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05.10.2020 Inneres und Heimat — Anhörung — hib 1053/2020

EU-Freizügigkeit auf dem Prüfstand

Berlin: (hib/FLA) Der Innenausschuss hat sich am Montag im Rahmen einer öffentlichen Anhörung mit Änderungen am Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU) befasst. Nach Darstellung der Bundesregierung ist gegen Deutschland zu diesem Komplex ein Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission anhängig. Die Regierung hat deshalb einen Gesetzentwurf (19/21750) vorgelegt, der auch auf den EU-Austritt Großbritanniens eingeht.

Gabriele Margarete Buchholtz (Bucerius Law School) begrüßte den Gesetzentwurf grundsätzlich. Kritisch sah sie, dass bei Einreise und Aufenthalt nahestehender Personen ein sehr weiter Ermessensspielraum vorgesehen sei. Zudem machte sie einen Einwand im Zusammenhang mit dem Ausschluss von Sozialleistungen geltend: Die vorgesehene Vorschrift stehe nicht im Einklang mit der höchstrichterlichen Judikatur des Bundessozialgerichts. Es erkenne bei Vorliegen eines fiktiven Aufenthaltsrechts einen Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II an.

Natalia Bugaj-Wolfram vom Paritätischen Gesamtverband nahm ebenfalls ins Visier, dass „Rechtsnachfolgen nach anderen Gesetzen“ laut Gesetzentwurf nur dann eintreten sollen, wenn ein Aufenthaltstitel tatsächlich erteilt worden ist und nicht bereits dann, wenn dieser Aufenthaltstitel erteilt werden könnte oder müsste. Sie verwies auf gravierende Auswirkungen in der Praxis. Folge wäre nach ihrer Darstellung nämlich, dass Unionsbürger, die über einen objektiven Aufenthaltsgrund verfügen - etwa Schutz der Familie - keine existenzsichernden Sozialleistungen mehr bekommen würden.

Swenja Gerhard (Verband binationaler Familien und Partnerschaften) monierte, dass der Gesetzentwurf einen Unterschied mache zwischen „Familienangehörigen“ und „nahestehenden Personen“. Damit werde der Blick nur auf die traditionelle Kleinfamilie, deren Bild auch in Deutschland schon längst ins Wanken geraten sei, gerichtet. Ganz selbstverständlich werde heute von Patchworkfamilien, in denen Kinder mehr als einen Vater oder eine Mutter haben, oder auch von Einelternfamilien geredet. Der Begriff „nahestehende Person“ solle deshalb in „andere Familienangehörige“ geändert werden.

Friedrich Kluth (Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg) sprach von einer lückenschließenden Regelung. Bisher werde die bevorzugte Behandlung von nahestehenden EU-Personen nicht berücksichtigt. Der Gesetzentwurf werde der Besserstellung gerecht. Die vorgegebenen Kriterien, nach pflichtgemäßem Ermessen die Einstufung als „nahestehende Person“ vorzunehmen, würden hinreichend konkretisiert. Auch wenn die Formulierungen kompliziert seien, halte er bei entsprechenden Auslegungs- und Anwendungshinweisen eine rechtssichere Praxis für möglich.

Bianca Schulze-Rautenberg (KOK - Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel) sprach sich gegen eine vorgesehene Einfügung im Gesetz aus, die sich negativ auf besonders schutzwürdige Personengruppen - wie etwa Betroffene von Menschenhandel - auswirken könnte. Ihnen werde der Zugang zu Sozialleistungen, die das menschenwürdige Existenzminimum sicherstellen sollen, zusätzlich erschwert. Die Möglichkeit von EU-Bürgern, die von Menschenhandel betroffen sind, Leistungen beziehen zu können, dürfe nicht noch weiter verschlechtert, sondern solle vielmehr verbessert werden.

Daniel Thym von der Universität Konstanz stufte die Unionsbürgerfreizügigkeit als ökonomischen und soziokulturellen Erfolg ein. Auch rechtlich bestünden heutzutage Problemlagen allenfalls in Randbereichen. Dazu zähle die sozialrechtliche Diskussion, ob Unionsbürger, die zur Arbeitssuche eingereist sind, aber keine Arbeit finden, von Sozialleistungen ausgeschlossen werden dürfen. Der Bundestag habe im Anschluss an mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs 2016 entschieden, in diesen Fälle grundsätzlich keinen Zugang zu Hartz IV oder Sozialhilfe zu gewähren. Die Gerichte folgten grundsätzlich dieser Position, auch wenn teilweise eine andere Meinung vertreten werde. Letztendlich werde das Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen.

Für die annähernd 100.000 „Altbriten“ in Deutschland sind die vorgesehenen Regelungen nach Thyms Einschätzung immens wichtig. Dies müsse nun zügig im Freizügigkeitsgesetz festgeschrieben werden, weil die Verwaltungen bis Ende des Jahres die notwendigen Vorkehrungen zur Umsetzung zu treffen hätten. Bezogen auf die „Neubriten“ umfasse das Partnerschaftsabkommen nur rudimentäre Mobilitätsregeln. Richtig sei der Hinweis der Bundesregierung, dass für diesen Personenkreis erst einmal das allgemeine Ausländerrecht gelten solle.

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