Öffentliche Anhörung am Montag, dem 21. Juni 2021, 15.30 Uhr zu dem Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Aufenthaltsgesetz - BT-Drucksache 19/27189
Zeit:
Montag, 21. Juni 2021,
15.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 4 900
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen will den Geschwisternachzug erleichtern. Ihr Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (19/27189) ist allerdings auf ein geteiltes Echo der Experten gestoßen. Das zeigte eine öffentliche Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat am Montag, 21. Juni 2021, unter dem Vorsitz von Jochen Haug (AfD). So begrüßte ein Teil der Sachverständigen den Vorstoß der Fraktion, Geschwisterkinder als Nachzugsberechtigte anzuerkennen. Dass bislang nur die Eltern und nicht die minderjährigen, ledigen Geschwister von als schutzberechtigt anerkannten Flüchtlingskindern nach Deutschland nachziehen dürften, führe oft zu jahrelangen Trennungen und großem Leid. Eine Regelung sei dringend geboten. Andere Sachverständige kritisierten, eine Erleichterung des Geschwisternachzugs schaffe zusätzliche Anreize und widerspreche der gegenwärtigen „Kontingentlösung“.
„Anreize für schleichenden Familiennachzug“
„Weder notwendig noch verhältnismäßig“, so bewertete der Sachverständige Dieter Amann den Gesetzentwurf. Bereits unter den gegenwärtigen rechtlichen Bedingungen könnten minderjährige Geschwister nachziehen, führte der Diplom-Verwaltungswirt an, auch wenn dies schwierig sei.
Eine Erleichterung aber setze zusätzliche Anreize für einen „schleichenden Familiennachzug“ und leiste einem Missbrauch von „Ankerkindern“ Vorschub, warnte der Sachverständige in seiner schriftlichen Stellungnahme.
„Erleichterung widerspricht Kontingentlösung“
Prof. Dr. Dr. h. c. Kay Hailbronner vom Forschungszentrum Asyl- und Ausländerrecht der Universität Konstanz machte darauf aufmerksam, dass ein Geschwisternachzug, der nicht mehr von Voraussetzungen wie der Sicherung des Lebensunterhalts und ausreichendem Wohnraum abhängig gemacht werde, zu einer Ausweitung des Familienzuzugs führen werde.
Im Einzelfall könnten für einen erleichterten Nachzug zwar „sachliche Gründe“ sprechen, doch eine generelle Ausweitung sei mit Blick auf den „Schutz der Sozialsysteme“ nicht zu befürworten. Dies stehe im Übrigen auch der Kontingentlösung entgegen, für die sich der Gesetzgeber entschieden habe.
„Bundeseinheitliche Lösung grund- und völkerrechtlich notwendig“
Klar für eine Erleichterung des Geschwisternachzugs sprach sich wiederum Sophia Eckert vom Verein Save the Children Deutschland aus: Die Schaffung einer bundeseinheitlichen Regelung sei nach grund- und völkerrechtlichen Vorgaben „dringend notwendig“, betonte die Expertin. Nur in wenigen Bundesländern würden die gegenwärtigen Regelungen im Einklang mit dem höherrangigen Recht umgesetzt.
Die von den Grünen vorgeschlagene Regelung sei ein „wichtiger Schritt“, um den Geschwisternachzug, der meist am Nachweis von ausreichend Wohnraum oder der Lebensunterhaltssicherung scheitere, zu ermöglichen, so Eckert – auch wenn damit nicht alle Hindernisse ausgeräumt seien. Um den „Geschwisternachzug in allen Konstellationen“ zu ermöglichen, brauche es einen Rechtsanspruch minderjähriger Geschwisterkinder auf Nachzug.
„Antragstellung zur Bestimmung der Minderjährigkeit nutzen“
Diese Forderung unterstützte auch Maria Kalin vom Deutschen Anwaltverein: Der Gesetzentwurf stelle nur ein „Mindestmaß“ des Gebotenen dar, so die Fachanwältin für Migrationsrecht in ihrer schriftlichen Stellungnahme. Sie widersprach in der Anhörung zudem der Darstellung, Eltern würden ihre Kinder als „Ankerkinder“ nutzen und sie den Gefahren einer Flucht verantwortungslos aussetzen. „Würden sie tatsächlich kalkuliert handeln, würden sie einen Erwachsenen schicken. Dann hätte sofort die ganze Familie einen Nachzugsanspruch“, unterstrich die Sachverständige.
Sie plädierte zudem für eine „einfache, einheitliche Regelung“ zur Bestimmung der Minderjährigkeit. Diese solle künftig stets an den Zeitpunkt der Asylantragstellung anknüpfen. Die lange Dauer von Asylverfahren dürfe nicht mehr zulasten von Kindern und Jugendlichen gehen, so Kalins Forderung.
