„Rabatte wären fatal“ Der CDU-Abgeordnete Norbert Röttgen im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“
Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 21. März 2016)
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Nach Ansicht des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Norbert Röttgen (CDU), wird der Abschluss eines Abkommens mit der Türkei auf dem heute beginnenden EU-Gipfel in Brüssel nur ein Beitrag zur Lösung der Flüchtlingskrise sein, aber nicht „der Schlüssel schlechthin“. Der Migrationsdruck in Richtung Europa „wird uns noch lange beschäftigen, auch unabhängig von der Türkei“, sagte Röttgen mit Blick auf die „besorgniserregende Entwicklung“ in Afrika im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag 21. März). Um das Flüchtlingsproblem dauerhaft zu bewältigen, brauche es einen europäischen Grenzschutz, einen permanenten Verteilmechanismus für die Flüchtlinge sowie eine gemeinsame europäische Stabilisierungspolitik für den Nahen Osten und Nordafrika.
Ausdrücklich sprach sich Röttgen für eine Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aus. Die EU müsse mit Ankara gerade über die kritischen Kapitel, wie Justiz, Grundrechte, Sicherheit, reden. Sie dürfe und werde dabei aber keine „Rabattgeschäfte“ eingehen. „Staatliche Repressionen und die Unterdrückung der Unabhängigkeit von Medien und Justiz führen nicht nach Europa, sondern von Europa weg“, betonte der Unionspolitiker. Die Distanz der Türkei zu Europa sei im Moment so groß, „dass man ehrlicherweise keinen Zeitpunkt für einen Beitritt benennen kann“.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Röttgen, die Türkei gilt derzeit als das Schlüsselland bei der Steuerung der Flüchtlingsströme in Richtung EU. Kann das Land die Erwartungen der Europäer an schnelle Erfolge erfüllen?
Wir sollten die Türkei nicht mit Erwartungen überfrachten. Sie ist ein Schlüsselland in der Flüchtlingsfrage, aber nicht der Schlüssel schlechthin. Zum einen führen auch andere Wege nach Europa, etwa von Nordafrika über das Mittelmeer. Wenn das Wetter wieder besser wird, werden die Menschen sie auch wieder stärker nutzen. Zum anderen sind die syrischen Flüchtlinge nur ein – wenn auch im Moment sehr bedeutender – Teil der Flüchtlingsproblematik. Auf dem afrikanischen Kontinent, wo sich die Bevölkerung bis 2030 auf zwei Milliarden Menschen verdoppelt, bahnt sich langfristig eine weitere besorgniserregende Entwicklung in unserer Nachbarschaft an. Der Migrationsdruck in Richtung Europa wird uns noch lange beschäftigen, auch unabhängig von der Türkei.
Eine enge Kooperation mit Ankara wäre also nicht der ersehnte große Durchbruch in der Flüchtlingskrise, von dem die Bundeskanzlerin spricht?
Sie ist ein Beitrag zu einer Lösung, nicht mehr und nicht weniger. Wir brauchen vor allem europäische Antworten: einen europäischen Grenzschutz, um den Schengen-Raum zu sichern. Einen permanenten Verteilmechanismus für die Flüchtlinge, die nach Europa kommen. Und eine gemeinsame europäische Stabilisierungspolitik für den Nahen Osten und für Nordafrika.
Gegen einen Verteilmechanismus sperren sich einige EU-Mitgliedstaaten noch immer vehement. Nun will die Türkei illegal eingereiste Syrer aus Griechenland zurücknehmen, wenn sie dafür genauso viele Syrer legal nach Europa schicken kann. Wie soll das funktionieren, wenn nicht alle Staaten mitmachen?
Es wird sicher schwierig werden, die Verweigerungshaltung einer ganzen Reihe von Staaten aufzubrechen. Doch es ist notwendig. Wir müssen den Flüchtlingen, die nach Europa kommen, verbindlich einen Platz zuweisen können.
Unter Staatspräsident Erdogan wurde die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit in der Türkei stark eingeschränkt. Was entgegnen Sie denen, die der EU angesichts der europäisch-türkischen Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage vorwerfen, die Menschenrechte einer knallharten Interessenpolitik zu opfern?
Das wäre ein fataler Fehler, den die EU nicht begehen wird. Da bin ich ganz sicher. Wenn sie es täte, würde sie die autokratisch-autoritären Entwicklungstrends in der Türkei befördern. Die Kräfte, die sich für eine Modernisierung des Landes einsetzen, würden sich zu Recht im Stich gelassen fühlen. Wir werden mit der Türkei keine Rabattgeschäfte eingehen. Auch die Abmachungen in der Flüchtlingsfrage hätten dann keinen Bestand.
Aber gewährt die EU nicht längst Rabatte? Während der türkische Ministerpräsident Anfang März in Brüssel über den Flüchtlingsdeal verhandelte, ließ er regierungskritische Medien zu Hause unter Zwangsaufsicht stellen. Dennoch stellten die Europäer den Türken Visaliberalisierungen bis Juni und beschleunigte Beitrittsverhandlungen in Aussicht.
