU-Beitritt der Türkei angeht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der falsche Weg ist dann auch, die Vorbeitrittshilfen einfach komplett zu streichen. (Michael Brand [CDU/CSU]: Wer hat das denn gefordert? – Gegenruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist Ihre Politik seit Jahren! Seit Jahren sagen Sie das!) Dies schadet vor allem denen, die überhaupt noch demokratische Kräfte in der Türkei finanzieren können. Viel cleverer wäre es vielmehr, dieses Geld gezielt einzusetzen, indem wir sagen: „An der Stelle zahlen wir nicht mehr; an der anderen Stelle zahlen wir weiterhin“, um so einzelne Fortschritte oder die Verhinderung von Rückschritten in der Türkei über die Verwebungen, die es zwischen der Türkei und der Europäischen Union noch gibt, zu erreichen. (Zurufe der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE] und Heike Hänsel [DIE LINKE]) Das, was ich bei der Linkspartei an dieser Stelle nicht verstehe, ist Folgendes: Ich saß vor einigen Wochen mit dem Kollegen Neu, der im Moment als Schriftführer links hinter mir sitzt, auf einem Podium zum Thema „Putin ist super“. Die deutsche Wirtschaft und Herr Neu waren der Meinung, dass Putin ganz klasse ist; eingeladen hatte Herr Clement. (Florian Hahn [CDU/CSU]: Zu welchen Veranstaltungen geht ihr?) Mit ihm habt ihr jetzt ja nichts mehr zu tun; daher kann ich es hier ja sagen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr richtig!) Herr Neu hat also die deutsche Wirtschaft dazu aufgerufen, nach Russland zu gehen und dort zu investieren; denn nur das könne die Demokratie in Russland voranbringen. (Michael Brand [CDU/CSU]: Jetzt ist er umgefallen!) Jetzt behauptet die Linksfraktion hier, die Türkei werde zu einer Diktatur, und beantragt deswegen, sofort die Zollunion mit der Türkei zu beenden, weil man die wirtschaftlichen Beziehungen mit ihr beenden müsse. Entscheidet euch doch einmal: Wollt ihr jetzt Wandel durch Handel, oder wollt ihr, dass wir mit der Türkei wirtschaftlich nichts mehr zu tun haben? Beides geht ja nun wirklich nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist eine Strategie: Der Herr Neu kann sich jetzt nicht wehren! – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Komm mal zum Thema, Manuel! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Äpfel mit Äpfeln und Birnen mit Birnen vergleichen!) Wir haben vorhin die Meldung vernommen, dass Herr Akinci und Herr Anastasiades gerade beim Mittagessen zusammensitzen. Ich hoffe, dass wir mit Blick auf die aktuellen Beziehungen zur Türkei auch immer daran denken, dass wir vielleicht noch in diesem oder im nächsten Jahr eine Einigung in der Zypern-Frage erreichen können. Ich hoffe, uns in diesem Hohen Hause trägt die gemeinsame Auffassung, dass wir uns aus Fragen der Türkei-Politik nicht einfach heraushalten, dass wir nicht einfach schweigen angesichts dortiger Entwicklungen, die wir mit großer Besorgnis sehen, und dass wir gerade gegenüber den progressiven Kräften in der Türkei klarmachen, dass wir keine Isolation wollen. Deswegen: Nicht trotz, sondern gerade wegen der Entwicklungen in der Türkei ist der Dialog zwischen der EU und der Türkei weiter notwendig. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das sagen Sie schon seit Jahren!) Es ist richtig: Im Moment liegen die Beziehungen bzw. die Verhandlungen faktisch auf Eis. Die braucht man gar nicht mehr einzufrieren. Aber von sich aus jetzt den Stecker zu ziehen und die Verhandlungen abzubrechen, halte ich für falsch. Danke sehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Einen schönen Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen, und vielen Dank, Manuel Sarrazin. – Nächste Rednerin ist Dr. Dorothee Schlegel für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Dorothee Schlegel (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Türkei-Politik der EU steckt tatsächlich in einem Dilemma. Alles besser zu wissen, so wie es die Linke mit ihrem Antrag „Türkei-Politik neu ausrichten“ vorgibt, ist für die Opposition leicht und vielleicht auch ihre Aufgabe. Wir kennen unser Ziel – mein Kollege Sarrazin hat gerade schon einiges vorgelegt –: Wir wollen eine europäische Bindung der Türkei. Wir wollen eine friedliche Türkei, in der Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit herrschen. Da sind wir uns hier bestimmt alle einig. Ich verwahre mich gegen den Vorwurf der Linken, dass die bisherige Strategie der Bundesregierung und der EU zu einer Verschlechterung der Menschenrechtslage in der Türkei geführt habe. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ist sie schlechter geworden oder nicht?) Liebe Linke, Provokation ist keine gute Außenpolitik. Das sehen auch Delegationen von türkischen Studierenden, oppositionelle Parlamentarier und NGO-Vertreter so, mit denen ich in den letzten Wochen Gespräche geführt habe. Aber wir müssen uns ehrlich fragen: Welche wirksamen Mittel haben wir tatsächlich? Angesichts der Verfolgung und Inhaftierung von politisch Andersdenkenden und der Massenentlassungen durch die türkische Regierung befürworte ich die Entscheidung des EU-Parlaments, die Beitrittsgespräche temporär einzufrieren – als Signal an die türkische Regierung und das türkische Parlament, zum demokratischen Prozess zurückzukehren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unsere Normen und Werte sind nämlich nicht verhandelbar. Wir akzeptieren weder Menschenrechts- noch Rechtsstaatsverletzungen. (Gabriele Groneberg [SPD]: So ist es!) Die Türkei entfernt sich von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Laizismus, und die Gesellschaft lebt in einem angespannten Zustand. Seit dem Putsch hat auch die Gewalt gegenüber Frauen drastisch zugenommen. Das Vorgehen gegen Minderheiten, gegen die kurdische Bevölkerung und gegen Andersdenkende sowie das Infragestellen von Ländergrenzen verurteilen wir aufs Schärfste. Die Türkei ist kein sicherer Herkunftsstaat. Diese Einschätzung des EU-Unterstützungsbüros für Asylfragen der EU-Kommission teile ich. Meine Damen und Herren, die letzten zwei Fortschrittsberichte der EU-Kommission zur Bewertung der Beitrittsgespräche waren sehr kritisch. Dennoch wollen wir als SPD-Fraktion und als Europäer den Dialog fortsetzen. Ich bin gegen einen grundsätzlichen Verhandlungsstopp. Der würde vor allem die gemäßigten Kräfte in der Türkei hart treffen. Ich zitiere hierzu die Sprecherin der größten Oppositionspartei, CHP, Selin Sayek Böke, die sagte: Europa sollte verstehen, dass die Türkei mehr als ein Einzelner ist. Die Türkei ist größer als Erdogan. Beitrittskapitel zu öffnen oder Verhandlungen zu den bisherigen Kapiteln weiterzuführen, waren und sind die Möglichkeit, miteinander im Dialog zu bleiben – mit den richtigen Gesprächspartnern und einer echten Gesprächsbereitschaft. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Die sind doch alle im Knast!) Ich denke, es gibt auch Leute, mit denen man vernünftig sprechen kann. (Beifall bei der SPD) Natürlich sind die Verhandlungen – ohne Wenn und Aber – sofort zu beenden, sollte die Türkei die Todesstrafe wieder einführen. Welche Möglichkeiten haben wir? Auch kleine Schritte setzen Zeichen, zum Beispiel das Projekt der Philipp-Schwartz-Initiative, das weiter finanziell unterfüttert wird. Mit diesem vom Auswärtigen Amt und von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung geförderten Programm erhalten gefährdete Wissenschaftler ein Stipendium für 24 Monate an deutschen Universitäten. Oder: 104 Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag, darunter auch ich, haben Patenschaften für inhaftierte Abgeordnete übernommen. Oder: Was die Bundeswehrsoldaten am NATO-Stützpunkt Incirlik angeht: Alle Abgeordneten müssen das Recht haben, sich vor Ort ein Bild zu machen. Derzeit prüft die Bundesregierung alternative Standorte wie etwa Kuwait. Die Linke fordert ein Einfrieren der Vorbeitrittshilfen, die auch für die Förderschwerpunkte Demokratie, Zivilgesellschaft und Rechtsstaatlichkeit vorgesehen sind. Doch um sie zu stoppen, müsste zunächst der Beitrittsprozess beendet werden. Davon sind wir weit entfernt. Trotz der aktuell belasteten Beziehungen gibt es von türkischer Seite ein intensives Bemühen, mit der EU zu sprechen. Nach wie vor ist die EU der größte Handelspartner der Türkei. Wirtschaftssanktionen würden auch die Bevölkerung und die Gegner des Regierungskurses treffen. Einen Handelskrieg wollen wir daher nicht. Kolleginnen und Kollegen, wie also weiter in der Zukunft? Wir müssen mit einer europäischen Stimme sprechen – und das viel deutlicher. Das ist allerdings nicht einfach. Wir müssen noch klarer sagen: „Terrorismus definieren wir anders!“, auch im Hinblick auf die Erfüllung der Kriterien zur Visaliberalisierung. Wir fordern: Der Ausnahmezustand muss beendet werden. Wir fordern weiterhin die Freilassung der inhaftierten HDP-Politiker und -Bürgermeister. Wir müssen alle unsere Wege nutzen, die Opposition im Land stärker zusammenzubringen, und wieder mehr mit der kurdischen Bevölkerung in Kontakt treten. Völkerverständigende Möglichkeiten sind zum Beispiel weitere Städtepartnerschaften, die Zusammenarbeit unter NGOs und die Pflege türkisch-deutscher oder europäischer Nachbar- und Freundschaften. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerade in schwierigen Zeiten – Manuel Sarrazin hat es auch gesagt – braucht es mehr denn je den Dialog. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dorothee Schlegel. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Neu. – Ich muss erklären: Diese bezieht sich nicht auf den Redebeitrag von Frau Schlegel, sondern auf den von Herrn Sarrazin. (Michael Brand [CDU/CSU]: Zu spät!) Herr Dr. Neu konnte das als Schriftführer vorhin schlecht von hier oben vom Präsidium aus machen; das schickt sich nicht. Deswegen sind Sie sicher damit einverstanden, dass wir jetzt gedanklich zurückgehen und er sich jetzt auf den Kollegen Sarrazin bezieht. Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): Vielen Dank, dass Sie mir die Möglichkeit geben, zu reagieren. – Kollege Sarrazin, es muss Sie ja schwer getroffen haben, dass Sie an diesem Tag mit Ihren kruden antirussischen Thesen derart baden gegangen sind, wie Sie baden gegangen sind. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die dortigen Wirtschaftsvertreter haben in der Tat für eine wirtschaftliche Kooperation mit Russland geworben. Dafür habe ich mein Verständnis geäußert – im Gegensatz zu Ihnen, der Sie nach wie vor eine sehr stark antirussische Position vertreten. Es ist traurig, dass die Menschen in diesem Land, seien sie aus Wirtschaft oder Politik, die eine Verständigung mit Russland, dem größten europäischen Nachbarstaat, suchen, als prorussisch diffamiert werden. Das zeigt aber, wo Sie angekommen sind. Danke. (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Jetzt hat der Kollege Sarrazin seinerseits das Wort, wenn er will. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber Herr Neu, als ich die Beteiligung an dieser Veranstaltung zugesagt habe, wusste ich, dass ich mit meiner inhaltlichen Position zur Politik Russlands in der Ukraine keinen großen Anklang finden würde, weil die anwesenden Wirtschaftsvertreter dort vor allem auf die Profite ihrer Großkonzerne gucken (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Das ist Kapitalismus!) und nicht so sehr auf das, was die Menschen in der Ukraine und in Russland wirklich interessiert. Deswegen habe ich mich an der Stelle für eine linke Position entschieden. Ein, zwei Leute haben mir trotzdem applaudiert. Ich glaube, deswegen, weil ich ein Freund Russlands bin: Ja ljublju Rossiju, Kollege Neu. Danke sehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Jetzt kommen wir zum Thema Türkei zurück. Der nächste Redner ist Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wir fordern keine Wirtschaftssanktionen! – Weitere Zurufe von der LINKEN) – Überwiegend hat jetzt der Kollege Radwan das Wort. Sind Sie damit einverstanden? – Gut. Alexander Radwan (CDU/CSU): Gleich fangen sie an, sich zu raufen. (Heiterkeit bei der SPD – Zuruf von der SPD: Wir doch nicht! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie Angst, mitzumachen?) – Sie haben Angst, wenn ich mitmache. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Frau Präsidentin! Wir haben jetzt eine Debatte zum Thema Türkei mit der Überschrift „Ändern Sie die Zustände in der Türkei, und zwar sofort und unmittelbar“. So kommen mir Ihr Antrag und Ihre Argumentation vor. Ich finde es sehr bemerkenswert, wenn ich aus den verschiedenen Fraktionen die Wortbeiträge zum Thema Türkei erlebe. Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, in denen wir von der CSU kritisiert wurden, weil wir mit Blick auf die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei immer gesagt haben: Vorsicht! Ist das der richtige Weg? (Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) – Genau. Wenn die Türkei heute unter diesen Umständen dabei wäre, dann wäre es sicherlich einfacher innerhalb der EU und mit der Türkei. Das ist ein interessanter Ansatz. Erst mit Enthusiasmus rein und jetzt mit Enthusiasmus verdammen: Das ist nicht die Politik, die uns bezogen auf die Türkei weiterhilft. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Lesen Sie doch den Antrag!) – Habe ich. Ich habe ihn sogar mehrfach gelesen. Ich habe Ihrer Argumentation aber nur schwer folgen können. Ziel muss es sein, dass wir – hier haben wir Konsens – unsere Werte gegenüber der Türkei deutlich machen. Wir können in der Türkei keine Innenpolitik machen. Umgekehrt probiert es Erdogan in Deutschland; Erdogan versucht, hier Innenpolitik zu machen. Gleichzeitig wollen wir auch bei all dem, was wir dort erreichen wollen, keine weitere Destabilisierung. Wir müssen auch darüber nachdenken, in welche Richtung sich die Türkei weiterentwickelt. Darum lassen Sie mich drei Punkte aus Ihrem Antrag herausgreifen. (Zuruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]) Was das Thema Beitritt anbelangt, kann ich Ihnen klipp und klar sagen: Aus meiner Sicht war es schon lange notwendig, dass wir zum Realismus übergehen, dass wir ganz klar die Frage stellen – das betrifft ein Land wie die Türkei, aber auch andere Länder –: Ist eine Beitrittsperspektive wirklich real und ehrlich? Oder sind wir heute möglicherweise an einem Punkt angelangt, wo wir in unserem Land und in der Türkei noch über das Ja oder Nein diskutieren, obwohl jeder weiß, dass es eigentlich nicht erreichbar ist? Darum lassen Sie uns endlich einmal gemeinsam debattieren und – in den europäischen Verträgen ist dies angelegt – über eine konstruktive Nachbarschaftspolitik reden. Das wäre möglicherweise ein Modell für die Türkei, das es zu entwickeln gilt und mit dem es dann eine Perspektive für das Land gibt. Jeder weiß im Zusammenhang mit der Frage „Beitritt – ja oder nein?“: Das, was wir hier debattieren, ist nicht mehr das Thema. Wir regen uns hier über Sachen auf, bei denen jeder weiß: Der Kas is bissn. Das zweite Thema ist das Flüchtlingsabkommen. Das Flüchtlingsabkommen ist auch im ureigenen Interesse der Türkei. Dass die Türkei mit Unterstützung der Europäischen Union nicht durch weitere Flüchtlingsströme destabilisiert wird, ist in unserem Interesse. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist Merkels Interesse!) – Nein, das ist im Interesse der Türkei, und das ist auch in unserem Interesse, vielleicht nicht in Ihrem Interesse. Es ist aber im Interesse der Regierung, die Destabilisierung der Türkei nicht weiter vorantreiben zu lassen. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Seit wann sind Waffenlieferungen ein Beitrag für die Stabilität?) – Jetzt bin ich gerade beim Flüchtlingsabkommen, Frau Dağdelen, dazu haben Sie auch etwas in Ihrem Antrag geschrieben. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ja!) Hätten Sie weniger geschrieben, wäre ich auf den einen oder anderen Punkt schneller gekommen. Es ist also im Interesse der Türkei. Gleichzeitig müssen wir aber auch in Deutschland ganz klar das Signal an Erdogan senden – hier müssen wir unsere Hausaufgaben in Europa machen –, dass schlicht und ergreifend die Außengrenzen der Europäischen Union zur Türkei durch Frontex geschützt werden. Das ist eine weitere zusätzliche Maßnahme, die wir hier ergreifen müssen. Am meisten hat mich dann das Thema „Zoll und Wirtschaft“ gewundert. Die Gruppierungen, die Sie in der Türkei ansprechen, die noch ein Stück weit eine westliche Orientierung haben und die noch durch Handel eine Perspektive haben, wollen Sie sozusagen an die Kandare nehmen. Was passiert dann in dem Land, das wirtschaftlich so eng mit Europa verwoben ist? Wollen wir dann durch ein Kappen der Wirtschaftsbeziehungen, durch ein Absinken der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in diesem Land weitere Instabilität, weitere Radikalisierung produzieren? Sollen die Ärmsten der Armen ein schlechtes Leben haben und dann noch dem jeweiligen Rattenfänger zum Opfer fallen? Nein, hier, im wirtschaftlichen Bereich, muss Europa, müssen wir als Europäische Union verantwortungsvoll weiter zusammenarbeiten. Meine Vorrednerin Frau Dr. Schlegel hat den Satz zitiert: „Die Türkei ist größer als Erdogan.“ Das ist völlig richtig. Neben dem Umgang mit Erdogan gibt es andere Themen; wir müssen bereits heute eine Politik anlegen, die der Türkei eine Perspektive für die Zeit nach Erdogan bietet. Das ist heute unsere Aufgabe. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab; denn Ihr Antrag würde die Situation in der Türkei nur noch verschlimmern, anstatt sie zu verbessern. Besten Dank und einen schönen Abend. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Alexander Radwan. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/10472 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind sicher damit einverstanden. – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen Verordnung zur Förderung der Transparenz auf dem Telekommunikationsmarkt (TK-Transparenzverordnung – TKTransparenzV) Drucksachen 18/8804, 18/8934 Nr. 2, 18/10508 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ihr Einverständnis ist vorhanden.5 Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu der Verordnung der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen zur Förderung der Transparenz auf dem Telekommunikationsmarkt. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10508, der Verordnung auf Drucksache 18/8804 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist knapp angenommen. Zugestimmt hat die CDU/CSU, dagegen waren die Grünen. Die Linken wussten nicht, worum es geht, und die SPD hat sich mit etwas anderem beschäftigt. (Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Brand [CDU/CSU]: Genau so habe ich es auch gesehen!) Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10525. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen, dagegen CDU/CSU und SPD, und enthalten hat sich die Linke. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland voranbringen Drucksachen 18/6341, 18/10296 b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches Drucksache 18/8621 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/10509 Auch hier gehen die Reden zu Protokoll. 6 Tagesordnungspunkt 16 a. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland voranbringen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10296, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6341 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Tagesordnungspunkt 16 b. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10509, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/8621 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Die Grünen haben sich enthalten, und die Linken waren dagegen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren die Linken, und Enthaltungen kommen von Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf: a)   – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen Drucksachen 18/9536, 18/9956, 18/10102 Nr. 17 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Drucksache 18/10506 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10507 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit Transparenz Steuervermeidung multinationaler Unternehmen eindämmen – Country-by-Country-Reporting einführen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steuerschlupflöcher schließen – Gewinnverlagerung durch Lizenzzahlungen einschränken Drucksachen 18/2617, 18/9043, 18/10506 Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.7 Tagesordnungspunkt 17 a. Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10506, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/9536 und 18/9956 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10527 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat Bündnis 90/Die Grünen, dagegen waren CDU/CSU und SPD, und enthalten hat sich die Linke. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, enthalten haben sich Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt hat niemand, enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Tagesordnungspunkt 17 b. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 18/10506 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2617 mit dem Titel „Mit Transparenz Steuervermeidung multinationaler Unternehmen eindämmen – Country-by-Country-Reporting einführen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linken. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/9043 mit dem Titel „Steuerschlupflöcher schließen – Gewinnverlagerung durch Lizenzzahlungen einschränken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. CDU/CSU und SPD haben dafür gestimmt, dagegen waren Bündnis 90/Die Grünen, und enthalten hat sich die Linke. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusiver Hochschulen fördern Drucksache 18/9127 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Reden gehen zu Protokoll.8 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/9127 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zur Vergabe von Wegenutzungsrechten zur leitungsgebundenen Energieversorgung Drucksache 18/8184 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) Drucksache 18/10503 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.9 Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10503, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/8184 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt haben Linke und Grüne. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch Drucksache 18/10211 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Drucksache 18/10518 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre einiges, aber keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Anette Kramme für die Bundesregierung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Anette Kramme, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Dass Menschen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu uns kommen und hier arbeiten können, das ist eine große und wichtige Errungenschaft der europäischen Einigung. Europa ist Gott sei Dank mehr als eine Freihandelszone. Nicht nur für Kapital und Handel gilt Freizügigkeit, auch die Bürger der Europäischen Union können sich in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union frei bewegen. Meine Damen und Herren, es besteht nach europäischem Recht ein Zusammenhang zwischen dem Freizügigkeitsrecht von Erwerbstätigen und ihren Familienangehörigen einerseits und Ansprüchen auf Sozialleistungen andererseits. Diesem Willen des europäischen Gesetzgebers folgt die gesetzliche Klarstellung, die wir hier und heute beraten. Deutschland profitiert von der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das tun auch die anderen Staaten der Europäischen Union, vor allen Dingen aber die Menschen innerhalb von Europa; das will ich ausdrücklich festhalten. Aber es kann natürlich niemand die Augen davor verschließen, dass es große Unterschiede innerhalb der Europäischen Union gibt, was Lebensstandard, was Löhne und was Sozialleistungen angeht. Und ja, es gibt Armut innerhalb der Europäischen Union. Armutsmigration nimmt nicht nur insgesamt auf der Welt zu, auch in Europa wächst der Druck. Doch – das will ich hier noch einmal bekräftigen – Anreize für Arbeitsmigration sind an dieser Stelle keine Lösung. Armut bekämpfen – das können wir nur gemeinsam in der Europäischen Union. Dabei sollte es unser Ziel sein, dass die jeweiligen Systeme der sozialen Sicherung in den Mitgliedstaaten leistungsfähiger werden. (Beifall bei der SPD) Wir brauchen eine Aufwärtskonvergenz der sozialen Verhältnisse in der Europäischen Union mit höheren Löhnen und besserem sozialen Schutz in allen EU-Mitgliedstaaten. (Beifall bei der SPD) Es geht nicht, dass wir die Abhängigkeit der Sozialleistungsansprüche von Erwerbstätigkeit einfach auflösen. Es geht auch nicht, dass wir diesen Personen Ansprüche nach dem Sozialgesetzbuch XII zulasten der Kommunen gewähren. Genau das ist aber die Konsequenz der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes vom letzten Jahr, die das vorliegende Gesetz veranlasst hat. Deshalb ist eine Reaktion des Bundesgesetzgebers notwendig. Darum debattieren wir heute über den vorliegenden Gesetzentwurf. Konkret geht es dabei um Folgendes: Einerseits wird klargestellt, dass Personen ohne Aufenthaltsrecht aus der Freizügigkeitsrichtlinie keine Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII enthalten. Zum anderen enthält der Gesetzentwurf eine Neuerung: Erstmals wird gesetzlich fixiert, wann von einer Verfestigung des tatsächlichen Aufenthalts auszugehen ist und wir aus verfassungsrechtlichen Gründen Leistungen gewähren. Das ist nach fünf Jahren der Fall. Wir wollen, dass die Kommunen in der Lage sind, Zusammenhalt zu sichern und zu stärken. Wir wollen sozialen Fortschritt innerhalb der Europäischen Union. Wir wollen, dass nicht Armut, sondern Arbeit die Menschen in Europa zusammenführt. Dafür kämpfen wir. In diesem Sinne herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen herzlichen Dank, Anette Kramme. – Nächste Rednerin: Sabine Zimmermann für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Während bei der Förderung von Unternehmen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden und nichts zu teuer ist, soll die soziale Absicherung von EU-Bürgerinnen und Bürgern auf der Strecke bleiben. Wir sagen: Das Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums muss für alle Menschen in Deutschland gelten. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Alle Europäer nach Deutschland!) – Das habe ich nicht gesagt, Kollege Zimmer. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist aber die Konsequenz!) Mobilität in Europa muss sozial abgesichert werden. Das Streichen der sozialen Absicherung für EU-Bürgerinnen und -Bürger widerspricht grundsätzlich dem europäischen Gedanken. Daran krankt die EU aber schon seit Anbeginn. Im Mittelpunkt stehen die wirtschaftlichen Interessen, denen sich die Menschen unterzuordnen haben. Das Soziale bleibt auf der Strecke. Dagegen wenden wir uns hier. (Beifall bei der LINKEN) Namenhafte Juristen haben den Gesetzentwurf der Bundesregierung in Grund und Boden gestampft. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wer denn?) – Ich sage es Ihnen gleich, Kollege Zimmer. – Deren Gutachten sind mehr als eindeutig: Ihr Gesetzentwurf ist verfassungswidrig. (Beifall bei der LINKEN) Das Grundrecht auf ein Existenzminimum steht allen Menschen in Deutschland zu, ob nun mit deutscher oder ausländischer Staatsangehörigkeit. So stellt Professor Dr. Berlit in seiner Stellungnahme fest: Mit nationalem Verfassungsrecht ist der Entwurf auf der Grundlage der derzeitigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ... unvereinbar. Noch deutlicher formuliert es die Neue Richtervereinigung: Die Abschaffung von Sozialleistungen an besonders schwache Mitmenschen untergräbt die deutsche Rechts- und Verfassungsordnung. Schwerer Schaden droht dem Arbeits- und Sozialrecht. Die Regelung schafft eine Gruppe moderner Sklaven, die alle Arbeitsbedingungen und jedes Lohnniveau akzeptieren müssen, um hier zu überleben. (Michael Brand [CDU/CSU]: Sie wissen nicht, was Sklaven sind! Sonst würden Sie nicht solch eine Scheiße reden! – Gegenruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Was ist das für eine Vulgärsprache hier?) – Das sagt die Neue Richtervereinigung. Ich zitiere hier. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Dies erhöht den Druck auf diejenigen, die zur Zeit regulären Beschäftigungen im untersten Qualifikations- und Einkommensbereich nachgehen. ... Bisher galt, dass jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft dasselbe Recht auf ein Leben in Würde in sich trägt. Die Neuregelung ersetzt dieses tragende Prinzip durch sozialrechtliche Apartheid. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist ein starkes Stück! – Michael Brand [CDU/CSU]: Sklaverei und Apartheid!) Die Folgen für die deutsche Gesellschaft sind unabsehbar. Ich sage: Dieses Gesetz fügt sich in die unsoziale Politik dieser Bundesregierung ein. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie wollen ein Mindesteinkommen für alle Europäer, das die Deutschen bezahlen! – Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist eine Verharmlosung von Sklaverei und Apartheid!) Dabei müsste es die Bundesregierung doch eigentlich besser wissen. Gerade Rumänen und Bulgaren wird oft unterstellt, sie kämen hierher, um Sozialleistungen abzugreifen. Die Erwerbsquote dieser beiden Gruppen liegt aber bei über 80 Prozent, sodass dieser Vorwurf unhaltbar ist. (Beifall bei der LINKEN) Wir wollen ein Europa für die Menschen. Dazu gehört auch die soziale Absicherung. Die Bundesregierung hat mit ihrer unsozialen Politik und mit ihren Spardiktaten schon genug Schaden in Europa angerichtet und für einen dramatischen Vertrauensverlust der EU bei den Menschen gesorgt. Dieser Irrweg muss endlich beendet werden. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Meine Güte!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Sabine Zimmermann. – Nächster Redner: Dr. Martin Pätzold für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU – Michaela Noll [CDU/CSU]: Jetzt kommt etwas Vernünftiges!) Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube, mit dem Gesetz heute leisten wir einen wichtigen Beitrag für die Akzeptanz der Europäischen Union. Das Parlament hat sich mit diesem Gesetzesvorschlag sehr schnell und in pragmatischer Weise auseinandergesetzt. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) Vor genau drei Wochen haben wir ihn hier das erste Mal debattiert. Am Montag fand die Anhörung statt. Sie hat ein sehr differenziertes Bild gezeichnet. Es gab Sachverständige, Frau Zimmermann, die durchaus einen Hintergrund hatten, der eher bei Ihnen war, die den Gesetzentwurf als nicht verfassungsgemäß und nicht europarechtskonform bezeichnet haben. Dann gab es aber auch Sachverständige – das gehört zur kompletten Wahrheit dazu –, wie ein Dr. Groth und Herr Dollinger, zwei ehrenwerte Persönlichkeiten, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sich nicht wirklich sicher waren!) die gesagt haben: Das Gesetz ist verfassungsgemäß, es ist europarechtskonform. – Deshalb bringen wir das auf den Weg, und es ist auch gut so, dass wir das so tun. (Beifall bei der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, die waren sich nicht sicher!) Wir verfolgen damit drei Ziele. Das erste ist: Wir wollen unser Sozialsystem vor Missbrauch schützen. Es geht darum, dass wir die Kommunen entlasten, die derzeit keine Rechtssicherheit haben und auf die gerade in Ballungsgebieten hohe Kosten zukämen. Auch der Bund, insbesondere mein Kollege Jens Spahn, freut sich darüber, dass er Ausgaben in Zukunft klarer planen kann. Zweitens regeln wir damit, dass der Grundsatz „Fordern und Fördern“ gilt. Nach fünf Jahren Aufenthalt hier gibt es einen Leistungsanspruch. Dies entspricht dem Grundsatz „Fordern und Fördern“. Das ist eine wichtige und klare Regelung, mit der wir Transparenz und Sicherheit schaffen. Sie schreiben in Ihrem Entschließungsantrag ja auch, durch die Gerichtsurteile seien wir dazu verpflichtet. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schaffen keine Rechtssicherheit!) Wir schaffen sie anders, als Sie sich das vorstellen, aber aus unserer Sicht absolut nachvollziehbar. Drittens. Mit diesem Gesetz haben wir für die aufstockenden Leistungen noch keine abschließende „glückliche“ Regelung, weil wir sie vermutlich noch nicht europarechtskonform hinbekommen haben. Deswegen hat mein Kollege Matthias Zimmer den Sprecher für Angelegenheiten der Europäischen Union, Michael Stübgen, immer wieder darauf hingewiesen, dass wir natürlich auch darüber diskutieren müssen, wie es uns gelingt, über die aufstockenden Leistungen bei sehr geringfügiger Beschäftigung oder Selbstständigkeit weiter in den Genuss von Sozialleistungen zu kommen. Wir müssen gucken, ob wir das im nationalen Recht vernünftig lösen können. Das ist eine Herausforderung, die wir aus dieser Gesetzgebung mitnehmen müssen. Im Großen und Ganzen zeigt sich, dass wir die Punkte aus der Anhörung pragmatisch, sehr schnell und zielstrebig in den Gesetzestext aufgenommen haben und damit das Gesetzgebungsverfahren heute abschließen können. Die Sachverständigen, beispielsweise der BDA, aber auch der Agentur für Arbeit, haben deutlich gemacht, dass die Freizügigkeit, der positive Weg nach Deutschland, damit nicht eingeschränkt wird. Der Vorschlag, den wir heute unterbreiten, ist sehr ausgewogen. Vielleicht entscheidet sich die Opposition ja doch, mitzustimmen. Das wäre ein guter Beitrag dazu, die Europäische Union ein Stück sozialer und gerechter zu machen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das wäre der Sieg der Hoffnung über die Erfahrung! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bestimmt nicht!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Pätzold. – Nächster Redner: Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ja heute schon über das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums debattiert. In der am Montag durchgeführten Anhörung sind erhebliche Zweifel geäußert worden, ob dieser Gesetzentwurf diesem Grundrecht entspricht, und zwar vonseiten der Diakonie, des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, des Deutschen Gewerkschaftsbundes, (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Alles hervorragende Juristen!) in den Expertisen des Deutschen Anwaltsvereins, vonseiten der Neuen Richtervereinigung. Auch die von Ihnen eben genannten Experten sagten, dass das hart an der Grenze sei und man das auch anders beurteilen könne. Zumindest wurden Zweifel geäußert – ganz besonders von Herrn Dollinger, aber auch von Herrn Groth, der sagte: Das geht zumindest an die Grenze dessen, was verfassungsmäßig möglich ist. – Es gab am Montag einen einzigen Sachverständigen, der sagte: Die Härtefallregelung reicht, damit es verfassungskonform ist. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!) Eigentlich hätten Sie den Gesetzentwurf nach der Expertenanhörung am Montag zurückziehen müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums war auch die Ursache des schon angesprochenen Urteils des Bundessozialgerichts. Die Lösung, die dort gefunden wurde, finden wir auch problematisch, weil das Bundessozialgericht gesagt hat, dass die Menschen Leistungen nach dem SGB XII bekommen müssten. Erwerbsfähige gehören dort erstens nicht hin, und die Kommunen müssten es zweitens bezahlen. Auch das haben wir kritisiert und finden es falsch. Was an Ihrem Gesetzentwurf neben dieser verfassungsrechtlichen Frage auch problematisch ist: Er löst überhaupt kein Problem. Was ein Ausschluss von Sozialleistungen bedeutet, kann man vor Ort beobachten, zum Beispiel bei mir zu Hause in Frankfurt oder in Offenbach, aber auch, wenn man in den Tiergarten – nicht weit von hier – geht. Am Mittwoch, glaube ich, beschrieb Die Welt die dortigen Zustände in einem Artikel. Die Menschen leben unter menschenunwürdigen Umständen, wenn sie keine Sozialleistungen bekommen. Es droht Ausbeutung. Von irgendetwas müssen die Menschen leben – nach Ihrer Vorstellung ja fünf Jahre lang –, ehe sie Sozialleistungen beziehen können. Die Folgen kann man vor Ort beobachten: Schwarzarbeit, Prostitution, kriminelle Aktivitäten sind die Folge, und das Ganze schürt Ausländerfeindlichkeit und führt zu sozialen Problemen, die letztlich die Kommunen ausbaden müssen. Deswegen ist der Gesetzentwurf auch für die Kommunen maximal eine Scheinlösung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wir haben heute noch einen Entschließungsantrag vorgelegt, in dem wir eine Alternative darstellen, die rechtssicher ist, den sozialen Maßstäben genügt und auch europapolitisch das richtige Signal sendet. Wir sagen nämlich, dass wir die Menschen, die nach Deutschland kommen, die aktiv nach Arbeit suchen, die eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben – Kollegin Zimmermann hat schon gesagt, dass gerade die Bulgaren und Rumänen eine sehr hohe Erwerbstätigenquote haben, sehr fleißig sind –, unterstützen müssen. Sie brauchen Unterstützung bei den aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen. Und nach drei Monaten bedarf es auch einer finanzieller Unterstützung – sonst funktioniert die Integration in den Arbeitsmarkt nicht –, damit die Menschen, die aktiv nach Arbeit suchen, eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie brauchen unsere Unterstützung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie schaffen damit neue Anreizsysteme!) Umgekehrt sagen wir – gerade kam der Zwischenruf „Anreizsysteme“ –, dass wir Menschen, die keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, die nicht aktiv nach Arbeit suchen – in dem Fall würde eigentlich auch das Freizügigkeitsrecht entfallen –, die Leistung auch verweigern können. Auch das muss man der Wahrheit halber dazusagen, um deutlich zu machen: Das Recht auf Freizügigkeit ist für Menschen gedacht, die aktiv nach Arbeit suchen, die eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Gleichzeitig muss man auf europäischer Ebene viel mehr machen, als die Bundesregierung tut. Die Ziele, die Frau Kramme eben nannte, teilen wir, aber die praktische Politik der Bundesregierung geht nicht oder zumindest viel zu wenig in diese Richtung. Wir brauchen kein Gesetz, das verfassungsrechtlich problematisch ist, die Integration erschwert, sozialpolitische Probleme nicht löst, sondern sogar welche schafft und europapolitisch das falsche Signal sendet. Deswegen werden wir den Gesetzentwurf ablehnen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Wolfgang Strengmann-Kuhn. – Nächste Rednerin: Dagmar Schmidt für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn der Debatte waren wenigstens noch vier Personen auf den Rängen; jetzt ist leider niemand mehr da. (Michael Brand [CDU/CSU]: Ihr habt es geschafft! – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das wird im Fernsehen übertragen! Keine Bange!) Sehr geehrte Damen und Herren, die Idee der europäischen Freizügigkeit ist die Idee, in jedem europäischen Land arbeiten und für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können. Es ist nicht die Idee, einfach irgendwo in jedem europäischen Land wohnen zu können. Ich glaube, dass wir an diesem Kern auch nicht rütteln sollten. Die Rechte, die aus dieser Arbeit entstehen, sind – und das ist viel wert – für jeden in Europa, der Arbeit gefunden hat, dieselben. Wer in Deutschland eine Arbeit aufgenommen hat und seine Sozialabgaben zahlt, hat daraus die gleichen Rechte wie die Deutschen. Dieser Zugang zu Sozialleistungen ist sehr niedrigschwellig. Schon nach einem Jahr Arbeit hat man Zugang zu allen Leistungen nach dem SGB II. Wer weniger als ein Jahr hier gearbeitet hat, hat Anspruch auf ein halbes Jahr Unterstützung, um neue Arbeit zu finden. Das alles ist sehr niedrigschwellig. Auch der Vorschlag der Grünen löst das Problem, über das wir ganz am Anfang gesprochen haben und aus dem das resultiert, was wir heute diskutieren, nicht. Ich habe zwar große Sympathien dafür; denn wer arbeiten will, gehört nicht in den Geltungsbereich des SGB XII, sondern des SGB II. Aber wenn am Ende des Tages doch keine Arbeit gefunden wurde, dann bleibt es auch nach dem Lösungsvorschlag der Grünen bei dem Problem: Die Betroffenen bekommen zwar keine Leistungen, sind aber nach wie vor in unserem Land, und die sozialen Probleme verlagern sich auf die Städte und Kommunen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht so! Da steht etwas anderes drin!) Deswegen sind, glaube ich, vor allem drei Dinge notwendig. Wir brauchen erstens ein intensiveres Engagement, um die soziale Integration in Europa voranzutreiben. Wir brauchen europäische Mindeststandards, und wir brauchen – das meine ich sehr ernst – einen kompromisslosen Schutz von Minderheiten. (Beifall bei der SPD) Wir brauchen zweitens – ich bin froh, dass auch die Sachverständigen in der Anhörung bestätigt haben, dass der Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, eine sehr breite Härtefallregelung beinhaltet – eine Härtefallregelung, die die Probleme löst, die zum Beispiel dadurch entstehen – das sind leider keine Einzelfälle –, dass Menschen, die hier arbeiten, ihren Lohn nicht ausbezahlt bekommen und ihre Rechte einklagen müssen. Auch in der Zeit, in der sie hier sind, um ihre Rechte einzuklagen, brauchen sie Unterstützung. Es gibt auch Frauen, die mit ihren Familien hierhergekommen sind, deren Mann sich aber von ihnen trennt und woanders Arbeit findet. Oft hat die Familie dann aber schon hier Wurzeln geschlagen, und die Kinder gehen bei uns zur Schule. Auch für diese Fälle brauchen wir Regelungen, vor allem für die Kinder, die hier leben, ihre Ausbildung hier begonnen haben und ihre Heimatländer teilweise gar nicht oder kaum kennen. Für alle die müssen wir eine Härtefallregelung finden. (Beifall bei der SPD) Drittens brauchen wir – und das haben wir mit dem Staatssekretärsausschuss und im Nachgang dazu schon gemacht – eine Stärkung der Kommunen. Die Kommunen brauchen mehr Geld, um in den sozialen Brennpunkten und da, wo es nötig ist, Hilfe und Unterstützung leisten zu können. Wir brauchen die Öffnung der Integrationskurse. Auch das haben wir damals schon beschlossen. Alle wissen, dass wir schon dabei sind und dass es in dieser Situation, in der wir auch die Integration der Flüchtlinge bewältigen müssen, nicht so einfach ist, das alles so schnell zur Verfügung zu stellen, wie es nötig ist. Aber auch daran arbeiten wir. Die Freizügigkeit in Europa ist eines der größten Geschenke, die wir bekommen haben. Wenn uns Mitte des letzten Jahrhunderts jemand gesagt hätte, dass man heute frei durch Europa reisen und überall arbeiten kann, dann hätten wir das wahrscheinlich nicht geglaubt. Unsere nächste große Aufgabe ist es, – Vizepräsidentin Claudia Roth: Das machen wir aber nächstes Mal. Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): – den sozialen Zusammenhalt in Europa zu stärken. Glück auf! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Es ist nett, dass die Kollegen der CDU/CSU mitstoppen. Das freut mich sehr. (Michael Brand [CDU/CSU]: Intuition!) Das tun Sie jetzt bitte bei Herrn Zech auch. – Der nächste Redner ist der Kollege Tobias Zech für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Tobias Zech (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Uns liegt heute ein Gesetz vor, das ein klares Bekenntnis zu Europa ist, ein klares Bekenntnis zur Freizügigkeit und ein klares Bekenntnis zur Europäischen Gemeinschaft und somit zu europäischen Werten. Wer behauptet, mit diesem Gesetz würde die Freizügigkeit eingeschränkt, hat nicht verstanden, wofür die Europäische Union steht und welche Freizügigkeit wir gewähren. Wir gewähren nämlich Arbeitnehmerfreizügigkeit und nicht die Freizügigkeit, sich das beste Sozialsystem in Europa auszusuchen. (Beifall des Abg. Stephan Stracke [CDU/CSU] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das macht doch keiner! Das ist doch ein Märchen!) Das wollen wir nicht. Wir wollen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Diese schützen wir mit diesem Gesetz. (Beifall bei der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie stigmatisieren diese Menschen!) Man könnte sogar sagen, Frau Zimmermann und Herr Strengmann-Kuhn: Wer sich gegen dieses Gesetz stellt, stellt sich gegen die europäische Freizügigkeit (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Populismus, sage ich da nur!) und vor allem gegen die Akzeptanz dieser Freizügigkeit. Auch auf sie müssen wir Wert legen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD]) In einer Zeit, in der die Europäische Union umstritten ist, in der wir nach dem Brexit und nach Diskussionen über Zuständigkeiten und über unsere Grenzen auch darüber debattieren müssen, wie wir Europa weiterentwickeln, dürfen wir nicht noch mehr Kritik provozieren und nicht noch mehr Ängste vor der Europäischen Union schüren, sondern wir brauchen gute Ideen, wie wir Zuwanderung in Europa gestalten. Aber wir regeln die Arbeitnehmerfreizügigkeit und verhindern gleichzeitig den Missbrauch von Sozialsystemen. Das Gesetz ist ein Schutz unserer Sozialsysteme und somit auch ein Schutz der Freizügigkeit in Europa. Mit diesem Gesetz vereinheitlichen wir darüber hinaus die divergierende Rechtsprechung in unserem Land. Dieses Gesetz gibt der Justiz eine Handreichung, damit deutschlandweit die gleichen Urteile gesprochen werden. Wir stellen mit diesem Gesetz auch klar, dass Menschen, die allein zum Zwecke der Arbeitsuche nach Deutschland kommen, keine Unterstützung bekommen. Wir wollen nicht, dass sich jemand in Europa aussuchen kann, wo er Sozialhilfe bezieht. Wir möchten es den guten Arbeitnehmern in ganz Europa ermöglichen, sich ihren Arbeitsort oder den Sitz ihrer Firma auszusuchen. Das machen wir mit diesem Gesetz. Was wir nicht machen – diesen Vorwurf habe ich schon ein paarmal gehört –: Es ist kein Aushungern von Bevölkerungsgruppen, in keiner Weise. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich, peinlich! Da schüttelt es einen!) Es ist ein gutes Gesetz für Deutschland, aber auch ein gutes Gesetz für die Freizügigkeit. Diejenigen, die ernsthaft auf Arbeitsuche sind bzw. die schon auf dem Arbeitsmarkt angekommen sind, werden natürlich weiter unterstützt. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, die schließen Sie auch aus!) – Nein, die schließen wir eben nicht aus. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ernsthaft auf Arbeitsuche sind, schließen Sie auch aus!) Es gibt Überbrückungsleistungen. Es gibt sehr weitreichende Härtefallregelungen – Dagmar Schmidt hat das schon dargestellt – mit einem großen Ermessensspielraum. Herr Strengmann-Kuhn, für die Personen, die jetzt schon Arbeitnehmer oder selbstständig sind und die aufgrund von § 2 des Freizügigkeitsgesetzes zu Einreise und Aufenthalt berechtigt sind, machen wir mit diesem Gesetz keine einzige Einschränkung. Das gilt es zu unterstreichen. (Widerspruch des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Auch die Verfestigung des Aufenthalts nach fünf Jahren im Land bietet eine bessere Perspektive. Der ordnungspolitische Rahmen, den wir hier setzen, ist gleichzeitig im Sinne von Freizügigkeit, im Sinne von Europarecht und sozialer Gerechtigkeit. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Dieses Gesetz ist der Tatsache geschuldet, dass wir uns als CSU 2014 in Kreuth das Thema Freizügigkeit von Arbeitnehmern in Europa im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Sozialleistungen auf die Fahne geschrieben haben. Dafür sind wir hier von vielen Seiten beschimpft worden. Heute wird unser Vorschlag Realität. Wir CSUler sind es gewohnt, dass unsere Vorschläge aufgrund der intellektuellen Tiefe ein paar Monate brauchen, um hier anzukommen. (Beifall des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU] – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Der war gut!) Aber ich kann Ihnen sagen: Wir Bayern sind leidensfähig. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind auch leidensfähig!) Wir geben allen die Zeit, über unsere guten Vorschläge länger nachzudenken. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hören bis zum Schluss die Rede an!) Deswegen bin ich froh, dass wir heute ein gutes Gesetz vorliegen haben, das natürlich verfassungsgemäß ist, das nicht gegen EU-Recht verstößt, und dass die Vorschläge, die wir als CSU vor zwei Jahren in Kreuth gemacht haben, heute zum Gesetz werden. (Michael Brand [CDU/CSU]: Die Präsidentin aus Bayern freut sich auch!) Ich kann nur um Zustimmung bitten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Tobias Zech. Auch ich musste lachen, weil ich weiß, was Sie meinen, wenn Sie über Bayern reden. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10518, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/10211 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Dann gibt es keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren die Linken und Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10533 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat Bündnis 90/Die Grünen, dagegen waren CDU/CSU, SPD und die Linke. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Luftsicherheitsgesetzes Drucksachen 18/9752, 18/9833 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) Drucksache 18/10493 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.10 – War eigentlich jemals jemand dagegen? Ich will jetzt aber keine schlafenden Hunde wecken. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Mach einfach weiter!) Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10493, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/9752 und 18/9833 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt hat die Linke, und enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt hat die Linke, und enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung Drucksachen 18/9983, 18/10263, 18/10444 Nr. 1.4 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Drucksache 18/10470 Der Gesetzentwurf beinhaltet in der Fassung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz auch Änderungen des Gesetzes betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung. Ich bitte jetzt die Sozialpolitiker, sich entweder mit dem Insolvenzrecht bzw. der Insolvenzordnung zu befassen (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Spannendes Thema! – Michael Brand [CDU/CSU]: Oder?) oder zu gehen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn Besuchergruppen nach Berlin kommen und ich erzähle, dass man erst gegen 22 oder 23 Uhr nach Hause kommt, dann glauben die das nicht ganz. Insofern hätte ich sie heute bei diesem edlen Tagesordnungspunkt zu dem Regierungsentwurf zur Insolvenzordnung gerne auf den Besucherrängen gehabt. Aber dies ist leider nicht gelungen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden so lange, bis wieder welche da sind!) – Liebe Frau Vorsitzende Künast, das machen wir heute nicht. Bevor wir in die inhaltliche Debatte einsteigen, lassen Sie uns kurz auf den spannenden Begriff „Liquidationsnetting“ zurückkommen. Ich kann mir gut vorstellen, dass nicht jeder hier im Hohen Hause mit diesem Fachbegriff vertraut ist. Worum geht es eigentlich? Wie das Wirtschaftslexikon schreibt, werden unter „Netting“ im Finanzwesen alle Methoden zur Vermeidung von Zahlungs-, Fremdwährungs-, Kredit- oder Liquiditätskrisen zwischen zwei Vertragsparteien innerhalb eines vertraglich vereinbarten Verrechnungsverfahrens verstanden. Liquidationsnetting ist mit die wichtigste Form des Nettings im Bankwesen. Es handelt sich hierbei um die einheitliche Beendigung von Geschäften durch Kündigung und automatische Auflösung aus wichtigem Grund, einschließlich aus Gründen insolvenzbezogener Tatbestände. Dies hat zur Folge, dass die sich ergebenden Ansprüche durch einen Ausgleichsanspruch in Höhe des Nettomarktwerts des Geschäfts – also die Nettosumme, die sich aus beiden Ansprüchen ergibt – oder des sich daraus ergebenden unrealisierten Gewinns oder Verlusts festgestellt und so die festgestellten Beträge miteinander saldiert werden. Das Insolvenzrisiko wird auf diese Weise erheblich reduziert. Nach der ersten Lesung hatten wir eine öffentliche Anhörung zu diesem Thema. Dabei wurde aus meiner Sicht festgestellt, dass das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hervorragende Arbeit geleistet hat, auch wenn der eine oder andere Sachverständige wohl die existenzielle Notwendigkeit dieser Maßnahme noch nicht erkannt hatte. Der Rechtsausschuss sah daher in seiner Sondersitzung in dieser Woche trotz der geäußerten Bedenken keine Notwendigkeit, den Gesetzestext zu ändern; er ist schlicht gut. Bei der abschließenden Beratung im Ausschuss haben wir beschlossen, dass alle nötig gewordenen Klarstellungen und Präzisierungen der gesetzlichen Grundlagen für die Abwicklung von Finanzmarktkontrakten in der Insolvenz vorgenommen werden. Die Dringlichkeit des Gesetzes besteht, da die Allgemeinverfügung der BaFin lediglich bis zum 31. Dezember 2016 gilt. Ohne die Entscheidung des Hohen Hauses über den heutigen Gesetzentwurf droht die Gefahr, die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Kreditinstitute und Marktteilnehmer und damit die Stabilität unseres deutschen Finanzsystems nicht mehr dauerhaft schützen zu können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Daher bedarf es gesetzlicher Regelungen, dieser Klarstellung der Insolvenzfestigkeit von Liquidationsnettingklauseln. Ich betone ausdrücklich: Mit dem Gesetz wird nur der ursprünglich gewollte Rechtszustand wiederhergestellt, nichts Neues, kein Dammbruch, wie es einer der Sachverständigen meinte, kein Mehr in § 104 der Insolvenzordnung, nur Klarstellung. (Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Genau das ist der Punkt!) Es ist absolut richtig, dass sich der Gesetzgeber zügig dieser Frage angenommen hat, da anderenfalls große Schwierigkeiten im Finanzierungs- und Rücklagensystem aller deutschen Banken hätten auftreten können. Dies wird – auch mit Blick auf eine mögliche Belastung des Steuerzahlers – durch das Gesetz vermieden. Dies zum Netting. Nun zu dem dem Gesetzentwurf angefügten Omnibus. Man soll auch über das sprechen, was noch drinsteht, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was Sie wieder nicht gemerkt haben!) Artikel 4 EGZPO, der Einfachheit halber Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung, hinsichtlich der Wertgrenzen zur Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof. Der Änderungsantrag ist zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll, die Verlängerung der Geltungsdauer maßvoll. Ob allerdings die Regelung einer Mindestbeschwer in Höhe von 20 000 Euro grundsätzlich die richtige Höhe darstellt, stelle ich persönlich infrage. Gleichwohl teile ich die Einschätzung, dass dieser Komplex insgesamt und grundsätzlich gelöst werden muss, und das endgültig und nicht allein durch Korrekturen an der Wertgrenze. Lassen Sie mich dazu ein Beispiel nennen. Warum soll einem Waldbesitzer, dessen Wäldchen zum Zeitpunkt der Klageerhebung 19 000 Euro wert ist, der Rechtsweg versperrt sein, während demjenigen, dessen Aktienpaket im Wert von ursprünglich mehr als 20 000 Euro zum Zeitpunkt des Urteils nur noch 50 Cent wert ist, ein anderes Rechtsschutzinteresse zugebilligt wird? (Beifall bei der SPD) An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass die Geltungsdauer der Wertgrenze für den Weg zum Bundesgerichtshof ein letztes Mal verlängert wird. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du hast doch drei Jahre Zeit gehabt, es zu ändern! Ihr begründet auch alles!) Denn ich will keine Kapitalisierung der Rechtsmittel, sondern Recht für alle. Daher darf der Zugang zum Recht nicht allein an der materiellen Höhe der Auseinandersetzung scheitern. Wertgrenzen dürfen schon gar nicht dazu dienen, Personalengpässe bei den Obergerichten auszugleichen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wie gesagt, mit diesem Gesetz machen wir einen richtigen Schritt in Sachen Rechtssicherheit für alle, jedoch nicht den letzten; denn im Insolvenzrecht ist mit diesem Gesetzentwurf noch lange nicht alles abgeschlossen. Konzerninsolvenzrecht, Sicherung von ausbezahlten Arbeitslöhnen, eine Reform der Anfechtungsfristen sowie die Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern bei der Sanierung von Unternehmen stehen noch auf der Agenda. Da haben wir noch einiges zu vereinbaren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Wir jedenfalls, die Sozialdemokraten, haben dazu klare Vorstellungen. Wir können diese auch kurzfristig umsetzen, sodass es heißen kann: Wo Sozialdemokratie draufsteht, steckt auch Sozialdemokratie drin. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Ihnen allen einen schönen Abend. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber was ist Sozialdemokratie?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner. – Nächster Redner: Richard Pitterle für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Richard Pitterle (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf hat in den Beratungen zu einigen Missverständnissen geführt. Dafür ist auch die Problembeschreibung der Verfasser verantwortlich. Dort heißt es irreführend, der Entwurf sei eine Reaktion auf die Rechtsprechung. Der Bundesgerichtshof hatte in der Finanzwelt übliche Verträge mit dem Insolvenzrecht für unvereinbar erklärt. Mit dem Gesetz solle die Abwicklung von Finanzverträgen in der Insolvenz nach bankenaufsichtsrechtlichen Anforderungen daher klargestellt und präzisiert werden. Bei der genauen Analyse zeigt sich: Die Regelungen gehen weit darüber hinaus. Die Änderung erweitert die Ausnahmevorschriften des § 104 Insolvenzordnung erheblich. In Zukunft können auch Warentermingeschäfte durch Rahmenverträge zusammengefasst werden. Schlicht falsch ist die beiläufige Behauptung der Verfasser, dies sei ohnehin geltende Rechtslage. Nicht alle Verträge über Waren-, Rohstoff- oder Energielieferungen sind Finanzinstrumente. In diesem Bereich mag es der Wunsch von Lobbyisten sein, das Insolvenzrisiko zu verringern. Das ist aber der Wunsch aller Gläubiger. Sachliche Gründe für eine Privilegierung gibt es nicht. Eine Ausweitung gebieten weder das Unionsrecht noch bankenaufsichtsrechtliche Anforderungen. Die Neuregelung präzisiert nichts. Sie stellt auch nichts klar. Die Rahmenbedingungen für vertragliche Vereinbarungen zum sogenannten Liquidationsnetting sind konturlos formuliert. Das erhöht die Rechtsunsicherheit. Das birgt die Gefahr ausufernder Vereinbarungen zulasten der Insolvenzmasse. Das gefährdet die Sanierung der Unternehmen und damit den Erhalt von Arbeitsplätzen. Begründet wird dies auch mit dem Schutz des Vertragspartners in der Insolvenz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Heuchelei ist kaum zu ertragen. Sie verweigern Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern seit Monaten durch Untätigkeit den Schutz ihres hart erarbeiteten Lohnes in der Insolvenz. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Sie verweigern sich auch einer generellen Besserstellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegenüber anderen Gläubigern. Geht es jedoch um das große Finanzkasino und selbstgeschaffene Risiken, steht auf einmal der Schutz des Vertragspartners im Mittelpunkt Ihrer Bemühungen. (Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Das ist ja Klassenkampf, Herr Kollege!) – Das mögen Sie Klassenkampf nennen; das ist Ihr Problem. Wie gewaltig diese Risiken sein müssen, zeigt das völlig kopflose Agieren der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Die Tinte auf dem Urteil war kaum trocken, da erließ die BaFin eine Verfügung. Sie erklärte die Rechtsprechung kurzerhand zum Schutz des Finanzmarktes für unbeachtlich. Eine Bundesoberbehörde versucht, durch Notverordnung in die Zuständigkeit von Gesetzgebung und Rechtsprechung überzugreifen. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ungeheuerlich!) Wenn Herr Schäuble hier wäre, müsste ich ihm sagen, als Rechts- und Fachaufsicht über die BaFin sollte er doch vielleicht einen Grundkurs in Staatsorganisationsrecht und zum Thema Gewaltenteilung anbieten. (Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Danke für den Hinweis! Der hat uns gerade noch gefehlt!) Pikant daran ist, dass die BaFin auch im Untersuchungsausschuss Cum/Ex, aus dem ich gerade komme, keine gute Figur macht. Sie will als Aufsichtsbehörde über den Finanzmarkt mehr als zehn Jahre nichts davon mitbekommen haben, wie Banken und Finanzdienstleister Milliarden Euro Steuern hinterzogen haben. Zum Abschluss noch folgende Frage: Was hat die Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH mit dem Liquidationsnetting zu tun? Genau: Nichts! Mit Ihrer nachgeschobenen Änderung missachten Sie erneut die verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Auch inhaltlich ist ein Gesetz, das den Zugang zu Gericht wegen Überlastung erschwert, ein Offenbarungseid Ihrer Haushalts- und Justizpolitik und eines Rechtsstaates unwürdig. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Das ist aber starker Tobak, Herr Kollege!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Richard Pitterle. – Der Nächste in der Debatte: Dr. Heribert Hirte für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Guten Abend! Herr Kollege, die Aufklärung in Sachen Finanzkasino war daneben. (Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Gut zuhören, Herr Pitterle!) Ich kann nur sagen: Was die BaFin gemacht hat, ist richtig. Ich werde das gleich auch erklären. Herr Schäuble braucht auch keinen Grundkurs in Sachen Staatsorganisationsrecht. Auch diese Bemerkung war schlicht daneben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]) Wir reden hier über etwas ganz anderes, nämlich über § 104 Insolvenzordnung, das Close-out Netting. Der Kollege Brunner hat eben schon deutlich gemacht, worum es geht. Close-out heißt, dass bei bestimmten Kreditvertragstypen der Vertrag beendet wird. Er wird zweitens genettet, nämlich aufgerechnet, und zwar in der Weise, dass das Risiko aus verschiedenen Verträgen zusammengefasst wird. Was hier in Rede steht, ist in der Tat ein Riesenvolumen. Der Kollege Christoph Paulus von der Berliner Universität hat uns das in der Anhörung sehr deutlich gemacht: Es geht um ein Gesamtvolumen von 605 Billionen Euro. Davon besteht ein mögliches Insolvenzrisiko in Höhe von 24 Billionen Euro. Es ist richtig, dass wir, weil diese Forderungen und Verbindlichkeiten zusammenhängen, sie dann auf 3,7 Billionen Euro reduzieren. (Zuruf der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Kollegin Keul, jetzt fragen wir uns: Warum müssen wir das Gesetz reformieren? Da muss man noch einmal gucken, wann das Gesetz in der jetzigen Form geschaffen wurde. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor der Finanzkrise!) – Sie können gleich darauf erwidern. – Im Jahr 2004 hat nämlich die damalige rot-grüne Koalition die jetzige Norm geschaffen. (Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Genau!) Da gab es dann Nachfragen von der Bayerischen Staatsregierung. Die hat Ihnen, der rot-grünen Koalition, Fragen gestellt und damit den Eindruck erweckt, dass die rot-grüne Koalition – so heißt es hier in der Ausschussdrucksache aus dem Jahr 2004 mit der Nummer 15/2584 – „das Großkapital schützen wolle und die kleinen Firmen zugrunde richte“. Dann haben wir alle – leider ohne die Linken, aber das ist nicht so überraschend – zusammengearbeitet und haben gemeinsam mit dem BMJ – wie es damals noch hieß – diesen „bodenlosen Behauptungen“, die Sie jetzt bringen, obwohl Sie damals genau das Gegenteil gesagt haben, „die Grundlage entzogen“. (Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Dann hat Ihr Vorgänger Jerzy Montag, ein guter Mann, gesagt, die jetzige Fassung diene „dem Schutz des Bankenplatzes Deutschland“ und stelle auch sicher, dass „in der Insolvenz nicht auf Baumaschinen, nicht auf Forderungen und nicht auf andere Gegenstände“ zurückgegriffen werden könne. „Mit dem Ergebnis des ... Entwurfs“, über dessen Korrektur wir jetzt heute beraten, „könne man sehr zufrieden sein.“ Der Bundesgerichtshof hat sich mit Ihrem Gesetz auseinandergesetzt und festgestellt, dass manches von dem, was Sie damals wollten, nicht funktionierte. Wir korrigieren Ihre Fehler, und Sie sagen jetzt, wir schützten die Banklobby. Ich halte das für daneben; das muss man wirklich sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Man kann dann noch einen Schritt weitergehen und nachfragen. Sie haben das in der Pressemitteilung von gestern so schön gesagt: Die Großbanken kriegen Privilegien gesichert, und deshalb müssten wir eine Sondersitzung abhalten. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben Sie beantragt!) – Das ist Ihre Pressemitteilung, die ich hier zitiere. – Und deshalb lehnen Sie es ab. – Auch das stimmt nicht. Schauen Sie doch bitte einmal in das Gesetz hinein. Frau Keul, dazu können Sie gleich etwas sagen. § 340 der Insolvenzordnung besagt, dass bei solchen Verträgen das Recht gilt, was vereinbart wurde. Das heißt, man kann der Regelung entfliehen. Es ist also nicht so, dass die Banken dann alle sofort pleitegehen. Sie werden die Verträge ändern, und dann haben wir einen Vertrag nach englischem Recht, der genau das vorsieht, was wir jetzt hier vorschlagen. Ich muss schon sagen: Ich halte es für richtig, dass deutsche Banken auch deutsches Recht nutzen können. Wir stellen noch einen Punkt im Ausschussbericht klar, der in der Anhörung zweifelhaft war, nämlich dass Erfüllungsansprüche dann gegengerechnet werden können. Das halte ich für wichtig. Aber ich möchte zu einem weiteren Punkt noch etwas sagen, zur Streitwertgrenze. Ja, die Überlegung, ob die Streitwertgrenze und die Fortschreibung der Streitwertgrenze der richtige Ansatz ist, den Zugang zum Bundesgerichtshof zu kontrollieren, ist zweifelhaft. Herr Kollege Brunner hat es eben schon gesagt: Da müssen wir ein bisschen grundsätzlicher herangehen. Ich habe in der Ausschusssitzung vorgestern genau das gesagt: Wir sind für eine solche weiter gehende Lösung offen. Wir sind hier in Vorlage gegangen. Wir haben gestern gesagt, dass die Erweiterung des Ansatzes des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes ein Punkt ist, an dem wir weitergehen würden und weitergehen können. Das Justizministerium hat inzwischen nachgezogen. Wir finden das gut. Darüber können wir reden. Dann können wir erwägen, ob wir zum Beispiel bei identischen Sachverhalten, die mehrere Personen betreffen, oder bei Streuschäden eine Regelung treffen, dass der Streitwert, der als Grenze des Zugangs zum Bundesgerichtshof dient, herabgesetzt wird. Da gibt es also Reformbedarf. Wir werden darüber reden. Mit dieser Änderung wird die Zeit überbrückt, bis die wesentlichen Änderungen kommen werden. Der letzte Punkt. Natürlich ist das nicht das Ende der Reformen im Insolvenzrecht. Wir werden das Anfechtungsrecht reformieren. Wir warten auf die Vorschläge und die Antworten der SPD. Wir werden auch das Konzerninsolvenzrecht reformieren. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Hirte. – Nächste Rednerin: Katja Keul für Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gleich einmal ein paar Dinge klarstellen: Zuerst zur Schuldfrage. Die Sondersitzung haben nicht wir beantragt, sondern Sie, weil Sie die Fristen nicht eingehalten haben und wir auf die Fristeinhaltung nicht verzichtet haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Sie hätten doch verzichten können!) Zweiter Punkt. Sie ändern hier ein Gesetz, das irgendwann einmal unter Rot-Grün, wie Sie sagen, auf den Weg gebracht worden ist – und nicht umgekehrt. (Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Wir ändern es, um Ihre Fehler zu korrigieren!) Außerdem haben Sie aus einem Gesetzgebungsverfahren von 2004 zitiert. Es war vor der Finanzkrise, also bevor wir alle wussten, welche Auswirkungen es hat, dass die Banken alle unterkapitalisiert sind. Dieses Gesetzgebungsverfahren ist in der Tat ein Musterbeispiel dafür, wie sich die Interessen der Finanzindustrie hier ihren Weg bahnen. Im Juni dieses Jahres entschied der Bundesgerichtshof, dass die Praktiken der Finanzakteure, also der Banken, die mit Derivaten handeln, gegen § 104 Insolvenzordnung verstoßen. Warum? Weil sie die Forderungen aus diesen Risikogeschäften im Insolvenzfall so miteinander verrechnen, dass praktisch keine Insolvenzforderung mehr übrig bleibt. Wir haben ja gerade gehört: Es geht nicht um 3,50 Euro, sondern durchaus um Milliarden. Nach diesem BGH-Urteil legt die Bundesregierung sofort, also quasi über Nacht, einen Entwurf zur Änderung der Rechtslage vor, damit die Banken weitermachen können wie bisher, und erweitert die Norm sogar noch darüber hinaus. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!) Nicht einmal eine einzige Sekunde haben die Akteure die Alternative in Betracht gezogen, sich schlicht an das geltende Recht zu halten, als ob die systemische Finanzkrise, in der wir uns seit zehn Jahren befinden, nicht deutlich genug gemacht hätte, dass die Sorglosigkeit dieses Geschäftsbereichs die Ursache des ganzen Elends ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In der Gesetzesbegründung steht ganz schamlos, dass es genau darum geht: den Großbanken zu ersparen, ihre Eigenkapitalquote zu erhöhen – was sie tun müssten, wenn das Insolvenzrisiko realistisch abgebildet würde. Es ist aber gerade notwendig, dass die Eigenkapitalquoten erhöht werden, um zu verhindern, dass wieder nur die Gewinne bei den Akteuren bleiben, die Verluste aber im Ernstfall die Allgemeinheit tragen muss. Das deutsche Insolvenzrecht ist auf Gleichbehandlung aller Gläubiger ausgerichtet – und das ist auch gut so. Hier wollen einige wieder einmal gleicher sein als andere, und die Bundesregierung steht gehorsam bereit. Das ist wirklich befremdlich, wenn man einmal auf der anderen Seite betrachtet, wie lange der deutsche Mittelstand auf die moderate Reform des Anfechtungsrechtes wartet, das seit zwei Jahren auf Eis liegt. Für die Finanzindustrie geht es plötzlich innerhalb von drei Monaten. Angeblich sollte aus beiden Gesetzen jetzt ein Paket geschnürt werden. Aber warum steht nun doch wieder nur das Interesse der Finanzer auf der Tagesordnung und nicht das des Mittelstandes? Warum sollte die zweite Lesung schon wieder zur nächtlichen Stunde zu Protokoll gegeben werden, obwohl das schon in der ersten Lesung so gelaufen ist? (Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Von mir aus war das nicht nötig! Wir haben noch eine Stunde Zeit!) Darauf haben wir uns diesmal nicht eingelassen. Ich kann nur hoffen, dass sich die mediale Öffentlichkeit hier nicht an der Nase herumführen lässt. Sie argumentieren damit, dass es ja nicht anders geht, weil diese Regelung doch international überall so gehandhabt wird und daher der Standort Deutschland leiden oder man ins englische Recht ausweichen würde. In der Tat, die Finanzlobby hat ihre Sonderinteressen natürlich nicht nur hier, sondern weltweit durchsetzen können, und weil sie dadurch jetzt in den anderen Ländern dieselben Privilegien hat, sollen wir damit erpresst werden, dass es eben nicht anders geht. Das ist das alte Totschlagargument: Wenn wir es nicht tun, dann tun es die anderen. – Damit werden wir die systemische Krise niemals in den Griff kriegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ganz im Gegenteil: Die Auswirkungen dieser Machenschaften bringen gerade unsere Welt ins Wanken. Europa fällt auseinander, und ehemals stabile Demokratien stehen im Feuer der Populisten. Als demokratische Volksvertreter dürfen wir uns nicht länger erpressen lassen. Und was ist eigentlich aus der Finanztransaktionsteuer geworden? Wenn die Staaten einmal den Auswüchsen der Finanzindustrie regulierend Einhalt gebieten wollen, dann ist es so mühsam, Mitstreiter zu überzeugen. Wenn aber die Finanzindustrie in einem Land nach dem anderen Privilegien zum Standard machen will, geht das immer ganz schnell. Wir Grüne machen das an genau dieser Stelle nicht mehr mit. Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Katja Keul. – Der letzte Redner in der Debatte: Alexander Hoffman für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Thema ist das Dritte Gesetz zur Änderung der Insolvenzordnung. Ich gebe zu, dass diejenigen, die dieser Debatte zu dieser Stunde beiwohnen, das nicht unbedingt als Hauptgewinn begreifen werden – insbesondere dann nicht, wenn sie Ihre Rede gehört haben, Kollege Pitterle. Ich habe versucht, ein Fallbeispiel zu finden, das sehr deutlich macht, worum es im Kern geht. Stellen Sie sich Folgendes vor: Zwei Banken betreiben regelmäßig Geschäfte miteinander. Eines Tages kauft die Bank A von der Bank B Wertpapiere im Wert von 1 Million Euro. Sie bezahlt diese Wertpapiere auch gleich; die Bank B ist aber schon einige Tage später nicht mehr in der Lage, die Wertpapiere zu liefern, weil sie insolvent geht. Dann hat die Bank A eine Forderung in Höhe von 1 Million Euro, die sie im Rahmen des Insolvenzverfahrens geltend machen kann und dort zur Tabelle anmeldet. (Richard Pitterle [DIE LINKE]: Um welche Bank handelt es sich?) Das hat – Kollege Pitterle, hören Sie zu! – ein maximales Ausfallrisiko zur Konsequenz. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von den Linken – um an dieser Stelle schon dem ersten Missverständnis entgegenzuwirken, das Sie heute sehr gerne skizziert haben –, diese Bank A, die auf dieser 1 Million Euro sitzen bleibt, kann die Deutsche Bank oder eine andere Großbank sein, aber das kann letztendlich auch jede Hausbank eines jeden Bürgers in Deutschland sein. Dann zahlt diese 1 Million Euro am Schluss der Anleger, der Kunde, der Steuerzahler. Genau diese Konstellation sollte § 104 der Insolvenzordnung vermeiden. Er hat nämlich folgende Möglichkeit vorgesehen: Wenn – zurück zu meinem Fall – die Bank B aufgrund eines anderes Geschäfts eine noch offene Forderung gegen die Bank A hat, sagen wir in Höhe von 800 000 Euro, dann sollte die Möglichkeit eröffnet werden, das miteinander zu verrechnen, sodass nur die Differenz von 200 000 Euro ins Saldo gestellt wird mit der Folge, dass das maximale Risiko der Bank A am Ende des Tages 200 000 Euro beträgt. Damit beträgt auch das Ausfallrisiko der Kunden, der Steuerzahler und der Anleger dieser Bank A nur 200 000 Euro. (Richard Pitterle [DIE LINKE]: Sie haben doch behauptet, dass der Steuerzahler nicht mehr haften soll!) Genau das, liebe Kolleginnen und Kollegen, war das Ziel von § 104 der Insolvenzordnung. Das sahen – der Kollege Hirte hat es vorhin angesprochen – die Grünen im Übrigen einmal ganz genauso: Im Jahr 2004 wurde diese Norm formuliert. Aber heute wollen Sie davon nichts mehr wissen. Der BGH legt § 104 – wir haben es gehört – heute anders aus und begreift solche Aufrechnungsvereinbarungen als unwirksam. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der BGH hat nämlich daraus gelernt!) Auch deswegen, liebe Kollegin Keul, gilt es, schnell zu handeln; denn uns läuft ein Stück weit die Zeit davon. Die zweite Konsequenz, wenn solche Rahmenvereinbarungen nicht mehr getroffen werden können, ist nämlich, dass Banken aufgrund dieses erhöhten Ausfallrisikos letztendlich Finanzrückstellungen in einer Größenordnung machen müssen, wie sie heute einfach nicht mehr darstellbar ist. Sie haben vorhin gesagt: Wir haben durch die Finanzkrise gelernt, und deswegen müssen die Rückstellungen der Banken ohnehin erhöht werden. – Das ist aber insoweit unehrlich, als Sie ganz genau wissen, dass die Erhöhung der Rückstellungen, über die wir hier reden, aufgrund des Anstiegs des Ausfallrisikos komplett aufgefressen wird. Es ist wichtig, dass wir zeitnah darauf reagieren, weil es letztendlich für viele Banken ein Problem darstellen würde, in dieser kurzen Zeit die Rückstellungen auf dieses Maß zu erhöhen. Damit zeigt die Große Koalition, dass sie handlungsfähig ist. Die Große Koalition zeigt, dass sie darauf reagieren kann. Ich glaube, das Beispiel zeigt sehr gut, dass es sich nicht um Geschenke für Großbanken handelt. (Richard Pitterle [DIE LINKE]: Das hat der Sachverständige selber gesagt!) Deswegen bitte ich um Zustimmung. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Alexander Hoffmann. – Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Insolvenzordnung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10470, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/9983 und 18/10263 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben die CDU/CSU und die SPD; dagegen waren Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Dagegengestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Ich darf Sie bitten, die Essensverteilung ein bisschen einzuschränken und diese Teile, die wir hier freundlicherweise auch bekommen haben, nicht unbedingt als Wurfgeschosse einzusetzen; sonst lasse ich den Innenausschuss damit befassen. (Heiterkeit und Beifall – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den 1. Ausschuss nicht vergessen!) Wir haben auch Hunger, aber wir müssen erst noch mit den Kollegen vereinbaren, ab wann hier Bier serviert wird (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) und Bratwurst. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes Drucksache 18/9440 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) Drucksache 18/10440 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10441 Hierzu liegen zwei Änderungsanträge und ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Die Reden gehen nicht zu Protokoll. Deswegen bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die gleich debattieren werden, Platz zu nehmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Dazu gibt es keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin Dorothee Bär. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich bitte die Kollegen, jetzt Platz zu nehmen und Frau Bär zuzuhören. Das gilt für alle, auch für die Kollegen von ihrer Partei. Dorothee Bär, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Vielen herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – So viele sind von meiner Partei gar nicht da. (Michael Donth [CDU/CSU]: Oh!) – Ich habe die eigene Partei gemeint, natürlich nicht die Schwesterpartei. (Gustav Herzog [SPD]: So viel Unterschied muss sein!) – So viel Unterschied muss sein, Herr Herzog. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag, um über das Vierte Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes zu sprechen, weil es heute insgesamt ein guter Mauttag in Deutschland ist. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden wir noch sehen!) Deswegen passt es ganz besonders gut, dass wir heute zu diesem Gesetzentwurf noch sprechen können. Wie Sie alle wissen, war und ist es unser Ziel, in dieser Legislaturperiode die Finanzierung der Bundesfernstraßen zu verbessern. Sie alle wissen auch, dass wir das schon in den vergangenen drei Jahren geschafft haben, und wir werden auch im nächsten Jahr bis zur Bundestagswahl in diesem Bemühen nicht nachlassen. Uns ist es wichtig, eine moderne, eine sichere, eine leistungsstarke Verkehrsinfrastruktur in Deutschland zu gewährleisten. Deswegen treiben wir die Nutzerfinanzierung konsequent voran und schaffen so den wesentlichen Bestandteil des Investitionshochlaufs. Wir stellen dadurch auch die Maßnahmen sicher – auch das ist heute ein wichtiger Schritt –, die sich im Bundesverkehrswegeplan 2030 befinden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie behaupten im Ausschuss immer wieder, dass alles, was zum Vordringlichen Bedarf und zum weiteren Bedarf mit Planungsrecht im Gesetzentwurf steht, nicht ausfinanziert ist. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schleppend!) Allein durch solche Gesetzesinitiativen stellen wir fest, dass es möglich ist, dass alles finanziert werden kann, was wir uns vorgenommen haben. Sie sehen, dass in der Verkehrspolitik insgesamt eine ganzheitliche Politik betrieben wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Humor am späten Abend!) Aufgrund der besonderen Belastung für die Infrastruktur spielt natürlich die Lkw-Maut eine ganz wesentliche Rolle. Wir haben mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes die ersten beiden Schritte unternommen, haben zum 1. Juli 2015 die Lkw-Maut von circa 1 200 Kilometer auf circa 2 300 Kilometer autobahnähnliche Bundesstraßen ausgeweitet und haben zum 1. Oktober 2015 die Mautpflichtgrenze von 12 Tonnen zulässiges Gesamtgewicht auf 7,5 Tonnen abgesenkt. Auch dadurch schaffen wir mehr Gerechtigkeit. Jetzt stehen wir vor dem nächsten Schritt und machen mit dem vorliegenden Vierten Gesetz eine Ausweitung der Lkw-Maut ab Mitte 2018 auf alle circa 40 000 Kilometer Bundesstraßen. Auch damit finanzieren und verbessern wir die Finanzierung der Bundesfernstraßen und gewährleisten weiterhin eine sichere und vor allem moderne und leistungsstarke Infrastruktur. Für uns ist die Philosophie – die teilen nicht alle; das werden wir nachher noch hören –, dass Mobilität ein Grundbedürfnis der Menschen in unserem Land ist. (Beifall des Abg. Karl Holmeier [CDU/CSU]) Wir machen eine Politik, die für diese Grundbedürfnisse steht. Wir machen keine Politik, Frau Wilms, die gegen solche Grundbedürfnisse steht; denn damit stellen Sie sich zu Recht ins Abseits. Ich bin gespannt auf Ihr Gemäkel, was gleich wieder kommen wird, Frau Kollegin. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Sebastian Hartmann [SPD]: Es gibt heute Lob!) Die parlamentarischen Beratungen und die Befassung des Bundestags haben weitere Anregungen zu dem von der Bundesregierung im Mai 2016 beschlossenen Gesetzentwurf gebracht. Beispielsweise sollen landwirtschaftliche Fahrzeuge unter bestimmten Bedingungen von der Maut befreit werden. Es soll die Möglichkeit geschaffen werden, die Mautpflicht auch auf bestimmte Strecken von Landes- und Kommunalstraßen auszuweiten. Ein ganz besonderes Anliegen von einigen von uns – auch von mir persönlich; dazu wird der Kollege Jarzombek sicher nachher noch Stellung nehmen – ist die Bereitstellung von Mautdaten in der Datenbank mCLOUD. Das ist ein wichtiger und positiver Schritt, weil der umfangreiche Datenschatz auch für die Verkehrsforschung von ganz besonderer Bedeutung ist. Mit dem Entschließungsantrag wird die Bundesregierung aufgefordert, unterschiedliche Mautsätze für Bundesautobahnen und Bundesstraßen möglichst zu vermeiden. Das ist uns auch wichtig, weil sichergestellt werden soll, dass weniger zentral gelegene Regionen nicht doppelt bestraft werden. Wir wollen eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Wir wollen kein Stadt-Land-Gefälle. Das ist ganz besonders für die ländlichen Regionen wichtig. Deswegen müssen wir alles daransetzen, um diese Ungerechtigkeit zu vermeiden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich darf mich ganz herzlich bei allen Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen bedanken, die im Verkehrsausschuss mit Augenmaß Leitlinien für die Zukunft geschaffen haben. Ich glaube, wir alle können konstatieren – wenn wir es ehrlich meinen, wenn wir nicht versuchen, das Ganze populistisch schlechtzureden –, dass wir im Ergebnis heute Abend einen Gesetzentwurf mit einem Änderungs- und einem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen verabschieden, die ein absolut gelungenes Gesamtpaket darstellen. Wir haben in dieser Legislaturperiode unsere Ziele bezüglich der Lkw-Maut erreicht. Aber wir haben auch eine sehr gute Position geschaffen für die nächsten Jahre. Abschließend ist es mir noch einmal wichtig, zu betonen: Wir wollen mit unserer Verkehrspolitik Mobilität ermöglichen, nicht Mobilität verhindern. Mobilität braucht Infrastruktur. Unsere wachsende Wirtschaft braucht Infrastruktur. Das ist zumindest für diejenigen, die außerhalb bestimmter ideologischer Kreise sind, eine Binsenweisheit. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dorothee Bär. – Nächster Redner: Herbert Behrens für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Herbert Behrens (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mühsam, unendlich mühsam war dieser Prozess, um zu dem Gesetzentwurf zu kommen, den wir heute vorliegen haben. Es geht um die Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen. Schon lange wird die Forderung von verschiedenen Parteien erhoben. Aber das ist auch das Einzige, was erhoben wird. Bislang wird die Maut nicht auf allen Bundesstraßen erhoben. Es könnte eigentlich ein ganz guter Tag sein – das wurde von Ihnen erwähnt, Frau Bär –, deswegen, weil er diese Entscheidung nach sich zieht. Mit der Mautausweitung wird endlich ein Wettbewerbsnachteil der Bahn beim Güterverkehr deutlich verringert; denn die Bahn muss bekanntlich für jeden gefahrenen Kilometer bezahlen. Das war bei den Lkw-Gütertransporten bislang nicht der Fall. Diese Ungleichbehandlung ist einer der Gründe dafür, dass in den letzten Jahren immer mehr Güter auf der Straße transportiert wurden und der Güterverkehr auf der Schiene stagniert. Ich bin sicher, dass wir hier im Parlament diesen Trend umkehren können, und die Mautausweitung ist ein erster Schritt in diese Richtung. Andere müssen noch folgen; das wissen wir, glaube ich. Dass dieser Weg beschritten werden muss, das wird jedem klar sein. Das hat ja die lange Diskussion über dieses Thema gezeigt. Wir wissen: Der massiv wachsende Straßengüterverkehr hat negative Folgen für Mensch und Umwelt; das kann niemand ernsthaft bestreiten. Das müssen wir jetzt ändern, damit wir auf unserem Weg weiterkommen. Aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail, und diese Details trüben dann doch die Genugtuung über den hier vorgelegten Gesetzentwurf. Es gibt eine lange Liste von Einwänden gegen dieses Gesetz und gegen die Mautpolitik der Bundesregierung. Ich will allerdings nur drei ansprechen. Meine Fraktion hat dies mit Anträgen unterlegt. Erstens. Wieder einmal konnte sich die Bundesregierung nicht dazu durchringen, auch die Fernbusse in die Mautpflicht zu übernehmen. Nun hat der Verkehrsminister nicht versucht, ausländische Busse in die Mautpflicht aufzunehmen; zum Glück ist er auf diese Idee nicht gekommen. Die Linke dringt weiterhin entschieden darauf, dass eine Maut für Fernbusse in dieses Gesetz aufgenommen wird. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eine Fernbusmaut ist sinnvoll, fair, gerecht und vor allen Dingen längst überfällig. Meine Hoffnung ist, dass unser vorliegender Änderungsantrag heute eine Mehrheit finden könnte – das ist ein Hinweis an die Kolleginnen und Kollegen der SPD –, wenn man sich auf die eigenen Vorschläge zurückbesinnen würde. (Michael Donth [CDU/CSU]: Ich glaube, nicht! – Gustav Herzog [SPD]: Herr Behrens, das geht an der Sache vorbei!) Zweitens. Man hätte mit dem Gesetzentwurf eine grundsätzliche Schwäche des deutschen Mautgesetzes beseitigen können, nämlich den Finanzierungskreislauf Straße. Dieser besagt, dass jeder Euro an Mauteinnahmen wieder in den Straßenbau zurückfließen soll, und das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, wirklich widersinnig, und es ist zynisch. (Michael Donth [CDU/CSU]: Zynisch?) Seit mehr als einem Jahr sind auch die Klimakosten des Lkw-Verkehrs Bestandteil der Lkw-Maut. Es kann nicht angehen, dass der Mautteilsatz für Klimaschäden des Straßengüterverkehrs dazu verwendet werden soll, die Grundlage für noch mehr Güterverkehr auf der Straße zu schaffen. Das ist doch wirklich widersinnig. Güterverkehr muss umweltverträglicher werden, und zwar sofort. (Beifall bei der LINKEN) Ein dritter ganz wesentlicher Punkt bei der Lkw-Maut ist die Frage, wie mit dem Mautbetreiber Toll Collect umgegangen wird. Der Bund hat sich entschieden, nach Vertragsende im Jahr 2018 beim Mautbetrieb wieder auf das private Unternehmen zurückzugreifen. Das ist aus Sicht der Linken völlig falsch. (Beifall bei der LINKEN) Wenn uns die Geschichte der Lkw-Maut eines gelehrt hat, dann das, dass man sich auf eine öffentlich-private Partnerschaft – und genau darum handelt es sich hier ja – nicht verlassen kann. Ich rede nicht davon, dass wir uns seit zehn Jahren bemühen, die 7 Milliarden Euro Mautausfall einzuklagen. Ich rede davon, dass Schluss gemacht werden muss mit öffentlich-privaten Partnerschaften. Wir sind der Meinung: Der Bund muss die Maut in Eigenregie übernehmen, damit es hier vorangehen kann. Darum werden wir uns bei der Abstimmung zum Gesetzentwurf, den wir im Kern gut finden und dem wir eigentlich zustimmen wollen, aufgrund der Mängel der Stimme enthalten. Wir können uns nicht durchringen, zuzustimmen. (Zuruf von Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD: Oh! Oh! – Sebastian Hartmann [SPD]: Aber nicht um diese Uhrzeit!) Denn aus einem krummen Antrag wird keine gerade Sache. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herbert Behrens. – Nächster Redner: Sebastian Hartmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sebastian Hartmann (SPD): Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was lange währt, wird endlich gut. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Fast! – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht gar nicht danach aus!) Angesichts der Aussagen, die von der Linken kommen, kann man sagen: Eine Enthaltung der Linken ist schon fast eine Zustimmung. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sie haben sich ja richtig viel Mühe geben müssen, um überhaupt etwas zu finden, was man kritisieren kann. Nun haben Sie sich für eine kräftige Enthaltung entschieden. Das ist ja richtig mutig in der Verkehrspolitik. Dabei ist Ihr Problem, dass Sie sich nicht einfach hinter den tollen Koalitionsvertrag stellen können. Denn wir haben eines klargemacht: Wir werden in den nächsten vier Jahren die Bundesmittel für die Verkehrsinfrastruktur substanziell erhöhen. Dies werden wir durch zusätzliche Mittel aus der Nutzerfinanzierung durch den Lkw ergänzen. Die bestehende Lkw-Maut wird auf alle Bundesstraßen ausgeweitet. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausländermaut! – Zuruf des Abg. Karl Holmeier [CDU/CSU]) Versprochen und gehalten; der Kollege Holmeier bringt es genau auf den Punkt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir als Große Koalition haben klare Aussagen getroffen, die wir eins zu eins eingehalten haben. Wir stellen neben die starke Säule der Steuerfinanzierung eine starke Säule der Nutzerfinanzierung. Was will man mehr? Sie haben große Mühe gehabt, Kritikpunkte zu finden. Lassen Sie uns doch einmal auf die positiven Seiten schauen: Wir werden in dieser Legislaturperiode so viel in die deutsche Infrastruktur investieren wie noch niemals zuvor. Morgen werden wir in der Debatte über den Bundesverkehrswegeplan deutlich machen, wo überall das Geld in die zukünftigen Infrastrukturen fließen wird. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, welche Wahlkreise!) – Sie kritisieren, dass das Geld in Wahlkreisen investiert wird. Aber, liebe Frau Kollegin, wir alle werden in Wahlkreisen gewählt oder nicht gewählt, (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber wir haben eine andere Verantwortung! – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben keine Sachkriterien!) und mit diesen Investitionen tun wir etwas für die Infrastruktur vor Ort. Das kann man doch nicht kritisieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Seien Sie froh, dass wir aus den Stauengpässen herauskommen und endlich in eine moderne Infrastruktur investieren können. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sie haben sich ja bemüht, bei der Lkw-Maut Kritikpunkte zu finden. Schauen wir einmal auf die positiven Punkte: Wir werden die Maut auf alle Bundesstraßen ausweiten. Wenn wir diese Maut auf alle Bundesstraßen ausweiten, dann kommen wir damit unserer Verantwortung nach. Wir werden auch die 8 Prozent der Bundesstraßen, die in der kommunalen Baulast liegen, einbeziehen und die Regelung so ausgestalten, dass die Länder ihren Anteil bekommen und an die Kommunen weiterreichen. Wir haben als Große Koalition den guten Entwurf der Bundesregierung als Ausgangspunkt genommen und ihn noch besser gemacht. Wir haben Daten zur Verfügung gestellt. Die mCLOUD ist von der Frau Staatssekretärin angesprochen worden. Ja, auch mit diesen Daten wird man Verkehre in Zukunft besser lenken können. Wir wissen, welche Daten bei der Lkw-Maut generiert werden, und wir stellen sie dem Verkehrssektor zur Verfügung. Wir haben darüber hinaus das Problem erkannt, dass durch eine ungleiche Anlastung der Kosten möglicherweise Erreichbarkeitsdefizite produziert werden, und zwar an abgelegenen Orten, die nur durch Bundesstraßen zu erreichen sind. Auch da haben wir als Große Koalition sehr deutlich gesagt: Wir wollen durch diese Maut keine falsche Lenkungswirkung erzeugen. Wir haben klar gesagt: Keine unterschiedlichen Mautteilsätze an der Stelle, sondern eine gerechte Anlastung. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Oppositionsvertreter mögen kritisieren, das sei nicht genügend Internalisierung der externen Kosten. Für alle, die nicht Verkehrspolitikerin oder Verkehrspolitiker sind – ich sehe davon wenige heute Abend im Plenum –, müsste ich jetzt sagen: Dabei geht es um die Frage, ob wir mehr in Sachen Luftschadstoffe und mehr in Sachen Lärm tun können. An dieser Stelle muss ich in Richtung der Linken, die immer behaupten, wir müssten mehr machen, sehr deutlich sagen: Sie müssen in die EU-Richtlinie schauen, die den Rechtsrahmen eindeutig vorgibt. Wir würden an der Stelle gerne weiter gehen, (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Der Rahmen sieht vor, dass mehr machbar ist!) und wir wünschen der Bundesregierung in den Verhandlungen mit Brüssel viel Erfolg. Wir wünschen ihr so viel Erfolg, wie sie in anderen Verhandlungen mit Brüssel schon hatte, damit die Lkw-Maut mit Blick auf die Internalisierung externer Kosten deutlich stärker ausgeweitet werden kann, weil man so endlich zu einer echten Vergleichbarkeit der Verkehrsträger Schiene und Straße käme. Das ist der Weg, den wir weitergehen werden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir werden an der Stelle nicht aufhören; denn es geht nicht darum, den einen Verkehrsträger ideologisch gegen den anderen auszuspielen. Hier kommt der zweite Punkt hinzu: Wir brauchen Verlässlichkeit. Wir führen auf der einen Seite, bei den Lkws, eine Ausweitung der Nutzerfinanzierung herbei, haben auf der anderen Seite, bei den Fernbussen, aber ein Moratorium für die Ausweitung der Maut zugesagt und klare Zusagen für diese Legislaturperiode gegeben. Wenn man in den Antragstext schaut, stellt man fest, dass es bei dem neuen Wegekostengutachten 2018 bis 2022 auch um die Prüfung der Ausweitung der Nutzerfinanzierung auf andere Verkehrsträger geht. (Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig!) Das ist mit dem Gewerbe vereinbart. Daran halten wir uns. Das ist verlässliche Politik. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir sind auch an einem anderen Punkt sehr verlässlich: Wir haben dem Gewerbe mit Blick auf die Nutzerfinanzierung eine Zusage zur Weitergabe der Mautharmonisierungsmittel gegeben. Wenn wir feststellen, dass aufgrund der Richtlinienstruktur möglicherweise nicht jeder Euro bei den Speditionen ankommt, obwohl wir in Deutschland das versprochen haben, dann handeln wir als Große Koalition. Schauen Sie in die Entschließung, die wir formuliert haben. Wir haben dort sehr deutlich formuliert: Jeder Euro, den wir dem Gewerbe zugesagt haben, wird ausgegeben, und wenn die Richtlinie nicht auskömmlich ist, dann wollen wir sie weiterentwickeln. Wir haben der Bundesregierung wichtige Hinweise gegeben und gesagt, was wir uns vorstellen: neue Fördertatbestände und eine einfachere Richtlinienstruktur, damit wir dem Ziel – 450 Millionen Euro für die deutschen Speditionen – immer näherkommen. Das ist eine Aussage; daran werden wir uns messen lassen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Damit sichern wir Tarifbeschäftigungsverhältnisse in Deutschland. Das Speditionsgewerbe ist ein gutes Gewerbe, das dazu beiträgt, dass im Industriestaat Deutschland auch zukünftig Waren vernünftig transportiert werden können. Wir kommen unserer Verantwortung nach. Nun wird man es sich als Opposition vielleicht einfach machen können und sagen: Das hätte alles noch schneller sein können. Das hätte noch mehr sein können. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Besser vor allen Dingen! Besser!) – Schauen Sie einmal: Wenn Herr Behrens das wirklich gedacht hätte, dann hätte er es ja gesagt. Er hat ja lange gesucht, bis er etwas gefunden hat, das er kritisieren konnte. Er hat nichts gefunden. Sie können doch zufrieden sein. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Dann haben Sie aber unsere Änderungsanträge nicht gelesen, Kollege Hartmann!) Denken Sie noch einmal einen Moment nach. Ändern Sie Ihren Entschluss, sich zu enthalten. Stimmen Sie heute zu. Dann können Sie nachher sagen: Es ist auch mithilfe der Linken geschehen, was die Große Koalition im Zusammenhang mit der Lkw-Maut an guten Sachen vorweggenommen hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Wenn Sie dem Änderungsantrag zustimmen, können wir das machen!) Ich glaube, dass es ein guter Tag für die Verkehrsinfrastrukturfinanzierung in Deutschland ist. Wir stellen neben die starke Säule der Steuerfinanzierung eine starke Säule der Nutzerfinanzierung. Das ist verantwortungsvolle Verkehrspolitik. (Die Verblendung eines Sitzplatzes in den Reihen der CDU/CSU-Fraktion fällt zu Boden) – Jetzt bricht schon das Plenum zusammen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Es wird schon randaliert. (Heiterkeit) Sebastian Hartmann (SPD): Aber auch das werden wir zukünftig finanzieren können, meine Damen und Herren. Denn so viel Geld wie jetzt stand noch nie zur Verfügung. (Gustav Herzog [SPD]: Das Geld brauchen wir morgen!) Daher können wir morgen guten Gewissens den Bundesverkehrswegeplan 2030 beschließen. Das Geld ist da. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, lieber Sebastian Hartmann. – Hier gilt das Verursacherprinzip. Ich sage Ihnen: Das wird teuer. (Heiterkeit) Nächste Rednerin in der Debatte: Dr. Valerie Wilms für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Nach diesem impulsiven Auftritt von Herrn Hartmann bleibt morgen vielleicht noch ein bisschen Geld übrig, um das zu reparieren, was dort auf der Koalitionsseite zerlegt worden ist. (Gustav Herzog [SPD]: Auf der Unionsseite! Fürs Protokoll! – Sebastian Hartmann [SPD]: Das wollte ich wirklich nicht!) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird durchaus ein Beitrag geleistet, die längerfristige Erhaltung der Verkehrswege in den nächsten Jahren sicherzustellen. Das ist heute tatsächlich mal eine gute Nachricht aus Richtung der Bundesregierung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sonst finden wir da ja nicht allzu viel Gutes. Durch die überfällige Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen bleiben rund 2 Milliarden Euro mehr für den Erhalt des Gemeingutes Straße. So weit, so gut. Doch mit dem heutigen Tag gesellt sich trotz allen Jubels über zusätzliche Einnahmen durch die Lkw-Maut, der hier herrscht, eine schlechte Nachricht für die Finanzierung unserer Infrastruktur hinzu. Die Zeitungen titeln heute, dass die EU-Kommission möglicherweise grünes Licht für die CSU-Maut gibt. (Karl Holmeier [CDU/CSU]: Gut so!) Manch einer erinnert sich: Das war die bayerische Biertischidee einer Pkw-Maut für Ausländer aus dem letzten Wahlkampf. Doch die Bedenken sind mit dem Segen der EU-Kommission noch nicht ausgeräumt. Es stellen sich weiterhin wichtige Fragen: Wird diese Pkw-Maut ausländische Fahrzeughalter diskriminieren? Wird kein deutscher Fahrzeughalter schlechtergestellt? (Sebastian Hartmann [SPD]: Es gilt der Koalitionsvertrag!) – Kollege Hartmann, ich bin gespannt, wie sich die SPD aus diesem Koalitionsvertrag herauswinden wird. Die Quadratur des Kreises funktioniert nicht. Das werden auch Sie noch erleben. Es heißt weiterhin: Ihre Pkw-Maut bleibt Murks. Die Planungen dazu haben das Ministerium jahrelang für wirklich vernünftige Arbeit blockiert. So kann man keine Regierungsgeschäfte führen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jetzt kommen wir zur Ausweitung der Lkw-Maut. Auch dort legen Sie mal wieder eine halbgare Lösung vor. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie haben es verpasst, die innerörtlichen Ausweichverkehre ernsthaft zu verhindern. Hier brauchen Sie dringend eine echte Lösung. Die finden wir nicht in Ihrem Gesetzentwurf. In Ihrem System gibt es nämlich einen Grundfehler: Sie hören mit der Lkw-Maut nicht vor geschlossenen Ortschaften auf. Sie wollen die Maut auch in der Ortsdurchfahrt auf Bundesstraßen erheben. Die Maut wird dann auf den innerörtlichen Bundesstraßen fällig. Auf Landes- und Gemeindestraßen wird dort keine Maut erhoben. Das führt zwangsläufig zu Ausweichverkehren. Das beste Beispiel dafür habe ich Minister Dobrindt – Frau Bär war leider nicht da – im Fall von Hamburg mit der Stresemannstraße, einer Bundesstraße, und der parallel verlaufenden Reeperbahn gezeigt. Viel Spaß! (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD – Sebastian Hartmann [SPD]: Da darf man künftig auch Maut erheben?) Ein Konzept, wie Sie dem wirksam begegnen wollen, (Zuruf von der SPD: Da fahren doch die ganzen Cabrios! – Sebastian Hartmann [SPD]: Mit dem Lkw auf die Reeperbahn! – Heiterkeit bei der SPD) fehlt komplett. Das hat auch die Anhörung im Ausschuss gezeigt. Sie müssen aufpassen, dass Sie mit Ihrem Schnellschuss sinnvolle Systeme für eine Nutzermitfinanzierung bei kommunalen Straßen nicht von vornherein blockieren. Ein weiterer Aspekt zeigt die Inkonsequenz Ihres Handelns: Da basteln Sie in der Ausschlussberatung noch schnell eine Befreiung für landwirtschaftliche Zugmaschinen im gewerblichen Güterverkehr von der Maut ein. Ich habe das jetzt einmal ziemlich deutlich zitiert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Befreiung ist Unfug, echter Unfug. