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7. Juni 2019 Presse

Michael Roth (SPD), Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, fordert von seiner Partei mehr Mut zu Grundsatzdebatten

Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 11. Juni 2019)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –

Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt und SPD-Bundestagsabgeordneter, fordert von der SPD, sich offensiver mit den großen gesellschaftlichen Zukunftsfragen zu beschäftigen: „Wer, wenn nicht die SPD könnte das? Die SPD war immer in ihrer Geschichte eine Partei der Grundsatzdebatten, wo es ums Eingemachte ging: Die Überwindung des Gegensatzes von Arbeit und Kapital, die Gleichstellung der Geschlechter, der sozialökologische Umbau der Gesellschaft, die Friedenspolitik. Da ist immer das große Rad gedreht worden“, sagte Roth in einem Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Die Vorstellung, man könne durch einen geordneten Streit in der Sache innerhalb der Großen Koalition das Profil der SPD schärfen, sei nicht aufgegangen, denn dies werde von den meisten Menschen als „zu technisch“ wahrgenommen, so Roth weiter.

Er plädierte dafür, dass die SPD in der Koalition ihre deutschland- und europapolitische Verantwortung weiter wahrnimmt. Die SPD habe sich mit dem Wiedereintritt in die Große Koalition auf eine Überprüfung deren Arbeit zur Halbzeit der Wahlperiode verständigt, das werde auf dem nächsten Parteitag geschehen. „Da hat die Partei Gelegenheit zu urteilen: Was ist erreicht worden, was eben nicht?“ Roth betonte: „Man kann nicht einfach, wie in der S-Bahn, ein Ticket ziehen, Eintritt in die Große Koalition, und dann steigt man plötzlich wieder aus.“ Dafür gebe es schließlich verfassungsrechtliche Vorgaben, sagte er.

Das Interview im Wortlaut:

Herr Roth, Malu Dreyer, eine der drei kommissarischen Vorsitzenden der SPD, sagte zu den Vorgängen um den Rückzug von Andrea Nahles, „das geht gar nicht“. Was genau ging denn nicht?
Was viele zu Recht empörte, war der offenkundige Versuch, mit einer Strategie der kleineren und größeren Nadelstiche einen Menschen mürbe zu machen. Aber leider nicht da, wo sachliche Kritik auch hingehört, in Gremien oder Vier-Augen-Gespräche. Das war ein über Monate hinweg laufender Prozess, bei dem einige  nicht mit offenem Visier gekämpft haben. Denn jemandem direkt seine Kritik ins Gesicht zu sagen, hat eine andere Qualität als  hinterrücks geraunte Unterstellungen, begleitet von einer sehr ins Persönliche gehenden öffentlichen Kritik.

Aber wir wissen doch alle, dass politische Ränkespiele oder Intrigen nichts Neues sind.
Es waren ja keine Konflikte, die sich an Inhalten festgemacht haben. Mit denen kann man umgehen. Und es kommt für die SPD etwas hinzu, was sie von  anderen Parteien unterscheidet. Für eine Partei, für die Solidarität der zentrale Grundwert  ist, gilt das Zusammenstehen in schwierigen Zeiten als besonders wichtig. Machtpolitische Spielchen werden bei anderen Parteien eher als Normalität wahrgenommen. In der SPD muss man einen anderen, menschlicheren Umgang erwarten können.

Lässt sich die aktuelle Situation wirklich nur mit dem Abschneiden der SPD der Europawahl begründen?
Nein, das schwelt ja schon  längerer. Die SPD hat in den vergangenen Jahren zu oft den Eindruck erweckt, als würde sie an sich selber leiden. Von anderen bemitleidet zu  werden, ist in der Politik schlimm, aber noch schlimmer ist es, sich selbst zu bemitleiden.

Aber es geht doch sicher nicht nur um die Psyche der Partei?
Nein. Es geht um gesellschaftliche Umbrüche, dramatische Veränderungen des Wählermilieus. Und es geht um die Große Koalition, die wir zwar durch eine Mitgliederbefragung auf ein breites Legitimationsfundament gestellt haben. Sie wird  aber von nicht wenigen als der Hauptgrund für unsere derzeitige Schwäche ausgemacht. Die linke Volkspartei SPD hat es mit grundlegenden Bewährungsproben zu tun und wir wissen alle, dass wir mit den üblichen Mechanismen, mit der üblichen Rhetorik nicht mehr weiter kommen. Aber wir müssen uns dem selbstbewusst stellen.

Was erwarten Sie nun von dem neuen Führungstrio der Partei?
Die SPD sucht ihren Platz in diesem tanzenden Parteiensystem. Da ist es wichtig, dass Reformvorschläge, die in den vergangenen Jahrzehnten aus verschiedenen Gründen von meiner Partei abgelehnt wurden, unvoreingenommen wieder auf den Tisch kommen: Doppelspitze, Urwahl, völlig neue Strukturen. Nötig ist einerseits ein optimistischer, Türen öffnender Aufbruch nach außen. Und wir brauchen  Persönlichkeiten, die es schaffen, die Partei im Inneren zu versöhnen.