„Europäische Regelung abwarten“
Hinsichtlich der Festlegung des Zeitpunkts zur Bestimmung der Minderjährigkeit riet Prof. Dr. Andreas Dietz, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Augsburg, hingegen zum Abwarten: Sollte der Europäische Gerichtshof einen „unionsrechtlich einheitlichen“ Zeitpunkt für das Nachzugsalter bestimmen, habe dies Auswirkungen auf weitere Normen, sodass ohnehin Anpassungsbedarf bestünde, erklärte der Experte.
Grundsätzlich aber sei die Entscheidung über einen erleichterten Geschwisternachzug eine migrationspolitische, keine migrationsrechtliche.
Begrenzte Aufnahme- und Integrationsfähigkeit der Kommunen
Für eine Beibehaltung der bisherigen rechtlichen Kriterien für den Geschwisternachzug trat auch Miriam Marnich vom Deutschen Städte- und Gemeindetag ein: Der Zuzug dürfe nicht „voraussetzungslos“ möglich sein. Die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit in den Städten und Gemeinden bleibe trotz sinkender Zuzugszahlen begrenzt, insistierte die Sachverständige.
Eine Vielzahl von Kommunen stoße an ihre Grenzen – unter anderem sei bezahlbarer, dezentraler Wohnraum knapp. Die Corona-Krise habe viele Städte und Gemeinden in eine prekäre Situation gebracht. Sie hätten bereits genug zu tun mit der Integration der bereits „hier Lebenden“, sagte die Sachverständige mit Blick auf den „angespannten“ Arbeits- und Ausbildungsmarkt.
„Nachzug von Eltern mit kleinen Geschwistern verfassungsrechtlich geboten“
Einen Mittelweg zeigte schließlich Dr. Philipp Wittmann, Richter am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, auf: Er sah zumindest im Fall von „Eltern mit sehr kleinen, minderjährigen Kindern“, eine Neuregelung, die ihnen einen gemeinsamen Nachzug ermögliche, als verfassungsrechtlich geboten an. Der Schutz von kleinen Kindern habe eine besondere Bedeutung, so argumentierte der Experte, da diese „besonders auf den Schutz und die Fürsorge ihrer Eltern angewiesen und für räumliche Trennungen empfindlich“ seien.
Gerade wenn eine Flüchtlingsanerkennung der Eltern absehbar sei, solle ein vorgezogener Geschwisternachzug ermöglicht werden, meinte Wittmann. Die damit verbundenen Mehrbelastungen seien für den Staat überschaubar.
Gesetzentwurf der Grünen
Laut Gesetzentwurf der Grünen (19/27189) sollen minderjährige, ledige Kinder leichter zusammen mit ihren Eltern zu einem in Deutschland als schutzberechtigt anerkannten Geschwisterkind nachziehen können. Die aktuelle Rechtslage in Deutschland führe dazu, dass zu unbegleiteten Kindern, die in Deutschland als schutzberechtigt anerkannt wurden, zwar ihre Eltern nachziehen können, aber nicht ihre Geschwister.
Die fehlende Regelung zum Geschwisternachzug im Aufenthaltsgesetz verursache unbillige Härten für Eltern, die neben dem in Deutschland als schutzberechtigt anerkannten minderjährigen Kind noch weitere Kinder im Ausland haben, argumentieren die Grünen. Während für den Nachzug der Eltern zu ihrem Kind vereinfachte Voraussetzungen gelten, werde der Nachzug der Geschwisterkinder unter die Bedingung gestellt, dass ausreichender Wohnraum vorhanden und der Lebensunterhalt der Nachziehenden gedeckt ist.
„Diese Voraussetzungen kann der oder die stammberechtigte Minderjährige in Deutschland aber in aller Regel nicht erfüllen“, schreiben die Abgeordneten weiter. Dadurch müssten die Eltern sich zwischen der Sorge für ihre im Ausland befindlichen Kinder und dem in Deutschland lebenden stammberechtigten Kind entscheiden, was zu jahrelangen Familientrennungen führe.
„Minderjährige Geschwister als Nachzugsberechtigte aufnehmen“
Mit dem Gesetzentwurf sollen die minderjährigen, ledigen Geschwister der als Flüchtling anerkannten oder subsidiär schutzberechtigten Referenzperson in den Kreis der privilegiert nachzugsberechtigten Personen aufgenommen werden. Der Kindernachzug für gleichzeitig mit ihren Eltern einreisende Kinder soll nicht mehr unter die Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung und des ausreichenden Wohnraums gestellt werden.
Gesetzlich geregelt werden sollen mit dem Entwurf auch die Zeitpunkte für die Minderjährigkeit der stammberechtigten und nachziehenden Kinder. Danach sollen stammberechtigte Kinder zum Zeitpunkt ihrer Asylantragstellung minderjährig sein müssen, damit ihre Eltern ein Nachzugsrecht erhalten. Gemeinsam mit den Eltern nachziehende Geschwisterkinder sollen laut Vorlage zum Zeitpunkt der Visumsantragstellung ihrer Eltern (sas/sto/22.06.2021)