Das war von türkischer Seite natürlich ein Affront. Meiner Meinung nach war es auch kein Zufall, dass der Ministerpräsident diese feindlichen Übernahmen genau zu diesem Zeitpunkt organisiert hat. Er wollte demonstrieren: Selbst wenn ich mich so verhalte, kann ich mit den Europäern noch Verträge schließen. Aber wir dürfen aus dieser Provokation nicht den Schluss ziehen, dass es besser wäre, mit der Türkei nicht mehr zu reden oder keine Vereinbarungen mehr mit ihr zu treffen.
Was schlagen Sie vor?
Wir müssen das auf beiden Seiten verloren gegangene Vertrauen langsam wieder aufbauen und die europäisch-türkische Annäherung schrittweise vollziehen. Der Türkei müssen wir dabei immer wieder klar machen: Staatliche Repressionen und die Unterdrückung der Unabhängigkeit von Medien und Justiz führen nicht nach Europa, sondern von Europa weg. Natürlich hat die EU Interesse an guten Beziehungen zur Türkei, auch wegen der Flüchtlinge. Wir sollten aber nicht vergessen, dass die Türkei uns ebenso sehr braucht. Für sie sind enge Bindungen an Europa eine zwingende Voraussetzung für die eigene wirtschaftliche Entwicklung. Und die ist ja zuletzt ziemlich ins Stocken geraten.
Im Moment eskaliert der Konflikt mit den Kurden im eigenen Land, außerdem bekämpft die Türkei kurdische Milizen in Syrien und im Nordirak, die der Westen als Verbündete im Kampf gegen den IS betrachtet. Destabilisiert das Land die Region nicht noch weiter und schafft so neue Fluchtursachen?
Die Türkei hat im Nahen Osten andere Prioritäten als die EU. Die Europäer wollen in erster Linie den IS bekämpfen und einen politischen Prozess befördern, der zu einer Waffenruhe und Befriedung führt. Für Ankara steht hingegen die Kurdenfrage im Vordergrund. Über diesen Dissens müssen wir mit dem Nato-Mitglied Türkei sprechen. Denn es ist für Europa tatsächlich ein erheblicher Unterschied, ob sich die Türkei im Nahen Osten problemverschärfend oder konstruktiv verhält.
Ihre Partei hat eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei bislang kategorisch abgelehnt. Zum Ärger der türkischen Seite sprach die Union stattdessen vom Ziel einer „privilegierten Partnerschaft“. Begräbt sie dieses Konzept jetzt kleinlaut?
Ich plädiere schon seit langem dafür, den Verhandlungsprozess mit der Türkei weiterzuführen und die zentralen Verhandlungskapitel – Justiz, Grundrechte, Sicherheit – zu öffnen. Wir müssen mit der Türkei gerade über diese kritischen Themen reden. Das wäre aber auch längst geschehen, wenn Zypern dies nicht wegen des zypriotisch-türkischen Konfliktes ständig verhindern würde.
Welche Chancen räumen Sie einem EU-Beitritt der Türkei konkret ein?
Wenn die Türkei Mitglied der EU werden will, muss sie europäische Prinzipien und Regeln anerkennen. Staatspräsident Erdogan verfolgt mit seiner autoritären Politik aber gegenwärtig keinen europäischen Kurs. Die Distanz ist im Moment so groß, dass man ehrlicherweise keinen Zeitpunkt für einen Beitritt benennen kann.
Blicken wir noch kurz nach Deutschland. Bei den jüngsten Landtagswahlen hat die AfD große Erfolge erzielt, die CDU massiv Stimmen verloren. Innerparteilich hat das den Druck auf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Flüchtlingspolitik nochmals stark erhöht. Wie wird sie die Kritiker in den eigenen Reihen besänftigen?
Die Kanzlerin wird jedenfalls nicht der Versuchung erliegen, Scheinlösungen zu präsentieren. Denn das würde sich rächen. Was hilft es uns denn, wenn wir unsere Grenzen schließen, aber im Frühjahr und Sommer wieder tausende Flüchtlinge mit Booten nach Italien kommen? Glauben wir wirklich, dass wir eine permanente Flüchtlingsabwehr an unseren nationalen Grenzen organisieren können? In diesem Fall würden sich die Bilder, die uns jetzt von der griechisch-mazedonischen Grenze erreichen, fortsetzen. Das wäre unerträglich und auch keine Lösung. Nein, das Wahlergebnis unterstreicht vielmehr die Notwendigkeit, schrittweise, vernünftig und verlässlich wieder Kontrolle über die Lage zu gewinnen. Wenn uns das gelingt, wird auch die AfD weitgehend wieder verschwinden.
Das Gespräch führte Johanna Metz.
Die Sitzung wird durch das Parlamentsfernsehen aufgezeichnet und ist am Folgetag unter www.bundestag.de/mediathek abrufbar.