Die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg finden schon am 1. September statt. Viel Zeit bleibt nicht.
Ich bin erstmal froh darüber, dass wir uns so schnell wieder gefunden haben. Ich hatte mit mehr Durcheinander gerechnet. Wir haben uns sowohl in der Fraktion als auch in der Parteispitze auf vernünftige Strukturen verständigt, um den Übergang zu gestalten. Es gibt ein klares Bekenntnis, dass wir unserer Verantwortung gegenüber Deutschland und Europa gerecht werden, dass die Koalition ihre Hausaufgaben macht. Und es wird niemanden überraschen oder beunruhigen, dass wir  ein paar Wochen oder Monate brauchen, um uns personell und strategisch neu aufzustellen.

Wäre eine Mitgliederbefragung zum künftigen Parteivorsitz eine Lösung, um die Basis stärker einzubinden?
Es wäre eine große Chance, deutlich zu machen, dass man vor einem Wettbewerb verschiedener Kandidaten und einer breiten Beteiligung der Basis keine Angst haben muss. Man kann auch gestärkt daraus hervorgehen, weil die Partei sich in diesem Prozess darauf verständigen kann, was ihr wirklich wichtig ist. Er eröffnet auch allen eine Mitverantwortung.  Unsere große Stärke ist eine vielfältige und diskussionsfreudige Partei – und dies sollten wir nutzen.

Den Eintritt in die jetzige Koalition hat die Parteibasis mit großer Skepsis begleitet – aus Sorge, dass der interne Erneuerungsprozess dann nicht funktioniert. Haben die Skeptiker im Nachhinein Recht behalten?
Der Erneuerungsprozess hat sich in den Augen vieler Bürger viel zu sehr nach innen gerichtet und ist  deshalb nicht als Einladung zum Mitmachen verstanden worden. Aber es gibt auch keinen Automatismus: Weder wird man in Regierungsverantwortung automatisch schwächer, noch  in der Opposition automatisch stärker. Wir sollten ein entspanntes Verhältnis dazu entwickeln. Das haben wir derzeit nicht. Ich halte es nach wie vor für möglich, dass die SPD auch in der Regierungsverantwortung stärker wird, wenn sie ein selbstbewussteres Verhältnis zu dem entwickelt, was sie selbst schon alles erfolgreich auf den Weg gebracht hat.

Der Mindestlohn und die Rente mit 63 sind in der Bevölkerung durchaus beliebte Projekte.
Ja, aber wir müssen deutlich machen, dass wir über unsere Sozialstaatskonzepte hinaus den Anspruch haben, gesellschaftspolitisch, umweltpolitisch, wirtschaftspolitisch und europapolitisch zu gestalten. Die SPD ruht ja nicht nur auf einer Säule, das ist vielleicht in den vergangenen Monaten nicht ausreichend wahrgenommen worden. Wir müssen endlich wieder junge Leute glaubhaft ansprechen.

Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles wurde prompt am Fortbestand der Koalition gezweifelt. Für wie wahrscheinlich halten Sie ein vorzeitiges Ende der Großen Koalition?
Die Regierungsarbeit ist derzeit nicht ernsthaft bedroht, weil wir uns  mit dem Wiedereintritt in die Große Koalition ja bereits auf  eine Überprüfung zur Halbzeit der Wahlperiode verständigt haben. Und die steht auf dem nächsten Parteitag an. Da hat die Partei die Gelegenheit, zu urteilen: Was ist erreicht worden, was nicht? Lohnt es sich, das noch einmal zwei Jahre fortzusetzen? Aber man kann nicht einfach, wie in der S-Bahn, ein Ticket ziehen, Eintritt in die Große Koalition, und dann steigt man plötzlich wieder aus. Es gibt dafür verfassungsrechtliche Vorgaben.

Reicht es in der jetzigen Situation, zu betonen, man wolle den Koalitionsvertrag wie versprochen abarbeiten?
Nein. Es gibt  ein breites gesellschaftliches Interesse, die großen Fragen der Zeit ohne realpolitische Scheuklappen zu diskutieren. Das finde ich großartig! Und wer, wenn nicht die SPD könnte das? Die SPD war immer in ihrer Geschichte eine Partei der Grundsatzdebatten, wo es ums Eingemachte ging: Die Überwindung des Gegensatzes von Arbeit und Kapital, die Gleichstellung der Geschlechter, der sozialökologische Umbau der Gesellschaft, die Friedenspolitik. Da ist immer das große Rad gedreht worden. Vermutlich haben wir in den vergangenen Jahren den Fehler gemacht, dass wir diese großen Fragen nicht stärker in und mit der Öffentlichkeit diskutiert haben. Viele meinten, wenn wir mit der Union  einen geordneten, kleinteiligen Streit in der Sache führen, dann kann das Profil der SPD gestärkt werden. So ist es aber nicht. Denn solch ein Streit  wird von vielen als sehr technisch wahrgenommen.

Michael Roth ist seit 1998 für die SPD Mitglied des Bundestages. Er war von 2010 bis 2013 Europapolitischer Sprecher seiner Fraktion und ist seit Dezember 2013  Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt.

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