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20.10.2016 Gesundheit — Anhörung — hib 611/2016

Grundsatzdebatte über Demenzstudien

Berlin: (hib/PK) Im Streit über die Forschung an Demenzkranken haben Ethiker, Mediziner und Juristen als Sachverständige im Bundestag ihre Argumente ausgetauscht. Bei einer öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses stand die Streitfrage im Mittelpunkt, ob Arzneimittelstudien an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen (zum Beispiel Demenzkranken) auch dann zulässig sein sollen, wenn sie nur gruppennützig sind, den Betroffenen selbst also keine Vorteile bringen. Das ist bislang in Deutschland verboten und soll nach dem Willen der Bundesregierung mit einer gesetzlichen Änderung künftig erlaubt werden.

Es geht um das „vierte Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ (18/8034), mit dem eine EU-Verordnung (Nr. 536/2014) umgesetzt werden soll. In der EU-Novelle wird die rein gruppennützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Zugleich bleibt es den EU-Staaten vorbehalten, auf nationaler Ebene strengere Regeln zu beschließen.

In der Anhörung ging es um drei konkurrierende Änderungsanträge zu dem Gesetzentwurf. Ein Antrag sieht vor, es bei der restriktiven Regelung in Deutschland zu belassen. In den beiden anderen Anträgen würde die rein gruppennützige Forschung mit einer vorherigen Probandenverfügung gestattet, in einem Fall mit verpflichtender ärztlicher Beratung, in dem anderen Fall mit optionaler ärztlicher Beratung.

Befürworter der weniger strikten EU-Regelung argumentieren, dass ohne diese Art der Forschung an Demenzpatienten auf wichtige Erkenntnisgewinne verzichtet würde. Außerdem sei die gruppennützige Forschung bei Minderjährigen seit der 12. Novellierung des Arzneimittelgesetzes (AMG) im Jahre 2004 in Deutschland auch explizit zugelassen. Gegner der Novelle geben zu bedenken, dass gerade die unter Demenz leidenden Menschen besonders geschützt werden müssten und aus medizinischer Sicht diese Grundlagenforschung an anderen Patientengruppen geleistet werden könne.

Weitgehend einig waren sich die geladenen Experten, auch in ihren schriftlichen Stellungnahmen, dass die für klinische Studien in Deutschland geltenden strengen Regelungen einen systematischen Missbrauch eher unwahrscheinlich machen. Allerdings wird die Notwendigkeit, zu einer liberaleren Regelung zu kommen, unterschiedlich gesehen. Strittig ist auch die Frage, ob eine vorab geleistete allgemeine Einwilligung, an einer solchen Studie teilzunehmen, rechtlich und ethisch vertretbar ist, obwohl der Proband noch gar nicht weiß, um welche Studie es später gehen wird.

Der Mediziner Johannes Pantel von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main hält eine Änderung der bestehenden Gesetzeslage in Deutschland für verzichtbar. Die bei Demenz infrage kommenden Wirksamkeitsstudien und diagnostischen Studien versprächen vor allem in der Frühdiagnostik wesentliche Fortschritte. Auch bei den Pharmakokinetikstudien (alle Arzneimittelprozesse im Körper betreffend) sei der Zusammenhang zwischen der Schwere der Demenz und der Studienart nicht notwendigerweise sehr eng.

Pantel gab auch zu bedenken, dass für die Forschung relativ viele Probanden benötigt würden, die mit den vorgeschlagenen Regelungen womöglich gar nicht zu erreichen seien. Zudem berge eine Vorabverfügung das Risiko einer „schwer kalkulierbaren Wissens- und Informationslücke“. Dies eröffne einen Graubereich, der für Probanden riskant sein könne.

Auf dieses Argument stützte sich auch Andreas Lob-Hüdepohl vom Berliner Institut für christliche Ethik und Politik. Eine vorausverfügende Einwilligung in etwas, das in den erforderlichen Details nicht vorliege, sei „aus sachlichen Gründen unmöglich“. Deshalb plädiere er für die Beibehaltung des bisherigen Schutzniveaus. Dies sei „ethisch geboten, um nichteinwilligungsfähige Erwachsene ausreichend vor einer Instrumentalisierung zu schützen“.

