EU-Spitzenbeamter: Bei Maut gab es keine Rechtssicherheit
Berlin: (hib/CHB) Nach Ansicht des früheren Kabinettchefs von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gab es zu keinem Zeitpunkt Gewissheit, dass die deutsche Pkw-Maut europarechtskonform war. Auch der Umstand, dass die Europäische Kommission das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einstellte, sei keine Garantie für Rechtssicherheit gewesen, sagte Martin Selmayr am Donnerstag, 5. November 2020, im 2. Untersuchungsausschuss („Pkw-Maut“).
In der von der stellvertretenden Ausschussvorsitzenden Nina Warken (CDU) geleiteten Sitzung schilderte Selmayr die Diskussionen um die Pkw-Maut während seiner Zeit als Kabinettchef von 2014 bis 2018. Am ursprünglichen Gesetzentwurf habe die Europäische Kommission zwei problematische Punkte kritisiert: Die Zehn-Tage-Vignette sei zu teuer und damit diskriminierend gewesen; und der Umstand, dass deutsche Pkw-Halter in voller Höhe der Maut von der Kfz-Steuer hätten entlastet werden sollen, habe ausländische Fahrzeughalter benachteiligt.
Im Juni 2015 eröffnete die Kommission deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Am 1. Dezember 2016 einigten die damalige EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc und der damalige Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt jedoch auf einen Kompromiss. Laut Selmayr umfasste dieser drei Punkte: Die Zehn-Tage-Vignette wurde diskriminierungsfrei ausgestaltet; die Kfz-Steuer wurde nicht genau entsprechend der Maut gesenkt, sondern mit einer Komponente für umweltfreundliche Autos versehen; und die Bundesrepublik erklärte sich bereit, an der Einbindung der deutschen Maut in ein europaweites Mautsystem mitzuwirken.
Die im Mai 2017 erfolgte Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens habe nicht zwingend bedeutet, dass das deutsche Gesetz mit EU-Recht vereinbar gewesen sei, betonte Selmayr. Denn man dürfe nie so vermessen sein, sicher wissen zu wollen, wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheide. Ein Restrisiko sei bei solchen Verfahren nie auszuschließen. Er persönlich habe „die Chance, dass das für die deutsche Maut gut ausgeht, als sehr klein angesehen“, sagte der Zeuge.
Als dann im Oktober 2017 Österreich vor dem EuGH Klage gegen die Bundesrepublik einreichte, trat die Europäische Kommission dem Verfahren nicht bei, nahm also nicht für die Bundesrepublik Partei. Selmayr begründete dies damit, dass die Bundesregierung den dritten Punkt des Kompromisses nicht so umgesetzt habe, wie sich das die Kommission vorgestellt habe. Möglicherweise, mutmaßte er, habe die Bundesregierung unterschätzt, wie wichtig ein europäischen Mautsystems für die Kommission gewesen sei. Diese Nichtbeteiligung der Kommission sei seiner Ansicht nach ein Faktor für das negative EuGH-Urteil gewesen, erklärte der Zeuge; ob sie der entscheidende Faktor gewesen sei, könne er nicht beurteilen.
Befragt wurde der Zeuge auch nach seiner eigenen Rolle bei der Suche nach dem Kompromiss mit der Kommission. Die Verhandlungen mit Deutschland seien von Verkehrskommissarin Bulc geführt worden, antwortete Selmayr. Kommissionspräsident Juncker habe diese Gespräche unterstützt, da er eine Einigung angestrebt habe. Er selbst, sagte Selmayr, habe nach seiner Erinnerung an zwei Treffen von Juncker mit Dobrindt teilgenommen, an denen es um die Pkw-Maut gegangen sei. Mit dem früheren bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer habe er sich hingegen nie unterhalten. Bei einem Treffen zwischen Juncker und Bundeskanzlerin Merkel im September 2016 sei entgegen eines Medienberichts nicht über die Pkw-Maut gesprochen worden.