Anhörung zum Thema Straflosigkeit
Berlin: (hib/SAS) Experten aus Rechtswissenschaft und Politik äußerten sich besorgt über das weltweit wachsende Phänomen der Straflosigkeit angesichts einer steigenden Zahl von Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen. In einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe am Mittwochnachmittag zum Thema Straflosigkeit standen neben der Frage nach Ursachen und Gegenmaßnahmen vor allem auch die Rolle der internationalen Strafgerichtsbarkeit im Fokus.
So betonte Christoph Flügge, ehemaliger Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien und am UN-Residual-Mechanismus, die Gründung von internationalen Gerichtshöfen zur Ahndung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stelle einen „zivilisatorischen und rechtspolitischen Fortschritt“ dar. Trotz Schwierigkeiten und Kritik sei die internationale Strafgerichtsbarkeit heute ein „ernstzunehmender Faktor“. Sich für ihren Fortbestand und ihre Weiterentwicklung einzusetzen, müsse „Verpflichtung für alle Rechtsstaaten“ sein. So gelte es vor allem den Internationalen Gerichtshof (IStGH) in Den Haag zu stärken und seine Arbeit zu verbessern, „wenn man die Forderung nach einem Ende der Straflosigkeit ernst meint“. Dieser sei in einer „schweren Krise“, sagte Flügge. Die Weigerung der Mitwirkung von Staaten wie den USA, Russland und Indien habe das Gericht von Anfang an geschwächt. Es leide bis heute an seiner beschränkten Zuständigkeit. Um es zu stärken, müsse vor allem die Arbeit der Anklagebehörde des Gerichts verbessert werden.
Anna von Gall, Expertin für „Frauen, Frieden und Sicherheit“ sowie „sexualisierte und geschlechterspezifische Gewalt in Konflikten“ wies zunächst auf die Notwendigkeit einer geschlechtersensiblen Perspektive bei allen Ermittlungen zu Menschrechtsverstößen nach dem Völkerstrafgesetzbuch hin. Zudem müssten, um Straflosigkeit zu bekämpfen, insbesondere Menschenrechtsverteidiger angemessen geschützt werden. In diesem Zusammenhang habe sich Deutschland auch die Konsequenzen seiner Rüstungsexporte für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern bewusst zu machen.
Zygimantas Pavilionis, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Europäische Angelegenheiten des litauischen Parlaments, warb dafür, dass neben Litauen, Estland oder Großbritannien noch mehr europäische Staaten an dem US-amerikanischen „Magnitzky Act“ orientierte Gesetze verabschieden, um Menschenrechtsverletzer wirksam zu bestrafen. Wenn solchen Tätern die Einreise verweigert werde oder ihre Konten eingefroren würde, sei das ein „echte Bedrohung“, sagte Pavilionis. Mit der europaweiten Harmonisierung von „Schwarzen Listen“ etwa könne man ein klares Signal für Demokratie, die Einhaltung von Menschenrechten und die Bekämpfung von Straflosigkeit setzen.
Christoph Safferling, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg, unterstrich die Bedeutung eines internationalen Strafjustizsystems, um Straflosigkeit zu beenden. Dieses System könne nicht allein auf einer Institution wie dem Internationalen Strafgerichtshof basieren, sondern müsse nationale Strafrechtssysteme miteinbeziehen. Der IStGH sei aber als Vorbild und Symbol besonders wichtig. In dieser Hinsicht sprach sich auch Safferling für eine Stärkung des Gerichtshofes aus. Seine aktuelle Krise beruhe unter anderem auch auf der Unvereinbarkeit zweier sehr unterschiedlicher Rechtssysteme - dem Völkerrecht und dem Strafrecht. Künftig brauche es mehr ausgewiesene Strafrechtsexperten am Gericht. Auch die Verfahrensordnung sei „rudimentär“. Das Gericht müsse dabei unterstützt werden, bestehende Lücken zu schließen.
Omar Shatz, Dozent für Völkerrecht an den Hochschulen Science Po Paris und Science Po in Bordeaux, lenkte den Blick auf die Straflosigkeit und die Probleme internationaler Strafgerichtsbarkeit im Fall Libyen. Aufgrund der Zusammenarbeit von EU und libyscher Küstenwache in der Migrationspolitik fänden kaum Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofes statt, obwohl die Verbrechen gegen „Migranten im Transit“ gut dokumentiert seien. „Tötungen und Folter seien weitverbreitet, Libyen sei ein Marktplatz für Menschenhandel“ geworden, zitierte Shatz die Chefanklägerin des IStGH, Fatou Bensouda. Beweismitteln zufolge, die dem Gerichtshof vorlägen, seien „EU-Vertreter, einschließlich Vertreter der Bundesrepublik Deutschland, beteiligt an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ aufgrund ihrer Zusammenarbeit in der Migrationspolitik.
Carsten Stahn, Professor für Internationales Strafrecht und Globale Gerechtigkeit an der Universität Leiden, betonte die „historische Verantwortung“ Deutschlands für die Bekämpfung von Straflosigkeit. Das Strafrecht dürfe dabei aber in seiner Wirkung nicht überstrapaziert werden. Es sei ein „mühsames und nicht immer das beste Mittel“, um Konflikte zu lösen. Stahn plädierte für eine stärkere Kooperation zwischen internationalem Menschenrechtsschutz und internationaler Strafgerichtsbarkeit. Deren Institutionen in New York, Genf und Den Haag überschnitten sich in ihrer Arbeit bislang entweder zu sehr oder arbeiteten in unterschiedliche Richtungen. Es gelte sicherzustellen, dass sie sich besser ergänzen. Stahn unterstrich zudem den engen Zusammenhang von Straflosigkeit und der Bekämpfung von Korruption.
Alfred M. de Zayas, Professor für Internationales Recht an der Geneva School of Diplomacy and Internationale Relations, gab zu bedenken, dass bei der Bekämpfung von Straflosigkeit auch die Prävention von Kriegen eine wichtige Rolle spiele. Straflosigkeit von Kriegsverbrechern und Kriegstreibern sei „inakzeptabel“. Dringender als die Strafverfolgung sei aber, für Reparation und Rehabilitation der Opfer zu sorgen. Ein zentrales Problem der Ahndung von Verbrechen stelle zudem die Selektivität der Ermittlungen dar, so de Zayas. Viele Beobachter seien überzeugt, dass der IStGH erst „Glaubwürdigkeit erlangen“ werde, wenn nicht nur „afrikanische, sondern auch Verbrecher in anderen Teilen der Welt“ angeklagt werden. Die Glaubwürdigkeit des Gerichts leide auch, wenn Verbrechen in Jemen oder in Guantánamo nicht geahndet würden.