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Gesundheit

Infektionsschutzgesetz in Anhörung kontrovers diskutiert

Zeit: Freitag, 16. April 2021, 14.30 bis 16 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 300

Die geplante Änderung des Infektionsschutzgesetzes (19/28444) wird von Sachverständigen unterschiedlich beurteilt. Das wurde während einer öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses unter Leitung von Erwin Rüddel (CDU/CSU) am Freitag, 16. April 2021, deutlich. Künftig soll zur Eindämmung des Coronavirus bundesweit eine automatische Notbremse greifen, wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen den Schwellenwert von 100 überschreiten (Inzidenz 100). Vorgesehen ist unter anderem eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 21 und fünf Uhr. Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 200 gilt ein Verbot für Präsenzunterricht an Schulen.

Grundlage der Anhörung waren neben dem Entwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD zwei Anträge der Fraktion Die Linke zur Corona-Strategie für besonders gefährdete Menschen (19/24453) und zu den Lockdown-Maßnahmen (19/25882).

Einschränkungen sollen Infektionen eingrenzen

Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger von der Universität Augsburg sieht in der durch die Bundesgesetzgebung verbundenen Zentralisierung des Rechtsschutzes beim Bundesverfassungsgericht „kein Rechtsschutzdefizit“. Vielmehr verbürgt die Verfassungsbeschwerde effektiven Individualrechtsschutz gerade mit Blick auf die im Zentrum stehenden Grundrechtsfragen, befand er.

Gelungen ist der Gesetzentwurf nach Auffassung von Prof. Dr. Michael Brenner von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er enthalte „verhältnismäßige Grundrechtseinschränken“, die dem Ziel dienten, die Infektionszahlen einzugrenzen. Verhältnismäßig sei auch die geplante Ausgangssperre, deren Beginn aber aus Praktikabilitätsgründen auf 22 Uhr verschoben werden sollte, regte er. Die Bezugnahme auf eine Inzidenzzahl von 100 ist aus Sicht Brenners ebenfalls ein sinnvoller Maßstab.

Unüberschaubar viele Grundrechtseingriffe

Verfassungsrechtliche Probleme sieht hingegen Prof. Dr. Christoph Möllers von der Humboldt Universität Berlin. Es gebe Tausende von Grundrechtseingriffen in unüberschaubar vielen Konstellationen, die künftig einzig vom Bundesverfassungsgericht zu bewältigen seien. „Wenn das kein Problem wäre, bräuchten wie keine Verwaltungsgerichtsbarkeit“, sagte er. Problematisch seien auch die Ausgangssperren, zu denen es Alternativen wie etwa zweckgerichtete Kontaktsperren gebe. Die Festlegung auf den Inzidenzwert 100 sah Möllers auch kritisch und befürchtet ein „Einpegeln rund um den Wert“.

Aus Sicht von Dr. Ulrich Vosgerau von der Universität zu Köln hat das Gesetz mit einer klassischen Gefahrenabwehr nichts zu tun, sondern sei eine Notstandsgesetzgebung. Beleg dafür sei, das auch „Nicht-Störer“, also nicht Infizierte, ihre grundrechtlichen Freiheiten aufgeben müssten. Auch die Abstellung auf den Inzidenzwert von 100 sei nicht geeignet, um die Maßnahmen zu begründen. Eine positive Testung sage bei symptomfreien Personen nichts darüber aus, ob diese die Viren verbreiten können, sagte Vosgerau. Ihm scheine, so sagte er weiter mit Blick auf die Einschränkung des Weges der Klage auf das Bundesverfassungsgericht, der Zweck des Gesetzes bestehe darin, „die Oberverwaltungsgerichte auszuschalten“.