Der Mediziner Eckhard Nagel erklärte in der Anhörung, es sei sinnvoll, eine „klare Grenze“ zu ziehen und die Tendenz deutlich zu machen, dass solche Studien auch zum Nutzen der Patienten sein müssten. Es bestehe durchaus die Gefahr einer „Verzweckung“ von Menschen.

Jörg Hasford vom Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen empfahl hingegen, die rein gruppennützige Forschung an Dementen unter strengen Auflagen zuzulassen und verwies auf die Zulassung solcher Studien bei Minderjährigen. Es sei kein Fall von Missbrauch dieser Regelung in den vergangenen zwölf Jahren seit der 12. AMG-Novelle bekannt geworden. Derartige Anträge auf Studien seien selten und würden sorgfältig durch Ethikkommissionen und die Bundesoberbehörde geprüft. Es sei nicht einzusehen, weshalb eine Regelung für Minderjährige erlaubt und für Erwachsene verboten sein solle.

Der auf Medizinrecht spezialisierte Professor Jochen Taupitz von der Universität Heidelberg erklärte in seiner Stellungnahme, es sprächen „gute Gründe dafür, von der europäischen Lösung nicht grundsätzlich abzuweichen“. Dem Grundgesetz könne kein ausschließlich individualistisch und eigennützig ausgerichtetes Menschenbild entnommen werden, dem jeglicher Gedanke an Solidarität mit gleichermaßen Betroffenen fremd sei. Der Eigennutzen sei keineswegs das Maß aller Dinge, und das „Ansinnen von Solidarität“ beinhalte nicht von vornherein ein Herabwürdigen zum Objekt. Im Übrigen könne auch die „eigennützige“ Forschung einen unmittelbaren Nutzen für die Betroffenen nicht garantieren.

Auch der Jurist Sebastian Graf von Kielmansegg von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel stellt fest, dass aus der Menschenwürde kein ausnahmsloses Verbot jeglicher gruppennützigen Forschung an Nichteinwilligungsfähigen abzuleiten sei. Bei Patienten mit schweren Erkrankungen sei die Bereitschaft weit verbreitet, auch ohne unmittelbaren Eigennutzen an der medizinischen Forschung zu ihrem Leiden mitzuwirken. Allerdings dürfe die gruppennützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen nur minimale Risiken und Belastungen verursachen. Kielmansegg empfahl, im Gesetz die „Bedeutung der Schwelle minimaler Risiken und Belastungen“ zu konkretisieren.

Der Ethiker Peter Dabrock von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg wandte sich gegen den möglichen Eindruck, mit der gesetzlichen Neuregelung würde der „Verzwecklichung“ der Forschung ein ethischer oder rechtlicher Freibrief ausgeschrieben. Vielmehr würde durch eine von ärztlicher Beratung begleitete Vorausverfügung die Möglichkeit eröffnet, sich aus „altruistischen Motiven“ heraus an einer klinischen Prüfung zu beteiligen. Die geplante neue Regelung stehe auch nicht im Widerspruch zu der Ablehnung der rein gruppennützigen Forschung im Bundestag 2013, weil die Vorausverfügung damals noch nicht vorgesehen gewesen sei.

Der Psychiater Frank Schneider von der Uniklinik in Aachen sprach sich in der Anhörung vehement für eine verstärkte Forschungsarbeit etwa im Bereich der neurodegenerativen Erkrankungen aus. Es sei problematisch, wenn wichtige Studien aufgrund gesetzlicher Einschränkungen in Deutschland nur noch im Ausland angefertigt würden. Er fügte aber hinzu, wenn ein Mensch in seinem Leben nie einwilligungsfähig gewesen sei, dürfe er auch nicht zu klinischen Studien herangezogen werden.

Der Gesundheitsausschuss hatte den Gesetzentwurf bereits Ende September in geänderter Fassung mehrheitlich gebilligt, zugleich aber eine getrennte parlamentarische Befassung zu dem Passus der geplanten Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patienten auf den Weg gebracht. Dieser Passus hatte heftigen Widerspruch bei Ethikern, Kirchen und Behindertenverbänden ausgelöst und ist auch im Parlament umstritten, weshalb die Vorlage bereits mehrfach von der Tagesordnung des Plenums genommen wurde. Der Bundestag wird nach der Anhörung nun voraussichtlich im November über die Änderungsanträge und dann ohne Fraktionszwang über den gesamten Gesetzentwurf abstimmen.

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