1. Untersuchungsausschuss

Berliner Ex-Senator Mario Czaja berichtet über Chaos im „La­geso“

Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz wird gegen Terroranschläge abgeriegelt.

Der abgeriegelte Breitscheidplatz in Berlin, auf dem am 19. Dezember 2016 ein Terroranschlag stattfand. (picture-alliance/Paul Zinken/dpa)

Vor dem 1. Untersuchungsausschuss  („Breitscheidplatz“) unter Vorsitz von Armin Schuster (CDU/CSU) hat der ehemalige Berliner Sozialsenator Mario Czaja (CDU) die Umstände geschildert, die zur völligen Überlastung seiner Behörde in der Flüchtlingskrise 2015 führten. „Ich habe fast täglich weinende Mitarbeiter im Landesamt für Gesundheit und Soziales vorgefunden, die mit dieser Situation nicht mehr klarkommen konnten“, sagte Czaja am Donnerstag, 29. November 2018. Das Landesamt ging damals unter dem Kürzel „Lageso“ bundesweit durch die Medien. Der Tunesier Anis Amri, der im Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz den bisher opferreichsten radikalislamischen Anschlag in Deutschland verübte, hatte sich dort in der zweiten Jahreshälfte 2015 dreimal unter verschiedenen Namen als asylsuchend gemeldet.

Prozess einer stetigen Eskalation

Czajas Erzählung beschrieb den Prozess einer stetigen Eskalation. Als er im Dezember 2011 ins Amt gekommen sei, habe Berlin im Jahr 1.000 bis 1.500 Asylbewerber aufzunehmen gehabt. Im Januar 2014 habe die Bundesregierung für das laufende Jahr einen Zuzug von 140.000 Flüchtlingen prognostiziert. Laut Königsteiner Verteilschlüssel, dem zufolge Berlin fünf Prozent aller in Deutschland ankommenden Asylbewerber unterbringen muss, waren demnach etwa 7.000 Menschen zu erwarten. Im Sommer 2014 habe die Bundesregierung ihre Jahresprognose für das Land Berlin auf die Zahl von 16.000 bis 18.000 Flüchtlingen erhöht.

Die Stadt habe damals bis zum Monat August schon 6.000 Menschen aufgenommen und im Juli 2014 erstmals einen monatlichen Zuzug von mehr als 1.000 Asylbewerbern verzeichnet, was im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum einen Anstieg um 94 Prozent bedeutet habe, sagte Czaja. Seine Behörde habe damals die Registrierung von Flüchtlingen wegen Personalmangels für einige Tage aussetzen müssen.

„Nur noch mit Unterbringung und Versorgung beschäftigt“

Im Laufe des Jahres 2015 sei dann der monatliche Zuzug auf mehr als 2.000 Personen angestiegen. Die Entwicklung sei nicht mehr absehbar gewesen, weil sich die Bundesregierung ihrer gesetzlichen Verpflichtung entzogen habe, quartalsweise Prognosen über die zu erwartende Zahl der Zuzügler abzugeben. Erst 2016 habe sei damit wieder begonnen.

Im Mai 2015 habe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) die Zahl der offenen Asylanträge auf 220.000 beziffert. Im Oktober seien es bereits 760.000 gewesen: „Das führte dazu, dass wir überhaupt keinen Abfluss über das Bamf mehr hatten, sondern nur noch mit Unterbringung und Versorgung beschäftigt waren.“ Abgesehen vom Personalmangel habe die Behörde vor allem mit der Schwierigkeit zu kämpfen gehabt, einer so hohen Anzahl von Zuzüglern ein Dach über dem Kopf zu verschaffen.

Sechs „Containerdörfer“ errichtet

So habe sie im Herbst 2014 erstmals in eigener Regie sechs „Containerdörfer“ errichtet und damit über die Grenzen ihrer eigentlichen Zuständigkeit hinausgegriffen. Dies sei bis dahin auch aus rechtlichen Gründen „undenkbar“ gewesen, betonte Czaja. Ein Jahr später habe er „leider“ 60 Turnhallen belegen müssen. Ein zusätzliches Problem sei gewesen, dass der Behörde  Liegenschaften gefehlt hätten, in denen sie Migranten an einem Ort hätte registrieren und beherbergen können. Er habe sich immer wieder vergeblich an das Verteidigungsministerium mit der Bitte gewandt, leerstehende Kasernen zur Verfügung zu stellen, sagte Czaja.