Widersprüchlichkeiten und Rechtsunsicherheit

Für Prof. Dr. Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg wirft der Gesetzentwurf „diverse neue Probleme auf, ohne die bestehenden Herausforderungen anzugehen“. Er kritisierte die nächtlichen Ausgangssperren. Besser, so Kingreen sei es, wenn der Bund lediglich die Voraussetzungen festschreiben würden, unter denen die Länder die Ausgangssperren anordnen müssten. Es werde im Übrigen in dem Gesetzentwurf nicht erklärt, warum der Aufenthalt im Freien vor 21 Uhr infektionsschutzrechtlich ungefährlicher ist als danach.

Die bundesweite Vereinheitlichung der Corona-Schutzmaßnahmen durch eine gesetzliche Regelung führt aus Sicht von Dr. Andrea Kießling von der Ruhr-Universität Bochum zu Rechtsunsicherheit und schränkt die Rechtsschutzmöglichkeiten der Bevölkerung ein. Das aktuelle Infektionsgeschehen und die Situation in den Krankenhäusern in Deutschland erfordere gleichwohl dringend das Ergreifen „wirksamer Schutzmaßnahmen“. Eine Ausgestaltung der „Notbremse“, die das Infektionsgeschehen nur um den Inzidenzwert von 100 verstetigt, sei für eine nachhaltige Eindämmung des Infektionsgeschehens ungeeignet. „Notwendig ist keine Bremse, sondern eine Schubumkehr“, betonte Kießling.

Einschätzungen und weitere Forderungen

Prof. Dr. Kai Nagel von der Technischen Universität Berlin räumte ein, das nächtliche Ausgangssperren den R-Wert reduzieren könnten. Simulationen zeigten aber, dass der Erfolg fünfmal so hoch sei, wenn ganztägig der Aufenthalt im öffentlichen Raum „zum Zweck eines privaten Besuches“ verboten würde. Großbritannien und Portugal hätten mit einer derartigen Regelung gute Erfahrungen gemacht. Auf die extrem angespannte Situation auf den Intensivstationen deutscher Krankenhäuser machte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) aufmerksam. Es gebe derzeit pro Station nur noch ein Bett, hieß es. Benötigt werde eine Notbremse, „besser gestern als heute“.

Auch Dr. Anne Bunte, Leiterin des Gesundheitsamtes im Kreis Gütersloh, sprach von steigenden Inzidenzen innerhalb kürzester Zeit. Begründet seien diese durch die Virusmutationen. Sie sprach sich eindeutig für eine bundesweite Regelung aus. Seitens der Gesellschaft für Aerosolforschung wurde darauf verwiesen, dass 99 Prozent aller Infektionen in Innenräumen stattfänden. Daher müsse sich die Gefahrenabwehr auf diesen Bereich richten.

Eine Verpflichtung für Arbeitgeber zu mehr Home-Office wurde vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) verlangt. Außerdem müsse das Testgeschehen in den Betrieben ausgeweitet werden. Der Sozialverband Deutschland (VdK) sprach sich für das Ende der Besuchseinschränkungen in Heimen aus. Bei geimpften Heimbewohnern sei dies nicht mehr verfassungsgemäß. In die gleiche Richtung ging auch die Kritik der Caritas. Für die Beibehaltung der „Click und Collect“-Einkaufsmöglichkeiten plädierte der Handelsverband Deutschland. Auch die Wissenschaft habe ein generell niedriges Infektionsrisiko im Einzelhandel festgestellt. Eine pauschale Schließung der Non-Food-Geschäfte sehe der Verband kritisch.

Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD

Mit dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sollen dem Bund bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie zusätzliche Handlungsmöglichkeiten gegeben werden, um, wie es darin heißt, „eine bundesweit einheitliche Steuerung des Infektionsschutzes zu gewährleisten“. Überschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen den Schwellenwert von 100, sollen künftig bundeseinheitliche Regelungen greifen. Demnach sollen private Zusammenkünfte auf die Angehörigen eines Hausstandes und maximal eine weitere Person begrenzt werden. Ausgenommen dabei sind Kinder unter 14 Jahren.

