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16. Januar 2015 Presse

„Massenhafte Datensammlungen erhöhen Sicherheit nicht“
Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“

Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 19. Januar 2015)
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung -

Der innen- und rechtspolitische Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA im europäischen Parlament, Jan Philipp Albrecht (Bündnis 90/Die Grünen), hat Forderungen nach Einführung einer Vorratsdatenspeicherung als Konsequenz aus den Terroranschlägen in Paris eine Absage erteilt. Es sei „unverhältnismäßig und nicht effektiv“, massenhaft und ohne jeden Anlass Daten zu sammeln, sagte Albrecht in einem Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 19.01.2015). „Wir vergrößern damit lediglich den Heuhaufen, in dem wir die Nadel suchen.“ Die Folge sei nicht mehr, sondern weniger Sicherheit, warnte der Europaabgeordnete.

Die Forderungen von Mitgliedern europäischer Regierungen, auch von Teilen der Bundesregierung, die Vorratsdatenspeicherung einzuführen, bezeichnete Albrecht als „skandalös“. Der Europäische Gerichtshof habe die anlasslose Vorratsdatenspeicherung in seinem Urteil im April 2014 für unvereinbar mit den europäischen Grundrechten erklärt. Dieses Urteil binde alle EU-Mitgliedstaaten.

Anstelle von Datensammlungen forderte der Grünen-Europaabgeordnete europaweit einen besseren und schnelleren Austausch von vorhandenen Informationen über Gefährder und Verdachtsmomente. Polizeibehörden müssten dafür finanziell und personell besser ausgestattet werden. Die europäischen Strafverfolgungsbehörden, Europol und Eurojust, müssten mehr Mittel bekommen, um europäische Ermittlerteams bilden zu können. Außerdem müsse der Fokus stärker auf die Prävention gelegt werden, um der Radikalisierung von Menschen entgegenzuwirken. „Das ist das effektivste Mittel, um langfristig Sicherheit zu schaffen“, betonte Albrecht.

Das Interview im Wortlaut:

Herr Albrecht, nach den Terroranschlägen von Paris ist die Debatte über schärfere Gesetze zur Terrorabwehr in ganz Europa erneut aufgeflammt. Zu Recht?
Es ist richtig, ernsthaft über die Konsequenzen aus diesen Anschlägen zu diskutieren. Ich hoffe aber nicht, dass Europa nun Freiheiten und Grundrechte dem Bedürfnis nach mehr Sicherheit opfern wird. Die Anschläge dieser Fanatiker richten sich ja gerade gegen unsere freiheitlichen und demokratischen Werte. Deshalb müssen wir diese jetzt mit Nachdruck verteidigen und die Mittel, die uns der Rechtsstaat zur Verfügung stellt, verhältnismäßig einsetzen. Keinesfalls sollten wir aus Paris die Konsequenz ziehen, die anlasslose und massenhafte Speicherung von Daten sei das Mittel der Wahl. Das ist reine Symbolpolitik, die nur das Sicherheitsgefühl verstärkt, tatsächlich aber nicht mehr effektive Sicherheit schafft.

Besonders in CDU und CSU werden die Rufe nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung aber lauter, auch die Kanzlerin hat sich dafür ausgesprochen. Was ist so falsch daran, der Polizei die Suche nach potenziellen Terroristen zu erleichtern? Auch die Aufklärung eines Anschlags ist doch einfacher, wenn man weiß, mit wem die Täter vor ihrem Verbrechen in Kontakt standen.
Es ist nichts falsch daran, die Kommunikationsdaten von bestimmten verdächtigen Personen und Gruppierungen zu sammeln. Niemand will das verbieten. Wenn Verdachtsmomente vorliegen, dann haben Polizei- und Sicherheitsbehörden bereits jetzt die Möglichkeit, die Daten von Verdächtigen für eine bestimmte Zeit auf Vorrat zu sammeln. Das Problem ist ein anderes: In Frankreich ist die Vorratsdatenspeicherung bislang erlaubt, aber sie konnte den Anschlag nicht verhindern. Denn es gab zwar konkrete Verdachtsmomente, aber die Ermittlungsbehörden haben die Informationen offenbar nicht rechtzeitig ausgetauscht oder sind Hinweisen nicht nachgegangen. Das müssen wir künftig verhindern.

Was schlagen Sie vor?
Es muss europaweit einen besseren und schnelleren Austausch von vorhandenen Informationen über Gefährder und Verdachtsmomente geben. Wenn zum Beispiel radikale Islamisten aus Syrien oder dem Jemen nach Europa zurückkehren, müssen die Behörden in den einzelnen Mitgliedstaaten zügig darüber informiert werden. Die europäischen Einrichtungen zur Strafverfolgung, Europol und Eurojust, verfügen außerdem bislang über viel zu wenig Mittel, um gemeinsame europäische Ermittlungsteams bilden zu können. Das muss sich dringend ändern. Statt also 500 Millionen Euro in die Fluggastdatenspeicherung zu stecken, wie von der EU-Kommission geplant, sollte das Geld in die Ausstattung der Polizeibehörden, in mehr Personal und in eine bessere europäische Koordinierung investiert werden.

