Rede des Alterspräsidenten Dr. Hermann Otto Solms
bei der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages am 24. Oktober 2017 in Berlin
[Es gilt das gesprochene Wort]
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
bitte haben Sie Verständnis, dass ich meine Ausführungen mit einer sehr persönlichen Bemerkung beginnen möchte.
Ich freue mich ganz außerordentlich, dass gerade ich als Mitglied der Fraktion der Freien Demokraten die Sitzungsperiode des 19. Deutschen Bundestages eröffnen darf.
Nach vier schwierigen Jahren in der außerparlamentarischen Opposition haben wir das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler zurückgewonnen.
Jetzt können wir der liberalen Stimmen im Deutschen Bundestag wieder Gehör verschaffen. Und das war unser Ziel.
Meine Damen und Herren,
vorweg möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen zu Ihrer Wiederwahl oder Neuwahl in den Deutschen Bundestag herzlich gratulieren.
Abgeordneter des Deutschen Bundestages zu sein, ist eine große Ehre und eine noch größere Verpflichtung.
Dieser müssen wir alle in den nächsten vier Jahren gerecht werden.
Der Deutsche Bundestag ist das einzige direkt vom Volk legitimierte Staatsorgan.
Er steht damit im Mittelpunkt unserer staatlichen Ordnung, auf den sich alle anderen Organe beziehen.
Der Deutsche Bundestag ist eines der einflussreichsten demokratischen Parlamente der Welt.
Das wird schon dadurch deutlich, dass der Bundestag sich seine Regierung wählt, diese beauftragt, kontrolliert und gegebenenfalls wieder ersetzen kann. Die Regierung ist also immer auf das Vertrauen des Parlamentes angewiesen.
Der Bundestag wählt seine Regierung, nicht die Regierung ihr Parlament. Dessen sollten wir uns selbstbewusst immer wieder erinnern.
Die in der Verfassung vorgesehene Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers bezieht sich nur auf das Handeln der Regierung und nicht auf die Entscheidungsfindung im Deutschen Bundestag. Auch wenn das in den Medien häufig anders dargestellt wird.
Der Bundestag bestimmt die politischen Zielsetzungen und die grundsätzlichen Lösungswege.
Die Regierung führt diese aus.
An zwei Beispielen möchte ich deutlich machen, wie weit die Entscheidungsbefugnisse des Bundestages reichen:
Zu Beginn der 90er Jahre verklagte die FDP-Bundestagsfraktion die eigene Regierung vor dem Bundesverfassungsgericht wegen der Zulässigkeit der „out-of-area“-Einsätze der Bundeswehr.
Als damaliger Fraktionsvorsitzender habe ich die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten - genauso wie der bis heute unvergessene Kollege Peter Struck, der die gleichzeitige Klage der damaligen Oppositions-Fraktion SPD vertreten hat.
Aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts bedürfen seither alle Auslandseinsätze der Bundeswehr der Zustimmung des Parlaments. Deswegen sprechen wir heute von einer Parlamentsarmee.
Eine Verantwortung, die in anderen Ländern unbekannt ist und auf Verwunderung stößt, sich bei uns aber bewährt hat.
Diese Regelung, die Staat und Soldatinnen und Soldaten vor leichtfertigen Entscheidungen schützt, sollte auch bei einer Einbettung der Bundeswehr in europäische Verteidigungsstrukturen grundsätzlich beibehalten werden.
Auch im Rahmen der Euro-Stabilisierung haben wir ein Höchstmaß an parlamentarischer Kontrolle erreicht und im September 2011 Rechtsgeschichte geschrieben.
Damals ist es zum ersten Mal gelungen, einen flächendeckenden Parlamentsvorbehalt gegenüber dem Vorrecht der Regierung bei der Außenvertretung des Staates zu installieren.
Dieser gilt bei allen, die Haushaltsverantwortung des Bundestages betreffenden Entscheidungen der Bundesregierung zur Eurostabilisierung.
Wir haben dieses „Königsrecht“ des Parlaments – nämlich das Haushaltsrecht - in Gesetze gegossen, welche dieses Recht garantieren.
Das Recht, über die Einnahmen und Ausgaben des Staates zu bestimmen, darf auch in Zukunft nicht eingeschränkt werden.