Außerdem sollen zwischen 21 Uhr und fünf Uhr des Folgetages Ausgangsbeschränkungen gelten. Aufenthalte außerhalb des Wohnraums sollen allerdings gestattet bleiben, wenn diese zur Berufsausübung, zur Abwendung einer Gefahr für Leib, Leben oder Eigentum, zur Wahrnehmung des Sorge- oder Umgangsrechts, zur Ausübung des Dienstes oder des Mandats, der Berichterstattung durch Vertreterinnen und Vertreter von Presse, Rundfunk, Film und anderer Medien, zur unaufschiebbaren Betreuung unterstützungsbedürftiger Personen oder Minderjähriger, der Begleitung Sterbender oder der Versorgung von Tieren dienen.

Schließung von Geschäften und Schulen

Untersagt werden soll bei einem Sieben-Tage-Inzidenzwert von 100 auch die Öffnung von Freizeiteinrichtungen, Museen, Kinos, Theatern und ähnlichen Einrichtungen. Gleiches soll für Gaststätten gelten. Die Auslieferung von Speisen und Getränken sowie deren Abverkauf zum Mitnehmen sollen dagegen weiterhin möglich sein. Schließen sollen laut Vorlage auch die meisten Geschäfte. Von der Regelung ausgenommen werden sollen der Lebensmittelhandel einschließlich der Direktvermarktung, Getränkemärkte, Reformhäuser, Babyfachmärkte, Apotheken, Sanitätshäuser, Drogerien, Optiker, Hörgeräteakustiker, Tankstellen, Stellen des Zeitungsverkaufs, Buchhandlungen, Blumenfachgeschäfte, Tierbedarfsmärkte, Futtermittelmärkte und Gartenmärkte.

Weitere Einschränkungen sind für den Schulbetrieb vorgesehen. So sollen Schulen, Berufsschulen, Hochschulen, außerschulische Einrichtungen der Erwachsenenbildung und ähnliche Einrichtungen ab einem Inzidenzwert von 200 den Präsenzunterricht einstellen müssen. Ausnahmen sollen allerdings für Abschlussklassen und Förderschulen möglich sein. Außerdem sieht der Entwurf eine Teststrategie für Schüler und Lehrer vor. Zweimal wöchentlich sollen diese auf das Coronavirus getestet werden, um am Präsenzunterricht teilnehmen zu dürfen.

Erster Antrag der Linken

Die Linksfraktion fordert eine Corona-Strategie für besonders gefährdete Menschen. Die Abgeordneten verlangen in ihrem Antrag (19/24453) unter anderem, einen vorrangigen Versorgungsauftrag zugunsten dauerhaft gefährdeter Personengruppen in einer epidemischen Notlage für Schutzausrüstungen, Testmöglichkeiten und Impfkapazitäten zu verankern.

Außerdem sollen alle Menschen mit Pflegebedarf, auch die in häuslicher Pflege ohne Nutzung von Pflegesachleistungen, ihre pflegenden Angehörigen sowie asymptomatische Kontaktpersonen einen Anspruch auf infektionshygienische Beratung erhalten. Als Haushalt sollen dabei auch betreute Wohnformen gelten.

Zweiter Antrag der Linken

Nach Ansicht der Linksfraktion muss der Corona-Lockdown per Gesetz und nicht über eine Verordnung geregelt werden. Alle für das Gemeinwesen wesentlichen Entscheidungen benötigten die Zustimmung der Parlamente und dürften nicht an Regierungen oder andere Stellen delegiert werden, um dem Parlamentsvorbehalt zu genügen, heißt es in einem Antrag (19/25882) der Fraktion.

Es müsse sichergestellt werden, dass alle Entscheidungen von substanziellem Gewicht vom Bundestag getroffen werden. Die bereits geltenden Rechtsverordnungen des Bundes müssten als Gesetzentwurf vorgelegt werden. Es müsse klar definiert werden, welche Maßnahmen die Landesregierungen oder andere Behörden unter welchen konkreten Voraussetzungen beim Erreichen oder Unterschreiten welcher Kennzahlen für die einzelnen Kreise treffen müssten oder sollten. (hau/eis/ste/pk/16.04.2021)

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