Geschichte

Reuven Rivlin: Anti­semi­tismus und Fremden­hass bekämpfen

Männer und Frauen betreten paarweise hintereinander den Plenarsaal
Blick von der Tribüne in den vollen Plenarsaal während der Gedenkstunde
Ein weißhaariger Mann im dunklen Anzug steht am Rednerpult des Bundestages
Personen, die auf der Tribüne des Plenarsaals sitzen
Ein älterer Mann im Anzug sitzt am Rednerpult des Plenarsaals.
Eine Stuhlreihe im Plenarsaal mit fünf Männern und zwei Frauen
Ein im Rollstuhl sitzender Mann sowie vier stehende Männer und eine stehende Frau in einem Raum mit grüner Wand
Ein weißhaariger Mann steht am Rednerpult im Plenarsaal und spricht in das Mikrofon.
Eine junge Frau sitzt am Klavier und spielt, eine andere junge Frau steht rechts daneben und singt im Plenarsaal.

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Die Vertreter der Verfassungsorgane betreten mit dem israelischen Präsidenten den Plenarsaal. (DBT/Melde)

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Blick in den vollen Plenarsaal während der Gedenkstunde (DBT/Melde)

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Bundespräsident Frank Walter Steinmeier während seiner Ansprache (DBT/Melde)

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Blick auf die Tribüne mit den Ehrengästen der Gedenkstunde (DBT/Melde)

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Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eröffnete die Gedenkstunde. (DBT/Melde)

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Von links Bundesratspräsident Dietmar Woidke, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Ehefrau Elke Büdenbender, Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, zu Beginn der Gedenkstunde (DBT/Melde)

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Begegnung im Reichstagsgebäude: von links Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Israels Präsident Reuven Rivlin, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundesratspräsident Dietmar Woidke (DBT/Melde)

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Staatspräsident Reuven Rivlin während seiner Gedenkrede im Deutschen Bundestag (DBT/Melde)

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Die Pianistin Katarzyna Wasiak und die Sopranistin Ania Vegry bei ihrem Vortrag (DBT/Melde)

Der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin hat am Mittwoch, 29. Januar 2020, die Deutschen dazu aufgerufen, hartnäckig gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass zu kämpfen. In der Gedenkstunde des Bundestages aus Anlass des 75. Jahrestages der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen am 27. Januar 1945 sagte, Rivlin, er und das israelische Volk wüssten die Anstrengungen Deutschlands im Kampf gegen Antisemitismus zu schätzen. „Heute begreifen wir leider, dass der Antisemitismus nicht ausgerottet ist“. Dagegen habe er kein Patentrezept, doch kämpften Israel und Deutschland gemeinsam „mit unseren Werten“ dagegen an, sagte Rivlin unter großem Beifall.

„Deutschland darf nicht versagen“

Zehn Jahre nach Shimon Peres sprach wieder ein israelischer Präsident im Bundestag. Rivlin machte deutlich, dass der Kampf gegen Antisemitismus nicht mit einem Schlag gewonnen werden könne, sondern dass man nicht nachlassen dürfe: „Deutschland darf nicht versagen!“, so der Appell des Gastes. Deutschland, das Land, in dem die „Endlösung“ erdacht worden war, habe die Verantwortung für den Schutz internationaler, liberaler Werte übernommen. Der Blick Europas und der ganzen Welt richte sich auf Deutschland und dessen führende Rolle im Kampf gegen den Klimawandel und bei der Aufnahme von Flüchtlingen. „Ich wünsche mir, dass Deutschland Hass und Hetze bekämpfen wird und ein Beispiel für die historische Verpflichtung und Verantwortung bleibt.“

Rivlin skizzierte im weiteren Verlauf seiner Rede die Bedrohung Israels durch das iranische Regime und betonte: „Wir führen keinen Krieg mit dem iranischen Volk. Im Gegenteil: Zwischen unseren Völkern gibt es bedeutungsvolle Beziehungen.“ Doch dürfe man nicht die Augen verschließen vor Terrororganisationen, die entlang der israelischen Grenze operieren. Rivlin rief dazu auf, nicht zwischen dem politischen und dem militärischen Arm der Hisbollah zu trennen.