In dieser Auffassung hat uns damals das Bundesverfassungsgericht bestärkt.
Ich zitiere:
„Für die Einhaltung des Demokratiegebots kommt es vielmehr entscheidend darauf an, dass der Deutsche Bundestag der Ort bleibt, an dem eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden wird - auch im Hinblick auf internationale und europäische Verbindlichkeiten.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
das Wahlergebnis vom 24. September hat die Kräfteverhältnisse im 19. Bundestag stärker verändert, als gemeinhin erwartet wurde, und zugleich auch die politischen Rollen neu verteilt.
Diese Entscheidung der Wähler haben wir zu akzeptieren.
Das Parlament muss ein Spiegelbild der Meinungsvielfalt in der Bevölkerung sein.
Ich warne davor, Sonderregelungen zu schaffen, auszugrenzen oder gar zu stigmatisieren.
Wir alle haben das gleiche Mandat, gleiche Rechte, aber auch gleiche Pflichten.
Es ist klug, sich im politischen Wettbewerb auf die inhaltliche Auseinandersetzung zu konzentrieren.
Dabei gilt:
Jeder, der hier das Wort ergreift, übernimmt persönlich die Verantwortung für das Gesagte.
Durch die Wahl sind wir jetzt die Repräsentanten des Volkes.
Und der Wille des Volkes, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, ist Maßstab unseres Handelns.
Selbstverständlich fühlen wir uns alle auch verantwortlich gegenüber unseren Parteien, die uns als Kandidaten nominiert haben.
Und das Grundgesetz bestimmt, dass die Parteien bei der politischen Willensbildung mitwirken.
Ohne Parteien ist dies auch kaum zu organisieren.
Wer Demokratie bejaht, muss auch demokratische Parteien bejahen.
Es ist zu bedauern, wie wenig die Mitgliedschaft oder die Unterstützung demokratischer Parteien in der Öffentlichkeit gewürdigt wird.
Wir dürfen die ehrenamtliche und unentgeltliche Arbeit von Zehntausenden Politikern gerade auf kommunaler und regionaler Ebene nicht vergessen, ohne die die demokratische Willensbildung überhaupt nicht möglich wäre.
Deshalb danke ich heute besonders allen, die bei der Bundestagswahl, bei Landtags- oder Kommunalwahlen kandidiert, aber kein Mandat errungen haben.
Sie haben mit ihrem Engagement einen besonderen Beitrag für die lebendige Demokratie geleistet.
Parteien stellen das politische Personal, die Kandidaten für politische Ämter und nehmen zusätzlich Einfluss auf die Rekrutierung und die Besetzung von leitenden Positionen in Verwaltung und Gerichten.
Das ist viel Macht, die große Verantwortung mit sich bringt und ein hohes Maß an Selbstkontrolle und Selbstdisziplin erfordert.
Wichtig ist dabei und was wir nie vergessen sollten: Die Verantwortung gegenüber dem jeweiligen Parteivotum muss zurückstehen hinter der Verantwortung gegenüber den Wählern und der Gesellschaft.
Ich erinnere an Artikel 38 unseres Grundgesetzes. Darin heißt es: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“
Es bleibt dabei: Es gibt kein imperatives Mandat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
heute wird unsere Demokratie neu herausgefordert. Die gefühlte Distanz zwischen Bürgern und Politik steigt sichtbar. Entscheidungen, die in parlamentarischen und rechtsstaatlichen Verfahren getroffen werden, stoßen mitunter auf Unverständnis oder gar auf Protest.
Bürger erwarten politische Führung und Reformfähigkeit, aber sie wollen auch demokratische Verständigung, Moderation und Ausgleich.
Immer mehr Bürger organisieren ihre Interessen und Initiativen außerhalb der klassischen partei-politischen Strukturen, zugleich ziehen sich leider zu viele Menschen ganz aus der politischen Öffentlichkeit zurück.
In den sozialen Medien werden Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Misstrauen, Ressentiments und populistische Hetze kultiviert.
Wir dürfen unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht diesen Stimmen und Stimmungen überlassen.
Es ist vielmehr unsere Pflicht, das Vertrauen in die wehrhafte, engagierte und lernende Demokratie zu stärken - durch unser Reden und durch unser Handeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir können stolz sein auf unsere lebendige Demokratie.