In Berlin seien zunächst „weniger als eine Handvoll“ Mitarbeiter für die Aufnahme und nicht viel mehr für die Unterbringung der Migranten zuständig gewesen. Erst 2014 sei personelle Verstärkung gekommen, nachdem der Senat dies zuvor wiederholt abgelehnt hatte. Schließlich seien rund 100 Soldaten sowie Polizisten und abgeordnete Mitarbeiter anderer Behörden als Aushilfskräfte eingesetzt gewesen. Diesem Personal habe allerdings die sozial- und asylrechtliche Qualifikation gefehlt. 

Verfassungsschützerin: Amri nicht Gegenstand der Aufklärung

Ein weiteres Mal hat eine ranghohe Mitarbeiterin des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) bestritten, vor dem Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz mit der Person des Attentäters Anis Amri befasst gewesen zu sein. „Amri war in meiner Beschaffungseinheit zu keinem Zeitpunkt Gegenstand nachrichtendienstlicher Aufklärung“, sagte die Zeugin Cordula Hallmann im Anschluss. Dies habe die gründliche Überprüfung aller verfügbaren Akten ergeben.

Die heute 47-jährige ausgebildete Juristin war zwischen Februar 2015 und August 2018 Referatsgruppenleiterin in der für „Islamismus und islamistischen Terrorismus“ zuständigen Abteilung 6 des BfV und in dieser Funktion mit „Erhebung und Auswertung von Informationen im Internet“ betraut. Dabei gehe es allerdings weder um eine „anlassunabhängige“ noch „flächendeckende“ Überwachung, betonte die Zeugin. 

„Einsatz verdeckter nachrichtendienstlicher Mittel“

Ihre Mitarbeiter seien lediglich auf Anfrage tätig geworden, wenn zu bestimmten Personen konkrete Verdachtsmomente vorlagen oder wenn die Auswertung öffentlich im Netz zugänglicher Quellen kein klares Bild ergeben habe. In solchen Fällen sei ihre „Beschaffungseinheit“ beauftragt worden, vorliegende Erkenntnisse durch den Einsatz „verdeckter nachrichtendienstlicher Mittel“ zu „verdichten“.

Eine solche Anfrage sei im Fall Amri aber nie an sie herangetragen worden, betonte die Zeugin. Aus ihrer Referatsgruppe habe auch niemand an Besprechungen des Gemeinsamen Terror-Abwehr-Zentrums (GTAZ) der deutsche Sicherheitsbehörden teilgenommen, in denen Amri im Laufe des Jahres 2016 siebenmal zur Sprache kam. 

„Zum Fall Amri sind wir nicht gefragt worden“

Für sie selbst gelte das in jedem Fall, und „es würde mich erstaunen, wenn jemand von meiner Referatsgruppe dazu geladen worden wäre“. Wer mit einem in Rede stehende Fall selber nicht betraut sei, sei bei solchen Besprechungen in der Regel nicht zugegen, „und zum Fall Amri sind wir nicht gefragt worden“.

Einen Grund dafür vermochte die Zeugin nicht zu nennen. Sie erinnerte, wie vor ihr bereits andere im Ausschuss vernommene Verfassungsschützer, lediglich daran, dass ihre Behörde 2016 „viele Fälle in der Bearbeitung gehabt“ habe, und dass Amri unter diesen „keine so herausragende Bedeutung“ zugekommen sei. Auch der Umstand, dass das GTAZ sich mehrfach mit ihm befasst habe, habe Amri aus damaliger Sicht keineswegs über andere vergleichbare radikalislamische Gefährder hinausgehoben. 

„Das ist kapazitätsmäßig nicht zu bewältigen“

Das sei in vielen Fällen so gehandhabt worden. Die Zeugin wiederholte in diesem Zusammenhang die Aussage anderer Vertreter ihrer Behörde vor dem Ausschuss, Amri sei „durch die Polizeibehörden und flankierend durch das BfV“, genauer gesagt, durch die Referatsgruppe „Auswertung“, bearbeitet worden.

Im Übrigen sei es Sache der auftraggebenden Referate gewesen, zu bestimmen, nach welchen konkret Verdächtigen ihre Beschaffungseinheit im virtuellen Raum habe fahnden sollen: „Es ist nicht so, dass wir flächendeckend zu allen Personen in dem Bereich entsprechende Internet-Recherchen machen. Das ist kapazitätsmäßig nicht zu bewältigen“, sagte die Zeugin. „Die komplette Prüfung der Aktenlage führte zu dem Ergebnis, dass die Person Amri jedenfalls nicht Gegenstand der Bearbeitung war.“ (wid/29.11.2018)

Liste der geladenen Zeugen

  • Mario Czaja, Senator für Gesundheit und Soziales des Landes Berlin a. D., Mitglied des Abgeordnetenhauses
  • Carlo Macri, Bundesamt für Verfassungsschutz
  • Cordula Hallmann, Bundesamt für Verfassungsschutz

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