Hoffnungen setzt Rivlin auf den US-Vorschlag für einen Frieden im Nahen Osten. Die Lösung liege in dem Potenzial beider Seiten, einander Vertrauen entgegenzubringen. „Wir müssen Vertrauen schaffen, Vertrauen bilden“, betonte er. Rivlin dankte der Bundesregierung, die der Sicherheit Israels tief verpflichtet sei. Dem Bundespräsidenten und dem Bundestagspräsidenten dankte er für Freundschaft und Partnerschaft: „Ich hoffe, dass wir mutig in die Vergangenheit zurückblicken und uns erinnern, aber gemeinsam einen Weg in die Zukunft bahnen, einen Weg der Freiheit und des Wachstums.“

Steinmeier: Shoa Teil deutscher Geschichte und Identität

„Dass ein israelischer Präsident die schmerzhaften Schritte der Erinnerung gemeinsam mit einem Deutschen geht; dass ein israelischer Präsident an diesem Tag in diesem Hause spricht, im Herzen unserer Republik – das erfüllt mich mit tiefer Demut“, sagte Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier. Rivlins Anwesenheit sei ein Zeichen der „Verbundenheit zwischen unseren beiden Ländern“. Er verstehe das als Verpflichtung, „uns der Hand, die Israel uns gereicht hat, würdig zu erweisen“. Die Versöhnung sei eine Gnade, „die wir Deutsche nicht erhoffen konnten oder gar erwarten durften. Aber wir wollen ihr gerecht werden!“

Der Bundespräsident rief dazu auf, die Erinnerung und die Verantwortung, die aus ihr erwächst, gegen jede Anfechtung zu verteidigen. Die Shoa sei ein Teil deutscher Geschichte und Identität. Dass die Auseinandersetzung mit der historischen Schuld heute zum „Selbstverständnis unseres Landes“ gehört, werde von „Demokraten in diesem Haus“ nicht bestritten.

„Wir vergessen nicht, was geschehen ist und geschehen kann“

Er könne nicht sagen „Wir Deutsche haben verstanden“, wenn „Hass und Hetze sich ausbreiten, wenn das Gift des Nationalismus wieder in Debatten einsickert“, wenn das Tragen der Kippa zum persönlichen Risiko werde oder Juden die Menora beiseite räumen, wenn Heizungsableser kommt, wenn ein Rechtsterrorist an Jom Kippur zwei Menschen ermordet und „allein die schwere Holztür der  Synagoge ein Massaker an jüdischen Männern, Frauen und Kindern verhindert“, sagte der Bundespräsident.

Die „bösen Geister der Vergangenheit“ zeigten sich heute in neuem Gewand. Sie präsentierten ihr „völkisches, ihr autoritäres Denken als Vision, als die bessere Antwort auf die offenen Fragen unserer Zeit“. Steinmeier: „Ich fürchte, darauf waren wir nicht vorbereitet – aber genau daran prüft uns unsere Zeit! Und diese Prüfung müssen wir bestehen. Das sind wir der Verantwortung vor der Geschichte, den Opfern und auch den Überlebenden schuldig!“ An Rivlin gewandt, fügte Steinmeier hinzu: „Wirr vergessen nicht, was geschehen ist. Wir vergessen nicht, was geschehen kann!“

Steinmeier rief dazu auf, den Antisemitismus, Rassenhass und „nationale Eiferei“ zu bekämpfen. „Wir wollen Israel und der Welt zeigen, dass unser Land dem neu geschenkten Vertrauen gerecht wird! Das ist unsere Aufgabe, die uns die Erinnerung aufgibt. Damit, was geschehen kann, nicht geschehen wird.“

Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Zuvor hatte Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert: „Wir gedenken der Millionen Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen: der europäischen Juden, der Sinti und Roma, der slawischen Völker, die zu ,Untermenschen‘ degradiert wurden, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Kriegsgefangenen und aller dem Hungertod Ausgelieferten.