Die EU-Kommission drängt seit 2011 darauf, dass die Daten von allen Passagieren, die mit den Flugzeug in die EU ein- und ausreisen, zentral für fünf Jahre gespeichert werden. Eine Mehrheit im Europaparlament, darunter Ihre Fraktion, blockiert die Vorlage. Mal abgesehen von den Kosten: Ist es angesichts der Gefahren durch heimkehrende islamistische Kämpfer nicht gut zu wissen, wer europäischen Boden betritt und verlässt?
Dazu müssen wir nicht aber gleich alle Reisenden überwachen. Wir haben gegen die Fluggastdatenspeicherung die gleichen Vorbehalte wie gegen die Vorratsdatenspeicherung. Es ist unverhältnismäßig und nicht effektiv, massenhaft und ohne jeden Anlass Daten zu sammeln. Wir vergrößern damit nur den Heuhaufen, in dem wir die Nadel suchen. Die Masse an Informationen, vor allem über völlig irrelevante Personen, vergrößert sich, und den entscheidenden Informationen kann kaum noch nachgegangen werden, weil es dafür an Personal fehlt.

Die Datensammlungen schaffen Ihrer Ansicht nach also nicht mehr, sondern weniger Sicherheit?
Das haben die Erfahrungen der vergangenen Jahre leider gezeigt. Trotz verstärkter Überwachung hat es mehr Anschläge gegeben. Darüber hinaus wissen die Terroristen die Schlupflöcher doch längst zu nutzen. Im Internet werden vorausbezahlte Prepaid-Karten angeboten, die nicht auf den eigenen Namen angemeldet sind. Und wenn sie mit dem Zug oder Auto die EU-Außengrenze überqueren, nützt auch die Speicherung aller Fluggastdaten nichts. Totale Sicherheit gibt es nicht, und wer danach strebt, müsste letztlich alle Lebensbereiche überwachen. Das wäre dann das Modell China und ich glaube, da will niemand hin.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung im April 2014 für ungültig erklärt. In Deutschland dürfen Internet-Provider laut einem Urteil des Bundesgerichtshofes die IP-Adressen ihrer Nutzer nur bis zu sieben Tage lang speichern. Ist die Vorratsdatenspeicherung also ohnehin nicht realisierbar wegen der hohen juristischen Hürden?
So ist es. Der EuGH hat in seinem Urteil sehr deutlich gemacht, dass die anlasslose Vorratsdatenspeicherung nicht vereinbar ist mit den europäischen Grundrechten. Die Kommission hat daraufhin klargestellt, dass die Richtlinie damit auf Eis liegt, und das hat sie in diesen Tagen erneut betont. Das Urteil bindet alle EU-Mitgliedstaaten. Deshalb kann auch Deutschland jetzt nicht einfach ein Gesetz einführen, das die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten erlaubt. Es würde sofort wieder kassiert werden. Ich halte es daher für skandalös, dass Mitglieder europäischer Regierungen, auch der Bundesregierung, die Einführung solcher Maßnahmen fordern, obwohl das Thema in der EU längst nicht mehr zur Debatte steht.

Ist denn kein Kompromiss denkbar?
Doch, meine Fraktion hat dazu sogar schon Vorschläge gemacht. Wir fordern, in einer EU-Richtlinie ganz verbindlich festzulegen, unter welchen Bedingungen Polizei und Sicherheitsbehörden in Europa frühzeitig und schnell auf Kommunikations- und Fluggastdaten zugreifen können. Nämlich dann, wenn ein konkretes Risiko oder ein Verdachtsmoment besteht. Zum Beispiel könnte man in begründeten Fällen sagen: In den kommenden sechs Monaten besteht ein großes Risiko mit Blick auf alle jene, die über die Türkei nach Europa einreisen. Wenn ein Richter dies als verhältnismäßig bestätigt, können die Behörden die Daten erheben. Das wäre eine an einem konkreten Risiko orientierte, zeitlich und örtlich begrenzte Überwachungsmaßnahme, die wir unterstützen könnten.

Wenn man sich die Biografien vieler Islamisten anschaut, auch die der Attentäter von Paris, fällt eine Gemeinsamkeit auf: Sie alle sind beziehungsweise waren schlecht in die Gesellschaft integriert, oft arbeits- und perspektivlos, viele saßen im Gefängnis. Tut die Politik genug, um die Radikalisierung so vieler junger Menschen zu verhindern?
Nein, wir richten unseren Fokus immer noch zu stark auf die reine Sicherheitspolitik und viel zu wenig auf Prävention. Dabei können Polizei und Ermittlungsbehörden das Problem niemals allein lösen. Das effektivste Mittel, um langfristig Sicherheit zu schaffen, ist es, der Radikalisierung entgegenzuwirken – durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, Maßnahmen zur Integration, mehr Toleranz. Statt monatelang über umfangreiche und teure Datensammlungen zu diskutieren, sollte die Politik sich lieber auf geeignete Maßnahmen und Programme verständigen und den Extremisten damit den Nährboden entziehen.

Jan Philipp Albrecht (Bündnis 90/Die Grünen) ist innen- und rechtspolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament.

 

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