In ihr geht es nicht nur darum, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern auch darum, dass Minderheiten genauso ihre Rechte wahrnehmen können.
Und dass die Menschen erkennen, dass im Deutschen Bundestag alle Überzeugungen zur Sprache gebracht werden können.
Und zwar von allen Bürgern. Woher sie auch kommen, woran sie glauben, welches Geschlecht sie haben oder welchen Bildungsgrad sie besitzen.
Dabei ist es die vornehmste Aufgabe des Parlamentes, die Freiheits- und Grundrechte aller Bürger zu wahren und zu sichern. Damit die Bürger im Rahmen dieser Gesetze ihr Leben möglichst frei gestalten können und ihre Privatsphäre geschützt wird.
Unsere gemeinsame Aufgabe muss es nun sein, dafür zu sorgen, die gesellschaftlichen Debatten unserer Zeit wieder dahin zurückzuholen, wo sie hingehören – nämlich hier in den Deutschen Bundestag.
Genau hier ist der Platz der Auseinandersetzung der verschiedenen politischen Ausrichtungen und Überzeugungen.
Hier im Deutschen Bundestag sind die Parteien in dem Maß vertreten, wie sie in freier Wahl bestimmt worden sind.
Deshalb kommen hier die unterschiedlichen politischen Strömungen zur Geltung, und zwar in dem Verhältnis wie sie von den Wählern Unterstützung erhalten haben.
Das Zerrbild von der Politik, wie es beispielsweise in den sozialen Medien oder in manchen Fernseh-Talkshows dargeboten wird, gibt diese faire Repräsentation nicht wieder.
Bei letzteren werden häufig Vertreter auffälliger Positionen eingeladen, weil diese höhere Einschaltquoten versprechen.
Was bedeutet das für uns:
Wir müssen den Menschen auf Augenhöhe begegnen und Ihnen Orientierung geben.
Wir brauchen eine lebendige, lebensnahe Debattenkultur.
Wir müssen dabei eine Sprache sprechen, die verstanden wird.
Wir müssen die unterschiedlichen Positionen klar und deutlich herausarbeiten, damit die Wähler sich bei ihrer Wahlentscheidung daran orientieren können.
Es muss für uns der lateinische Grundsatz gelten: Suaviter in modo, fortiter in re. Maßvoll im Ton, aber entschieden in der Sache.
Wie auch Bundespräsident Frank Walter Steinmeier bei seiner Rede zur Deutschen Einheit sagte: Kontroversen ja, aber aus Differenzen darf keine Unversöhnlichkeit entstehen.
Ich kann ihm nur zustimmen. Wir brauchen weniger ideologische Grabenkämpfe als problemorientierte Lösungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
zum Schluss möchte ich noch auf die aktuelle Größe des Bundestages zu sprechen kommen.
Sie verspüren alle selbst, dass der Bundestag mit 709 Mitgliedern eine unerwartet hohe Anzahl an Abgeordneten erreicht hat.
Die Größe dieses aufgeblähten Parlamentes trägt eher dazu bei, dass die Arbeitsfähigkeit des Bundestages genauso wie sein Ansehen bei den Bürgern leidet – auch wegen der dadurch gestiegenen Kosten.
Wie der bisherige Bundestagspräsident Norbert Lammert rege auch ich an, dass sich der Bundestag rasch mit einer Reform des Wahlrechts befasst.
Im Interesse der Funktionsfähigkeit des Parlaments darf es dabei keine taktischen Machtspiele geben.
Meiner Meinung nach war das alte Recht im Wesentlichen von allen politischen Kräften akzeptiert. Wenn es keine schnelle Einigung gibt, sollte der Bundestag dieses wieder in Kraft setzen – notfalls mit verfassungsändernder Mehrheit.
Für die neue Legislaturperiode wünsche ich uns allen das notwendige Verantwortungsgefühl für faire und sachgerechte Auseinandersetzungen mit Klarheit und Augenmaß.
Lassen Sie uns den Bürgerinnen und Bürgern beweisen, dass unsere Demokratie hohe Integrationskraft besitzt, dass wir nicht sprachlos gegenüber Hetze und Parolen sind, dass wir Provokationen Argumente entgegensetzen und dass wir ernsthaft Lösungen für die Probleme der Zukunft finden.
Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!