Wir erinnern an die aus politischen Gründen oder  religiösen Motiven Verfolgten und Ermordeten, an diejenigen, die sich mutig dem NS-Regime widersetzten, die ihre Menschlichkeit bewahrten und das mit dem Leben bezahlten. Wir erinnern an das Leid von Homosexuellen, an die Menschen mit Behinderungen und an das Schicksal der als ,Asoziale‘ Ausgestoßenen. Wir denken auch an all jene, die dem Tod zwar entkommen konnten, aber seelisch zerbrochen sind. Und an die Nachkommen, die bis heute vom Trauma des Holocaust gezeichnet sind.“

Schäuble: Wir müssen über Auschwitz sprechen  

„Wir müssen über Auschwitz sprechen – und über die Verantwortung, die wir als Konsequenz und Lehre aus dem Geschehenen tragen, jede Generation neu“, mahnte der Bundestagspräsident. Diese Verantwortung sei eng verknüpft mit der Verpflichtung, die Würde des Menschen und seine unveräußerlichen Rechte zu achten, sie zu schützen und zu verteidigen, keinen Raum mehr dafür zu lassen, andere Menschen zu stigmatisieren, auszugrenzen und zu verfolgen.

Die Verantwortung sei auch verbunden mit „unserer historischen Verantwortung für die Existenz und Sicherheit Israels, für die Pflege der besonderen deutsch-israelischen Beziehungen, für das Festigen dieser außergewöhnlichen Freundschaft, die sich der historischen Abgründe stets bewusst bleibt und gleichzeitig in die Zukunft gerichtet ist“. Für Schäuble gehört es zum gesellschaftlichen Grundkonsens, diese historische Verantwortung anzunehmen: „Sie ist konstitutiv für das Selbstverständnis unseres Landes. Wir an diesem Fundament rüttelt, wird scheitern. Es gibt kein heilsames Schweigen über Auschwitz.“

Dagegen, dass Juden in Deutschland heute wieder um ihr Leben fürchten müssen, helfe nur ein starker, konsequent handelnder Staat – „und eine couragierte Zivilgesellschaft, die verstanden hat, dass das Geschehene nicht vergangen ist“. Woran „wir heute erinnern“, so der Bundestagspräsident, stelle nicht die eigenartige und befremdliche Geschichte von ein oder zwei Generationen dar, sondern „eine generelle Möglichkeit des Menschen“.

Musik von Szymon Laks und Ilse Weber

Die Sopranistin Ania Vegry und die Pianistin Katarzyna Wasiak trugen Musik von Szymon Laks und Ilse Weber vor. Der Text des ersten Musikstücks des polnisch-französischen Komponisten und Auschwitz-Überlebenden Szymon Laks (1901-1983) mit dem Titel „Pogrzeb“ („Das Begräbnis“) stammt von dem polnischen Schriftsteller Mieczysław Jastrun (1903-1983). Den Text zum zweiten Musikstück von Szymon Laks aus dem Jahr 1974 mit dem Titel „Gdybyś“ („Wenn du nur“) hatte der polnische Musiker und Holocaust-Überlebende Ludwik Żuk-Skarszewski (1905-1983) geschrieben.

Die Gedenkstunde endete mit dem „Wiegala“ („Wiegenlied“) der jüdischen Schriftstellerin Ilse Weber (1903-1944), die in Auschwitz ermordet wurde.

Jährliche Gedenkstunde seit 1996

An der Gedenkstunde nahmen neben Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auch Bundesratspräsident Dr. Dietmar Woidke und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Dr. h. c. Andreas Voßkuhle, als Vertreter der übrigen Verfassungsorgane teil.

Die Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus findet seit 1996 jährlich statt. Die Gedenkrede im vergangenen Jahr hatte der israelische Historiker und Publizist Prof. Dr. Dres. h. c. mult. Saul Friedländer gehalten. (vom/29.01.2020)

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