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bereits heute werden landwirtschaftliche Fahrzeuge im Baustellenverkehr anstelle von Baustellen-Lkws eingesetzt. Fahren Sie einmal durch die Baustellen, Herr Hartmann, von denen Sie in Nordrhein-Westfalen genug haben müssten. (Sebastian Hartmann [SPD]: NRW kommt voran!) Sie schaffen so offenen Auges eine Ungleichbehandlung zulasten der gewerblichen Transportunternehmen. (Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt doch gar nicht!) Ich bin gespannt, was die in Zukunft dazu sagen werden. Mein Rat: Verlieren Sie vor lauter sinnloser Planung um die Pkw-Maut nicht den Blick auf das Gesamtsystem. – Ich habe den Eindruck, das Ministerium will unseren Rat sowieso nicht hören. Die Mautlücke für Fahrzeuge zwischen 3,5 und 7,5 Tonnen muss auch geschlossen werden. Wir müssen auch die Fernbusse in das System einbeziehen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Sie müssen jetzt an Ihre Zeit denken. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Werte Frau Präsidentin, die Ausdehnung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen ist im Grundsatz richtig. Da gehen wir durchaus mit allen hier mit. Aber aufgrund der handwerklichen Fehler, die ich aufgezeigt habe, ist Schluss mit lustig, und wir werden dem garantiert nicht zustimmen. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Valerie Wilms. Der letzte Redner in dieser Debatte – ich gehe davon aus: des heutigen Abends –: Thomas Jarzombek für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist das Ende eines Tages, der ein sehr trauriger Tag für uns ist. Ich schaue auf den Blumenstrauß. Mit Peter Hintze ist ein Kollege von uns gegangen, der eine Lücke hinterlässt, von der ich noch nicht weiß, wie wir sie füllen wollen. Aber das Leben geht weiter – wie auch immer. Vielleicht mahnt das, in der Debattenkultur ein bisschen auf die Werte zu achten, die Peter Hintze vorgelebt hat, und nicht immer alles zum Klamauk zu machen und nicht immer zu versuchen, aus kleinen Dingen große Skandale zu konstruieren. Das bringt mich jetzt zu der Lkw-Maut, über die wir heute Abend beraten. Die Maut hat bei ihrer Einführung 2003 leider nicht das Vertrauen der Menschen in den Staat gestärkt, weil es nicht funktioniert hat und weil dafür vielleicht das Gleiche gilt wie für so manches andere große Projekt: Man hat zu viel gewollt, ein zu großes Gerät gebaut und einen zu optimistischen Ansatz gehabt, in welcher Zeit man das schaffen kann. Die Lkw-Maut ist aber auch ein Zeichen dafür, dass man die Probleme lösen kann. Daraus ist ein großer Erfolg entstanden. Nach der anfänglichen Verzögerung haben wir seit 2005 ein Mautsystem, das extrem gut ist, extrem zuverlässig funktioniert, das über alle Zweifel erhaben ist und das uns jedes Jahr kontinuierlich gute Einnahmen für unseren Verkehrshaushalt bringt. Sie sind auch richtig. So schön es ist, Frau Kollegin Wilms von den Grünen, dass Sie hier über die Pkw-Maut reden – mit der Lkw-Maut liefern wir den Beitrag dazu, dass unsere Verkehrsinfrastruktur von denjenigen finanziert wird, die den Verschleiß verursachen. Denn der Verschleiß auf der Straße wird im Wesentlichen durch die Lkws verursacht. (Zuruf von der SPD: So ist es!) Deshalb ist es gerecht, dass diese zur Refinanzierung herangezogen werden. Wir haben im Jahr 2015  4,4 Milliarden Euro über die Lkw-Maut eingenommen. Wir erwarten jetzt 4,5 Milliarden Euro. Wir haben im letzten Jahr zum 1. Juli weitere 1 100 Kilometer vierspurige Bundesstraßen für die Mautpflicht vorgesehen. Wir haben seit dem 1. Oktober auch die Lkws ab 7,5 Tonnen einbezogen. Was wir jetzt machen, ist eine Ausweitung auf das gesamte Netz der Bundesfernstraßen. Das bringt uns weitere 2 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist ein großer Erfolg. Man kann es sehen. Selbst in Nordrhein-Westfalen mit den sehr rudimentären Planungskapazitäten wird jetzt gebaut. (Sebastian Hartmann [SPD]: Sie brauchen NRW nicht zu hauen! Freuen Sie sich darüber, dass die Investitionen kommen!) Es ist auf einmal Geld im Haushalt vorhanden. Während wir in der letzten Legislaturperiode jedes Jahr darum gerungen haben, die Investitionslinie von 10 Milliarden Euro zu halten, sind wir jetzt bei fast 13 Milliarden Euro und haben weitere 5 Milliarden Euro für das ganz neue Breitbandförderprogramm, von dem wir alle inzwischen überzeugt sind, dass das nicht das Ende, sondern der Anfang ist und dass wir – so schreibt es auch der Bundesminister in seiner Agenda – Breitbandausbau weiter finanzieren müssen. Das finde ich sehr richtig. Wir haben bei der Lkw-Maut etwas Weiteres geschafft, nämlich – was die Bundeskanzlerin hier an verschiedener Stelle schon gesagt hat – den falsch verstandenen Datenschutz erfolgreich bekämpft. Neben vielen anderen Aspekten ist es immer so gewesen, dass wir gute Daten für die Entwicklung unserer Verkehrsinfrastruktur aus der Lkw-Maut, von den On-Board-Units, hatten, die nie genutzt wurden, deren weitere Nutzung per Gesetz verboten war, weil immer behauptet wurde, es sei mit dem Datenschutz nicht vereinbar. Da bedanke ich mich bei den Ministerien, dass sie mit vielen konstruktiven Gesprächen mit den Datenschutzbehörden, aber auch mit Anwendern, mit Verkehrsforschern herausgearbeitet haben, dass diese Daten, wenn man sie anonymisiert, sehr wohl für Verkehrsforschung und für Verkehrssteuerung nutzbar sind. Ich finde es wirklich großartig, dass das Verkehrsministerium als das erste Haus beim Thema Open Data richtig vorangegangen ist, mit der mCLOUD ein Portal zur Verfügung gestellt hat, wo Verkehrsdaten, Wetterdaten – alles Mögliche – zur Verfügung gestellt werden für Start-ups, für Hochschulen, für alle, die damit Innovationen machen wollen. Dass jetzt die Daten der Lkw-Maut ebenfalls dort hineinkommen, ist ein großer Erfolg von langer, langer Arbeit und ein Vorbild für alle anderen Projekte des Bundes; denn diese Koalition hat sich in ihrem Vertrag darauf verständigt, ein Open-Data-Gesetz noch in dieser Wahlperiode vorzulegen. Die Bundeskanzlerin hat an dieser Stelle angekündigt, dass wir das noch tun werden. Die Eckpunkte sind bereits da, und ich glaube, dass das, was wir jetzt hier mit den Daten der Lkw-Maut machen, ein gutes Vorbild für alle anderen Daten ist, die der Staat hat, mit denen wir eine Menge neuer Arbeitsplätze schaffen können. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat eine Studie erstellt, die besagt: 40 000 neue Arbeitsplätze sind damit möglich. – Das ist eines von vielen kleinen Beispielen, mit denen man vielleicht nicht Diskussionen am Stammtisch gewinnen kann, die aber dazu beitragen, dass wir in Deutschland weiter wirtschaftlich erfolgreich bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb freue ich mich, dass unser Paket so gut ist, dass sogar die Opposition nicht dagegen stimmt. Das ist doch ein gutes Zeichen für Zusammenhalt und konstruktive Arbeit. Dafür bedanke ich mich und freue mich, dass wir hier etwas Gutes schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10440, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9440 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor, über die wir zuerst abstimmen: Änderungsantrag auf Drucksache 18/10497. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die Linke, dagegen waren SPD und CDU/CSU. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen. Änderungsantrag auf Drucksache 18/10498. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen gibt es keine. Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt haben die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen haben CDU/CSU und SPD gestimmt. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Dagegengestimmt hat niemand. Enthalten haben sich die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Dagegengestimmt hat niemand. Enthalten haben sich die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei der CDU/CSU) Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10440 empfiehlt der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die CDU/CSU und die SPD. Dagegengestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat sich die Linke. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/10499. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die Linke. Dagegengestimmt haben die CDU/CSU und die SPD, und enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA-Neuordnungsgesetz – FMSANeuOG) Drucksachen 18/9530, 18/9955, 18/10307 Nr. 1 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Drucksache 18/10501 Die Reden gehen zu Protokoll.11 Wir kommen direkt zur Abstimmung. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10501, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/9530 und 18/9955 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben die CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und die SPD. Dagegen war die Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Dann gibt es keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben die CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und die SPD. Dagegen war die Linke. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Erlass und zur Änderung marktordnungsrechtlicher Vorschriften sowie zur Änderung des Einkommensteuergesetzes Drucksache 18/10237 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Drucksache 18/10468 – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10502 Auch dazu gehen die Reden zu Protokoll.12 Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10468, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/10237 in der Ausschussfassung anzunehmen. Die Fraktion Die Linke hat beantragt, über den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung getrennt abzustimmen, und zwar zum einen über Artikel 3 – Änderung des Einkommensteuergesetzes – und zum anderen über den Gesetzentwurf im Übrigen. Wir kommen also zunächst zu Artikel 3 des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die Artikel 3 in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Artikel 3 ist angenommen mit Zustimmung der CDU/CSU und der SPD bei Gegenstimmen von der Linken und Bündnis 90/Die Grünen. Wir kommen nun zu den übrigen Teilen des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die übrigen Teile des Gesetzentwurfs sind angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Niemand hat dagegengestimmt. Damit sind alle Teile des Gesetzentwurfs in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Enthalten haben sich die Linken und Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Energiestatistikgesetzes (EnStatG) Drucksache 18/10350 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Innenausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Auch dazu gehen die Reden zu Protokoll.13 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/10350 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Heute Abend gibt es sicher keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbereitung eines registergestützten Zensus einschließlich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2021 (Zensusvorbereitungsgesetz 2021 – ZensVorbG 2021) Drucksachen 18/10458, 18/10484 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Auch dazu gehen die Reden zu Protokoll.14 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 18/10458 und 18/10484 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes Drucksache 18/10455 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben werden. – Sie sind alle damit einverstanden.15 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/10455 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 2. Dezember 2016, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Restabend. Ich bedanke mich bei meinen beiden Schriftführerinnen, bei der Kollegin auf der Regierungsbank; danke, Frau Bär. Vor allem bedanke ich mich bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Hauses, die noch so lange gearbeitet haben, und auch bei den Kameraleuten. Guten Abend! (Schluss: 23.06 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Barthle, Norbert CDU/CSU 01.12.2016 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 01.12.2016 Bülow, Marco SPD 01.12.2016 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 01.12.2016 Dörner, Katja BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 01.12.2016 Ernst, Klaus DIE LINKE 01.12.2016 Ernstberger, Petra SPD 01.12.2016 Fabritius, Dr. Bernd CDU/CSU 01.12.2016 Ferner, Elke SPD 01.12.2016 Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 01.12.2016 Groth, Annette DIE LINKE 01.12.2016 Hendricks, Dr. Barbara SPD 01.12.2016 Högl, Dr. Eva SPD 01.12.2016 Jung, Andreas CDU/CSU 01.12.2016 Kunert, Katrin DIE LINKE 01.12.2016 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 01.12.2016 Möhring, Cornelia DIE LINKE 01.12.2016 Müller, Dr. Gerd CDU/CSU 01.12.2016 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 01.12.2016 Pilger, Detlev SPD 01.12.2016 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 01.12.2016 Schlecht, Michael DIE LINKE 01.12.2016 Schulze, Dr. Klaus-Peter CDU/CSU 01.12.2016 Schwartze, Stefan SPD 01.12.2016 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 01.12.2016 Strebl, Matthäus CDU/CSU 01.12.2016 Tank, Azize DIE LINKE 01.12.2016 Thönnes, Franz SPD 01.12.2016 Wawzyniak, Halina DIE LINKE 01.12.2016 Zeulner, Emmi * CDU/CSU 01.12.2016 Zypries, Brigitte SPD 01.12.2016 *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Ekin Deligöz, Katharina Dröge, Harald Ebner, Kai Gehring, Bärbel Höhn, Katja Keul, Sven-Christian Kindler, Maria Klein-Schmeink, Sylvia Kotting-Uhl, Monika Lazar, Dr. Tobias Lindner, Peter Meiwald, Beate Müller-Gemmeke, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Dr. Julia Verlinden und Beate Walter-Rosenheimer (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) (Tagesordnungspunkt 3 a) Seit bekannt wurde, welche Neuregelungen die Große Koalition mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) treffen möchte, protestierten Menschen mit und ohne Behinderungen: Sie haben sich vor dem Reichstag ans Ufer der Spree gekettet, wochenlang vor dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales protestiert, für die erfolgreichste ihrer zahlreichen Petitionen mehr als 330 000 Unterzeichnende gefunden und zu Tausenden im ganzen Land protestiert. Sie haben damit ihren Protest gegen ein Gesetz zum Ausdruck gebracht, das die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nur in wenigen Bereichen stärkt und mit dem viele behinderte Menschen nicht wie versprochen besser, sondern teils sogar schlechter dastehen als bisher. Dabei wäre es höchste Zeit für einen weiteren Schritt in diese Richtung. Schon im letzten Jahr hatte der zuständige Fachausschuss der Vereinten Nationen ein harsches Urteil zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland gefällt: Behinderte Menschen können in Deutschland ihre Menschenrechte nicht im vollen Umfang wahrnehmen. Die Expertinnen und Experten der Vereinten Nationen sahen erheblichen Handlungsbedarf und äußerten für einige Bereiche sogar große Sorge. Kritisch sahen sie unter anderem die hohe Zahl der behinderten Menschen, die in Wohnheimen lebt und den Mangel an alternativen Wohnmöglichkeiten. Auch die Tatsache, dass behinderte Menschen Teilhabeleistungen selbst mitfinanzieren müssen, hob der Fachausschuss negativ hervor. Auch mit dem Teilhabegesetz bleibt es möglich, dass die Leistungsträger behinderte Menschen zum Wohnen in einem Wohnheim zwingen, indem sie andere Unterstützungsleistungen verweigern. Es ist zwar anzuerkennen, dass die Freibeträge für den Einsatz von Einkommen und Vermögen angehoben und Partnerinnen und Partner freigestellt werden. Der Grundsatz, dass behinderte Menschen selbst für den Ausgleich ihrer gesellschaftlichen Ausgrenzung zahlen müssen, bleibt aber bestehen. Mit der neuen unabhängigen Beratung oder der bundesweiten Einführung des Budgets für Arbeit sind an einigen Stellen positive Regelungen zu finden. Im Lichte der Herausforderung, die mit der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention verbunden ist, wirkt das aber kleinlich. Das Bundesteilhabegesetz ist das wichtigste behindertenpolitische Vorhaben, seit vor 15 Jahren mit dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX) von der damaligen rot-grünen Koalition erste Schritte unternommen wurden, die Rechte behinderter Menschen und ihren Anspruch auf Teilhabe in den Vordergrund zu stellen. Das Teilhabegesetz wird dem selbstgesteckten Anspruch der Koalition, einen entscheidenden Beitrag zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention zu leisten, nicht gerecht. Trotz allem erkennen wir an, dass die Fraktionen von SPD und Union in letzter Minute einige der Forderungen behinderter Menschen und ihrer Verbände aufgenommen haben. Wir sind dankbar für das Engagement und den Elan, den behinderte Menschen und ihre Unterstützer im Abwehrkampf gegen einen katastrophalen Entwurf aufgebracht haben. Das hat zu einigen Verbesserungen am Entwurf geführt. Trotzdem können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir sehen ihn im Gegenteil als Auftrag, nach der Bundestagswahl mit neuem Schwung die Aufgabe anzugehen, vor die uns die Behindertenrechtskonvention stellt. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) zu der Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III) (Tagesordnungspunkt 4 a) Heute stehen die Regelungen des Pflegestärkungsgesetzes III auf der Tagesordnung, die in Verbindung mit dem Bundesteilhabegesetz das größte sozialpolitische Vorhaben der Koalition sind. Im Pflegestärkungsgesetz III finden sich neben den Regelungen zur kommunalen Verankerung der Pflege wichtige Regelungen zur Schnittstelle von Eingliederungshilfe und Pflege für Menschen mit Behinderung. Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, die Regelung des § 43a SGB XI abzuschaffen oder zumindest auslaufen zu lassen. Völlig inakzeptabel ist die nun beabsichtigte Ausweitung dieser Regelung – auch wenn diese Ausweitung größtenteils zurückgenommen wurde. Die Abgeltung von individuell erworbenen Pflegeversicherungsansprüchen über einen Pauschalbetrag entspricht nicht mehr der Lebenswirklichkeit in den stationären Einrichtungen und sollte beendet werden. Angesichts der weiteren Änderungen im Pflegestärkungsgesetz III, die den Gleichrang der Pflege beibehalten und insoweit eine bedarfsgerechte Versorgung von Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf möglich machen, werde ich dem Gesetz dennoch zustimmen. Ich gehe davon aus, dass wir in Zukunft erneut über die Regelung des § 43a SGB XI diskutieren werden. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen: Verordnung zur Förderung der Transparenz auf dem Telekommunikationsmarkt (TK-Transparenzverordnung – TKTransparenzV) (Tagesordnungspunkt 15) Hansjörg Durz (CDU/CSU): Heute ist ein guter Tag für den Nutzer von Telekommunikationsdiensten in Deutschland. Mit der Verabschiedung der TK-Transparenzverordnung geben wir dem Verbraucher endlich ein rechtssicheres Instrumentarium in die Hand, das ihm Transparenz über die von ihm in Anspruch genommene Telekommunikationsleistung bietet. Die heute von uns zu verabschiedende Regelung hat ihren Ursprung in mehreren, in den vergangenen Jahren festgestellten Defiziten: Erstens. Messstudien zur Dienstqualität breitbandiger Internetzugänge haben ergeben, dass im Verhältnis von vertraglich vereinbarten Datenübertragungsraten zu tatsächlich gelieferten Datenübertragungsraten über alle Technologien, Produkte und Anbieter zum Teil erhebliche Diskrepanzen existieren. Einfach ausgedrückt: Beim Kunden kommt weniger an als vertraglich vereinbart. Zweitens. Analysen von Telekommunikationsverträgen haben ergeben, dass viele Anbieter dazu gar keine oder nur wenig belastbare Aussagen zur realisierbaren Datenübertragungsrate tätigen. Einfach gesagt: Der Kunde weiß gar nicht, mit welcher Leistung er konkret rechnen darf. Drittens. kam es in der Vergangenheit häufig zu Verbraucherbeschwerden insbesondere im Telekommunikationsbereich, beispielsweise in Bezug auf Kündigungstermine und verbrauchte Datenvolumina. Auf diese Missstände nimmt die Verordnung direkt Bezug: Erstens. Die Verordnung sieht die Verpflichtung zur Bereitstellung eines anbieterübergreifend einheitlich gestalteten Produktinformationsblattes vor, und zwar vor Vertragsschluss. Damit sollen Endkunden in die Lage versetzt werden, sich vorab über wesentliche Vertragsbestandteile zu informieren. Dies schafft für den Endkunden ein hohes Maß an Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit bereits vor Vertragsschluss. Das Produktinformationsblatt ist – auch auf Wunsch der Verbraucherschutzverbände – bewusst schlank gehalten und erfasst nur die wesentlichen Vertragsinhalte. Dazu zählen der Preis, die Vertragslaufzeit sowie die Angabe der minimalen, der normalerweise zur Verfügung stehenden und der maximalen Datenübertragungsrate. Die Bestandteile des Musterinformationsblatts, das zukünftig als Grundlage für eine einheitliche Vermittlung gegenüber den Kunden dienen soll, wurde in enger Abstimmung zwischen Bundesnetzagentur und der TK-Branche erarbeitet. Wir haben dabei darauf geachtet, dass die in der Telekommunikationsbranche tätigen Unternehmen nicht über Gebühr belastet werden, ohne das Niveau der Verbraucherinformation zu verwässern. Die Anbieter dürfen nicht weniger, aber auch nicht mehr in das Produktinformationsblatt schreiben, als es § 1 der TK-Transparenzverordnung vorgibt. Ziel ist es, eine Informationsüberflutung des Verbrauchers zu vermeiden. Zweitens. Durch die Transparenzverordnung wird die Bereitstellung eines Messsystems festgeschrieben, welches es dem Endkunden nach erfolgter Anschlussschaltung ermöglicht, vertraglich vereinbarte Datenübertragungsraten auch zu überprüfen. Dabei kann der TK-Anbieter entweder auf das Messangebot der Bundesnetzagentur (www.breitbandmessung.de) zurückgreifen oder ein eigenes implementieren. Die Messergebnisse müssen für den Kunden speicherbar sein und im Online-Kundencenter hinterlegt werden können. So versetzen wir den Kunden in die Lage, ohne größeren Aufwand Messreihen zu bilden, diese zu dokumentieren und somit leichter als bisher Leistungsmängel gegenüber seinem Anbieter zu beanstanden. Zudem sind die TK-Anbieter ausdrücklich dazu verpflichtet, ihre Kunden über die Möglichkeit zur Nutzung eines Messsystems zu informieren. Drittens. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Verpflichtung für den Anbieter, zukünftig auf der Monatsrechnung für den Verbraucher relevante Vertragsdaten abzudrucken. Dazu zählt das aktuelle Kündigungsdatum genauso wie im Bereich des Mobilfunks das monatlich verbrauchte Datenvolumen. Das Ende der Mindestvertragslaufzeit war bislang in vielen Fällen für die Endnutzer nur schwer zu ermitteln. Durch die neue Regelung wird eine zuverlässige und für den Verbraucher praktikable Informationsmöglichkeit geschaffen. Die Kenntnis des verbrauchten Datenvolumens versetzt den Verbraucher wiederum in die Lage, seinen Vertrag nach seinen Bedürfnissen anzupassen. Viertens. Gleichzeitig legt die Verordnung Bußgelder fest, die dann erhoben werden, wenn die geforderten Maßnahmen nicht rechtzeitig, vollständig oder zufriedenstellend umgesetzt werden. Die genannten Elemente erreichen genau das Ziel der Transparenzverordnung, nämlich Transparenz für die Verbraucher zu schaffen. Im parlamentarischen Verfahren drehte sich hingegen vieles um die Frage, ob sektorspezifische Schadensersatz- oder Kündigungsregelungen für den TK-Bereich durch die Verordnung implementiert werden können. Schon bereits aufgrund einer mangelnden Rechtsgrundlage durch das TKG ist dies zu verneinen. Dies wurde in der öffentlichen Anhörung mehrfach bestätigt. Aber auch aus rein praktischen Erwägungen scheidet eine derartige Implementierung aus. Vor dem Hintergrund des bereits geltenden Zivilrechts sind Telekommunikationsdienstverträge als Dauerschuldverhältnisse im BGB geregelt. Damit existieren bereits heute grundsätzlich Schadensersatz- und Kündigungsrechte, sofern vertragskonforme Leistungen nicht bereitgestellt werden. Und diese Ansprüche kann der Kunde auf dem Zivilrechtsweg verfolgen und damit vor ordentlichen Gerichten durchsetzen. Das intendierte Ziel der Transparenzverordnung ist der informierte Verbraucher. Dieser erhält zukünftig transparente, vergleichbare, ausreichende und aktuelle Informationen auf Basis einer klaren, verständlichen und leicht zugänglichen Form. Das ist der Mehrwert der Transparenzverordnung, den wir durch Produktinformationsblatt, Messtool, Abdruck der Vertragslaufzeit und Kontrolle bei ungewöhnlich hohem Datenverbrauch befördern. Wir schaffen dadurch die Voraussetzungen für einen echten Qualitätswettbewerb, bei dem die Kunden wissen, was sie bei den einzelnen Anbietern erhalten und dementsprechend dann auch ihren Anbieter auswählen können. Wettbewerb durch Transparenz! Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Ausblick geben. Seit April 2016 findet europaweit die sogenannte TSM-Verordnung unmittelbare Anwendung, mit der die Bereiche Netzneutralität und Roaming adressiert werden. Gewissermaßen das Herzstück der Verordnung in Sachen Mindestqualität stellt dabei der Artikel 4 der TSM-Verordnung dar. Dieser gibt TK-Anbietern unter anderem vor, in ihren Verträgen klar und verständlich zu erläutern, „wie hoch die minimale, die normalerweise zur Verfügung stehende, die maximale und die beworbene Download- und Upload-Geschwindigkeit von Internetzugangsdiensten bei Festnetzen oder die geschätzte maximale und die beworbene Download- und Upload-Geschwindigkeit von Internetzugangsdiensten bei Mobilfunknetzen ist und wie sich erhebliche Abweichungen von der jeweiligen beworbenen Download- und Upload-Geschwindigkeit auf die Ausübung der Rechte der Endnutzer ... auswirken könnten.“ Damit die Bundesnetzagentur etwaige Verstöße gegen diese Transparenzvorschriften sanktionieren kann, benötigt sie entsprechende Sanktionsmechanismen wie Buß- und Zwangsgelder. Diese Sanktionsmechanismen sollen mit dem 3. TKG-Änderungsgesetz geschaffen werden. Der Gesetzentwurf wird, wie Sie wissen, derzeit im Wirtschaftsausschuss beraten. Dieses Grundkonzept der europäischen Verordnung mit Transparenz in Kombination mit Sanktionsmöglichkeiten durch die Bundesnetzagentur, wenn es zu Verstößen kommt, halte ich für überzeugend. Man muss beides in Zusammenhang sehen: die Vorgaben der TSM-Verordnung in Kombination mit der Transparenz durch die Transparenzverordnung. Wenn der Kunde weiß, was ihm zusteht, und er nachprüfen kann, was er bekommt, ist der Weg zu einem echten Qualitätswettbewerb geebnet. Heute geht es um Transparenz. Und diese schaffen wir in einem ersten Schritt durch die Verabschiedung dieser gelungenen Verordnung. Klaus Barthel (SPD): Gleich am Anfang der vorliegenden Verordnung zur Förderung der Transparenz auf dem Telekommunikationsmarkt (TK-Transparenzverordnung) steht unter „Problem und Ziel“ völlig zutreffend: „Die Bundesnetzagentur hat seit Inkrafttreten der TKG-Novelle im Endkundenmarkt insbesondere untersucht, welche Informationen Anbieter zu stationären und mobilen Breitbandanschlüssen geben. Dabei stand das Verhältnis der vertraglich vereinbarten Datenübertragungsrate und der tatsächlich gelieferten Datenübertragungsrate im Fokus. Eine Messstudie zur Dienstqualität breitbandiger Internetzugänge hat ergeben, dass es in dieser Hinsicht über alle Technologien, Produkte und Anbieter hinweg eine deutliche Diskrepanz gibt. Gleichzeitig hat die Studie deutlich gemacht, dass Transparenz bei der Leistungserbringung einen großen Einfluss auf die Kundenzufriedenheit hat.“ Das Problem ist also schon lange bekannt und belegt. In seiner Sitzung vom 24. Juni 2013 hat der Beirat bei der Bundesnetzagentur festgehalten: „Der Beirat stellt fest, dass die Messstudie ‚Dienstequalität bei Breitbandzugängen‘ und die Auswertung der Vertragsbedingungen eine deutliche Diskrepanz zwischen vermarkteter und tatsächlich erreichter Datenübertragungsrate aufzeigen. Der Beirat begrüßt, dass die Bundesnetzagentur einen Eckpunkteentwurf vorgelegt hat, um die Transparenz im Endkundenmarkt zu fördern. Vorrangiges Ziel muss es dabei sein, dem Endkunden Transparenz darüber zu verschaffen, welche Datenübertragungsrate (Mindestbandbreite) mit ihm vom TK-Unternehmen vereinbart wird und wie er in technisch einfacher Form kontrollieren kann, ob diese Rate auch tatsächlich zur Verfügung steht. Zugleich müssen Sanktionsmechanismen für den Fall einer Abweichung entwickelt werden. Insofern bittet der Beirat die Bundesnetzagentur, von ihren Befugnissen nach § 41a Absatz 2 TKG sowie § 43a Absatz 1 Nr. 2 und Absatz 2 Nr. 3 TKG Gebrauch zu machen. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie wird gebeten, zu prüfen, ob dieses Vorgehen der Bundesnetzagentur durch Erlass einer Verordnung gemäß § 45n TKG unterstützt werden kann.“ Diese Verordnung liegt nun – immerhin drei Jahre später – endlich vor. Schon 2013 war völlig klar: Der Endkunde braucht Transparenz, welche Datenübertragungsrate vertraglich vereinbart wurde und wie er in technisch einfacher Form kontrollieren kann, ob diese Rate auch tatsächlich zur Verfügung steht. Die jetzt vorliegende Verordnung ist ausdrücklich zu begrüßen: Wenn in Zukunft auf jeder Monatsrechnung der Ablauf der Mindestvertragslaufzeit erscheint, hilft dies dem Kunden bzw. Endnutzer, den Überblick zu bewahren. Ebenso dient es der Transparenz, wenn der Verbraucher bzw. Endnutzer eine transparente Informationsmöglichkeit eingeräumt bekommt im Hinblick auf sein bislang verbrauchtes Datenvolumen – auf mindestens tagesaktueller Basis und nach Ende des vereinbarten Abrechnungszeitraumes im Wege einer Gegenüberstellung des vertraglich vereinbarten und des tatsächlich verbrauchten Datenvolumens. Besonders hervorzuheben ist hier aber das Produktinformationsblatt, das die Anbieter dem Verbraucher bzw. Endnutzer in Zukunft vor Vertragsschluss zur Verfügung stellen müssen. Es muss die wesentlichen Vertragsbestandteile aufzeigen: Vertragslaufzeiten; minimale, normalerweise zur Verfügung stehende und maximale Datenübertragungsrate; Rahmenbedingungen zu einer etwaigen Reduzierung der Datenübertragungsrate („Drosselung“). Diese Angaben sind auch in den individuellen Verträgen deutlich hervorzuheben. Vor allem die Angaben zur minimalen, normalerweise zur Verfügung stehenden und zur maximalen Datenübertagungsrate sollen dabei helfen, dass in Zukunft die erheblichen Abweichungen zwischen der in der Werbung versprochenen, der vertraglich zugesagten und der tatsächlichen Datenübertragungsrate ermittelt und nachgewiesen werden können. Dafür ist es unerlässlich, dass der Verbraucher bzw. Endnutzer einen Rechtsanspruch auf Information zur aktuellen Datenübertragungsrate seines Mobilfunk- bzw. Festnetzanschlusses erhält – so, wie es die Verordnung vorsieht. Die Anbieter können eine eigene Messung anbieten oder auf das zukünftige Messtool der Bundesnetzagentur verweisen. Zur Überprüfbarkeit und Vergleichbarkeit müssen für den Verbraucher bzw. Endnutzer „auf einen Blick“ die vertraglich vereinbarte minimale und maximale Datenübertragungsrate und die tatsächlich gemessene Datenübertragungsrate dargestellt werden. Die Messergebnisse müssen abgespeichert und online zugänglich sein. So kann der Verbraucher ohne größeren Aufwand mehrere Messungen durchführen und seinem Anbieter etwaige Abweichungen zwischen tatsächlicher und vertraglich vereinbarter Datenübertragungsrate mitteilen. Das von der Bundesnetzagentur in Zukunft auf der Webseite www.breitbandmessung.de angebotene Messtool spielt hier eine ganz zentrale Rolle. Wichtig und gut ist auch, dass die Bundesnetzagentur von der durch die Telekom-Binnenmarkt-Verordnung (TSM-Verordnung, Telecom Single Market/TSM-VO – Verordnung [EU] 2015/2120) eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht, einen solchen zertifizierten Überwachungsmechanismus nach Artikel 4 Absatz 4 dieser Verordnung anzubieten. Auch das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK – Body of European Regulators for Electronic Communication/BEREC) erkennt das Messtool als zertifizierten Überwachungsmechanismus an. Aber genau hier beginnt das Problem bzw. endet die Transparenz für den Endverbraucher. Denn Artikel 4 Absatz 4 der TSM-Verordnung lautet: „Jede erhebliche, kontinuierliche oder regelmäßig wiederkehrende Abweichung bei der Geschwindigkeit oder bei anderen Dienstqualitätsparametern zwischen der tatsächlichen Leistung der Internetzugangsdienste und der vom Anbieter der Internetzugangsdienste gemäß Absatz 1 Buchstabe a bis d angegebenen Leistung gilt – sofern die rechtserheblichen Tatsachen durch einen von der nationalen Regulierungsbehörde zertifizierten Überwachungsmechanismus festgestellt wurden – für die Auslösung Bestimmung der Rechtsbehelfe, die dem Verbraucher nach nationalem Recht zustehen, als nicht vertragskonforme Leistung.“ Laut Auffassung der Bundesnetzagentur können die Messungen der Anbieter oder über das Messtool der Bundesnetzagentur Abweichungen bei den Übertragungsraten zwar ermitteln. Bei der Frage aber, ob es sich dabei um eine „erhebliche, kontinuierliche oder regelmäßig wiederkehrende Abweichung handelt“, die nach der TSM-Verordnung als nicht vertragskonforme Leistung gilt, wird der Verbraucher bisher völlig alleine gelassen und – auf der Grundlage unbestimmter Rechtsbegriffe – den tiefen Niederungen des Leistungsstörungsrechts im BGB und einer erst noch zu entwickelnden Rechtsprechung überlassen. Nun haben wir unter anderem in der Anhörung zur Transparenzverordnung gelernt, dass dieses Defizit nicht der Transparenzverordnung anzulasten ist. Mangels Ermächtigungsgrundlage können innerhalb der Transparenzverordnung keine Mindestqualitäten für Internetzugänge festgelegt werden. Ebenso wenig kann die Bundesnetzagentur mangels Rechtsgrundlage im Rahmen der Transparenzverordnung Regelungen zum Schadensersatz schaffen, Bußgelder vorsehen oder ein Sonderkündigungsrecht bei erheblichen Abweichungen der Datenübertragungsrate. Genau das ist aber der Grund, weshalb die Transparenzverordnung heute verabschiedet werden kann und muss. Alles, was sie regelt und regeln kann, bedeutet einen großen Fortschritt für die Kundinnen und Kunden. Die Anbieter können sich darauf einstellen, dass es in Zukunft ein verständliches und übersichtliches Produktinformationsblatt geben muss, was auf der monatlichen Rechnung stehen muss, dass und wie die Datenübertragungsraten gemessen werden können. Alles das kann und soll jetzt auf den Weg gebracht werden. Und das, was aus auch unserer Sicht fehlt, nämlich Klarheit über die Rechtsfolgen bei Abweichung der Datenübertragungsraten, muss und kann nicht hier und heute, sondern allenfalls über die ohnehin anstehende Novellierung des Telekommunikationsgesetzes (TKG) gelöst werden. Aber das TKG steht heute noch nicht zur Debatte. Die Koalition sieht hier noch Beratungsbedarf. Insoweit bietet der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10525 einen durchaus richtigen Ansatz – nur leider nicht für die Transparenzverordnung. Auch wir vertreten die Auffassung, dass Mindeststandards für die Qualität von Internetzugängen festgelegt werden müssen – im Interesse der Verbraucher. Es dürfen nicht erst noch zeitlich und materiell aufwendige Rechtsstreite ausgefochten werden müssen, bevor klar ist, was eine erhebliche, kontinuierliche oder regelmäßig wiederkehrende Abweichung der Datenübertragungsrate ist, die nach der TSM-Verordnung unmittelbar als nicht vertragskonforme Leistung gilt. Es liegt nicht nur nahe, sondern es ist rechtlich geboten, dies in Einklang mit den GEREK-Leitlinien zur Netzneutralität (BoR [16] 127) zu tun, die auf der Grundlage von Artikel 55 Absatz 3 TSM-Verordnung und im Interesse einer einheitlichen Anwendung der TSM-Verordnung in der EU herausgegeben wurden. Es bleibt zu klären, welche Möglichkeiten dafür im TKG bestehen und wie dies europarechtskonform umgesetzt werden kann. Tatsache ist, dass die Bundesnetzagentur über Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 TSM-Verordnung ermächtigt ist, „Mindestanforderungen an die Dienstequalität“ vorzuschreiben. Sie kann Anforderungen an die verschiedenen Geschwindigkeitsarten aufstellen (so zum Beispiel an die minimale, normalerweise verfügbare und maximale Geschwindigkeit). Bisher vertreten Bundesnetzagentur und Bundeswirtschaftsministerium die Auffassung, allenfalls auf der Grundlage der derzeit im ersten Betriebsjahr der Breitbandmessung erhobenen Daten könne sich ein Handlungsbedarf zur Festlegung von Mindestqualitäten ergeben. Dies ignoriert, dass die Erhebungen 2012 und 2013 längst belegt haben, in welch erheblichem Umfang die Datenübertragungsraten über alle Technologien, Produkte und Anbieter hinweg deutlich von den beworbenen und vertraglich zugesagten Raten abweichen. Es gibt keinen Grund, diese Daten nicht als Beleg dafür zu nehmen, dass längst Handlungsbedarf besteht. Allein die Vielzahl der Beschwerden von Kundinnen und Kunden und unsere Alltagserfahrungen reichen längst aus, Handlungsbedarf festzustellen. Die TSM-Verordnung ist seit November 2015 in Kraft getreten und schreibt vor, dass die nationalen Regulierungsbehörden genau überwachen und sicherstellen, dass die Transparenzvorgaben eingehalten werden. Insoweit sind wir mehr als skeptisch, es bei der bloßen Ermächtigung aus der TSM-Verordnung zu belassen und darauf zu vertrauen, dass die Regulierungsbehörde nach Vorliegen neuerer Daten endlich Handlungsbedarf sieht und dann auch hinreichend konkrete Vorgaben zu den Datenübertragungsraten macht. Es kann weder im Interesse der Verbraucher noch der Bundesnetzagentur liegen, dass hier weiter so große Rechtsunsicherheit über die Frage herrscht, was ist in dem Bereich eine nicht vertragskonforme Leistung ist, wie sie zweifelsfrei festgestellt werden kann und welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben. Diese Rechtsunsicherheit dient allein den Anbietern. Auch im Straßenverkehr ist es nicht unbedingt übliche Verwaltungspraxis, zunächst einmal zu ermitteln, wie schnell die Autofahrer auf einer Straße tatsächlich fahren, um dann erst anhand dieser Erhebungen die zulässige Höchstgeschwindigkeit festzulegen. Aber zurück zur Transparenzverordnung: Das Messtool der Bundesnetzagentur ist ein richtiger erster Schritt. Es wird zu mehr Transparenz auf dem Markt führen und hoffentlich den Druck auf die Anbieter erhöhen, auch nur solche Übertragungsraten anzubieten, die tatsächlich beim Nutzer ankommen. Die Breitbandmessung der Bundesnetzagentur und die beabsichtige Veröffentlichung von Jahresberichten und statistische Analysen zur Dienstequalität von breitbandigen Internetzugängen werden das Ihre dazu beitragen. Aus unserer Sicht muss aber zusätzlich gewährleistet sein, dass der Nutzer schnell und eindeutig erkennen kann, dass und wie er/sie sich bei erheblicher Unterschreitung der Übertragungsraten ganz praktisch wehren kann. Dabei ist das von der SPD-Fraktion und von Verbraucherorganisationen seit langem geforderte Sonderkündigungsrecht nur ein denkbares Instrument von mehreren. Schon mit Beschluss des Beirates bei der Bundesnetzagentur vom 24. Juni 2013 wurde die Bundesnetzagentur aufgefordert, Sanktionsmechanismen für den Fall einer Abweichung zu entwickeln. Wir appellieren an die Bundesnetzagentur, möglichst bald den Ergebnisbericht über das erste Betriebsjahr ihrer Breitbandmessung vorzulegen, um auf dieser Grundlage fundiert darüber beraten zu können, ob und welche weiteren Regelungen im Interesse der Verbraucher ins TKG aufgenommen werden müssen. Damit Netzbetreiber Kunden nicht mehr mit vagen Angeboten locken können, die Internetgeschwindigkeiten von „bis zu …“ versprechen. Damit die beworbenen Produkte von den tatsächlichen nicht weiter derart stark abweichen wie bisher. Die Auswertung brauchen wir noch aus einem anderen Grund. Man darf gespannt sein, was die realen Messungen ergeben – mit Blick auf die Breitbandstrategie der Bundesregierung, wonach in einem ersten Schritt bis Ende 2018 allen Haushalten in Deutschland mindestens 50 Mbit/s im Download zur Verfügung stehen sollen. Denn die „Aktuelle Breitbandverfügbarkeit in Deutschland (Stand 2016)“, erhoben vom TÜV Rheinland im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur, besagt zwar, dass für 71,2 Prozent der bundesdeutschen Haushalte Bandbreiten von mindestens 50 Mbit/s im Download verfügbar sind. Allerdings: Die Ergebnisse basieren ausschließlich auf den freiwilligen Datenlieferungen von circa 350 Breitbandanbietern, nicht Kunden. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns heute die Transparenzverordnung auf den Weg bringen und möglichst bald über das TKG dafür sorgen, dass das Messtool der Bundesnetzagentur kein stumpfes Schwert bleibt. Wichtig ist uns dabei auch die Perspektive, ausreichend Druck auszuüben, um tatsächlich über den Wettbewerb die Ziele der Breitbandstrategie der Bundesregierung vielleicht doch noch zu erreichen. Thomas Lutze (DIE LINKE): Mit der Verordnung für mehr Transparenz in der Telekommunikation bleibt die Bundesregierung einmal mehr hinter dem Möglichen zurück und bedient die Interessen der Telekommunikationsunternehmen statt die der Verbraucherinnen und Verbraucher. Zwar folgt die Telekommunikations-Transparenzverordnung in einigen Punkten den umfangreichen Transparenzvorgaben der Telekommunikation-Binnenmarkt-Verordnung, und das begrüßen wir. Dennoch fehlen wichtige Umsetzungsmaßnahmen. Beispielsweise sind nach den europäischen Vorgaben von den Telekommunikationsanbietern auch Informationen darüber zu leisten, wie sich die von einem Anbieter angewandten Verkehrsmanagementmaßnahmen auf die Qualität des Internetzugangsdienstes, die Privatsphäre der Endnutzer und den Schutz personenbezogener Daten auswirken. Ähnliches gilt für priorisierte Spezialdienste. Hier fehlen die konkretisierenden Bestimmungen in Form verständlicher Erläuterungen für die Endnutzer, wie sich solch priorisierte Spezialdienste in der Praxis auf ihren Internetzugang auswirken können. Neben diesem völligen Fehlen von Transparenzvorgaben für das Verkehrsmanagement sowie für Spezialdienste im Internet wurde auch die Chance verpasst, die erstellten Transparenzvorschläge des Gremiums Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation, GEREK, für den mobilen Internetzugang aufzugreifen. Damit die Verbraucherinnen und Verbraucher sich ein realistisches Bild über die geschätzten maximalen Datenübertragungsraten je nach Ort und Nutzungsbedingungen machen können, wurde von dieser Seite vorgeschlagen, sollten die TK-Anbieter in digitalen Karten über die Netzabdeckung und die geschätzten sowie gemessenen maximalen Datenübertragungsraten informieren. Das sind nur einige ausgewählte Kritikpunkte; sie zeigen aber, dass Bundesregierung und Bundesnetzagentur es erneut verpasst haben, eine verbraucherfreundliche TK-Politik zu formulieren. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein großer Telekommunikationsanbieter bewirbt sein Angebot mit einer Geschwindigkeit von 16 Mbit/s. Wer wissen will, wie viel der Anbieter davon auch tatsächlich liefert, muss das Kleingedruckte lesen. Ich habe das gemacht: Gerade einmal 6 304 Kbit/s. müssen geliefert werden, um den Vertrag zu erfüllen, das sind nicht mal 40 Prozent der 16 Mbit/s. Da sind die Verbraucherinnen und Verbraucher die Gelackmeierten, und das wird auch durch diese Transparenzverordnung nicht geändert! Nur 15,9 Prozent der Nutzer erreichen überhaupt die volle Bandbreite. Das hat der letzte Test der Bundesnetzagentur 2013 ergeben. Die EU hat zuletzt im Oktober 2014 eine Qualitätsstudie veröffentlicht. Im europäischen Durchschnitt werden gerade einmal 75,9 Prozent der versprochenen Bandbreiten erreicht. Übersetzt heißt das: statt 50 Mbit/s nur knapp 38 Mbit/s. Und Deutschland lag sogar noch unter diesem Durchschnitt. Die Antwort auf diesen Missstand ist die vorliegende Transparenzverordnung. Seit 2014, also nunmehr seit zwei Jahren, ist sie in der Mache. Dafür ist das Ergebnis ganz schön mau. Die Internetanbieter sollen in Zukunft auf einem standardisierten Produktinformationsblatt die maximale Downloadbandbreite, die minimale und die normalerweise verfügbare Surfgeschwindigkeit nennen. Der Berg kreißte und gebar ein Informationsblatt. Glauben Sie wirklich, dass das etwas nützt? Ich habe nichts gegen Transparenz, im Gegenteil. Aber Transparenz allein reicht nicht. Transparenz ist kein Ersatz für verbriefte Rechte, auf die man sich berufen kann. Transparenz ist kein Ersatz für Mindeststandards, die von allen Marktteilnehmern eingehalten werden müssen. Seit August liegen die Leitlinien von GEREK vor, der Dachorganisation der europäischen Aufsichtsbehörden. Diesen Leitlinien zufolge kann man für die minimale, die maximale und die normalerweise zur Verfügung stehende Bandbreite Mindestanforderungen definieren. Genau das schlagen wir in unserem Entschließungsantrag vor. Wir möchten erreichen, dass die normalerweise zur Verfügung stehende Geschwindigkeit mindestens für 95 Prozent eines Tages zur Verfügung stehen muss, und dass zu keinem Zeitpunkt weniger als 70 Prozent der versprochenen „Bis zu“-Bandbreiten geliefert werden dürfen. Das wären verbraucherfreundliche Vorgaben, die Sie sich nicht getraut haben. Und das ist noch nicht alles. Bald wird hier die Reform des Telekommunikationsgesetzes auf der Tagesordnung stehen. Dann geht es unter anderem darum, welche Sanktionen zur Verfügung stehen, wenn die Anbieter die Mindestqualitätsanforderungen nicht erfüllen. Das europäische Recht hat hier kürzlich vielfältige Möglichkeiten geschaffen. Verbraucherinnen und Verbraucher können einen pauschalierten Schadensersatzanspruch bekommen, wenn die Anbieter dauerhaft nicht die vertraglich vereinbarte Leistung liefern. Denkbar sind auch Bußgelder, etwa in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes vom Jahresumsatz der Unternehmen. All dies setzt aber voraus, dass überhaupt erst einmal die Möglichkeit geschaffen wird, solche Vertragsverstöße festzustellen. Solange die Anbieter nicht verpflichtet sind, bestimmte Mindeststandards einzuhalten, kann man natürlich auch keine Sanktionen für Verstöße dagegen festlegen – und genau das ist das Problem mit dieser Transparenzverordnung! Deshalb appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Stimmen Sie unserem Antrag zu. Machen Sie nicht nur Transparenzgedöns, sondern geben Sie Mindestqualitätsstandards vor, die nicht unterschritten werden dürfen. Schaffen Sie die Grundlage dafür, den Verbraucherinnen und Verbrauchern durchsetzbare Rechte an die Hand zu geben. Zeigen Sie, dass Sie im Bereich der Telekommunikation nicht nur die Interessen der Unternehmen, sondern auch die der Verbraucherinnen und Verbraucher im Blick haben. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland voranbringen – des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches (Tagesordnungspunkt 16 a und b) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Heute finden die zweite und dritte Lesung zum Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches statt. Dieser Gesetzentwurf dient der Ratifizierung der Vereinbarungen, die auf der Konferenz in Kampala getroffen wurden, und stellt einen großen Schritt zu einer Ächtung von Kriegsverbrechen dar. Das Verbrechen der Aggression ist ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht und umfasst eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen. Der Gesetzentwurf dient als Schutz des friedlichen Zusammenlebens der Völker und gleichzeitig zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die auch ein Leben in Frieden umfasst. Aus diesem Grund ist es umso wichtiger, diese Werte auch in deutsches Recht einzubauen, um einen Beitrag zu einer friedlicheren und sicheren Welt zu leisten und Kriegsverbrechen zu bestrafen. Dies markiert einen wichtigen Schritt beim Kampf gegen die Straflosigkeit schwerster Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganze betreffen, indem es der Ausübung der Gerichtsbarkeit des IStGH über das Verbrechen der Aggression den Weg eröffnet. Die Einigung in Kampala ist das Ergebnis eines langwierigen und mühevollen Ringens um einen Kompromiss, an welchem die Bundesrepublik Deutschland wesentlich beteiligt war. Dieser Gesetzentwurf verfolgt diesen Weg weiter. Der vorliegende Gesetzentwurf schlägt mithin eine Möglichkeit vor, mit der es gelingen kann, den Tatbestand des Verbrechens der Aggression in das deutsche Recht zu implementieren. Bislang regelten § 80 StGB – Vorbereitung eines Angriffskrieges – und § 80a StGB – Aufstacheln zum Angriffskrieg – die Strafbarkeitstatbestände im Zusammenhang mit einem Angriffskrieg in Deutschland. Diese Vorschriften sollen nun durch einen neuen, eigenständigen Straftatbestand des Verbrechens der Aggression, der in das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) eingefügt wird, ergänzt werden. Es wird mithin ein neuer § 13 VStGB „Verbrechen der Aggression“ geschaffen. Die Koalition hat gut gearbeitet, und ich werde im Folgenden einige Änderungen an der vorgeschlagenen Formulierung darstellen. Im parlamentarischen Verfahren wurden vor allem zwei Punkte diskutiert. Dies ist erstens die Änderung des § 13 Absatz 5 VStGB, welcher sich nun nur noch auf § 13 Absatz 2 VStGB bezieht und nicht mehr auf Absatz 1. Zweitens wird der Wortlaut in § 80a StGB von „Aufstacheln zum Angriffskrieg“ zu „Aufstacheln zum Verbrechen der Aggression“ geändert. In § 13 Absatz 5 VStGB wird nun der minder schwere Fall geregelt. Zwar sind zahlreiche Situationen denkbar, in denen von sehr unterschiedlicher Tatschwere ausgegangen werden kann. Der vorliegende Gesetzentwurf bezieht sich aber auf den Wortlaut des IStGH-Status. Im IStGH-Statut selbst wird nicht zwischen einer völkerrechtswidrigen Angriffshandlung und dem Verbrechen der Aggression unterschieden. Es wäre somit also auch darstellbar, jede einschlägige Handlung, die unter § 13 VStGB subsumiert werden kann, auch gemäß einem „normalen“ Fall zu bestrafen. Aus diesem Grund bedarf es keiner Sonderregelung zu einem minder schweren Fall. Daraus erschließt sich, dass § 13 Absatz 5 VStGB sich im Änderungsvorschlag nur noch auf Absatz 2 bezieht und der Bezug auf Absatz 1 komplett wegfällt. Dies ist eine kluge Anpassung des Regierungsentwurfs in den parlamentarischen Beratungen. Durch die vorgeschlagene Streichung des § 80a StGB würden in Zukunft alle Fälle, in denen ein Aufstacheln zum Angriffskrieg vorliegt, unter § 111 StGB geprüft werden müssen. § 111 StGB normiert aber die Strafbarkeit des „Aufforderns“ und nicht des „Aufstachelns“. Es würde mithin Unterschiede bei der Subsumtion geben, und dies könnte dazu führen, dass bisher strafbares Verhalten „Aufstacheln“ in Zukunft straflos „Auffordern“ würde. Aus diesem Grund wird § 80a beibehalten und lediglich der Wortlaut zu „Aufstacheln zum Verbrechen der Aggression“ geändert. In der bereits angesprochenen Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern wird ausgeführt: Durch § 13 Absatz 3 VStGB werden im Einklang mit dem Völkerrecht nur Angriffshandlungen erfasst, die einem Staat nach den Regeln des Völkerrechts zugerechnet werden können. Der nationale Gesetzgeber kann im Rahmen seiner Jurisdiktion aber weitergehen, als dies die völkerrechtliche Umsetzungspflicht verlangt. Es besteht ein rechtspolitisches Interesse daran, auch nichtstaatliche Akteure – wie zum Beispiel Terrormilizen – in den Anwendungsbereich von § 13 VStGB mit einzubeziehen. Dies gilt zumindest, sofern deren Handlungen mit Aggressionshandlungen vergleichbar sind. Rechtstechnisch wäre eine Erweiterung des § 13 VStGB um Handlungen bewaffneter nichtstaatlicher Terrorgruppen, die Anschläge in Deutschland verüben bzw. solche Handlungen planen, denkbar gewesen. Alternativ hätten §§ 129a, b StGB um einen solchen Tatbestand ergänzt werden können. Eine entsprechende Regelung würde allerdings nicht in § 13 VStGB eingefügt. Dies ist auch nachvollziehbar. Vielmehr hätte ich mir gewünscht, dass die §§ 129a, b StGB ergänzt werden. Bei einer Erweiterung des § 13 VStGB auf nichtstaatliche Akteure könnte man nach einem Terroranschlag im Innern zu der Auffassung gelangen, dass bereits ein Angriffskrieg vorliegt, und diesen dann dem Staat, von dem die Terroristen kommen, zurechnen. Dies würde zu einer nicht hinnehmbaren völkerrechtlichen Gefahr für den Frieden führen und muss deshalb abgelehnt werden. Eine Verschärfung der §§ 129a, b StGB wäre aber begrüßungswert, um terroristische Angriffe gezielter verfolgen zu können. Mitunter sollte in Zukunft auch vor dem Hintergrund hybrider Gefahren hierbei nachgedacht werden. Der nun vorliegende Gesetzentwurf enthält viele begrüßenswerte Regelungen, die einen wichtigen Beitrag zur Schließung der Lücke der völkerrechtlichen Strafbarkeit leisten. Ich würde mich aus diesem Grund freuen, wenn alle Fraktionen diesem Entwurf nun zustimmen könnten. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Verbrechen der Aggression. Für diese schweren Verbrechen wurde mit dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs eine Gerichtsbarkeit für eine Aburteilung geschaffen. Diese Statuten bilden seit Inkrafttreten am 1. Juli 2002 elementare Pfeiler im weltweiten Völkerrecht. Für die Aburteilung der Völkerrechtsverbrechen ist seit 2002 der Internationale Strafgerichtshof berufen. Es ist mit Sorge zu beobachten, dass das Völkerstrafrecht mit dem Internationalen Strafgerichtshof eine Legitimationskrise zu durchlaufen scheint. Weiterhin lehnen einige wichtige Länder, so zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika, den Internationalen Strafgerichtshof ab. Durch den Abschluss bilateraler Verträge mit Mitgliedsländern des IStGH versuchen die USA, eine Überstellung von US-Staatsangehörigen an den IStGH vorsorglich auszuschließen. Zudem haben Südafrika und Burundi den Austritt aus dem IStGH im Oktober 2016 bekanntgegeben. In Namibia und Kenia gibt es ebenfalls Erwägungen zum Austritt. Mit dem Rückzug der Unterschrift Russlands hat sich ein weiteres Land vom Internationalen Strafgerichtshof entfernt. Seien die Hintergründe für die Entscheidung zur Abkehr der einzelnen Länder auch noch so tiefgreifend und spezifisch, ist diese Entwicklung eine Tendenz in die falsche Richtung. Entgegen der Tatsache, dass sich die Gerichtsbarkeit nur auf Verbrechen erstreckt, welche nach dem Inkrafttreten des Römischen Statuts begangen wurden, wurde doch in bisher 23 Fällen für Gerechtigkeit und juristische Aufarbeitung gesorgt. Der Internationale Strafgerichtshof stellt somit eine tragende Säule der internationalen Rechtsprechung dar. Um eine gerechte und einheitliche Grundlage auf internationaler Ebene und im Interesse aller teilnehmenden Staaten zu schaffen, haben sich die Mitgliedstaaten auf der Überprüfungskonferenz in Kampala im Jahr 2010 auf weitere Punkte einigen können. Konnte man sich bisher nicht auf eine Definition des Verbrechens der Aggression einigen, so gelang 2010 eben dies. Auch der Streit über die Rolle des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen bei der Entscheidung, ob ein Akt der Aggression vorliegt, konnte beigelegt werden. So muss nun eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen vorliegen. Als konkretes Beispiel wird ein Angriffskrieg genannt. Deutschland hat neben 27 anderen Staaten die Änderungen ratifiziert. Die Vorbereitung eines Angriffskriegs ist derzeit nach § 80 StGB strafbar und setzt die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Artikel 26 GG um. Mit der Verlagerung in das VStGB verschiebt sich der Charakter der Aggression von einem Staatsschutz- hin zu einem Weltfriedensdelikt. Dies entspricht einer völkerrechtsfreundlichen Umsetzung. Das Verbrechen der Aggression wendet sich als Führungsverbrechen gegen Personen eines Staates, die tatsächlich in der Lage sind, das politische oder militärische Handeln zu kontrollieren und zu lenken. Im Zuge der Verfolgungszuständigkeit gilt dennoch unabdingbar der Grundsatz der Komplementarität. Dies bedeutet, dass der Internationale Strafgerichtshof nur dann aktiv wird und die Strafverfolgung ausübt, wenn die nationalen Behörden und Gerichte hierzu nicht in der Lage sind. Dies wird vor allem in labilen Staaten ohne eine unabhängige Justiz der Fall sein. Wir können mit Stolz sagen, dass wir in Deutschland nicht betroffen sind. Wir haben einen funktionierenden Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten zur Aburteilung von Völkerrechtsverbrechen. Die Ergebnisse der Konferenz von Kampala finden sich als neuer Straftatbestand des Verbrechens der Aggression im Binnenrecht umgesetzt. Das Völkerstrafrecht erfährt seine Vervollständigung. Der richtige Ort ist das Völkerstrafgesetzbuch. Dort finden sich auch die anderen aufgezählten völkerrechtlichen Kernverbrechen. Damit kommt das Verbrechen der Aggression als schwere Völkerstraftat zur Geltung. In diesem Zusammenhang findet sich der erwähnte Straftatbestand der Vorbereitung eines Angriffskrieges nun auch in der Definition des Verbrechens der Aggression im Völkerstrafgesetzbuch wieder. Gleichwohl können wir uns glücklich schätzen, dass der bisherige Tatbestand der Vorbereitung eines Angriffskrieges nur wenig praktische Relevanz hat. Anzeigevorgänge führten regelmäßig schon zu keiner Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Dies zeigt, dass die Bundesrepublik Deutschland sich derzeit keinen Gefahren durch solche Straftaten ausgesetzt sieht. Dirk Wiese (SPD): Die schrecklichen Bilder, die uns diese Tage wieder aus der Welt, insbesondere aus Aleppo erreichen, sind an Grausamkeit kaum zu überbieten. Sie laufen täglich über unsere Bildschirme, sie begleiten uns auf dem Handy, in den Nachrichten, in den Zeitungen. So traurig das klingen mag, sie gehören derzeit zu unserem Alltag. Wir dürfen aber trotzdem nicht abstumpfen, die Bilder relativieren oder als gegeben hinnehmen. Denn das Grauen vor Ort ist real. Der Kollege Achim Post hat die Gefühlslage vieler von uns in Bezug auf Syrien auf den Punkt gebracht, als er in einer der vergangenen Aktuellen Stunden davon sprach, dass wir seit Jahr und Tag zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen kleinen diplomatischen Fortschritten und Ohnmachtsgefühlen, zwischen Möglichkeiten und Misserfolg schwanken. Auch wenn derzeit keine diplomatische Lösung in Sicht ist und die Verhandlungen um einen Frieden derzeit schwerer denn je sind, muss die Weltgemeinschaft aber zusammenstehen und eines klar machen: Wer sein eigenes Volk tötet, foltert, aushungert und vertreibt, begeht systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wer Frauen und Kinder bombardiert, wer Krieg gegen die eigene Zivilbevölkerung führt, dem gebührt nur eins: ein Platz auf der Anklagebank des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Für die Weltgemeinschaft muss feststehen, dass solche Taten nicht ungesühnt bleiben dürfen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die abscheulichsten Verbrechen ungestraft bleiben. Das Recht darf vor Verbrechen nicht kapitulieren, auch wenn diese von historischem Ausmaß sind. Das ist der Grundgedanke, der uns von den Nürnberger Prozessen, dem Ursprung, sozusagen der Stunde null des Völkerstrafrechtes, über die Strafprozesse der Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda und schließlich durch die Verabschiedung des Römischen Statuts zu dem Internationale Strafgerichtshof in Den Haag führte. Ein Grundgedanke, der in diesen Zeiten, in denen das Grauen des Krieges wieder so präsent ist, wichtiger denn je ist und an dem festzuhalten unsere oberste Pflicht ist. Deshalb ist es auch an uns, das Instrument des Internationalen Strafgerichtshofs weiter zu stärken und der übergeordneten Gerechtigkeit im Sinne von Gustav Radbruch zur rechtsstaatlichen Durchsetzung auf multilateraler Ebene zu verhelfen. Oder um es mit den Worten Willy Brandts zu sagen: „Wo immer schweres Leid über die Menschen gebracht wird, geht es uns alle an. Vergesst nicht: Wer Unrecht lange geschehen lässt, bahnt dem nächsten den Weg.“ Der völkerrechtliche Grundsatz der Komplementarität verlangt, dass die in die Zuständigkeit des IStGH fallenden Verbrechen auch durch nationale Behörden verfolgt werden können. Dieser Anforderung kommen wir heute nach, indem wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Beschlüsse der Vertragsstaatenkonferenz von Kampala im Jahr 2010 umsetzen. Dadurch kann der IStGH ab dem 1. Januar 2017 völkerrechtswidrige Angriffskriege bestrafen, ein wichtiger Schritt; denn das „Verbrechen der Aggression“ war schon in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg als schwerstes internationales Verbrechen angesehen worden, bislang aber leider nicht kodifiziert. Lassen Sie mich kurz ein paar Worte zur Kritik sagen, die gestern im Rechtsausschuss vonseiten der Opposition geäußert wurde. Es ging darum, dass die Strafverfolgung bezüglich des Verbrechens der Aggression nicht dem Weltrechtsprinzip unterstellt wird. Unabhängig davon, dass eine solche Regelung unsere Staatsanwaltschaften überlasten würde, da sie solche Fälle detaillierten Prüfungsverfahren unterziehen müsste, sind wir uns doch alle einig, dass solche Fälle schon allein wegen ihrer außenpolitischen Dimension vor ein internationales Gericht gehören. Deshalb haben wir uns für diesen Fall auch bewusst gegen das Weltrechtsprinzip entschieden. Im Übrigen hat das auch eine positive Wirkung auf den IStGH. Denn durch den eingeschränkten Geltungsbereich des nationalen Strafrechts wird hier die Zuständigkeit und damit die Bedeutung des IStGH gestärkt werden. Sie sehen, mit dem Gesetzentwurf komplementieren wir die Werkzeuge des IStGH. Das ist richtig und wichtig! Zum Schluss möchte ich noch einmal auf meine Eingangssätze zurückkommen. Ich möchte diejenigen, die meinen, sie könnten heute walten und schalten, wie sie wollen, und im rechtsfreien Raum ungestraft Verbrechen begehen, an Artikel 29 des Römischen Statuts des IStGH erinnern, der da lautet: „Die der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechen verjähren nicht.“ Wir haben Zeit. Wir vergessen nicht. Wir werden Anklage erheben. Ulla Jelpke (DIE LINKE): In der heutigen Debatte geht es darum, den Straftatbestand der Aggression im Völkerstrafgesetzbuch zu verankern. Vereinfacht gesagt: Wer einen Angriffskrieg führt, soll angeklagt und bestraft werden. Bislang ist ja im deutschen Strafrecht nur die Vorbereitung eines Angriffskrieges, nicht aber seine Führung mit Strafe bedroht. Mit diesem Hinweis hat sich die Bundesanwaltschaft geweigert, Ermittlungen wegen der deutschen Teilhabe am Irakkrieg aufzunehmen: „Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ist nur die Vorbereitung an einem Angriffskrieg und nicht der Angriffskrieg selbst strafbar“, erklärte die Bundesanwaltschaft damals. Dieser Zustand verlangt natürlich dringend nach einer Korrektur. Nur: Was die Koalition hier vorlegt, ist eine Verschlimmbesserung, der wir unsere Zustimmung versagen. Es sind zwei Punkte, die aus Sicht der Linken besonders kritisch sind: zum einen der Verzicht auf das sogenannte Weltrechtsprinzip, zum anderen die pauschale Herausnahme sogenannter humanitärer Einsätze aus der Strafbarkeit. Zum ersten Punkt: „Weltrechtsprinzip“ meint, dass Straftaten gegen das Völkerrecht, zum Beispiel Genozid oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, überall auf der Welt juristisch verfolgt werden können. Auch die deutsche Justiz darf einen Täter belangen, selbst wenn er nicht Deutscher ist und die Tat nicht in Deutschland begangen hat. Es soll keine sicheren Häfen für Kriegsverbrecher geben. Von diesem Prinzip weicht die Bundesregierung hier ab: Das Führen und Vorbereiten eines Angriffskrieges soll in Deutschland nur strafbar sein, wenn der Täter entweder Deutscher ist oder es sich um einen Angriffskrieg gegen Deutschland handelt. Der Sachverständige Robert Frau hat in der Anhörung zurecht darauf hingewiesen, dass unser Grundgesetz „Handlungen … insbesondere die Führung eines Angriffskrieges“ verbietet, und nicht lediglich „Handlungen von Deutschen“ oder „Angriffskriege durch Deutsche“. Es stellt sich also schon die Frage, warum gerade an diesem Punkt vom Weltrechtsprinzip abgewichen wird. Die Gesetzesbegründung gibt darauf den Hinweis auf die „außenpolitische Relevanz“. Im Klartext heißt das: Die Bundesregierung will ihre Verbündeten aus EU und NATO schützen. Denn gerade die USA unternehmen ja ganz gerne mal einen Angriffskrieg – im Falle des Luftwaffenstützpunktes Rammstein auch gerne mal von deutschem Boden aus. Und die Bundesregierung will verhindern, dass hohe US-Militärs oder Politiker deswegen in Deutschland angeklagt werden. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, um nichts anderes geht es hier. Der andere Punkt dreht sich um die Frage, was eigentlich ein Angriffskrieg bzw. das Verbrechen der Aggression ausmacht. Da liefert der Gesetzestext ja einige Hinweise, die wir durchaus unterschreiben würden: Angriffshandlungen seien, heißt es da, eine „gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Anwendung von Waffengewalt“. Das Gesetz enthält eine sogenannte Erheblichkeitsschwelle, um nur „offenkundige Verletzungen“ des Völkerrechts und nicht kleinere Grenzscharmützel zu treffen. Doch die Art und Weise, wie die Bundesregierung die „Offenkundigkeit“ von Völkerrechtsverletzungen interpretiert, geht dabei eindeutig zu weit. Das zeigt sich in der Begründung, in der es heißt: „Rechtlich umstrittene Einsätze, wie im Rahmen humanitärer Interventionen … sollen davon gerade nicht erfasst werden und damit nicht als Aggressionsverbrechen strafbar sein.“ Damit wird eine ganze Kategorie von Kriegen aus dem Geltungsbereich des Gesetzes herausgenommen. Denn es gibt doch heute keinen Krieg mehr, der nicht als humanitäre Intervention verharmlost wird. Noch der gemeinste Diktator behauptet, mit Bomben und Gewehren Gutes zu tun. Für die westlichen Militärbündnisse gilt das genauso. Nehmen wir nur den Überfall der NATO auf Jugoslawien im Jahr 1999. Es gab kein UN-Mandat. Der Krieg war eine gegen die Souveränität und politische Unabhängigkeit Jugoslawiens gerichtete Anwendung von Waffengewalt, um noch einmal den Gesetzeswortlaut zu zitieren. Die Linke würde es sehr begrüßen, wenn solch ein Verhalten künftig eine Gefängnisstrafe für die verantwortlichen Politiker nach sich ziehen würde. Nur: Das ist gar nicht beabsichtigt. Denn schon SPD-Kanzler Gerhard Schröder und Grünen-Außenminister Joseph Fischer haben damals den Etikettenschwindel vom humanitären Einsatz benutzt, um eine von eiskalten politischen Interessen geleitete bewaffnete Aggression zu legitimieren. Anderes Beispiel: Der Irakkrieg 2003, den der damalige US-Präsident Bush mit der verlogenen Behauptung, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen, vom Zaun gebrochen und damit den gesamten Mittleren Osten bis heute in Flammen gesetzt hat. Deutschland leistete Beihilfe mit Überflugrechten für das US-Militär. Obwohl das Bundesverwaltungsgericht diesen Krieg als völkerrechtswidrig bezeichnete, beschönigt ihn die Bundesregierung in einer windigen Argumentation als lediglich fragwürdig oder umstritten. Was muss denn noch passieren, bevor die Bundesregierung einen Krieg als „offenkundigen“ Bruch der UN-Charta bezeichnet? Nehmen wir den Krieg gegen Libyen im Jahr 2011. Die UN hatte lediglich eine Flugverbotszone beschlossen, aber die NATO verübte massive Bombardierungen des Landes, um die Aufständischen zu unterstützen. Auch das wurde mit der Generalfloskel vom „humanitären Einsatz“ verteidigt. Ich fasse zusammen: Die Linke ist unbedingt dafür, das Verbrechen des Angriffskrieges zu ahnden. Wir würden diesem Gesetzentwurf sofort zustimmen, wenn es Aussichten dafür gäbe, auch das aggressive Verhalten der NATO-Staaten, inklusive der Bundesrepublik selbst, zum Fall für die Gerichte zu machen. Aber darum geht es hier gar nicht. Denn die Behauptung von Justizminister Heiko Maas, der Gesetzentwurf stelle Angriffskriege „umfassend“ unter Strafe, ist gelogen. Die Bundesregierung will vielmehr einen pauschalen Freibrief für all jene Kriege, die sie selbst unternimmt, ob im Rahmen der NATO, der EU oder einer anderen Konstellation. Letzten Endes geht es damit um nicht weniger als darum, die kriegerische Politik der imperialistischen Staaten zu legalisieren. Dem wird sich Die Linke entschieden widersetzen. Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Oktober haben Burundi, Südafrika und Gambia ihren Rücktritt vom Römischen Statut verkündet. Erstmals in der Geschichte des Internationalen Strafgerichtshofes sind damit drei der 124 Mitgliedstaaten ausgetreten. Auch Russland, welches allerdings nie Mitglied des ICC war, hat seine Zustimmung zum Römischen Statut zurückgezogen. Anders als in manchen Medien kolportiert, bedeutet dies nicht gleich den Anfang vom Ende des Internationalen Strafgerichtshofes. Es muss uns aber eine Mahnung sein, die strukturellen, politischen und rechtlichen Probleme, mit denen sich der Internationale Strafgerichtshof in der Praxis konfrontiert sieht, ernst zu nehmen. Mit Blick auf die drei ständigen Sicherheitsratsmitglieder USA, Russland und China, die nicht Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofes sind, bemerkte Kofi Annan vor einigen Tagen ganz richtig in der Süddeutschen Zeitung: „Diejenigen, die eine globale Führungsrolle für sich beanspruchen, sollten auch beim ICC beispielhaft vorangehen. Zudem wurde die Qualität der Ermittlungen des Strafgerichtshofs infrage gestellt, wie auch die langwierigen Verhandlungen, die er führt, sowie seine Fähigkeit, Zeugen zu beschützen. Diese Unzulänglichkeiten müssen angegangen werden. Sie müssen aber Gründe dafür sein, den Gerichtshof bei seinen Anstrengungen, sie zu beseitigen, zu unterstützen – und nicht dafür, ihn zu verlassen. Immerhin ist der Gerichtshof eine der bedeutendsten Errungenschaften der internationalen Gemeinschaft seit dem Ende des Kalten Krieges.“ Ja, es ist und bleibt eine große Errungenschaft, dass der Internationale Strafgerichtshof über Täterinnen und Täter von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen richtet. Diese Menschen, die anderen so viel Leid zugefügt haben, sollen nirgends mehr sicher sein – vor Strafverfolgung. Diesem Zweck dient auch das deutsche Völkerstrafgesetzbuch. Auch dieses gibt es wie den Internationalen Strafgerichtshof erst seit 2002. Das Völkerstrafgesetzbuch hat seinen Praxistest bestanden. Das hat der erste Prozess auf seiner Grundlage gezeigt, der letztes Jahr (erstinstanzlich) zu Ende gegangen ist. Doch Völkerstrafprozesse sehen sich nicht nur international, sondern auch in Deutschland prozessualen Problemen gegenüber. Die adäquate Einbindung von Nebenklägerinnen und Nebenklägern, die Frage der Anonymisierung von Zeugenaussagen, die Anwendbarkeit des § 244 Absatz 5 Satz 2 Strafprozessordnung und die Erstellung eines Wortprotokolls sind einige Beispiele. Ein Völkerstrafprozess, bei dem der Tatort oft Tausende von Kilometern entfernt ist, dessen politische und historische Kontexte kompliziert und Sprache und Kultur ganz fremd sind, ist eine komplexe Sache. Da müssen neben den angesprochenen prozessualen Parametern auch die strukturellen Rahmenbedingungen stimmen. Lassen Sie mich ein praktisches Beispiel geben: Im Jahr 2013 hat die Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen und weiteren Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch (ZBKV) 25 Hinweise auf Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch erhalten. Zwei Jahre später waren es 2 149. Diese enorme Zunahme von Hinweisen ist natürlich auf die gestiegene Zahl von Geflüchteten zurückzuführen. Mehr Hinweise bedeuten mehr Beweismittel und letztlich weniger Straflosigkeit. Sie sind also sehr zu begrüßen. Um all diese Hinweise bearbeiten und die eingeleiteten Ermittlungsverfahren schnell und effektiv durchführen zu können, müssen aber auch die personellen und finanziellen Kapazitäten der ZBKV und des Völkerstrafrechtsreferats beim Generalbundesanwalt aufwachsen. Darüber waren sich in der öffentlichen Anhörung zu unserem Antrag „Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland voranbringen“ (Drucksache 18/6341) auch alle Fraktionen und Experten einig. Auch unser Vorschlag, eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Vertreterinnen und Vertretern der Strafrechtslehre und -praxis sowie aus der Zivilgesellschaft einzusetzen, die sich mit der Lösung der angesprochenen prozessualen Probleme befassen, fand große Zustimmung. Der Sachverständige Professor Werle gab dem Kind auch gleich einen Namen: „Arbeitsgruppe Völkerstrafrechtspraxis“. Doch so groß die Zustimmung während der Anhörung über Fraktionsgrenzen hinweg war, so sehr hat die Union unsere Versuche, einen interfraktionellen Antrag dazu hinzubekommen, verschleppt und letztlich scheitern lassen – sowohl im Rechts- wie auch im Menschenrechtsausschuss. Das ist sehr schade, und ich vermute, irgendetwas wird den Kolleginnen und Kollegen von der Koalition auch heute einfallen, um unseren Antrag abzulehnen. Gleichzeitig werden wir hier Lamenti über die Austritte aus dem ICC hören. Doch hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie heute die Gelegenheit, ganz konkret etwas für die Lösung der prozessualen und strukturellen Probleme von Völkerstrafprozessen in Deutschland zu tun, einen Beitrag für mehr und bessere Völkerstrafprozesse in Deutschland zu leisten – das wäre mehr wert als Klagen über den Status quo oder abstrakte Bekenntnisse zum Völkerstrafrecht. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit Transparenz Steuervermeidung multinationaler Unternehmen eindämmen – Country-by-Country-Reporting einführen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Steuerschlupflöcher schließen – Gewinnverlagerung durch Lizenzzahlungen einschränken (Tagesordnungspunkt 17 a und b) Markus Koob (CDU/CSU): Ich will gleich zu Beginn anmerken, dass mein Themenbereich – steuerlicher Familienleistungsausgleich – nur begrenzt was mit Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen zu tun hat. Deswegen werde ich mich nur auf den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen beziehen, der die Anpassungen beim Kinderfreibetrag, Kindergeld, Arbeitnehmer-Grundfreibetrag und Kinderzuschlag zum Gegenstand hat. Der unbeteiligte Zuhörer wird sich sicherlich fragen, wie das miteinander zusammenhängt? Was hat der Kinderfreibetrag mit Steuergestaltung multinationaler Unternehmen zu tun? Und welche Konsequenzen soll die Pflicht zu Country-by-Country-Reports auf meine Steuererklärung als Arbeitnehmer haben? Die Erklärung ist viel einfacher und pragmatischer: Wir haben diesen Änderungsantrag zu den Anpassungen steuerlicher Freibeträge vor allem aus umsetzungspraktischen Gründen in dieses Verfahren integriert, damit wir eine rechtzeitige und praxisgerechte Umsetzung ermöglichen. Denn der Gesetzgeber hat nicht nur für die theoretische Normierung, sondern auch für die Auswirkungen in der Praxis eine Verantwortung. Wenn uns Wirtschaft, Steuerbehörden aber auch die Arbeitnehmer schon oft erklärt haben, dass rückwirkende und unterjährige Anpassungen im Steuerrecht immer einen immensen administrativen Mehraufwand bedeuten, den man durch vorausschauendes Handeln vermeiden sollte, sind wir gut beraten, darauf einzugehen. Daher ist uns daran gelegen, das Verfahren noch in diesem Jahr abzuschließen, damit pünktlich ab dem 1. Januar 2017 auf einer sicheren Rechtsgrundlage mit den neuen Freibeträgen operiert werden kann – in den Steuerverwaltungen, in den Personalbüros aber auch in den Privathaushalten. Das betrifft schließlich jeden Arbeitnehmer, der sich um seinen Lohnsteuerfreibetrag im neuen Jahr 2017 kümmern muss und dann bereits pünktlich zu Jahresbeginn mehr Netto vom Brutto einplanen kann. In der Sache geht es um die verfassungsrechtlich gebotene Anhebung der steuerlichen Freibeträge – also sowohl des Grundfreibetrages wie auch des Kinderfreibetrages – für die Jahre 2017 und 2018. In zwei Etappen möchten wir bis 2018 den Kinderfreibetrag auf 4 788 Euro und den Grundfreibetrag auf 9 000 Euro anheben. Bei den Familien, bei denen sich der Kinderfreibetrag nicht auswirkt, werden wir im selben Verhältnis das Kindergeld anpassen. Auch der Kinderzuschlag wird um monatlich 10 Euro auf 170 Euro erhöht. Dieser Kinderzuschlag wird denjenigen Eltern gewährt, die mit ihrem Erwerbseinkommen zwar den eigenen Bedarf nach dem Sozialgesetzbuch II decken können, bei denen dieses Erwerbseinkommen aber nicht ausreicht, um den Bedarf ihrer Kinder hinreichend zu decken. Neben diesen Anpassungen werden wir die kalte Progression abmildern, die von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu Recht als Gerechtigkeitsfrage wahrgenommen wird. Wenn die komplexen Wechselwirkungen von Inflation und Lohnerhöhung im Kontext eines progressiven Steuertarifs zu unerwünschten Ergebnissen führen, müssen kluge Gesetzgeber darauf reagieren. Und da an der Klugheit und Schaffenskraft dieser Koalition ja nun wirklich kein Zweifel besteht, ist es gut, dass wir unsere Steuertarife zugunsten der arbeitenden Bevölkerung für die nächsten beiden Jahre anpassen. Das sind wir den Menschen, die morgens aufstehen, ihrer Beschäftigung nachgehen und damit zum Wohlstand und zur Wohlfahrt unseres Landes beitragen, auch schuldig. Ich sage aber auch klar: Man muss immer das Ganze sehen, und die familienpolitische Gesamtbilanz dieser Wahlperiode kann sich sehen lassen. Erst letzte Woche haben wir beschlossen, den Etat des Familienministeriums für das Jahr 2017 mit 9,5 Milliarden Euro auszustatten. Das sind zwei Milliarden Euro mehr als zu Beginn der Wahlperiode. Das zeigt auch, welch hohen Stellenwert die Familien in diesem Land für uns haben. Wir haben hier also ein Paket, das eine Einzelmaßnahme unter vielen darstellt und das Familien, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern weitere Milliarden Entlastungen bringt – ab 2018 beträgt die Jahreswirkung der steuerlichen Entlastung 6,3 Milliarden Euro. Das tun wir, ohne im Widerspruch zum übergeordneten Ziel der schwarzen Null zu stehen. Das zeigt einmal mehr, dass eine kluge Finanzpolitik öffentliche Investitionen, Entlastung der Bürger und Augenmaß bei Ausgaben gut miteinander verbinden kann. Dieser Maßnahme können und sollen – wenn es nach meiner Partei geht – auch weitere, notwendige steuerliche Entlastungen für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler folgen. Über Letzteres werden wir uns sicherlich im Wahlkampf auseinandersetzen, für heute erbitte ich Ihre Zustimmung zu unserem Änderungsantrag. Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Erstens. Es bleibt dabei: Mit der Vereinbarung des internationalen Informationsaustausches von Steuer- und Unternehmensdaten hat die Staatengemeinschaft auf die Beobachtung der vergangenen Jahre reagiert, wonach Großkonzerne wie Facebook, Google und Starbucks durch Ausnutzung unterschiedlicher Steuersysteme ihre Steuerlast auf ein Minimum senken konnten. Verantwortlich für diesen Missstand waren vor allem unzureichende Informationen der Steuerbehörden über Auslandssachverhalte. Der Informationsaustausch ist deshalb zentraler Teil des Programmes gegen „Die Aushöhlung von Steuerbemessungsgrundlagen und Gewinnverlagerung“ (Base Erosion and Profit Shifting – kurz BEPS), das Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble bereits im Jahr 2012 auf Ebene der G 20 und der OECD mitinitiiert hatte. Aktionspunkt 13 des BEPS-Programmes sieht die Einführung eines verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs der Steuerbehörden über länderbezogene Berichte von Unternehmen, das sogenannte Country-by-Country Reporting vor. Die Steuerverwaltungen sollen damit Informationen über die globale Aufteilung der Erträge und die entrichteten Steuern sowie über weitere Indikatoren der Wirtschaftstätigkeit von international tätigen Unternehmen erhalten. Mit dem heute vorliegenden Gesetz setzen wir Aktionspunkt 13 und die entsprechende EU-Richtlinie nun in nationales Recht um. Bezugnehmend auf den hier ebenfalls vorliegenden Antrag der Grünen möchte ich auf einen ganz zentralen Bestandteil des Informationsaustausches eingehen: Die Daten werden nach diesem Gesetz nur den Steuerbehörden übermittelt und nicht veröffentlicht. Die G 20 und OECD haben dabei aus wohlerwogenen Gründen auf ein öffentliches Country-by-Country Reporting verzichtet. Auf europäischer Ebene hat die Kommission nun aber einen weiteren Regelungsvorschlag für die Umsetzung des Country-by-Country Reportings vorgelegt, mit dem eine Publizität des Country-by-Country Reportings gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit erreicht werden soll. Gleiches fordern nun auch die Grünen. Die EU-Kommission hat dafür einen Regelungsweg gewählt, mit dem wohl das für Ertragssteuerfragen notwendige Einstimmigkeitserfordernis im Rat umgangen werden soll. Die Wahl der Rechtsgrundlage wurde jüngst auch vom juristischen Dienst des Rates bemängelt. Es handelt sich danach um ein steuerliches Vorhaben, bei dem Einstimmigkeit gelten müsste. Die Einflussmöglichkeiten von Deutschland sind damit bei den Beratungen erheblich gemindert. Hier appelliere ich ausdrücklich an das Rechtsverständnis des Bundesjustizministers: Das Rügen der Rechtsgrundlage im Rat sollte nicht davon abhängig gemacht werden, wie man politisch zu dem Vorhaben steht. Gegen den Vorschlag der Kommission sprechen aber nicht nur rechtliche Bedenken. Auch politisch ist er ungeeignet zur Erreichung des erklärten Ziels „Herstellung von Steuergerechtigkeit“. Ein öffentliches Country-by-Country Reporting in Europa könnte sogar den Erfolg des gesamten BEPS-Projektes gefährden. Bei einem öffentlichen Country-by-Country Reporting gäbe es für Drittstaaten keinen Grund mehr, den europäischen Staaten ihrerseits entsprechende Daten zu übermitteln. Das Pfand, mit dem man die Kooperation anderer Staaten erreichen könnte, würde leichtfertig ohne Gegenleistung aus der Hand gegeben. Ziel des Handelns auf europäischer Ebene muss deshalb die inhaltlich gleiche Umsetzung der OECD/G-20-BEPS-Empfehlungen sein. Die öffentliche Berichterstattung dürfte außerdem schützenswerte Interessen der betroffenen Unternehmen verletzen. Im Besonderen ist der Schutz von Geschäftsgeheimnissen nicht hinreichend gewahrt, da durch die Veröffentlichungen Rückschlüsse auf Unternehmensstrukturen und Margen möglich wären. Vor allem die Grünen haben bemängelt, dass international noch kein effektiver Streitbeilegungsmechanismus ausgehandelt sei. Genau das aber ist das Problem, wenn man jetzt ein öffentliches Country-by-Country Reporting fordert, bei dem es absehbar zu einer noch größeren Zahl an Streitigkeiten zwischen Finanzbehörden kommen wird. Die Unternehmen werden dann absehbar in zahlreiche Fälle der Doppelbesteuerung laufen, ohne dass wir dafür praktikable und zuverlässige Lösungen hätten. Ich würde eher vorschlagen: Informationen ja, aber wenn wir im Gegenzug auch Informationen bekommen und am besten noch eine gegenseitige Vereinbarung über effiziente Streitbeilegung. Insgesamt würde ein öffentliches Country-by-Country Reporting mehr schaden als nutzen. Zur Durchsetzung des maßgeblichen Ziels, Eindämmung von Steuervermeidungspraktiken, ist es ausreichend und zielgerichteter, nicht wahllos die Öffentlichkeit, sondern die Steuerverwaltungen derjenigen Staaten, die sich am Austausch beteiligen, zu informieren. Zweitens. Mit dem vorliegenden Gesetz zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie führen wir nicht nur das Country-by-Country Reporting ein, sondern es werden auch verschiedene Vorschriften des deutschen Steuerrechts geändert, um diese an aktuelle Entwicklungen anzupassen. Hervorzuheben ist hier die Nachjustierung bei der Wegzugsbesteuerung in § 50i EStG, womit wir die überschießende Tendenz der Regelung korrigieren. Mit § 4i EStG soll der doppelte Betriebsausgabenabzug bei Personengesellschaften durch Sonderbetriebsvermögen vermieden werden. Hier sind wir auf die Forderung des Bundesrates eingegangen. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe wird aber im Einklang mit dem BEPS-Programm weiterhin an einer noch umfassenderen Lösung des Problems hybride Gestaltungen arbeiten. Die Regelung des § 1 AStG haben wir nicht ins Gesetz aufgenommen. Danach sollten ausschließlich die deutschen gesetzlichen Regelungen für die Auslegung des Fremdvergleichsmaßstabs nach Artikel 9 des OECD-Musterabkommens maßgeblich sein. Damit ließ der Wortlaut darauf schließen, dass es sich um einen schlichten treaty override handelt. Es bestand die Gefahr, dass bei unseren DBA-Vertragspartnern der Eindruck entsteht, Deutschland wolle sich einseitig vom internationalen Verständnis des Fremdvergleichsgrundsatzes abwenden. Um Doppelbesteuerung zu vermeiden, muss sich der Fremdvergleichsgrundsatz aber nach den jeweils aktuellsten internationalen Vereinbarungen richten. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Dieser zur Nachtzeit behandelte bzw. abgestimmte Gesetzentwurf beinhaltet drei wichtige steuerpolitische Themenbereiche, von denen jeder ein eigenes Gesetz – zur Tagzeit debattiert und beschlossen – verdient hätte: Bekämpfung von Gewinnkürzungen und Gewinnverlagerungen Entlastung der Einkommensteuerzahler und insbesondere der Familien Ausgleich, ja Überkompensation der kalten Progression Die Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und Gewinnverlagerungen ist eine der wichtigsten steuerpolitischen Maßnahmen dieser Legislaturperiode. Wir nennen Sie kurz Anti-BEPS-Projekt. Große Konzerne mit Milliardenumsätzen, hohen Gewinnen und exorbitant dicken Managergehältern zahlen zum Teil lächerlich geringe Steuerbeträge. Endlich gehen wir erneut dagegen vor. Mit der Entlastung der Einkommensteuerzahler und insbesondere der Familien geht es in Richtung soziale Gerechtigkeit. Wir setzen damit den im aktuellen Existenzminimumbericht und im Steuerprogressionsbericht ausgewiesenen Handlungsbedarf um. Auch wenn wir uns mehr hätten vorstellen können – hier helfen wir am unteren Ende der Einkommensskala. Abschließend, schon fast als Nebenbemerkung, wird eine erneute Angleichung der Tarifgrenzen bei der Einkommensteuer durchgeführt, um die sogenannte kalte Progression auszugleichen. Das machen wir über die Jahre zwar regelmäßig – mal vorauseilend, wie heute, oder auch nachlaufend –, aber leider wird immer wieder selbst jene kalte Progression angeprangert, deren Wirkung es nicht gibt – weil bereits kompensiert. Die Bündelung dieser drei Komponenten in ein Gesetz leuchtet rein fachlich, rein thematisch nicht ein, ist jedoch damit begründet, dass so die Verfahren und Zeitabläufe einfacher und kürzer werden. Schließlich soll die Umsetzung noch in diesem Jahr erfolgen. In der globalisierten Welt spielen Staatsgrenzen für unternehmerische Aktivitäten eine immer kleiner werdende Rolle. Viele Konzerne sind multinational aufgestellt, Manager denken weltumspannend, einige – wohlgemerkt nicht alle – springen gedanklich von Steueroase zu Steueroase. Anders ist das bei Steuersystemen, hier spielt das staatliche Hoheitsgebiet natürlich eine Rolle. Steuersysteme sind auf ihrem Staatsgebiet festgenagelt. Ein schwerwiegendes Problem ergibt sich dann, wenn auch das steuerpolitische Denken in den Staaten auf nationaler Ebene verharrt. Durch diese Diskrepanz haben sich multinationale Konzerne Möglichkeiten geschaffen, ihre Gewinne dorthin zu verlagern, wo der Steuersatz niedrig und die Bemessungsgrundlage kurz ist oder verkürzt werden kann. Im Ergebnis werden viel weniger Steuern verlangt, als Umsatz und Ertrag erwarten ließen. Im Ergebnis müssen alle anderen Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen mehr Steuern bezahlen, denn die staatliche Infrastruktur ist für alle wichtig. Auf Englisch heißt das Base Erosion und Profit Shifting: BEPS. Also Erosion der Bemessungsgrundlage durch Verlagerung des Gewinns. Wie groß das Ausmaß der Gewinnverlagerung ist, zeigen unter anderem die vielen journalistischen Leaks der letzten Jahre. Leak heißt Loch oder Lücke, also die Lücke, durch die uns Daten bekannt werden, die das Ausmaß der Steuerumgehung deutlich machen. Um dieser Herausforderung zu begegnen, haben die G20-Staaten 2013 die OECD damit beauftragt, konkrete Vorschläge gegen diese Formen der Steuergestaltung zu erarbeiten. Die OECD hat 2015 in Form des sogenannten BEPS-Aktionsplans geliefert. Ebenfalls geliefert hat die Europäische Union, indem sie daraus eine passende Amtshilferichtlinie abgeleitet hat. Unsere Aufgabe ist es nun, diese Richtlinie in nationales Recht zu überführen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben nun auch wir den ersten Teil der Umsetzung geliefert. Um mehr Transparenz bei der europäischen Unternehmensbesteuerung zu erreichen, werden drei zentrale Elemente aus der EU-Amtshilferichtlinie umgesetzt. Zum einen wird eine dreiteilige Verrechnungspreisdokumentation eingeführt. Mit Verrechnungspreisen bewerten multinationale Konzerne Geschäftsvorfälle innerhalb der Konzernfamilie. Diese Verrechnungspreise müssen mit dem sogenannten Fremdvergleichsgrundsatz übereinstimmen. Dies bedeutet, dass die Preise vergleichbar mit Marktpreisen sind, die das Unternehmen einem fremden Unternehmen berechnen würde. Keine familieninternen Spezialpreise! Die neugeregelte Dokumentation der Verrechnungspreise erlaubt es der Betriebsprüfung, dies besser zu kontrollieren. Weiterhin werden multinational aktive Unternehmen künftig verpflichtet, den Finanzbehörden spezielle länderbezogene Berichte zu liefern. Dies erfolgt im Rahmen des sogenannten Country-by-Country Reportings. Inhalt dieser Berichte sind unter anderem Angaben zu Umsatzerlösen, bereits gezahlten Ertragssteuern oder dem einbehaltenem Gewinn. Außerdem werden hier alle Betriebsstätten und Tochterunternehmen des Konzerns aufgelistet. Der Konzern muss dabei angeben, in welchen steuerlichen Hoheitsgebieten sich diese Einheiten befinden und welche Aktivitäten dort ablaufen. Nach der Lieferung der Berichte erfolgt deren automatischer Austausch zwischen den Finanzbehörden der EU-Staaten. Mithilfe dieser Berichte werden die beteiligten Finanzbehörden in die Lage versetzt, Gewinnverlagerung eines Konzerns besser zu erkennen und das daraus resultierende Risiko einer Steuerverkürzung besser einzuschätzen. Diese Maßnahme ist das Herzstück des vorliegenden Gesetzentwurfs. Das nächste Element bildet der automatisierte Austausch sogenannter Tax-Rulings. Hierbei handelt es sich um Steuervorbescheide, die ein Staat einem einzelnen Unternehmen erteilt. Durch die Luxemburg-Leaks wissen wir, dass diese Tax-Rulings oftmals Ausnahmeregelungen vom geltenden Steuerrecht beinhalten, das für die übrigen Unternehmen gilt. Dadurch entsteht eine unzulässige Wettbewerbsverzerrung und somit schädlicher Steuerwettbewerb zulasten der übrigen Staaten. Das machen deutsche Finanzbehörden nicht. Sie können Unternehmen zwar eine verbindliche Auskunft erteilen, die im Englischen ebenfalls mit Tax-Ruling übersetzt wird, jedoch handelt es sich dabei nicht um eine Ausnahmereglung, die nur für das eine Unternehmen gilt. Andere Unternehmen mit gleichen Voraussetzungen erhalten den gleichen Vorbescheid. Mithilfe des automatischen Austauschs der schädlichen Tax-Rulings, beispielsweise aus Luxemburg, können solche Praktiken künftig offengelegt werden. Die oben beschriebenen Maßnahmen schaffen eine verbesserte Transparenz über die Aktivitäten international agierender Unternehmen. Das begrüßen wir in der SPD-Fraktion. Gleichzeitig rufen wir aber auch die weiteren Ursachen für Gewinnverlagerungen und Gewinnkürzungen der Konzerne in Erinnerung: fehlende Abstimmung der nationalen Steuersysteme und unfairen Steuerwettbewerb. Die Folge einer solchen unzureichenden Abstimmung zwischen den Staaten ist zum Beispiel der doppelte Abzug von Betriebsausgaben bei Personengesellschaften. Hier macht der ausländische Gesellschafter Aufwendungen in Deutschland als Sonderbetriebsausgaben geltend und zieht diese Aufwendung gleichzeitig im Ausland nochmals als Betriebsausgaben ab. Mit der Einführung des neuen § 4i im Einkommensteuergesetz können wir künftig gegen solche hybriden Gestaltungen vorgehen. Diese Regelung ist ein besonderes Anliegen des Bundesrates gewesen, für das wir uns sehr gern in den Beratungen stark gemacht haben. Ebenfalls wichtig ist ein Fortbestehen des § 50i EStG, der verhindert, dass sich vermögende Steuerpflichtige beim Umzug ins Ausland der Besteuerung der in ihrem Vermögen enthaltenen stillen Reserven entziehen. Die Regelung wird kritisiert, da sie nicht nur Auslandsfälle, sondern auch Inlandsfälle betrifft, bei denen keine Steuerflucht zu befürchten wäre. Diese überschießende Wirkung wird nunmehr durch eine Beschränkung auf Auslandsfälle korrigiert. In den Beratungen haben wir Bedenken geäußert, ob es hier zu einer EU-rechtlich unzulässigen Ungleichbehandlung von EU-Ausländern kommen kann. Das Bundesministerium der Finanzen hat dies verneint. Die Erklärung des Ministeriums ist unserer Meinung nach nicht vollständig, daher müssen wir die Entwicklung bei diesem Aspekt beobachten. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält keine Maßnahmen gegen unfairen Steuerwettbewerb. Wettbewerb an sich ist ein fundamentaler Bestandteil der Marktwirtschaft. Der Wettbewerb muss aber fair sein. Steuerdumping höhlt die Einnahmebasis der Staaten aus. Für die Finanzierung der öffentlichen Güter benötigen Staaten Steuereinnahmen, und diese werden durch einen unfairen Steuerwettbewerb auf ein ineffizient niedriges Niveau reduziert. Daher ist es unsere Aufgabe, hier vorausschauend zu handeln und gemeinschaftlich abgestimmte Maßnahmen zur Regulierung von Steuerwettbewerb zu unternehmen. Jeder Kommunalpolitiker kennt die Formel „Race to the Bottom“ – vor lauter Konkurrenz der Nachbargemeinden um die Ansiedlung von Unternehmen werden schließlich beide arm. Hier geht es um die gleiche Sache auf internationaler Ebene. Mit den genannten Maßnahmen machen wir einen ersten Schritt zur Bekämpfung von Gewinnkürzung und Gewinnverlagerung durch multinationale Konzerne. Das ist ein Erfolg und gleichzeitig auch ein Beispiel für andere EU-Staaten, ebenfalls die Umsetzung der EU-Amtshilferichtlinie anzugehen. Es ist aber klar, dass einem ersten Schritt stets weitere Schritte folgen müssen, damit man das Ziel auch erreicht. Deshalb ist es unsere Aufgabe, in Zukunft weitere Punkte aus dem OECD-Aktionsplan des BEPS-Projektes umzusetzen, um die Transparenz weiter zu vergrößern, eine hinreichende Abstimmung mit den Steuersystemen der anderen EU-Staaten zu erreichen und endlich auch gegen den schädlichen Steuerwettbewerb vorzugehen. Den letzten Schritt sollten wir mit der Realisierung einer einheitlichen Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage in der europäischen Union vornehmen. Daran gilt es weiter zu arbeiten. Endlich ein Wort zu den Familien und jenen, die nicht in Konzernstrukturen und Kategorien der Steueroptimierung denken: In den Beratungen zu diesem Gesetz wurden auch wichtige Entlastungsmaßnahmen für die Steuerzahler und die Familien auf den Weg gebracht. Wir setzen dabei die aus dem Existenzminimumbericht und dem Steuerprogressionsbericht folgenden Anpassungsbedarfe um. Wir erhöhen den Grundfreibetrag – 2017 um 168 Euro und 2018 um 180 Euro – und den Kinderfreibetrag – 2017 um 108 Euro und 2018 um 72 Euro. Es war für uns selbstverständlich, dass wir auch das Kindergeld entsprechend anheben, damit auch Familien mit geringen und mittleren Einkommen eine spürbare Entlastung erfahren. Ein wichtiges Anliegen war der SPD darüber hinaus eine Erhöhung des Kinderzuschlags – 2017 um 10 Euro. Diese Erhöhung kommt besonders Familien mit kleinen Einkommen zugute. Niemand soll seiner Kinder wegen auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch angewiesen sein. Deshalb wird der Zuschlag erhöht. Damit lassen sich keine Reichtümer schaffen – leider führen hier schon kleine Beträge zu großen Belastungen in den öffentlichen Haushalten –, aber mit diesen Maßnahmen tragen wir so gut wie heute möglich zur Verbesserung der finanziellen Situation von Familien bei. Auch der Gefahr einer Minderung des Realeinkommens durch die sogenannte kalte Progression wurde in diesem Gesetzentwurf Rechnung getragen. Dafür wird eine Verschiebung der Tarifgrenzen – 2017 um 0,73 Prozent und 2018 um 1,65 Prozent – zugunsten der Bürgerinnen und Bürger vorgenommen. Die genannten Änderungen des Einkommensteuergesetzes zur Förderung von Familien und zur Verhinderung der Wirkung der sogenannten kalten Progression entlasten die Bürger in den nächsten beiden Jahren insgesamt um immerhin 6,645 Milliarden Euro. Soweit sich hier die Schätzungen bestätigen, wird die kalte Progression – tatsächlich ja eine Folge der Inflation – mit diesem Gesetz etwas überkompensiert. Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu – gleichwohl ist es sehr ärgerlich, dass wir ein solch wichtiges Gesetz zur Nachtzeit behandeln, keine Debatte führen und die Reden zu Protokoll geben. Richard Pitterle (DIE LINKE): Im Kampf gegen Steuervermeidung zählt jede Minute und jede noch so kleine Maßnahme. In jeder Minute, in der wir nicht handeln, nutzen milliardenschwere internationale Konzerne die Schwächen des nationalen und internationalen Steuerrechts aus, um ihre Gewinne zu verschieben und Steuern in Milliardenhöhe einzusparen. Daher begrüßen wir den heute zur Verabschiedung stehenden Gesetzentwurf zur EU-Amtshilferichtlinie und zu weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und Gewinnverlagerungen als richtigen Schritt. Allerdings, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, sollten Sie sich nicht zu sehr auf die Schultern klopfen. Mit der Note „Eins“ lässt sich der Gesetzentwurf nicht bewerten. Eine hervorragende Leistung haben Sie damit nicht abgeliefert. Sie setzen ohne besonderen Eifer nur das um, was durch internationale Empfehlungen sowie Vereinbarungen und durch europäisches Recht ohnehin vorgegeben ist. Die Wirksamkeit gesetzgeberischer Maßnahmen hängt jedoch nicht vom Gesetz selbst ab. Papier ist geduldig, und wo kein Kläger, da kein Richter. Mit der Verabschiedung von Gesetzen muss sichergestellt sein, dass die geschriebenen Pflichten auch befolgt werden. Alles andere ist Aktionismus, den wir uns im Kampf gegen Steuervermeidung im wahrsten Sinne des Wortes nicht leisten können! Leider strotzt Ihr Gesetz vor Vollzugsdefiziten, die es zu einem zahnlosen Tiger machen. Sie verpflichten multinationale Unternehmensgruppen mit einem Umsatz von mindestens 750 Millionen Euro zur Übermittlung länderbezogener Berichte ihrer Geschäftstätigkeit. Und was, wenn nicht?, werden sich die Berater der Konzerne fragen. Dann sieht Ihr Gesetz vor, dass eine Geldbuße von 10 000 Euro fällig wird. Aber auch ein Zwangsgeld von 25 000 Euro wird bei einem Konzern wie Apple mit Barreserven in Höhe von 200 Milliarden Dollar vermutlich keine nächtliche Sondersitzung des Vorstandes auslösen. Wirksam und abschreckend, wie es die Amtshilferichtlinie verlangt, ist das jedenfalls nicht. Natürlich lässt sich taktisch auch anders handeln. Sie wollen Informationen? Sie bekommen Informationen! Aber in einem Umfang, der die Suche nach steuerlich relevanten Umständen zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen macht. Offenbar glaubt man im Bundesfinanzministerium trotz der heillosen Überforderung bei Cum/Ex-Geschäften noch immer daran, bei den personellen und sachlichen Ressourcen auf Augenhöhe mit Finanzberatern zu agieren. Anders lässt sich jedenfalls die lapidare und an Realitätsverweigerung grenzende Anmerkung im Entwurf, die Prüfung der Berichte würde keine messbaren Auswirkungen auf die Verwaltung haben, nicht verstehen. Hätte der Entwurf vielleicht noch ein „Ausreichend“ erzielen können, wird er durch die kurzfristigen Änderungsanträge im Finanzausschuss endgültig mangelhaft. Das Sammelsurium an Änderungen im Steuerrecht, die in keinem sachlichen Zusammenhang mit dem Ziel des Entwurfes stehen und für gewöhnlich im eigenständigen Jahressteuergesetz zu finden sind, ist schlicht formell verfassungswidrig. Der Finanzausschuss des Bundestages, der diese Änderungen hier zur erstmaligen und zugleich letzten Beratung vorlegt, ist – wie alle Fachausschüsse – für Gesetzesvorhaben nicht initiativberechtigt. Zu diesen Ergänzungen zählt im Übrigen auch die großspurig angekündigte Entlastung von Familien mit Kindern. Jetzt wird es endlich amtlich: Mit der Erhöhung des Kindergeldes um 2 Euro gibt es vielleicht im nächsten Sommer die eine oder andere Kugel Eis mehr. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit mehreren Jahren beschäftigten wir uns im Deutschen Bundestag mit der Gewinnverlagerung und Steuervermeidung von grenzüberschreitend tätigen Unternehmen. Vor dem Hintergrund nationaler – und teilweise auch individuell den Unternehmen eingeräumter – steuerlicher Präferenzregime können Unternehmen im Einzelfall ihre Gewinne fast komplett steuerfrei behalten. Die EU-Kommission schätzt, dass die europäischen Staaten allein durch die aggressive Steuervermeidung der großen Konzerne insgesamt 50 Milliarden bis 70 Milliarden Euro jedes Jahr an Steuereinnahmen verlieren. Das hat nicht nur zu einem starken Protest der Bürgerinnen und Bürger geführt, sondern ist darüber hinaus eine Ursache für den Widerstand gegen die fortschreitende Globalisierung. Umso bedeutsamer war die Initiative vieler Länder im Rahmen der OECD, gemeinsam Empfehlungen zu entwickeln, um diese Entwicklung zu stoppen. Diese Empfehlungen wurden dann zunächst auf der Ebene der EU beschlossen und sollen jetzt national umgesetzt werden. Im Kampf um einen fairen Wettbewerb, die Verhinderung von Steuerdumping und gegen nationalen Egoismus hat diese Initiative eine entscheidende Bedeutung. Deshalb muss zunächst angemerkt werden: Die Behandlung dieses Themas in einer halben Stunde am späten Abend zeigt, dass die Koalitionsfraktionen offensichtlich nicht begriffen haben, wie wichtig ein solches Gesetz ist, um dem wachsenden Misstrauen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Globalisierung zu begegnen. Denn worauf beruht denn dieses Misstrauen, ja die Ablehnung der Globalisierung? Die Menschen sind jeden Tag mit Problemen konfrontiert: Jobunsicherheit, Schwierigkeiten, eine bezahlbare Wohnung zu bekommen, und Schulen, bei denen das Geld für eine dringende Sanierung fehlt. Und auf der anderen Seite stehen internationale Unternehmen, die offenbar kaum oder gar nicht für die öffentliche Daseinsvorsorge zahlen. Der vorliegende Gesetzentwurf darf nicht als Detailregelung sehr komplexer internationaler Steuerregelungen begriffen werden, sondern als ein wesentlicher Baustein, um mehr Gleichmäßigkeit für die Steuerabgaben internationaler Unternehmen herzustellen. Deshalb wäre es so wichtig gewesen, diese politisch so bedeutsame Zielsetzung aufzugreifen und umzusetzen. Das heute zu beschließende sogenannte BEPS-Umsetzungsgesetz wird diesem hehren Anspruch nicht gerecht. Es wäre so wichtig gewesen, zwei wichtige Instrumente für einen fairen Wettbewerb in das Gesetz mit aufzunehmen: zum einen mit länderbezogenen Offenlegungspflichten endlich Transparenz über wirtschaftliche Aktivitäten und aggressive Steuervermeidungsaktivitäten großer multinationaler Unternehmen herzustellen; denn nur mit Transparenz können Ängste bekämpft werden. Zum anderen muss die Bundesregierung aber auch klarmachen, dass sie das Steuerdumping anderer Staaten nicht einfach hinnehmen will. Eine nationale Lizenzschranke kann Steuerdumping effektiv verhindern. Es ist bitter, dass die progressiven Kräfte vor allem in der SPD sich bei beiden Themen in der Koalition nicht haben durchsetzen können, obwohl die SPD diese Vorschläge der Grünen in der letzten Legislaturperiode mit unterstützt hat. Zu nahe steht man offensichtlich den Industrieverbänden, die bei fehlendem Gespür für das gesellschaftliche und politische Umfeld eine Verhinderungsstrategie betreiben, die am Ende in Brexit und nationalen Alleingängen enden und damit Wohlstandsverluste für Deutschland befürchten lassen. Deutschland muss seiner Führungsverantwortung gerade in der Wirtschafts- und Finanzpolitik gerecht werden und diese auch durch eigene Maßnahmen unterstreichen. Und zu allem Überfluss wurden dem Gesetz verschiedenste sonstige Steuerrechtsänderungen angehängt. Dabei hätten auch diese einer sorgfältigen Behandlung bedurft. Wie oft wurde das Thema „kalte Progression“ angesprochen, und wie wichtig wäre es gewesen, über dieses Thema ordentlich und in angemessener Weise eine Debatte im Parlament zu führen. Denn in Zeiten einer fast Null-Inflation stellt sich das Thema „kalte Progression“ nicht, aber es stellt sich das Thema der Entlastung unterer und mittlere Einkommen. Und auch hier versucht sich die Koalition der sorgfältigen Debatte zu entziehen und am späten Abend schnell eine Entscheidung durchzuwinken. Dieses Verfahren zeigt die Führungsschwäche einer Kanzlerin und einer Koalition, die die notwendigen Maßnahmen gegenüber den aktuellen Herausforderungen bitter vermissen lässt. In der eigentlichen Sache, dem Kampf gegen Gewinnverlagerung und Steuervermeidung, zeigt sich die ganze Unentschlossenheit der Bundesregierung. Lassen Sie mich die beiden Vorschläge, die die Grünen in die Debatte eingebracht haben, nochmals erläutern. Da sind zunächst die länderbezogenen Offenlegungspflichten für große multinationale Unternehmen: ein geeignetes Instrument, um durch Transparenz über wirtschaftliche Aktivitäten aggressive Steuervermeidungsaktivitäten zu hemmen. Denn nur wenn für jeden nachvollziehbar ist, wie sich in multinationalen Konzernen die Erträge und gezahlten Steuern auf einzelne Volkswirtschaften verteilen, kann ein öffentlicher Druck entstehen, der dazu führt, dass Steuern auch wirklich dort gezahlt werden, wo Wertschöpfung stattfindet. Ohne ein Mindestmaß an Öffentlichkeit wird sich die Steuerplanung multinationaler Unternehmen weiterhin nicht an ethischen, d. h. gemeinwohlorientierten, Maßstäben orientieren, sondern am Shareholder-Value oder auch am nationalen Interesse einzelner Staaten. Denn ob die Nichtausübung des Anrechnungsverfahrens in den USA oder die doppelte Steuersitzangehörigkeit in Irland („double-irish“) oder die Lizenzbox in den Niederlanden („dutch sandwich“): Es sind vor allem die Egoismen einzelner Staaten, die die Steuergestaltung der international tätigen Unternehmen erst möglich machen. Dass diese die weit offenen, ja bewusst eingeräumten Schlupflöcher nutzen, kann ihnen gar nicht übel genommen werden. Dies gilt allerdings nicht, und das muss mit aller Klarheit gesagt werden, für Steuerhinterziehung und Steuerbetrug wie zum Beispiel bei den Karussellgeschäften mit Energiezertifikaten oder Cum/Ex-Geschäften. Die Entscheidung der EU-Kommission im August dieses Jahres, die irischen Steuerregelungen, von denen insbesondere Apple profitiert, als unzulässige Beihilfe einzustufen, war ein Zeichen im Kampf gegen den unzulässigen und schädlichen Steuerwettbewerb von Mitgliedstaaten. Es war auch ein starkes Signal für den freien Markt: Multinationale Konzerne dürfen steuerlich nicht bessergestellt werden als mittelständische Unternehmen. Mitgliedstaaten, deren steuerrechtliche Regelungen die Gewinnverschiebung von multinationalen Konzernen begünstigen, handeln nicht solidarisch, sondern auf Kosten der anderen Mitgliedstaaten. Damit komme ich zu dem zweiten Aktionspunkt, den wir Grünen vorgeschlagen haben. Besonders niedrige Steuersätze zum Beispiel auf Lizenzen können nur als Steuerdumping bezeichnet werden sie haben mit Steuerwettbewerb in Europa nichts zu tun. Diese niedrigen Steuersätze führen dazu, dass multinationale Konzerne effektiv im Durchschnitt eine geringere Steuerbelastung aufweisen als mittelständische Unternehmen. Diese Wettbewerbsverzerrung zulasten des Mittelstandes führt letztlich dazu, dass Innovation und Marktentwicklung gehemmt werden. Die Einsicht, dass die konzerninterne Verschiebung von Gewinnen mittels Lizenzzahlungen, vor allem in Ländern mit sogenannten Patent-Box-Regimen, effektiv nur durch eine nationale Lizenzschranke verhindert werden kann, hat sich bei vielen Experten durchgesetzt. Auch hier wäre es so wichtig, dass die Bundesregierung ein klares Signal setzt, dass sie weiterem Steuerdumping nicht weiter zuschauen will. Es wird deshalb sehr schnell ein zweites BEPS-Umsetzungsgesetz geben müssen. Darin muss dann auch eine Anzeigepflicht für Steuergestaltung stehen. Die Grenze zwischen legaler Steuergestaltung und illegaler Steuerhinterziehung muss transparenter werden. Seit Jahren schon fordern wir, die steuerberatende Branche mit einer Anzeigepflicht für steuermindernde Gestaltungen für ihre Kunden zu belegen. Einige andere Staaten haben damit gute Erfahrungen gemacht: Steuergestaltungsangebote gingen deutlich zurück, schwarze Schafe bei Banken und Steuerberatern konnten identifiziert werden, Verwaltung und Politik waren in der Lage, frühzeitig auf Risiken zu reagieren, und Kunden wurden vor windigen Steuergestaltungsangeboten geschützt. Das dazu jüngst vorgelegte Gutachten des Max-Planck-Instituts zeigt, dass eine Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle rechtlich auch in Deutschland möglich und ökonomisch sinnvoll ist. Dieses Instrument ist ein scharfes Schwert gegenüber Steuervermeidungsstrategien. Bei der Aggressivität, mit der manche Unternehmen Steuervermeidung betreiben, muss der Gesetzgeber solche Instrumente einsetzen, um Steuervermeidung zu bekämpfen. Die Bundesregierung, die sich dem Thema bisher verweigert hat, muss jetzt schnellstmöglich einen Gesetzentwurf liefern. Auch die von der Koalition kurzfristig wieder abgesetzte Anpassung des deutschen Außensteuerrechts zur Verhinderung von Verrechnungspreisgestaltungen muss dann angegangen werden. Es ist nicht nachvollziehbar, warum bei einer deutlichen Problemanzeige aus dem Kreis der steuerberatenden Branche die Bundesregierung zu dieser Sache noch nicht liefern konnte und eine zunächst als wichtig erachtete Präzisierung nicht umgesetzt hat. Notwendig wäre eine rechtliche Handhabe für die Finanzverwaltungen, eine Gewinnberichtigung tatsächlich vornehmen zu können, wenn festgestellt wird, dass eine Transaktionsstruktur allein aus Steuervermeidungsgründen gewählt wurde. Bisher ist dies nicht möglich. Rechtlich möglich, so der BFH, ist allenfalls eine Anpassung der Verrechnungspreise. Der Fremdvergleichsgrundsatz ist also Teil des Steuervermeidungsproblems. Der Fremdvergleichsgrundsatz in seiner bisherigen, in das nationale Recht transformierten Form verhindert es gerade nicht, vertragliche Abreden mit funktionsarmen verbundenen Unternehmen der Verrechnungspreisermittlung zugrunde zu legen, wodurch riesige Gewinne willkürlich im Konzern verschoben werden können. Dieser legalen Steuergestaltung, die der BEPS-Abschlussbericht eindämmen sollte, wird durch das BEPS-Umsetzungsgesetz kein Riegel vorgeschoben. Um die Finanzverwaltung in die Lage zu versetzen, derartigen Steuergestaltungen effektiv entgegenzuwirken und die erforderliche Besteuerung im Einklang mit tatsächlicher wirtschaftlicher Aktivität zu erreichen, müssen sie von vertraglichen Vereinbarungen abweichen können, wenn diese nicht Ausdruck tatsächlicher wirtschaftlicher Aktivität sind. Die politische Antwort auf die Herausforderungen der globalisierten Wirtschafts- und Finanzwelt muss eine mutige – und keine verzagte – sein. Ein Wort noch zum Vorhaben der Koalition, die kalte Progression im Einkommensteuertarif zu korrigieren. Eine Korrektur der sogenannten kalten Progression ist verfassungsrechtlich nicht notwendig. Und man rennt einer Sache hinterher, die aufgrund der aktuellen und der in den kommenden zwei Jahren zu erwartenden Inflationsrate schlicht nicht aktuell ist. Die politischen Prioritäten werden im Gesetzentwurf der Koalition falsch gesetzt, weil durch eine Korrektur der kalten Progression, wie jetzt im Gesetz geregelt, die höheren Einkommen am meisten profitieren. Dabei wäre es so wichtig, gerade die unteren und mittleren Einkommen zu entlasten. So beträgt die Entlastung der wenigen Steuerpflichtigen, die dem Spitzen- oder Reichensteuersatz unterliegen, ein Vielfaches der Entlastung unterer Einkommensgruppen. Auch hier hätte eine Lösung auf der Hand gelegen: die stärkere Anhebung des Grundfreibetrages. Der von uns vorgelegte Änderungsantrag zum Gesetz sieht aus diesen Gründen vor, das infrage stehende Finanzvolumen von etwa 2,4 Milliarden Euro für eine stärkere Anhebung des Grundfreibetrags zu verwenden. Diese Maßnahme bewirkt, dass Steuerpflichtige mit niedrigen Einkommen im Vergleich zum Gesetzentwurf verstärkt profitieren, aber insgesamt alle Steuerpflichtigen einheitlich entlastet werden. Denn eine Anhebung des Grundfreibetrags führt dazu, dass die Steuersenkung nicht mit dem Einkommen ansteigt, sondern für alle Einkommensgruppen gleich hoch ist. Der regressive Verteilungseffekt eines „Tarifs auf Rädern“ wird somit vermieden. Selten war ich so enttäuscht von einem Gesetzesentwurf. Wenn wir ihn dennoch nicht ablehnen, sondern uns enthalten, dann deshalb, weil die im Gesetz vorgesehenen Anti-BEPS-Maßnahmen in die richtige Richtung weisen, auch wenn sie viel zu kurz gefasst sind. Und weil wir einer steuerlichen Entlastung, auch wenn sie nicht ausgewogen ist, nicht widersprechen wollen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusiver Hochschulen fördern (Tagesordnungspunkt 18) Xaver Jung (CDU/CSU): „Und täglich grüßt das Murmeltier“. – Wieder einmal diskutieren wir einen der Anträge „Inklusive Bildung für alle“ – und mir hat sich immer noch nicht erschlossen, wieso wir vier verschiedene Anträge diskutieren, wenn doch ein ganzheitliches Konzept gefordert ist; denn Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe quer durch alle Bildungsbereiche. Fließende Übergänge und der Erhalt von Erfahrungen müssen unsere Ziele sein. Mit vier verschiedenen Anträgen senden Sie also schon allein symbolisch ein völlig falsches Signal. Aber auch inhaltlich zeigt sich, dass Sie die Prozesse einer fortschreitenden inklusiven Bildung nicht richtig erfassen: So wird mit dem vorgelegten Antrag die Bundesregierung unter anderem aufgefordert, mit dem Bundesrat und der Kultusministerkonferenz verbindliche Handlungsempfehlungen und Empfehlungen für personelle Standards und Garantien zu verfassen. Hier sind die Länder aber schon weiter: Alle haben bereits Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich Hochschule verabschiedet! In dem Antrag wird zudem gefordert, den Studierenden mit Beeinträchtigung BAföG über die Regelstudienzeit hinaus zu gewährleisten. Auch dies geschieht bereits! So heißt es in § 15 Absatz 3 des Gesetzes: „Über die Förderungshöchstdauer hinaus wird für eine angemessene Zeit Ausbildungsförderung geleistet, wenn sie Nummer 5 infolge einer Behinderung … überschritten worden ist.“ Zudem schlagen Sie einen „Inklusionspakt“ vor, der unter anderem ein Investitionsprogramm im Umfang von mindestens 2 Milliarden Euro umfassen soll. Dabei entlastet der Bund die Länder schon um 1,2 Milliarden Euro, und zwar jährlich, durch die Übernahme der BAföG-Kosten. Zudem werden wir bis 2023 mit dem Hochschulpakt weitere 20 Milliarden Euro investiert haben. Und ab 2020 kommen noch einmal 3,5 Milliarden Euro für die kommunale Bildungsinfrastruktur finanzschwacher Kommunen hinzu. Der Bund finanziert somit schon kräftig mit, nun sind endlich die Länder am Zug, das Geld gemäß der Vereinbarungen bedarfsgerecht einzusetzen. Ein weiterer Bestandteil des Inklusionspaktes sind Weiterbildungs- und Qualifizierungsprogramme. Auch hier ist der Bund schon aktiv. Auch für uns ist die Frage, wie eine heterogene Schülerschaft am besten gefördert werden kann und wie das wiederum zu vermitteln ist, zentral. So investiert das BMBF einerseits in Forschung in diesem Bereich. Andererseits werden im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ Projekte gefördert, die inklusive Bildung in der Lehrerbildung an Hochschulen erforschen und erproben. Diese Förderung an Hochschulen ist ein wichtiger Baustein für eine gelingende Inklusion. Grundsätzliche Kompetenzen im Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft erlernen die Lehrerinnen und Lehrer zudem in ihrem Studium. Denn im Rahmen der aktualisierten Standards für Lehrerbildung ist ein Basismodul für alle angehenden Lehrerinnen und Lehrer vorgesehen. Entsprechend haben alle Bundesländer schon im Januar 2015 angefangen, Maßnahmen der Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung zu realisieren. In der letzten Debatte bemerkten Sie, Frau Hein, dass unser System zusätzliche Hürden für Benachteiligte aufbauen würden: so könnten individuelle Situationen nicht berücksichtigt werden, wenn sie in den Sozialgesetzbüchern nicht vorkommen würden. Zudem müssten Hilfeleistungen erst kompliziert beantragt werden. Dies sind Probleme der Umsetzung – denn mit Beratungsstellen, die individuell auf die Belange der Schülerinnen und Schüler und ihr Umfeld eingehen können, kann viel aufgefangen werden. Die Studentenwerke haben bereits eine entsprechende Anlaufstelle eingerichtet. Sie zu stärken und angemessen auszustatten, obliegt nun den Ländern. Doch keine Frage: Inklusion oder, allgemeiner, die Beschulung einer heterogenen Schülerschaft ist eine der großen, wenn nicht sogar die größte Herausforderung unseres Bildungssystems. Doch mit übereilten Forderungen und dem Verkennen erfolgreicher Ansätze kommen wir nicht voran. Inklusion beginnt im Kopf, im Kopf eines jeden, und so müssen wir gesellschaftliche Akzeptanz durch wohlüberlegte Forderungen und zielgerichtete Ansätze schaffen. Eine Überforderung der Beteiligten durch eine sogenannte „kalte Inklusion“ oder übereifriger Reformwille bei einem historisch gewachsenen, gut funktionieren mehrgliedrigen System mit Sonderschulen sind da nicht hilfreich. Uwe Schummer (CDU/CSU): Bildung ist ein wesentlicher Schlüssel zur Teilhabe am Leben mit all seinen Facetten. Das gilt für Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen. Wer gut ausgebildet ist, hat bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Menschen mit Behinderungen sind vielfach gut ausgebildet und teilweise sogar besser qualifiziert als Menschen ohne Schwerbehinderung. Dennoch sind sie häufiger arbeitslos. Gute Bildung und Ausbildung sind wichtig, doch gleichzeitig braucht es aufgeschlossene Arbeitgeber, um diesen Menschen den Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen. Über 30 000 Betriebe beschäftigen heute keinen einzigen schwerbehinderten Menschen. Neben besseren Bildungschancen brauchen wir gleichzeitig mehr Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das kann Politik alleine nicht stemmen. Die Koalition hat in den vergangen Jahren daran gearbeitet, für Menschen mit Behinderungen mehr Optionen zur Teilhabe an Bildung, Arbeit zu schaffen. Unser Ziel ist, die geltende UN-Behindertenrechtskonvention prozesshaft weiter umzusetzen. Dazu haben wir die assistierte Ausbildung eingeführt, die Inklusionsbetriebe ausgebaut und im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes die Leistungen zur Teilhabe an Bildung klargestellt und erweitert. Als Behindertenbeauftragter meiner Fraktion habe ich mich bei der Kultusministerkonferenz dafür starkgemacht, dass neben Hamburg, Berlin und Brandenburg weitere Länder die Gebärdensprache als Unterrichtsfach in Regelschulen einführen. Für gehörlose und schwerhörige Menschen würden hemmende Kommunikationsbarrieren ausgeräumt werden, wenn immer mehr die Deutsche Gebärdensprache beherrschen. Die Rückmeldung der KMK war positiv. Jetzt müssen weitere Länder nachlegen. Als 2009 die UN-BRK geltendes Recht wurde, hat die Hochschulrektorenkonferenz gleich reagiert und sich dazu verpflichtet, eine „Hochschule für alle“ zu realisieren. Damit war ein wichtiges Signal gesetzt. Die Umsetzung ist ein Prozess, der noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Immer mehr Hochschulen setzten die Verpflichtung zur Inklusion in die Praxis um und schaffen Angebote für Studierende mit Behinderungen oder chronischer Erkrankung. Es gibt an nahezu jeder Uni qualifizierte Anlaufstellen, in denen schwerbehinderte Studierende oder Studieninteressierte umfassend beraten und unterstützt werden. Die Beauftragten für die Belange behinderter und chronisch kranker Studierender an den Universitäten als auch die Studentenwerke und Teile der verfassten Studierendenschaft vertreten die Interessen von Studenten mit Beeinträchtigungen. Sie alle arbeiten gemeinsam daran, die Studienbedingungen für Menschen mit Handicap zu optimieren. Studierende mit Behinderung können ihr Studium individuell planen und dabei auf „angemessene Vorkehrungen“ zurückgreifen: Sie können phasenweise in Teilzeit studieren, sie können Prüfungstermine individuell planen oder besondere Regelungen für Exkursionen sowie Praktika verhandeln. Wer mit einer Beeinträchtigung die für sich passende Uni sucht, kann schon heute aus mehreren Hochschulen auswählen. Die Uni Hamburg hat zum Beispiel eine Servicestelle für gehörlose und hörgeschädigte Studierende etabliert, die bei der Organisation des Studiums unterstützt. Die Uni Potsdam schult ihre Erstsemester-Tutoren zu den Themen Barrierefreiheit und Teilhabemöglichkeiten von Studierenden mit Behinderung. Denn vor allem innerhalb der Studierendenschaft ist es wichtig, für die Belange behinderter Kommilitonen zu sensibilisieren. Wenn dann im Studienalltag Barrieren auftauchen, lassen sich diese durch gegenseitige Hilfe auch mal unkompliziert überwinden. Menschen mit Behinderungen haben heute Anspruch auf individuelle Nachteilsausgleiche während des Studiums. Dafür sind verschiedene Kostenträger zuständig, wie BAföG-Ämter, die örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger, die Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende und die Kranken- und Pflegekassen. Ab dem 1. Januar 2017 tritt das neue Bundesteilhabegesetz in Kraft. Erstmals werden dann Hilfen zur Teilhabe an Bildung in der Eingliederungshilfe als eigene Leistung festgeschrieben. Damit stellen wir sicher, dass die notwendigen Assistenzleistungen von der Grundschule über die weiterführende Schule bis hin zur Universität für ein Bachelor- und Master-Studium bereitstehen. Auch für die berufliche Weiterbildung wird es künftig Leistungen aus der Eingliederungshilfe geben. Das ist ein enormer Fortschritt gegenüber geltendem Recht. Damit werden wir sicherlich mehr Menschen mit Behinderungen für die Aufnahme eines Studiums motivieren. Damit sich beruflicher Aufstieg und Leistung auch im Berufsleben lohnen, haben wir mit dem BTHG die Einkommens- und Vermögensfreigrenzen deutlich nach oben gesetzt. Auch Menschen mit Behinderungen mit Assistenzbedarf müssen von ihrem Lohn gut leben können. Ab 2020 wird daher das Einkommen bis 30 000 Euro frei von Zuzahlungen für Assistenzleistungen sein. Wer mehr verdient, leistet einen prozentualen Eigenbeitrag zu seinen Fachleistungen. Das Vermögen wird von heute 2 600 Euro auf bis zu 50 000 Euro anrechnungsfrei bleiben. Hier hat die Union ein klares Zeichen gesetzt: Leistung muss sich lohnen. Der Bund schnürt aktuell ein 5-Milliarden-Paket zur Förderung von Schulen. Bis zum Jahr 2021 sollen bundesweit alle 40 000 Schulen mit Computern und Internetzugang ausgerüstet werden. Investitionen in Digitalisierung kommen allen Schülern zugute, vor allem Schülern mit Behinderung. Ein Beispiel: Schüler mit feinmotorischen Einschränkungen können beispielsweise schneller über Tastaturen komplexe Texte verfassen oder Aufgaben zügiger lösen, als sie es mit dem Stift könnten. Ich bin überzeugt, dass dieses neue Förderprogramm auch die Inklusion in der Bildung massiv voranbringen wird. Wir sind in Deutschland auf einem guten Weg, Lernen und lebenslanges Lernen für alle Menschen zu ermöglichen. Inklusion ist ein Prozess, von dem alle profitieren müssen. Nur wenn wir eine breite gesellschaftliche Akzeptanz für diesen Prozess schaffen, kann er auch gelingen. Oliver Kaczmarek (SPD): Auf dem Weg zur inklusiven Hochschule sind wir einen entscheidenden Schritt weitergekommen. Mit der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes heute Morgen wurden nicht nur zahlreiche Leistungen für chronisch Kranke oder Studierende mit Behinderung ausgeweitet, sondern vielmehr die gesamte Logik bei der Inklusionsförderung vom Kopf auf die Füße gestellt. Mit dem neuen Gesetz stehen nicht mehr die Defizite von Menschen im Fokus, die es auf die eine oder andere Weise auszugleichen gälte, sondern die Verantwortung der Gesellschaft, Inklusion durch Teilhabemöglichkeiten und Barrierefreiheit oder mindestens Barrierearmut sicherzustellen. Dazu wurde nicht nur ein verändertes Teilhabeplanverfahren beschlossen, sondern auch die unabhängige Beratung der Antragstellenden verankert, die mit 60 Millionen Euro gefördert werden wird. Selbstbestimmtheit und Entscheidungsfreiheit stehen damit am Anfang der Unterstützungsleistung und nicht an ihrem Ende. Mein Dank gilt der zuständigen Ministerin Andrea Nahles und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Ministerium sowie den Verhandlungsführern der Koalition, die viel Arbeit und Herzblut in die Erarbeitung des Gesetzes gesteckt haben. Der Verabschiedung des Gesetzes ist ein langer und intensiver Prozess von Debatte und Beteiligung vorangegangen. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bei allen beteiligten Personen, Gruppen und Verbänden bedanken. Im parlamentarischen Verfahren ist es gelungen, zahlreiche Veränderungen und Verbesserungen aufzunehmen. Auch wenn es in den vergangenen Wochen und Monaten an der einen oder anderen Stelle zu Missverständnissen und Verstimmungen gekommen ist, möchte ich klarstellen, dass wir im Parlament die Sorgen, Interessen und Verbesserungswünsche stets ernst genommen haben. Ich habe die Hoffnung, dass daraus neues Vertrauen entstanden ist, das in Zukunft auch zu einer Versachlichung der Debatte beitragen wird. Für die Teilhabe an unserer Gesellschaft ist Bildung seit jeher von größter Bedeutung, unabhängig davon, ob es sich um behinderte oder nicht behinderte Menschen handelt. Deswegen fand schon im ursprünglichen Gesetzentwurf das Thema Teilhabe an Bildung eine erste Wertschätzung. Erstmals wurden die unterschiedlichen Maßnahmen zusammengeführt und als klarer Anspruch formuliert. Im angesprochenen Dialog und dem parlamentarischen Verfahren konnten noch zahlreiche Vorschläge und Ideen aufgenommen werden. So wurde geändert, dass Leistungen zur Teilhabe an Bildung nicht nur dann gewährt werden, wenn das Teilhabeziel erreicht werden kann. Das heißt beispielsweise im Fall der Hochschulen, dass Voraussetzung zum Hochschulstudium ist, ob eine Hochschulzugangsberechtigung vorliegt. Damit sind Menschen mit Behinderung an diesem Punkt gleichgestellt. Zusätzlich wurde klargestellt, dass auch der Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung durch den Besuch an weiterführenden Schulen im Sinne des Gesetzes förderungsfähig ist. Darüber hinaus muss der Teilhabeplan heilpädagogische und sonstige Maßnahmen enthalten, die den Leistungsberechtigten den Hochschulbesuch ermöglichen oder erleichtern. Wir haben in den Beratungen einen einfacheren Zugang zu Leistungen zur Teilhabe an Bildung durchgesetzt. Durch die Ausweitung von Leistungen machen wir deutlich: Inklusion im Bildungssystem ist zentral für uns, um von Anfang an den Weg zu einer inklusiven Gesellschaft zu eröffnen, an der alle teilhaben können. Zentral ist auch die Erprobung des neuen Zugangs zur Eingliederungshilfe. Es stand die Befürchtung im Raum, dass Menschen den Zugang zur Eingliederungshilfe verlieren, wenn die neue Regel „Einschränkung in fünf von neun Lebensbereichen“ angewendet wird. Genauso wichtig ist aber auch das Versprechen gewesen, dass niemand aus der Förderung fallen soll. Deswegen wird es einen Modellversuch mit umfassender wissenschaftlicher Begleitung und Evaluation geben. Damit die Veränderungen absehbar werden, nehmen wir uns bis zum Jahr 2023 Zeit, um über einen neugeregelten Zugang zur Eingliederungshilfe zu entscheiden. Die Umstellung soll sanft und ohne Brüche erfolgen. Bis dahin ist für alle Menschen, die bereits in der Förderung sind, sichergestellt, dass sie auch weiter Leistungen erhalten. Dem Versprechen, keine neuen Benachteiligungen durch das Bundesteilhabegesetz zu schaffen, sind wir treu geblieben! Im Dialog der letzten Monate ist auch klar geworden, wie ein barrierefreies Studium in Zukunft aussehen muss. Erstens gilt es, eine barrierefreie soziale Infrastruktur zu schaffen. Das fängt bei der Beratung von Studierenden mit Behinderung an, geht über Angebote für die Begleitung und reicht bis zur Schaffung barrierefreier Wohnräume. Der Zugang zu Lernmitteln muss so gestaltet sein, dass sie für Studierende mit Behinderungen nutzbar sind. Wo nötig, muss der Umgang mit Hilfsmitteln geschult werden. Dazu müssen auch von den Hochschulen Angebote entwickelt werden, die mögliche Nachteile ausgleichen. Nicht zuletzt bietet die Digitalisierung für Studierende mit Behinderung große Chancen. Eine Entkoppelung von Lernen und Präsenz vor Ort schafft gerade für Menschen mit eingeschränkter Mobilität neue Teilhabechancen an hochschulischen Angeboten. Die Hochschulen haben das bereits erkannt. Sie sind aber weiter gefordert, Angebote für inklusive Bildung zu entwickeln. Ich schließe damit, festzustellen: Heute ist ein guter Tag für die Inklusion an unseren Hochschulen. Vor uns liegen große Anstrengungen, um die im Gesetz verankerten Verbesserungen Realität werden zu lassen. Es kommt jetzt darauf an, dass wir gemeinsam in den Hochschulen, den Verwaltungen und bei den Trägern die beschlossenen Verbesserungen für eine stärkere Inklusion umsetzen. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Professor Dr. Hase, Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung, hat kürzlich zu Beginn einer großen Tagung für die barrierefreie Hochschule in Schleswig-Holstein in seiner Begrüßung darauf hingewiesen, dass er als hörbeeinträchtigter Jurastudent sein Studium gegenüber den Lehrenden an der Universität immer wieder rechtfertigen musste. Heute dagegen ist die Inklusion von Menschen mit Behinderung an den Hochschulen in der UN-Behindertenrechtskonvention rechtlich verankert. Damit dieses international gültige Recht jetzt auch seine praktische Wirksamkeit entfaltet, braucht es mehr Debatten, mehr Initiativen in den Hochschulen, mehr Begleitung durch die Politik und vor allen Dingen mehr ganz konkrete einzelne Schritte. Dazu möchte ich positiv festhalten, dass natürlich auch der eingebrachte Antrag der Fraktion Die Linke einen solchen Anstoß für uns im Bundestag setzt, den wir unbedingt aufnehmen sollten, auch wenn wir von der SPD nicht in allen Punkten bei dem umfangreichen Forderungskatalog mit den Linken übereinstimmen müssen. Das Thema ist jedenfalls gesetzt. Wir werden es im Bildungsausschuss intensiv vertiefen können. Die detaillierte Kommentierung und Bewertung der Forderungen der Linken soll deshalb auch der zweiten Lesung dieses Antrags vorbehalten sein. Der Tag der Einbringung dieses Antrags passt auch; denn die Regierungskoalition hat auf Initiative unserer Bundessozialministerin Andrea Nahles heute ein wirklich wegweisendes Teilhabegesetz verabschieden können, bei dem insbesondere auch die Zugänge zu Bildung durch die ganze Bildungsbiografie hindurch deutlich gefördert werden. Der Kollege Oliver Kaczmarek macht in seinem Beitrag deutlich, was dieses Teilhabegesetz im Einzelnen bedeutet und positiv in Gang setzt. Dass wir über das Teilhabegesetz hinaus weiterdenken müssen, wenn wir eine inklusive Hochschule erreichen wollen, macht insbesondere die Datenerhebung „beeinträchtigt studieren“ deutlich, die im Auftrag des Deutschen Studentenwerks im Sommersemester 2011 mehr als 15 000 Studierende mit studienerschwerenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen um detaillierte Auskunft über ihre beeinträchtigungsbedingten Belange bei Studienwahl, Studiendurchführung und Studienfinanzierung befragt hat. Achim Meyer auf der Heide, Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks, hat auf der Grundlage der Ergebnisse fünf wichtige Handlungsfelder identifiziert, die auch für die weitere hochschulpolitische wie auch allgemeinpolitische Debatte bestimmend sein müssen: Erstens. Es gibt nicht den Studierenden oder die Studierende mit Behinderung. Beeinträchtigungsbedingte Anforderungen an Studium, Hochschule und Studentenwerksangebote müssen deshalb auch sehr unterschiedlich ausfallen und hängen stark von der jeweiligen Art der Beeinträchtigung ab. Das werden viele von uns auch selbst erlebt haben, wenn sie an ihre eigene Studienzeit zurückdenken; denn tatsächlich waren die Belange von Menschen mit Behinderung und Beeinträchtigung die große Unbekannte. Wenn nur 6 Prozent der teilnehmenden Studierenden an der Befragung angeben, dass ihre gesundheitliche Beeinträchtigung auf Anhieb von Dritten wahrnehmbar ist, müssen wir eben Barrierefreiheit neu denken und neu verstehen. Nur 12 Prozent der befragten Studierenden geben an, hauptsächlich aufgrund einer Bewegungs-, Seh- oder Hörbeeinträchtigung im Studium eingeschränkt zu sein. Zwei Drittel der studienrelevanten Beeinträchtigungen an den Hochschulen bleiben dagegen unbemerkt, wenn Studierende nicht selbst darauf hinweisen. Deshalb braucht es eine klare Verankerung des Zieles Barrierefreiheit in allen Prozessen und Entscheidungen der verantwortlichen Akteure an den Hochschulen, und das von vornherein und auch auf höchster Ebene der Hochschulleitungen. Auch die Beauftragten für die Belange von Studierenden mit Behinderung und chronischen Krankheiten können dabei eine wichtige Rolle übernehmen. Das setzt eine gesetzliche Verankerung in den Bundesländern voraus; die Arbeit der Beauftragten muss professionalisiert werden. Ohne mehr personelle, finanzielle und zeitliche Ressourcen und nötige Mitwirkungsrechte wird es nicht gelingen, Barrierefreiheit neu zu erkennen und neu zu denken. Zweitens. Zeitliche und formale Vorgaben der Studien- und Prüfungsordnung werden für die Mehrheit der gesundheitlich beeinträchtigten Studierenden zu echten Barrieren. Annähernd zwei Drittel der Befragten haben nach eigenen Angaben Schwierigkeiten zum Beispiel mit der Prüfungsdichte, der starren Abfolge von Modulen oder Anwesenheitspflichten. Zwei von drei der betroffenen Studierenden kritisieren, dass ihre Lehrkräfte sich nicht auf ihre spezifischen Belange einstellen können. Nicht nur die Hochschulen, sondern auch wir als politische Gestalter von Fördersystemen wie zum Beispiel beim BAföG oder beim Teilhabegesetz müssen deshalb verinnerlichen, dass Studierende mit Behinderung und chronischen Krankheiten mehr Gestaltungsspielräume bei der Organisation ihres Studiums brauchen. Auch wenn es mühselig sein wird, muss das Recht auf Nachteilsausgleich zur intensiven Überprüfung von allen Verfahrensgrundsätzen führen, damit sie wirklich diskriminierungsfrei gestaltet sind. Drittens. Die gute Absicht und die guten Bedingungen müssen noch lange nicht dazu führen, dass sie auch tatsächlich in Anspruch genommen werden. Dieses Ergebnis aus der Befragung „beeinträchtigt studieren“ hat mich besonders betroffen gemacht. Lediglich ein gutes Drittel der befragten Studierenden hat bisher überhaupt jemals einen Antrag auf Nachteilsausgleich im Studium gestellt, obwohl immerhin 60 Prozent der befragten Studierenden starke oder sehr starke Studienbeeinträchtigungen angeben. Die Studierenden wissen nämlich nicht, dass es solche Möglichkeiten der Unterstützung gibt, oder sie haben Angst, sich zu outen, und wollen nicht, dass ihre Behinderung oder ihre chronische Krankheit bekannt wird. Informations-, Beratungs- und Unterstützungsangebote der Hochschulen und Studentenwerke werden deshalb umso wichtiger. Immerhin fördert aktuell auch schon die Bundesregierung eine zentrale Beratungseinrichtung des Deutschen Studentenwerkes für das Beratungswesen und die Unterstützung in den Hochschulen selbst. Hier wird über eine Ausweitung nachzudenken sein, wenn denn wirklich die Bewegung pro Inklusion in den Hochschulen viel weiter Platz greift, was wir uns ja alle nur wünschen können. Viertens. Beratung wird dabei vor allen Dingen in Bezug auf die diskriminierungsfreie Studienfinanzierung notwendig sein. Denn mehr als zwei Drittel der befragten Studierenden haben beeinträchtigungsbedingte Zusatzkosten, zum Beispiel für Arztbesuche, Psychotherapien, Medikamente etc. Mehr als jeder Siebte von ihnen hat massive Schwierigkeiten, seinen Lebensunterhalt samt diesen besonderen Studienzusatzkosten zu decken. Aber auch hier: Nur rund 2,5 Prozent der befragten Studierenden nehmen zusätzliche staatliche Sozialleistungen jenseits des Bundesausbildungsförderungsgesetzes in Anspruch. Wir müssen überlegen, wie die Leistungen noch mehr auf die ganz konkreten Bedürfnisse von Studierenden mit Behinderung oder einer chronischen Krankheit abgestimmt sein können. Wir müssen aber vor allem auch dafür mit sorgen, dass diese Hilfen auch praktisch angenommen werden können. Fünftens. Deshalb kommt der Generalsekretär des Deutschen Studentenwerkes in dem fünften Punkt seiner Auswertung zu der Situation von Studierenden an einer inklusiven Hochschule zu der für ihn wichtigsten und drängendsten Aufgabe überhaupt, nämlich der Sensibilisierung und Qualifizierung aller an Hochschulen und Studentenwerken Tätigen für dieses Thema. „Man ist nicht behindert, sondern man wird behindert“: Das muss auch von uns in der politischen Verantwortung verinnerlicht werden. Tatsächlich gibt es hier auch gute Basisansätze in vielen Bundesländern, an vielen Hochschulen und auch bei den Spitzenverbänden. Mich hat sehr beeindruckt, was zum Beispiel bei der eingangs von mir genannten Tagung zur barrierefreien Hochschule in Schleswig-Holstein an Ideen und auch konkreten Beispielen für dieses Bundesland zusammengetragen worden ist. Der Staatssekretär fordert dazu auf, barrierefreie Hochschule zu einem Markenzeichen für das Bildungssystem insgesamt zu machen. Die Fachreferentin des Deutschen Studentenwerkes wirbt für den Perspektivwechsel von der individuellen zur institutionellen Verantwortung. Die Beauftragte für Studierende mit Behinderung der Fachhochschule ermunterte die Studierenden: „Kommen Sie und machen Sie sich sichtbar! Kommen Sie in die Beratungsstellen, aber machen Sie sich sichtbar auf dem Campus!“ Das steht beispielhaft für viel Engagement im deutschen Hochschulsystem, um das Leitbild einer Hochschule für alle mehr und mehr Wirklichkeit werden zu lassen. Als Student hat mich sehr das Buch „Sonja“ von Judith Offenbach beeindruckt, in dem das tragische Leben einer gelähmten Studentin an der Hamburger Universität nachgezeichnet wird. Dieser nicht spektakuläre, aber sehr detaillierte Bericht über den Alltag einer behinderten Studentin endet in Tragik und Melancholie. Das ist ganz nüchtern die große Aufgabe, die wir jetzt zusammen mit neuem Mut angehen können: Diskriminierung, Tragik und Melancholie durch Gleichberechtigung, Teilhabe und Mut zu ersetzen. Nicole Gohlke (DIE LINKE): Die LINKE hat heute einen Antrag vorgelegt mit Vorschlägen, wie wir den Ausbau der Hochschulen im Sinne der Inklusion voranbringen können. Seit 2009 hat sich Deutschland zur Inklusion verpflichtet, seit 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft, und das bedeutet nichts weniger, als dass alle Menschen das gleiche Recht auf vollständige gesellschaftliche Teilhabe haben, dass wir die Verschiedenheit, die Unterschiedlichkeit der Menschen endlich als Reichtum und nicht als Hemmnis oder Problem begreifen. In der Bildung wie in jedem anderen gesellschaftlichen Bereich muss es einen uneingeschränkten, einen gleichberechtigten Zugang für alle Menschen geben. Für alle Menschen, also weder die soziale Zugehörigkeit noch der ökonomische Hintergrund, weder individuell verschiedene Voraussetzungen noch Handicaps, weder das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung noch Religion oder Herkunft dürfen ein Hindernis für Partizipation darstellen. Alle meint einfach alle. Für dieses Umdenken ist es wirklich höchste Zeit! An vielen Hochschulen werden Anstrengungen unternommen, um die Barrierefreiheit voranzubringen, mit Rampen und Aufzügen für Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen oder mit barrierefreien Web-Auftritten. Aber es ist bei diesem Thema genauso wie bei den meisten anderen wichtigen Herausforderungen in der Bildung: Eine angemessen schnelle und flächendeckende Umstellung wird nur gelingen, wenn es dafür eine gezielte Unterstützung von Bund und Ländern gibt, und deshalb wirbt die Linke für ein Investitionsprogramm für inklusive Bildung, zusammen mit einem Inklusionspakt für die Hochschulen, um nicht nur bauliche Maßnahmen voranzubringen, sondern auch die Lehr- und Lernmittel inklusiv auszurichten, oder um das Betreuungsverhältnis von Studierenden und Lehrenden zu verbessern. Aber statt sich darüber Gedanken zu machen, wie die Bundesregierung helfen kann, Hürden zu beseitigen, baut sie selber neue auf. Das neue Bundesteilhabegesetz, das heute verabschiedet wurde – und zwar gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke –, bedeutet, auch nach den nun vorgenommenen Änderungen, deutliche Verschlechterungen für Studierende mit Beeinträchtigungen. Fakt ist, dass die Pläne der Bundesregierung das Recht auf freie Berufswahl einschränken werden, und es ist eigentlich unglaublich, dass wir uns heute, statt über die nächsten Schritte in Richtung Inklusion zu reden, uns über die Verhinderung von neuer Diskriminierung unterhalten müssen. Statt das Leben einfacher zu machen für diejenigen, die auf persönliche Assistenz angewiesen sind, schränken sie ihre Rechte im Vergleich mit Studierenden ohne Behinderung ein. Der Erhalt von Eingliederungshilfe für eine schulische oder hochschulische berufliche Weiterbildung soll an zeitliche und inhaltliche Vorgaben gebunden sein, und Leistungen für ein Promotionsstudium werden im Bundeteilhabegesetz nicht einmal aufgeführt. All das sind massive Benachteiligungen für Studierende und Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen mit Behinderungen, es ist das Gegenteil von dem, was die UN-Behindertenrechtskonvention will. Und das ist nicht hinzunehmen. Und für die allermeisten Studierenden mit Beeinträchtigung ist der notwendige finanzielle Mehrbedarf für das Studium ein echtes Problem. Und es kann doch nicht sein, dass erhöhte Bedarfe wegen einer Behinderung im BAföG grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Dieser Zustand ist unzumutbar für die Betroffenen. Deswegen wollen wir das BAföG zukünftig in eine der Beeinträchtigung angemessene Förderung umwandeln und über die Regelstudienzeit hinaus zahlen – nur so kann verhindert werden, dass Studierende mit Behinderung nicht vielleicht zum Studienabbruch gezwungen sind. Die Beseitigung von Barrieren, das ist nicht nur relevant für Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern für uns alle, weil jede und jeder von uns immer wieder darauf angewiesen ist, dass uns Hürden aus dem Weg geräumt werden. Dieses Verständnis von Inklusion wollen wir voranbringen. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Inklusion ist ein Menschenrecht. Sie beruht auf der Wertschätzung menschlicher Vielfalt und der Unterschiedlichkeit von Menschen als das, was sie ist: Normalität. In einer inklusiven Gesellschaft leben alle Menschen als einzigartig, besonders und gleichberechtigt miteinander, unabhängig von ihrer Herkunft, Weltanschauung, sexuellen oder geschlechtlichen Identität, ihren Fähigkeiten oder Bedürfnissen. Inklusion bedeutet lebenslange volle, gleichberechtigte und wirksame Teilhabe aller Menschen. Sie erfordert, die gesellschaftlichen Strukturen so zu verändern und zu gestalten, dass sie der Vielfalt der menschlichen Lebenslagen von Anfang an Rechnung tragen und allen Menschen gleichermaßen zugänglich sind. Dies gilt für das gesamte gesellschaftliche Leben: vom Besuch der gemeinsamen Kindertagesstätte, von der Schule, Berufs- oder Hochschule, der Information und Kommunikation bis hin zum Wohnen, Arbeiten, zu der Freizeitgestaltung und Selbstbestimmung bis ins hohe Alter. Seit Jahrzehnten kämpfen Menschen mit Behinderung für ein selbstbestimmtes Leben und gleichberechtigte Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben. Trotzdem leiden sie noch heute unter mangelnder Inklusion. Der Leitspruch der Bewegung hat damals wie heute Gültigkeit: „Der Mensch ist nicht behindert, er wird behindert!“ Dem Grundanliegen des Antrags „Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusiver Hochschulen fördern“, den die Fraktion Die Linke hier heute vorlegt, können wir zustimmen: Inklusive Bildung bedeutet, auch Hochschulen zu „enthindern“. Die Hochschulrektorenkonferenz hat bereits 2009 in ihrer Empfehlung „Eine Hochschule für Alle“ zentrale Probleme angesprochen, die im Zuge des Ausbaus einer inklusiven Hochschullandschaft gelöst werden müssen: Die Spannbreite reicht von der Studienorientierung, -beratung und -zulassung über die Gestaltung der Lehre und Prüfungen bis zu Fragen der Barrierefreiheit und Studienfinanzierung. Laut Erhebung des Deutschen Studentenwerks zur Situation von Studierenden mit Behinderung und chronischer Krankheit („beeinträchtigt studieren“) erleben noch immer 60 Prozent der Befragten starke bzw. sehr starke beeinträchtigungsbedingte Studienerschwernisse. Auch wenn es an vielen Hochschulen bereits gute individuelle Lösungen für einzelne Studierende mit Behinderung gibt, ist es noch ein weiter Weg zur flächendeckenden inklusiven Hochschule. Die baulichen, kommunikativen, aber auch die finanziellen und rechtlichen Barrieren müssen weg, die bisher Menschen mit Behinderungen zusätzlich den Weg an die Hochschule erschweren. Inklusion zu gestalten, ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern. Die Verantwortung für die Finanzierung von Maßnahmen, die behinderten Menschen ein Studium ermöglichen, ist zwischen Hochschule und Sozialhilfeträger nicht klar genug geregelt. In den Programmen, mit denen Hochschulen der Vielfalt in der Studierendenschaft gerecht werden und sie fördern wollen, spielen Menschen mit Behinderung noch zu oft eine Nebenrolle. Es gibt bisher kaum Lehrende, die Kenntnisse barrierefreier Hochschuldidaktik haben, obwohl davon nicht nur behinderte Studierende profitieren würden. Ein Feld, wo die Regierungsfraktionen auf den letzten Drücker ein paar Verbesserungen im Bildungsbereich erkannt haben, ist das Bundesteilhabegesetz. Wir sind der Auffassung: Leistungen zur Teilhabe müssen in jeder Phase allgemeiner, beruflicher und hochschulischer Bildung gewährt werden. Es muss sichergestellt sein, dass Menschen mit Unterstützungsbedarf die vielfältigen Bildungsgänge und -wege gleichberechtigt wahrnehmen können. Dies gilt insbesondere auch für eine freiwillige berufliche Neuorientierung. Trotz dieser kleinen Verbesserungen bringt das Bundesteilhabegesetz von Union und SPD insgesamt schlechtere Bedingungen für behinderte Studierende. Künftig gilt der Grundsatz, dass der Staat nur für einen Ausbildungsgang die behinderungsbedingten Kosten – zum Beispiel Assistenz oder Gebärdendolmetscher – finanziert. Davon soll nur abgewichen werden, wenn zwischen den beiden Ausbildungsgängen ein inhaltlicher Zusammenhang besteht und höchstens zwei Jahre Abstand liegen. Praktika und Auslandssemester sind nur möglich, wenn sie vorgeschrieben sind. All das ist schlecht – und all das ist vor allem keine Inklusion. Der Antrag der Linksfraktion zur inklusiven Hochschule fokussiert auf Menschen mit Behinderung, die an einer öffentlichen Hochschule ihrer Wahl zusammen mit anderen studieren oder promovieren wollen. Gerade in Zeiten wie diesen ist es leider notwendig, deutlich zu sagen, dass weder les-bi-schwul-trans*-Menschen noch Behinderte „Minderheiten“ sind, denen sich irgendwer „zu viel widmen“ könnte. Aus falscher Angst vor lauten Pöblern so zu tun, als seien alle Menschen gleich, nützt nur denen, die sich zum Maßstab machen und zur Mehrheit erklären, ohne es zu sein. Ein liberaler Verfassungsstaat zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er keine Diskriminierungen zulässt. So ein Staat fällt keine Werturteile, wer es „wert“ ist, studieren zu dürfen, oder bei wem es „zu viel des Guten“ ist, weil es halt Steuermittel kostet, eine exklusiv geplante und gebaute Hochschule endlich auch für Blinde, Gehbehinderte oder Autistinnen und Autisten zu öffnen. Wir sind schlauer als früher; denn es gab auch eine Zeit, in der diskutiert wurde, dass Frauen nicht an Schulen oder Hochschulen dürften, weil man dann dort ja weitere Toiletten einbauen müsste. Dieser Gedanke erscheint uns heute absurd; wir haben uns weiterentwickelt. Aber dann müssen wir auch die Konsequenzen daraus ziehen und die öffentlichen Einrichtungen öffnen, die Hindernisse wegnehmen und einen neuen Standard setzen, der Inklusion heißt. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zur Vergabe von Wegenutzungsrechten zur leitungsgebundenen Energieversorgung (Tagesordnungspunkt 20) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Heute schließen wir die Beratungen über einen Gesetzentwurf ab, der auf den ersten Blick nur eine Kleinigkeit sein mag, es handelt sich um die Änderung eines einzelnen Paragraphen, § 46 im Energiewirtschaftsgesetz. Aber es ist ein Paragraph mit großer Wirkung, und deshalb ist das Gesetz, das wir heute beschließen, wichtig. Über Jahre hinweg hatten wir massive Rechtsunsicherheiten bei Ausschreibungen für Leitungskonzessionen in Kommunen gehabt. Rechtsstreitigkeiten vor Gericht, viel Ärger, viel Aufwand und hohe Kosten bei allen Beteiligten: bei den Kommunen, die für die Ausschreibungen zuständig sind, bei den Altkonzessionären, die ihre Konzessionen in der Ausschreibung verloren haben, und bei den Neukonzessionären, die die Ausschreibungen gewonnen haben. Deshalb war es unser Ziel als Koalition, in diesem Thema endlich mehr Rechtssicherheit zu schaffen und damit zur Befriedung dieser Konflikte beizutragen. Mehr Rechtssicherheit für alle Beteiligten – das hatten wir uns mit dem Koalitionsvertrag vorgenommen, und das setzen wir jetzt um. Wir schaffen Klarheit für die Kommunen, welche Auskunftsrechte sie bekommen. Das ist für sie wichtig, damit sie ihre Ausschreibung rechtssicher gestalten können. Wir schaffen Klarheit über den Kaufpreis für die Netze. Wir haben uns verständigt auf den Vorschlag des objektivierten Ertragswerts. Darüber haben wir auch in den Beratungen intensiv diskutiert und den Vorschlag geprüft. Er ist angemessen, weil wir damit der Rechtsprechung Rechnung tragen. Indem wir dies jetzt auch im Gesetz selbst regeln, schaffen wir auch hier Rechtssicherheit und Klarheit. Wir schaffen auch Klarheit, dass Verfahrensmängel zügig gerügt werden müssen. Wir hatten es doch erlebt, dass teilweise zwei Jahre nach Abschluss eines Verfahrens noch der Rechtsweg eingeleitet wurde. Wir setzen jetzt eine enge Frist von wenigen Wochen, innerhalb der eine Vergabe gerügt werden kann. Danach gilt eine Entscheidung. Auch das schafft Rechtssicherheit, das schafft Klarheit. Für die Kommunen ist auch wichtig, dass die Konzessionsabgabe zwingend fortzuzahlen ist, auch wenn über eine Vergabe noch vor Gericht gestritten wird. Die Kommunen dürfen nicht die Leidtragenden eines Rechtsstreites zwischen Alt- und Neukonzessionär sein. Intensive Beratungen hatten wir über die Vorschrift, dass die Kommunen neben den Kriterien, die § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes als Vergabekriterien aufgibt, auch örtliche Belange als Vergabekriterium einbeziehen können. Ich halte dies für richtig, weil die Kommen so mehr Gestaltungsmöglichkeiten in die Hand bekommen. Aber wir stellen auch klar, dass damit kommunale Unternehmen selbst nicht bevorzugt werden dürfen. Im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens mit einem diskriminierungsfreien Wettbewerb müssen die Auswahlkriterien so gewählt werden, dass jeder Bewerber diese Kriterien erfüllen kann, der private Bewerber genauso wie der kommunale Bewerber. Das gilt auch für Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. Sie können durch einen kommunalen Bewerber genauso wie durch einen privaten Bewerber erfüllt werden. Entscheidend ist, dass wir hier einen diskriminierungsfreien Wettbewerb herbeiführen um die besten Lösungen im Interesse der örtlichen Gemeinschaft. In den Detailberatungen haben wir uns auch mit den Vorschlägen befasst, die der Bundesrat in das Verfahren eingebracht hat. So übernehmen wir einen Vorschlag für eine Übergangsregelung bei laufenden Verfahren. Auch dies dient der Rechtssicherheit und der Klarheit. Wir haben uns darüber hinaus über eine andere wichtige Änderung verständigt. Der Streitwert für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zur Überprüfung von Konzessionsverfahren wird vereinheitlicht und auf höchstens 100 000 Euro begrenzt. Damit soll verhindert werden, dass überhöhte Gerichtskosten die beteiligten Unternehmen davon abhalten, zügig Rechtsschutz zu suchen. Auch diese Regelung dient der Rechtssicherheit und der Klarheit. Ich will aber auch gerne auf einen Punkt hinweisen, den wir ausdrücklich nicht regeln. Die Vorschläge der Fraktion der Linken für Inhouse-Vergabe und Rekommunalisierung haben wir ausdrücklich nicht aufgenommen, und zwar aus gutem Grund, denn es geht hier nicht um das Ziel Rekommunalisierung, sondern um das Ziel Rechtssicherheit in einem Wettbewerbsverfahren. Wettbewerb um die Netzrechte ist gut, er dient auch den Kommunen, weil sie mit den jetzt rechtssicher festgelegten Kriterien einen Wettbewerb auslösen können, wer am ehesten und wer am besten die Netze in der Gemeinde betreibt. Dies kann ein Stadtwerk sein, aber es kann auch ein privates Unternehmen sein. Wir wollen den Wettbewerb, in dem kommunale Unternehmen genauso wie private Unternehmen gewinnen können. Entscheidend ist, dass dieser Wettbewerb fair stattfindet, und dass der Rechtsrahmen sicher ist. Dafür leisten wir mit dem Gesetz, das wir heute beschließen, einen wichtigen Beitrag, und deshalb ist dieses Gesetz zur Änderung von § 46 Energiewirtschaftsgesetz ein gutes Stück Arbeit der Koalition. Johann Saathoff (SPD): In rund 10 Monaten ist Bundestagswahl, und deshalb hat man nicht mehr viel Zeit, Dinge umzusetzen, die man sich vorgenommen hat. Und – zugegeben – es hat recht lange gedauert, bis wir nun endlich das umsetzen, was wir im Koalitionsvertrag zu den Konzessionsvergabeverfahren vereinbart haben. Das Bundeskabinett hat den Gesetzentwurf immerhin schon im Februar dieses Jahres beschlossen. „Dor fallt keen Boom up de eerste Slag“ würde man da in Ostfriesland sagen, was so viel heißt wie „Erfolg braucht Ausdauer“. Aber das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen. Vor allem steht dieses Gesetz im Lichte der Rechtsklarheit für die Kommunen bei der Durchsetzung ihres Rechtes, Energienetze in ihrer Gemeinde wieder in die eigene Hoheit und eigene Verwaltung zu übernehmen. Die bisherige Rechtsunsicherheit war ein großer Hemmschuh für die Kommunen, die allesamt die originären Konzessionsträger für Energienetze verkörpern. Folglich ist das Betreiben von Energienetzen ein Akt der öffentlichen Daseinsvorsorge und obliegt zu allererst den Kommunen. Trotzdem sollen Kommunen natürlich auch im Rahmen der Vergabeverfahren zu der Entscheidung gelangen, die Energienetze in private Hände zu geben. Allerdings sollen die Kommunen unserer Meinung nach nicht durch vorhandene Rechtsunsicherheiten dazu gezwungen werden. Der Kabinettsbeschluss vom 3. Februar 2016 sah die Einführung des „objektivierten Ertragswerts” vor, um das Bewertungsverfahren bei Neuvergabe der Konzessionen für Verteilnetze anders als bisher zu regeln. Wir haben diesen Wert von Anfang an als den richtigen Wert angesehen. Denn mit dem bislang angewendeten Sachzeitwert wurde das Besitzverhältnis unsachgemäß abgebildet, denn das Netz verbleibt ja, vereinfacht gesprochen, bei der Kommune. In der Vergangenheit war der Netzkaufpreis einer der großen Streitpunkte. Der Altkonzessionär wollte möglichst viel Geld haben, der Neukonzessionär möglichst wenig Geld zahlen – absolut verständlich. Für den Konzessionär kann es aber lediglich darum gehen, welche Einnahmen in den 20 Jahren der Konzession er erzielen kann, und darum, das Netz zu verkaufen. Wir begrüßen also die Klarstellung und sind davon überzeugt, dass damit ein fairer Interessenausgleich zwischen Alt- und Neukonzessionär gegeben ist. Darüber hinaus ist uns die Neuregelung zum Auskunftsanspruch der Kommunen gegenüber dem Altkonzessionär ein wichtiges Anliegen. Der bisherige Zustand, in dem sich der Altkonzessionär weigern konnte, dem Auskunftsersuchen der zu Neuvergabe willigen Kommune nachzukommen, macht die Notwendigkeit dieser Regelung deutlich. Dadurch war der Altkonzessionär allein durch die Verweigerung der Auskunft dazu in der Lage, eine Neuvergabe mindestens zu behindern und seine eigenen Chancen im Verfahren deutlich zu erhöhen. Wettbewerbsgleichheit war das sicher nicht, deshalb ist es gut, dass wir es nun zurechtrücken. Das mag sich zunächst banal anhören, aber die notwendigen Leitungslängen im Verhältnis beispielsweise zu den Straßenkilometern einer Gemeinde können drastisch abweichen. Das ist zum Beispiel in Fehndörfern der Fall, wo die Siedlungsstruktur üblicherweise so gestaltet ist, dass es in der Mitte einen Kanal gibt und an beiden Seiten des Kanals jeweils eine Straße mit jeweils den Energieversorgungsleitungen. Fehnorte können also bis zu 100 Prozent mehr Leitungen im Boden vergraben haben (und damit zu verwalten haben) als zum Beispiel Warftendörfer, die üblicherweise im Rund angelegt wurden. Da wie beschrieben die Leitungslängen enorm voneinander abweichen können, je nach Siedlungsstruktur, kann eine Gemeinde die Leitungslängen nicht einfach schätzen, sondern ist darauf angewiesen, dass der Altkonzessionär ihr die notwendigen Daten zur Verfügung stellt, damit die Gemeinde in einem fairen Bieterverfahren sich gegebenenfalls an einer Ausschreibung beteiligen kann. Darüber hinaus haben wir eine uneingeschränkte Fortzahlungspflicht der Konzessionsabgabe eingeführt, denn unwillige Altkonzessionäre konnten bislang nicht nur das Verfahren anfechten und dadurch das Verfahren hinauszögern, sie konnten zusätzlich auch den Druck auf die Kommune dadurch erhöhen, dass sie nach einem Jahr die Zahlung der Konzessionsabgabe einstellten. Auch das wird für mehr Rechtssicherheit sorgen, genauso wie das neue Rüge- und Präklusionsregime mit den gestaffelten Rügeobliegenheiten. Diese sehen vor, dass Parteien im Verfahren Rechtsverletzungen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt rügen müssen, da der Anspruch auf Abhilfe sonst verfällt. Es ist vorgesehen, dass Verstöße im Rahmen der Aufstellung und Gewichtung von Kriterien innerhalb von 15 Kalendertagen ab Zugang der entsprechenden Mitteilung zu rügen sind. Nach Auswahlentscheidung haben unterlegene Parteien 30 Tage Zeit, dagegen ihre Bedenken vorzubringen. Mit dem neuen § 47 wird nun also zur Stärkung von Rechtssicherheit und Vertrauensschutz eine Präklusionsvorschrift im Gesetz verankert. Durch diese Pflicht der beteiligten Unternehmen, auch im laufenden Verfahren aktiv auf die Vermeidung und Ausräumung von Rechtsfehlern hinzuwirken, erhöhen sich die Qualität und die Rechtssicherheit von Vergabeverfahren zum Vorteil aller Beteiligten. Sowohl die Gemeinde als auch ein neuer Netzbetreiber profitieren von einer zügig eintretenden Rechtssicherheit. Ich bin auch froh, dass wir im parlamentarischen Verfahren noch einen weiteren Punkt hinzugefügt haben, der die eben genannten ergänzt. Damit meine ich die Begrenzung des Streitwertes auf 100 000 Euro. Damit befreien wir nämlich vor allem die Kommunen von einem weiteren Damoklesschwert. Das sind die Punkte, die wir verbessert haben. Ich kann aber auch nicht verhehlen, dass es Punkt gab, wo wir – damit meine ich die Sozialdemokraten – uns noch weitere Regelungen hätten vorstellen können. Wir begrüßen auch die grundsätzliche Absicht des Gesetzes, dass Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft als zulässiges Kriterium im Rahmen der Auswahlentscheidung Berücksichtigung finden können. Wir sahen und sehen auch weiterhin bei den Kriterien noch weiteren Konkretisierungsbedarf, vor allem bei der Auswahl, Gewichtung und Beurteilung dieser Kriterien. Und um eine Fehlgewichtung mit Blick auf die im Koalitionsvertrag genannten Ziele zu vermeiden, war mir wichtig, darauf ausdrücklich hinzuweisen, dass im parlamentarischen Verfahren beim Zustandekommen dieses Gesetzes sich die Koalition einig ist, dass alle Kriterien gleich gewichtet werden und keines der Kriterien bei der Vergabe einen Schwerpunkt darstellt. Zur Klarstellung sollte ursprünglich unserer Meinung nach die Hervorhebung „insbesondere der Versorgungssicherheit und der Kosteneffizienz“ gestrichen werden, da ansonsten die in § 1 EnWG ebenfalls genannten Ziele ohne Grund schlechter gestellt werden könnten. Damit konnten wir Sozialdemokraten uns aber leider nicht durchsetzen. Wir konnten nun mal nicht alle unsere Wünsche im Gesetz unterbringen. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass diese Novelle für mehr Rechtssicherheit sorgen wird. Nichtsdestotrotz werden wir die weitere Rechtsprechung im Auge behalten und weiteren Nachsteuerungsbedarf prüfen. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Bundesweit wollen immer mehr Städte und Gemeinden ihre Energienetze wieder selbst betreiben. Der Trend zur Rekommunalisierung hält in diesem Bereich unverändert an. Die Kommunen stoßen dabei immer wieder auf den Widerstand der Energiekonzerne, die sich die derzeit widersprüchliche und umstrittene Gesetzeslage zunutze machen. Rekommunalisierungsvorhaben werden auf diese Weise hintertrieben und verhindert. Insbesondere wurde durch eine 2011 durch einen Handstreich von der damaligen Koalition erfolgte Änderung des Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) die Inhousevergabe an kommunale Betriebe auf rechtlich schwankenden Boden gestellt, gleichwohl sie europarechtlich zulässig ist. Sie wissen, die Linke hat in mehreren Anträgen zum Thema gefordert, das zurückzunehmen. Kommunen müssen im Rahmen ihrer grundgesetzlich garantierten Selbstverwaltung eigenständig entscheiden können, ob sie die Versorgungsnetze selbst übernehmen wollen oder ob sie sie die Konzessionen dafür ausschreiben. Daher sollte das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) so klargestellt werden, dass die Kommunen die Netzkonzession im Rahmen einer europarechtlich zulässigen Inhousevergabe an ein kommunales Unternehmen auch ohne Ausschreibung vergeben können. Genau dies aber ist mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht passiert. Die Bundesregierung schreibt ja selbst im Gesetzentwurf, ich zitiere: Nicht aufgegriffen wird die von kommunaler Seite und zuletzt von der Fraktion DIE LINKE (Bundestagsdrucksache 18/3745) vorgebrachte Forderung, von einem vergabeähnlichen Verfahren gänzlich absehen zu können und eine direkte In-House-Vergabe von der Gemeinde an ein kommunales Unternehmen zuzulassen. Der in § 46 EnWG angelegte „Wettbewerb um das Netz“ ist zwingend aufrecht zu erhalten. Dieser ist kein Selbstzweck, er dient dazu, die in § 1 Absatz 1 EnWG normierten Ziele, die im Interesse des Allgemeinwohls liegen, zu erreichen. In der Anhörung zum Gesetzentwurf Energie und zu unseren Anträgen im Ausschuss für Wirtschaft hat Herr Professor Kupfer, der die Gemeinde Titisee-Neustadt in dieser Sache vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten hat, eindrücklich argumentiert. Die geltende und nun wohl auch kommende Regelung des Energiewirtschaftsgesetzes stelle einen nicht hinnehmbaren Eingriff in die verfassungsmäßig geschützte kommunale Selbstverwaltung dar. Nun wird die Koalition jetzt sicherlich argumentieren: Tja, die Gemeinde Titisee hat ja mit dem Professor Kupfer im Sommer vor dem Bundesverfassungsgericht verloren! – Dazu möchte ich sagen, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 22. August mit keinem Satz inhaltlich zu der Kommunalverfassungsbeschwerde der Stadt Titisee-Neustadt geäußert hat. Es hat lediglich dargelegt, dass die beklagten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes vom Dezember 2013 die Praxis der Konzessionsvergabe nicht in einem Ausmaß prägen würden, dass jene mit einer Kommunalverfassungsbeschwerde angreifbar seien. Die Bundesverfassungsrichter haben sogar ausdrücklich darauf verwiesen, im Fall der Novellierung des EnWG dieses dann vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. Und das wird passieren. Denn im Kern stellt das neu geregelte EnWG mit § 46 Absatz 4 Satz 2 weiterhin das Prinzip „Kosteneffizienz“ höher als jenes Prinzip, nach dem Kommunen Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft selbst regeln können. Das wird ja noch einmal mit der Protokollnotiz von CDU/CSU und SPD in der letzten Ausschusssitzung untermauert. Die eingefügten Spielräume, Kriterien für kommunale Angelegenheiten in die Ausschreibungen mit aufzunehmen, sind nicht das Papier wert, auf dem sie stehen. Ich zitiere: „Insbesondere dürfen die aufgestellten Kriterien kommunale Bewerber gegenüber sonstigen Bewerbern nicht bevorzugen. Dies gilt auch für die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Sinne der neu geschaffenen Vorschrift.“ Ich wundere mich über Herrn Saathoff, der hier von einem „vernünftigen Kompromiss“ spricht. Gibt es wenigstens noch jemanden in der SPD, der die Interessen der Kommunen im Blick hat oder die einer zukunftsfähigen Energiewende? Denn der Ansatz dieser Novelle ist ja nicht nur ein Angriff gegen die kommunale Selbstverwaltung. Er verkennt auch die besondere Rolle, die Stadtwerke in der Energiewende einnehmen können. Denn die Rekommunalisierung von Energienetzen hat viele Vorteile: Sie erleichtert die Umsetzung örtlicher integrierter Klimaschutzkonzepte und steigert die örtlichen und regionalen Wertschöpfungspotenziale. Von Versorgungsnetzen in kommunaler Hand würden auch insbesondere der dringend notwendige Ausbau von Anlagen zur Kraft-Wärme-Kopplung und ihr systemdienlicher Einsatz profitieren. Denn die Verbindung von Strom- und Wärmemarkt wird gerade auf kommunaler Ebene ein zentrales Element des künftigen Stromsystems. Mit ihr kann flexibel ein Ausgleich zur schwankenden Einspeisung von Ökostrom geschaffen werden. Zudem wird das Verteilnetz zunehmend Träger moderner Kommunikation zur Steuerung von Erzeugungsanlagen und Nachfrage (Smart Grids). Ferner ist damit zu rechnen, dass im nächsten Jahrzehnt auch Power-to-Gas-Anlagen Bestandteil des Energiesystems sind, die überschüssigen Ökostrom zu brennbaren Gasen verwandeln. Alles Infrastruktur und Geschäfte, die gut innerhalb eines Gemeindegebiets gemanagt werden können. Dort, wo die Netze in einer Hand liegen, werden folglich erhebliche Synergien eintreten. Diese werden sich für die Energiewende wie für die Wirtschaftlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen gleichermaßen auszahlen. Die Linke sieht in der Rückeroberung der Netze deshalb einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer innovativen Form von Stadtwerk. Wir denken an ein Stadtwerk, das sich neben dem Betrieb des Netzes für den Ausbau der Erneuerbaren engagiert, das die Kraft-Wärme-Kopplung voran treibt, das Sozialtarife möglich macht und ins Energieeinspargeschäft einsteigt. Dieser Weg könnte aber durch das Verbot der Inhousevergabe künftig weitgehend verbaut sein – zum Nutzen von Energiekonzernen, die sich gerade neue Geschäftsfelder suchen. Die vielfältigen Möglichkeiten für Verteilnetze in kommunaler Hand und Stadtwerke – das alles will die Koalition offensichtlich verhindern. Dies ist ein Trauerspiel und steht auch in einem deutlichen Spannungsverhältnis zur sonstigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das hat nämlich mehrfach – grundlegend in der sogenannten Rastede-Entscheidung – ausgeführt, dass das Kostenargument zugunsten einer Beschneidung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie allenfalls in Fällen eines unverhältnismäßigen Kostenanstiegs in Betracht kommen kann, nicht aber ganz pauschal und ganz allgemein, wie es jetzt weiterhin sein soll. Ich bin gespannt, wie das Bundesverfassungsgericht eine neue Klage, nunmehr gegen das novellierte EnWG – etwa über den Weg einer erneuten Kommunalverfassungsbeschwerde oder aber auch im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle – entscheiden wird. Klar ist aber jetzt schon eins: Mit dieser Novelle öffnen Sie den Weg für eine unendliche Serie neuer Gerichtsverfahren. Das Ziel, für die Kommunen mehr Rechtssicherheit zu schaffen, haben sie grandios verfehlt. Das ist nicht nur politisch bedenklich, es ist auch stümperhaftes Handwerk. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Betrieb von Strom- und Gasnetzen ist aus unserer Sicht kommunale Daseinsvorsorge. Deshalb wollen wir, dass Kommunen eine weitgehende Entscheidungsfreiheit bekommen, wer Netze betreibt. Wenn die Kommune es zum Beispiel mit ihrem Stadtwerk nicht selbst betreiben will, soll es bei der Neuvergabe einen Wettbewerb um das Netz geben. Der Netzbetrieb ist natürliches Monopol, stark reguliert und darüber ist sichergestellt, dass alles effizient läuft. Fast 900 – oft kommunale – Netzbetreiber in Deutschland belegen einen effizienten Netzbetrieb. Deshalb haben wir Grüne kein Verständnis, warum Kommunen mit Gesetz gezwungen werden, eine Vergabeentscheidung an die allgemeinen und unbestimmten Ziele des Energiewirtschaftsgesetzes zu knüpfen, die sowieso eingehalten werden müssen. Wir haben kein Verständnis, warum in der Gesetzesnovelle nicht die Möglichkeit einer Inhouse-Vergabe geschaffen wird. Das ist in anderen Bereichen mögliche und sinnvolle Praxis. Warum nicht hier? Ich habe bei den vielen Debatten keine wirkliche Begründung von Ihnen, liebe Kollegen von Union und SPD, gehört. Es gibt nur eine Erklärung: Sie misstrauen den Kommunen, und das finde ich, ehrlich gesagt, unerhört angesichts der Tatsache, dass Hunderte Kommunen jeden Tag unter Beweis stellen, dass sie Netzbetrieb können. Nun hatten Sie sich in Ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen, mehr Rechtssicherheit zu schaffen, wenn Kommunen Netzbetreiber wechseln wollen. Das ist auch bitter nötig, denn Schwarz-Gelb hat 2010 eine katastrophale Rechtslage geschaffen. Die allermeisten Netzübernahmen führen zu jahrelangen Rechtsstreitigkeiten. Die bisherige Formulierung des § 46 EnWG ist ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Rechtsanwälte, Berater und Gerichte. Es ist ein Beispiel für richtig miese Gesetzgebung. Das produziert die absurde Situation einer Vielzahl sich widersprechender Gerichtsurteile und potenziert Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten. Eigentlich wollten Sie das Problem gleich zu Beginn der Legislatur lösen. Gebraucht haben Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, aber die gesamte Wahlperiode für die lächerliche Neufassung von eineinhalb Paragrafen. Das allein ist schon ein Armutszeugnis. Noch schlimmer ist aber das, was herausgekommen ist. Sie lösen die bisherige Rechtsunsicherheit nicht wirklich, sondern schaffen sogar noch neue: Sie führen weitere unbestimmte Rechtsbegriffe ein, wie „Netzwirtschaftliche Anforderungen“ und „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ – klingt schön, aber jeder versteht etwas anderes darunter. Wir konnten uns ja alle im Ausschuss schon ein Bild davon machen, dass die CDU/CSU etwas völlig anders darunter versteht als die SPD, und in der Anhörung haben die Sachverständigen in aller Klarheit darauf hingewiesen. Die Große Koalition hat nun fast vier Jahre über dieses Gesetz gebrütet. Und deshalb ist Ihnen klar, was Sie tun. Es ist gewollte Rechtsunsicherheit, und das ist nicht nur ein Armutszeugnis – das ist ein Skandal. Das daraus folgende Arbeitsbeschaffungsprogramm für Berater, Anwälte und Gericht ist noch das geringste Problem. Für diese von Ihnen gewollte Rechtsunsicherheit kann es nur eine Erklärung geben: Sie wollen Kommunen dem Risiko jahrelanger Gerichtsauseinandersetzungen aussetzen und so davon abhalten, Netze von Konzernen wie RWE, Eon oder EnBW selbst zu übernehmen oder an andere zu übertragen. Wahrscheinlich geht es Ihnen darum, was der Präsident der Bundesnetzagentur Homann offen fordert: Er will britische Verhältnisse, also die Zahl der Netzbetreiber auf eine Handvoll reduzieren. Und Ihr Gesetz soll Netzübernahmen durch Kommunen verhindern. Da machen wir nicht mit! Diese Gesetzesnovelle ist kommunalfeindlich und läuft Zielen der dezentralen Energiewende zuwider. Sie dient ausschließlich den Interessen der Energiekonzerne und ihren großen Verteilnetzbetreibern. Wir wollen dagegen die Kommunen stärken. In einer Welt, in der die Stromerzeugung aus Wind und Sonne die zentrale Säule bildet und von Millionen Erzeugungsanlagen und Flexibilität bestimmt wird, ist Dezentralität eine Stärke. Das scheinen Sie immer noch verstanden zu haben. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Luftsicherheitsgesetzes (Tagesordnungspunkt 22) Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): In zweiter und dritter Lesung beraten wir heute über die Novelle zum Luftsicherheitsgesetz. Mit den darin vorgesehenen Änderungen setzen wir – längst überfällig – europäisches Recht um, verbessern die Sicherheit der zivilen Luftfahrt und schaffen einen rechtssicheren Rahmen für Passagiere und Unternehmen. Dank der zukünftig zur Verfügung stehenden Instrumente können wir schneller und effizienter auf mögliche Gefährdungslagen im Bereich der Luftfahrt reagieren. Zudem sind mit dem heutigen Beschluss Maßnahmen vorgesehen, mit denen die Sicherheitskontrollen zusätzlich verbessert werden, etwa im Bereich der sicheren Lieferketten in der Luftfracht. Auf einige aus meiner Sicht wichtige Punkte möchte ich gerne näher eingehen. Ein wesentlicher Punkt der Gesetzesänderungen betrifft die schon angesprochene sichere Lieferkette. Genauer gesagt geht es um die in diesem Bereich tätigen Angestellten und zukünftige Veränderungen ihrer Sicherheitsüberprüfung. In diesem Zusammenhang sahen die Wirtschaftsverbände massive Probleme – gerade in Bezug auf die nötige Flexibilität beim Einsatz von Personal in der zeitkritischen Luftfracht. Aufgrund der bisher fehlenden Umsetzung der relevanten EU-Richtlinie in deutsches Recht wird diese Richtlinie in Deutschland gegenwärtig direkt angewendet. Danach kann die Überprüfung von Mitarbeitern im Bereich der sicheren Lieferkette – ohne Tätigkeit am Flughafen – im Schnellverfahren durchgeführt werden. Kernelement dieser Schnellüberprüfung ist eine Selbstauskunft der Arbeitnehmer, ohne dass die Firmen die Möglichkeit haben, die gemachten Angaben genauer zu überprüfen. Diese Option wird zukünftig gestrichen. Mit den heute zu beschließenden Änderungen werden die in der sicheren Lieferkette tätigen Mitarbeiter EU-rechtskonform einer Zuverlässigkeitsüberprüfung unterzogen, die von staatlicher Seite vorgenommen wird. Es dürfte klar sein, dass die bisherige Lösung, die bei Lichte betrachtet nur auf Treu und Glauben beruht, nicht sicher sein kann. Selbst wenn die Firmen, die diese Überprüfung intern für ihre Mitarbeiter bisher durchgeführt haben, Teil der sicheren Lieferkette und entsprechend zertifiziert sind. Nur eine staatliche Überprüfung, bei der die Möglichkeit besteht, den Hintergrund des Antragstellers genauestens zu durchleuchten, bietet die Gewähr dafür, dass nur wirklich zuverlässige Personen in einem sensiblen Bereich der sicheren Lieferkette der Luftfracht tätig sind. Anmerken möchte ich in diesem Zusammenhang noch, dass es Rückmeldungen vonseiten der Sicherheitsbeauftragten aus den betroffenen Firmen gab, die die bisherige Schnellüberprüfung aus Haftungsgründen ablehnen. Zukünftig wird es also die Zuverlässigkeitsüberprüfung analog zu den Beschäftigten an Flughäfen geben. Für einen reibungslosen Übergang zum neuen Überprüfungssystem ist eine Übergangsfrist von zwölf Monaten vorgesehen. Dies findet so auch Zustimmung beim BDI. Auch in einem weiteren Bereich spielt die Zuverlässigkeitsüberprüfung eine wichtige Rolle. Nach aktueller Gesetzeslage (§ 7 Absatz 1 Nummer 4 Luftsicherheitsgesetz) müssen sich auch Piloten einer solchen Überprüfung unterziehen. Daran wird sich auch zukünftig nichts ändern. Zwar hatte der Bundesrat, unterstützt von den Fachverbänden, hier eine Streichung angeregt und dies unter anderem damit begründet, dass diese Überprüfung nicht EU-rechtskonform sei. Dieser Vorstoß ist aber aus Sicherheitsgründen abzulehnen. Aus meiner Sicht wäre es nach den bisherigen Erfahrungen mit internationalem Terrorismus seit dem 11. September fahrlässig, wenn wir es zuließen, dass sich Interessierte problemlos zu Piloten ausbilden lassen können und dann mit Flugzeugen möglicherweise großen Schaden anrichten. Auch auf EU-Ebene sollte es hier zu einer Änderung der Rechtslage kommen. Ein weiterer Punkt bei den Beratungen war das Thema Beleihung von privaten Sicherheitskräften. Hier sah der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf in § 5 Absatz 1 eine Ausweitung des Einsatzes – verbunden mit der notwendigen Beleihung – von privaten bewaffneten Sicherheitskräfte im Kontrollbereich der Flughäfen vor. Die in der Anhörung zu diesem Gesetz vorgetragene Kritik der Sachverständigen hat die Koalition aufgegriffen und diese angedachte Möglichkeit gestrichen. Und schließlich werden mit der vorliegenden Gesetzesnovelle die Zuständigkeiten für die Verhängung von Ein- und Überflugverboten für den deutschen Luftraum zwischen dem Innen- und Verkehrsministerium genauer gefasst. Zusätzlich besteht künftig auch die Möglichkeit gegenüber deutschen Fluggesellschaften, ein Flugverbot für Krisengebiete weltweit zu verhängen. Dies ist unter anderem die Lehre aus dem Abschuss der malaysischen Zivilmaschine MH17 über der Ukraine. Im Ergebnis liegt uns heute ein Gesetzentwurf vor, dem wir aus meiner Sicht guten Gewissens zustimmen können. Wir sollten nun nicht länger zögern und das Gesetzgebungsvorhaben am heutigen Abend abschließen und EU-Recht umsetzen. Dies ist gerade für die Luftverkehrswirtschaft wichtig, damit diese endlich Rechtssicherheit hat und Sicherheitslücken geschlossen werden. Peter Wichtel (CDU/CSU): Am 29. September dieses Jahres wurde das Erste Gesetz zur Änderung des Luftsicherheitsgesetzes mit der ersten Lesung in den Bundestag eingebracht. In den vergangenen Wochen haben wir uns im Verlauf der parlamentarischen Beratungen intensiv mit dem Gesetzentwurf auseinandersetzen können, auch im Rahmen einer öffentlichen Anhörung. Mit einem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen konnten wir den Entwurf des Bundesinnenministeriums an einigen Stellen noch verbessern, sodass wir mit einer Verabschiedung heute einen überaus wichtigen Beitrag dazu leisten, das Sicherheitsniveau im Luftverkehr weiter zu erhöhen. Für mich als Verkehrspolitiker ist besonders wichtig, dass nicht nur Flugverbote für Einflüge, Überflüge, Starts oder Frachtbeförderung im Inland verhängt werden können. Die Bundesregierung erhält mit der Änderung des Luftsicherheitsgesetzes zukünftig auch eine gesetzliche Grundlage für den Erlass von Flugverboten über ausländischen Kriegs- oder Krisengebieten. Bisher war es gängige Praxis, dass alleine die Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugführer darüber entscheiden, welche Flugrouten sie wählen. Der Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges MH17 im Jahr 2014 hat allerdings verdeutlicht, dass ein Flugzeug über Kriegs- oder Krisengebieten auch in großer Höhe abgeschossen werden kann. Mit dem neuen § 26a, welcher der Zuständigkeit halber im Luftverkehrsgesetz ergänzt wird, gibt es zukünftig eine klare Ermächtigungsgrundlage für den Erlass von Flugverboten für deutsche Luftfahrzeuge über ausländischen Kriegs- oder Krisengebieten. Ein solches Verbot außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes kann sowohl den Ein- und Überflug als auch Start oder Landung umfassen. Als ebenso begrüßenswert erachte ich, dass der Anwendungsbereich des Luftsicherheitsgesetzes auf alle Flughäfen und auf alle Luftfahrtunternehmen ausgeweitet wird. Bisher waren nur Verkehrsflughäfen und Unternehmen mit Luftfahrzeugen über 5,7 Tonnen Höchstgewicht erfasst. Hier gilt es allerdings zu beachten, dass sich durch diese Änderung keine Nachteile, beispielsweise für das Luftrettungssystem, ergeben dürfen. Wir haben daher bezüglich der Sicherheitsmaßnahmen der Flugplatzbetreiber und der Luftfahrtunternehmen Ausnahmemöglichkeiten im Gesetzentwurf installiert, von welchen die zuständigen Luftsicherheitsbehörden mit Blick auf die einsatzbezogenen Notwendigkeiten von polizeilichen Einsätzen sowie Ambulanz-, Notfall- und Rettungsflügen Gebrauch machen können. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Gesetzesänderung ist die Ausweitung der Zuverlässigkeitsüberprüfung, mit der insbesondere das Sicherheitsniveau im Bereich der Luftfracht erhöht werden soll. So werden zukünftig auch Arbeitnehmer, für die bisher die sogenannte beschäftigungsbezogene Überprüfung durch den Arbeitgeber ausgereicht hat, der behördlichen Zuverlässigkeitsüberprüfung unterzogen. Diese Änderung betrifft insbesondere das im Bereich der sicheren Lieferkette eingesetzte Personal, das beispielsweise bei Versandagenturen, Speditionen, Logistikanbietern oder integrierten Lager- und Transportdienstleistungsunternehmen im unmittelbaren Umfeld der Luftfracht arbeitet. Es ist überaus wichtig, diese sensible und störanfällige Transportkette so sicher wie möglich zu gestalten. Dass insbesondere die Erhöhung des Sicherheitsniveaus im Bereich der Luftfracht mit finanziellen Mehrausgaben für die Logistikbranche verbunden sein wird, kann nicht bestritten werden. Das ist vor dem Hintergrund der Sensibilität des Luftfrachtverkehrs und des Schutzes vor möglichen Innentätern unserer Ansicht nach aber unumgänglich. Darüber hinaus sind die Verkehrspolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach den Gesprächen mit dem zuständigen Bundesinnenministerium aber davon überzeugt, dass die Luftfahrtbranche durch das Änderungsgesetz nicht mit zusätzlichen Kosten belastet wird. Abschließend betrachtet freue ich mich darüber, dass wir nach der gemeinsamen parlamentarischen Beratung mit den beteiligten Arbeitsgruppen und unserem Koalitionspartner heute einem Gesetzentwurf zustimmen können, der die Sicherheit des gesamten Luftverkehrs weiter spürbar stärken wird. Allen Beteiligten gilt daher ein herzlicher Dank. Susanne Mittag (SPD): Mit der Änderung des Luftsicherheitsgesetzes, die heute hier zu beschließen ist, vollziehen wir eine europarechtliche Veränderung und erhöhen damit die Sicherheit im Flugverkehr. Der Zweck des Gesetzes ist in § 1 beschrieben. Ich zitiere: „Dieses Gesetz dient dem Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs, insbesondere von Flugzeugentführungen, Sabotageakten und terroristischen Anschlägen.“ Das heißt bei den Änderungen konkret, wir verbessern damit künftig besonders die Sicherheit in der sogenannten Luftseite, die bislang eher vernachlässigt worden war. Das Gesetz wird viele Millionen Menschen in unserem Land betreffen. Mehr als 250 Millionen Passagiere werden in diesem Jahr über deutsche Flughäfen abgefertigt. Dabei spielt das Thema Sicherheit eine herausragende Rolle, besonders nach den Anschlägen auf die Flughäfen in Brüssel und Istanbul. Die größte Veränderung wird es bei der Sicherheitsüberprüfung geben. Durch viele Gespräche und auch Briefe weiß ich, dass diese Regelung für die Beteiligten der sicheren Lieferkette oder auch für die Privat- und Geschäftsfliegerei eine Entscheidung ist, die keine Begeisterung hervorgerufen hat. In Zukunft reicht die sogenannte beschäftigungsbezogene Überprüfung nicht mehr aus. Vielmehr muss eine behördliche Zuverlässigkeitsüberprüfung eingeholt werden, bevor Mitarbeiter oder auch Piloten von Geschäfts- oder Privatflugzeugen in einem sicherheitssensiblen Bereich arbeiten oder landen können. Diese Regelung ist überfällig, denn die bisherige Praxis wird den neuen Sicherheitsanforderungen schon lange nicht mehr gerecht. Bislang war es eher so, dass man sich nur auf die Aussagen eines Bewerbers verlassen hat. Jetzt werden die Sicherheitsbehörden zwingend mit einbezogen. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, erstaunlich, warum erst jetzt. Und das nicht nur bei der Einstellung eines Bewerbers in einem Bundesland, sondern auch informell bundeslandübergreifend. Da sind wir den Anregungen des Bundesrates gefolgt, und ich denke, damit erreichen wir erheblich mehr Sicherheit. Natürlich haben wir uns im Beratungsprozess auch mit weiteren Bedenken der Branche auseinandergesetzt: Wir haben eine 12-monatige Übergangszeit verabredet, bevor alle Beschäftigten die Zuverlässigkeitsüberprüfung vorweisen müssen. Das gibt sowohl Unternehmen und Beschäftigten als auch den Behörden den nötigen zeitlichen Spielraum, um Zuverlässigkeitsüberprüfungen beantragen und bearbeiten zu können. Auch Krankenhäuser und die Luftrettung hatten Bedenken geäußert, die wir aufgegriffen haben. Deren Sorge war, dass der Betrieb von Hubschrauberlandeplätzen an Krankenhäusern durch zu straffe Sicherungsmaßnahmen gefährdet werden könne. Deshalb haben wir jetzt im Änderungsantrag festgeschrieben, dass die Luftsicherheitsbehörden nach einer Risikoanalyse bei abgegrenzten Bereichen von Flugplätzen Ausnahmen gestatten können. Dabei soll den einsatz- und betriebsbezogenen Notwendigkeiten von polizeilichen Flügen sowie von Rettungsflügen Rechnung getragen werden. Das war allen in der Großen Koalition wichtig, denn wir wollen gerade das hervorragende System der Luftrettung in Deutschland nicht einschränken oder mit bürokratischen Hemmnissen unnötig belasten. Für alle, die auf schnelle Hilfe aus der Luft angewiesen sind, ist das einzige Rettungsmittel der Hubschrauber, der in kürzester Zeit vor Ort sein kann und Schwerstverletzte in weiter entfernte Spezialkliniken fliegen kann. Bei den Verhandlungen haben wir einige Runden zum Thema Luftsicherheitsgebühren gedreht. Der neue § 17a sieht nun ganz klar auch die Gemeinkosten der Rechts- und Fachaufsicht in der Gebühr eingeschlossen. Das war bisher nicht so explizit der Fall. Meinem Kollegen Arno Klare aus dem Verkehrsausschuss möchte ich da ganz besonders für seinen Einsatz danken. Da in absehbarer Zeit weder das zuständige Ministerium noch die Bundespolizei absolut gerichtsfest die zur Gebührenerhebung notwendige Aufschlüsselung der anteiligen Kosten vornehmen kann, fehlt es weiterhin an der genauen Zuordnung der übernommenen Aufgaben. Solange es also kein verbessertes Erfassungs- und Unterscheidungssystem gibt, werden etwaige Kosten auch nicht in Rechnung gestellt. Damit soll es also in absehbarer Zeit und unter Bezug auf die mehrfach bestätigten Angaben des Verkehrsministeriums keine Steigerungen der Luftsicherheitsgebühren durch dieses Gesetz geben. Wir werden das Thema weiter begleiten. In den Haushaltsberatungen der vergangenen Woche wurden auch bereits Entlastungen bei den Flugsicherungsgebühren beschlossen. Das ist nötig, denn der Wettbewerbsdruck auf die deutschen Flughäfen ist enorm. Deshalb dürfen wir trotz der gestiegenen Sicherheitsanforderungen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Luftfahrtbranche nicht aufs Spiel setzten. Hier sind in die Zukunft reichende Planungen erforderlich, die wir von der SPD vorantreiben werden. In der Anhörung zum Luftsicherheitsgesetz hat die Mehrheit der Sachverständigen ebenso wie die SPD kritisiert, dass das Sicherheitspersonal Waffen bei Fluggastkontrollen tragen solle. Die Bundespolizei ist für die Sicherheit an den Flughäfen zuständig. Sie kann durch Sicherheitsfirmen ergänzt werden, die dann für die Kontrollen von Personen und Gepäck zuständig sind. Das ist mit dem gesetzlichen Begriff der Beleihung gemeint. Im Gesetz wird nun festgeschrieben, dass die Ausbildung der Mitarbeiter der Sicherheitsfirmen weiter verbessert werden muss und diese immer wieder an die aktuellen Sicherheitsstandards angepasst wird. Die in diesem Zusammenhang geplante Bewaffnung des Sicherheitspersonals im Bereich der Personenkontrollen wird nicht zugelassen. Das ist und bleibt hoheitliche polizeiliche Aufgabe und darf nicht in die Hände von privaten Anbietern vergeben werden. Das widerspricht dem Grundgesetz und auch jeglicher Sicherheitskonzeption. Damit stellen wir keinesfalls die 20 000 Mitarbeiter der privaten Sicherheitsunternehmen unter Generalverdacht. Nein, sie leisten gute Arbeit, und das in einem sehr schwierigen Umfeld: Sie sollen möglichst schnell, möglichst gründlich und dabei auch noch ausgesprochen höflich ihren Kontrollaufgaben nachkommen. Und das tun sie auch zum allergrößten Teil. Doch was wir in dem Entwurf der Bundesregierung als SPD nicht akzeptieren konnten, war die Ausweitung der Beleihungsregelungen für Bewaffnete. Das geht mit uns nicht. Diesem Einstieg in die Billigpolizei konnten wir nicht zustimmen. Hoheitliche Aufgaben, die das Gewaltmonopol des Staates betreffen, dürfen nicht in die Hände von Privaten vergeben werden, vor allem nicht, wenn das Ganze auch noch im öffentlichen Raum wie einem Flughafen stattfinden soll. Ich bin froh, dass wir diesen Punkt gemeinsam mit der Union aus dem Entwurf gestrichen haben. Die Sicherheit des Luftverkehrs ist eben eine komplexe ganzheitliche Aufgabe, wo wir eventuell Fehlerquellen frühzeitig erkennen und dann gegensteuern müssen. Terroristische Anschläge, Cyberangriffe oder Amokläufe können nicht ausgeschlossen werden. Sie werden konzeptionell in die Sicherheitskonzepte der Polizei aufgenommen. Wir dürfen dabei auch nicht vergessen, dass sich die Sicherheitsansprüche weiterentwickeln ebenso wie die Gefährdungsaspekte. Es ist ein Sicherheitsbereich, der sehr großflächig ist, von dem mit einem Mal sehr viele Menschen gleichzeitig massiv betroffen sein können, von wo sich Gefahrenlagen sehr schnell ausbreiten können – eben durch Flugzeuge – und immer neuartige Bedrohungen entstehen können. Kriminalität und Terror entwickeln sich außerordentlich schnell. Die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden im In- und Ausland ist gut, und sie wird massiv ausgebaut. Das alles sind Gründe, weshalb die Sicherheit unserer Flughäfen ausgeweitet und weiterentwickelt werden, aber in staatlicher Hand bleiben muss. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Angesichts von knapp 220 Millionen Passagieren, die im vorigen Jahr an deutschen Flughäfen abgefertigt wurden, ist der Bereich der Luftsicherheit in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen. Jeder möchte gesund an seinem Ziel ankommen, und deswegen möchte niemand, dass bei der Sicherheit im Luftverkehr geschludert wird. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Luftsicherheitsgesetzes wird diesem Ziel aber nicht gerecht. Um mit einem Punkt zu beginnen, dem wir teilweise zustimmen: Die sogenannte Zuverlässigkeitsprüfung der Mitarbeiter im Flughafenbereich wird ausgeweitet. Das ist insofern zu begrüßen, als keiner wollen kann, dass terroristische Strukturen ihre Leute in sensible Sicherheitsbereiche einschleusen. Fragwürdig ist aber schon, dass der Verfassungsschutz an dieser Überprüfung teilhat. Der hat sich ja in der Vergangenheit häufig genug als Unterstützer terroristischer Organisationen erwiesen. Das größte Manko bei der Ausweitung der Zuverlässigkeitsprüfungen besteht aus Sicht der Linken aber darin, dass die Rechte der Kontrollierten nicht ebenso ausgeweitet werden. Es ist ja keine Bagatellfrage, ob jemandem das Recht auf einen Arbeitsplatz verweigert wird oder nicht. Wer bei der Prüfung durchfliegt, der muss doch mindestens das Recht haben, dagegen gerichtlich vorzugehen, und dann darf es nicht sein, dass der Geheimdienst einfach mauert und Unterlagen, die angeblich eine Sicherheitsgefährdung durch den Betroffenen beweisen sollen, für sich behält. Also: Sicherheitsüberprüfungen auf der einen Seite müssen einhergehen mit vollem Rechtsschutz auf der anderen Seite. Das verweigert die Bundesregierung, so wie sie ja immer einseitig auf Kontrolle und Repression statt auf die Wahrung von Bürgerrechten hinarbeitet. Noch weit bedenklicher ist das Vorhaben, die Privatisierung von Aufgaben der öffentlichen Sicherheit zu erweitern. Denn die Bundesregierung will künftig privaten Firmen erlauben, bewaffnete Kräfte einzusetzen, die gegenüber den Menschen am Flughafen auch Zwangsmaßnahmen durchführen sollen. Das ist wirklich ein Novum, das in der Anhörung von den Sachverständigen auch massiv kritisiert worden ist. Wir kennen das zwar schon, dass bewaffnete Privatfirmen zum Beispiel Atomkraftwerke oder Bundeswehrkasernen bewachen. Aber da kommen sie ja in der Regel nicht mit einem zivilen Publikum in Kontakt, weil das keine öffentlichen Bereiche sind. Ganz anders ist das bei Flughäfen, die selbstverständlich öffentliche Anlagen sind, in denen sich, wie erwähnt, Millionen von Menschen im Jahr aufhalten. Und da kann man nicht einfach sagen: Die lassen wir jetzt mal von bewaffneten Hilfssheriffs bewachen, die ihren Anordnungen zur Not mit Schusswaffen Nachdruck verleihen. Denn hier handelt es sich ganz klar um eine Maßnahme, zu der nur staatliche Behörden befugt sind, sprich: die Bundespolizei. Die haben schließlich eine lange Ausbildung, um zu lernen, mit zivilem Publikum deeskalierend umzugehen. Bei Privaten ist die Ausbildung deutlich weniger intensiv, deswegen sehen wir in ihrer Bewaffnung eher eine Gefährdung als einen Vorteil für die Sicherheit. Der Gesetzentwurf enthält noch weitere Privatisierungsvorhaben. Private Luftfrachtunternehmen sollen künftig von anderen privaten Unternehmen zertifiziert werden. Anstatt das Luftfahrtbundesamt mit dem notwendigen Personal auszustatten, werden seine Aufgaben privatisiert, und es führt am Ende nur noch Aufsicht über die Zertifizierer, aber nicht mehr über die Frachtunternehmen selbst. Da kann man sich leicht denken, was passiert, wenn mal etwas gründlich schiefgeht und es zu ernsthaften Zwischenfällen kommt: Dann werden sich alle Beteiligten gegenseitig die Verantwortung zuweisen, und keiner will es am Ende gewesen sein. Denn je mehr Privatunternehmen im Sicherheitsbereich agieren, desto weniger ist eine öffentliche Kontrolle gewährleistet bzw. desto größer wird der Koordinationsaufwand. Das ist doch ein himmelschreiender Widerspruch, einerseits Sicherheitsüberprüfungen zu verschärfen, um mehr Kontrolle über das Personal an den Flughäfen zu erhalten, und dann andererseits immer weiter zu privatisieren und letzten Endes so genau das Gegenteil zu bewirken. Dabei gibt es ja Alternativen. Die hat vor allem die Gewerkschaft der Polizei aufgezeigt, indem sie eine Bündelung aller Sicherheitsaufgaben in einer Hand vorgeschlagen hat. Die GdP regt an, zu diesem Zweck eine Anstalt des öffentlichen Rechts zu gründen. Ob Sicherheitskontrollen im Vorfeld, im öffentlichen Bereich, bei Passagieren, Fracht oder auf dem Rollfeld – alles wäre in einer Hand. Damit wären die Verantwortlichkeiten klar geregelt. Auch für die Beschäftigten wäre dies von Vorteil, weil sie dann Angestellte eines öffentlichen Unternehmens wären und abhängig von ihrer Ausbildung auch in anderen Bereichen der Luftsicherheit eingesetzt werden könnten. Damit ließe sich dem Problem von Privaten entgegenwirken, das von hoher Fluktuation, geringer Mitarbeiterbindung, schlechten Arbeitsbedingungen und daraus resultierend leider häufig auch geringer Qualifikation und Motivation gekennzeichnet ist. Wer also wirklich mehr Sicherheit im öffentlichen Bereich will, darf es nicht zu einem Wildwuchs an privaten Sicherheitsfirmen kommen lassen, die sich selbst zertifizieren und kontrollieren. Die Sicherheit zu garantieren, ist die wichtigste Aufgabe des Staates. Das heißt nicht, dass jeder Flughafenangestellte, der das Handgepäck kontrolliert, ein Beamter sein muss, aber der Staat muss die Kontrolle über den Sicherheitsbereich behalten und darf sie nicht auslagern. Deshalb bedauert Die Linke, dass dem Vorschlag der GdP nicht gefolgt wurde. Den Gesetzentwurf sehen wir als Verlust an Sicherheit und lehnen ihn deswegen ab. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Sicherheitsniveau der zivilen Luftfahrt ist das Ergebnis des ständigen Zusammenwirkens einer Vielzahl von unterschiedlichen Maßnahmen und Faktoren. Ein gutes oder sehr gutes Sicherheitsniveau zu halten, erfordert dabei kontinuierliche Bemühungen, relevante Entwicklungen möglichst frühzeitig zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Das schließt auch uns hier im Bundestag mit ein, und die parlamentarische Befassung mit möglichen oder bestehenden Sicherheitsproblemen ist daher gerade Ausdruck eines hohen Sicherheitsniveaus und nicht das Gegenteil. Dass wir den vorliegenden Gesetzentwurf heute in erster Linie vor dem Hintergrund der zahlreichen schweren Vorfälle der letzten Jahre, vor allem aber vor dem Hintergrund der aktuellen Sicherheitslage diskutieren, ist völlig klar. Ich habe aber große Zweifel, ob der vorliegende Gesetzentwurf allen Anforderungen gerecht wird, die an ihn zu stellen sind. Nicht zuletzt die Expertenanhörung im Innenausschuss hat große Schwächen der vorgeschlagenen gesetzlichen Regelungen deutlich gemacht, die auch der Änderungsantrag, der uns jetzt vorgelegt wurde, nur teilweise beheben kann. So begrüße ich natürlich, dass die im Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehene Möglichkeit, Aufgaben an bewaffnete private Sicherheitskräfte zu übertragen, wieder gestrichen wurde. Dadurch wurde aber nur ein besonders eklatanter Bruch mit der Verfassung abgewendet. Andere verfassungsrechtliche Bedenken bestehen fort. Die im Zusammenhang mit der Übertragung von Aufgaben an private Dienstleister bestehende staatliche Gewährleistungsverantwortung beispielsweise hat zur Folge, dass die Aufsichtsbehörde auch über die notwenigen Informations- und Durchsetzungsbefugnisse verfügen muss, um die Aufsicht effektiv führen zu können. Klarstellende Regelungen dazu wären daher nicht nur wünschenswert gewesen, sie hätten auch geholfen, für Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zu sorgen. Mehr Rechtsklarheit hätten auch Krankenhäuser, Notärzte und die Betreiber von Landeplätzen für Rettungshubschrauber verdient, für die nun im Einzelfall geklärt werden muss, welche konkreten Sicherheitsanforderungen gelten sollen. Eine Einzelfallprüfung steht auch allen Beschäftigten bevor, die nun in das Verfahren der behördlichen Zuverlässigkeitsprüfung einbezogen werden. Ein Schritt der sicherheitspolitisch begründet ist. Versäumt wurde aber auch hier, die Verfahren so anzupassen, dass gleichzeitig auch die Rechte der Betroffenen geschützt und die gegebenenfalls daraus folgenden Konsequenzen für die Berufsausübung angemessen berücksichtigt werden. Dazu hätte am besten das gesamte Verfahren der Zuverlässigkeitsüberprüfung überarbeitet, jedenfalls aber die gerichtliche Überprüfbarkeit verbessert werden müssen. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA-Neuordnungsgesetz – FMSANeuOG) (Tagesordnungspunkt 25) Dr. André Berghegger (CDU/CSU): Der vorliegende Gesetzentwurf weist eine längere Entstehungsgeschichte auf. Am 20. Juli 2016 hat das Bundeskabinett den Regierungsentwurf beschlossen. Dieser Entwurf ist parallel beim Bundestag und Bundesrat eingebracht worden. Der Deutsche Bundestag hat in seiner Sitzung am 22. September 2016 in erster Lesung darüber beraten. Einen Tag später, am 23. September 2016, hat der Bundesrat mehrere Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf vorgeschlagen. Nach intensiven Diskussionen zwischen Bund und Ländern ist inzwischen eine Verständigung erzielt worden. Am 30. November 2016 haben wir daher im federführenden Haushaltsausschuss entsprechend diverse Änderungen eingebracht und beraten, die diese Verständigung mit den Ländern aufgreifen. So können wir am heutigen Tage nun abschließend im Plenum des Deutschen Bundestages über den Gesetzentwurf in geänderter Fassung beraten. Im Kern geht es bei dem vorliegenden Gesetzentwurf darum, die bislang bestehenden beiden Aufgabenbereiche der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA) ab dem Jahr 2018 neu aufzustellen. Zum einen wird gemäß § 3 des Sanierungs- und Abwicklungsgesetzes (SAG) die Aufgabe der Nationalen Abwicklungsbehörde (NAB) auf die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) übertragen. Durch die Integration als eigenständiger Geschäftsbereich werden Entscheidungswege in Krisensituationen unter einem Dach zusammengeführt. Dies gewährleistet eine einheitliche sachgerechte Abwägung und zügige Entscheidungen innerhalb der Allfinanzaufsicht. Zum anderen wird der verbleibende Teil der FMSA, der die Verwaltung des Finanzmarktstabilisierungsfonds (FMS) zum Gegenstand hat, in die Finanzagentur integriert, die bislang schon die Refinanzierung des Fonds für den Bund umsetzt. Die Aufgaben der FMSA werden auf diese Weise effizient in Strukturen größerer Einheiten überführt. Finanzagentur und BaFin werden durch die gebündelte Sachkunde gestärkt, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der FMSA eröffnen sich durch die Überführung langfristige Perspektiven. Darüber hinaus enthält der vorliegende Gesetzentwurf weitere wichtige Regelungen. Es handelt sich um ein sogenanntes Mantelgesetz, mit dem auch Aspekte geregelt werden, die nicht mit der FMSA im unmittelbaren Zusammenhang stehen. Hierbei will ich zwei Punkte hervorheben: Erstens übernimmt die BaFin die Aufsicht über die Pflichtversicherung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) im Wege der Organleihe für das Bundesministerium der Finanzen. Dadurch können Synergieeffekte mit den sonstigen Aufsichtstätigkeiten der BaFin genutzt werden. Zweitens erfolgt eine Änderung der Vergütungsregelungen für Banken zur Umsetzung neuer Leitlinien der Europäischen Bankaufsichtsbehörde EBA. Im parlamentarischen Verfahren haben sich außerdem vor dem Hintergrund der Verständigung mit den Ländern diverse Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf ergeben. So ist als Erstes eine Neuorganisation der parlamentarischen Kontrolle des FMS vorgesehen. Das Finanzmarktgremium soll ab 2018 mit dem Bundesschuldenwesengremium zusammengelegt werden. Ferner ist als Zweites eine Anpassung der Umlagesystematik der NAB an das BaFin-System geplant. Diese soll bereits für die Endabrechnung der Umlage für 2016 sowie die Vorauszahlung für 2018 gelten. Zudem sind als Drittes in den Änderungsanträgen Anpassungen der im Regierungsentwurf vorgesehenen Konkretisierungen zur Anwendbarkeit der Bundeshaushaltsordnung auf die bundesrechtlichen Abwicklungsanstalten enthalten. Als Viertes schaffen wir Optionen für einen Portfolioabbau im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auch bei bundesrechtlichen Abwicklungsanstalten. Schließlich sind als Fünftes zeitliche Verschiebungen von Änderungen bei der Millionenkreditverordnung sowie Klarstellungen im Zusammenhang mit der Rückforderung von Boni – sogenanntes Clawback – vorgesehen. Als Haushaltspolitiker möchte ich abschließend noch betonen, dass der Gesetzentwurf keine negativen Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte haben wird. Im Gegenteil: Die Belastung der Steuerzahler kann voraussichtlich sogar um einen dreistelligen Millionenbetrag verringert werden. Denn der FMS wird künftig allein zum Verlustausgleich verpflichtet sein, da der FMS die Refinanzierung der Abwicklungsanstalten übernimmt. Der Gesetzentwurf ist also insgesamt ein weiterer logischer Schritt bei der Bewältigung der Finanzmarktkrise. Die enthaltenen Regelungen sind sinnvoll und zielführend. Die CDU/CSU-Fraktion empfiehlt daher die Zustimmung. Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Die Finanzkrise 2008 stellte Politik und Finanzmärkte vor große Herausforderungen. Es drohten ungeahnte Folgen für die Wirtschaft, für die Unternehmen und entsprechenden Arbeitsplätze sowie für die Spareinlagen und die Altersvorsorge aller Bürgerinnen und Bürger. Weltweit wurden daher umfassende Maßnahmen zur Stabilisierung und zum Erhalt der Funktionsfähigkeit des Finanzsystems ergriffen. Der Bundestag beschloss, in kürzester Zeit 400 Milliarden Euro in Form von Kapitalgarantien und 80 Milliarden Euro als direkte Kapitalhilfen bereitzustellen. Dazu wurde der sogenannte Finanzmarktstabilisierungsfonds eingerichtet. Finanzinstituten wurden die Hilfen aus diesem Fonds zur Verfügung gestellt, allerdings unter strengen Auflagen und hohen Zinssätzen von bis zu 9 Prozent. Als weitere Folge der Finanzkrise wurden sogenannte Abwicklungsanstalten – oder auch Bad Banks – eingerichtet. In eine Abwicklungsanstalt kann eine Bank, die sich in einer problematischen Situation befindet, neben strukturierten Wertpapieren weitere Risikopositionen, wie beispielsweise ausfallgefährdete Kredite oder auch ganze Geschäftsbereiche, übertragen. Die Bank wird durch die Übertragung ihrer Risikopositionen sofort von Eigenkapitalanforderungen und Abschreibungsdruck entlastet. Damit wird ihr die Möglichkeit eröffnet, ihre kritischen Portfolios geordnet abzuwickeln und sich selbst für die Zukunft mit einem erfolgversprechenden Geschäftsmodell neu auszurichten. Momentan gibt es zwei bundesrechtliche Abwicklungsanstalten: In die „Erste Abwicklungsanstalt“ (EAA) wurden in mehreren Schritten strategisch nicht notwendige Geschäftsbereiche und Risikopositionen der ehemaligen Westdeutschen Landesbank übertragen. Weiterhin gibt es die „FMS Wertmanagement“ (FMS-WM), in der sich ehemalige Vermögenswerte der HRE-Gruppe befinden. Bis heute liegt die Verwaltung und die Überwachung des Finanzmarktstabilisierungsfonds und der beiden bundesrechtlichen Abwicklungsanstalten in der Hand der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung, kurz FMSA. Die parlamentarische Kontrolle über die Finanzhilfen des Fonds liegt im Deutschen Bundestag beim Finanzmarktgremium. Als weitere Aufgabe übernahm die FMSA die Erhebung einer nationalen Bankenabgabe, die dazu beitragen soll, dass zukünftig nicht der Steuerzahler, sondern die Banken selbst eine finanzielle Basis schaffen, aus denen die Kosten einer möglichen Abwicklung von Banken finanziert werden können. Damit hatte die FMSA auch die Funktion einer nationalen Abwicklungsbehörde für Finanzinstitute inne. Die FMSA hat in den letzten Jahren eine hervorragende Arbeit geleistet, die ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich würdigen möchte. Da jedoch Ende 2015 der Finanzmarktstabilisierungsfonds geschlossen wurde, bereits etwa 50 bis 70 Prozent der Portfolien bei den Abwicklungsanstalten abgebaut werden konnten und zwischenzeitlich die europäische Bankenunion eingeführt wurde, wurde eine Neuordnung der FMSA notwendig. Dazu werden künftig deren Aufgaben auf die Finanzagentur des Bundes und auf die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) aufgeteilt. Der Aufgabenbereich Überwachung und Abwicklung wird aus Effizienzgesichtspunkten und auch im Interesse der Personalstabilität an die Finanzagentur des Bundes übertragen. Die Finanzagentur hatte bisher bereits die Refinanzierung des Finanzmarktstabilisierungsfonds übernommen, sodass dies eine logische Folge ist. Die Aufgaben als nationale Abwicklungsbehörde mit der Zuständigkeit für die Abwicklung der kleinen und mittelgroßen Banken fallen an die BaFin. Dort wird dazu eine eigenständige Organisationseinheit mit einem eigenen Exekutivdirektor eingerichtet. Diese Organisationseinheit agiert unabhängig von der Aufsichtsfunktion der BaFin. Das FMSA-Neuordnungsgesetz regelt diesen Vorgang. Der Gesetzentwurf beschreibt hauptsächlich die Aufgabenübertragung der entsprechenden Bereiche. Wir haben im Deutschen Bundestag aber noch einige Änderungen am Entwurf beschlossen. Künftig wird nicht mehr das Finanzmarktgremium, sondern das sogenannte Bundesfinanzierungsgremium die parlamentarische Kontrolle über die beiden Abwicklungsanstalten und die verbliebenden Beteiligungen des Bundes übernehmen. Des Weiteren haben wir in einem Umdruck die Möglichkeit einer Umwandlung von Abwicklungsanstalten eingebracht. Ausdrücklich sind neben Ausgliederungen auch Abspaltungen von Vermögensteilen möglich. Das entspricht dem praktischen Bedürfnis und den Flexibilitätsanforderungen der Abwicklungsanstalten, Portfolios im Wege einer Gesamtrechtsnachfolge zu übertragen. Die Abwicklungspraxis vergleichbarer Institutionen im Ausland zeigt einen beschleunigten Risikoabbau. Auf diese Weise sollen erhebliche Kosten- und Zeitersparnisse gegenüber der Übertragung im Wege der Einzelrechtsnachfolge erreicht werden. Die Vermögensübertragung bietet schließlich eine effiziente und praktische Alternative zu einem normalen Verkaufsvorgang. Sie verbindet die Vorteile der Gesamtrechtsnachfolge, der Entbehrlichkeit einer Gläubigerbeteiligung für Übertragungen und der Möglichkeit, eine andere Gegenleistung als Anteile, namentlich Geld, zu bekommen. Abschließend möchte ich sagen, dass wir mit diesem Gesetz die Verwaltung und Kontrolle der Finanzstabilisierungshilfen und der Abwicklungsanstalten auf einen guten Weg gebracht und zukunftsfest gemacht haben. Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Wie Sie wissen, wurde als Reaktion auf die Finanzkrise im Jahr 2008 der Finanzmarktstabilisierungsfonds errichtet, der über einen Handlungsrahmen von insgesamt 480 Milliarden Euro verfügte. Verwaltet wurde dieser Fonds von der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA), die auch die Befugnis erhielt, Abwicklungsanstalten, sogenannte „Bad Banks“, zu gründen. Im Rahmen dieses Modells konnten Risikopositionen sowie zur strategischen Ausrichtung der jeweiligen Bank nicht mehr notwendige Geschäftsbereiche übertragen werden. Die FMSA machte von dieser Möglichkeit zweimal Gebrauch. 2009 gründete sie die Erste Abwicklungsanstalt (EAA), die in mehreren Schritten in großem Umfang Risikopositionen der West LB übernahm. 2010 wurde darüber hinaus die FMS-Wertmanagement gegründet, die Risikopositionen der HRE-Gruppe übernahmen. Ab dem 1. Januar 2015 übernahm die FMSA zudem die Funktion der nationalen Abwicklungsbehörde in Deutschland, um Banken in Schieflagen abwickeln zu können. Seit Beginn des Jahres 2016 hat der neugeschaffene europäische einheitliche Abwicklungsausschuss (Single Resolution Board) die Aufgabe der Abwicklung und Restrukturierung von Instituten übernommen. Nun ist es so, dass durch Rückzahlungen der Maßnahmeempfänger sich das Volumen der Stabilisierungsmaßnahmen des Finanzmarktstabilisierungsfonds bis zum Ende des Jahres 2015 sukzessive verringert hat mit der Folge, dass der FMS mit Auslauf des Jahres 2015 für neue Maßnahmen geschlossen und die Abwicklung des Fonds eingeleitet wurde. Die Aufgaben der FMSA beschränken sich daher nur noch auf die Verwaltung der noch ausstehenden Maßnahmen. Dies umfasst zum einen die Verwaltung der bestehenden Minderheitsbeteiligungen des FMS an der Commerzbank und der pbb-Deutsche Pfandbriefbank sowie der stillen Einlagen bei der Portigon AG und zum anderen die Aufsicht über die Abwicklungsanstalten EAA und FMS-Wertmanagement. Dies ist der Grund, warum wir heute in 2./3. Lesung das Gesetz zur Neuordnung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung verabschieden werden. Mit diesem Gesetz wird es eine Zweiteilung geben. So wird die nationale Abwicklungsbehörde (NAB) in die BaFin eingegliedert. Die restliche FMSA wird infolge der Ende 2015 erfolgten Schließung des FMS für neue Maßnahmen in die Bundesrepublik Deutschland – Finanzagentur GmbH und damit in eine größere Einheit und Infrastruktur integriert. Es ist beabsichtigt, mit der Übertragung der Aufgaben der nationalen Abwicklungsbehörde auf die BaFin zwei Ziele zu verfolgen. So sollen die Einheiten der FMSA, die Aufgaben der nationalen Abwicklungsbehörde wahrnehmen, unter Beachtung der Vorgaben diverser europäischer Richtlinien als neuer Geschäftsbereich in die BaFin eingegliedert werden. Dieser wird von einer(m) eigenen Exekutivdirektorin/Exekutivdirektor geleitet, die oder der auch im Direktorium der BaFin vertreten sein wird. Des Weiteren soll die Effizienz der Aufgabenerledigung dahin gehend gesteigert werden, dass die bestehenden Strukturen und die vorhandene Sachkunde der BaFin als Allfinanzaufsicht auch für die Zwecke der Abwicklung genutzt werden können. Nun ist festzustellen, dass die Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung im Bereich der Abwicklungsbehörde sehr schnell gewachsen sind, während auf der anderen Seite die Aufgaben im FMS-Bereich für neue Maßnahmen und Rückführung bestehender Maßnahmen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen sind. Da die FMSA ohne den Abwicklungsbereich als kleine Behörde zurückbleiben würde, macht es Sinn, die FMSA in eine größere Einheit zu integrieren. Eine Eingliederung dieses Teils in die BaFin kommt dabei nicht infrage, da dies zu Interessenkonflikten zwischen Bankenaufsicht und Beteiligungsführung führen würde. Mit der Finanzagentur ist meines Erachtens hier auch der richtige Partner gefunden worden. Diese wird mit der Trägerschaft an der FMSA beliehen, führt deren Aufgaben nach Maßgabe des vorliegenden Gesetzentwurfes im Zuge der nun eingeleiteten Abwicklung und Auflösung des FMS fort und übernimmt – das erachte ich als besonders wichtig – die zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der FMSA. Damit ist klar: Eine weiterhin effiziente Arbeit der FMSA wird ermöglicht und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine langfristige Perspektive über ihre inzwischen auf Ablauf angelegten Tätigkeit im Zusammenhang mit der Finanzmarktstabilisierung und der FMS geboten. In den letzten Wochen haben wir uns intensiv mit den durch den Gesetzentwurf betroffenen Beteiligten auseinandergesetzt. Vor allem die Ausgestaltung der §§ 8a und 8b des Gesetzes zur Errichtung eines Finanzmarktstabilisierungsfonds, welche die bundesrechtlichen Abwicklungsanstalten beinhalten, war Gegenstand vieler Diskussionen. Grundsätzlich dienen die Anpassungen im § 8a FMStFG der Rechtssicherheit in Bezug auf die Tätigkeiten der bundesrechtlichen Abwicklungsanstalten, insbesondere in Bezug auf die Anwendbarkeit der Bundeshaushaltsordnung. Vor allem § 8a Absatz 6 trägt der speziellen Situation der Abwicklungsanstalten Rechnung, die einerseits marktnah agieren sollen und andererseits öffentlich-rechtliche Anstalten mit einer staatlichen Verlustgarantie sind. In diesem Zusammenhang haben wir uns darauf geeinigt, dass wesentliche Teile der Bundeshaushaltsordnung nicht auf die Abwicklungsanstalten anwendbar sind. Lediglich die §§ 55 und 109 (diese regeln die öffentliche Ausschreibung und die Rechnungslegung) sowie die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit bleiben anwendbar. Das ist auch richtig so, da die Abwicklungsanstalten mit Steuergeldern finanziert werden und die Risiken der Abwicklungsanstalten von der öffentlichen Hand getragen werden. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Vorgaben die Abwicklungsanstalten nicht in ihrem Auftrag beeinträchtigen, die abzuwickelnden Portfolios verlustmindernd zu veräußern. Der Grundsatz beeinträchtigt auch nicht Risikoentscheidungen auf Grundlage der Business Judgement Rule im Rahmen der Portfolioverwaltung. Nach wie vor haben die Abwicklungsanstalten ihre Geschäfte nach kaufmännischen und wirtschaftlichen Grundsätzen zu führen. Dies gewährleistet der § 8a Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz (FMStFG). Des Weiteren haben wir den bundesrechtlichen Abwicklungsanstalten die Möglichkeit eingeräumt, Portfolios im Wege der Gesamtrechtsnachfolge zu übertragen. Auf diese Weise sollen erhebliche Kosten- und Zeitersparnisse gegenüber der Übertragung im Wege der Einzelrechtsnachfolge erreicht werden. Die Regelung orientiert sich an § 8a Absatz 8 des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes, der den Abwicklungsanstalten ermöglicht, als übernehmender Rechtsträger an einem Spaltungsvorgang beteiligt zu sein. Somit wird richtigerweise den Abwicklungsanstalten die Möglichkeit eingeräumt, an Ausgliederungen und Abspaltungen im Sinne des Umwandlungsrechts als übertragender Rechtsträger beteiligt zu sein. Dies gilt jedoch nur für Übertragungsmöglichkeiten auf die Ausgliederung und Abspaltung. Andere Arten der Spaltung werden nicht zugelassen. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf eine Regelung hinweisen, die im Rahmen der Neuordnung der Aufgaben der FMSA neu gestaltet wurde. So wird mit diesem Gesetzentwurf auch die Organisation der Parlamentarischen Kontrolle über den FMS neu geregelt. Die Aufgaben des Gremiums nach § 10a des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes (Finanzmarktgremium) werden weiter abnehmen, da – wie bereits erwähnt – neue Maßnahmen seit 2016 nicht mehr ergriffen werden können und die ausstehenden Maßnahmen rückläufig sind. Es erscheint daher im Zuge der Tatsache, dass künftig die Finanzagentur für den FMS zuständig sein soll, sinnvoll, dass die Aufgaben des Finanzmarktgremiums ab dem Jahre 2018 durch das für die Finanzagentur zuständige Bundesfinanzierungsgremium wahrgenommen werden. Auf diese Weise kann die parlamentarische Kontrolle beider Bereiche künftig aus einer Hand erfolgen, und die Geschäftsführung der Finanzagentur kann einem Gremium berichten. Das Bundesfinanzgremium besteht aus Mitgliedern des Haushaltsausschusses. Mitglieder des Finanzausschusses können, wie bisher, in das Gremium gewählt werden, sofern sie stellvertretendes Mitglied im Haushaltsausschuss sind. Alles in allem beschließen wir heute mit dem Gesetzentwurf eine sinnvolle Reform. Die juristische Konstruktion bei der FMSA ist zwar kompliziert, aber plausibel. Mit den beschlossenen Änderungen zum vorliegenden Gesetzentwurf werden wir auch allen Beteiligten gerecht. Roland Claus (DIE LINKE): Ich hatte in meiner Rede zur ersten Lesung des FMSA-Neuordnungsgesetzes die wesentlichen Kritikpunkte am generellen Zustand der Bankenrettung bereits dezidiert aufgeführt, vor allem die Tatsache, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung die Logik von Koalition und Regierung zur staatlichen Rettung von Banken mit Steuergeldern fortsetzt. Seit Bestehen des Sonderfonds für die Finanzmarktstabilisierung und der entsprechenden Bundesanstalt hat dieser Fonds auf Kosten der Steuerzahler 22,6 Milliarden Euro Verlust angesammelt, nach veröffentlichten Informationen der FMSA. Man muss sich deutlich vor Augen halten, dass die ungelöste Bankenkrise trotz ihrer Verdrängung aus den Tagesschlagzeilen immer noch eine Bedrohung der europäischen Staaten darstellt, weil das Gewicht der Finanzmärkte auch die Rettungsboje der Staatshaushalte unter Wasser drückt. Beschlossen hatte die Koalition eine Pseudo-Bankenabgabe, die nach oben gedeckelt ist und von der Vorstellung ausgeht, dass die nächste Finanzkrise schwach ausfallen und erst „in einem halben Jahrhundert“ stattfinden wird. Eine solche Annahme ist nicht nur naiv, sondern bedient bewusst die Lobby-Interessen der Finanzbranche zulasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Außer gegen Euro-Staaten richten Banken und Hedgefonds ihre spekulativen Angriffe auch auf Rohstoffe und Nahrungsmittel. Das Leid der Opfer dieser Spekulationswellen wird von den Akteuren in Kauf genommen. Nun hat die Koalition in der Zwischenzeit noch eine Reihe von Änderungsanträgen eingebracht, von denen meine Fraktion zwei für zustimmungsfähig hält: Wir meinen, dass die Anpassung der Bemessungsgrundlage für die Umlage der Nationalen Abwicklungsbehörde, NAB, sinnvoll ist, da auf diese Weise eine Verschiebung von Lasten zuungunsten der kleinen Institute vermieden wird und Förderbanken weiterhin privilegiert bleiben. Darüber hinaus stimmen wir auch der Änderung bei landesrechtlichen Abwicklungsanstalten zu, da sie sicherstellt, dass für die landesrechtlichen Abwicklungsanstalten dieselben Vorgaben für die Rechnungslegung und Bilanzierung gelten wie aktuell und künftig für die bundesrechtlichen. Bei allen weiteren Änderungsanträgen wird sich Die Linke enthalten. Im Grundsatz jedoch ist die vorgenommene Finanzmarktstabilisierung nach wie vor der falsche Weg. Schädliche Finanzinstrumente und Aktivitäten müssen verboten werden, zum Beispiel Hedgefonds, Schattenbanken, ungedeckte Leerverkäufe und Wertpapiere auf Grundlage von Kreditausfallversicherungen ohne eigenen Kredit. Über eine Reregulierung der Finanzmärkte und die Stärkung der Eigenkapitalanforderungen hinaus müssen spekulative Exzesse durch eine Finanztransaktionsteuer und einen „Finanz-TÜV“ eingedämmt werden. Der Bankensektor muss auf seine Kernfunktionen Zahlungsverkehr, Ersparnisbildung und Finanzierung zurückgeführt und entsprechend geschrumpft werden, damit die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht immer wieder aufs Neue erpresst werden. Diese Umstrukturierungen sind nicht nur politisch geboten, sondern auch verfahrenstechnisch machbar, wie wir uns bei einem Besuch einer Delegation von Abgeordneten über die Arbeitsweise der FMSA in Frankfurt/Main überzeugen konnten. Im Gesetzentwurf zur Neuordnung der FMSA und in den Änderungsanträgen werden nun die vorgesehenen strukturellen Veränderungen kodifiziert. Die parlamentarische Begleitung soll in dem ausschließlich geheim tagenden Bundesfinanzierungsgremium erfolgen. Auch dieses Geheimgremium hatte meine Fraktion seit 2008 kritisiert. Die jetzt beabsichtigten Strukturänderungen sind weitgehend nachvollziehbar, aber sie folgen weiterhin der falschen Logik. Die Fraktion Die Linke wird deshalb den Gesetzentwurf ablehnen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der SoFFin ist nun schon eine Weile für neue Maßnahmen geschlossen, und die Bad Banks schmelzen ihre Portfolios schneller ab als erwartet. Das ist eine gute Nachricht. Und deshalb sind wir heute hier und beschließen ein Gesetz, welches die aufgrund der Krise gegründeten Institutionen neu und effizienter organisieren soll. Die Neuordnung der FMSA und die Eingliederung in größere Strukturen sind, mit deren zunehmend schrumpfenden Aufgaben, sachgerecht. Dies ermöglicht es, die Infrastruktur und Sachkunde dieser Einheiten zu nutzen, und den Mitarbeitern innerhalb der FMSA eröffnen sich langfristige Perspektiven. Durch die Integration der Bad Banks in die Finanzagentur kann deren Refinanzierung nun zu besseren Konditionen erfolgen. Dieses Einsparpotenzial haben wir der Bundesregierung seit 2012 regelmäßig aufgezeigt. Dies wurde aber erst als falsch abgetan. Dann, als die Richtigkeit unserer grünen Argumentation erkannt wurde, wurde es aus politischen Gründen nicht umgesetzt. Es ist schön, zu sehen, dass gute Vorschläge auch von dieser Bundesregierung irgendwann aufgegriffen werden, wenn auch deutlich zu spät und ohne Beachtung des Copyrights. Für die Millionen, die seit 2012 aus politischem Starrsinn verbrannt wurden, schuldet der Finanzminister dem Steuerzahler allerdings noch eine Erklärung. Mit dem Gesetz geben wir den Abwicklungsanstalten die Möglichkeit, durch Abspaltung und Umwandlung ihre Portfolios schneller und kostengünstiger abzubauen. Die Überwachung der Abwicklungsanstalten und der Beteiligungen mittelfristig in das Bundesfinanzierungsgremium überzuführen und hierfür im Bundestag nicht weiterhin ein eigenes Gremium zu beschäftigen, ist aufgrund der weniger komplexen Situation effizient. Die Eingliederung der Nationalen Abwicklungsbehörde in die BaFin wirft wichtige institutionelle Fragen auf. Besonders wichtig war uns im Beratungsprozess, sicherzustellen, dass die Nationale Abwicklungsbehörde wirklich unabhängig von der Aufsicht agieren kann. Ansonsten besteht die Gefahr, dass es zu einem Interessenkonflikt kommt, deshalb eine nötige Abwicklung zu spät erfolgt und diese somit unnötig verteuert wird. Ob die nötige Unabhängigkeit mit der jetzt gewählten Konstruktion gewährleistet ist, bezweifeln wir. Die Nationale Abwicklungsbehörde wird in Zukunft sowohl national als auch im Rahmen des Einheitlichen Abwicklungsmechanismus tätig sein. Hier war es uns besonders wichtig, dass keine Situation auftritt, in der weder eine Kontrolle durch den Deutschen Bundestag noch über das Europäische Parlament erfolgt. Wir haben im Prozess dieses Problem mehrfach thematisiert und werden dies auch in der Praxis sehr genau beobachten. Mit dem Gesetz setzt die Bundesregierung einen unserer Vorschläge um, der dem Steuerzahler Millionen einspart. Wir hätten es gerne gesehen, wenn unsere anderen Initiativen in diesem Bereich ebenfalls aufgegriffen worden wären. Sowohl in den Beratungen zu diesem Gesetz als auch vorher haben wir uns für eine Verbesserung in der parlamentarischen und exekutiven Kontrolle bei gestützten Instituten eingesetzt. Angesichts der Höhe der hier bereitgestellten Gelder ist die bisher vorgenommene Kontrolle unzureichend. Auch die Regelungen zu den Managergehältern gestützter Banken bleiben unzureichend. Bei der Hypo Real Estate wurden die vorgesehenen Gehaltdeckelungen durch die Gewährung von Luxusrenten umgangen. Wir haben die Bundesregierung bereits 2012 aufgefordert, dem einen Riegel vorzuschieben. Dies hätte man im Rahmen dieser Neuordnung umsetzen können. Leider ist dies nicht geschehen. Da aber die Vereinfachung und Verschlankung der Strukturen der Bankenabwicklung sachgerecht, ist stimmen wir dem Gesetz heute zu. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Erlass und zur Änderung marktordnungsrechtlicher Vorschriften sowie zur Änderung des Einkommensteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 26) Kees de Vries (CDU/CSU): Das nationale Liquiditätshilfeprogramm mit Angebotsdisziplin ist Teil des insgesamt rund 500 Millionen Euro schweren zweiten EU-Hilfspakets zur Milchkrise. Damit wurde das EU-Hilfspaket in eine nationale Verordnung umgesetzt. Die geplante Liquiditätshilfe wurde dazu mit einer Mengendisziplin verknüpft. In Anbetracht der Absicht der EU, die Vorräte aus den Interventionsankäufen auf den Markt zu bringen, und des zu erwartenden Frühjahrsaufschwungs in der Produktion, ist es eine sinnvolle Maßnahme, die zur Stabilisierung der Preise beitragen wird. Da in der Land- und Forstwirtschaft die Ertrags- und Erlösschwankungen zwischen einzelnen Wirtschaftsjahren wegen der zunehmenden Wetterkapriolen und der Volatilität der Märkte besonders stark sind, sieht Artikel 3 des Gesetzes darüber hinaus eine Änderung des Einkommensteuergesetzes vor mit dem Ziel, die natur- und sektorbedingten Schwankungen der Gewinne in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben zwischen aufeinanderfolgenden Wirtschaftsjahren steuerlich zu glätten. Durch einen neuen § 34e EStG werden Gewinnschwankungen in der Land- und Forstwirtschaft rückwirkend für drei Jahre durch eine individuelle Tarifglättung korrigiert. Diese Regelung soll nach der Einigung der Koalitionsfraktionen auf neun Jahre befristet sein, das heißt in 2014 beginnen und in 2022 enden. Ich gehe davon aus, dass auch die Kommission dieser Maßnahme zustimmen wird. Durch die von der Koalition vorgelegten Änderungsanträge zum steuerrechtlichen Teil werden die Modalitäten der Glättung – Einkommenssituation im jeweils dritten Jahr eines Betrachtungszeitraums, Möglichkeit einer Nachzahlung im Einzelfall – stimmiger. Die Gesetzesänderungen sowie der Verordnungsentwurf zur Durchführung einer Sonderbeihilfe für Milcherzeuger und der Beschluss zum Haushalt 2017 sind die Grundlage, um die Liquiditätshilfen mit Angebotsdisziplin in Höhe von insgesamt 116 Millionen Euro – 58 Millionen Euro EU-Mittel, zusätzlich dankenswerterweise 58 Millionen Euro vom Bund – in 2017 an die Landwirte auszuzahlen. Die schwierige Marktlage ist trotz derzeit sich erholender Märkte nicht überwunden. Der Saisonaufschwung der Rohmilchlieferung im ersten Halbjahr 2017 wird zeigen, ob die Preiserholung nachhaltig ist. Unsere Liquiditätshilfe mit Angebotsdisziplin wird dann angebotsdämpfend wirken. Damit dieser Zeitraum mit dem Kalendermonat Februar 2017 beginnen kann, muss die Ministerverordnung noch im Dezember in Kraft treten. Dazu brauchen wir jetzt eine Änderung des Marktorganisationsgesetzes, und ich bitte um Ihre Zustimmung dafür. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Die Milchkrise ist noch nicht vorbei, aber es gibt Licht am Horizont. Die Preise legen an den Spotmärkten und in den Supermärkten zu, aber die Landwirte verdienen trotzdem noch kein Geld. Bei etwa 7 bis 8 Milliarden Euro Einnahmeverluste seit Beginn der Krise hat jeder Betrieb durchschnittlich gut 112 000 Euro davon zu tragen. Dieses Geld fehlt nun den Betrieben und im ländlichen Raum! Die Krise hat viele Betriebe in die Knie gezwungen: Mittlerweile gibt es nur noch knapp 70 000 Milchviehbetriebe. Das sind gut 5 Prozent weniger als im Vorjahr. Seit 2010 haben wir sogar über 22 000 Betriebe bzw. 24 Prozent – trotz Milchquote – verloren. Dies hätte nicht so kommen müssen, wenn rechtzeitig gehandelt worden wäre. Ich nenne nur das Bürgschaftsprogramm, das ich schon im September 2015 gefordert habe und das nun endlich mit der Verabschiedung des Haushalts kommen wird. Hier hat der Bundeslandwirtschaftsminister die Krise schlichtweg verschlafen. Auf die Fehler des ersten Entwurfs habe ich bereits bei der Einbringung des Gesetzentwurfes hingewiesen. Diese Fehler mussten dann mit einem Änderungsantrag korrigiert werden. Auch bei dem jetzt vorliegenden Entwurf hat die SPD-Fraktion erhebliche steuerfachliche und verfassungsrechtliche Bedenken. Das Einkommensteuerrecht ist sicherlich kein geeignetes Instrument der Krisenprävention bei volatilen Märkten. Die Einkommensteuer ist schlichtweg kein effizientes Instrument, um Landwirtschaftsbetriebe wirksam zu unterstützen. Hier ist die europäische Agrarpolitik in Gänze gefordert. Die im Einkommensteuergesetz vorgesehene Glättung der Gewinne aus land- und forstwirtschaftlichen Einkünften wird sowohl steuerfachlich als auch rechtlich problematisch angesehen. So sind im Gesetzentwurf sämtliche Land- und Forstwirte ohne Beschränkung begünstigt. Und dies unabhängig davon, ob in den jeweiligen Teilbereichen des Agrarsektors eine marktbedingte Einkommenskrise wie im Milchsektor vorliegt oder eben nicht. Außerdem ist die Zielgenauigkeit gegenüber den aktuellen Problemen in der Landwirtschaft zweifelhaft. Zudem profitieren aufgrund der Steuerprogressionskurve überwiegend Betriebe mit höheren Einkommen von der neuen steuerlichen Regelung. In 2015 haben 10 Prozent und in 2014  18 Prozent der Betriebe des Testbetriebsnetzes des BMEL Gewinne von 100 000 Euro ausgewiesen. Ein durchschnittlicher land- und forstwirtschaftlicher Betrieb kann demnach nur mit einer sehr kleinen Steuererleichterung in der Größenordnung von wenigen Hundert Euro rechnen. Das ist der Mühe nicht wert. Die unterschiedliche Progression bei stark schwankenden Einkünften betrifft nicht nur landwirtschaftliche Betriebe, sondern auch andere Einkunftsarten. Gerade das Tourismusgewerbe ist auch witterungsabhängig. Insofern ist die Frage des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht abschließend geklärt. Dies bestätigt auch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages. Auch bin ich der Überzeugung, dass der administrative Verwaltungsaufwand seitens der Finanzverwaltung erheblich ist und die ausgewiesenen 5,5 Millionen Euro Mehrkosten nicht ausreichen werden. In Bezug auf die vorgesehene fiktive Steuerberechnung ist die praktische Umsetzung fraglich. Zudem können bestandskräftige Veranlagungen im Bereich der Landwirtschaft über einen langen Zeitraum nicht durchgeführt werden. Wir brauchen eine europäische Lösung und keine nationalstaatliche über das Einkommensteuergesetz. Ich bin überzeugt, dass dies nicht die letzte Milchmarktkrise sein wird. Wichtige strukturelle Veränderungen, die der Branche langfristig geholfen hätten, sind nicht auf den Weg gebracht worden. Runde Tische und Branchenvereinbarungen lösen das Problem nicht. Landwirte haben ein Recht auf Verträge über Milchmenge, Laufzeit und Preis. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt tragen sie allein das wirtschaftliche Risiko. Niemand sonst. Das war 2009 so. Das ist auch jetzt so. Die Chance für die notwendige Änderung im Wettbewerbsrecht im § 28 ist leider verstrichen. Die Streichung der Andienpflicht im Agrarmarktstrukturgesetz, also der garantierten Abnahme der Milch trotz Überproduktion, ist an den grünen und schwarzen Agrarministern gescheitert. Auch die Änderung des § 148 der Gemeinsamen Marktordnung zugunsten der Landwirte ist momentan nicht abzusehen, trotz Agrarministerkonferenzbeschluss. Der vorliegende Gesetzentwurf kommt zu spät und ist nichts weiter als weiße Salbe! Bringt nichts, tut nicht weh, und der Bauernverband hat offensichtlich erfolgreiche Lobbypolitik betrieben! Die Milchmarktkrise wird zum Anlass genommen, um Land- und Forstbetrieben ein Steuergeschenk zu machen. Das ist nicht ausgewogen. Zum Glück haben wir den Freibetrag für Flächenveräußerungen verhindern können. Dies hätte den Bodenmarkt nur weiter angeheizt. Letztendlich können wir dem Gesetz nur aus zwei Gründen zustimmen: Erstens. Wir wollen das EU-Programm für die Landwirte ermöglichen. Dies können wir nur, wenn wir den Änderungen im Steuerrecht zustimmen. Zweitens. Das Bundesjustizministerium sieht der Gesetzesänderung zwar nicht mit Freud entgegen, kann dem aber noch gerade so zustimmen, da wir als SPD eine Befristung der Gewinnglättung bis 2022 eingeführt haben. Damit retten wir letztendlich noch das Gesetz. Letztendlich haben die Länder das letzte Wort, und wir werden dann sehen, wo die Agrar- oder die Finanzminister jeweils das letzte Wort haben werden. Das Ergebnis der Bundesratsverhandlungen ist offen. Ich gehe davon aus, dass zumindest einige Länder den Vermittlungsausschuss anrufen werden. Wenn das so kommt, dann greift das Gesetz dieses Jahr nicht mehr. Dies wäre dann das Ergebnis schlechter Arbeit des Bundeslandwirtschaftsministeriums. Karin Binder (DIE LINKE): Wir alle hier im Hohen Hause wollen den in Not geratenen Milchbetrieben helfen. Doch von dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Milch sauer. Die dringend notwendige Unterstützung der Milchbauern wird mit windigen Regelungen zur Einkommensteuer gepanscht. Bundesagrarminister Christian Schmidt hat die Bauern – und auch das Parlament – viel zu lange auf eine gesetzliche Regelung warten lassen. Die Verteilung von Hilfen über Mittel der EU und des Bundes hätte schon lange organisiert werden müssen, wenn man vermeiden will, dass noch mehr Betriebe aufgeben. Nach der langen Wartezeit müssen wir nun aber auch noch befürchten, dass der Gesetzentwurf der Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD nicht verfassungsgemäß ist. Das würde für viele Milchbauern endgültig das Aus bedeuten. Sollte das Gesetz nämlich gekippt werden, weil die Regelungen zur Einkommensteuer unzulässig sind, müssen die Landwirte die Steuerersparnisse aus der Gewinnglättung wieder zurückzahlen. Das möchte ich Ihnen kurz erklären: Der Gesetzentwurf besteht aus mehreren Teilen. In den ersten beiden Artikeln werden die dringend erwarteten Stützmaßnahmen der Europäischen Union geregelt. Aus Mitteln der EU stehen Deutschland 58 Millionen Euro für die Unterstützung der Milchbetriebe zur Verfügung, die durch die gleiche Summe vom Bund auf 116 Millionen Euro aufgestockt werden. Der Artikel 3 des Gesetzes hat damit nichts zu tun. Dieser regelt, dass Gewinne über drei Jahre im Durchschnitt gerechnet der Einkommensbesteuerung zugrunde gelegt werden. Dies soll nach Auffassung der Koalition kleinen Bauern helfen, die in dieser Milchmarktkrise entstandenen Verluste besser zu verkraften. Begründet wird diese Maßnahme im Gesetzentwurf mit dem globalen Klimawandel, der bei den „Betrieben zunehmend spürbar zu massiven Ernteausfällen und daraus resultierenden schwankenden Gewinnen“ führen würde. Das ist absurd. Zum einen wird die Möglichkeit zur Gewinnglättung auf neun Jahre begrenzt. Union und SPD gehen offenbar davon aus, dass der Klimawandel danach kein Thema mehr ist. Zum anderen werden einfach die Augen verschlossen vor den tatsächlichen Ursachen. Die Gewinneinbußen der Milchbetriebe sind die Folge eines Überangebotes mit dem damit verbundenen Preisverfall auf globalisierten und unregulierten Märkten. Letztendlich ist das dem Wegfall der Milchquote innerhalb der EU geschuldet. Der damit verbundene Preisverfall ist auch eine Folge der kartellartigen Einkaufsmacht der Supermarktketten in Deutschland. Dort haben die Erzeuger landwirtschaftlicher Produkte nichts mehr zu melden. Entweder sie akzeptieren den niedrigen Preis, den Lidl und Co. ihnen noch zugestehen, oder sie werden ausgelistet. Das vergiftet das Klima – auf den Agrarmärkten. Das verdirbt die Milch. Deshalb fordert die Linke: Weg von einer einseitigen Exportorientierung, Stärkung regionaler Absatzmärkte und einen nachfrageorientierten Regulierungsmechanismus. Landwirtschaftliche Erzeuger brauchen Unterstützung gegenüber dem Oligopol der deutschen Supermarktketten. Vertragliche Rahmenbedingungen müssen im Sinne der Landwirte neu geregelt und das Kartellrecht erweitert und gestärkt werden. Das wären dauerhafte Hilfen für eine notleidende Landwirtschaft. Unabhängig davon aber bezweifelt der Wissenschaftliche Dienst im Bundestag, dass eine Gewinnglättung über drei Jahre für die Einkommensteuerermittlung zulässig ist. Es sei auch nicht gesichert, dass die gewünschte Entlastung überhaupt eintritt. Die Experten machen darüber hinaus darauf aufmerksam, dass die Gewinnglättung über die Einkommensteuer nur einem Teil der Milchbetriebe nützt. Genossenschaften, landwirtschaftliche GmbHs und Kapitalgesellschaften zahlen Körperschaftsteuer und werden daher von der Regelung nicht profitieren. Der zur Begründung herangezogene Klimawandel betrifft jedoch Genossenschaften genauso wie Familienbetriebe. Eine derartige Missachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes wird vom Bundesverfassungsgericht nicht hingenommen werden. Am Ende wird die absurde Regelung zur Gewinnglättung das Gesetz zu Fall bringen. Das hat dann zur Folge, dass Bauern auch noch Steuern nachzahlen müssen. Herr Minister Schmidt, werte Regierungskoalition: Erst handeln Sie zu spät und dann auch noch mit solchen handwerklichen Fehlern. Nun müssen wir retten, was noch zu retten ist: Ziehen Sie Artikel 3 des Gesetzentwurfes zurück. Wir können hier heute getrennt darüber abstimmen. Die Kolleginnen und Kollegen der SPD, die als Regierungspartner für dieses unglückliche Gesetz mitverantwortlich sind, wissen um die Fehler in diesem Gesetz. Ich kann Sie nur auffordern, diesem Artikel 3 nicht zuzustimmen. Die Linke fordert schon seit langem: Führen Sie endlich eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für alle Betriebe ein. Auch der Bundesrat hat diese Forderung schon aufgestellt. Landwirtschaftliche Betriebe hätten zumindest eine Chance, in Zeiten von massivem Marktversagen solch schwierige Phasen aus eigenen Kräften besser zu überstehen. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es gibt immer wieder Situationen, da wundert man sich über das mögliche Auseinanderfallen von rationaler Erkenntnis und dem daraus folgenden Handeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, eine solche Situation in Reinform haben wir am vergangenen Dienstag erlebt, als wir im Sonderagrarausschuss über die steuerliche Gewinnglättung für Landwirtschaftsbetriebe debattiert haben. Lieber Wilhelm Priesmeier, ich folge voll und ganz deiner Einschätzung. Gegen die steuerliche Gewinnglättung liegen nach wie vor schwere verfassungsrechtliche Bedenken vor; hier werden neue steuerliche Sondertatbestände geschaffen. Eine Ungleichbehandlung einzelner Berufsgruppen wird neu geschaffen. Hier ist also der verfassungsgemäße Gleichheitsgrundsatz betroffen. Merkwürdigerweise kommen wir beide, SPD und Grüne, aus dieser gleichen Einschätzung aber zu vollkommen gegensätzlichen Ergebnissen. Da frage ich mich, wie kann das kommen? Wenn ich zu der Erkenntnis komme, ein Instrument, ein Handeln ist falsch – nicht zielführend, verfassungsrechtlich womöglich sogar gar nicht zu begründen, dann muss ich mich einem solchem politischen Beschluss doch widersetzen und ihn ablehnen. Aber die Sozialdemokraten haben einen Ruf als Umfaller zu verlieren. Da kann ich nur sagen: Diese Angst ist unbegründet, den Umfallerruf haben Sie in dieser Woche erneut verteidigt und entgegen Ihrer eigenen ablehnenden fachlichen Einschätzung der steuerlichen Gewinnglättung zugestimmt. Damit sind sie der Union auf den Leim gegangen. Dieses Missverhältnis zwischen politischer Einschätzung und politischem Verhalten ist doch bezeichnend. Die Union verspricht den Bäuerinnen und Bauern wieder einmal das Blaue vom Himmel und verkauft die Gewinnglättung als tatkräftige Hilfe für die notleidenden Milchbetriebe. Es nützt aber nicht den kleinen Milchbetrieben in Not, sondern alleine den großen Ackerbauern. Hier werden die Zuckerbarone quersubventioniert. Wir Grünen haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir deutliche Unterstützung für die Milchbetriebe in Not brauchen. Allerdings nicht, indem wir Gelder wahllos mit der Gießkanne über das Land verteilen, sondern indem wir die Ursachen der Milchmarktkrise angehen. Aber der Wahlkampf naht und die Union erliegt mal wieder der Gießkannenverlockung. Seit dem Wegfall der Milchquote haben wir Grünen auf die Krise hingewiesen und auf die absehbaren Folgen für die Landwirtschaft. Wir haben immer gesagt: Wir müssen die Menge reduzieren. Wir haben Vorschläge vorgelegt, wie auf die Krise reagiert werden kann. Viel zu spät wird jetzt reagiert und mit halbem Einsatz. Bitter bezahlt für diese späte Reaktion haben die Milchbetriebe. Immerhin, die Milchhilfen, die mit dem heutigen Gesetz ermöglicht werden, sind an eine sogenannte „Mengendisziplin“ gebunden. Das ist der Begriff, den Minister Schmidt gerne verwendet. Mit dem Gesetz wird die sogenannte „Milchsteigerungsvermeidungsbeihilfeverordnung“ kurz „MilchStVerBeihV“ ermöglicht. Wieder so ein Wortungetüm aus dem Hause Schmidt, dass deutlich zeigt, wie kompliziert dort gedacht wird. Nein, Herr Minister Schmidt, noch mal: Mengenreduzierung, schlicht und einfach – nicht Steigerungsvermeidungsirgendwas. Mittlerweile steigen die Preise wieder. Ja, richtig. Aber die Preise sind noch immer nicht kostendeckend, auch wenn Sie steigen. Kollege Kees de Vries spricht zwar schon von fast kostendeckenden Preisen. Ist das ein Erfolg? Und kostendeckend für welche Betriebe? Die Betriebe, von denen Kollege de Vries spricht, sind die 300er-, 600er-, 1 200er-Betriebe. Die können zu solchen Preisen – fast – schon produzieren. Das sind die Zukunftsbetriebe der Union, das ist das landwirtschaftliche Leitbild der Union. Das sind aber nicht die Betriebe, von denen wir Grünen sprechen. Wir wollen Zukunft für die bäuerlichen Milchbetriebe. Wir wollen die Kuh auf der Weide und wir wollen eine Zukunft, vor allem auch für die Kleinen. Dafür kämpfen wir. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Energiestatistikgesetzes (EnStatG) (Tagesordnungspunkt 27) Thomas Bareiß (CDU/CSU): Der Energieverbrauch der Industrie ist gesunken. Im Jahr 2015 betrug der Energieverbrauch in der Industrie 4 016 Petajoule und damit 0,7 Prozent weniger als im Vorjahr. Solche Aussagen können wir nur treffen, wenn wir den Zugriff auf verlässliche Daten und Statistiken haben. Aus diesem Grund beraten wir heute in erster Lesung den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf zum Energiestatistikgesetz. Damit stoßen wir eine wichtige Novellierung an, die die Grundlage für eine erfolgreiche Umsetzung der Energiewende in Deutschland schafft und uns dem europäischen Energiebinnenmarkt einen großen Schritt näherbringt. Mit der Novellierung des Energiestatistikgesetzes schaffen wir die Datenbasis für den Aufbau einer modernen Infrastruktur. Mithilfe der Statistiken kann die zunehmend dezentrale und vernetzte Energieversorgung besser gesteuert und analysiert werden. Die validen Daten schaffen die Grundlage für die Teilnahme an neuen Märkten. Sie ermöglicht uns, schneller und besser Informationen auszutauschen und Güter sowie Dienstleistungen anzubieten. Der starke Zubau an erneuerbaren Energien stellt unser Energieversorgungssystem auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene vor neue Herausforderungen. Er ist aber notwendig, um unsere Ziele, nämlich die Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent, zu erreichen. Dazu gehören ebenfalls die Halbierung des Primärenergieverbrauchs, die Reduzierung des Bruttostromverbrauchs und die Steigerung des Anteils der erneuerbaren Energien auf 80 Prozent bis 2050. Um diese Ziele nicht nur festzuschreiben, sondern auch zu erreichen, brauchen wir verlässliche Daten, um geeignete Szenarien, Wege und Instrumente für unser Energiesystem zu etablieren sowie zu analysieren. Die Datenerhebung für die nationalen und internationalen Berichtspflichten wird aufgrund von veränderten Marktbedingungen, Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen immer anspruchsvoller. Das Energiestatistikgesetz aus dem Jahr 2003 kann diesem Anspruch nur unzureichend gerecht werden. Die Statistiken im aktuellen Energiestatistikgesetz bilden die aktuellen Entwicklungen auf den Energiemärkten, insbesondere den Elektrizitäts- und Gasmärkten, ungenügend ab. Sie beziehen sich auf Wirtschaftsstrukturen, Definitionen und Erhebungsmerkmale von vor der Liberalisierung der Energiemärkte. Das ist ein Problem. Das ist gefährlich; denn die Statistiken sind unter anderem die Grundlage für den Monitoringprozess zur Umsetzung und Zielerreichung der Energiewende. Gibt es hier ungenügende Datenbasen, kann das negative Auswirkungen auf unsere Energiepolitik haben. Das kostet viel Geld. Denn wir steuern dann dort nach, wo nicht nachgesteuert werden muss, und schaffen Instrumente dort, wo sie nicht nötig sind. Das belastet unsere Industrie und unseren Mittelstand. Deshalb passen wir mit dem aktuellen Entwurf zur Novellierung des Energiestatistikgesetzes völlig zu Recht die Merkmale, Begriffe, Zeiträume und Berichtskreise an die aktuellen Entwicklungen und Gegebenheiten an. Das heißt aber nicht, dass bewährte Regelungen und Strukturen ohne Not aufgelöst werden sollen. Das Ziel der Novelle muss es sein, ein Gleichgewicht zwischen Kosten und Nutzen herzustellen. Dabei müssen die neuen Regelungen dazu beitragen, dass die Wirtschaft von Meldepflichten bestmöglich entlastet und von Bürokratie befreit wird. Es muss also ein Gleichgewicht zwischen der Belastung der Wirtschaft und dem Nutzen durch die Informationsqualität hergestellt werden. Der Entwurf des Energiestatistikgesetzes sieht hier eine Reduzierung der einzelnen Berichtspflichten vor und ersetzt diese in anderen Bereichen, in welchen die Wirtschaft von zusätzlichen Informationen, beispielsweise bei der Steigerung der Energieeffizienz, profitieren kann. Die Zielsetzung der Novelle ist somit klar: Der Erfüllungsaufwand der Wirtschaft muss minimal gehalten werden, und der „One in, one out“-Grundsatz der Bundesregierung muss zum Tragen kommen. Insgesamt rechnet das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie mit einer Erhöhung des Erfüllungsaufwandes für die Wirtschaft von 2,4 Millionen Euro auf 5,2 Millionen Euro pro Jahr. Zusätzlich wird mit einmaligen Umstellungskosten in Höhe von 5,4 Millionen Euro gerechnet. Das ist viel Geld und betrifft insbesondere unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen. Ganz überwiegend sind diese Kosten dem EU-Recht geschuldet. Deshalb gilt es für uns umso mehr, zu prüfen, ob es in der aktuellen Novelle noch den einen oder anderen Hebel gibt, um Zusatzkosten für unseren Mittelstand und Doppelmeldungen zu verhindern. Deshalb führt der Vorschlag des Bundesrates, länderspezifische Vollerhebungen nur für gewisse Bereiche durchzuführen, an dieser Stelle in die Irre. Die Länder verursachen damit einseitig mehr Bürokratie, Kosten und Aufwand für die Wirtschaft und die Landesstatistikämter. Hier stehen Kosten und Nutzen im Bezug der Datenerhebung grundlegend im Widerspruch. Mit der Novelle des Energiestatistikgesetzes schaffen wir die Voraussetzung, um eine effiziente, stabile und sichere Energieerzeugung sowie -verteilung sicherzustellen. Unstrittig ist dabei, dass diese Aufgabe langfristig nur mithilfe valider und korrekter Daten gelöst werden kann; denn in der Summe erhöhen sich die Anforderungen an die Mess- und Kommunikationstechnologie sowie das Datenverarbeitungssystem. Mithilfe der Daten soll eine Überwachung und Optimierung der miteinander verbundenen Komponenten der Energiesysteme ermöglicht werden. Für den Industriestandort Deutschland ist die hohe Stromversorgungsqualität ein entscheidender Standortvorteil. Da schließe ich im Übrigen ganz bewusst auch unsere kleinen und mittelständischen Betriebe mit ein. Ein Blackout würde nicht nur unmittelbar Kosten im mehrstelligen Milliardenbereich auslösen, sondern auch die Attraktivität des Wettbewerbsstandorts gefährden. Dies gilt es zu vermeiden. Das hat für die CDU/CSU-Fraktion oberste Priorität und kann nur verhindert werden, wenn wir wissen, was im System abläuft. Aus diesem Grund schafft der Gesetzesentwurf der Bundesregierung die Voraussetzung, die rechtliche Anordnung von Statistiken zu vereinfachen, Möglichkeiten zu einer Flexibilisierung der Erhebungsprogramme zu eröffnen sowie Berichtskreise leichter anpassen zu können. Mit der Novellierung des Energiestatistikgesetzes wird der amtlichen Energiestatistik mehr Flexibilität eingeräumt. Hindernisse, die auf langwierige Prozesse des Gesetzgebungsverfahrens, föderale Aspekte und Budgetbeschränkungen zurückzuführen sind, werden mit dem Entwurf der Bundesregierung behoben. Damit kann schneller und besser als bisher auf Veränderungen auf den Elektrizitäts-, Gas- und Wärmemärkten reagiert werden. Deshalb ist es nur konsequent, dass den zuständigen Fachressorts die Möglichkeit eingeräumt wird, für das Monitoring „Energie der Zukunft“ und aufgrund von inter- bzw. supranationalen Pflichten zum Beispiel Merkmale und Berichtskreise eigenständig festzulegen. Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Wirtschaftlichkeit sind das Zieldreieck unserer Energiepolitik. Das wollen wir für unsere Bürger und Wirtschaft gewährleisten. Mit der vorliegenden Novelle leisten wir einen weiteren Beitrag dazu. Mit dem Entwurf des Energiestatistikgesetzes sind wir auf dem richtigen Weg, die Energiewende erfolgreich anzupacken und die dafür nötigen Daten zur Netzstabilität, Flexibilität sowie Steuerung im Energiesystem zu gewährleisten. Lassen Sie uns den Weg konsequent gemeinsam weitergehen und die Datengrundlage für ein leistungsfähiges Energiesystem schaffen. Florian Post (SPD): Unsere Aufgabe ist es, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine moderne Energiepolitik zu schaffen. Ein Baustein dieser Rahmenbedingungen, der dieses Vorhaben nicht mehr ausreichend unterstützt, ist das Energiestatistikgesetz, EnStatG. 2003 in Kraft getreten, bildet das Gesetz die nationale Rechtsgrundlage für die amtliche Energiestatistik, soweit sie von den jeweiligen statistischen Ämtern der Länder und des Bundes durchgeführt wird. Diese Anordnung wurde jedoch vor der Liberalisierung der Energiemärkte bestimmt, wodurch nun die enormen Veränderungen der energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mehr angemessen erfasst werden. Speziell bei der Abbildung der Entwicklungen auf den Elektrizitäts- und Gasmärkten kommt es deshalb zu Problemen. So sind hier, nach dem EnStatG, gewisse statistische Einheiten beispielsweise auskunftspflichtig, die aufgrund von energiewirtschaftlichen Veränderungen heute nicht mehr existieren oder über die Unternehmen nicht mehr verfügen. Gleichzeitig ist das gegenwärtige Energiestatistikgesetz auch im Kontext der Energiewende veränderungsbedürftig. So wurde zwar mit dem Monitoringprozess „Energie der Zukunft“ ein Werkzeug geschaffen, das sowohl den Fortschritt bei der Zielerreichung als auch bei der Umsetzung der Energiewende überprüft. Allerdings bilden die Grundlage für diesen Monitoringbericht eben die Daten der Energiebilanz für Deutschland, welche sich wiederum auf die amtlichen Energiestatistiken, zusätzlichen Verbandsstatistiken und weitere Informationen stützt. Wir sind uns, glaube ich, an diesem Punkt einig, dass eine Novellierung des EnStatG deshalb geboten ist, da es dem Datenbedarf einer zeitgemäßen Energiepolitik heute nicht mehr gerecht wird. Der Entwurf, den uns die Bundesregierung hierzu vorgelegt hat, ist darum zu begrüßen. So erfolgt jene Novellierung der gesetzlichen Grundlage sowohl durch eine Anpassung an die veränderten Marktgegebenheiten als auch anhand einer Optimierung des notwendigen Bedarfs an Daten zur Erfüllung der nationalen und internationalen Berichtspflichten. Die Vorzüge der Novellierung des EnStatG liegen vor allem im handfesten Bürokratieabbau. Zwar sind unter Beachtung der eingetretenen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen notwendige Ergänzungen vorzunehmen. Im Großen und Ganzen allerdings können einzelne Berichtspflichten und Erhebungselemente deutlich reduziert werden. Zum einen gelingt dies über die Nutzung von Verwaltungsdaten gemäß dem novellierten Bundesstatistikgesetz, zum anderen auch über die angestrebte Nutzung von bereits gewonnenen energiestatistikrelevanten Daten. Dieser deutliche Bürokratieabbau und die daraus resultierende verbesserte Energiestatistik erscheinen mir besonders deshalb so wichtig, da nicht zuletzt die Wirtschaft hiervon profitieren wird. Auf dieser Basis kann das Ziel, ein geeignetes Gleichgewicht zwischen den Belastungen der Wirtschaft und der Datenqualitätsverbesserung für Politik und Gesellschaft zu schaffen, mit dem vorliegenden Entwurf erreicht werden. Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung eine gute Grundlage für die weiteren Beratungen haben, um das EnStatG als Baustein der energiepolitischen Rahmenbedingungen in einem angebrachten Maß anzupassen. Johann Saathoff (SPD): In unserer heutigen Debatte geht es um Statistiken, genauer gesagt um den Regierungsentwurf eines Energiestatistikgesetzes. Das hört sich für die meisten von uns vielleicht zunächst eher trocken an, aber bei genauerer Betrachtung sind wir uns sicher alle schnell einig, welch große Bedeutung Statistiken zuteilwird, insbesondere auch im politischen Entscheidungsprozess. Das bisherige Energiestatistikgesetz ist 2003 in Kraft getreten. Es regelt, welche Daten auf den nationalen und internationalen Energiemärkten erhoben werden. Damit ist das Energiestatistikgesetz die Rechtsgrundlage für die Arbeit des Statistischen Bundesamtes und der korrespondierenden Landesämter. Bei mir in Ostfriesland würde man sagen „All wat gaud woord fangt lütschet an“. Ganz grundsätzlich geht es bei Statistiken immer darum, eine systematische Verbindung zwischen Erfahrungen und der Theorie herzustellen. Um diese Verbindung herstellen und vor allem auch die richtigen Schlüsse aus ihr ziehen zu können, müssen allerdings Datengrundlage und Theorie auch zusammenpassen. Beim Energiestatistikgesetz ist dieser Grundsatz nun jedoch nicht mehr erfüllt. Das bisherige Gesetz wird dem aktuellen Datenbedarf schlicht nicht mehr gerecht und wird deshalb nun auch folgerichtig novelliert. Im Jahr 2003 befand sich die Energiewende noch in ihren Kinderschuhen. Seitdem hat sich so einiges getan. Dazu kommen noch weitere energiepolitische Grundsatzentscheidungen. Allein in dieser Legislaturperiode hat es zwei Novellen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes gegeben. Dazu haben wir weiter Grundsatzentscheidungen auf den Weg gebracht, wie das Strommarktgesetz und das Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende, die wir verabschiedet haben. Es herrschen damit heute deutlich veränderte Rahmenbedingungen auf den Energiemärkten. Insbesondere auf den Elektrizitäts- und Gasmärkten können die aktuellen Entwicklungen anhand der alten Datengrundlage nicht abgebildet werden. Den beschriebenen Veränderungen wird nun im Gesetzentwurf auf unterschiedliche Weisen begegnet, unter anderem durch die Ausdehnung bestimmter Erhebungspflichten oder die Erhöhung von Datenerhebungsintervallen. Die zusätzlich erhobenen Daten werden dann beispielsweise für den Monitoringbericht nach § 98 EEG verwendet. In diesem Bericht übermittelt die Bundesregierung dem Bundestag jährlich Informationen über das Voranschreiten der Energiewende, unter anderem über den Stand des Ausbaus der erneuerbaren Energien und den Stand der Direktvermarktung von Strom aus erneuerbaren Energien. Es geht also um die Erhebung von Daten, anhand derer überprüft werden kann, inwieweit die Ziele der Energiewende erreicht werden. Damit dienen die Daten gleichzeitig und unmittelbar auch als Grundlage für die zukünftigen gesetzgeberischen Entscheidungen. Es ist heute schon klar, dass in den nächsten Jahren weitere grundlegende Neuerungen und Entwicklungen im Energiesektor erfolgen werden. Eines der größten Projekte ist dabei sicherlich die Sektorkopplung. Wichtig für die Novellierung des Energiestatistikgesetzes ist daher auch, dass wir die notwendige Datengrundlage für ein aussagekräftiges Monitoring in den Teilbereichen der Wärme- und Verkehrsstatistik ermöglichen. Dafür wollen wir uns im weiteren Verfahren einsetzen. Damit hilft das Energiestatistikgesetz mit der notwendigen Datenerhebung, den Weg der Energiewende so gut wie möglich zu gestalten. Ich freue mich auf eine konstruktive Beratung im Ausschuss. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Mit Zahlen wird Politik gemacht, auf ihrer Basis werden Entscheidungen getroffen. Umso wichtiger ist, dass wir verlässliche Zahlen haben, um die große Transformation im Energiebereich objektiv betrachten und schließlich auch bewerten zu können. Der Monitoring-Prozess „Energie der Zukunft“ besteht aus den jährlich erscheinenden Monitoring-Berichten, alle drei Jahre erscheinenden Fortschrittsberichten zur Energiewende und aus jeweils hierzu veröffentlichten Stellungnahmen einer Expertenkommission, die die Berichte bewertet. Die nationale Energiestatistik bildet für dieses Monitoring die Datengrundlage. Die heutige Novelle des Energiestatistikgesetzes ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, weil Energiedaten als Grundlage für die Beurteilung der Transformation des Energiemarktes von Bedeutung sind und die Erhebung der aktuellen Entwicklung angepasst wird. Energiedaten sollten verlässlich und aktuell erhoben und veröffentlicht werden. Der Bundesrat hat gefordert, die Erhebung mit Daten der Mineralölwirtschaft zu ergänzen, was wir unterstützen. Zudem schließen wir uns der Forderung aus der Länderkammer an, die Erhebung von Energiedaten auf die Bereiche Wärme und Verkehr auszudehnen. Hier müsste zunächst geprüft werden, welche Daten genau von Belang sind. Die Anforderungen an eine Energiewirtschaft der Zukunft, im Zuge der Sektorkopplung Stromflüsse auch im Wärme- und im Verkehrssektor zu erfassen, ist einleuchtend und geboten, damit eine bessere Planung und Prognose in diesen übergreifenden Bereichen der Energiewende möglich ist. Die von der Bundesregierung bevorzugten Schätzmodelle sind kein adäquater Ersatz. In die Energiestatistik sollten im Übrigen auch Erhebungen einfließen, die Grundlage für den Netzausbau sind. Die Linke fordert seit Jahren die Netzbetreiber auf, die Parameter für ihre Berechnungsmodelle der Bundesnetzagentur und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, damit die Grundlagen der Netzentwicklungspläne transparent gemacht und überprüfbar werden. Dies ist eine Blackbox, denn die Übertragungsnetzbetreiber führen an, dies seien Daten, die dem Betriebsgeheimnis unterliegen. Damit sind aber die Berechnungen für den angeblich erforderlichen Netzausbau nicht nachvollziehbar oder plausibel. Diese Datengrundlagen sind aber wichtig, um Einsparpotenziale beim Netzausbau zu ermitteln. Es handelt sich hier nicht um Daten, die von privater Seite zurückgehalten werden dürfen, denn das dürfen die Daten bei der Energieerzeugung schließlich auch nicht. Hier kann man sich auch nicht auf ein Betriebsgeheimnis berufen. Es wäre an der Zeit, dass bei einer Novelle des Energiestatistikgesetzes auch diese Daten für den Netzausbau Berücksichtigung finden. Denn aufgrund fehlender Transparenz im Bereich Netzausbau unterliegen die Übertragungsnetzbetreiber dem Verdacht, das Minimierungsgebot bei der Berechnung der Szenarien nicht ausreichend einzuhalten. Der Gesetzgeber sollte hier endlich für die erforderliche Transparenz sorgen. Des Weiteren braucht es verlässliche Daten zu den tatsächlichen Kosten der Netzinfrastruktur. Immerhin handelt es sich bei den Netzentgelten um einen größeren Posten für die Stromkosten der Verbraucherinnen und Verbraucher als die immer wieder diskutierte EEG-Umlage. Für die Entscheidungen im Politikbetrieb sowie für die Wahrung der Verbraucherrechte braucht es hier endlich Datentransparenz. Zwar sind bestimmte Daten der knapp 900 Netzbetreiber bereits veröffentlichungspflichtig, doch sollten diese auch an zentraler Stelle gesammelt und aufbereitet werden. Die Kosten der Verteilernetze und die Entwicklung der Kosten in den vergangenen Jahren sind nicht wirklich bekannt, obwohl es sich hier eigentlich um einen regulierten Bereich handelt. Bei der Transparenz der Netzdaten bzw., welche regulierungsbezogenen Daten durch die Netzbetreiber und die Regulierungsbehörde zu veröffentlichen sind, könnten wir uns ein Beispiel an den Niederlanden oder Norwegen nehmen. Im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher sollte auch hierzulande endlich Transparenz hergestellt werden. Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Novellierung des Energiestatistikgesetzes von 2003 ist richtig. In den letzten 13 Jahren ist energiepolitisch viel passiert. Höchste Zeit also, die Datengrundlagen zu erneuern. Wir brauchen aussagekräftige Statistiken, um zu bewerten, ob energiepolitische Maßnahmen wirken oder nicht. Wir müssen messen, ob wir Energie tatsächlich effizienter produzieren und nutzen sowie ob wir weniger Treibhausgase verursachen. Nur, wenn wir darüber im Bilde sind, können wir verlässlich sagen, ob wir auf dem richtigen Weg sind, um die Klimaziele und die weiteren Ziele der Energiewende einzuhalten. Ende des Jahres steht ja auch immer der Monitoringbericht der Bundesregierung zur Energiewende an – und die Evaluation der von ihr beauftragten Expertenkommission. Es ist richtig, dass wir uns in den letzten beiden Jahren jeweils Zeit im Ausschuss genommen haben, darüber zu beraten. Denn die Ergebnisse solch eines Monitorings müssen unser Maßstab sein, um zu entscheiden, ob wir die richtigen politischen Instrumente in der Energie- und Klimapolitik einsetzen. Diese Woche erst hat der World Energy Outlook der Internationalen Energieagentur wieder gezeigt: Der Weg hin zu einer Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad erfordert eine ambitioniertere Politik. Wir werden unsere Anstrengungen weltweit erheblich verstärken müssen, um die Paris-Ziele einzuhalten. Bis allerspätestens 2040 müssen wir weltweit weitgehend auf Kohle verzichten; da ist es klug, wenn wir in Deutschland vorangehen. Die Internationale Energieagentur hält außerdem eine vollständige Elektrifizierung des Pkw- und leichten Güterverkehrs sowie eine vollständige Umstellung des Gebäudebestandes auf Nullemissionshäuser für erforderlich. Um möglichst schnell bei der Treibhausgasreduktion voranzukommen, müssen wir wissen, wo wir ansetzen sollten. Leider ist das oft nicht so klar. Besonders im Gebäudebereich fehlen uns gut aufbereitete Daten. Man könnte viel besser planen, wenn man ausreichend Statistiken zum Sanierungstand der Gebäude hätte, wenn man besser Bescheid wüsste, wie es um Heizanlagen bestellt ist und welche Anschlussmöglichkeiten es wo für erneuerbar betriebene Nahwärmenetze gibt. Mit Ihrem Gesetzentwurf weiten Sie von der Bundesregierung zwar die Statistiken über den Wärmemarkt ein Stück aus. Aber Sie könnten im Wärme- und Verkehrsbereich durchaus noch mehr tun. Das hat auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme angemerkt. Ich finde, wir sollten uns hier im Bundestag noch einmal genau anschauen, ob uns die Vorschläge der Länder beim Klimaschutz weiterbringen können. Das gilt auch für die Vorschläge zu den Mineralöldaten. Denn das ist immer noch der wichtigste Primärenergieträger in Deutschland. Wenn wir die Dekarbonisierung ernsthaft angehen wollen, muss der Mineralölverbrauch drastisch sinken. Dafür müssen wir übrigens auch endlich aufhören, den Einbau von Ölheizungen durch Steuermittel zu fördern. Vor allem aber brauchen wir endlich auch eine Wende im Verkehrssektor. Wenn die Vorschläge der Länder dazu beitragen können, energiepolitische Maßnahmen wirkungsvoller zu evaluieren und dann besser gestalten zu können, sollten wir uns dem nicht verschließen. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbereitung eines registergestützten Zensus einschließlich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2021 (Zensusvorbereitungsgesetz 2021 – ZensVorbG 2021) (Tagesordnungspunkt 28) Michael Frieser (CDU/CSU): In der vorweihnachtlichen Zeit möchte ich zunächst daran erinnern, dass die frohe Botschaft damit begann, dass es sich aber zu der Zeit begab, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Die letzte Zählung, nicht der Welt, aber unseres Landes, fand in Form eines registergestützten Modells im Jahr 2011 statt. Nicht auf Geheiß des Kaisers, sondern nach EU-Vorgaben ist die Durchführung von Volks-, Gebäude- und Wohnungszählungen alle zehn Jahre vorgesehen. Denn unsere Demokratie ist auf korrekte Daten angewiesen, damit wir die richtigen Entscheidungen treffen können. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheidungen, Planungen und Investitionen sind ohne verlässliche Daten zur Bevölkerung, zur Erwerbstätigkeit und zur Wohnsituation nicht möglich. Als Demografiebeauftragter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion interessieren mich besonders die Auswirkungen des demografischen Wandels auf unsere Bevölkerungsstruktur. Aus den Daten ergeben sich Antworten auf Fragen wie: „Wie viele Altersheime und Kindergärten brauchen wir?“, „Wo besteht Wohnungsmangel?“ oder „Wo müssen wir die Infrastruktur anpassen?“. Im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen ist es wichtig, regelmäßig zu prüfen, ob die Bundestagswahlkreise noch die vorgeschriebene Größe haben. Die Datenerhebung soll wie bereits beim Zensus 2011 durch ein registergestütztes Verfahren erfolgen. Wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert, ist diese Methode im Vergleich zur traditionellen Vollerhebung kostengünstiger und für die Bevölkerung belastungsärmer. Das Verfahren für 2021 konnte durch die Ergebnisse von intensiven Evaluierungen des letzten Zensus optimiert werden. Es zeigte sich, dass Verwaltungsregister eine geeignete Grundlage für die Durchführung eines Zensus darstellen, jedoch einer gezielten Bereinigung und einer Ergänzung um nicht vorhandene Angaben bedürfen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die rechtlichen Voraussetzungen für die notwendigen und umfangreichen Zensusvorbereitungen geschaffen. Eine vollständige Erfassung der Bevölkerung setzt die Ermittlung aller existierenden Gebäude mit Wohnraum einschließlich aller bewohnten Unterkünfte voraus. Da für die Gebäude- und Wohnungszählung keine geeigneten Verwaltungsdaten zur Verfügung stehen, ist die Durchführung einer direkten Befragung der Auskunftspflichtigen notwendig. Um eine gute Qualität der Daten zu gewährleisten, ist zum Beispiel der frühzeitige Aufbau eines anschriftenbezogenen Registers notwendig, das die verschiedenen Teile der Erhebung steuert. Der Gesetzentwurf legt auch die im Register zu speichernden Inhalte fest und regelt die erforderlichen Datenübermittlungen durch die relevanten Verwaltungsstellen. Des Weiteren regelt das Gesetz die Verantwortlichkeit des Statistischen Bundesamtes für die IT-Entwicklung und die IT-Infrastruktur in Zusammenarbeit mit dem Informationstechnikzentrum Bund. Auch wenn der Bundesrat sich für eine dezentrale IT-Aufgabenwahrnehmung eingesetzt hat, ist die Beibehaltung einer zentralen IT-Struktur aus Datenschutz-, Effizienz- und Kostengründen vorzuziehen. Weitere Vorschläge des Bundesrates zur Vereinfachung des Verfahrens wurden aufgegriffen. Der Bundesrat unterstützt grundsätzlich das Ziel des Gesetzentwurfes, die Grundlagen der Volkszählung 2021 als gemeinsames Bund-Länder-Großprojekt zu schaffen. Damit die umfangreichen organisatorischen und technischen Vorbereitungen des Zensus 2021 rechtzeitig beginnen können, ist der vorliegenden Gesetzentwurf unerlässlich. Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Heute beschäftigen wir uns in erster Lesung mit dem Gesetz zur Vorbereitung des nächsten Zensus in 2021. Auch für dieses Gesetz gilt, was ich in zurückliegenden Plenardebatten bereits mehrfach ausgeführt habe: Die Vorhaltung von Statistiken ist für einen modernen Staat unverzichtbar. Nur auf der Grundlage von guten Statistiken lässt sich gute Politik machen, die sowohl die gesellschaftlichen Entwicklungen als auch die Lebensumstände der Menschen adäquat berücksichtigt. Für den Zensus kommt noch eine finanzielle Dimension hinzu, denn dieser überprüft die tatsächliche Anzahl an Bürgern in den Kommunen zu einem bestimmten Stichtag. Hier geht es nämlich nicht nur um die Frage, wie sich die Mobilität der Bürger auf die Struktur unseres Staates auswirkt. Für die Kommunen entscheidet die Zahl der dort lebenden Bürger über die Höhe der Finanzzuweisungen, die sie etwa von den Ländern erhalten. Man sieht: Beim Zensus geht es auch ums Geld. Die Bundesregierung will nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Durchführung des nächsten Zensus in 2021 vorbereiten. Aus meiner Sicht finden sich in dem Entwurf eine Reihe von vernünftigen Ansätzen, um die Durchführung effizienter und effektiver zu gestalten. So soll bei diesem Zensus der Betrieb der IT beim Statistischen Bundesamt gebündelt werden, um aufgetretenen Synergieverlusten bei der vormals erforderlichen Koordinierung zwischen mehreren Rechenzentren entgegenzutreten. Weiterhin soll auf die Abfrage von Daten der Bundesagentur für Arbeit verzichtet werden, denn hier hat der Nutzen die entstandenen Kosten nicht rechtfertigen können. Daneben finden sich noch weitere Änderungen und Vorbereitungen technischer Art, die ich an dieser Stelle nicht im Detail wiedergeben möchte. Gegebenenfalls werden wir uns nun im weiteren Gesetzgebungsverfahren und in der Beratung im Ausschuss mit weiteren Einzelheiten beschäftigen. Insgesamt meine ich jedoch, dass die Bundesregierung hier einen ordentlichen Gesetzentwurf zur Vorbereitung des nächsten Zensus vorgelegt hat. Trotzdem möchte ich mir an dieser Stelle den Hinweis erlauben, dass man aus meiner Sicht einmal grundsätzlich über die Konzeption des Zensus nachdenken sollte. Damit möchte ich auch einen Vorschlag des Normenkontrollrates aufgreifen, der sich in der Stellungnahme zum Gesetzentwurf findet. Wir müssen unbedingt über die Einrichtung eines bundesweiten Zentralregisters nachdenken. Es kann nicht der Anspruch einer modernen und auf digitale Weiterentwicklung bedachten Verwaltung sein, die Melderegister der einzelnen Kommunen zusammenzuziehen und anschließend mit Stichproben und statistischen Anpassungen zu bereinigen. Angesichts der technischen Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen, steht der dabei zu betreibende Aufwand außer Verhältnis. Wenn man dies darüber hinaus mit einer entsprechenden Erfassung von Wohnungs- und Gebäudeinformationen kombiniert, dann würden wir nicht nur ein sehr aktuelles und ständig bereinigtes Register der Bürger in Deutschland erhalten. Ich bin mir sicher: Die Nutzungsmöglichkeiten von solchen statistischen Daten würden sehr schnell die Kosten einer Umstellung wettmachen. Dass dies funktionieren kann, haben uns wieder einmal Österreich und die Schweiz vorgemacht. Dort wurden solche Nationalregister mit relativ wenig Aufwand und mit hohen Datenschutzstandards versehen umgesetzt. Ich meine, dass auch wir uns in Deutschland einen solchen Schritt überlegen sollten. Ansonsten werden wir auch 2021 einen Zensus erleben, bei dem eine Vielzahl an einzelnen Datensätzen aus allen Kommunen Deutschlands mit aufwendigen Überprüfungen und Stichproben für die Statistik nutzbar gemacht werden müssen. Nun wünsche ich uns jedoch erst einmal eine konstruktive Befassung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Fragt man heute junge Leute, ob sie schon mal etwas von einem „Zensus“ gehört haben, erntet man mitunter fragende Blicke. Im Zeitalter der Digitalisierung erscheint der Begriff eines „registergestützten Zensus“ unmodern und staubig. Doch dieser Eindruck ist nicht richtig. Das Statistische Bundesamt bedient sich lange erprobter und weiterentwickelter moderner Verfahren, und das möchte ich heute darstellen. Worüber sprechen wir heute? Wir sprechen über eine Erhebung, die in Deutschland gemeinhin unter dem Begriff der „Volkszählung“ bekannt ist. 2011 fand diese Volkszählung unter dem Namen „Zensus 2011“ erstmals gemeinsam in allen EU-Mitgliedstaaten statt. Stichtag war der Europatag am 9. Mai 2011. Deutschland war hierzu europarechtlich verpflichtet. Vorausgegangen war diesem „Zensus 2011“ ein Vorbereitungsgesetz, ähnlich, wie es uns heute vorliegt. Was hier geregelt wird, betrifft vor allen Dingen das methodische und zeitliche Verfahren. Wichtig ist, dass das Verfahren, anders als die ganz frühen Volkszählungen „registergestützt“ stattfindet. Das heißt, die Menschen werden nicht mehr nur an der Haustür befragt, sondern es wird auf bereits vorhandene Daten zurückgegriffen. Die befinden sich in Registern verschiedener Behörden, so zum Beispiel der Meldeämter. Das belastet die Bürgerinnen und Bürger in einem weitaus geringeren Umfang. Direkte Haushaltsbefragungen werden nur noch stichprobenartig und ergänzend vorgenommen. So war es 2011, und so soll auch 2021 verfahren werden. Der Zensus gliedert sich grob gesprochen in eine Volks-, Gebäude- und Wohnungszählung. Bei der Gebäude- und Wohnungszählung kann dabei jedoch nicht auf Verwaltungsdaten zurückgegriffen werden, womit hier direkte Befragungen wie auch 2011 notwendig sein werden. Gegenüber 2011 soll es 2021 jedoch einige Verfahrensverbesserungen geben, die wir heute in erster Lesung mit dem vorliegenden Vorbereitungsgesetz anberaten. „So früh?“, mag man sich da fragen. Doch dafür gibt es gewichtige Gründe: Einen Zensus vorzubereiten, nimmt viel Zeit in Anspruch. Es müssen die technischen und organisatorischen Vorbereitungen getroffen werden, um einen reibungslosen Ablauf zu sichern. Die methodische Vorbereitung und die Koordination liegen dabei nun in den Händen des Statistischen Bundesamtes, wo bereits jetzt die Vorbereitungen für den Zensus 2021 laufen. Insbesondere der IT-Betrieb und die IT-Entwicklung liegen im Verantwortungsbereich der dort vorhandenen Experten. Um ein gutes Ergebnis beim Zensus zu erreichen, muss die gesamte Bevölkerung erfasst sein. Ein flächendeckendes Verzeichnis von Wohnräumen ist jedoch bislang nicht vorhanden. Das Anschriftenregister nach dem Bundesstatistikgesetz kann eine Datengrundlage für die Vorbereitung und Durchführung des Zensus 2021 bilden. Doch das reicht nicht. Die hier vorhandenen Angaben sind weder aktuell noch vollzählig. Daher muss zur Vorbereitung des Zensus ein neuer, aktueller und vollständiger Anschriftenbestand aus weiteren Quellen zusammengetragen und aufgebaut werden. Hier soll ein Steuerungsregister ins Leben gerufen werden, das vom Statistischen Bundesamt erstellt und geführt wird. Die Länder werden bei dem Aufbau und der Pflege des Registers beteiligt. So müssen die Meldebehörden der Länder unter anderem die Daten des Melderegisters an das Hauptregister beim Statistischen Bundesamt liefern. Dieses Steuerungsregister besteht aus mehreren Teilen. Zum einen aus den Anschriften aller einzubeziehender Gebäude mit Wohnraum und aller bewohnten Unterkünfte. Hierzu gehören auch geografische Koordinaten und sogenannte „georeferenzierte Adressdaten“, die eine kleinräumige Auswertung der Daten möglich machen. Die Daten hierfür liefern Vermessungsbehörden, wie das Bundesamt für Kartografie und Geodäsie. Hinzu kommen Steuerungs- und Klassifizierungsmerkmale, worunter unter anderem Stichprobenkennzeichen, gebäude- und wohnungsbezogen Angaben sowie Sonderbereichskennzeichen zählen. Zu den Sonderbereichen gehören zum Beispiel Justizvollzugsanstalten. Hier kommen besondere Verfahren zum Zuge, da sie sich von „normalen“ Wohngebäuden unterscheiden. So kann nachvollzogen werden, dass in Justizvollzugsanstalten die Fluktuation der Menschen, die hier vorübergehend wohnen, hoch ist. Daher werden die Erhebungen hier über die Einrichtungsleitungen vollzogen. Die statistischen Landesämter und das Statistische Bundesamt arbeiten bei der Erstellung des Zentralregisters somit eng zusammen, wobei die Hoheit des Verfahrens beim Statistischen Bundesamt konzentriert ist. Das betrifft den IT-Betrieb und IT-Entwicklung und auch die Datenverwaltung für das Steuerungsregister. Damit verbunden ist Konfliktstoff, zu dem sich die Länder und der Normenkontrollrat auch bereits geäußert haben. Es herrscht zu dem heute vorliegenden Gesetzesvorhaben somit noch Bedarf zu eingehender Beratung. Diese Zeit wollen wir uns nehmen und werden den Gesetzentwurf, wie es üblich ist, in verschiedene Ausschüsse überweisen. Hier werden wir uns mit der Kritik der Länder und den Anregungen des Normenkontrollrats auseinandersetzen. Ich freue mich auf die Beratung mit Ihnen zu diesem wichtigen Thema. Jan Korte (DIE LINKE): Heute behandeln wir mit dem Zensusvorbereitungsgesetz 2021 ein Gesetzesvorhaben der Bundesregierung von einiger Tragweite. Denn etwa 10 Prozent aller in Deutschland ansässigen Personen sollen im Rahmen des Zensus 2021 zur Beantwortung umfangreicher Fragebögen gezwungen werden. Bei Nichtbefolgung werden die Behörden, wie beim letzten Zensus 2011, mit Buß- und Zwangsgeldern von 300 bis zu 5000 Euro drohen. Darüber hinaus werden zahlreiche sensible persönliche Daten aus diversen anderen Datensammlungen ohne die Einwilligung oder Benachrichtigung der Betroffenen zusammengeführt. Auch für 2021 – und dann alle zehn Jahre erneut – schreibt die EU-Richtlinie 763/2008 vor, umfassende Daten über die Bevölkerung und Wohnsituation vorzulegen. Es war noch die vorangegangene Große Koalition, die mit ihrem Zensusgesetz 2009 allerdings weit über diese europäische Vorgabe hinausging und ähnlich wie beim Vorratsdatenspeicherungsgesetz die Gelegenheit nutzte, um möglichst viele Daten der Bürgerinnen und Bürger zu sammeln und zu speichern. Die beiden Säulen des Zensus – Registerzusammenführung und „Stichproben“-Erhebung von immerhin 10 Prozent der Bevölkerung – bilden mit den Daten der 18 Millionen Wohnungs- und Hauseigentümer und der Erfassung der Bewohner sensibler Sonderbereiche (Justizvollzugsanstalten, psychiatrische Einrichtungen, Krankenhäuser, Behindertenwohnheime und Notunterkünfte für Wohnungslose, aber auch Kasernen und Studentenwohnheime) die Informations- oder Datenbasis des Projekts, die zentral gespeichert wird. Schon beim letzten Zensus vor fünf Jahren kritisierte meine Fraktion eine derart teure und aufwendige Volkszählung, die angesichts ausreichender Daten bei den Meldeämtern heutzutage nicht nötig ist. Immerhin kalkulieren Sie diesmal bereits zu Beginn mit circa 331,7 Millionen Euro. Beim letzten Mal gingen Sie im Gesetzentwurf zum ZensVorbG 2011 vom 30. Mai 2007 mit 176 Millionen Euro nur von knapp der Hälfte aus. Am Ende kostete der Zensus 2011 nach Ihren Angaben dann allerdings insgesamt 667,4 Millionen Euro. Entweder sind Sie jetzt ein wenig vorsichtiger mit Ihren Prognosen geworden, oder wir müssen, wenn man den „normalen“ Fehlerquotienten Ihrer Berechnungen zugrunde legt, mit Gesamtkosten von 1,26 Milliarden Euro rechnen. Das erscheint mir dann doch selbst für Ihre Verhältnisse und angesichts der Einsparungen in vielen wichtigen Bereichen sowie des völlig zweifelhaften Nutzens der Volkszählung reichlich übertrieben und verantwortungslos zu sein. Denn dass die Planungssicherheit, mit der Sie ja argumentieren, nach dem Zensus mitnichten so gut sein wird wie angenommen, zeigen doch in aller Deutlichkeit die zahlreichen anhängigen Verfassungsklagen von rund 350 Kommunen sowie den Ländern Berlin und Hamburg aufgrund gravierender Mängel beim damals zugrundeliegenden Anschriftenregister und der verwendeten Software. Die noch immer vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Klagen sind übrigens „schuld“ daran, dass die Löschung fast aller, hochsensibler und personenbezogener Datensätze aus dem Zensus 2011 noch immer nicht erfolgt ist, obwohl sie laut ZensG 2011 eigentlich schon vor Jahren hätte erfolgen müssen. Vielleicht haben Sie ja wie ich den sehr aufschlussreichen Artikel „Wo die Karteileichen wohnen” auf Spiegel Online vom 11. Oktober 2016 lesen können. Wenn nicht, empfehle ich Ihnen das ganz dringend. Denn die Recherchen der Journalisten ergeben nicht nur ein ziemlich gutes Bild von etlichen der Probleme und Mängel des letzten Zensus; sie zeigen auch, dass die aufgetretenen Verzerrungen kein Einzelfall waren, sondern quer durch die Republik auftraten und so stark waren, dass die Zensusergebnisse nicht taugten, um auf ihrer Basis bis zum nächsten Zensus 2021 jährlich die Bevölkerungszahlen fortzuschreiben. Inzwischen habe deshalb das Statistische Bundesamt unter anderem die Altersverteilung des Zensus komplett neuberechnet. Um ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis hinzubekommen, benutzte es dazu die Zahlen aus den kommunalen Melderegistern. Es korrigierte den Zensus also mit genau den Daten, die angeblich so schlecht sind, dass sie eigentlich durch den Zensus korrigiert werden mussten. Das versteht doch kein Mensch. Ich finde es jedenfalls schon ziemlich erstaunlich, dass Sie nun meinen, ein tragfähiges und sicheres Konzept für den Zensus 2021 zu haben, obwohl es bis heute keine Evaluation des Zensus 2011 gegeben hat. Leider beschleicht mich der Verdacht, dass hier wieder einmal etwas eiligst durchgezogen werden soll, ohne ausreichend durchdacht worden zu sein. Diese und etliche andere der genannten Fragen wollen wir im nun folgenden Gesetzgebungsverfahren geklärt wissen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Wissen darüber, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt, auf solide empirische Daten zu stützen, ist ein Grundpfeiler eines rational agierenden demokratischen Staatswesens. Wir haben es nun alle drei Monate, zuletzt im Verfahren um den Mikrozensus, vorgetragen: Gegen die Arbeit der Statistikbehörden ist im Ansatz nichts einzuwenden. Ihre Arbeit ist vielmehr bedeutsam, grundlegend und verdienstvoll für die Unterstützung aller an Entscheidungsprozessen beteiligten öffentlichen Stellen. Auch der Bundestag verlässt sich auf dieses Wissen, um rationale gesetzgeberische Entscheidungen zu treffen. Worüber wir aber in einer konstruktiven Auseinandersetzung bleiben sollten, dazu halten uns das Grundgesetz und seine umfänglichen Vorgaben zum Schutz der Privatheit der Bürgerinnen und Bürger an, das sind die Mittel und Wege, mit denen wir an die Informationen und Daten herankommen. Unsere Bedenken wegen des Kontextes der ständigen Ausweitung des Mikrozensus hatten wir bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht. Dieser wurde allerdings stets auch damit legitimiert, dass er die häufige Wiederkehr großer Volkszählungen womöglich ersparen könne. Das ist ersichtlich nicht mehr der Fall. Nach dem Zensus 2011 arbeiten wir nun bereits am Zensus 2021, ein Rhythmus von zehn Jahren scheint Usus zu werden. Gerade die Debatte um den Zensus 2011 hat gezeigt: Nicht mehr das Ob-überhaupt, wie zu Zeiten der Volkszählung, sondern Umfang und Details der Ausführung führen zu Kontroversen. Das ist weiterhin alles andere als selbstverständlich, wenn die gesamte Bevölkerung durch staatliche Stellen flächendeckend erfasst und katalogisiert wird. Es kann auch in Zukunft nur funktionieren, wenn das amtliche Statistikwesen weiterhin ein so hohes Vertrauen in der Bevölkerung genießt wie das unsrige. Interessanterweise waren es dann letztlich nicht Datenschutzfragen, sondern die politische Auseinandersetzung über die Auszählungsergebnisse kommunaler Einwohnerzahlen, die zum großen Streit führte. Angelastet wird dieser damalige, freilich auch fiskalischen Interessen geschuldete Konflikt der komplexen Zusammenarbeit zwischen Landesstatistikbehörden und Bund. Die Bundesregierung reagiert nun mit einer wesentlichen Zentralisierung der IT-Verfahren beim Bund. Zentrale Datenhaltungen sollen die bisherigen Koordinierungsprobleme von vornherein ausschließen. Dieser Schritt scheint die neue Linie der Bundesregierung zu sein, die sich auch in der geplanten Grundgesetzänderung zur Absicherung eines Datenportals des Bundes und der Länder abzeichnet. Ob es sich hier um einen sachgerechten Schritt in der Weiterentwicklung des E-Government handelt, können wir hier nur andiskutieren. Um es gleich vorneweg zu sagen: Es lassen sich gute Argumente sowohl für die eine als auch die andere Seite finden. Uns ist es wichtig, zu betonen, dass über die Fragen der verfassungsmäßigen Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern hinaus auch in der Verfassungsrechtsprechung gewichtige Gründe gegen zentralisierte Datenbestände zu finden sind, wenn diese personenbeziehbare Daten beinhalten. Dazu etwa hat das Bundesverfassungsgericht der damaligen Bundesregierung im Vorratsdatenspeicherungsurteil ins Stammbuch geschrieben, dass lediglich die dezentrale Vorhaltung der gehorteten Vorratsdaten bei den privaten Betreibern verhindere, dass das zugrunde liegende Gesetz bereits an mangelnder Datensicherheit scheitere. Zu groß sind die Risiken des Gehacktwerdens im Zeitalter des ständigen, online längst tobenden digitalen Krieges, welches wir wohl bereits betreten haben. Aus den Anfängen der Datenschutzbewegung kennen wir den von Professor Simitis geprägten Begriff der informationellen Gewaltenteilung, der auch aus grundlegenden überindividuellen Risikoerwägungen unter anderem demokratiepolitischer Art von zentralen Datenbeständen abgeraten hat. Andererseits kennen wir die Argumente der Befürworter zentraler Datenhaltungen, wonach die Sicherung hoher Datensicherheitsstandards oftmals in zentralisierten Umfeldern besser, weil einheitlicher und effizienter gewährleistet werden kann. Zudem drohten im Kontext von Projekten, bei denen es gerade auf die ständige Übermittlung großer Datenmengen ankommt, Risiken des Missbrauchs auf der Strecke, also bei der Übermittlung. Der Deutsche Bundestag muss zu all diesen Fragen noch zwingend ein angemessenes geeignetes Verfahren der sachverständigen Befassung finden. Wir begrüßen, dass einige der von den Ländern mit Blick auf die Datenqualität angeregten Erweiterungen der Datenerhebungen, insbesondere beim Merkmalsumfang auf Klarnamen und deren Speicherung für mehrere Jahre, als auch die Anregungen zum Verstoß gegen das sogenannte Rückspieleverbot, wenn auch aus teils anderen Motiven als den unsrigen, von der Bundesregierung zurückgewiesen werden. Darüber hinausgehend zweifeln wir an der Notwendigkeit der vorgesehenen Begehungen im Rahmen der Gebäuderegisterstatistik und halten diese im Übrigen für ebenso verfahrensfremd wie andere mit dieser Begründung von der Bundesregierung abgelehnte Vorschläge. Zusammenfassend mahnen wir die Große Koalition an dieser Stelle noch einmal zur zwingend gebotenen Sorgfalt. Als Parlament werden wir uns sehr eingehend mit diesem und anderen anstehenden IT-Großvorhaben beschäftigen müssen. Das regen wir hiermit noch einmal an. Die Erfahrungen bei beinahe allen IT-Vorhaben, die unter den letzten Regierungen auf die Schiene gesetzt wurden, sollten uns mahnen, diesmal mehr Sorgfalt an den Tag zu legen, damit die Verhältnismäßigkeit gewahrt, höchste Sicherheitsstandards implementiert und Vertrauen als Grundvoraussetzung entstehen kann. Das würde ich mir wünschen, und das sollte unser aller – gemeinsames – Ziel sein. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes (Tagesordnungspunkt 29) Oswin Veith (CDU/CSU): Zu dieser späten Stunde sprengen wir mal die Debatte mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des Sprengstoffgesetzes in Deutschland. Insbesondere in den Tagen um Silvester spielt das heute besprochene Gesetz in der Praxis eine große Rolle. Denn wer, wann und wo Feuerwerkskörper oder – umgangssprachlich Silvesterböller – verkaufen darf und wie diese Feuerwerkskörper beschaffen sein müssen, regeln das Sprengstoffgesetz und die dazugehörige Verordnung. Diese Regelungen sind sinnvoll und wichtig, denn sie tragen zur Sicherheit der Anwender bei. Bei Feuerwerkskörpern handelt es sich dem Gesetz nach um pyrotechnische Gegenstände und Stoffe. Dass von diesen erhebliche Gefahren ausgehen können, sehen wir jedes Jahr wieder, wenn die Notaufnahmen zahlreiche Verletzungen aufgrund unsachgemäßen Umgangs mit Silvesterböllern zu verzeichnen haben. Als langjähriger Krankenhausdezernent meines Wahlkreises kenne ich die vollen Notaufnahmen aus unseren fünf Kliniken von meinen jährlichen Neujahrsbesuchen nur zu gut. Bundesweite Statistiken über Böllerverletzungen an Silvester gibt es leider nicht. Aber eine durchschnittliche Silvesternacht in einem Großstadt-Krankenhaus kann man sich ungefähr so vorstellen: 60 Verletzungen, bei denen es sich um abgetrennte Finger oder Fingerglieder handelt, und fünf bis zehn schwere Verletzungen, wie zum Beispiel eine zerstörte Hand. Die Silvesternacht ist die Hochsaison für Handchirurgen. Dabei birgt nicht nur der unsachgemäße Umgang mit so genannten China-Böllern, an denen vor allem Jugendliche in der Silvesternacht ihre Freude haben, Gefahren. Regelmäßig kommt es auch zu Verbrennungen und Verletzungen, weil illegale oder selbstgebaute Silvesterböller abgebrannt werden. Bei illegalen Feuerwerkskörpern handelt es sich in der Regel um Feuerwerkskörper, die mehr Sprengstoff enthalten, als erlaubt ist oder in denen Blitzknallsprengstoff verwendet wurde, der stärker reagiert und in Deutschland verboten ist. Ein weiteres Problem ergibt sich, wenn die Zusammensetzung des Sprengstoffes nicht offiziell überprüft wurde. Automatisch denkt jeder beim Thema illegale Feuerwerkskörper an Pyrotechnik aus Osteuropa – aber auch die Feuerwerkskörper aus der Schweiz, Österreich oder Italien haben eine erhebliche Sprengwirkung und sind bei uns ohne Zertifizierung nicht genehmigt. In vielen europäischen Ländern ist die Einfuhr von illegalen Feuerwerkskörpern ein Problem. Der Schmuggel von Silvesterböllern greift jedes Jahr kurz vor dem Jahreswechsel um sich, und alle Länder sind betroffen. Um den Schutz vor illegalen Feuerwerkskörpern zu erhöhen und auch den legalen Verkauf von Feuerwerkskörpern sicherer zu gestalten, müssen wir das Sprengstoffgesetz an europarechtliche Vorgaben anpassen. Natürlich ist das Schutzniveau in Deutschland, wenn es um Explosionsstoffe und alle damit in Verbindung stehenden anderen Stoffe geht, bereits jetzt sehr hoch. Dennoch müssen wir unsere Gesetze regelmäßig anpassen, um das Schutzniveau zu halten. Kern des vorliegenden Gesetzentwurfes ist eine Neufassung des Sprengstoffrechts. Wie auch schon in den vorherigen Gesetzesänderungen passen wir unser nationales Recht an neuere europäische gesetzliche Vorgaben den EU-Richtlinien an. Nachdem die Richtlinie 2007/23/EG über das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände durch die Richtlinie 2013/29/EU zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung pyrotechnischer Gegenstände abgelöst worden ist, müssen wir nun die Bestimmungen unseres nationalen Rechts zur Konformitätsbewertung sowie zur Marktüberwachung neu fassen und konkretisieren. Zur unionsrechtlichen Harmonisierung der Bestimmungen im Bereich des Sprengstoffrechtes zählt dabei unter anderem auch die Errichtung eines Systems zur Rückverfolgbarkeit von pyrotechnischen Gegenständen. Weiterhin setzen wir die Durchführungsrichtlinie 2014/58/EU über die Errichtung eines Systems zur Rückverfolgbarkeit von pyrotechnischen Gegenständen um. Im Zuge dessen führen wir eine Registrierungsnummer für pyrotechnische Gegenstände ein. Mit der Registrierungsnummer wird sichergestellt und für jeden kenntlich gemacht, dass der pyrotechnische Gegenstand überprüft wurde. Er gilt damit und bei korrekter Anwendung als unbedenklich. Für Hersteller, deren Bevollmächtigte, Importeure und Händler, ordnen wir bislang bestehende Pflichten im Rahmen der Produktverantwortung eindeutig zu. Vorteil dieser eindeutigen Zuordnung ist ein höheres Maß an Rechtssicherheit, denn jeder Akteur kann jetzt detailliert an einer Stelle erkennen, welche Pflichten er im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Explosionsstoffen und pyrotechnischen Gegenständen am Markt hat. Diese Maßnahmen führen zu einem verbesserten Verbraucherschutz innerhalb Europas und Deutschlands. Neben den Anpassungen im Sprengstoffgesetz bereinigen wir die dazugehörige Erste Verordnung zum Sprengstoffgesetz. Über Jahrzehnte hinweg haben sich Regelungen zu Freistellungen von gesetzlichen Anforderungen oder zusätzlichen Bestimmungen zum Umgang mit explosionsgefährlichen Stoffen entwickelt und bewährt. Waren diese Regelungen bislang in der Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz geregelt, führen wir diese nun ins Sprengstoffgesetz über. Mit all diesen Neuerungen vollziehen wir einen weiteren Schritt zu einem immer stärker europarechtlich beeinflussten Sprengstoffgesetz. Da der europäischen Markt in Bezug auf Feuerwerkskörper stark verwoben ist, ist dies auch richtig und wichtig. Ich werbe daher auch wegen des zu erwartenden Sicherheitsgewinns für eine breite Zustimmung zum Gesetzentwurf. Gabriele Fograscher (SPD): Das Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe, kurz Sprengstoffgesetz, regelt den Umgang, den Verkehr und die Einfuhr von und mit explosionsgefährlichen Stoffen. Im Jahr 2009 haben wir mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Sprengstoffgesetzes umfangreiche Änderungen am Sprengstoffrecht vorgenommen. Das Gesetz diente damals dazu, die Richtlinie 2007/23/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom Mai 2007 über das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände und die Richtlinie 2008/43/EG der Kommission vom April 2008 zur Kennzeichnung und Nachverfolgung von Explosivstoffen für zivile Zwecke gemäß der Richtlinie 93/15/EWG umzusetzen. Inzwischen liegt die Richtlinie 2013/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom Juni 2013 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung pyrotechnischer Gegenstände auf dem Markt vor. Diese löst die Richtlinie von 2007 ab. Ebenso ersetzt die neue Richtlinie 2014/28/EU die Richtlinie 93/15/EWG. Diese regelt die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung auf dem Markt und Kontrolle von Explosivstoffen für zivile Zwecke neu. Die Umsetzung der beiden neuen Richtlinien vollziehen wir mit diesem Gesetz. Zusätzlich wird die Durchführungsrichtlinie 2014/58/EU vom April 2014 über die Errichtung eines Systems zur Rückverfolgbarkeit von pyrotechnischen Gegenständen in das Gesetz integriert. Mit der Durchführungsrichtlinie werden eine Registrierungsnummer für pyrotechnische Gegenstände und das Führen eines Verzeichnisses durch den Hersteller eingeführt. Damit kann künftig jeder Wirtschaftsakteur genau erkennen, welche Pflichten er bei der Bereitstellung von Explosivstoffen und pyrotechnischen Gegenständen im Binnenmarkt hat. Zusätzlich werden weitere Anpassungen vorgenommen, so zum Beispiel die Aktualisierung der Rechtsgrundlage für die Arbeit von im Rahmen der Konformitätsbewertungen tätigen benannten Stellen. Zudem werden viele Regelungen, die in der ersten Sprengstoffverordnung getroffen wurden, in das Sprengstoffgesetz überführt. Diese Maßnahmen sind zum einen zwingend umzusetzen. Hinzu kommt, dass das Sprengstoffrecht immer mehr durch europäische Regelungen beeinflusst wird und eine Neuordnung der Vorschriften sinnvoll erscheint. In der Polizeilichen Kriminalstatistik werden Straftaten gegen das Sprengstoffgesetz aufgeführt. Auch wenn die Zahl von 2014 zu 2015 leicht zurückgegangen ist, so liegt sie immer noch weit über 5 000. Leider sind darunter nicht nur Bagatelltaten. Erwähnen möchte ich hier nur die Sprengstoffanschläge in Dresden in diesem Jahr vor der Einheitsfeier und zahlreiche Sprengstoffanschläge auf Asylbewerberheime in Deutschland. Deshalb halte ich es für absolut richtig, dass es in diesem Bereich eine weitere Harmonisierung innerhalb des europäischen Binnenmarktes gibt. Besonders begrüße ich, dass mit diesem Gesetz ein System zur Rückverfolgbarkeit von pyrotechnischen Gegenständen umgesetzt werden soll, mit der eine Registrierungsnummer für pyrotechnische Gegenstände eingeführt wird. Es bleibt zu hoffen, dass es potenziellen Attentätern so erschwert wird, an explosive und pyrotechnische Gegenstände zu kommen, um erheblichen Schaden anzurichten oder Menschen zu verletzten oder gar zu töten. Martina Renner (DIE LINKE): Um auch in Sachen Pyrotechnik, Feuerwerk und Sprengstoffen den europäischen Binnenmarkt zu verwirklichen, existieren europäische Richtlinien unter anderem über den Verkauf von Pyrotechnik, über die Harmonisierung der Rechtsvorschriften zum Umgang mit Sprengstoffen oder zur Einführung einer Registrierungsnummer für Pyrotechnik. All diese Richtlinien sind schon 2014 überarbeitet worden, sodass ihre Umsetzung in nationales Recht überfällig war. Begrüßenswert ist, dass die Bundesregierung nicht nur endlich diese Harmonisierung auf den Weg bringt, sondern zugleich durch die Übernahme von Regelungen aus der bisher geltenden Sprengstoffverordnung herauslöst und in das Gesetz selbst einfließen lässt. Aus rechtspolitischer Sicht ist insbesondere die zentrale Zusammenführung aller relevanten Regelungen zu Explosivstoffen im Sprengstoffgesetz zu begrüßen. Insbesondere die Übernahmen aus der bisherigen Sprengstoffverordnung sind ein Gebot der Klarheit. Ob damit aber der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts genüge getan wird, also alle wesentlichen Regelungen gesetzgeberisch zu verfügen und nicht auf den Verordnungsweg zu delegieren, oder ob man hier über das Ziel hinausgeschossen ist, sollen die Juristen bewerten. Denn es stellt sich schon die Frage, ob es wirklich nötig ist, jedes einzelne Institut, das zum Umgang mit bestimmten Explosivstoffen befugt ist, im Gesetz zu normieren. Änderungen bei der Aufgabenzuweisung müssen so auf dem langwierigen Weg der Gesetzesänderung gelöst werden. Doch sei es drum: Solche gesetzgeberische Akribie, die ausnahmsweise einmal nicht von verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung getrieben ist, würden wir uns vom Bundesministerium des Innern öfter und nicht nur in diesem wichtigen, nur scheinbar nebensächlichen Bereich wünschen. Kritikwürdig sind aus Sicht der Fraktion Die Linke die Verschärfungen der strafrechtlichen Nebenbestimmungen. Bislang schon ist das Abbrennen von „illegalem“, also nicht zugelassenem Feuerwerk eine Straftat. Das unerlaubte Abbrennen von „legalem“ Feuerwerk galt hingegen nur als Ordnungswidrigkeit. Da nun einige Feuerwerksstoffe aus dem militärischen Bereich, die eine ähnliche Wirkung wie Sprengstoff haben, unter die legalen Explosivstoffe fallen, soll nun beides gleich als Straftat behandelt werden. Das leuchtet wegen der militärisch genutzten Pyrotechnik und den Großfeuerwerken auch ein, dass da nicht eigentlich Gleiches entweder ernsthaft bestraft bzw. nur mit einem Bußgeld belegt wird. Dennoch drängt sich die Frage auf, ob hier nicht doch eine genauere Differenzierung angezeigt ist, statt dass nun Dinge strafwürdig werden, die eben doch noch eher als Ordnungswidrigkeit zu bewerten sind. Darüber wird im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch zu reden sein. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem vorliegenden Entwurf zur Änderung des Sprengstoffgesetzes kommt die Bundesregierung zwei wichtigen Forderungen nach: die Umsetzung der einschlägigen europäischen Richtlinien in nationales Recht und die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften und Ehen im Sprengstoffgesetz. Beides ist wichtig und beides bleibt Stückwerk. Den Regelungsbetroffenen – aber auch der öffentlichen Sicherheit in diesem Land – wäre mit einem größeren Wurf besser gedient. Dazu wäre es jedoch nötig gewesen, weitere Regelungen in den Blick zu nehmen und Initiativen zu bündeln, statt jede für sich allein im Rahmen der engst möglichen fachlichen Zuständigkeit zu behandeln. Dann wäre Ihnen vielleicht auch gelungen, was für die Sicherheit von zentraler Bedeutung, für das Gleichstellungsrecht aber auch eine sehr berechtigte Forderung ist, nämlich dass die Rechtsetzung die Rechtsanwendung entscheidend erleichtert und den beteiligten Akteuren eine klare Orientierung bietet. Im Bereich der Sicherheitspolitik droht ein Rechtssetzungsakt anderenfalls in der Praxis sogar das genaue Gegenteil zu bewirken. Übersichtlichkeit ist daher kein Selbstzweck, sondern wesentlich für einen beabsichtigten Sicherheitsgewinn. Hier wäre mehr möglich gewesen. Ich erinnere nur daran, dass wichtige Ausgangsstoffe für besonders gefährliche Explosivstoffe, die unter das Sprengstoffgesetz fallen, nur als Übergangslösung bis 2018 weiter durch die auch erst vor Wochen geänderte Chemikalien-Verbots-Verordnung reglementiert bleiben sollen. Da frage ich mich schon, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, diese Initiativen zu bündeln und so die Übersichtlichkeit und die Rechtsanwendung zu erleichtern. Schließlich stellt die freie Verfügbarkeit dieser Ausgangsstoffe eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, wie schon allein die Zahl der Anschläge beweist, die in den letzten Jahren mit TATP begangen wurden. Insbesondere im Bereich rechts motivierter Taten werden auch immer wieder Sprengstoffe in erheblichen Mengen sichergestellt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Fundmunition stammen. Die entsprechenden Straftatbestände im Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen müssen daher sehr ernst genommen werden. Auch hier geht es um Informationen, die für die Rechtsanwendung entscheidend sind. Hier gibt es, jedenfalls was das Regelungsziel angeht, Parallelen. Ebenso kommt auch der Kennzeichnung von Pyrotechnik nach dem hier vorliegenden Gesetz für die Verhütung schwerer Straftaten erhebliche Bedeutung zu. Dazu muss das System allerdings auch für die Anwender verständlich sein. Das gilt für die Abnehmer, die in die Lage versetzt werden sollen, legale und illegale Pyrotechnik zu unterscheiden. Das gilt aber auch für die Sicherheitsbehörden, die gegebenenfalls auch den Beweis zu führen haben, dass jemand, der mit illegaler Pyrotechnik erwischt wurde, auch erkennen konnte, dass es sich dabei nicht um legale Angebote gehandelt hat. Und diese Unterscheidung ist auch wichtig, um entschieden gegen den Handel mit illegaler Pyrotechnik vorzugehen. Auch die Verfügbarkeit illegaler Pyrotechnik bedroht die öffentliche Sicherheit. Es ist nur Monate her, dass wir wieder erleben mussten, wie illegale Pyrotechnik für Anschläge und andere Straftaten verwendet wurde. Ich erinnere nur an die Rechtsterroristen, die solche Sprengladungen gegen Flüchtlingsheime und die dort lebenden Bewohnerinnen und Bewohner eingesetzt haben. Daher erscheint es mir dringend geboten, dass wir das nun laufende Gesetzgebungsverfahren nutzen, sorgfältig zu prüfen, ob im Bereich der explosionsgefährlichen Stoffe gesetzgeberisch alle nötigen Voraussetzungen geschaffen wurden, damit Unglücksfälle und Anschläge verhindert werden und die Sicherheitsbehörden ihre Aufgaben in diesem Bereich erfüllen können. Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Heute beraten wir in erster Lesung den vom Bundesministerium des Innern vorgelegten Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes. Ziel und Zweck des Gesetzentwurfs ist es, mehrere europäische Richtlinien umzusetzen, die sich mit dem Inverkehrbringen von pyrotechnischen Gegenständen und Explosivstoffen für zivile Zwecke auf dem Gemeinschaftsmarkt befassen. Ergänzt wird diese Gesetzesnovelle durch die Zweite Verordnung zur Änderung der Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz. Das mag zunächst einmal unspektakulär klingen, aber: Die Anpassung an die europäischen Vorgaben und die damit verbundenen Konkretisierungen im Sprengstoffrecht sind für die in diesem Wirtschaftsbereich tätigen Unternehmen und die für den Vollzug zuständigen Behörden der Länder von großer praktischer Bedeutung. Der schon bisher bestehende Grundsatz des Sprengstoffrechts ist, dass Explosivstoffe und pyrotechnische Gegenstände nur dann auf dem Markt bereitgestellt werden dürfen, wenn der Hersteller einen sogenannten Konformitätsnachweis erbracht hat und die Produkte mit einer CE-Kennzeichnung versehen sind. Die Zuständigkeit für die Durchführung des EU-Konformitätsverfahrens, eine Baumusterprüfung für Explosivstoffe und Pyrotechnik, liegt in den Mitgliedstaaten bei den sogenannten benannten Stellen. In Deutschland ist dies die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM). Daran wird sich auch künftig nichts ändern. Die neuen europäischen Vorgaben machen es allerdings erforderlich, die Bestimmungen des nationalen Rechts zur Konformitätsbewertung sowie zur Marktüberwachung durch die zuständigen Stellen der Länder im Detail weiter zu konkretisieren. Der Gesetzentwurf verfolgt aber noch ein weiteres Ziel. Um die Verständlichkeit des Rechtstextes und die Anwendung der Bestimmungen in der Praxis zu erleichtern, werden die schon jetzt bestehenden Pflichten der auf dem Markt tätigen Wirtschaftsakteure – also der Hersteller, Importeure und Händler von pyrotechnischen Gegenständen und Explosivstoffen – nun eindeutig zugeordnet. Jeder Wirtschaftsakteur kann also künftig einfach und detailliert an einer Stelle des geltenden Rechts erkennen, welche Pflichten er im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Explosivstoffen und pyrotechnischen Gegenständen am Gemeinschaftsmarkt zu erfüllen hat. Damit dient der Gesetzentwurf nicht nur unser aller Sicherheit, sondern reduziert auch die Risiken für die unterschiedlichen Wirtschaftsakteure. Ich bitte Sie daher, den Gesetzentwurf zu unterstützen. 1)  Anlage 2 2)  Anlage 3 3)  Ergebnis Seite 20587 C 4)  Ergebnis Seite 20614 C 5)  Anlage 4 6)  Anlage 5 7)  Anlage 6 8)  Anlage7 9)  Anlage 8 10)  Anlage 9 11)  Anlage 10 12)  Anlage 11 13)  Anlage 12 14)  Anlage 13 15)  Anlage 14 --------------- ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 206. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 206. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2016 V Plenarprotokoll 18/206